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German Pages 282 [283] Year 2019
Pädagogische und didaktische Schriften Herausgegeben von Sabine Anselm und Uta Hauck-Thum
Band 15
Sabine Anselm, Sieglinde Grimm und Berbeli Wanning (Hrsg.) Er-lesene Zukunft Fragen der Werteerziehung mit Literatur
Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.
Mit 6 Abbildungen und 1 Tabelle. Für die Umschlagabbildung wurde ein Foto einer aus hier im Buch zitierten Titeln gebauten Brücke verwendet, © Sabine Anselm 2019. Die Abbildungen auf den Seiten 56, 79, 91, 198 und 203 wurden eigens für dieses Buch erstellt, die Copyrightangaben zu den Abbildungen auf Seite 198 und 229 stehen auf Seite 280 (Quellenverzeichnis).
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National bibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Eine eBook-Ausgabe ist erhältlich unter DOI 10.2364/3846903261. © Edition Ruprecht Inh. Dr. R. Ruprecht e.K., Postfach 17 16, 37007 Göttingen – 2019 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Victoria Grüner und Christian Hoiß Layout: mm interaktiv, Dortmund Umschlaggestaltung: Aarun Edgar Gill Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach ISBN: 978-3-8469-0325-4 (Print), 978-3-8469-0326-1 (eBook)
Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeberinnen .................................................................. 9
Literatur und Lesen als Medien der Werteerziehung Literarische Inszenierungen der Schlüsselkompetenz Lesen ...................... 21 Jan Rupp und Bettina Wild Zukünftige Werte erlesen mit dystopischen Texten? ................................... 43 Ein Ordnungsversuch struktur-funktionaler Gattungskonstituenten und didaktischer Implikationen für einen wertreflektierenden Literaturunterricht Simon Zebhauser Demokratische Grundwertebildung im Literaturunterricht .........................76 Theoretische Grundlagen, fachspezifische Potenziale und didaktische Zugangsweisen Tabea Kretschmann
Gesellschaftliche Erwartungen – soziale Werte Der ferne Vater ....................................................................................... 97 Vaterfiguren und Geschlechterrollen in der deutschsprachigen interund transkulturellen Gegenwartsliteratur Monika Riedel Weiß sollte nicht die Norm sein, genauso wenig wie hetero ....................... 120 Der Umgang mit sexueller Vielfalt in (aktuellen) Jugendromanen Jana Mikota
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Inhaltsverzeichnis
Offenheit für das Außergewöhnliche Vom Absonderlichen zum Miteinander .................................................... 141 Der Roman Zeit des Mondes von David Almond und sein pädagogisch-didaktisches Potenzial Ute Barbara Schilly Nicht-Wissen und dessen Überwindung als Reflexionsmoment ................... 166 Erpenbecks Flucht-Roman Gehen, ging, gegangen als Gegenstand einer wissenspoetologisch orientierten Literaturdidaktik Wiebke Dannecker
Plurale Wertewelten Differente Werte, Geltungsansprüche und kulturelle Einstellungen als Lerngegenstände im Literaturunterricht ............................................. 185 Analytisches und diskursives Arbeiten zu normativen Aspekten des palästinensisch-israelischen Konflikts am Beispiel des dokumentarischen Romans Der Himmel über Jerusalem Joachim Schulze-Bergmann Wenn Werte nichts mehr wert sind – Gewalteskalation im Jugendroman Nichts ......................................................................... 206 Katharina Goubeaud What’s so funny about Love, Peace and the American Way? ...................... 225 Konstitution und Wandel von Werten zwischen jüdischen Wurzeln und amerikanischem Traum am Beispiel der Comicfigur Superman Janwillem Dubil
Exemplarische Analysen Neue Zugänge zu einem ‚didaktischen‘ Roman ........................................ 245 Zur Werteorientierung von Juli Zehs Dystopie Corpus Delicti Alexander Sperling
Inhaltsverzeichnis
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„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.“ ................................................................... 259 Wertereflexion zwischen Realität und Fiktion am Beispiel von Juli Zehs Unterleuten im Literaturunterricht Carlo Brune und Ina Henke
Autor_innenverzeichnis ......................................................................... 279 Quellenverzeichnis ................................................................................ 280 Register ............................................................................................... 281
Was wir innerlich erreichen, wird unsere Realität verändern. Plutarch
Vorwort der Herausgeberinnen Unabhängig davon, welche Funktion Literatur im gesellschaftlichen Diskurs zukommt, hat literarisches Lesen als Tätigkeit einen besonderen Stellenwert. Lesen bedeutet, sowohl in Vorstellungswelten anderer einzutauchen, als auch eigenes Weltwissen aufzubauen. Denn Literatur bietet Weltentwürfe an und ist Laboratorium für eine er-lesene Zukunft. Sie ist also von besonderer Qualität. Das kann mittels Erzählungen von vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftig erdenklichen Ereignissen gelingen: Im Kopf der Lesenden entstehen vielfältige Weltentwürfe, die nicht nur Wissensbestände, sondern auch Werthaltungen und Wahrnehmungsmuster zur Disposition stellen. Dieser erweiterte „Wert des Lesens“ (vgl. Anselm 2012a) hat nicht nur eine literarästhetische Dimension, sondern auch eine moralisch-ethische. Zwischen beiden muss insbesondere im Deutschunterricht ein Ausgleich hergestellt werden und das ist komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Weder geht es ausschließlich um den inhaltlichen (Mehr-)Wert, noch ist die literarische Textqualität zugunsten des Erwerbs von Lesekompetenz bzw. Lesefertigkeiten zu vernachlässigen. Dies käme einer Trivialisierung bzw. Funktionalisierung von Literatur gleich. Vielmehr gilt es, beide Dimensionen miteinander zu verbinden, einen funktional verstandenen Textbegriff zu relativieren und auf diese Weise ein pointiert formuliertes Ergebnis kognitionspsychologischer Leseforschung anzustreben: „Wir verstehen nicht literarische Texte, sondern wir verstehen Texte literarisch“ (Christmann/Schreier 2003, 270). Das bedeutet: Kognitives Erschließen und Verstehen werden begleitet von einer emotionalen Komponente bei der Worterkennung. Anders ausgedrückt: „Literatur vermehrt nicht nur das faktische Wissen, sie bereichert auch die emotionale Kompetenz“ (Gerk 2015, 135), und dies leistet, wie neuere Analysen bestätigen, einen positiven Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung im Kontext der Werteerziehung: „Die Vorstellung, dass Lesen im besten Sinne den Charakter bildet und die Persönlichkeit prägt, ist also nicht nur eine schöne Phantasie eifriger Pädagogen und Lesesüchtiger, sondern eine biologische Tatsache. […] Literarische Welten entstehen aber nicht allein durch die Phantasie und Kreativität ihres Erfinders, sondern müssen in einem zweiten Schritt vor dem inneren Auge des Betrachters wiederbelebt werden.“ (Christmann/Schreier 2003, 270)
Diese intendierte Form der aktiv-konstruierenden Lektüre kann mittels einer analytischen oder auch einer kreativ-produktiven Auseinandersetzung die Reflexion
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ethischer Wertvorstellungen befördern. Die Beschäftigung mit literarischen Texten ermöglicht Bildungserfahrungen – das ist weder eine dystopische Vision noch eine unerreichbare Utopie. Denn während der Lektüre vollzieht sich ein Wechsel im Verstehen, den es zu reflektieren gilt: „Was in der ästhetischen Erfahrung intensiviert zum Ausdruck kommt, gilt für das Verstehen des Anderen im Allgemeinen. Es bedeutet nicht, dass wir etwas nur zur Kenntnis nehmen, sondern dass wir darauf antworten, und daher erklärt sich auch, dass wir durch Verstehen verändert werden.“ (Bredella 2010, 35)
Erforderlich ist nicht unbedingt eine explizit formulierte Botschaft, die sich im Rezeptionsprozess vollständig entfaltet, sondern Lesende konstruieren aktiv und individuell, welches Verständnis jeweils aus der Textbegegnung resultiert. Literatur wirkt also als narrative Inszenierung dessen, worum es Menschen in ihrem Leben geht, und zwar sowohl auf der Text- wie auch auf der Rezipient_innenebene. Zudem ist Literatur in all ihren Facetten in zweifacher Hinsicht für die ethische Reflexion interessant: Zum einen werden existentielle Themen reflektiert, indem Bedingungen und Möglichkeiten des Menschseins dargestellt werden. Zum anderen kommen Dilemmata oder Wertekonflikte zum Ausdruck, in denen Entscheidungen zu treffen sind. Insbesondere die Identifikation mit den Protagonisten ermöglicht entsprechende Aushandlungsprozesse: „Wenn wir uns in das Bewusstsein einer literarischen Figur hineinziehen lassen, deren Perspektiven einnehmen, mitfühlen und am Ende der Lektüre bereichert und verändert daraus hervorgehen, entspricht diese schöpferische Kraft des Lesens der grundlegenden Plastizität in den Verschaltungen unseres Gehirns – beide erlauben uns, über die speziellen Gegebenheiten hinauszugehen.“ (Wolf 2012, 170)
Was – initiiert durch eine identifikatorische Leseweise – gedacht wird, kann also auch wirklich werden. Die Zukunft wird er-lesen im doppelten Sinn des Wortes: Das für den Einzelnen Erstrebenswerte zeigt sich im Sinne der klassischen Hermeneutik in der persönlichen Auseinandersetzung mit literarischen Texten: „Jede Erfahrung von Kunst versteht nicht nur einen erkennbaren Sinn, wie das im Geschäft der historischen Hermeneutik und in ihrem Umgang mit Texten geschieht. Das Kunstwerk, das etwas sagt, konfrontiert uns mit uns selbst. Das will sagen, es sagt etwas aus, das so, wie es da gesagt wird, wie eine Entdeckung ist. Verstehen, was einem das Kunstwerk sagt, ist also gewiß Selbstbegegnung. […] Das eben macht die Sprache der Kunst aus, daß sie in das Selbstverständnis eines jeden hineinspricht […].“ (Gadamer 1999, 6)
Beim Lesen literarischer Texte bieten sich vielfältige Herangehensweisen der Identifikation, aber auch der Distanzierung. Häufig überformt eine didaktische Sichtweise die in Erzählungen verhandelten Werte und deren Interpretation. Literatur
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wird in Gebrauchszusammenhänge gestellt, indem die Literaturdidaktik eigene Werte und Zielvorstellungen über diejenigen des Textes stellt. Dabei erkennen die Lesenden, dass kaum eine Frage die aktuellen Debatten so sehr bewegt wie die nach den Werten und kulturellen Grundlagen unserer Gesellschaft. Literatur wird auf diese Weise zum Prüfstein für den Fortbestand einer pluralistischen Gesellschaft. Zu fragen ist, wieviel gemeinsame Werte benötigt werden, so dass weder der Zusammenhalt noch die Freiheitlichkeit gefährdet wird. Im Kontext einer schulischen Erziehung zur Wertreflexionskompetenz (vgl. Anselm 2012b) gilt es darum, die Jugendlichen in ihrer individuellen Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen und im Blick auf die Bewältigung der Anforderungen der Zukunft zu ermutigen. Dabei ist sowohl für die Werteerziehung als auch für die Persönlichkeitsentwicklung die Orientierung an Vorbildern, d.h. das Lernen am Modell von entscheidender Bedeutung. Hierbei ermöglichen literarische Texte einen ganzheitlichen Zugang, da ästhetische und ethische Bildungsprozesse synergetisch wirken: „Weil Geschichten immer auch von Werten und Tugenden handeln, weil sie auf Wertund Tugendkonflikten beruhen und diese zudem noch in einer Form darbieten, die das Wesentliche erfasst, können insbesondere Kinder abstraktere Vorstellungen des Moralischen ausbilden, die am Ende in ihre Alltagskompetenzen eingehen und sie dazu befähigen, sich selbst als moralische Wesen verantwortlich zu verhalten.“ (Wulff 2012, 6)
In Positionen wie diesen wird mehr als deutlich herausgestellt, dass es im Zusammenhang mit dem Lesen um sehr viel mehr als nur um die Frage geht, welches die richtigen Lesekompetenzen sind. Zu reflektieren sind insbesondere die Werthaltungen, denn über das Vermitteln von Lesefertigkeiten hinaus kommen die Inhalte des Gelesenen und die Wirkungen des Lesens in den Blick: Lesen übt in doppelter Weise Einfluss auf die (emotionale) Persönlichkeitsentwicklung aus. Zum einen gilt dies für geschriebene Geschichten allein schon aufgrund des Lesens als Tätigkeit und daraus resultierenden Lesewirkungsprozessen. Bei der Textlektüre bzw. beim Verstehen des Textes werden, wie Ergebnisse lesepsychologischer Forschungen verdeutlichen, Emotionen ausgelöst, die relevante Einflussfaktoren für beispielsweise das Entstehen von Empathie sind (vgl. Christmann/Schreier 2003, 276). Zum anderen verdichten Geschichten – ausgehend von Überlegungen zur narrativen Ethik – Erfahrungen und Erinnerungen. So verstanden vollzieht sich eine „Verschränkung von Argumentation und Narration“ (Joas 1999, 115), indem Erzählungen beginnen, wenn die Analysen enden. Darin besteht der „Sinnhorizont des Erzählens“ (Wulff 2012, 1). Er präsentiert Modelle der Wirklichkeit, stellt Konflikte dar und ermöglicht Probehandeln in der Imagination. Welche Folgerungen sich aus der Zusammenschau dieser Perspektiven der Werteerziehung mit Literatur sowie für die konzeptionelle Gestaltung von Bildungsprozessen ergeben, soll im Folgenden ausgehend von unterschiedlichen Textbeispielen verdeutlicht werden. Einleitend wird über Literatur und Lesen als Medien der Wer-
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teerziehung reflektiert. Zunächst zeigt der Beitrag „Literarische Inszenierungen der Schlüsselkompetenz Lesen“ von JAN RUPP und BETTINA WILD, wie Literatur auf performative Weise den Wert des Lesens sowie seine fiktionale Darstellung und Reflexion in den Mittelpunkt stellt und welches didaktische Potenzial diese fiktionalen Inszenierungen wiederum in sich tragen. Dabei wird das literarisch inszenierte Lesen anhand zahlreicher Beispiele als mögliches Unterrichtsthema präsentiert, um den Wert des Lesens für Schüler_innen erfahrbar zu machen, ihn – unter anderem mit Blick auf die historisch unterschiedlichen Wertungen, die dem Lesen selbst oder einzelnen Werken bei Prozessen der Kanonbildung zugekommen sind – kritisch zu reflektieren sowie eine literarische Urteilsfähigkeit zu entwickeln. Inwiefern dies auch für Prozesse der Werteerziehung mit dystopischen Texten gilt, verdeutlicht SIMON ZEBHAUSER in seinen Überlegungen „Zukünftige Werte erlesen mit dystopischen Texten? Ein Ordnungsversuch struktur-funktionaler Gattungskonstituenten und didaktischer Implikationen für einen wertreflektierenden Literaturunterricht“ Die berücksichtigten Werke sind WIR von Jewgenij Samjatin, Schöne neue Welt von Aldous Huxley, 1984 von George Orwell, Fahrenheit 451 von Ray Bradbury, Corpus Delicti. Ein Prozess von Juli Zeh, Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele von Suzanne Collins, Die Bestimmung von Veronica Roth, Die Scanner von Robert M. Sonntag und Der Circle von Dave Eggers. Zebhauser zeigt hierbei auf, inwiefern Dystopien einerseits deutlich machen, dass etwas zur Wahl steht, und andererseits auch darlegen, was zur Wahl bzw. angesichts gegenwärtiger Tendenzen zur Diskussion steht – nämlich Werte. Durch diese normative Aufladung werden, so die Kernhypothese des Beitrags, Dystopien wie diese interessant für einen werteerziehenden Literaturunterricht. Sie verhandeln Fragen wie: Welche Werte machen unsere Zukunft lebenswert? Welche bestimmen unser Zusammenleben? Wodurch werden sie bedroht? TABEA KRETSCHMANNS Beitrag „Demokratische Grundwertebildung im Literaturunterricht: Theoretische Grundlagen, fachspezifische Potenziale und didaktische Zugangsweisen“ greift die wertebildenden Potenziale des Deutschunterrichts auf. Ausgehend von den demokratischen Grundrechten der Bundesrepublik Deutschland (z.B. dem Schutz der Privatsphäre, der Meinungsfreiheit oder der Gleichberechtigung von Mann und Frau) plädiert die Verfasserin für die Thematisierung und Vermittlung von Grund- und Verfassungswerten im Unterricht und gibt praxisnahe Beispiele dafür, welcher Bezug zum schulischen Literaturunterricht gefunden werden kann. Im weiteren Verlauf werden gesellschaftliche Erwartungen bzw. Überlegungen zur Förderung sozialer Werte vorgestellt. Dabei wird das Wirkpotenzial von Gegenwartsliteratur erörtert, einen Wertewandel zu initiieren, der letzten Endes zu einem veränderten Habitus der Rezipient_innen führen kann. MONIKA RIEDEL bringt in ihrem Beitrag „Der ferne Vater. Vaterfiguren und Geschlechterrollen in der deutschsprachigen inter-/transkulturellen Gegenwartsliteratur“ die Reflexion über Geschlechterrollen in der deutschsprachigen inter- und transkulturellen Gegenwarts-
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literatur dem Lesepublikum näher. Die Verfasserin konzentriert sich besonders auf von Eingewanderten bzw. deren Nachkommen verfasste Literatur, deren Familienentwürfe sie untersucht. Damit arbeitet sie an einer Differenzierung des Vaterbildes vornehmlich in Migrantenfamilien, die dieser Figur häufig die Rolle des Despoten zuweisen, wodurch Vorurteile zementiert werden. In exemplarischen Analysen ausgewählter Texte legt Riedel besonderes Augenmerk auf inhaltliche und konzeptionelle Merkmale. Um den Wertewandel zu erfassen, fügt sie einen kurzen historischen Abriss des Familienromans ein, indem sie das traditionelle dichotomische Denk- und Deutungsmuster einer umfassenden Kritik unterzieht. Sie integriert Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Migrationsforschung und weist damit der Gegenwartsliteratur einen wichtigen Ort im Rahmen der migrationsbezogenen Debatten zu. Sie plädiert dafür, dass die Thematisierung im Unterricht nicht länger in einem defizitorientierten Zusammenhang stattfindet und warnt davor, mit der gängigen These, die Migrant_innen befänden sich „zwischen den Kulturen“, auf die Diskussionsebenen der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückzufallen. Zielführender ist es hingegen, mannigfaltige Lebens-, Familien- und Identitätsformen herkunftsunabhängig zu präsentieren, verbunden mit der Zuversicht, dass die zukünftige Generation unbewussten Wahrnehmungsroutinen kritisch begegnen und ihre unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen eigenverantwortlich wird aushandeln können. Einen weiteren Aspekt des Wertewandels hebt JANA MIKOTA in ihrem Beitrag „Weiß sollte nicht die Norm sein, genauso wenig wie hetero: Der Umgang mit sexueller Vielfalt in (aktuellen) Jugendromanen“ hervor, nämlich das Thema Gender. Weil medial konstruierte Geschlechterbilder einen großen Einfluss auf die junge Generation haben und die Vielfalt sich oft in alternativen Lebensformen äußert, untersucht Mikota die Bedeutung, die der Homo-, Trans-, Inter- und Heterosexualität in jugendliterarischen Werken zugeschrieben wird. Dabei geht es nicht nur um Werte und Normen, sondern explizit auch um deren Wandel, was sich an der Entkriminalisierung der (männlichen) Homosexualität gut darstellen lässt. Dies war schließlich eine der Voraussetzungen dafür, dass ein ehemals mit Vorurteilen überfrachtetes Tabu überhaupt zu einem expliziten Thema der Jugendliteratur werden konnte. In ästhetischer Hinsicht zeichnen sich die dem Genre des Adoleszenzromans zuzurechnenden Werke formal durch komplexe Erzählformen, intertextuelle Verweise und Multiperspektivität aus. Mikota arbeitet verschiedene Zugänge heraus, die sie jeweils unter literaturwissenschaftlicher und literaturdidaktischer Fokussierung in den Blick nimmt. Die aktuelle Literatur bietet für ihr jugendliches Lesepublikum nicht nur Orientierung, sondern erweitert den Erfahrungsraum durch empathische Einsichten in das Leben von Figuren, die anders sind. Die ausgewählten Romane, die Mikota präsentiert, versetzen die Jugendlichen in die Lage, heteronome Wertvorstellungen zu überdenken und sich stattdessen ein eigenes Bild zu machen. Mittels Historisierung lässt sich nachweisen, dass sich der gesellschaftliche Wertewandel in Richtung Toleranz und Akzeptanz sexueller Vielfalt entwickelt hat, zu der letztlich auch die Jugendliteratur einen wichtigen Baustein beiträgt.
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Insgesamt wird auch im dritten Beitrag die Offenheit für das Außergewöhnliche als Chance und Herausforderung der Begegnung mit Literatur gesehen. UTE BARBARA SCHILLY zeigt in ihrem Beitrag „Vom Absonderlichen zum Miteinander. Der Roman ‚Zeit des Mondes‘ von David Almond und sein pädagogisch-didaktisches Potenzial“ exemplarisch, wie der Umgang mit Nicht-Kategorisierbarem, Undefinierbarem und Uneindeutigem im Literaturunterricht geschult werden kann. In der heuristischen interpretatorischen Auseinandersetzung mit den drei wesentlichen Dichotomien des Romans (Helligkeit – Dunkelheit, Inneres – Äußeres, Leben – Tod) erarbeitet die Verfasserin sein thematisches Zentrum, d.h. das Dazwischene, NichtIdentifizierbare und Außer-Gewöhnliche, und macht es für pädagogisch-didaktische Kontexte anschlussfähig, indem sie das Potenzial des Romans für literarische (Lern-)Erfahrungen und die Entwicklung von Schüler_innen darstellt. Im Anschluss daran zeigt WIEBKE DANNECKER in ihrem Beitrag „Nicht-Wissen und dessen Überwindung als Reflexionsmoment: Erpenbecks Flucht-Roman ‚Gehen, ging, gegangen‘ als Gegenstand einer wissenspoetologisch orientierten Literaturdidaktik“, wie der Umgang mit transkulturellen Migrationserfahrungen im Literaturunterricht thematisiert und die Überwindung von Nicht-Wissen (über Fluchtphänomene und deren Bewältigung zu Beginn des 21. Jahrhunderts) als literaturdidaktisches Reflexionsangebot gestaltet werden kann. In der Beschäftigung mit dem aktuellen Bestseller, der bereits Abiturtext geworden ist, bezieht sich die Verfasserin auf die Tradition politisch engagierter Literatur. Beleuchtet wird die Entwicklung der Hauptfigur, eines emeritierten Altphilologen, für den die Begegnung mit einer Gruppe überwiegend afrikanischer geflüchteter Migranten eine Neu- bzw. Umorientierung seines bisherigen bildungsbürgerlichen Wertekanons auslöst, was zugleich die Leere des Ruhestands füllt. Dannecker arbeitet differenziert den Prozess heraus, in dessen Rahmen die Fremderfahrungen des Protagonisten zunächst unreflektiert in einer mythologischen, dem europäischen Bildungskanon geschuldeten Alterität verbleiben, dann aber Lektüre, Interviews und Recherchen sowohl über die kulturelle Herkunft wie auch über unmittelbare juristische und politische Herausforderungen der Migration die Überwindung des NichtWissens als eigenen Wert generieren. Auf diese Weise, so die Autorin, werde das Potenzial für eine neue, von ethischen Grundsätzen geprägte Bildung bereitgestellt, die auf anthropologischen Grunderfahrungen als verbindendem Element beruht. Inhaltlich findet die Flucht der Migranten so ein Pendant in der Flucht des Protagonisten hin zu einer neuen ethischen Orientierung, die aber erst etabliert werden muss. Didaktisch münden die Ergebnisse in den Critical-Literacy-Ansatz, demzufolge Nicht-Wissen nicht als Abwesenheit von Wissen, sondern als schöpferisches Potenzial erscheint und im Unterricht genutzt werden soll. Übergeordnete Zielperspektive ist dabei die Erweiterung lesesozialisationstheoretisch begründeter Lesekompetenzmodelle hin zu einer wissenspoetologisch ausgerichteten Literaturdidaktik.
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Plurale Wertewelten bilden den Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen, die von JOACHIM SCHULZE-BERGMANN in seinem Beitrag „Differente Werte, Geltungsansprüche und kulturelle Hintergründe als Lerngegenstände im Literaturunterricht. Analytisches und diskursives Arbeiten zu normativen Aspekten des palästinensisch-israelischen Konflikts am Beispiel des Textes ‚Der Himmel über Jerusalem‘“ angestellt werden. Ausgehend von dem semi-dokumentarischen Roman der italienischen Schriftstellerin und Journalistin Gabriella Ambrosio behandelt der Verfasser Fragen schulischer Werteerziehung im Kontext des palästinensisch-israelischen Konfliktes, dessen historisch-politische Entstehungsbedingungen eine didaktische Grundlage bilden. Die vorgestellte unterrichtliche Wertorientierung sucht dabei eine Passung zwischen der je eigenen sozialen Orientierung der Lernenden und den normativen Inhalten des literarischen Textes. Darin geht es um Handlungs- und Bewertungsoptionen der palästinensischen Attentäterin wie auch der jüdischen Opfer, wobei das Attentat – je nach Perspektive – als Mord oder Märtyrertod ausgelegt werden kann. Der Autor verdeutlicht die Gefahren vorschneller Beurteilungen adoleszenter Leser_innen anhand von Kriterien, welche aus konkreten persönlichen Konflikten hergeleitet und distanzlos auf die Protagonist_innen angewandt werden. Dementsprechend lenkt der Verfasser den Blick auf entwicklungspsychologische Voraussetzungen der Lernenden, die aus dem Zusammenspiel von kognitiver Entwicklung und vermitteltem historischkulturellem Sachwissen hervorgehen und zum Perspektivenwechsel befähigen; dies erlaubt, zu den Situationen des Konflikts in eine (angenommene) Beobachterposition zu treten, um von dort aus reflektierend Stellung zu nehmen. Didaktisch betrachtet werden die Lernziele durch die Wahrnehmung impliziter sozialer Regeln, gesetzlicher Gebote und religiöser sowie humaner Prinzipien bestimmt. Die Thematisierung des Konflikts erfolgt als Dilemma-Situation, die in verschiedene Gesprächsformen im Unterrichtskontext eingebettet werden kann. Letztlich zielen die Ausführungen auf Prozesse der Urteilsbildung, deren Erfolg auf reflektierender Distanz, respektvollem Begegnen abweichender Meinungen sowie dem Erkennen von Konsequenzen für eigenes Handeln beruht. Die immer schneller werdende Entwicklung einer Gewaltspirale, in die die jugendlichen Protagonist_innen in Janne Tellers Roman Nichts. Was im Leben Bedeutung hat hineingeraten, steht im Mittelpunkt des Beitrags „Wenn Werte nichts mehr wert sind – Gewalteskalation im Jugendroman Nichts“ von KATHARINA GOUBEAUD. Der Beitrag beginnt mit einem Rekurs auf den Umgang mit Gewalt in einer durch Medien bestimmten Gesellschaft und endet mit einem engagierten Plädoyer, die Potenziale des literarischen Lernens und Verstehens für die Gewaltprävention zu nutzen. Mittels einer kritischen Analyse dieses umstrittenen Romans, der vor Gewalt und ihrer Eskalation warnt, indem er sie schonungslos und bis an die Schmerzgrenze darstellt, gelingt es der Verfasserin, die Bedrohung von Werten wie Würde, Respekt und körperliche Unversehrtheit herauszuarbeiten. Es gibt eine zweite Ebene des Romans, die die Hilflosigkeit und das Versagen der Eltern und Lehrkräfte spiegelt, die nicht in das Gewaltszenario eingreifen und die jugendlichen
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Protagonist_innen sich weitgehend selbst überlassen, bis es zum spektakulären Finale der Romanhandlung kommt. Goubeaud zeigt detailliert auf, wie sich ein kritisches Bewusstsein gegenüber Gewalt mittels genauer Sprachanalyse ausgewählter Textstellen aufbauen lässt. Auf diese Weise werden die Sprach- und Reflexionskompetenzen der Schüler_innen ebenso gefördert wie ihre Kenntnisse über die Mechanismen von in Gruppen ausgeübter Gewalt. Die damit einhergehende Sensibilisierung für die verschiedenen Ausprägungen von Gewalt und ihrer Darstellung trägt entscheidend zu einer Reflexion der eigenen Werthaltung bei. Einen anderen Aspekt zentraler Fragen der Werteerziehung beleuchtet der Beitrag von JANWILLEM DUBIL „What’s so funny about Love, Peace and the American Way? Konstitution und Wandel von Werten zwischen jüdischen Wurzeln und amerikanischem Traum am Beispiel der Comicfigur ‚Superman‘“. Dubil beschäftigt sich mit den multiplen Veränderungen der Comicfigur Superman, die als Verkörperung spezifisch westlicher, dem American Dream entsprechender Werte aus dem kulturellen Kontext jüdischer Einwanderung hervorgeht und dabei die historische Entwicklung wechselnder gesellschaftlicher Verhältnisse spiegelt. Der Verfasser lässt hierbei unterschiedliche Wertorientierungen Revue passieren: Die ursprünglich altruistischen, am Gemeinwohl orientierten Werte der 1930er Jahre werden in der Zeit der Mobilmachung in den 40ern von einer patriotischen Ausrichtung überlagert. In der Nachkriegszeit vertritt die Figur als ‚Superpolizist‘ vor allem konservativkapitalistische Werte. Mit den im politischen Klima der Nach-68er entstehenden Spannungen und der zunehmenden moralischen Bewusstwerdung der Menschen bröckelt der Superheldenmythos zusehends. Dies wird dadurch bedingt, dass nicht nur die Wertvorstellungen Supermans, nicht zu töten und dem Prinzip der Gnade zu folgen, sondern auch seine Existenz als heimatlose isolierte Migrationsfigur mehr und mehr den Forderungen der Comic-Industrie nach Gewalt zum Opfer fallen. Die Darstellung folgt dabei keinem Schwarz-Weiß-Schema, sondern legt auch negative bevormundende und faschistoide Züge, etwa in der Reagan-Ära, oder die Einengung auf die ethischen Überzeugungen der mittleren und höheren Gesellschaftsschichten offen. Als postmoderner Prometheus erlebt Superman schließlich eine Wiedergeburt im Rahmen sogenannter imaginary stories, die sein Leben unter anderen Wertvorstellungen beleuchten. Didaktisch gesehen stellt Dubil das Potenzial der bildlichen Sprache für die multikulturelle Gesellschaft in den Vordergrund, was auf die schulische Situation übertragbar ist. Daneben lassen sich über den Themenkomplex Flucht und Migration als Subtext der Serie Anknüpfungen zu zahlreichen aktuellen Geschehnissen herstellen. Nicht zuletzt verdeutlicht der Beitrag die Bedeutung der Superman-Serie für die Begründung des Comic-Genres überhaupt. Den Abschluss der Beiträge bilden zwei exemplarische Analysen zu Texten der Autorin Juli Zeh: ALEXANDER SPERLING widmet sich in seinem Beitrag „Neue Zugänge zu einem ‚didaktischen‘ Roman. Zur Werteorientierung von Juli Zehs Dystopie ‚Corpus Delicti‘“ einem interpretatorischen Problem bei der (schulischen) Lektüre dieses Romans, nämlich der diffizilen Unterscheidung zwischen Positionen, die im
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Text von einzelnen Charakteren vertreten werden (z.B. der Wert individueller Freiheit), und der Positionierung des Textes an sich. So beinhaltet nach Auffassung des Verfassers eine reflektierte literaturdidaktische Beschäftigung mit Corpus Delicti – im Sinne der Kritischen Theorie Horkheimers – unter anderem den Verweis auf den Wert einer permanenten Kritik der herrschenden Ideologie. Literaturdidaktische Ansätze sollten demnach über die Nachzeichnung der inhärenten didaktischen Leitlinien des Textes hinaus auch die Wahrung einer reflektierten Distanz zum Text zum Ziel haben. Als Finale des Bandes untersuchen schließlich INA HENKE und CARLO BRUNE den Wertewandel zwischen Realität und Fiktion anhand des Romans Unterleuten. Der Beitrag „,Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.‘ Wertereflexion zwischen Realität und Fiktion am Beispiel von Juli Zehs ‚Unterleuten‘ im Literaturunterricht“ geht davon aus, dass die Wertereflexion über zentrale Motive erfolgt, die diesen Roman strukturbildend durchziehen. Scheinbar harmonische Szenarien, wie sie etwa eine Waldkulisse imaginiert, wechseln sich mit eindringlichen Zuschreibungen ab, deren Sprache dem Wortfeld Kampf und Krieg metaphorisch entlehnt ist. Zugleich spielen Social Media eine wichtige Rolle, die zu einer neuen Sicht auf das Verhältnis von Realität und Fiktion auffordern und so eine Veränderung literarästhetischen Lernens herbeiführen. Die für ihre littérature engagée bekannte Autorin wirft eine Reihe von ethischen Fragen auf, die in einem nachvollziehbaren Zusammenhang mit der Lebenswelt der jungen Generation stehen, weshalb sich dieser Roman für einen wertebezogenen Literaturunterricht besonders eignet. Erzähltechnisch ist der Roman nicht leicht zu entflechten, wechselt sich doch das prinzipiell multiperspektivische Erzählen mit unzuverlässigen oder metafiktionalen Erzählpassagen ab. Gerade diese ästhetische Gestaltung erfordert ein genaues Lesen, was letztlich die Wertereflexion unterstützt. So greifen erkenntnistheoretische und ethische Dimensionen ineinander. 1 Ausgehend von den präsentierten, perspektivenreichen Beiträgen und den darin exemplarisch gewählten literarischen Texten bleibt die Hoffnung, dass es in diesem Band, der sich auf aktuellere Literatur (der Gegenwart) bezieht, gelingt, anhand der in den Interpretationen gewonnenen Erkenntnisse einer er-lesenen Zukunft zahlreiche Impulse sowohl für die Umsetzung im Deutschunterricht als auch für die Lehrer_innenaus- und -weiterbildung zu geben sowie für alle Leser_innen Perspektiven der Werteerziehung mit Literatur zu eröffnen. München, Siegen und Köln im April 2019 Sabine Anselm, Sieglinde Grimm und Berbeli Wanning 1
Der große Dank der Herausgeberinnen gilt neben allen Beiträger_innen sowie dem Team der Forschungsstelle Werteerziehung und Lehrer_innenbildung besonders Victoria Grüner, Christian Hoiß, Luisa Plamp und Simon Zebhauser für die motivierende und kontinuierliche Unterstützung während der Entstehung des Sammelbandes.
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Sabine Anselm, Sieglinde Grimm und Berbeli Wanning
Literatur- und Quellenverzeichnis Anselm, Sabine (2012a): Vom Wert des Lesens. Variationen über ein aktuelles Thema. In: Dies./Geldmacher, Miriam/Hodaie, Nazli/Riedel, Margit (Hg.): Werte – Worte – Welten. Werteerziehung im Deutschunterricht. Baltmannsweiler, 15–32. Anselm, Sabine (2012b): Ethische Bildung durch Wertreflexionskompetenz. Überlegungen zur Werteerziehung (nicht nur im Deutschunterricht). In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 59. Jg./H. 4, Göttingen, 401–415. Bredella, Lothar (2010): Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Studien. Tübingen. Christmann, Ursula/Margit Schreier (2003): Kognitionspsychologie der Textverarbeitung und Konsequenzen für die Bedeutungskonstitution literarischer Texte. In: Jannidis, Fotis/ Lauer, Gerhard/Martínez, Matías/Winko, Simone (Hrsg): Revisionen 1. Grundbegriffe der Literaturtheorie – Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin/New York, 246–285. Gerk, Andrea (2015): Lesen als Medizin. Die wundersame Wirkung der Literatur. Berlin. Gadamer, Hans-Georg (1964): Ästhetik und Hermeneutik. In: Ders.: Kunst als Aussage. Gesammelte Werke Bd. 8. Tübingen, 1–8. Joas, Hans (1999): Die Entstehung der Werte, 7. Aufl. Frankfurt a.M. Wolf, Maryanne (2012): Das lesende Gehirn. Heidelberg. Wulff, Hans J. (2012): Das Leben besteht aus Geschichten: Von den Sinnhorizonten des Erzählens. In: Televizion 25/2 (2012), 4–7.
Literatur und Lesen als Medien der Werteerziehung
Literarische Inszenierungen der Schlüsselkompetenz Lesen Jan Rupp und Bettina Wild 1.
Lesen als Wert, Lesen in der Literatur
Spätestens seit der Aufklärung und den didaktischen Konzepten der Philanthropen ist bekannt, dass eine Botschaft, die in eine spannende Geschichte verpackt ist, den (kindlichen oder jugendlichen) Adressaten am besten erreicht. Damit kann die Literatur selbst vom Wert des Lesens (vgl. Anselm 2012) Zeugnis geben und zum Botschafter der Bedeutung des Wertes Lesen werden, ist doch die Faszination des Lesens ein beliebtes Thema in der Kinder- und Jugendliteratur ebenso wie in der allgemeinen Literatur. Texte, die vom Lesen und von fiktiven Leser_innen handeln, dienen darüber hinaus häufig als Vermittler von Wissen über kanonische Werke der Weltliteratur. Die schulische Vermittlung der Bedeutung des Wertes Lesen sieht sich unterdessen zunehmend Hürden gegenüber. So stehen Lehrer etwa vor der Herausforderung der „Lesesozialisation von Mediennutzern“ (Rosebrock 1997, 10). Es gilt, Schüler_innen gleichermaßen den Wert der Lesekompetenz wie die Freude am Lesen zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund ergibt sich das didaktische Potenzial fiktionaler Inszenierungen des Lesens von Literatur und in der Literatur. Fraglos können auch Sachtexte den Wert des Lesens vermitteln und zur Förderung von Lesekompetenz eingesetzt werden. Literarische Texte eröffnen jedoch ein besonders breites Spektrum der Vorstellungsbildung und Reflexion über den Wert des Lesens – durch ihre Vieldeutigkeit, ihren erzählerischen Spannungsreichtum, ihre Perspektivenvielfalt und nicht zuletzt durch das hohe Identifikationspotenzial, das zwischen den in der Literatur fiktional dargestellten und den realen Leser_innen in der Wirklichkeit besteht. Anhand fiktiver Geschichten vom Lesen zeigt sich, dass das Lesen und das literarische Lesen nicht zuletzt einen Wert für sich darstellen, dessen Facetten des Eintauchens in andere Welten für die schulische Leseförderung genutzt werden können. Nach einer Einführung in die Bedeutung des Wertes Lesen wird in diesem Beitrag an Beispielen der Kinder- und Jugendliteratur (etwa Michael Endes Die unendliche Geschichte, Barbara Friedl-Stocks’ Der Magische Buchladen oder Mechthild Gläsers Die Buchspringer) sowie der allgemeinen Literatur (von Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser über Jane Austens Die Abtei von Northanger bis zu Alan Bennetts Die souveräne Leserin) aufgezeigt, wie Lesen fiktional dargestellt und reflektiert wird. Hauptziel ist, das literarisch inszenierte Lesen als Unterrichtsthema zu präsentieren und exemplarisch einschlägige Texte für die verschiedenen Lernstufen zu versammeln, anhand derer Schüler_innen den Wert des Lesens erfassen und kritisch reflektieren können, einschließlich der historisch wandelbaren Wertungen,
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die das Lesen in der Literaturgeschichte erfahren hat. Ein Hauptaugenmerk liegt dabei auf kanonischen Werken der Weltliteratur: An ihrem Beispiel lassen sich nicht nur der Wert des Lesens, sondern auch Fragen des literarischen Werts und Werturteils thematisieren. Im Zeitalter digitaler Medien wird die Befähigung zum Lesen (und Schreiben) unverändert als Schlüsselkompetenz für soziale Teilhabe angesehen (vgl. z.B. Hurrelmann 2002b, 282–285). Zugleich gilt Lesekompetenz als zentrale Voraussetzung für den Zugang zu Bildung. Es scheint, als sei die Betonung des Wertes Lesekompetenz ein Allgemeinplatz, immerhin liegt die Alphabetisierungsrate in westlichen Ländern bei nahezu 100 Prozent. Doch sowohl die diachrone Untersuchung der Geschichte des Lesens im deutschsprachigen Raum als auch die synchrone Betrachtung der Alphabetisierungsrate weltweit zeigen, wie fragil die Wertschätzung des Lesens tatsächlich ist – und damit auch die eng mit dem Erwerb von Lesekompetenz verbundene Verbreitung und Vermittlung von Wissen und Bildung, die alle Menschen, egal welcher Herkunft oder welchen Geschlechts, erreichen sollte. In dieser Situation empfiehlt sich die Nutzbarmachung und schulische Vermittlung desjenigen Wissens, das die Literatur selbst vom Wert des Lesens und von wertvollen Werken der Weltliteratur bereithält.
2.
Zum Wertewissen des literarisch inszenierten Lesens im Spiegel von Kompetenz- und Inhaltsorientierung
Warum Klassiker lesen? Angesichts der schwindenden Bedeutung literarischer Texte in den Bildungsplänen scheint diese Frage ebenso unzeitgemäß wie dringlich. Denn die Rückbesinnung auf Inhalte und auf die (Bildungs-)Werte, die durch klassische Werke der Literatur verhandelt werden, enthält ein notwendiges Korrektiv zur Kompetenzorientierung der jüngeren bildungspolitischen Debatten. In Folge von PISA und anderen Bildungsstudien sind komplexe Modelle sowie Kriterienkataloge von Lesekompetenz und literarischem Lernen entwickelt worden, die über das bloße Textverstehen und die Informationsentnahme hinausgehen (vgl. Hurrelmann 2002a; Spinner 2006, 2007). Literaturbezogene Kompetenzen beinhalten nach breitem Konsens neben den kognitiven Kompetenzen eine große Bandbreite von weiteren Bausteinen wie motivationale und emotionale Kompetenzen, die z.B. das Leseinteresse an widerständigen Texten oder die Empathiefähigkeit betreffen (vgl. Diehr/Surkamp 2015; Hurrelmann 2002a, 2002b). Auch ästhetische Kompetenzen und Aspekte literarisch-ästhetischer Bildung werden in die Modellierung des Lesens und des literarischen Lernens integriert (vgl. Hallet 2015; Spinner 2015). In dem Maße, in dem elaborierte Konzepte von literarischer Kompetenz und von Lesekompetenz entwickelt worden sind, gewinnt allerdings wieder die Frage an Bedeutung, welche Texte genau sich dafür eignen, die verschiedenen Fähigkeiten einzuüben. Denn es liegt auf der Hand, dass z.B. unser Einfühlungsvermögen textseitig beeinflusst wird; dass es durch komplexe Charaktere oder durch Formen der
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Innenweltdarstellung etwa gefördert werden kann, durch wenig entwickelte oder stereotype Figuren hingegen eingeschränkt wird. Gleichermaßen werden ästhetische Werturteile möglicherweise besonders durch solche Texte geschult, die nicht formelhaften Darstellungsprinzipien folgen, sondern eine komplexe ästhetische Struktur aufweisen und diese ggf. sogar selbst thematisieren. Wenn vor diesem Hintergrund der Stellenwert von Klassikern nun abermals virulent wird (vgl. Beavis 2010, 34; Bekes 2009), ist zum einen auf die spätestens seit den 1980er Jahren regelmäßig aufflackernden Debatten zum Status des Kanons im Unterricht und in der Literaturwissenschaft hinzuweisen. Für die aktuelle Diskussion um den Wert von Literaturklassikern bieten u.a. die im anglo-amerikanischen Kontext recht martialisch sogenannten „canon wars“ (Redford 2004, 210) einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Zum anderen ist aber auf die Literatur selbst zu verweisen, in der sich unverkennbar eine neue Konjunktur von Klassikern vollzieht, die zudem nationalliterarische Grenzen überschreitet und eine entsprechende Blickerweiterung auch für den Literaturunterricht anregt. Exemplarisch dafür stehen die Werke der deutschen Jugendbuchautorin Mechthild Gläser: In dem preisgekrönten Roman Die Buchspringer (2015) besitzt die Protagonistin Amy die Fähigkeit, nicht nur in ihrer Vorstellung, sondern leibhaftig in die Imaginationswelten deutscher und englischer Literaturklassiker von Rudyard Kiplings Dschungelbuch bis zu Franz Kafkas Die Verwandlung zu ‚reisen‘. Die Perspektive auf die Kanondebatten in Didaktik und Literaturwissenschaft einerseits sowie auf die kreative Bearbeitung und Wiederbelebung von Klassikern in der Literatur andererseits leitet die folgenden Überlegungen und Beispielanalysen. Grundidee ist, dass die Klassikerrezeption in der Literatur selbst wichtige Anregungen für unterrichtspraktische und fachliche Reflexionen zum Wert des Lesens kanonischer Werke geben kann. Will man den Wert von Klassikerlektüren für Schüler_innen heute bestimmen, lässt sich mit anderen Worten viel von jenen zahlreichen fiktiven Leser_innen lernen, denen man in der Literatur begegnet. Die Literatur der Klassik – nicht erst die der Moderne – hält selbst ein implizites und häufig selbstreflexives Wissen über den Wert des Lesens bereit. An dieses der Literatur innewohnende Potenzial lässt sich in schulischen Kontexten anknüpfen, indem Schüler_innen im Akt der gemeinsamen Lektüre und in anschließenden Unterrichtsgesprächen zunächst für den Aspekt der Selbstreflexion sensibilisiert werden. Weiter kann die Beschäftigung mit der fiktiven Figur des Lesers in eine Diskussion sowohl über das eigene Leseverhalten und damit den ganz individuellen Wert des Lesens als auch über die gesellschaftliche Bedeutung von Literatur und Lesen überführt werden. Neben dem Wecken von Leselust und der Darstellung der Magie des Lesens spielt in der Kinder- und Jugendbuchliteratur das Kennenlernen von bedeutenden Werken der Literaturgeschichte eine wichtige Rolle. In diesem Zusammenhang liegt ein wichtiger Nutzen des Lesens darin, den „Weg zum Lesen“ (Anselm 2012, 20) auszubauen, d.h. literarhistorisches Wissen sowie Orientierung zu prägenden Au-
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tor_innen, Textsorten und Stoffen zu erlangen. Daran schließt sich die Hoffnung an, dass das konkrete Leseverhalten der fiktiven (Identifikations-)Figur des/der Leser_in auch den/die reale/n Leser_in zur Lektüre der Klassiker führt. In jedem Fall können die intertextuellen Bezüge, die durch die fiktive Leseliste entstehen, in schulischen Kontexten im Sinne des forschenden Lernens zu weiterführenden Entdeckungsreisen in die Welt der Klassiker genutzt werden. Klassiker sind zudem wertvoll, weil sie aufgrund der Kanonisierungsprozesse, die sie durchlaufen haben, repräsentativ für die zentralen Wertvorstellungen einer Gesellschaft stehen. Der Kanon umfasst die kulturellen Texte (vgl. Assmann 1995), mittels derer sich eine Kultur ihrer selbst, ihrer geteilten Werte und ihres kollektiven Gedächtnisses versichert. Schließlich wird eine Eigenschaft von Klassikern häufig darin gesehen, dass sie nicht nur Aufschluss über die Werthaltungen ihres Entstehungskontexts geben, sondern grundlegende Fragen – zur Natur des Menschen, zum „Aufbau von Identität“ (Anselm 2012, 16), zum guten Leben, zu zwischenmenschlichen Beziehungen u.v.m. – auf besonders komplexe, universelle und gleichsam zeitlose Weise verhandeln. Ihre lange Halbwertszeit zeichnet Klassiker und die Beschäftigung mit ihnen als besonders wertvoll aus, mindestens ebenso wie rezente Texte, die sich vermeintlich näher an der Lebenswelt von heutigen Jugendlichen bewegen, dadurch aber auch entsprechend kontingent und kurzlebig sein können. Während es in der Kinder- und Jugendbuchliteratur, die das Lesen thematisiert, tendenziell, aber keineswegs nur um implizites Orientierungswissen zur Literatur und Literaturgeschichte geht, gewinnt in der anspruchsvollen Erwachsenenliteratur die Selbstreflexivität des fiktional inszenierten Lesens an Bedeutung. Anhand der Leseprozesse fiktiver Charaktere werden Schüler_innen für das Problem der Kanonbildung (vgl. Guillory 1993) und für kritische Perspektiven auf das, was für literarisch wertvoll gehalten wird oder nicht, sensibilisiert. In keinem Fall geht es um ein statisches oder normativ verbindliches Verständnis über alles, was man wissen ‚muss‘ (vgl. Schwanitz 1999), sondern darum, solche kulturell vorhandenen Wissensbestände und Werthaltungen zu reflektieren, zu analysieren und zu dynamisieren. Die skizzierten Funktionen der literarischen Inszenierung des Lesens – des Lesens und Lesenlernens als Wert an sich, die Vermittlung von Orientierungswissen über literarhistorische Entwicklungen und kulturelle Werthaltungen sowie die Schärfung des kritischen Urteilsvermögens über literarischen Wert und über Kanonisierungsprozesse – werden in den folgenden Abschnitten ausgeführt.
3.
Leselust und Klassikerrezeption: Entdeckungsreisen in der Kinder- und Jugendliteratur
Leidenschaftliche Leser_innen sind fester Bestandteil des Figurenarsenals der (Kinder- und Jugend-)Literatur. Man denke nur an Bastian Balthasar Bux, der sich auf dem Dachboden seiner Schule durch die Lektüre seiner fiktiven „Unendlichen Geschichte“ in die Welt Fantásiens hinein liest (vgl. Michael Endes Die Unendliche
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Geschichte, 1979). Oder auch an Meggie Folchart, deren Vater Mo die Fähigkeit besitzt, Figuren aus Geschichten heraus zu lesen (vgl. Cornelia Funkes TintenherzTrilogie, 2003–2007). Für diese literarischen Figuren liegt der Wert des Lesens – wie sicher auch für all die kindlichen und jugendlichen Leser_innen, denen sie ein breites Identifikationsangebot liefern – im Eintauchen in fremde Welten. Der (Stellen-)Wert, der diesem zentralen Aspekt des Lesens zugewiesen wird, ist in der historischen Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur einem stetigen Wandel unterworfen. So stehen gerade die Pädagogen der Aufklärung und die Verfasser erster spezifisch an Kinder gerichteter Literatur der Evasion äußerst skeptisch gegenüber. Dabei wird der Unterhaltungsaspekt von Literatur keineswegs gering geschätzt oder gar negiert, vielmehr dient er den Philanthropen und ihrem Konzept der Erziehung durch Literatur als Möglichkeit, über die Rührung des Herzens den Verstand zu schulen. Literatur wird zum Medium der Wertevermittlung; durch fiktionale Geschichten, die den kindlichen Geist ansprechen, erfolgt die Erziehung zum mündigen Bürger. Dabei spielt schon in den Anfängen der spezifischen Kinderliteratur mit Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) ein Roman der Weltliteratur, der bereits im späten 18. Jahrhundert Klassiker-Status erreicht hatte, eine bedeutsame Rolle. Orientiert an Jean Jacques Rousseau, dessen Émile bis zu seinem zwölften Lebensjahr vor den ‚schädlichen‘ Einflüssen fiktionaler Literatur ferngehalten wird, jedoch als einzigen Roman eben Robinson Crusoe lesen darf (vgl. Jean Jacques Rousseaus Emile oder über die Erziehung, 1762), verfasst Johann Heinrich Campe eine kindgerechte Adaption des englischen Klassikers, die 1779 und 1780 in zwei Bänden unter dem Titel Robinson der Jüngere. Ein Lesebuch für Kinder erscheint. Dabei ist Campes primäres Ziel nicht die Vermittlung von literaturgeschichtlichem Wissen über einen bedeutsamen Klassiker seiner Zeit, dies geschieht quasi nebenher. Vielmehr geht es, wie Campe in seiner Vorrede verdeutlicht, um die in Robinson Crusoe transportierten Werte der Aufklärung. Neben dem Aspekt der Wertevermittlung durch Literatur spricht Campe einen weiteren zentralen Aspekt der Literatur- und Leseerziehung an: das Lesenlernen selbst. So wird die Vermittlung von Lese- und Schreibkompetenz – also der Wert des Lesens (und Schreibens) an sich – auch in Campes Kinderbuch selbst thematisiert und inszeniert, etwa wenn der Vater den Kindern ‚produktionsorientierte Aufgaben‘ zur Romanhandlung stellt, wie das Verfassen eines Briefs an Robinson. Lesen – sowohl in seiner literarischen als auch in seiner kognitiven Dimension – war und ist also Thema der Kinder- und Jugendliteratur. Dabei werden sowohl Reisen in ganz eigene Phantasiewelten durch das Lesen von Büchern thematisiert (vgl. etwa Die unendliche Geschichte und Tintenherz), als auch das Lesenlernen und dessen Hürden. So findet sich z.B. im zweiten Band von Else Urys Nesthäkchen-Reihe Nesthäkchens erstes Schuljahr (1915) eine einprägsame Episode, in der Annemarie durch ihre noch rudimentären Kenntnisse des Alphabets in Angst und Schrecken versetzt wird, nachdem sie auf dem Werbeschild des Metzgers, der auf ihrem Schulweg liegt, „Kinder“ statt „Rinder“ entziffert: „‚Da –‘, sagte sie noch einmal, und
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buchstabierend las Nesthäkchen voll Grauen: ‚Kind- und Schweineschlächterei.‘“ (Nesthäkchen, 211) Auch wenn die Sequenz durch den Wechsel von der ursprünglichen Veröffentlichung in Sütterlin in nunmehr lateinischer Schrift etwas verliert, bleibt doch die Spannung zwischen Empathie für die verängstigte Leseanfängerin und Überlegenheit über das naive, schlecht buchstabierende Mädchen erhalten. Darüber hinaus inszeniert die Sequenz in gleichermaßen eindringlicher wie komischer Art und Weise den Wert des Lesens und Lesenlernens. Vordergründig scheint es, als sei die Inszenierung von Leseerfahrungen – und damit neben dem Wert des Lesens als Möglichkeit der Evasion besonders der Wert des Lesens als Vermittlung von Bildungswissen – der Jugendliteratur vorbehalten, die Thematisierung des Lesenlernens – und damit der Wert des Lesens als Kulturtechnik – hingegen der Kinderliteratur. Dass jedoch alle Dimensionen bereits in Texten der Kinderliteratur verhandelt werden, soll im Folgenden gezeigt werden. 3.1
Lesenlernen, magische Bücher und Intertextualität in der Kinderliteratur
Kinderliteratur ist Sozialisationsmedium und dient damit u.a. allgemeiner Wertevermittlung. Auch das Lesen sowie der Wert des Lesens kommen in der Kinderliteratur auf unterschiedliche Weise zur Darstellung; neben der Thematisierung des Lesenlernens können dabei als weitere Kategorien die Inszenierung der Magie des Lesens und Intertextualität als Vorbereitung zur Klassikerlektüre unterschieden werden. Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf-Trilogie kann als herausragendes Beispiel impliziter Wertevermittlung an den kindlichen Leser gelten. Im Zentrum steht das ungewöhnliche und unangepasste Mädchen, das sich (scheinbar) allen gesellschaftlichen und familiären Ansprüchen widersetzt und frei von äußeren Zwängen ihr autonomes Leben genießt. Für den kindlichen Leser ist dies durchaus ambivalent. So kompensiert die Identifizierung mit Pippis Auflehnung gegen Autoritäten zum einen kindliche Ohnmachtsgefühle, die den Sozialisationsprozess und die Aneignung gesellschaftlicher Werte sowie das damit verbundene Hintanstellen individueller Bedürfnisse immer begleiten. Zugleich löst die Figur der Pippi im kindlichen Leser auch Überlegenheitsgefühle aus, wenn sich Pippi nämlich in gängigen Alltagssituationen, die der kindliche Leser schon voll beherrscht, nicht korrekt zu benehmen weiß und dem Leser damit das Bewusstsein gibt, mehr zu wissen oder mehr zu können als die eigentlich doch allmächtige Protagonistin. Ohne dass korrektes Benehmen explizit angesprochen wird, werden so die entsprechenden gesellschaftlichen Werte und Normen internalisiert; vielmehr geschieht dies gerade durch die Inszenierung des inkorrekten Verhaltens. Beispielhaft hierfür ist die Episode, in der Pippi bei den Settergrens zum Kaffee eingeladen ist und sich – anders als die beiden Komplementärfiguren Thomas und Annika – nicht zu benehmen weiß (vgl. Kapitel „Pippi geht zum Kaffeekränzchen“, Pippi Langstrumpf, 148– 169). Das Amüsement der kindlichen Leser resultiert hier nicht zuletzt aus dem lustvollen Nachvollzug der Grenzüberschreitung und bietet damit eine subversive
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Form der Rebellion gegen restriktive Erziehung, insbesondere von Mädchen. Freilich kann die Grenzüberschreitung nur dann als solche erkannt werden, wenn das von der Gesellschaft als korrekt angesehene Verhalten schon partiell internalisiert ist. Im Sinne der kathartischen Funktion von Literatur festigt der humorvolle Umgang mit den gesellschaftlichen Normen und Werten diese sodann weiter im kindlichen Bewusstsein. Diesem Prinzip folgt auch das Kapitel „Pippi geht in die Schule“ (Pippi Langstrumpf, 58–76), in dem die gesellschaftliche Norm des verpflichtenden Schulbesuchs und die Werte des Rechnens, Lesens und Schreibens thematisiert werden. Die kindlichen Leser_innen erfreuen sich an Pippis anarchischer Haltung und ihrer Destruktion der Schulstunden, zugleich ist ihnen freilich bewusst, wie dumm Pippi sich im Grunde verhält – und sie freuen sich an ihrer eigenen Lesekompetenz, die sie Pippi überlegen macht. Das Kapitel lädt damit zur Reflexion über die Bedeutung des Lesens ein – auf einer einfachen kindlichen Ebene und darüber hinaus auch auf einer höheren sprachdidaktischen Ebene. Mit den Mitteln poetischer Bildlichkeit wird dargestellt, dass Lesenlernen die Fähigkeit zur Abstraktion voraussetzt und die Akzeptanz der Arbitrarität des schriftsprachlichen Zeichensystems bedeutet: „[…], ja, ach so, das ist also der Buchstabe S – höchst merkwürdig!“ (Pippi Langstrumpf, 69) Zu diesem Urteil kommt Pippi Langstrumpf, nachdem sie das Buchstabenkärtchen mit dem Bild einer Schlange zu einer kurzen phantasievollen Geschichte angeregt hatte, die von ihrem Kampf mit einer Riesenschlange in Indien handelt. Sich der großen Herausforderung dieser kognitiven Leistung stellen zu können, erfordert ein hohes Maß an Motivation; ein zentrales Motivationsmoment für Leseanfänger ist das Bedürfnis, Geschichten (z.B. über den Kampf mit Riesenschlangen) selber lesen zu können. In diesem Sinne inszeniert die kurze Sequenz die enge Verknüpfung des Werts des Lesens als Kulturtechnik mit dem Wert des Lesens als Möglichkeit des Eintauchens in andere Welten. Dieser Aspekt des Lesenlernens kommt auch in Heidis Lehr- und Wanderjahre (1880/2002) zur Darstellung, als Heidi in Frankfurt das Lesen lernen soll, zunächst aber an den stupiden Unterrichtsmethoden des Lehrmeisters, der sich ausschließlich an den kognitiven Aspekten des Lesenlernens orientiert, scheitert. Erst als Heidi von der Großmama ein Buch mit Geschichten geschenkt bekommt, in dessen Illustrationen sie ihre Heimat wiedererkennt, lernt sie lesen, will sie doch die Geschichten zu den vielversprechenden Bildern lesen können. Der Kinderbuchklassiker bietet damit eine gleichermaßen humorvolle wie eindringliche Vorstellung des ‚falschen‘ und ‚richtigen‘ Leseunterrichts. Der kulturelle Wert des Lesens wiederum wird in der Figur der Heidi inszeniert, deren zunächst rein natürlichländliche Identität durch den Prozess des Lesenlernens (zumindest in Teilen) in eine bürgerlich-städtische Identität überführt wird. Die Kompetenz des Lesens führt bei Heidi zur Stärkung des Selbstbewusstseins, denn als Leserin erhöht Heidi ihren Stellenwert in der heimatlichen Gemeinschaft, indem sie der Großmutter aus
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der Bibel vorliest und sie damit glücklich macht und indem sie selbst zur Lehrerin des Ziegenpeters wird. Freilich kommt in der Figur des Peter auch die Abwehr gegen das Lesen(lernen) zur Darstellung; Peter gewinnt damit die Funktion eines Repräsentanten zumindest eines Teils der zeitgenössischen ländlichen Bevölkerung und deren Widerstand gegen die Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht. Die Inszenierung der Magie des Lesens ist in der Kinderliteratur häufig an bestimmte (Lese-)Räume gebunden. Literatur eröffnet dem Leser fremde Welten, so die Botschaft. In Lorenz Paulis und Kathrin Schärers Bilderbuch Pippilothek??? (2011) ist dieser Raum eine Bibliothek. Die Maus, neben Fuchs und Huhn eine der drei Protagonistinnen der Geschichte, bedient sich des Zaubers der Bücher, um den Fuchs von seinem Vorhaben, zunächst sie und später das Huhn zu fressen, abzulenken: „‚Gleich schnapp ich dich, gleich gehörst Du mir!‘, knurrt der Fuchs. ‚Dir gehört hier gar nichts‘, kichert die Maus. ‚Hier kann man alles nur ausleihen. Und ICH gehöre Dir ganz sicher nicht. Das ist kein Jagdgebiet, das ist eine Bibliothek.‘ ‚Eine Pippi … was?‘, fragt der Fuchs. ‚Eine Bibliothek‘, sagt die Maus. Der Fuchs schaut sich um: ‚Was ist eine Pippilothek?‘ ‚Ein Ort mit vielen Büchern […]. Und Bücher braucht’s, um etwas zu erleben. Um etwas zu lernen. Um auf andere Ideen zu kommen‘. Und die Maus holt ein Bilderbuch und bringt es dem Fuchs. ‚Für dich, damit du auf andere Ideen kommst.‘“ (Pippilothek???, 8–10)
Tatsächlich kommt der Fuchs auf andere Gedanken: Er möchte lesen lernen. Das gemeinsame Versinken in die Welt der Literatur macht den Fuchs und das Huhn (und ihre Gefährtinnen aus dem Hühnerstall) letztlich zu Freunden. Literatur ermöglicht also die Erfüllung von Utopie. Zugleich demonstriert die Geschichte auch die Bedeutung und den Wert des Lesens als Kulturtechnik. Lesenkönnen kann Leben retten. Denn sowohl die Maus als auch das Huhn bleiben zunächst vom Fuchs nur deswegen verschont, weil sie in der Lage sind, dem leseunkundigen Fuchs aus den Büchern der ‚Pippilothek‘ vorzulesen. Wie die Titel verraten, ist der zentrale Handlungsraum in Katja Frixes Der zauberhafte Wunschbuchladen (2016) und Barbara Friedl-Stocks’ Der magische Buchladen (2008) jeweils eine Buchhandlung. Beide Kinderbücher entwerfen einen besonderen Buchladen, in dem die Bücher ein Eigenleben haben. So fallen im zauberhaften Wunschbuchladen etwa die für den Kunden passenden Bücher aus dem Regal, wenn dieser den Laden betritt. Während der Wunschbuchladen in Frixes Kinderbuch jedoch wenig mehr darstellt als eine mit phantastischen Elementen ausgestattete Kulisse für eine Geschichte rund um das Thema Freundschaft, ist die Magie des Lesens oder vielmehr die Magie der Literatur zentrales Handlungselement in Der magische Buchladen. Auslöser der Handlung des ersten Teils des Kinderbuchs ist ein „Brief mit Folgen“: Hilli Pohls Kinderbuchladen ist durch eine saftige Mieterhöhung von der Pleite bedroht; um ganz sicher zu gehen, dass der Laden auch tatsächlich schließen muss, hat der Vermieter zudem die beiden Gauner Wolfgang und Friedrich darauf angesetzt, den Laden in Brand zu setzen und die
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Brandstiftung Hilli in die Schuhe zu schieben. Doch haben die Verbrechen nicht mit der magischen Kraft von Literatur gerechnet. Zwischen zwölf und ein Uhr in der Nacht erwachen die Figuren zum Leben, verlassen ihre Kinderbücher und bevölkern Hillis menschenleeren Buchladen. Es ist ihnen dann gar möglich, die Handlungsorte anderer Bücher aufzusuchen; genau diese Gabe befähigt sie schließlich dazu, den Buchladen aus der drohenden Gefahr zu retten, indem eine Gruppe von Kinderbuchfiguren eine Schatzkiste aus Stevensons Schatzinsel holt und diese Hilli übergibt. Der magische Buchladen – ausgezeichnet mit dem Lesepeter der AJUM (Arbeitsgemeinschaft Jugendliteratur und Medien) – wird so auch zu einem Beispiel für Intertextualität – und damit für die Vermittlung des Werts von Klassikern – im Kinderbuch. Das Werk bedient sich aus dem Figurenarsenal der Grimm‘schen und der Anders‘schen Märchen, lässt zentrale Figuren aus Pinocchio auftreten, spielt dabei immer wieder auf bestimmte Handlungssequenzen aus dem Kinderbuchklassiker an, und lässt die Figuren schließlich zu einer zentralen Szene in Stevensons Schatzinsel reisen. Dem kindlichen Leser werden damit einerseits Angebote zum Wiedererkennen gemacht, denn welches Kind kennt nicht Schneewittchen und die sieben Zwerge oder die kleine Meerjungfrau. Andererseits lernt der kindliche Leser zwei bedeutsame Kinderbuchklassiker kennen und wird durch die Andeutung spannender Szenen dazu angeregt, diese im Original (oder in kindgerechter Bearbeitung) zu lesen. Die große Hürde, die mit dem Lesen (von Klassikern) verbunden ist, wird freilich nicht verschleiert, vielmehr wird ihre Darstellung in ironischer Weise in die Handlung eingebunden: „Die Diskussion im nächtlichen Buchladen offenbarte leider, dass keiner Die Schatzinsel gut genug kannte […]. Nun wäre es das Einfachste gewesen, das Buch zu nehmen und darin zu blättern. Dabei zeigte sich aber noch ein weiteres Problem: Die wenigsten Kinderbuchfiguren können lesen […]. Richtig Zeit zum Lesen haben eigentlich nur die ‚Ladenhüter‘ […]. Die Ladenhüter sind ziemlich arrogant, weil sie so belesen sind.“ (Der magische Buchladen, 20)
Leser_innen mögen manchmal arrogant sein, doch wird die weitere Handlung zeigen, wie wertvoll Lesen (und Schreiben) sein kann. Denn nur, weil Ritter Rost schreiben kann, können die Kinderbuchfiguren mit Hilli in Kontakt treten und sie so über die Gefahr der Brandstiftung aufklären – und nur weil doch ein paar der Kinderbuchfiguren lesen gelernt haben, kann der geplante Ausflug in die Schatzinsel und die Beschaffung des Goldes gelingen. Schließlich schult der Text durch seine raffinierte Einbettung von Handlungselementen der erwähnten Klassiker in die eigene Handlung das Fiktionalitätsbewusstsein seiner kindlichen Leser: Indem etwa mit Hilfe des Goldes aus Schatzinsel der drohende Bankrott des Buchladens abgewendet werden kann, lässt das Kinderbuch in der Fiktion Fiktives Wirklichkeit werden und regt damit zur Reflexion über Fiktionalität an:
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„Die Polizisten grinsten über die Schmuckschatulle mit den winzigen Goldbarren. Nachdem Wolfgang erzählt hatte, dass er von einem kleinen Drachen bedroht worden und auf der Flucht über Schneewittchen gestolpert sei, war den Beamten alles klar: Sicher war in der Kiste ein echter Goldschatz – kein Zweifel. Mit einem lustigen Zwinkern gab der Beamte [Hillis Sohn] Etienne die Schatztruhe zurück. ‚Die sehen ja wirklich echt aus‘ murmelte er Hilli zu, […]. ‚Ja, die Spielsachen werden immer echter‘ […]. Nach den Ereignissen der letzten Tage konnte Hilli Pohl nichts mehr erschüttern. In Gedanken rechnete sie aus, wie viele Monatsmieten ihr der Schatz wohl schenken würde.“ (Der magische Buchladen, 69)
Zugleich kommt dem Auftreten der Figuren im magischen Buchladen noch eine weitere Dimension des Anstoßes zur Reflexion über Literatur zu. Denn gerade die Märchenfiguren erhalten ein Eigenleben über ihre Grimm‘sche Flächenhaftigkeit hinaus, etwa wenn leitmotivisch die Eitelkeit von Schneewittchen dargestellt und die entsprechende Genervtheit der Zwerge und des Prinzen angedeutet wird. Dem kindlichen Leser wird damit vorgeführt, dass es in der Beurteilung literarischer Figuren durchaus verschiedene Lesarten geben kann, und er wird angeregt, sich sein eigenes Urteil zu bilden. Anders als Der magische Buchladen konzentriert sich Barbara Wersbas Ein Weihnachtsgeschenk für Walter (2007) bei seinen intertextuellen Verweisen nicht nur auf kinderliterarische Texte, sondern bezieht auch Klassiker der Weltliteratur mit ein. Dies beginnt schon mit dem Namen der Ratte, denn Walter – ein passionierter Leser – hat sich selbst nach Sir Walter Scott benannt. Die Geschichte ist voller Anspielungen auf literarische Texte, zum einen in der expliziten Angabe von Autor und Titel, zum anderen in der Nennung von Figuren oder Zitaten. Letzteres wird freilich nicht immer explizit gemacht, so dass sich für den gebildeten Leser – etwa einen erwachsenen Vorleser – ein literarisches Suchspiel entwickelt. Dabei werden dem Leser immer wieder – implizit und doch fast direkt – Aufträge zur Recherche nach dem angespielten Text der Weltliteratur gegeben, etwa wenn es heißt: „Er [Walter] würde nie erfahren, wer Gatsby war oder Daisy, oder warum Gatsbys Traum bereits hinter ihm lag“ (Ein Weihnachtsgeschenk für Walter, 20). Walter wird es nicht erfahren, doch kann die erste Frage schon von einem kindlichen Leser z.B. durch eine Recherche im Internet beantwortet werden. Die zweite wird sich wohl erst ein reiferer Leser durch die Lektüre des Klassikers beantworten. Später hat Walter eine Phase, in der er sich durch Klassiker der Kinderliteratur liest. Hier wird dem kindlichen Leser die Gratifikation geboten, zumindest einen Teil der Anspielungen zu verstehen (vgl. ebd., 47). In Ein Weihnachtsgeschenk für Walter scheint der Wert des Lesens zunächst auf der Gabe von Literatur zu beruhen, im Modus des intimen (Lust-)Lesens die Einsamkeit zu vertreiben. Der Verlauf der Geschichte, die von der Beziehung zwischen der Leseratte Walter und der Schriftstellerin Miss Pomeroy, in deren Haus Walter lebt, erzählt, wird jedoch zeigen, dass ein zusätzlicher Wert der Literatur darin liegt, Menschen (und Ratten) miteinander zu verbinden und damit die Ein-
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samkeit auch über den Akt des Lesens hinaus zu verbannen. Ist schon das eigene, stille Reflektieren über das Gelesene beglückend, so wird dieses Gefühl durch den Austausch mit anderen Leser_innen – also durch Anschlusskommunikation und literarische Gespräche – noch um vieles verstärkt. Auch über das aufgezeigte Potenzial der Sensibilisierung für den Wert des Lesens und den Wert von Klassikern der (kinderliterarischen) Weltliteratur eignen sich die genannten aktuellen Kinderbücher für den schulischen Einsatz. So bietet sich Lorenz Paulis und Kathrin Schärers witzig erzähltes Bilderbuch Pippilothek??? dazu an, Grundschüler_innen den realen Raum Bibliothek näher zu bringen und damit einen Ausflug in diesen wichtigen Ort außerschulischer Literatur- und Wissensvermittlung vorzubereiten, enthält es doch gewissermaßen eine kindgerechte Einführung in die Nutzungsmöglichkeiten und Nutzungsbestimmungen einer jeden Bücherei. Barbara Friedl-Stocks’ Der magische Buchladen zeichnet sich tatsächlich in erster Linie durch die vielfältige Inszenierung und Thematisierung von Fiktionalität aus; darüber hinaus ist es eine spannend erzählte Geschichte, die lesemotivierend wirkt und gleichermaßen männliche wie weibliche Leser ansprechen wird. Barbara Wersbas Ein Weihnachtsgeschenk für Walter schließlich ist literarisch deutlich anspruchsvoller; neben der Inszenierung von Bedeutung und Magie des Lesens stehen die sich zaghaft anbahnende Freundschaft zwischen Walter und Miss Pomeroy und das Thema des Alterns – und damit die noch relativ kurze Zeit, die im Leben noch zum Lesen bleibt – im Zentrum. Dadurch wird den kindlichen Leser_innen ein schon recht hohes Maß an Empathie und Fähigkeit zum Fremdverstehen abverlangt; freilich kann das Kinderbuch damit auch genau der (schulischen) Förderung dieser Kompetenzen dienen. 3.2
Weltliterarische Klassiker in der Jugendliteratur
Im Bereich der Jugend- und All-Age-Literatur erobern immer wieder Romane die Bestsellerlisten, deren tragendes Handlungselement die Welt der Bücher ist, so etwa aktuell Kai Meyers Fantasy-Reihe Die Seiten der Welt (seit 2014) und sein kürzlich erschienener fantastischer Detektivroman Die Spur der Bücher (2017). Auch beliebt ist Gerd Ruebenstrunks Trilogie um Arthur und die vergessenen Bücher (2009–2011), ebenfalls eine Hommage an die Welt der Bücher, die die Magie des Lesens in eine Handlung bettet, deren Spannung von Elementen beliebter Genres wie Fantasy und Krimi lebt. Somit laden die Romane Funkes, Meyers und Ruebenstrunks vordergründig ‚nur‘ zum Eintauchen in ein spannendes Abenteuer ein. Das implizite Angebot zur Reflexion über die Welt der Bücher, die Bedeutung von Literatur sowie die Begeisterung für das Lesen kann angenommen werden – oder auch nicht; freilich kann es gut im schulischen Kontext genutzt werden, um gemeinsam mit den Schüler_innen über Sinn und Zweck sowie Faszination und Magie des Lesens zu diskutieren.
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Die Art und Weise, wie sich die Jugendliteratur dem Themenkomplex des literarischen Lesens nähert und wie sie den Wert des Lesens (von Klassikern) inszeniert, ist äußerst vielfältig. Neben der Adaption und Umschreibung klassischer Texte (z.B. Miriam Presslers Nathans Kinder, 2009; Andreas Venzkes Unter Räubern, 2014; Cornelia Funkes Reckless, 2010) bzw. der radikalen Modernisierung (z.B. Abby McDonalds Jane Austen Goes to Hollywood, 2013) werden häufig Jugendgeschichten eines aus der Weltliteratur bekannten Helden (neu) erzählt (z.B. Kenneth Oppels Düsteres Verlangen. Die wahre Geschichte des Victor Frankenstein, 2012; Andrew Lanes mehrbändige Reihe Young Sherlock Holmes, seit 2010). Zahlreiche Werke, wie Mechthild Gläsers Die Buchspringer, spielen zudem mit Versatzstücken aus Werken der Weltliteratur. Gläsers Roman bietet ein spannendes Mystery-Abenteuer, in dessen Handlung mit der klassischen Formel „Es war einmal …“ eingeführt wird. Nach einem mysteriösen Prolog, der mit den verstörenden Worten „Sherlock Holmes blieb verschwunden“ (Die Buchspringer, 10) endet, beginnt die eigentliche Handlung des Jugendromans mit hastigem Kofferpacken. Dabei präsentiert sich die Protagonistin Amy bereits in dieser ersten Szene als passionierte Leserin: „Auch mein Koffer war inzwischen gut gefüllt, allerdings hauptsächlich mit Büchern. Bei den Klamotten hatte ich mich auf das absolut Nötigste beschränkt. Frei nach dem Motto: Lieber eine Strickjacke weniger, als auf einen meiner Lieblinge verzichten.“ (Die Buchspringer, 13)
Ohne Momo und Stolz und Vorurteil wird Amy Bochum nämlich nicht verlassen. Die Leser_innen werden sofort ins Geschehen geworfen, erst allmählich werden der Grund und das Ziel für die überstürzte Abreise deutlich: Weil ihre Mutter Alexis vor einer enttäuschten Liebe und Amy selbst vor dem Mobbing ihrer Klassenkameraden fliehen, reisen sie zu Amys Großmutter auf eine englische Insel. Durch das Motiv des Mobbings und durch die Selbstcharakterisierung als unscheinbares Mädchen, das lieber liest, als an den Aktivitäten der Peer Group teilzunehmen, präsentiert sich Amy als geistige Schwester von Bastian Balthasar Bux. Wie beim Helden der Unendlichen Geschichte warten auch auf Amy ‚wahre‘ Abenteuer im Kontakt mit Literatur und Fiktion. Damit inszeniert Gläser wie schon Ende den ganz eigenen Wert des literarischen Lesens, der für die passionierten Leser_innen darin liegt, dass Lesen und das damit verbundene Eintauchen in Fantasiewelten manchmal abenteuerlicher und aufregender (aber auch gefährlicher) sein können als die Wirklichkeit. Wie aus dem scheinbaren Langweiler Bastian der Retter der Fantasie wird, so wird aus dem vermeintlichen Blaustrumpf Amy die Retterin der Literatur. Denn das tragende Handlungselement des Jugendromans ist Bewahrung der (Welt-)Literatur und damit deren unveräußerlicher und unantastbarer Wert. Das Ziel der Reise ist für Amy in doppelter Hinsicht mit einer Premiere verbunden, kennt sie doch weder ihre Großmutter noch die Heimat ihrer Mutter. Und so
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warten in England dann auch große Überraschungen auf Amy; dabei tritt die Tatsache, dass sie der Spross eines schottischen Clans ist und ihre Mutter in einem Herrenhaus aufgewachsen ist, deutlich hinter die Eröffnung ihrer Großmutter zurück, dass sie – wie alle Clanangehörigen und darüber hinaus die Mitglieder des verfeindeten Clans auf dem benachbarten Castle – die Gabe zum ,Buchspringen‘ besitzt: Begibt sie sich zu einem Steinkreis auf dem Familienanwesen, der „Porta Litterae“, und legt sich ein Buch auf ihr Gesicht, so kann sie in den Text eintauchen und im wahrsten Sinne des Wortes durch die Geschichte wandeln und gar mit den Figuren sprechen. Später wird Amy feststellen, dass sie als einzige der Familie überall in jedes Buch springen kann. Die Gabe des Buchspringens ist für die Angehörigen der Clans mit der Verpflichtung verbunden, die Welt der Bücher und der Literatur zu schützen und zu bewahren. Amy bekommt die Aufgabe zugewiesen, täglich ins Dschungelbuch zu springen und dort nach dem Rechten zu sehen. Doch gleich bei ihrem ersten Sprung begibt sich Amy auf Abwege: Nach einem angeregten Gespräch mit Schir Khan verlässt sie das Dschungelbuch und landet auf einer Kreuzung, auf der Wegweiser auf verschiedene Klassiker der Weltliteratur weisen. In diesem Niemandsland trifft sie auf Werther, der gerade von den drei Hexen aus Macbeth verhöhnt und gequält wird. Wenn sie nämlich gerade in ihren Texten keinen Auftritt haben, ist es den literarischen Figuren möglich, sich selbstständig in der Buchwelt zu bewegen, etwa auf einen Tinten-Cocktail im Pub „Zum Tintenfass“ einzukehren und sich mit anderen Figuren zu treffen. Für Amy eröffnet sich eine wundervolle neue Welt – und es scheint, als beginne eine faszinierend-schöne Zeit. Doch die Bücherwelt wird von zwei schlimmen Ereignissen erschüttert. Zunächst wird am Strand der Insel die Leiche des Sherlock Holmes gefunden; in der Realität ermordet, fehlt die Figur nun in der Fiktion von Der Hund von Baskerville. Als nächstes verschwindet das weiße Kaninchen aus Alice im Wunderland. Das zweite Ereignis ist lediglich der Auftakt einer Reihe von Diebstählen in der Welt der Literatur. Zusammen mit Schir Khan und Werther – und mit Unterstützung des männlichen Sprösslings des verfeindeten Clans Will – macht es sich Amy zur Aufgabe, den Fall zu lösen und die Buchwelt zu retten. Im Zuge ihrer Ermittlungen erkennen Amy und ihre ‚realen‘ wie fiktiven Unterstützer, dass es jemand auf zentrale literarische Ideen – sogenannte Rudimente – abgesehen hat; so werden etwa der lange Schlaf aus Dornröschen, das Bild aus Dorian Gray und die Verwandlung aus der Verwandlung gestohlen. Als ‚Rudimente‘ werden im Roman die ersten literarischen Ideen bezeichnet, die zur Entstehung einer Geschichte führen. Ziel des Diebes scheint es zu sein, sich mit zehn Rudimenten eine eigene Geschichte zu erschaffen. Dies ist möglich, „wenn man zehn der mächtigsten Ideen der Literaturgeschichte in seine Gewalt bringt“ (Die Buchspringer, 287). Wie deutlich wurde, lebt Die Buchspringer von seinen expliziten und impliziten intertextuellen Bezügen. Zum einen wird auf bekannte Texte rekurriert, darunter (vielleicht geliebte) Kindheitslektüren und (eventuell verhasste) Schullektüren, was ein Gefühl der Vertrautheit weckt und zu Empathie und Identifizierung mit Amy
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beiträgt. Zum anderen finden sich jedoch zahlreiche Anspielungen auf – einem jungen Lesepublikum z.T. sicherlich unbekannte – Klassiker der Weltliteratur, was im besten Falle Neugierde weckt. Somit hat der Jugendroman bereits einen inhärenten didaktischen Anspruch, können die zahlreichen Nennungen von Klassikern, verbunden mit der zentralen Botschaft, dass Lesen Abenteuer ist, doch als explizite Aufforderung gesehen werden, den einen oder anderen der genannten Texte zu lesen und selbst in die Welt der Klassiker zu ‚springen‘. Für schulische Kontexte bieten die genannten Werke reichlich Stoff für (Grundsatz-)Diskussionen. An Texten wie Mechthild Gläsers Die Buchspringer lässt sich die Bedeutung und der Wert von Klassikern – sind diese tatsächlich schützenswert wie im Roman dargestellt? – oder das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit – wird Sherlock Holmes im Akt des Lesens tatsächlich ‚lebendig‘? – breit reflektieren. Auch die Präsentation literarischer Figuren, wie Schir Khan und Werther, kann aufgegriffen werden. Dabei könnten folgende Fragen leitend sein: Ist es zulässig aus dem ultimativ bösen Schir Khan eine intellektuelle Helferfigur zu machen, die auf der Seite des Guten steht? Wie nah ist die Werther-Darstellung Gläsers am Original? Schließlich kann die implizite These diskutiert werden, ob es tatsächlich immer eine grundlegende erste Idee ist, die einen literarischen Text ausmacht: Wie viele solcher ersten Ideen existieren in der Weltliteratur? Schöpft die Weltliteratur vielleicht aus einem begrenzten Fundus solcher Ideen? Für jugendliche Leser_innen ein spannendes Abenteuerbuch, berühren Die Buchspringer gleichzeitig zentrale Fragen der Literatur(-wissenschaft und -didaktik) und regen zum Nachdenken an.
4.
Der quixotic plot und die Selbstreflexivität des Lesens in der allgemeinen Literatur
Wenn vor dem Hintergrund jüngerer Bildungsstudien der Wert des Lesens herausgestellt wurde – und insbesondere des literarischen Lesens –, so liegt es nahe, auch die allgemeine Literatur darüber zu befragen. Denn wohl kaum in einem anderen Bereich wird die Kulturtechnik des Lesens so ausgiebig und vielfältig thematisiert wie spätestens seit dem 18. Jahrhundert in der klassischen Tradition der europäischen Literatur selbst. Die moderne Literatur und insbesondere der Roman stechen heraus. Gleich der Urtext des europäischen Romans, Miguel de Cervantes’ Don Quijote (1605/15), wartet mit einem Protagonisten auf, der nicht nur unerhörte Abenteuer erlebt, sondern zugleich als gefräßiger Leser präsentiert wird, der mittelalterliche Romanzen verschlingt. Dass in seinem Leben Fantasie und Realität bedrohlich miteinander verschwimmen, kommt nicht von ungefähr und deutet auf einen Topos in der Literaturgeschichte, der ein eindeutiges Plädoyer für das Lesen als Wert (an sich) zu relativieren herausfordert: Lesen ist für Don Quijote keineswegs unterschiedslos wertvoll, sondern geradezu gefährlich – zumindest in Bezug auf jene Werke, die seine Lieblingslektüre ausmachen. Don Quijote ist der archetypische Protagonist des „quixotic plot“ (Birke 2015, 18) – jenes seither immer wie-
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der anzutreffenden Handlungsmusters, in dem die Sogwirkung erzählerischer Welten den Realitätssinn fiktiver Leser_innen imaginativ erweitert, ebenso aber dramatisch verzerren kann. Auch vielen anderen berühmten Protagonisten wird die Literatur in dieser Weise zum Verhängnis, so etwa in Gustave Flauberts Madame Bovary (1856), in dem sich die Leidenschaft der Titelfigur für Liebesromane ominös mit ihrer Verstrickung in Ehebruch und Selbstmord verbinden. Dass die Literatur nicht klar Position bezieht, wenn es um sie selbst und um das Lesen geht, ist ein wichtiger Befund, um den Wert des Lesens von Literatur (neu) zu begründen. Lesen stellt ohne Zweifel eine zentrale kulturelle Praxis und Errungenschaft dar, kann aber ebenso ‚gefährlich‘ sein: Auf diesen ambivalenten Nenner lassen sich so manche Porträts des Lesens gerade in den Klassikern der europäischen Literatur bringen. Anstatt die Bedeutung des Lesens undifferenziert zu konstatieren, eröffnen viele dieser Werke eine Debatte darüber, welche Literatur das Lesen lohnt. Die durch das fiktional inszenierte Lesen literarischer Werke angestoßene Wertedebatte ist häufig von einer doppelten Reflexivität geprägt. Zum einen wird die Wirkung des Lesens nach innen, d.h. auf das lesende Subjekt in den Blick genommen, wobei den Chancen der Persönlichkeitsentwicklung die potenziell verhängnisvolle Veränderung der Wahrnehmung wie bei Don Quijote gegenübersteht. Zum anderen geht es um die Wirkung des Lesens nach außen, d.h. um das durch die Lektüre veränderte Weltverhältnis des Subjekts. Die Horizonterweiterung des lesenden Individuums kann nicht nur für es selbst zur Befreiung und Charakterbildung führen, sondern sich auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse auswirken. Dass Lesen in letzterem Sinne ‚gefährlich‘, aber paradoxerweise ermöglichend ist und Handlungsmacht verspricht, gehört schließlich zum Erkenntnisschatz bürgerlicher Emanzipationsbewegungen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, die sich nicht zuletzt der zunehmenden Alphabetisierung und literarischen Bildung der Bevölkerung verdankten. 4.1
Literarischer Wert, Stolz und (Vor-)Urteil in der Frühphase des Romans
Stellvertretend für eine ganze Reihe klassischer Romane des 18. und frühen 19. Jahrhunderts zählt Jane Austens Die Abtei von Northanger (1817) zu jenen Texten, die sich intensiv mit der Institutionalisierung neuer literarischer Genres sowie mit der Erweiterung lesender Gesellschaftsschichten im Zuge der Aufklärung und der fortschreitenden Bildungsteilhabe des Bürgertums auseinandersetzen. Literarhistorisch steht das 18. Jahrhundert im Zeichen des Romans bzw. der „rise of the novel“ (vgl. Watts 1957). Der formale Realismus und Individualismus des Romans, den Autoren wie Daniel Defoe, Samuel Richardson und Henry Fielding erproben, grenzt sich einerseits von Stiltraditionen der Romanze ab, deren typischerweise bildhübsche Heldinnen und formelhafte Liebesplots in zumeist eher fantastisch anmutenden Erzählwelten angesiedelt sind. Andererseits befindet sich der Roman als hochstehende
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Literatur im Spannungsfeld mit unterhaltenden Subgenres wie dem Schauerroman, die sich zeitgleich entwickeln. Fragen von literarischem Wert spielen daher gleich in mehrfacher Hinsicht eine Rolle. Nicht von ungefähr ist es das selbstreflexive fiktional inszenierte Lesen, durch welches die zeitgenössischen ebenso wie die Traditionsbezüge bei Jane Austen verhandelt werden. Die Abtei von Northanger, 1817 veröffentlicht, aber bereits um die Jahrhundertwende verfasst, steht im Lob der Kritik häufig hinter Austens bekannteren Romanen wie Sinn und Sinnlichkeit (1811) und Stolz und Vorurteil (1813) zurück. Als vermeintlich weniger komplex erscheint vielen professionellen Leser_innen das frühere Werk, und zu einseitig auf komische Effekte bedacht, die von Verwechslungen der Wirklichkeit mit literarisch imaginierten Welten herrühren. Weniger als (nur) um flache Komik geht es dabei aber zentral um die Frage, welchen Wert das Lesen hat und was man lesen soll, so dass letztlich auch der ‚Wert‘ der Abtei von Northanger neben Austens anderen Roman-Klassikern zu betonen ist. Im Mittelpunkt des Romans steht die siebzehnjährige Protagonistin Catherine Morland, die – wie viele Heldinnen Austens – einen Großteil des Romans auf Bräutigamschau geht, ansonsten aber vor allem mit ihrer Leidenschaft für Bücher in Erscheinung tritt. Als fiktive Leserin weist Catherine Gemeinsamkeiten mit zahlreichen ähnlichen Figuren und Texten der europäischen Literatur ihrer Zeit auf, so mit Charlotte Lennox’ Don Quixote im Reifrocke oder die abenteuerlichen Begebenheiten der Romanheldin Arabella (1752) und Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1786). Wie bei den beiden letzteren handelt es sich bei Austens Werk um einen Entwicklungs- bzw. Erziehungsroman, dessen Protagonist_in einen wesentlichen Teil ihrer bzw. seiner persönlichen ‚Bildung‘ aus der Literatur bezieht. Die Tatsache, dass das Lesen für die moralische Erziehung und Entwicklung solch eine große Rolle spielt, verweist auf die neue bürgerliche Selbstbestimmung des Individuums. Austens Catherine, Moritz’ Anton Reiser oder Lennox’ Arabella zeigen den gestiegenen Stellenwert und die zunehmende Ausdehnung an, die die Kulturtechnik des Lesens über breite Gesellschaftsschichten hinweg fand. Insofern eruieren diese Charaktere die Auswirkungen und Chancen, aber auch mögliche ‚Gefahren‘ der Literatur für das lesende Selbst. Dass etwa die fiktiven Leser_innen von ihren Büchern ganz und gar in den Bann gezogen werden und darüber ihre Alltagspflichten vernachlässigen, gehört zu den typischen Wendungen des quixotic plot. Hinzu kommt die Thematisierung der gelesenen Literatur wie z.B. des Schauerromans, die nicht nur zum Nachdenken über das Lesen allgemein, sondern zur Reflexion über den Nutzen und Nachteil der neuen Unterhaltungsliteratur im Speziellen herausfordert. Während die Protagonist_innen von Lennox’ Don Quixote im Reifrocke und Moritz’ Anton Reiser sich durch eine ganzheitliche Betrachtung der Vor- und Nachteile des Lesens bzw. durch die Rezeption eines in die klassische Antike zurückreichenden Literaturkanons auszeichnen, steht für Austens Heldin Catherine die zeitgenössische Konjunktur des Schauerromans im Vordergrund. So sehr durch
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ihre Lektüre zahlreicher Werke dieses Genres geprägt, nimmt Catherine ihre Umwelt wiederholt vor dem Hintergrund der darin entworfenen Fantasiewelten wahr. Besonders schwärmt sie für Ann Radcliffes Udolphos Geheimnisse (1794). Auf ihrer ersten größeren Reise fern der Heimat verliebt sich Catherine in Henry Tilney, der sie einlädt, ihn auf seinem Familiensitz, der Abtei von Northanger, zu besuchen. Dort angekommen gibt sich Catherine jedoch nicht zuletzt ihren Leseerinnerungen hin: Die Abtei wird in ihrer Wahrnehmung zu einem zweiten Udolpho, jener mittelalterlichen Burg in Radcliffes Roman, in der Catherine nun schauerhafte Abenteuer sucht. Ihre Erkundungen des alten Gemäuers gipfeln in einem nur vermeintlich mysteriösen Schlafgemach, in dem Catherine eine geheime Botschaft vermutet, das sich aber als ganz und gar gewöhnlich herausstellt. Catherines erwartungsvolles Herzklopfen löst sich in ein unangenehmes Schamgefühl auf. Catherines fehlgeleitete Erwartungen an die Abtei von Northanger stehen einerseits für die Wirkkraft von Literatur, andererseits für die Auswüchse des Lesens in Austens Werk, das häufig als Parodie auf den Schauerroman gelesen worden ist. Daran wird deutlich, inwiefern Austens Erziehungsroman Aspekte von literarischem Wert ebenso verhandelt wie die Frage, welche Art von Literatur junge Frauen wie Catherine zum Wohl ihrer Persönlichkeitsentwicklung lesen sollten. Neben der ausführlichen Diskussion finanzieller und wirtschaftlicher Verhältnisse findet eine ganze Reihe weiterer Wertedebatten bei Austen statt, die anhand der Abtei von Northanger zu diskutieren sind. Auch und gerade in der Schule können etwa die Vor- und Nachteile des naiven, identifikatorischen Lesens oder Fragen von literarischem Wert thematisiert werden, die durch die Konjunktur heutiger fantasy fiction wie z.B. Joanne K. Rowlings Harry Potter-Serie neue Brisanz erhalten. Durch die Lektüre von Northanger Abbey lernen Schüler_innen nicht nur einen vergleichsweise heimlichen Klassiker unter den Werken Jane Austens kennen. Zugleich können sie die historische Tiefendimension ermessen, die Debatten über literarischen Wert in der Geschichte des Romans besitzen. Entscheidend dabei ist, dass trotz Catherines peinlichem Erlebnis, das sie von der Literatur in die Wirklichkeit zurückholt, kein eindeutiges Urteil über den Schauerroman in der Abtei von Northanger gefällt wird. Positiv äußern sich z.B. Figuren wie Catherines Gastgeber Tilney, der begeistert von Ann Radcliffe spricht und bekennt, alle Werke der Autorin gelesen zu haben. Austens Roman inszeniert also ein äußerst vielschichtiges Bild des literarischen Lesens, durch das Schüler_innen vor allem dazu angeregt werden, sich ihr eigenes Bild von den Werten der Klassiker zu machen. Dies schließt die historisch wandelbaren Wertevorstellungen mit ein: Denn zur Ironie der Geschichte gehört im besprochenen Fall zweifellos, dass inzwischen nicht nur Austens Abtei von Northanger, sondern als dessen Intertext auch der Schauerroman in Werken wie Radcliffes Udolphos Geheimnisse zu den Klassikern der Literaturgeschichte zählt.
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4.2
Lesen und die klassische Buchkultur in der Gegenwartsliteratur
Das fiktional inszenierte Lesen findet sich nicht nur in der Frühphase des Romans, sondern dient auch in vielen zeitgenössischen Werken wie Bernhard Schlinks Der Vorleser (1995), Ian McEwans Abbitte (2001) oder David Mitchells Der Wolkenatlas (2004) der Reflexion von Werten. Mal weniger, mal stärker variiert, zieht sich der quixotic plot durch die gesamte Literaturgeschichte hinweg. Der Mehrwert einer diachronen Betrachtungsweise für Schüler_innen liegt darin, zu erkunden, wie der Wert des Lesens und der Klassiker unter wechselnden Rahmenbedingungen immer wieder neu bestimmt wird. Während das Lesen, auch als Ausdruck zyklisch wiederkehrender Skepsis gegenüber medialem Wandel, im 18. und 19. Jahrhundert teils argwöhnisch betrachtet wurde, erleben gedruckte Bücher und die Klassikerlektüre angesichts der aktuellen digitalen Revolution eine regelrechte Wiedergeburt als Thema der Literatur. Austens Abtei von Northanger sei daher exemplarisch Alan Bennetts internationaler Bestseller Die souveräne Leserin (engl. Original The Uncommon Reader, 2007) gegenüberstellt, der sich aufgrund seiner zugänglichen Sprache und Kürze – streng genommen handelt es sich eher um eine Novelle als einen Roman – ebenfalls gut für den Literaturunterricht eignet. Der Erfolg Bennetts, der sich eher als Autor populärer Dramen einen Namen machte, war auch insofern unerwartet, als das Thema Lesen und die Protagonistin des schmalen Bändchens eigentlich altbekannt sind. Bennetts Heldin ist das fiktionalisierte Alter Ego der britischen Königin Elisabeth II., die – wie der englische Originaltitel und auch dessen deutsche Übersetzung andeuten – als ‚Souverän‘ mit dem ‚gemeinen‘ Leser wenig zu tun hat. Vom lesenden Volk unterscheidet die Queen sich durch ihren aristokratischen Stand ebenso wie dadurch, dass sie erst im hohen Alter – mit 80 Jahren zum Zeitpunkt der Handlung wie die ‚wahre‘ Königin im Jahr der Veröffentlichung von Bennetts Novelle – das Lesen für sich entdeckt. Ungewöhnlich bzw. „uncommon“ erscheint diese späte Leidenschaft auch im Kontext veränderter Mediennutzung im 21. Jahrhundert, in dem das Lesen von Büchern zunehmend weniger allgemeinverbindlich wird. Vor diesem Hintergrund ist Bennetts Novelle vielfach als nostalgische Hommage an die klassische Buchkultur rezipiert worden, der es aufgrund der überraschenden Lesebiographie der Königin jedoch gelingt, einen frischen Blick auf den Wert des Lesens zu werfen. Bennetts Heldin wandelt sich recht zufällig zur Leserin, als sie eines Tages auf den Bücherbus aufmerksam wird, der ihre Bediensteten beliefert. Mehr aus Höflichkeit als aus Interesse wird sie ebenfalls Kundin der fahrenden Bibliothek, entwickelt sich in der Folge jedoch zum wahren Bücherwurm. Bald stellen sich bekannte Wendungen des quixotic plot ein, als die Königin etwa ihre Repräsentationsaufgaben vernachlässigt und es vorzieht, einmal mit einem guten Buch im Bett zu bleiben. Skeptisch beäugt von ihren Höflingen schert sie sich immer weniger um den öffentlichen Auftritt und gibt sich stattdessen ihrer Leselust hin. Gerade im Vergleich mit ihren royalen Pflichten werden jedoch zahlreiche weitere Vorzüge dieser „pull of books“ (Uncommon Reader, 29) herausgestellt. So wird die Königin als
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Leserin zunehmend versierter und anspruchsvoller, durchläuft eine (verspätete) Persönlichkeitsentwicklung und steigert durch die Lektüre ihre Fähigkeit zu Empathie und Mitgefühl, insbesondere auch ihren Untergebenen gegenüber. Erst durch das Lesen wird sie in gewissem Sinne ‚souverän‘, sowohl hinsichtlich ihrer Charakterbildung als auch in Bezug auf ihre zunehmende Emanzipation gegenüber der ihr traditionell zugetragenen, aber nicht selbst gewählten Rolle als Monarchin. Am Schluss des Buches wird gar angedeutet, dass Elisabeth II. ihre politischen Memoiren verfassen und aus diesem Grund abdanken will. In dieser Selbstabschaffung der Monarchie wird augenzwinkernd die (seit dem 18. Jahrhundert sprichwörtliche) aufklärerische und demokratisierende Funktion des Lesens und Schreibens von Literatur aktualisiert. Als Leserin und Schriftstellerin wird die Königin zur Protagonistin dezidiert anti-hierarchischer Vorstellungen von Gesellschaft und Literatur, wie sie auch in Virginia Woolfs theoretischer Schriftensammlung The Common Reader (1925) formuliert werden, auf die der englische Titel von Bennetts Novelle intertextuell verweist. Während die Königin anfangs eher unterhaltende Schmöker bevorzugt, arbeitet sie sich nach und nach zu komplexeren Werken vor. Zunehmend wird sie von einer passiven zur kritischen Leserin „with a pencil in hand“ (Uncommon Reader, 47), schreibt bedeutende Passagen heraus und fügt eigene Gedanken hinzu. Immer größeren Raum nehmen „the classics, […] Dickens, Thackeray, George Eliot and the Brontës“ (ebd., 54) in ihrer Lektüre ein. Während Autoren wie Henry James für die Königin als „novice reader“ (ebd., 13) noch in erster Linie „work“ (ebd.) bedeuteten, erkennt sie allmählich den Wert und die Wirkung, den solche ‚schwierigen‘ Bücher haben. Gerade ihre gestiegene Empathiefähigkeit wird auf die Klassikerlektüre zurückgeführt: „[T]his access of consideration might have something to do with books and even with the perpetually irritating Henry James“ (ebd., 49). Durch das Lesen erlangt die Königin neben Empathie eine Reihe weiterer Kompetenzen, so z.B. „analysis and reflection“ (ebd., 114) anhand von Werken wie Marcel Prousts À la recherche du temps perdu. Empathiefähigkeit, Analyse und Reflexion stellen zentrale Kompetenzen auch für Schüler_innen dar und gehören im Literaturunterricht zu jenen Werten, die gerade durch Klassiker vermittelt werden können. Durch die mögliche – affirmative, ironische oder distanzierende – Identifikation mit der englischen Königin als ebenfalls angehender Leserin wird die fiktional inszenierte Begegnung mit den Klassikern reflexiv gebrochen. Sind Schüler_innen danach angeregt, selbst einen der genannten Klassiker zur Hand zu nehmen, ist es unwahrscheinlich, dass sie in Ehrfurcht davor erstarren. Ob und wie sie den Leseeindrücken, Vorlieben und Positionierungen der fiktionalisierten Königin folgen, wäre in Anschlusslektüren und dem Gespräch darüber im Unterricht zu prüfen. In jedem Fall eignet sich Bennets Novelle als ebenso wertschätzender wie niedrigschwelliger ‚Türöffner‘ zu der Welt der Klassiker. Und dies gilt nicht nur für die englische Literatur, sondern auch für die Frage der Erweiterung des Kanons durch „ethnic classics“ (Uncommon
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Reader, 43) bzw. für die als neue Weltliteratur (vgl. Löffler 2014) gehandelten neueren englischsprachigen Literaturen auf dem Gebiet des ehemaligen britischen Empire. Bennetts Novelle bietet daher einen ebenso kompakten wie facettenreichen Einstieg, um die vielfältigen Werte des Lesens – und der Klassikerlektüre im Speziellen – im Literaturunterricht zu erörtern.
5.
Fazit
Die Beschäftigung mit dem fiktional inszenierten Lesen von Klassikern im Literaturunterricht verspricht, dass Schüler_innen ihre eigene (Kritik-)Fähigkeit schärfen, selbst zu beurteilen, was literarisch wertvoll ist und welche Kriterien diese Frage leiten. Als Leser_innen erreichen sie damit eine neue Entwicklungsstufe, auf der sie einen bestimmten Kanon nicht als gegeben hinnehmen, sondern wohlbegründete Werturteile formulieren lernen, die vor dem Hintergrund der vielfach geforderten Öffnung des Kanons von zentraler Bedeutung sind. Geht es bei der Thematisierung des Lesens in Klassikern (und des Lesens von Klassikern) zum einen darum, ethisch und moralisch wertvolle Texte für die Persönlichkeitsentwicklung der Leser_innen zu kuratieren, richtet sich die Selbstreflexivität in den entsprechenden Werken zum anderen auf den literarischen Wert im engeren Sinne. Im Zentrum steht dann die Frage, welche Texte ‚als Literatur‘ als wertvoll erachtet und in den Kanon aufgenommen oder aber daraus ausgeschlossen werden sollten. Meist fehlt in der Literatur ein eindeutiges Urteil, so dass an Schüler_innen als Lesende appelliert wird, selbst in die Wertedebatte einzusteigen. Gerade in der Bandbreite wertvoller, diffuser oder aber geradezu gefährlicher Eigenschaften, die literarische Texte dem Lesen zuschreiben, liegt der eigentliche Wert des fiktional inszenierten Lesens. Leser_innen werden so selbst zur Überprüfung ihrer Werthaltungen angeregt und dazu aufgefordert, Texte auswählen zu lernen, die moralische und ethische Entscheidungen begründen helfen. Der Wert des Themas Lesen besteht möglicherweise darin, nicht einen vorgefertigten Bildungskanon passiv zu rezipieren, sondern aktiv an dessen Konstruktion und Dekonstruktion im Rahmen fortwährender Kanonisierung teilzuhaben.
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Zukünftige Werte erlesen mit dystopischen Texten? Ein Ordnungsversuch struktur-funktionaler Gattungskonstituenten und didaktischer Implikationen für einen wertreflektierenden Literaturunterricht Simon Zebhauser Die Ambition dystopischer Texte trägt beiden semantischen Lesarten des Titels dieses Bandes Rechnung. Zum einen markieren sie ihre erzählte Welt als Zukunftsszenario unserer Gegenwart. Sie vermitteln den Rezipierenden dadurch, eine mögliche Fortschreibung ihres gegenwärtigen Gesellschaftszustandes zu erlesen. Zum anderen ist das entworfene Schreckensszenario keine pessimistisch-fatalistische Prophezeiung, durch welche eine vorgeschriebene Zukunft gelesen wird, sondern vielmehr Kritik, Warnung und Appell vor prinzipiell möglichen Zukunftsszenarien angesichts gegenwärtiger Tendenzen. Hierin zeigt sich der optimistisch-aufklärerische Impetus dystopischer Kritik: Er suggeriert der Leserschaft qua Negation des Negativen eine Wahlmöglichkeit ihrer gesellschaftlichen Zukunft und ruft implizit zur selbstbestimmten Gestaltung derselben auf. Dystopien zeigen jedoch nicht nur, dass etwas zur Wahl steht, sondern insbesondere was zur Wahl bzw. angesichts gegenwärtiger Tendenzen zur Diskussion steht – nämlich bestimmte Werte. Dystopien demonstrieren die prinzipielle Veränderbarkeit und Nicht-Selbstverständlichkeit von grundlegenden, scheinbar selbstverständlichen Werten des Zusammenlebens, wie sie insbesondere freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsformen und Kulturen zugrunde liegen. Ein solches Kontingenzbewusstsein bezüglich der quasi-natürlichen Werte bestimmter kultureller und gesellschaftlicher Lebensformen wird nicht über einen historischen Rückblick oder einen synchronen Seitenblick auf andere Kulturen, sondern über eine zukunftsgerichtete, fiktive Gesellschaftsfortschreibung erzeugt. Dabei konfrontieren Dystopien ihre Leserschaft mit Grundfragen wie: Welche Werte machen unsere Zukunft lebenswert? Welche bestimmen unser momentanes, welche unser zukünftiges Zusammenleben? Wodurch wird die Geltung unserer momentanen Werte möglicherweise bedroht? Im Erlesen fiktionaler ‚Fehlentwicklungen‘ entsteht der implizite Appell, die außerfiktionalen, gesellschaftskonstituierenden Werte sorgfältig und kritisch zu erlesen – im Sinne eines selbstbestimmten Wählens. Nicht zu1 letzt markiert auch der Gattungsbegriff Dystopie (griech. dys-: ‚schlecht‘; griech.
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Ich verzichte hier aus pragmatischen Gründen auf die Termini Subgattung oder Genre. Die theoretische und terminologische Gemengelage unterhalb der literarischen Großgattungen Epik, Dramatik, Lyrik soll hier nicht thematisiert werden. Zudem beschränke ich mich auf die klassischdystopische Traditionslinie. Gattungsnahe Nebenstränge, wie sie z.B. in Form von Anti-Utopie, kri-
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topos: ‚Ort‘) die normative Aufladung der Texte, die sie für einen wertreflektierenden Literaturunterricht interessant macht. Ein wertreflektierender Literaturunterricht zielt auf die Förderung einer Wertreflexionskompetenz im Sinne von Sabine Anselm (2012a) ab. Die Fähigkeit und Bereitschaft zur verantwortungsvollen Wertreflexion stellt einen wesentlichen Beitrag für eine Bildung zur moralischen Mündigkeit unter individualisierten, pluralisierten und medialisierten Lebensbedingungen dar. Heranwachsende sind heute zunehmend herausgefordert, sich eigenständig innerhalb differenter und vielfältiger Wert- und Normensysteme zu orientieren und zu verorten. Deshalb sind formale Bildungsansätze notwendiger Bestandteil einer Förderung von moralischer Mün2 digkeit. Inwiefern dystopische Texte im literaturunterrichtlichen Kontext Bildungspotenzial hinsichtlich einer Wertreflexionskompetenz aufweisen, steht im Zentrum dieses Beitrags. Dass Dystopien ethisch brisante Aspekte aus zahlreichen gesellschaftlichen Bereichen thematisieren, ist offensichtlich: Häufig thematisierte Gesellschaftspraktiken sind sozialer, politischer, medialer, wissenschaftlicher, technologischer oder eugenischer Natur. Das Bildungspotenzial dystopischer Texte für einen wertreflektierenden Literaturunterricht liegt jedoch nicht allein in ihrer thematisch-inhaltlichen Behandlung von Wertfragen, ansonsten könnte man die Wertreflexion zu entsprechenden Themen auch ebenso an Sachtexten anregen. Das Bildungspotenzial liegt gerade auch in der Art und Weise, wie diese ethisch brisanten Wertfragen in Dystopien verhandelt werden. Die gattungstypischen literarästhetischen und persuasiv-funktionalen Strategien stehen deshalb im Fokus dieses Beitrags: Um die didaktische Relevanz dieser stark konventionalisierten, gattungstypischen Verhandlungsmuster für wertreflektierende Bildungsprozesse aufzuzeigen, werden hier sowohl in der Gegenstandsanalyse (Abschnitt 1 und 2) als auch in den didaktischen Überlegungen (Abschnitt 3 und 4) besonders die strukturellformalen sowie die darauf basierenden funktionalen Charakteristika dystopischer Literatur und deren didaktische Implikationen für unterrichtliche Einsatzmöglichkeiten in den Blick genommen. In Abschnitt 1 werden zunächst drei Gattungscharakteristika vorgestellt, deren Zusammenspiel die typisch dystopische Textstruktur und -funktion konstituieren. Die Gegenstandsanalyse verfolgt dabei keine Einzelwerkbetrachtungen, sondern analysiert synoptisch die konventionalisierten strukturell-funktionalen Gattungs3 konstituenten. Dabei soll gezeigt werden, dass die drei Gattungskonstituenten und
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tischer Dystopie oder kritischer Utopie von Layh (2014) vorgeschlagen werden, sind nicht Gegenstand dieser Gattungsbetrachtung. Dass eine Werteerziehung altersentsprechend in ihren Ansätzen variiert und nicht immer im Modus einer tendenziell formaleren Erziehung zur Wertreflexion stattfinden kann und soll, ist evident (vgl. Anselm 2017b, 10). Die hier im Wesentlichen berücksichtigten Werke sind: WIR (Jewgenij Samjatin), Schöne neue Welt (Aldous Huxley), 1984 (George Orwell), Fahrenheit 451 (Ray Bradbury), Corpus Delicti.
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ihre funktionale Entfaltung auf bestimmte Werthaltungen in der Leserschaft angewiesen sind. Die dystopische Textfunktion resultiert wesentlich auf der Bereitschaft des Lesesubjekts, diese grundlegenden Wertbindungen zu der entworfenen Wertkonstellation im Text in Bezug zu setzen. Die Art und Weise, wie in Dystopien diese grundlegenden Werte verhandelt werden und welche funktional-persuasiven Strategien dabei zum Einsatz kommen, stehen bei der Gegenstandsanalyse im Vordergrund. Im Abschnitt 2 wird die gattungsinterne Variabilität in der Gewichtung der drei Gattungskonstituenten demonstriert. Gerät nämlich eine dieser drei Konstituenten zugunsten der anderen in den Hintergrund, kann die typisch dystopische Textfunktion keine Wirkung entfalten – oder positiv formuliert: Die Funktion verändert sich. Die unterschiedlichen Konstituentengewichtungen und ihre jeweiligen funktionalen Auswirkungen werden anhand von Beispieltexten aufgezeigt. Diese systematischen, gattungsinternen Unterscheidungen ermöglichen anschließend eine differenziertere didaktische Diskussion. Die didaktischen Überlegungen in Abschnitt 3 basieren auf den drei wechselseitig aufeinander angewiesenen Gattungskonstituenten, also auf den strukturfunktionalen Besonderheiten der dystopischen Gattung. Zunächst werden die besonderen Potenziale der einzelnen Grundkonstituenten und somit das Potenzial dystopischer Lektüre für einen wertreflektierenden Literaturunterricht verdeutlicht. Dabei wird jeweils auch die gattungsinterne Variabilität berücksichtigt, indem dargelegt wird, dass aus den in Abschnitt 2 erarbeiteten unterschiedlichen Gewichtungen der Gattungskonstituenten besondere didaktische Konsequenzen folgen. Abschließend wird in Abschnitt 4 eine erweiterte Perspektive auf die Wertkonstellation und den konventionalisierten Persuasionsmodus von Dystopien eingenommen. Hierbei sollen die Grenzen dystopischer Lektüre für ethische Bildungsprozesse skizziert werden. Denn eine kritisch-konstruktive Potenzialanalyse verdeutlicht neben den besonderen didaktischen Möglichkeiten ebenso die meist damit verbundenen Einseitigkeiten des Lerngegenstandes.
1.
Struktur-funktionale Konventionen der dystopischen Gattung
Sowohl Rank (vgl. 2014a, 2) als auch Meyer (vgl. 2001, 38 und 93) haben in Bezug auf Dystopien eine einseitige Gattungsbestimmung über thematisch-inhaltliche oder strukturell-formale Merkmale kritisiert und zu Recht die Berücksichtigung funktionaler Aspekte bei der Gattungsbestimmung eingefordert. Auf den ersten Blick mag die Annahme einer Textfunktion bei sogenannten entpragmatisierten (literarischen) Texten befremden. Gerade Dystopien beziehen sich jedoch – wie unten ausgeführt wird – gezielt auf Werthaltungen und Praktiken des textexternen GesellschaftsproEin Prozess (Juli Zeh), Die Tribute von Panem. Tödliche Spiele (Suzanne Collins), Die Bestimmung (Veronica Roth), Die Scanner (Robert M. Sonntag), Der Circle (Dave Eggers).
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zesses und entfalten hierüber eine bestimmte kommunikative Funktion innerhalb ihres sozio-pragmatischen Kontextes. Dieses funktional-pragmatische Spiel mit textexternen Referenzen ist Bestandteil der Gattungskonventionen und bestimmt maßgeblich die leserseitige Anerkennung der Gattungszugehörigkeit. Werbetexte im Verlags- und Vertriebswesen, Rezensionen in der Presse und Lektürereaktionen im Internet sind meist von den für Dystopien typischen wirkungsästhetischen und funktionalen Kategorien geprägt (Schauder, Schrecken, Kritik, Warnung, etc.), was ein Indikator dafür ist, dass die funktionalen Aspekte in dieser Gattung markant sind und zur gattungsspezifischen Lesererwartung gehören. Eine kommunikative Funktion lässt sich nicht direkt in den Texten selbst ablesen, sondern wird auf Basis bestimmter formaler und inhaltlicher Textstrukturen im Lektüreprozess konstruiert. Auf Textebene ist eine Funktion somit lediglich in Form von dispositionalen Strukturen sowohl auf der Ebene der histoire als auch des discours nachweisbar, die im Lektüreprozess leserseitig eine entsprechende Funktionskonstruktion ermöglichen bzw. nahelegen: „Im Unterschied zum hermeneutischen oder psychologischen Begriff der Intention und zum empirischen Beobachtungsbegriff der Wirkung bezeichnet der Terminus Funktion in der Literaturwissenschaft einen ‚Dispositionsbegriff‘ […]. Ein Text bzw. ein Textelement erfüllt eine bestimmte Funktion (oder, mit einem älteren Synonym, eine spezifische Leistung), wenn es die in empirischer Verallgemeinerung nachweisbare Disposition (oder älter: ‚Eignung‘) besitzt, angebbare Textrelationen herzustellen und angebbare Leserwirkungen hervorzurufen. Dafür ist es unerheblich, ob dies auf einer unterstellten ‚Wirkungsabsicht‘ des Autors beruht und ob in jedem Einzelfall die entsprechende Wirkung auch tatsächlich eintritt.“ (Fricke 2007, 643)
Die in der Literaturwissenschaft häufig betonte Primärfunktion dystopischer Texte ist die Kritik an und Warnung vor gegenwärtigen gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten und Tendenzen (vgl. Layh 2014, 15; vgl. Meyer 2001, 11f.). Diese gesellschaftskritische Grundausrichtung weisen auch viele Texte anderer Gattungen auf. Eine derartig grobe funktionale Bestimmung ist also zu unspezifisch. In der Gegenstandsanalyse werden deshalb die besondere Form dystopischer Gesellschaftskritik und die gattungstypischen Persuasionsverfahren erarbeitet. Dabei wird verdeutlicht, dass die gesellschaftskritische Textfunktion im Wesentlichen auf einem gattungskonstituierenden Strukturkomplex dreier Relationen basiert. Die erzählte Welt als wertebedrohendes Zukunftsszenario Erstes gattungskonstituierendes Merkmal ist eine spezifische raum-zeitliche und normative Relation zwischen der textinternen Welt und der außerfiktionalen Realität. Die erzählte (textinterne) Welt eines dystopischen Textes weist sich durch bestimmte Referenzen als mögliches Zukunftsszenario der außerfiktionalen Welt
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aus. Damit wird die erzählte Welt nicht als fiktionale Anderswelt (wie z.B. in der Phantastischen Literatur) markiert, sondern als eine mögliche zukünftige – den Rezipierenden drohende – Realität dargestellt. Die besondere Gestaltung der textinternen Referenzen ist dabei entscheidend für die Konstitution der gattungstypischen Textfunktion: Wesentliche Elemente des entworfenen Zukunftsszenarios verweisen auf bekannte Werte, Prinzipien, soziale Praktiken oder Entwicklungstendenzen der außerfiktionalen Gegenwartsgesellschaft und plausibilisieren dadurch ihre Wahrscheinlichkeit oder prinzipielle Möglichkeit in der fingierten Gegenwartsfortschreibung. So wird z.B. gleich zu Beginn von Juli Zehs Corpus Delicti: Ein Prozess (2009, 7) auf die WHO-Definition des unbestrittenen Wertes Gesundheit verwiesen. Solch explizite sowie auch implizite Verweise wie der folgende auf Umwelt-, Klima- und Anthropozändiskurs des 21. Jahrhunderts positionieren die erzählte Welt im zukünftigen Möglichkeitsraum unserer Gesellschaft: „Rings um zusammengewachsene Städte bedeckt Wald die Hügelketten. Sendetürme zielen auf weiche Wolken, deren Bäuche schon lange nicht mehr grau sind vom schlechten Atem einer Zivilisation, die einst glaubte, ihre Anwesenheit auf diesem Planeten vor allem durch den Ausstoß gewaltiger Schmutzmengen beweisen zu müssen.“ (Corpus Delicti, 11f.)
Dystopische Zukunftsszenarien bestehen aus Extrapolationen – also möglichen, aber keineswegs zwingenden Entwicklungsverläufen – bekannter Aspekte der außerfiktionalen gesellschaftlichen und kulturellen Gegenwart der Leser: „[Dystopien] spiegeln und extrapolieren geistige Strömungen und Denkweisen, sozio-politische Ereignisse, Entwicklungen und Tendenzen […], die die zeitgenössische außerliterarische Gegenwart in eine diesen fiktiven Gesellschaftsentwürfen ähnliche Zukunft verwandeln könnten.“ (Layh 2014, 16).
Die dystopischen Extrapolationen beanspruchen somit keine Voraussagen, sondern sind als (mehr oder weniger naheliegende) Möglichkeitsentwürfe unter Berücksichtigung gegenwärtiger Verhältnisse zu verstehen. Die extrapolierte Welt inszeniert sich durch ihre Referenzen als kontingente Fortschreibung der außerfiktionalen Welt. Dabei dienen als Extrapolationsgrundlage oftmals kulturelle Praktiken, Entwicklungen oder Prinzipien, die in der außerfiktionalen Gegenwart einen Wert darstellen (Gesundheit, Glück, gesellschaftliche Stabilität, technische Fortschritte). Positiv besetzte oder zumindest scheinbar neutrale Tendenzen sind als Extrapolationsgrundlage deshalb geeignet, da sie besonders gut plausibilisieren, warum sich die Gesellschaft derart entwickeln könnte. So wird z.B. das Entstehen des Internetunternehmens Der Circle im gleichnamigen Werk von Dave Eggers direkt aus bekannten Gegebenheiten der medialen Gegenwartskultur plausibilisiert. Das Entstehen dieses extrapolierten Internetnachfolgers von „Facebook, Twitter,
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Google“ (Der Circle, 32) wird als naheliegende ‚Lösung‘ allseits bekannter Probleme unserer medialen Alltagspraxis dargestellt: „Ty [Urheber und Gründer des Circles; Anm. S.Z.] hatte das anfängliche System entwickelt, […], das alles online kombinierte, das bis dahin getrennt und schlampig gewesen war – die Profile von Usern in Social Media, ihre Zahlungssysteme, ihre diversen Passwörter, ihre E-Mail-Konten, Benutzernamen, Vorlieben, jedes Tool und jeden Ausdruck ihrer Interessen. […] [Ty steckte] alles, sämtliche Bedürfnisse und Tools jedes Users, in einen Topf und erfand TruYou – ein Konto, eine Identität, ein Passwort, ein Zahlungssystem pro Person. […] Wenn du Circle-Tools benutzen wolltest, und es waren die besten Tools, die dominantesten und omnipräsent und gratis, musstest du das als du selbst tun, als dein wahres Selbst, als dein TruYou. Die Ära der falschen Identitäten, des Identitätsdiebstahls, der mehrfachen Benutzernamen, komplizierten Passwörter und Zahlungssysteme war vorüber.“ (Der Circle, 30)
Damit sich die Rezipierenden auf dieses fingierte Fortschreibungsspiel einlassen, muss das Zukunftsszenario plausibel, müssen den Rezipierenden die Extrapolationen wahrscheinlich bzw. möglich erscheinen, wie bereits Hartmut Weber (vgl. 1979, 160f.) im Rückgriff auf Termini klassischer Poetik feststellte. Im dystopischen Weltentwurf wird die erzählte Welt von Rezipierenden jedoch nicht nur als mögliches Zukunftsszenario (an-)erkannt, sondern zudem als ‚schlechter Ort‘ erfahren, als eine Welt, die dem Moralempfinden sowie dem Wertesystem der Rezipierenden widerspricht. Im fingierten Gesellschaftswandel von außerfiktionaler Gegenwart zur entworfenen Zukunftswelt hat sich aus Sicht der Rezipierenden ein normativer Wandel zum Schlechten vollzogen. Damit das dystopische Szenario von einer breiten Leserschaft negativ bewertet wird, müssen grundlegende, kollektiv geteilte Werthaltungen der Rezipierenden auf dem Spiel stehen bzw. missachtet werden. Der plausibilisierte Niedergang bestimmter Werte im Zukunftsszenario wird meist als ein Resultat zweier Ursachen dargestellt: eines Risses im gesamtkulturellen Entwicklungszusammenhang (meist ein großer Krieg) und eines technischen Fortschrittsschubs, der die Verwirklichung von altbekannten Werten und Wünschen begünstigte. Durch die zunehmende Verwirklichung dieser Werte werden jedoch andere Werte, die mit diesen konfligieren, marginalisiert und schließlich unterdrückt. Das balancierende Wertesystem aus verschiedenen – wechselseitig widerstreitenden – Werten gerät aus dem etablierten Gefüge, kippt in eine einseitige Richtung und offenbart dadurch auch die Unvereinbarkeit bestimmter Werte des gegenwärtigen Wertesystems im utopischen Verwirklichungsbestreben. Die Huxley'schen Extrapolationen (Techniken der Eugenik, Hypnopädie, Verhaltenskonditionierung, mediale Unterhaltung sowie soziale Praktiken wie ritualisierte Kollektivekstasen und zunehmende Promiskuität) ermöglichen eine Schöne neue Welt, in der anerkannte Wert- und Wunschvorstellungen (wie z.B. Glück, Neidlosigkeit, ein unproblematisches Verhältnis zum Tod, Jugend bis zum Lebensende, gesellschaftliche Harmonie und Stabilität, Erfüllen von psy-
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chischen und biologischen Bedürfnissen) zur utopischen, scheinbar vollkommenen Verwirklichung gelangt sind. Der Extrapolation von anerkannten Werten der außerfiktionalen Gesellschaft kommt dann die Funktion zu, die Ideologieanfälligkeit und damit das aggressive Potenzial solcher Werte hinsichtlich anderer Werte wie z.B. Individualität zu entlarven, indem die Aggressivität durch die einseitige Verabsolutierung jener anerkannten Werte im entworfenen Zukunftsszenario augenfällig wird.4 Der gesellschaftskritische Impetus von Dystopien offenbart sich meist schon allein durch die erzählte Welt als wertebedrohendes Zukunftszenario, insbesondere durch die teils simplifizierenden, linearen und hyperbolischen bis grotesken Extrapolationen (vgl. Meyer 2001, 33; vgl. Layh 2014, 158). Doch stellen diese typisch satirischen Elemente der erzählten Welt nicht das wesentliche Textmerkmal dar, durch welches die Leserschaft eine kritische Distanz zum entworfenen Zukunftsszenario einnimmt. Der gattungstypische kritische Persuasionsmodus entfaltet sich vielmehr über den narrativ auserzählten Grundkonflikt zwischen entworfenem Gesellschaftsszenario und Außenseiterfigur(en) sowie über die figural-perspektivierte Erzählweise aus Sicht der Außenseiter_innen. Die Handlung als dynamischer Wertekonflikt In der Tradition der utopischen Literatur wurde das poetologische Problem reflektiert, wie sich in einem statischen Utopieentwurf oder einer vollkommenen Idylle (im Sinne Schillers) eine dynamische Handlung und ein ihr zugrunde liegender Konflikt konstituieren lassen (vgl. Meyer 2001, 99). Dystopische Gesellschaftsentwürfe zeichnen sich wie die utopischen durch ihre statische Abgeschlossenheit aus. Dystopische Kritik vollzieht sich jedoch nicht über die handlungsarme Darstellung einer extrapolierten negativ-perfekten Zukunftsgesellschaft, sondern basiert auf der narrativ-literarischen Handlungsdynamik. Dadurch unterscheidet sie sich in ihrem Persuasionsmodus elementar von essayistischen oder argumentativen Satireformaten. Eine konfliktgetriebene Dynamisierung der Handlung entfaltet sich über das zunehmende Abweichen einzelner Figuren von der perfekten, normierten Gesellschaftsordnung. Der handlungskonstituierende Grundkonflikt besteht dabei zwischen gesellschaftlich-normativer Identitätsverordnung und individuellen Identitätsbestrebungen und -behauptungen einzelner Figuren. Dieser Konflikt zwischen staatlicher Identitätsnormierung und individueller Selbstverortung ist kein Kampf um Figuren(über-)leben, sondern ein figural inszenierter Wertekonflikt: Die Außenseiterfiguren sind durch ihre individualisierenden Identitätsbestrebungen Träger und Verfechter von Wertbindungen. Ob sie als ‚Personen‘ überleben, ist sekundär. Entscheidend ist, dass sie ihre selbst erarbeiteten identitätsstiftenden Werte nicht 4
Besonders explizit ist dieser Wertestreit in Die Bestimmung in Szene gesetzt. Die fünf widerstreitenden Fraktionen sind soziale Teilsysteme, die jeweils von einem verabsolutierten Grundwert geprägt sind. Der Fraktionenkrieg symbolisiert den unvermeidbaren Streit verabsolutierter Werte.
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verraten und damit sich selbst bzw. ihrem Selbst treu bleiben. Der Konflikt, in den die systemabweichenden Außenseiter_innen geraten, wird nicht als Überlebenskampf erzählt, sondern als Selbst-Verteidigung im Sinne einer Identitätsbehauptung. So vergewissern sich z.B. Winston und Julia in Orwells 1984 angesichts ihres unausweichlichen Ausgeliefertseins an den tödlichen Sanktionsapparat im totalitären Ozeanien der Unbesiegbarkeit ihrer innersten Wertbindungen und Überzeugungen, die ihre individuelle Identität ausmachen: „‚Wenn sie mich dazu bringen könnten, dich nicht mehr zu lieben – das wäre wirklicher Verrat.‘ Sie dachte darüber nach. ‚Das können sie nicht‘, sagte sie schließlich. ‚Das ist das einzige, was sie nicht können. Sie können dich dazu bringen, alles mögliche zu sagen – alles –, aber sie können dich nicht zwingen, es zu glauben. Dein Innerstes bekommen sie nicht zu fassen.‘ ‚Nein‘, sagte er ein wenig hoffnungsvoller, ‚nein, du hast völlig recht. Dein Innerstes bekommen sie nicht zu fassen. Wenn du fühlst, daß es sich lohnt, Mensch zu bleiben, auch wenn damit absolut nichts zu erreichen ist, dann hast du sie besiegt.‘ […] Sie konnten durch Befragung ausgeforscht, konnten einem durch Folter abgezwungen werden. Wenn es nun aber nicht darum ging, am Leben, sondern ein Mensch zu bleiben, welchen Unterschied machte das letztlich? Die Gefühle eines Menschen konnten sie nicht ändern: ja, was das anbetraf, so konnte man sie nicht einmal selbst ändern, auch wenn man es wollte. Sie konnten bis ins letzte Detail alles offenlegen, was man je getan, gesagt oder gedacht hatte; doch das Innerste eines Menschen, dessen Regungen sogar für einen selbst geheimnisvoll waren, blieb uneinnehmbar.“ (Orwell 1984, 202f.)
Ebenso explizit äußert sich Peeta gegenüber Katniss in Die Tribute von Panem unmittelbar vor den am nächsten Morgen beginnenden tödlichen Spielen, in denen nur einer der Teilnehmenden überleben darf. Nicht das Überleben, sondern die wertebezogene, identitätswahrende Selbst-Behauptung in der tödlichen Arena ist moralischer Orientierungspunkt des zentralen Dialogs. „‚Ich war sowieso nie ein Anwärter auf den Sieg bei den Spielen. […] Es ist die Wahrheit. Ich kann nur hoffen, dass ich mich nicht blamiere, und …‘ Er zögert. ‚Und was?‘, sage ich [Katniss; Anm. S.Z.]. ‚Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Nur … Ich möchte als ich selbst sterben. Verstehst du, was ich meine?‘ […] ‚Ich möchte nicht, dass sie mich da drin verändern. Mich in eine Art Monster verwandeln, das ich nicht bin.‘ Ich beiße mir auf die Lippe, weil ich mich so klein fühle. Während ich darüber nachgrübele, ob es wohl Bäume [als Überlebensvorteil; Anm. S.Z.] geben wird, kämpft Peeta darum, seine Identität zu wahren. Sein reines Ich. ‚Heißt das, du wirst niemanden töten?‘, frage ich. ‚Nein, wenn die Zeit kommt, werde ich sicherlich töten wie die anderen auch. Ich kann nicht kampflos untergehen. Ich wünsche mir nur, mir würde etwas einfallen,
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wie … wie ich dem Kapitol zeigen kann, dass sie mich nicht besitzen. Dass ich mehr bin als eine Figur in ihren Spielen.‘“ (Die Tribute von Panem, 160)
Katniss gerät zu diesem Zeitpunkt über diese Priorisierung von Peeta mit ihm in Streit. Hier zeigt sich ein Durchgangsstadium ihrer Entwicklung zu einem ebenso selbstverständlichen Einstehen für entwickelte Wertbindungen auch im Angesicht lebensbedrohender Situationen. Am Ende des ersten Bandes befinden sich dann beide als letzte Überlebende „in einer zutiefst demütigenden Lage […]: Da nur einer übrigbleiben darf, scheidet Zusammenarbeit aus; nur als Mörder kann man siegen“ (Abraham 2017, 7). Beide Figuren stehen also vor dem Dilemma, sich entweder töten zu lassen oder die eigenen identitätskonstituierenden Werte zu verraten. Keiner ist bereit, das eigene Überleben gegen die inneren Werteverpflichtungen durchzusetzen (Die Tribute von Panem, 382f.). Durch ein lebensgefährliches Wagnis schaffen sie es schließlich, beide zu überleben, ohne ihre Wertbindungen zu missachten und somit ihre Identität gegenüber den demütigenden Spielregeln zu behaupten. In dem strukturgleichen Dilemma in Die Bestimmung (vgl. 462ff.) sind die Gründe für das Riskieren des eigenen Lebens dieselben: Hätte Beatrice ihren Freund umgebracht, käme das einem Selbst-Verrat bzw. einem Identitätsbruch gleich, der das eigene (biologische) Überleben wertlos und sinnentleert bzw. sogar unvorstellbar werden lässt (vgl. ebd., 474, auch 437). Nicht nur die Außenseiterfiguren, sondern auch ihre Antagonist_innen, die re5 präsentativen Figuren des dystopischen Gesellschaftssystems agieren als figurale Verfechter_innen ihrer normativen Ordnung. Ihr Handlungsmotiv ist nicht der biologische Tod von Dissident_innen, sondern die ideologische Bekehrung derselben. Ziel ist es, die individualisierte Identität der Außenseiter_innen zu brechen, damit ihre Wertbindungen nicht mehr handlungswirksam werden können und somit die perfekte Systemordnung restituiert wird. Im Gegensatz zu den erfolgreich ihr Selbst behauptenden Protagonist_innen in den Jugenddystopien Die Tribute von Panem und Die Bestimmung erleidet Winston in 1984 einen grausamen Identitätsbruch, bei dem seine identitätsstiftenden Überzeugungen – im obigen Zitat 6 noch als ‚uneinnehmbar‘ beschworen – mittels Folter dekonstruiert werden. O’Brien als Repräsentant der herrschenden ‚Partei‘ erläutert seinem systemdevianten ‚Folter-Patienten‘, dass es nicht primär um seinen biologischen Tod geht:
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Meyer (2001, 121) bezeichnet damit die zentralen figuralen Vertreter des Systems. Dies sind in den hier untersuchten Dystopien: Der Wohltäter in WIR, Der Controller bzw. Weltaufsichtsrat in Schöne neue Welt, O'Brien in 1984, Beatty in Fahrenheit 451, Kramer in Corpus Delicti, President Snow in Die Tribute von Panem, Jeanine in Die Bestimmung, Bailey und Stenton in Der Circle, Nomos in Die Scanner. In einer ausführlichen Analyse des dritten Teils von 1984 erläutert Richard Rorty (vgl. 1989, 288ff.), wie Winston dazu gebracht wird, entgegen seiner handlungsleitenden und sinngebenden Wertvorstellungen und -bindungen zu agieren, diese dadurch zu entwerten und somit den Kernbestandteil seines Selbsts abzuschaffen.
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„Als erstes müssen Sie einmal begreifen, daß es hier keinen Märtyrertod gibt. Sie haben von der Religionsverfolgung der Vergangenheit gelesen. Im Mittelalter gab es die Inquisition. Sie erwies sich als Fehlschlag. Sie wollte die Ketzerei ausrotten und sorgte am Ende für ihren Fortbestand. Für jeden Ketzer, den man auf den Scheiterhaufen verbrannte, standen tausend neue auf. […] Habe ich Ihnen nicht eben erst gesagt, daß wir uns von den Inquisitoren der Vergangenheit unterscheiden? […] Wenn Sie sich uns schließlich ergeben, dann muß es freiwillig geschehen. Wir vernichten den Ketzer nicht, weil er uns Widerstand leistet: solange er uns Widerstand leistet, vernichten wir ihn nie. Wir bekehren ihn, wir ergründen sein Innerstes, wir formen ihn um. […] wir bringen ihn auf unsere Seite, nicht dem Anschein nach, sondern aufrichtig, mit Herz und Seele. Wir machen ihn zu einem von uns, bevor wir ihn töten.“ (1984, 304f.)
Ebenso explizit begründet in Juli Zehs Corpus Delicti der antagonistische Systemrepräsentant Heinrich Kramer die ausbleibende Hinrichtung der METHODENAbtrünnigen Protagonistin Mia Holl: „Sie hat ernsthaft geglaubt, die METHODE würde sie zur Märtyrerin machen. Dabei schenken nur unfähige Machthaber dem nervösen Volk eine Kultfigur. Jesus von Nazareth, Jeanne d’Arc – der Tod verleiht dem Einzelnen Unsterblichkeit und stärkt die Kräfte des Widerstands. Das wird Ihnen nicht passieren, Frau Holl.” (Corpus Delicti, 263)
Dieser figural inszenierte Grundkonflikt zwischen normierter Identitätsverordnung und individueller Wert- und Selbstbildung entfaltet sich erst allmählich, indem sich die oft anfänglich noch unauffälligen oder systemkonformen Protagonist_innen zunehmend von den normierten Denk-, Wahrnehmungs-, Empfindungs- und Handlungsmustern emanzipieren. Dabei schöpft die Gattung immer wieder aus einem ähnlichen Motivrepertoire an subversiven Praktiken, die den Protagonist_innen eine zunehmend individualisierte Identitätsentwicklung ermöglichen, welche die gesellschaftlich normierte Ordnung unterlaufen. Diesen Praktiken wird ein die individuelle Emanzipation beförderndes Potenzial zugesprochen und sie dienen damit zur Plausibilisierung der devianten Entwicklung der zunächst systemkonformen Protagonist_innen zu selbstbestimmten und damit gefährdeten Außenseiter_innen. Der wohl häufigste Auslöser für eine solche Entwicklung sind persönliche Beziehungen, 7 Freundschaften und Liebe (vgl. Layh 2014, 162 und 166; vgl. Meyer 2001, 127). Sehr häufig stellt auch der Aufenthalt in und das Wahrnehmen von wilder Natur einen subversiven Akt dar, in dem sich die Außenseiter_innen ihres individuellen Selbsts vergewissern (vgl. Schöne neue Welt 103f. und 262; vgl. Meyer 2001, 137). 7
Stark devianzförderndes Potenzial bergen z.B. folgende Beziehungen: D-503 und I-330 in WIR, Bernard Marx, Lenina und John in Schöne neue Welt, Winston und Julia in 1984, Montag und Clarisse in Fahrenheit 451, Mia und ihr Bruder in Corpus Delicti, Mae und Ty in Der Circle, Rob und Fanni in Die Scanner, Katniss und Peeta in Die Tribute von Panem sowie Beatrice und Tobias in Die Bestimmung.
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Weitere typische individualisierende und somit subversive Praktiken sind das Rezipieren von Literatur und Kunst, das private Lesen sowie das Schreiben z.B. von (Tage-)Büchern (vgl. auch Layh 2014, 168). So sind etwa WIR und Die Scanner als Schreibprodukt der textinternen Protagonisten fingiert. Momente der Einsamkeit und Privatheit sind ebenfalls häufig Entwicklungs(zeit-)räume individueller SelbstBewusstheit. Prototypisch hierfür sind beispielsweise in Der Circle die Rückzugsbestrebungen der Protagonistin Mae im Zuge ihrer Kajakfahrten, mit denen sie die kollektivistischen Zwänge und die Ideologie einer transparenten Gesellschaft des Circle-Unternehmens unterläuft. Höhepunkt dieser Ausbrüche aus dem normativen System des Circles ist schließlich das Erklimmen einer zivilisationsvergessenen Insel im Rahmen einer nächtlichen Kajakfahrt. Auf dem Gipfel des Inselfelsens neben einer einsamen Kiefer genießt Mae kontemplativ eben jenen Zustand des NichtWissens, dessen Beseitigung ein Hauptziel der Circle-Ideologie ist (vgl. Der Circle, 306ff.). Auch Bemühungen zur Rekonstruktion individueller und kollektiver Vergangenheit sind Ausdruck einer Suche der Protagonist_innen nach einer systemexternen, alternativen Ordnung der Dinge, die es ermöglicht, die dystopische Gesellschaftsordnung in ihrer Kontingenz und Veränderbarkeit zu sehen, um sich von ihr zumindest innerlich distanzieren zu können. Beispiele sind Winstons Versuche am Ende des ersten Teils von 1984, die vergangene Historie, ein altes Gedicht oder den Zweck alter Bauwerke zu rekonstruieren. Auch der Buch-Scanner Robert Sonntag in Die Scanner und der Buchverbrenner Guy Montag in Fahrenheit 451 versuchen, die ursprüngliche Aufgabe ihres Berufsstandes zu ergründen und damit die Relativität ihrer systemkonformen Tätigkeiten aufzudecken. Die Außenseiter_innen verweigern darüber hinaus meist sedierende Substanzen, die solch individuelles Sinnstiftungsstreben zerstreuen oder unterdrücken sollen. Die zunehmende Diskrepanz zwischen systemverordneter und selbst erarbeiteter Identität entlädt sich in der Entdeckung der Außenseiterfigur oder ihrer offenen Rebellion und kulminiert schließlich in einer direkten Konfrontation von Außenseiterfigur und systemrepräsentierenden Antagonist_innen, bei der die konträr vertretenen Werteverständnisse offen aufeinandertreffen (vgl. Meyer 2001, 116; vgl. Layh 2014, 167). Der Konfliktausgang variiert je nach Buch zwischen Eliminierung der Außenseiter_innen-Identität (WIR, Schöne neue Welt, 1984, Der Circle, Corpus Delicti), rebellierender Selbst-Behauptung mit offenem Ende (Fahrenheit 451, Die Scanner) und gesellschaftserlösendem Heldentum (Die Tribute von Panem, Die Bestimmung). Die Außenseiterfigur als perspektivischer und moralischer Bezugspunkt Das dritte gattungskonstituierende Strukturmerkmal ist wie schon das erste eine Relation zwischen Textmerkmalen und Lesesubjekt, die im Akt des Lesens hergestellt wird. Einerseits müssen die Rezipierenden im literarischen Spiel die erzählte Welt als wertebedrohendes Zukunftsszenario anerkennen (erste gattungskonstitu-
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ierende Relation), andererseits nehmen sie über die (fast immer) konsequente interne Fokalisierung der Erzählinstanz die Perspektive der Protagonist_innen ein und gehen durch diese erzähltechnisch erzeugte Nähe sowie die moralische Aufladung desselben eine moralische Beziehung oder gar einen ‚moralischen Pakt‘ (Matt 1997, 36ff.) mit diesen ein. Im Zuge der Emanzipation vom normativen System der dargestellten Gesellschaft entwickelt der/die Protagonist_in Werthaltungen, die zum Selbstverständnis der Rezipierenden gehören. Die Entwicklung zum/r Außenseiter_in stellt somit aus Sicht der Rezipierenden eine normative Wandlung zum Guten dar. Die Außenseiterfigur dient dadurch als attraktiver, leserinvolvierender Zugang in das Handlungsgeschehen und gleichzeitig als kritisch-distanzierende Instanz gegenüber dem entworfenen Schreckensszenario. Über diese moralische und perspektivische Nähe der Außenseiterfigur und ihre distanzierte Haltung zum entworfenen Gesellschaftsszenario lassen sich die Leser_innen auf ein probehandelndes Miterleben der Erfahrungen der Protagonist_innen in dem wertebedrohenden Zukunftsszenario ein. Die Auswirkungen dieses Gesellschaftsentwurfs erfahren die Rezipierenden aufgrund der figuralen Leserinvolvierung nicht als überblickende Betrachter_innen der erzählten Welt, sondern als Quasi-Betroffene im miterlebenden Nachvollzug der individuellen Leidensgeschichte der moralisch und perspektivisch nahen Protagonist_innen (vgl. Meyer 2001, 37). Hierbei wird deutlich, dass die narrative Dynamisierung des Wertekonflikts nicht nur ästhetischer Selbstzweck ist, sondern auch ein Mittel darstellt, um einen bestimmten Persuasionsmodus zu gestalten. Nicht eine essayistische oder argumentative Überzeugung hinsichtlich des wertbedrohenden Potenzials gegenwärtiger Entwicklungstendenzen zeichnet den dystopischen Persuasionsmodus aus, sondern das Quasi-Erleben der Auswirkungen eines fingierten Gesellschaftsszenarios auf einen exemplarischen individuellen Lebensvollzug. Deutlich wird hier auch, dass die Entfaltung dieser spezifischen persuasiven Funktion bedingt, dass die Rezipierenden bestimmte Werthaltungen besitzen und zur textseitigen Wertkonstellation in eine bestimmte Beziehung setzen. Die erzählerischen Mittel zur Herstellung von Nähe zur Außenseiterfigur variieren dabei: Den narratologisch höchsten Grad an Unmittelbarkeit inszenieren die populären Jugenddystopien Die Tribute von Panem und Die Bestimmung, indem zusätzlich zur internen Fokalisierung über die gefährdete Protagonistin die Erzählinstanz mit dieser identifiziert wird (autodiegetischer bzw. Ich-Erzähler). Zudem erzählen diese dann auch noch im unmittelbaren Präsens (gleichzeitiges Erzählen) statt aus zeitlicher Distanz zum Geschehen (späteres Erzählen). Der identifikatorische Zuschnitt dieser Erzählform ist offensichtlich (vgl. auch Rank 2014b, 25). Bei den meisten prototypischen Dystopien liegt dagegen ein späteres Erzählen, also eine zeitliche Distanz zwischen Geschehen und Erzählakt sowie eine heterodiegetische Erzählinstanz vor. Ausnahmen bilden die autodiegetisch erzählten Dystopien WIR und Die Scanner, da dort der Text als Autograph der Protagonisten fingiert wird. Die Erzählinstanz ist also nicht identisch mit der Außenseiterfigur, übernimmt jedoch durch die konsequent interne Fokalisierung deren Perspektive. So-
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mit werden die allmählich abweichenden, individualisierenden inneren Entwicklungsprozesse im Denken und Fühlen der Protagonist_innen nachvollziehbar. Eine besondere Erzählsituation findet sich dagegen in Corpus Delicti und vor allem in Schöne neue Welt. In beiden Texten ist die interne Fokalisierung nicht durchgehalten. Die Rezipierenden gewinnen hier Innensichten zusätzlich von mehr oder minder stark devianten Nebenfiguren.8 Beide Texte werden also durch eine nullfokalisierte Erzählinstanz hervorgebracht, die zwar perspektivisch variabel und streckenweise sogar oberhalb der Figurenperspektiven erzählt, jedoch vornehmlich die Innenwelten der devianten Figurengruppe, also die systemsubversiven Gedanken und Empfindungen der Außenseiterfiguren in den Blick nimmt. Trotz dieser relevanten – unten noch aufzugreifenden – graduellen Unterschiede liegt in allen hier untersuchten Dystopien das dispositionale Textangebot vor, dass sich die Rezipierenden perspektivisch und moralisch an die devianten Außenseiterfiguren binden, ihre individualisierenden Entwicklungsprozesse aus der Nähe miterleben und auf der Basis eines moralischen Paktes deren Selbst-Behauptung gegenüber der wertebedrohenden Gesellschaftsordnung erhoffen. Funktionales Zusammenspiel der gattungskonstituierenden Relationen Prototypische Dystopien besitzen eine ausgewogene Gewichtung der dargestellten drei gattungskonstituierenden Relationen. Die dystopische Handlung resultiert aus dem dynamischen Wertekonflikt und somit einer textinternen Relation zwischen den Protagonist_innen und erzählter Welt. Die Protagonist_innen entwickeln im Handlungsverlauf über typische subversive Praktiken deviante Werthaltungen und Verhaltensweisen und geraten darüber in eine Spannungsrelation zur normativen Ordnung der erzählten Welt. Nach einem Kulminationspunkt erfährt dieses Spannungsverhältnis eine Lösung. Neben dieser textinternen Relation weisen Protagonist_in und erzählte Welt durch ihre jeweilige Gestaltung eine besondere Disposition dafür auf, im Leseprozess bestimmte pragmatisch-kontextuelle Relationen zum Lesesubjekt und zu gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen einzugehen. Bestimmte Elemente der erzählten Welt übernehmen die Funktion, diese als möglicherweise drohendes Zukunftsszenario der Gegenwartsgesellschaft der Rezipierenden zu plausibilisieren. Neben dieser bewusst zu aktualisierenden Relation zwischen erzählter Welt und außerfiktionaler Gegenwartsgesellschaft, stellt sich die Relation zwischen Protagonist_in und Lesesubjekt in der Regel wohl ungleich unbewusster her: Die moralische Entwicklung der Protagonist_innen hin zu grundlegenden Werthaltungen der Rezipierenden und zudem die perspektivische Bindung der Erzählinstanz an die Protagonist_innen über Erzählmodus und -stimme stellen die textseitige Dispositionsgrundlage dar, einen mehr oder weniger bewussten 8
In Corpus Delicti betrifft das v.a. Driss (S. 64f.), Hutschneider, Rosentreter und Sophie (vgl. Heuer 2013, 198), in Schöne neue Welt Bernard Marx, Helmholtz-Watson, John und seine Mutter, aber auch z.B. den systemverfechtenden Direktor (112f.).
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moralischen Pakt mit diesen bzw. ihren Emanzipationsbestrebungen einzugehen. Die textexterne Funktion9 dieser dritten Relation besteht in der moralischen (Selbst-)Verortung der Rezipierenden innerhalb der textseitig angebotenen Wertekonstellation. Der Strukturkomplex aus diesen drei Relationen stellt die dispositionale Grundlage der gattungstypischen Textfunktion innerhalb des pragmatischen Kontextes, in dem der Text rezipiert wird, dar. Folgende Abbildung veranschaulicht dies etwas vereinfacht:
Abbildung 1: Struktur-funktionales Modell dystopischer Texte (eigene Darstellung)
Die einzelnen Relationen übernehmen dabei jeweils verschiedene Teilfunktionen hinsichtlich einer Gesamtfunktion, die der Text innerhalb seines pragmatischen Kontextes entfaltet und die auf die textexterne Relation (markiert durch die gestrichelte Verhältnislinie in der Abbildung) zwischen Lesesubjekt und bestimmten Gegenwartstendenzen ausgerichtet ist. Auf Grundlage des Zusammenspiels der drei gattungskonstituierenden Relationen modifizieren Rezipierende ihr Verhältnis zu den entsprechend assoziierten Gegenwartstendenzen: „Diese didaktischen Absichten [Gesellschaftskritik; Anm. S.Z.] werden in allen Romanen nach bestimmten gattungsspezifischen Strategien codiert. Auf der einen Seite wird dem Leser als fiktives Bezugsfeld das Normsystem der utopischen Ge9
Textelemente übernehmen nach Harald Fricke (vgl. 2007, 643) eine textexterne Funktion, wenn sie die Disposition aufweisen, im Leseprozess Relationen zu textexternen Bezugsfeldern einzugehen.
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sellschaft vorgeführt, das unter Berücksichtigung von Kohärenz und Kontingenz bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse antizipiert und diese als mögliche oder gar wahrscheinliche Formen des zukünftigen Zusammenlebens darstellt. Auf der anderen Seite wird durch die Installation des Außenseiters und der Beschreibung seines Verhaltens und Erlebens ein zweites fiktives Bezugsfeld eingeführt. Im Normkonflikt dieser beiden Bezugsfelder offenbart sich dann die Generalaussage des Romans. […] [D]em Leser [wird dadurch] ein Bewertungsangebot dargeboten, das ihm hilft, die dargestellte sozio-politische Wirklichkeit des utopischen Systems zu beurteilen und vielleicht Lösungsmöglichkeiten im Leseprozeß zu formulieren, die nur in der Realität des Lesers wirksam werden können, auf diese also wirkt.“ (Meyer 2001, 142)
Die textinterne Relation zwischen Protagonist_innen und Zukunftsszenario erhält somit eine moralisch-kritische Persuasionskraft hinsichtlich dieses textexternen Verhältnisses zwischen Rezipierenden und den Gegenwartstendenzen. Deren potenzielle Wertegefährdung wird nicht argumentativ erklärt oder nachgewiesen, sondern in Form eines narrativ dynamisierten Wertekonflikts auserzählt. Die möglicherweise noch nicht bewussten normativen Spannungen und das latente Konfligierungspotenzial in der textexternen Relation zwischen bestimmten Gegenwartstendenzen und dem Wertesystem der Rezipierenden werden in einer fiktionalen Konfliktrelation zwischen Gegenwartsfortschreibung und moralischem Stellvertreter der Rezipierenden zugespitzt und in der Form eines literarischen Handlungserlebnisses erfahrbar gemacht und dadurch offengelegt. In dieser hyperbolischen fiktionalen Zuspitzung des Konfliktpotenzials von Gegenwartstendenzen und Werthaltungen der Rezipierenden zeigt sich der künstlichexperimentelle Charakter von Dystopien (vgl. Meyer 2001, 37f., 140 sowie 145). In diesem Sinne lässt sich der dystopische Text als ein Zukunfts-Laboratorium (vgl. Rank 2014b) begreifen, in welchem mit einem Selbsterprobungsexperiment folgender (moralischen) Forschungsfrage nachgegangen wird: Wie wäre es, mit meinem jetzigen Identitäts- und Werteverständnis in einer Welt zu leben, in der gewisse Gegenwartstendenzen das gesellschaftliche Zusammenleben dominieren? Die dystopische Lektüre wird zum Falsifikationsverfahren für utopisch-ideale Fortschrittserwartungen oder -versprechungen hinsichtlich gewisser Entwicklungstendenzen und zum Nachweis ihres wertegefährdenden Potenzials. Die persuasive Leistung entfaltet sich jedoch nicht über einen kognitiv-argumentativen, sondern einen narrativ-immersiven Nachvollzug. Gerade dieses Persuasionsverfahren über das Eintauchen in die Individualgeschichte einer fiktiven Figur fördert jedoch auch ein temporäres Verlassen des unmittelbaren pragmatischen Handlungskontextes der Rezipierenden und erzeugt somit das charakteristische Spannungsverhältnis zwischen funktional-pragmatischer Lektüre und entpragmatisiertem literarischen Spiel.
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Spannung zwischen sozialkritischer Funktion und literarischem Spiel Während die zweite gattungstypische Strukturkonstituente, der narrativ-dynamisierte Wertekonflikt, eine textinterne Relation zwischen extrapoliertem Gesellschaftssystem und Außenseiterfigur darstellt, bindet sich der dystopische Text über die beiden anderen Relationen an den gesellschaftlich-pragmatischen Kontext und übernimmt dort eine spezifische (Text-)Funktion. Damit sich diese (Text-)Funktion (Schaudern, Kritik, Warnung, Appell bezüglich gewisser Entwicklungstendenzen) im Lektüreprozess in den Rezipierenden entfalten kann, müssen diese die normativen Relationen zwischen erzählter Welt und eigener Gegenwartsgesellschaft sowie die zwischen Außenseiterfigur(en) und eigenem Selbst-Verständnis aktualisieren. Die darauf basierende Wirkungsweise ist dann mit klassisch-dramaturgischer Wirkungsästhetik nachvollziehbar, wobei manche traditionell textinternen Konzepte wie anagnorisis und Möglichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit der Handlung auf die textexternen Rezipierenden als Quasi-Figur und die fingierte Fortschreibung ihrer Gesellschaft gewendet werden. Tragischer Wendepunkt der klassischen Tragödie ist die Peripetie, in welcher der/die Held_in erkennt, dass das drohende Unheil durch einen menschlichen Fehler zumindest partiell selbst verursacht wurde. Schaudern entsteht durch die plausible Folgerichtigkeit des Eintretens von Unglück, den Umschlag von der Unwissenheit zur Einsicht in die eigenen Fehler sowie die Ähnlichkeit mit den Protagonist_innen (vgl. Aristoteles 1982, 33–39). Die Rezipierenden der Tragödie leiden mit den Held_innen, die den plausiblen Umschlag ins Unglück erfahren und dabei die Rolle des eigenen Fehlers erkennen. Die Rezipierenden bleiben dabei jedoch in der Zuschauerposition. Im dystopischen Weltentwurf dagegen wird die erzählte Welt als Zukunftsszenario gemäß der prinzipiellen Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit plausibilisiert, die den Rezipierenden suggeriert, das Schreckensszenario könnte sie bzw. ihre Gesellschaft selbst einholen (vgl. Meyer 2001, 108f.). Den Schrecken leiden sie nicht stellvertretend mit, sondern er scheint ihnen möglicherweise tatsächlich zu drohen bzw. sie erleben ihn probehandelnd über die Protagonist_innen. Auf diesem (Wieder-)Erkennen der realgesellschaftlichen Ursachen oder Voraussetzungen für das Entstehen eines solchen Schreckensszenarios basiert das Schaudern. Da die dystopische Extrapolation jedoch nicht als Voraussage, sondern nur als mögliches Szenario rezipiert wird, haftet dem dystopischen Schaudern kein Jammer oder keine Tragik über einen unaufhaltsamen, ‚wirklich‘ eintretenden Schrecken an. Das Ausweisen als mögliches Szenario verdeutlicht die Abwendbarkeit dieser drohenden Welt. Das dystopische Zukunftsszenario ist nicht tragisch zu erleiden, sondern soll das wertbedrohende Potenzial gewisser Gegenwartstendenzen sichtbar machen, was zu Affekten des Schauderns führen kann und zur kritischen Beleuchtung derselben anregt. Hierin liegt der Appellcharakter, der (optimistisch) aufklärerische Impetus von Dystopien. Die Rezipierenden ‚erwachen‘ im Gegensatz zu den textinternen Protagonist_innen aus dem fiktionalen Alptraum, haben probehandelnd erfahren, wie es in einer Welt wäre, in der sich bestimmte Gegenwartstendenzen zu gesellschafts-dominierenden
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Ausprägungen entwickelt haben, sind dadurch kritisch sensibilisiert für das wertbedrohende Potenzial dieser scheinbar harmlosen oder sogar positiven Tendenzen und können somit dazu beitragen, ein entsprechendes Szenario abzuwenden. Trotz ihrer unübersehbaren funktionalen Einbettung in den pragmatischen Kontext der außerfiktionalen Gesellschafts- oder Kulturentwicklung insbesondere über die Gesellschaftsbezüge und die Leserinvolvierung, verfügen Dystopien mit der narrativ-literarischen Handlungsgestaltung der textinternen Konfliktrelation über eine entpragmatisierende Textdimension. Einerseits leistet die narrative Darstellung und Entfaltung des Wertekonflikts einen Beitrag zur persuasiven Funktion. Andererseits wird durch die narrative Dynamisierung des Wertekonflikts eine eigenständig abgeschlossene Handlung inszeniert, die durch ihre innere Eigengesetzlichkeit den pragmatischen Kontext in den Hintergrund rückt und somit den Handlungskonflikt gleichzeitig entpragmatisiert. Die Geschlossenheit der Handlung und der auch emotional-affektiv vereinnahmende narrative Persuasionsmodus begünstigen über die Immersion ein autonomes literarisches Handlungsspiel, das den pragmatischen Kontext vergessen lässt. Die Handlung kann auch ohne pragmatische Relationen rezipiert werden. Die Aktualisierung des pragmatischen Funktionspotenzials hängt in seiner Direktheit und seinem Konkretisierungsgrad von den Rezipierenden ab. Über die narrative Dynamisierung des Wertekonflikts hinaus weisen einige Dystopien verschiedene 10 Formen literarästhetischer Gestaltungselemente auf. Dies mildert die pragmatisch-funktionale Dimension ab, da das literarische Spiel mit subtilen textinternen und intertextuellen Bezügen und Anspielungen nicht die außerfiktionalen Referenzen, sondern die autonomisierende Selbstreferenzialität der Textstruktur verstärkt. Durch diese entpragmatisierende Dimension der zweiten gattungskonstituierenden Relation bleibt den Rezipierenden die Autonomie, ob und in welcher Direktheit sie die textfunktionalen Referenzen aktualisieren. Das gesellschaftskritische Potenzial des Textes ist als prinzipiell auszuschlagendes Textangebot zu verstehen, das z.B. in einer primär literarästhetischen Lektüre in den Hintergrund treten kann.
2.
Gattungsinterne Variabilität in der Konstituentengewichtung
Der hier verwendete Textkorpus wurde bewusst so gewählt, dass neben der prototypischen Ausgewogenheit die systematischen Variabilitätsmöglichkeiten in der Gewichtung der drei gattungskonstituierenden Relationen demonstriert werden können. Gerät nämlich eine der drei Relationen zugunsten der anderen in den Hintergrund, kann die gattungstypische Textfunktion (Schaudern, Kritik, War10
Exemplarisch sei hier auf entpragmatisierende Bezüge in Orwells 1984 verwiesen wie beispielsweise die Glocken(-blumen)-Motivik (vgl. 120ff., 141, 145f., 148, 155, 157 sowie 178), das Symbol der in Glas gefassten Koralle (vgl. 117f., 179, 195 sowie 267) und raumsemantische Aufladungen in Bezug auf das Zimmer von Mr. Charrington (vgl. 120ff.), den natürlichen Rückzugsort (vgl. 145 und 152f.) sowie den Raum 101 (vgl. 33f. und 294).
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nung, Appell) strapaziert oder sogar gefährdet sein – oder positiv formuliert: Die Funktion verändert sich. Im Folgenden werden die jeweiligen Auswirkungen auf das funktionale Zusammenspiel dieser besonderen Gewichtungen im Strukturkomplex anhand von jeweils zwei dystopischen Texten erläutert. Als Beispieltexte für eine vergleichsweise geringe Ausprägung der ersten Gattungskonstituente, die Disposition zum Rückbezug auf bestimmte Gegenwartstendenzen, werden hier die populären Jugenddystopien Die Tribute von Panem und Die Bestimmung betrachtet. Die zweite Gattungskonstituente, also die narrativ-dynamisierende Gestaltung des Wertekonflikts und somit die entpragmatisierende Dimension tritt z.B. in Jostein Gaarders 2084 – Noras Welt und Gudrun Pausewangs Noch lange danach im Vergleich zu den beiden anderen, pragmatisierenden Relationen in den Hintergrund. Schließlich wird gezeigt, wie in Schöne neue Welt und Corpus Delicti die perspektivische und moralische Nähe zu den Protagonist_innen verfremdend oder ironisch durchbrochen und dadurch die dritte gattungskonstituierende Relation abgeschwächt wird. Wie oben bereits festgestellt, ist die Disposition zur dritten gattungskonstituierenden Relation in den populären Jugenddystopien Die Tribute von Panem und Die Bestimmung stark identifikatorisch ausgerichtet: Perspektivische und moralische Nähe verführen die Rezipierenden zur quasi-unmittelbaren Identifikation mit den jugendlichen Protagonist_innen. Auch die textinterne Konfliktrelation zwischen jugendlichem Behaupten von selbst entwickelten, systemsubversiven Wertbindungen auf der einen Seite und normierend-sanktionierendem Gesellschaftssystem auf der anderen Seite zeichnet sich durch eine äußerst spannungsgeladene Dynamik aus. Die Bezüge zur außerfiktionalen Gegenwartsgesellschaft sind jedoch vergleichsweise wenig betont und allgemein gehalten, sodass der kritische Rückbezug, das schaudernde Wiedererkennen von außerfiktionalen Gegenwartstendenzen und somit der warnende und appellierend-engagierte Impetus hinter dem Fokus auf Selbst-Entwicklung durch den Handlungskonflikt und Selbst-Behauptung in demselben zurückfällt (vgl. Rank 2014a, 6). Die textinterne dystopische Welt gerät dadurch leicht zum Mittel für eine adoleszenztypische Identitätsgeschichte (vgl. Schweikart 2014, 17). Die zweifellos verwerfliche normative Ordnung der erzählten Welt fungiert primär als moralisch klar orientierter Handlungsraum, in dem sich die nicht nur jugendliche Leserschaft der Lust am (Probe-)Handeln und Selbst-Behaupten in einer wertebedrohenden Welt hingeben kann, deren Relation zur Gegenwartsgesellschaft jedoch vergleichsweise unterbetont ist. Entsprechend definiert Rank im Anschluss an Bachtin den Chronotopos dieser populären Jugenddystopien als einen der „Gefährdung und Bewährung“ (Rank 2014a, 8). In einem solchen moralisch aufgeladenen Setting können tiefliegende Wertbindungen und Selbst-Verständnisse herausgefordert und somit im Sinne einer Selbst-Vergewisserung erspürt werden. Dieses Sich-selbst-spüren in einer fingierten Bewährungssituation ist ein wesentlicher Bestandteil der Angstlust dieser Texte (vgl. Schweikart 2014, 15). Viele klassischdystopische Handlungsmotive sind dabei jugendliterarisch gewendet (vgl. Abraham
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2017, 5): Das allmähliche Abweichen und Emanzipieren von der normierten, verordneten Rollenidentität vollzieht sich durch die adoleszente Infragestellung der elterlichen und gesellschaftlichen Normen und die damit verbundene eigene Identitätssuche. Die systemsubversive Liebe – in 1984 noch ein „politischer Akt“ (1984, 155) – wird zur jugendlichen Liebesgeschichte mit zunehmend exklusivem Eigenwert. Entsprechend enden die ersten Bände von Die Tribute von Panem und Die Bestimmung mit selbstbezogenen Liebesdialogen und Identitätsreflexionen. Trotz dieser Übergewichtung der zweiten und dritten gattungskonstituierenden Relationen enthalten diese Texte viele Merkmale, die auf die eigene Gegenwart kritisch gewendet werden können. Die Texte besitzen durchaus die Disposition, als typische Dystopien rezipiert zu werden. Genauso können sie jedoch ohne gewichtige Referenzen auf die Gegenwartsgesellschaft und somit als Selbstbehauptungsspiel ohne gesellschaftskritische Ambition gelesen werden. Die funktionale Ambiguität dieser Texte ist in den didaktischen Überlegungen zu berücksichtigen. Erhält dagegen die textinterne narrative Dynamisierung des Wertekonflikts im Verhältnis zu den beiden pragmatisierenden Relationen weniger Gewicht, tritt der textfunktionale Warnungs- und Appellcharakter stärker in den Vordergrund und die entpragmatisierende Dimension verschwindet. Eine solche Tendenz bescheinigt Bernhard Rank Jostein Gaarders 2048 – Noras Welt und Gudrun Pausewangs Noch lange danach: „Hier überwiegen […] die Sachbuch-Anteile und der pädagogische Impetus so sehr, dass die literarische Gestaltung darunter leidet“ (Rank 2014a, 6). In Bezug auf Gaarders 2048 – Noras Welt konstatiert Geissler dieselbe Einseitigkeit etwas konkreter: „Gaarder hat kluge Vorschläge, wie der einzelne Mensch stärker für die Umweltproblematik interessiert werden könnte. Doch sie fügen sich nicht in einen Erzählfluss, sondern sind Teil von Vorträgen und Artikeln, die sich Nora und Jonas gegenseitig vorlesen. Sie liegen wie Fremdkörper darin. Die Traumidee ist als Kitt zwischen Gaarders Botschaft und seiner Geschichte nicht stark genug.“ (Geissler 2013, o.S.)
Beide Beispieltexte setzen die typische Konfliktrelation zwischen Protagonistin und extrapoliertem Zukunftszenario in Szene und sichern dadurch zusammen mit den beiden anderen stark ausgeprägten Relationen die sozialkritische Textfunktion. Die von diesem Konflikt bestimmte Handlung scheint indes nicht die narrative Dynamik für ein entpragmatisierendes Immersionspotenzial zu besitzen, um das eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen sozialkritischem Impetus und eigenständig-abgeschlossener Handlung herzustellen. Dadurch bleiben die funktionalen Bezüge und somit der pragmatische Kontext sehr stark präsent. Die mangelnde Handlungsdynamik liegt wohl auch an der unveränderlich-statischen Irreversibilität des Schreckensszenarios. Eine eingetretene ökologische Katastrophe kann im Gegensatz zu einer kulturell-normativen Schreckensgesellschaft nicht subversiv unterminiert werden. Eine dynamisierbare Handlung ist hier nicht leicht zu entfal-
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ten. Damit taucht in diesen Texten wieder das alte poetologische Problem der literar-utopischen Tradition auf, wie ein unveränderlich-statischer Weltentwurf literarisch gestaltet werden kann. Huxleys Schöne neue Welt ist ein Beispiel, in dem die perspektivische und moralische Nähe, also die Disposition zur dritten gattungskonstituierenden Relation vergleichsweise gering ist.11 Die erzähltechnischen Gründe hierfür wurden oben bereits konstatiert: Die Erzählinstanz nimmt zwar vornehmlich Innensichten der devianten Außenseiter_innen ein, bleibt jedoch nicht konsequent bei einer Außenseiterfigur, sondern wechselt zwischen ihnen. Diese Multiperspektivität zum einen und die nullfokale Distanz zu den Außenseiterfiguren zum anderen sind Textmerkmale, die erheblich zu einer Distanzierung zwischen Rezipierenden und Figuren beitragen. Dabei werden die verschiedenen Außenseiter_innen keineswegs als homogene Widerstandsgruppe gezeigt, sondern vielmehr in ihrer Heterogenität und – das gegenseitige Missverstehen fördernden – kontingenten Einseitigkeit dargestellt (vgl. Schöne neue Welt, 113, 119, 160, 179, 205, 208, 210f. u.a.). So werden z.B. die festen Überzeugungen und Ansichten sowie das pathetische Sendungsbewusstsein von John durch die Erzählinstanz mit epistemischen Modalitäten wie „Er glaubte … verdient zu haben, […] er meinte … zu sehen“ (Schöne neue Welt, 278ff.) und analysierenden Erklärungen in ihrer kontingenten Beschränktheit relativiert (Schöne neue Welt, 233f., 240f., 251, 278ff.). Nicht selten kippen diese Szenen in ein ironisches Spiel oder sogar groteske Komik. Diese distanzierenden Merkmale modifizieren den typisch dystopischen Persuasionsmodus: Die Rezipierenden begegnen dem dargestellten Grundkonflikt weniger immersiv-miterlebend aus der (auch moralischen) Perspektive der devianten Protagonist_innen, sondern mehr als distanzierte Beobachter_innen. Anhand der heterogenen Außenseiterfiguren wird der wertegefährdende Charakter der Extrapolationen für die Rezipierenden zwar augenscheinlich, jedoch eher in einem distanzierteren Wahrnehmungsmodus einer reflektierenden Überschau. Der kritische, warnende und appellierende Impetus ist durch leicht spöttischen Skeptizismus, das Schaudern durch ironische 12 Komik abgeschwächt. Juli Zehs Corpus Delicti weist ähnliche, allerdings nicht derart ironisch gewendete Distanzmarker zur Protagonistin Mia Holl und auch anderen, von der METHODE partiell abweichenden, Figuren auf. Dies zeigt sich wiederum einerseits in der nullfokalen Erzählinstanz, die ebenfalls mehrere Innensichten heterogener Figuren in den Blick nimmt. Andererseits wird bei den Außenseiterfiguren auch deren Kontingenz herausgestellt und somit eine figuralidentifikatorische Lesart unterminiert.13 Zudem markiert die Erzählinstanz an einigen Textstellen die artifizielle Konstruiertheit und den Fiktionalitätsstatus des Textes 11 12 13
Internetrezensionen zum Text indizieren dementsprechend häufig eine enttäuschte identifikatorische Leseerwartung. Huxley (vgl. 2018, 299) bemängelte in seinem 17 Jahre später geschriebenen Vorwort zur zweiten Auflage diesen ironisch-distanzierten Einschlag seiner Dystopie. Vgl. hierzu den Beitrag von Sperling (2019) in diesem Band.
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(Corpus Delicti, 12, 55, 60, 64, 128 u.a.), was eine suggestiv-immersive Lesart (zumindest der geübten Rezipierenden) durchbricht. Damit hat das gesellschaftskritische Persuasionsverfahren in Corpus Delicti einen distanziert-reflektierenden Einschlag, wenn auch nicht in der Ausprägung wie bei Huxleys Schöne neue Welt.
3.
Dystopische Lektüre als Herausforderung zur personalen und gesellschaftlichen Wertreflexion
Die folgenden didaktischen Überlegungen stützen sich auf den Befund der vorhergehenden Gattungsbetrachtung und nehmen somit primär die gattungstypischen Verhandlungs- und Funktionsmuster und ihre strukturellen Grundlagen in den Blick. Eine thematisch orientierte Textauswahl ist zwar legitim, sollte jedoch auch die strukturellen und funktionalen Gegebenheiten eines Textes berücksichtigen. Dieser Abschnitt betont deshalb die Relevanz der struktur-funktionalen Besonderheiten dieser Gattung für einen wertreflektierenden Literaturunterricht. Bevor auf didaktische Potenziale der einzelnen gattungskonstituierenden Relationen eingegangen wird, sollen zunächst die Fragen und Herausforderungen, die eine dystopische Lektüre aufwirft, und der prinzipielle Umgang mit diesen dystopischen Fragen im Rahmen einer Förderung von Wertreflexionskompetenz grob umrissen werden. Dystopische Herausforderung grundlegender Werte und Selbstverständnisse Im dystopischen Handlungskonflikt stehen grundlegende Werte westlicher Kulturen wie Freiheit, Selbstbestimmung, Individualität, Gleichwertigkeit, Meinungsfreiheit, Privatheit, Humanität, Menschenwürde, Erkenntnisstreben, Solidarität, freies Kulturleben u.a. auf dem Spiel (vgl. auch Abraham 2017, 4). Indem dystopische Texte gesellschaftsübergreifend geteilte Werte herausfordern, wird die erzählte Welt von einer breiten Leserschaft als schlechter Ort wahrgenommen. Dystopische Kritik rechnet mit grundlegenden Wertbindungen der Leserschaft, sonst bleibt sie funktionslos. Hierbei wird deutlich, dass im werteorientierten Literaturunterricht mit dystopischen Texten kulturell-grundlegende Werte in ihrer personalen und gesellschaftlichen Dimension im Zentrum der unterrichtlichen Auseinandersetzung stehen. Die hermeneutische Basis jeder dystopischen Lektüre sind jene grundlegenden, kulturellen Wertvorstellungen und -empfindungen. Sie sorgen neben der erzähltechnischen Perspektivik für die nahe Leserbeziehung zu den devianten Protagonist_innen und somit für den immersiv-probehandelnden Modus, in dem die wertbedrohenden Extrapolationen der fingierten Gegenwartsfortschreibung quasi-erfahren werden. Die leserseitige Parteinahme für die Außenseiter_innen ermöglicht die Immersion in einen Handlungskonflikt, in dem jene grundlegenden Wertbindungen herausgefordert werden – und zwar von Praktiken und Werten, die in der außerfiktionalen Gegenwart in Ansätzen erkennbar sind. In diesem plausibilisierten Fortschreibungsspiel wird die Kontingenz, die prinzipielle Nicht-Selbstverständlichkeit
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jener scheinbar selbstverständlichen Wertbindungen sichtbar. Ein solches Kontingenzbewusstsein hinsichtlich der eigenkulturellen Grundwerte kann ebenso durch historische Rück- oder fremdkulturelle Einblicke entstehen. Die dystopischzukunftsgerichtete Infragestellung der Stabilität jener kulturellen Grundwerte geht jedoch über die Demonstration der prinzipiellen Veränder- und Wandelbarkeit, wie sie auch diachrone oder synchrone Wirklichkeitsvergleiche leisten, hinaus: Sie warnt angesichts gegenwärtiger Entwicklungstendenzen davor, sich im Besitz unwiderruflicher Errungenschaften zu wähnen. Sie zielt damit nicht nur auf das Verstehen der eigenen Wertesysteme und ihrer Kontingenz ab, sondern fordert zusätzlich qua Textfunktion zur Reaktion hinsichtlich außerfiktionaler Entwicklungstendenzen auf, welche die Geltung dieser Werte gefährden. Denn das fiktionale Fortschreibungsspiel suggeriert im Gegensatz zu diachronen und synchronen Wirklichkeitsvergleichen mögliche Eigenbetroffenheit und inszeniert damit neben der prinzipiellen Kontingenz das akute Gefährdungspotenzial. Dystopische Texte konfrontieren die Rezipierenden mit zukunftsrelevanten Wertfragen in personaler und gesellschaftlicher Hinsicht: Welche Werte vertrete ich und warum? Gibt es ein gegenwärtiges Gefährdungspotenzial hinsichtlich dieser und wie ist damit umzugehen? Dystopien können somit über ihre struktur-funktionale Beschaffenheit bereits durch die Lektüre grundlegende moralische Selbstverständnisse der Rezipierenden aus ihrem scheinbar selbstverständlichen, sicher-wohligen Schlummer wecken und durch die implizit-appellative Funktion zur moralischen Reaktion herausfordern. Zur gezielten Förderung einer Wertreflexionskompetenz bedarf es darüber hinaus einer didaktischen Rahmung der Lektüre, welche die funktional-pragmatische Leistung der Texte nachvollzieht, aufgreift und reflektiert. Dabei kann es nicht um eine rein affirmative Verstärkung dystopischer Gegenwartskritik und somit um eine tendenziell materiale Wertevermittlung mit dem persuasiven Hilfsmittel dystopische Lektüre gehen, da eine Wertreflexionskompetenz einen zunehmend eigenständigen Modus der personalen Wertebildung impliziert. Wertreflexion ist hierbei nicht als neutrale Reflexionsfähigkeit zu verstehen, die sich der Wertung und somit einer personalen Wertebildung entzieht. Es ist entwicklungspsychologisch unbestritten, dass Jugendliche personale Werte bilden (müssen) und genauso evident ist es, dass dies unter individualisierten und pluralisierten Lebensbedingungen in zunehmender Eigenständigkeit geschieht (vgl. Siegler 2005, 613f.). Wertreflexionskompetenz zielt darauf ab, divergente Wertungen und differente Wertsysteme wahrzunehmen und zu reflektieren, um eine zunehmend eigenständige moralische Selbstverortung zu ermöglichen (vgl. Anselm 2012, 407). Indem personale Wertbindungen und gesellschaftliche Wertkonfigurationen reflektiert werden können, wird ein zunehmender Imaginationsraum an verfügbaren Idealen und Wertvorstellungen eröffnet, der für eigenständige Wertbildung und somit für eine individualisierte Identitätsbildung unentbehrlich ist. Dabei können durchaus von Kindheit an internalisierte Werthaltungen beibehalten werden. Doch geschieht dies durch einen sekundären, reflektierteren Aneignungsprozess, welcher die bis-
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her selbstverständliche Werthaltung zur eigens gewählten inneren Verpflichtung transformiert (vgl. Joas 2006, 4). Ein individualisiertes Selbstbewusstsein basiert wesentlich auf dem Empfinden eigenständig erworbener Werthaltungen. Das Stellungnehmen zu den dystopisch aufgeworfenen Anfragen sollte dementsprechend im Sinne einer Bildung zur moralischen Mündigkeit ein zunehmend autonomer Akt sein. Die didaktische Einbettung einer dystopischen Lektüre folgt also nicht einfach bestätigend der moralischen Didaxe der Texte, sondern greift diese auf, um den pragmatischen Impetus zur Kritik und Warnung und die strukturfunktionalen Persuasionsverfahren dystopischer Texte wertreflektierend nachzuvollziehen und zu vertiefen. Dazu gehört auch, potenziell problematische normative Einschreibungen in den lesernahen Außenseiterfiguren (vgl. Abraham 2017, 7; vgl. Meyer 2001, 126) und die drastischen Gewaltdarstellungen in einigen dieser Texte (vgl. Abraham 2017, 7f.) im Rahmen des funktionalen Textzusammenhangs zu reflektieren. Dies ist auch deshalb zu berücksichtigen, weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass ungeübte Rezipierende solche Lektüreerfahrungen automatisch emotional und kognitiv verantwortungsbewusst in den medial-funktionalen Gesamtzusammenhang kontextualisieren und einordnen können (Anselm 2012b, 23ff.; Schultz-Pernice 2012, 254f.). Anhand der drei gattungskonstituierenden Relationen lässt sich in den folgenden drei Unterabschnitten das Potenzial dystopischer Texte für eine Förderung der Wertreflexionskompetenz konkretisieren und differenzieren. Je nachdem, welche der drei normativen Relationen des dystopischen Strukturkomplexes im Fokus einer unterrichtlichen Auseinandersetzung liegt, können unterschiedliche Aspekte 14 einer Wertreflexionskompetenz begünstigt und angebahnt werden: In der Auseinandersetzung mit der Relation zwischen erzählter Welt und außerfiktionaler Gegenwart lassen sich besonders gesellschaftliche Wertvorstellungen und Praktiken reflektieren. Eine Auseinandersetzung mit der moralischen Relation zwischen Protagonist_innen und Rezipierenden reflektiert mit den textseitigen Involvierungsstrategien gleichzeitig personale Wertbindungen bzw. die habitualisierten Reaktionen dieser auf den textinternen Wertekonflikt. Die Beschäftigung insbesondere mit den entpragmatisierenden Elementen der textinternen Konfliktrelation entlastet zunächst von einer vorschnellen moralischen Positionierung und begünstigt damit die eigenständige Verortung hinsichtlich der moralischen Didaxe des Textes. Im zweiten Abschnitt der Gegenstandsanalyse wurde gezeigt, dass in bestimmten Dystopien einzelne Relationen zugunsten der beiden anderen geringer ausgeprägt sind. Diese besonderen Gewichtungen im gattungskonstituierenden Strukturkomplex werden deshalb im Folgenden berücksichtigt, indem neben dem grundsätzlichen didaktischen Potenzial einer Relation auch die didaktischen Impli14
Diese Aufteilung anhand der gattungstypischen drei Strukturrelationen ist nicht als Sequenzierungsvorschlag für eine unterrichtliche Implementierug zu verstehen, sondern soll drei verschiedene Förderpotenziale von Dystopien für eine Wertreflexionskompetenz unterscheiden.
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kationen für diese besonderen Beispieltexte, in denen diese Relation weniger ausgeprägt ist, diskutiert werden. Reflexion gesellschaftlicher Praktiken und Wertvorstellungen Die naheliegendste Möglichkeit zur Wertreflexion anhand dystopischer Texte besteht im Aufgreifen der ersten gattungskonstituierenden Relation, also der textinternen Verweise auf außerfiktionale Entwicklungstendenzen. Dystopien enthalten qua Textfunktion bereits den Appell zur gesellschaftskritischen Reflexion. Dabei kann es vor dem Hintergrund einer Bildung zur mündigen Wertreflexion nicht um einen affirmativen Nachvollzug der dystopischen Gesellschaftskritik gehen, sondern das wertreflektierende Lernarrangement nutzt diese als Anlass zum vertiefenden Überprüfen von Plausibilisierungsstrategien der Extrapolationen sowie zum eigenständigen Untersuchen des wertbedrohenden Potenzials gegenwärtiger Entwicklungstendenzen. Denn oftmals lässt sich die narrativ entfaltete Kritik gar nicht so leicht in Bezug auf außerfiktionale Entwicklungstendenzen konkretisieren: So geht z.B. allein aus einer Lektüre von Die Scanner nicht klar hervor, welche konkreten Tendenzen heutiger Digitalisierung in Bezug auf welche Werte problematisch sind. Werden Projekte wie Gutenberg, Wikipedia oder Entwicklungen wie Augmented Reality-Brillen und Social Media Plattformen hier per se kritisiert bzw. welche Aspekte dieser Projekte können mithilfe der Lektüre kritisch betrachtet werden? Entfalten diese Aspekte wertebedrohendes Potenzial? Gerade in der konkretisierenden Vertiefung der gesellschaftskritischen Anfragen sind gegenwärtige Tendenzen mithilfe anderer Informationsquellen genauer zu untersuchen. Dabei öffnet sich der Literaturunterricht im Sinne des integrativen Prinzips und fördert eine ethisch-reflektierende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen anhand zusätzlichem, nicht-literarischen Text- und Medienmaterial. Demgemäß gestalten sich z.B. didaktische Überlegungen und unterrichtliche Vorschläge zu den aktuelleren deutschsprachigen Dystopien Die Scanner und Corpus Delicti. Ein Prozess (zum ersteren vgl. Anselm 2015, zum zweiten vgl. Heuer 2013 und Sperling 2019 in diesem Band). Neben der kritischen Auseinandersetzung mit meist technischen, medialen oder politischen Entwicklungstendenzen lohnt sich vor dem Hintergrund eines wertreflektierenden Lernarrangements auch die Auseinandersetzung mit den utopischen Hoffnungen, die solche Extrapolationen plausibilisieren und die im verwirklichten Zustand des Zukunftsszenarios als tyrannische Verabsolutierung bekannter und anerkannter Werte entlarvt werden. Dystopien mit diesen utopie-kritischen Elementen bergen das Potenzial, das ideologisierende und aggressive Potenzial von Werten offenzulegen und somit zu einer allgemeinen Wertreflexion anzuregen, mit welcher die Einsicht in und Sensibilität für Kontingenz, Spannungs- und Konfliktpotenzial einzelner Werte angebahnt wird.
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In der Gegenstandsanalyse unter Abschnitt 2 wurde dargelegt, dass in den populären Jugenddystopien wie Die Tribute von Panem und Die Bestimmung aufgrund der – im Vergleich zu den stark identifikatorischen Involvierungsstrategien – eher abstrakten und unterbetonten Gegenwartsverweise der textfunktionale Appell zur kritischen Auseinandersetzung mit außerfiktionalen Entwicklungstendenzen in den Hintergrund rückt. Damit ist das Potenzial zur Reflexion gesellschaftlicher Werte und Praktiken mit diesen Texten nicht hinfällig. Die zweifellos vorhandenen Referenzen an Themen wie Eugenik, Reality-TV, manipulative Computertechnik etc. können freilich als Anlass zur Wertreflexion gesellschaftlicher Praktiken genutzt werden. In Die Bestimmung bietet sich auch ein allgemeines Reflektieren über das ideologisierende und konfligierende Potenzial von Werten an, denn die dortigen Fraktionskulturen sind nichts anderes als gesellschaftliche Ausprägungen verabsolutierter Werte, die untereinander in unlösbaren Streit geraten. Hier sind interessante Brückenschläge etwa zur aristotelischen Mesoteslehre denkbar (vgl. Rösch 2017, 7). Da in diesen Jugenddystopien der textfunktionale Schwerpunkt ambig ist und von Jugendlichen in der Regel wohl eher im Modus immersiver Lust an Selbstgefährdung und -behauptung aktualisiert wird, ergibt sich jedoch eine solche gesellschaftskritische oder wertphilosophische Vertiefung nicht unbedingt folgerichtig aus dem Lektüreerlebnis von Lernenden, die das Schreckensszenario eher als Mittel und Stütze für ein immersives Selbsterlebnis als ein gesellschaftskritisches Zukunftsszenario aktualisiert haben. Eine gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit diesen Texten müsste deshalb vornehmlich über eine didaktische Funktionalisierung erfolgen. Differente Modi und Ansprüche der Lektürebegegnung und -bearbeitung zwischen Lernenden und Lehrkraft können allerdings schnell zu einem „vergällten Lesevergnügen“ (Spinner 2010, 6) führen. Dementsprechend legen Rank (2014a und b) und Schlachter (2014) in ihren didaktischen Vorschlägen zur Arbeit mit diesen gattungshybriden Jugenddystopien besonderes Gewicht auf das Zulassen und Fördern einer intensiven Primärerfahrung bei der Lektüre dieser Texte. Die Anschlussaktivitäten wechseln dann nicht in eine gesellschaftskritische Lektüre, sondern sind vor allem auf literarisches Lernen ausgerichtet, das sich folgerichtig aus der immersiven Primärlektüre ergeben soll. Der von Identifikation und Selbsterleben bestimmte Lesemodus soll dadurch keinesfalls abwertend analysiert werden (vgl. Rank 2014b, 27), wie es der ideologiekritischen Trivialliteraturdidaktik der 1970er Jahre vorgeworfen wird (vgl. Schlachter 2014, 9). Dezidiert ethische Bildungsprozesse verfolgen beide Vorschläge nicht. Ein explizit ethisches Lernpotenzial in den gattungshybriden Jugenddystopien betont dagegen Abraham (2017). Dieses liegt seinem Ansatz zufolge jedoch primär in personalen Wertbildungs- und Reflexionsprozessen (siehe unten) und nicht in einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Praktiken und Werten. Die textfunktionale Ambiguität der gattungshybriden Jugenddystopien sollte bei gesellschaftskritisch ausgerichteten Lernarrangements mitbedacht werden.
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Ethische Reflexion im ästhetischen Spiel In obiger Synopse von Dystopie-Analysen wurde deutlich, dass die sozialkritische Funktion dystopischer Texte ein spannungsreiches Verhältnis zur Geschlossenheit der Handlungsdynamik und zur literarischen Eigenästhetik aufweist. Diese letztere Dimension sollte nicht zugunsten einer ethischen Lektüre vernachlässigt werden, da gerade diese entpragmatisierenden Elemente der Autonomie der Rezipierenden einen eigenen Spielraum im Lektüreprozess wahrt. Die literarisch-ästhetischen Bezüge und Gestaltungsmerkmale sowie die in sich geschlossene, narrative Dynamisierung des Wertekonflikts stärken den spielerischen Eigenwert des literarischen Textes und nehmen somit der pragmatisch-funktionalen Kritik die Direktheit und bevormundende Schärfe eines moralischen Zeigefingers, welcher die Rezipierenden leicht zu unreflektierter Affirmation oder Ablehnung drängt. Die Auseinandersetzung mit einer solchen partiell entpragmatisierten literarischen Kritik ermöglicht ein pragmatisch-entlastetes Sprechen über die normativen Konfliktverhältnisse zwischen grundlegenden Werten und fingierten Gesellschaftsentwicklungen. Indem sich die Lernenden um ein vertieftes Verstehen literarischer Kritik und Nachvollziehen ihrer persuasiven Verfahren bemühen, sind sie von der eigenen Urteilsbildung zunächst entlastet. Fordert man schnell eine argumentativ-debattierende Auseinandersetzung mit dem moralischen Gehalt des literarischen Textes, führt das leicht zu vorschnellen und unreflektiert übernommenen Urteilsbildungen und die Bildungschance zur Erarbeitung eines vertieft autonomen Eigenurteils geht verloren. Deshalb sollte das eigentümliche Spannungsverhältnis ästhetischer und ethischer Dimension von Literatur gerade in einem auf Wertreflexion ausgerichteten Literaturunterricht produktiv 15 aufgegriffen werden. Werke wie Noch lange danach oder 2084 – Noras Welt besitzen, wie in Abschnitt 2 dargestellt wurde, einen unverkennbaren Appellcharakter, der durch eindeutige Verweise auf den sozio-pragmatischen Kontext gekennzeichnet ist. Der entpragmatisierende Charakter dieser Texte ist vergleichsweise gering ausgeprägt. Beim Einsatz solcher Texte muss berücksichtigt werden, dass eine starke moralische Stimme im didaktischen Arrangement platziert wird, die weniger autonomen Deutungsspielraum in Bezug auf ihre moralische Dimension bieten. Ein eigenständig reflektiertes Stellungnehmen kann somit weniger in einer literarischen Texterschließung, sondern muss kompensierend über eine dialogisch-offene Einbettung dieses Gegenstandes erfolgen (vgl. Kruse 2014, 35). Reflexion personaler Wertbindungen Bereitschaft und Fähigkeit zur Wertreflexion beziehen sich nicht nur auf wahrgenommene Wertungen der äußeren Welt, sondern ebenso auf die das eigene Selbst 15
Eine ausführliche (auch literaturhistorische) Reflexion dieses Spannungsverhältnisses zwischen ästhetischer und ethischer Dimension liegt von Anselm (2018) vor.
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konstituierenden Wertbindungen – auch und gerade wenn diese in Form von moralischem Empfinden einem bewussteren, sprachlichen Zugriff schwer zugänglich sind. Insbesondere eher kognitiv-rational ausgerichtete Ansätze ethischer Bildung vernachlässigen diese unbewussteren Schichten moralischer Gefühle (vgl. Spinner 2004, 104). Literatur wird immer wieder das Potenzial zugesprochen, subjektiv bedeutsame Wahrnehmungs- und Empfindungsmuster im Lektüreprozess zu involvieren. Lassen sich die Rezipierenden immersiv auf ein dystopisches Szenario ein, was besonders durch die figurale Perspektivierung und die Leserbindung an die gefährdete Außenseiterfigur ermöglicht wird, so werden im Probehandeln und Quasi-Miterleben grundlegende Werthaltungen und das sozialisierte Moralempfinden herausgefordert. Dabei ist es oftmals (insbesondere für Heranwachsende) gar nicht einfach, solche tief liegenden moralischen Gefühle zu artikulieren: Was genau widerstrebt eigentlich den Protagonist_innen und somit mir in bestimmten Situationen der Leseerfahrung? Welche verinnerlichten Werte werden hier bedroht bzw. wie kann ich die literarisch erfahrenen Wertbedrohungen begrifflich adäquat fassen? Die Lernenden können durch die Auseinandersetzung mit der moralisch nahen Außenseiterfigur angeregt werden, Aspekte ihres moralischen Selbstverständnisses durch sprachlich-schriftliche Artikulation wahrzunehmen und sich über dieses gewordene Selbst bewusster zu werden: Welche Werthaltungen und moralischen Gefühle prägen mein Wahrnehmen, Urteilen und Handeln? In einem allgemeineren Sinn ist das ein Akt der Selbst-Vergewisserung im Sinne einer Identitätsbefragung: Wer bin ich, dass ich in einer solchen (literarisch erfahrenen) Situation so fühle? Angebahnt wird dadurch eine Selbst-Bewusstheit über eigene Wertungen und deren Folgen für eigenes Handeln und Urteilen sowie ein differenzierteres Artikulations- und Empfindungsvermögen hinsichtlich eigener Wertbindungen (vgl. Bieri 2012, 234f.). In einem solchen identitätsorientierten Lernarrangement können subjektiv bedeutsame Leseerfahrungen angeregt und zugelassen werden, sollten aber in den unterrichtlichen Anschlussaktivitäten keineswegs zum thematischen Zentrum des Unterrichts werden. Auch wenn die herausgeforderten Werte kulturell erworbene Wertbindungen sind, berühren sie das private Selbstverständnis von Heranwachsenden und sind notwendige Konstituenten von Identitätsempfinden und Selbst-Wertgefühl, was in einer didaktischen Rahmung berücksichtigt werden muss. Moralische Empfindungen sind hier als hermeneutisch wertvolle Reaktion auf den Text aufzugreifen, die eine differenziertere und wertreflektierte Texterschließung als Zielpunkt anvisieren und dementsprechend als gegenstandsbezogene Beiträge behandelt werden sollten. In Corpus Delicti. Ein Prozess und Schöne neue Welt liegen – wie in Abschnitt 2 der Gegenstandsanalyse dargelegt – zahlreiche Textelemente vor, die einen immersividentifikatorischen Lesemodus ironisch-verfremdend durchkreuzen. Das kann einen distanzierteren Lesemodus fördern, in dem die moralische Beziehung zwischen Protagonist_innen und Rezipierenden gering ist. Der normative Handlungskonflikt wird dadurch weniger über personale Wertbindungen immersiv nachvollzogen, son-
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dern eher distanziert-reflektierend rezipiert. Moralische Selbstbefragungen im Zuge einer Beschäftigung mit den Außenseiterfiguren, wie sie oben vorgeschlagen werden, können also bei solchen Texten ins Leere laufen. Häufig werden die distanzierenden Merkmale jedoch z.B. aufgrund eines habitualisierten figuralidentifikatorischen Lesemodus überlesen. Solche Lesarten geraten leicht in einen Konflikt zu figuraldistanzierteren Lektüren, die die Distanzmarker ernst nehmen und beispielweise die pathetischen Bekenntnisse des Außenseiters John in ihrer kulturkontingenten Borniertheit wahrnehmen. Produktiv werden solche Lektüredifferenzen, wenn sie die Reflexion eigener Wertbindungen anregen. Das identifikatorische Verstehen von John ist eine hermeneutische Leistung und somit als Beitrag zum Verständnis zumindest einer Figur aufzugreifen. Dass es darüber hinaus noch andere Verständnisperspektiven im Text gibt, die auch die Kontingenz von John offenlegen, muss jenen hermeneutischen Beitrag zum Figurenverständnis nicht abwerten, sondern kann zur Relativierung von Wertbindungen anregen. Problematisch können solche differenten Lektüren jedoch werden, wenn identifikatorische Leseweisen abgewertet und somit personale Wertbindungen als hermeneutisches Potenzial disqualifiziert werden. Das kann bei den Betroffenen nicht nur selbstentfremdende Wirkungen, sondern in Bezug auf ein identitätsorientiertes Lernarrangement auch Vermeidungsstrategien hervorrufen, die subjektiv bedeutsame Erfahrungen des Lektüreprozesses aus dem Unterrichtsgeschehen heraushalten. Das kann zu einer problematischen Entkopplung von personaler Bedeutsamkeit und Schülerrolle führen. Zudem fördert ein solches Erlebnis keineswegs die Bereitschaft zur Reflexion eigener Wertbindungen.
4.
Grenzen dystopischer Lektüre zur Bildung von Wertreflexionskompetenz
Abschließend sollen Grenzen dystopischer Lektüren hinsichtlich der Förderung einer Wertreflexionskompetenz skizziert werden. In folgender Skizze dreier differenter Typen von Wertkonstellationen literarischer Texte allgemein soll die Einseitigkeit dystopischer Texte für die Bildung einer Wertreflexionskompetenz angedeutet werden. Unter einer Wertkonstellation wird die textseitige Dispositionsstruktur verstanden, welche die leserseitige moralische Wertung und Verortung hinsichtlich der dargestellten Handlung (mit-)lenkt. Neben der normativen Aufladung der Figurenkonstellation sorgt oft auch die Gestaltung der Erzählstruktur maßgeblich für die moralische Stellung der Rezipierenden zum Handlungsgeschehen. Unterschieden werden hier drei Wertkonstellationstypen: Ein literarischer Text kann die Disposition besitzen, dass die Rezipierenden eine bestimmte Partei innerhalb der erzählten Handlung und Figurenkonstellation ergreifen. Eine solche parteierheischende Wertekonstellation (Typ 1) knüpft an die moralische Ordnung der Rezipierenden an. Ein literarischer Text kann jedoch auch die Disposition zur Provokation oder gar Verstörung der Rezipierenden auf moralischer Ebene aufweisen (Typ 2). Schließlich kann das normative Gefüge eines literarischen Textes Irritations- und
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Problematisierungspotenzial besitzen und sich einer Bewertung durch die gewohnte moralische Ordnung der Rezipierenden entziehen (Typ 3). Eine Wertkonstellation kann sich innerhalb eines Handlungsverlaufs von einem Typus zu einem anderen verschieben. Gerade solche dynamischen Lektüreerlebnisse sind für eine Wertreflexion besonders interessant, denn im Gegensatz zu einer statischen Konstellation können Rezipierende hier lernen, ihre moralischen Beziehungen zu den Figuren und zum Geschehen zu verändern. Parteierheischende Wertkonstellation Die wohl häufigste, da populärste Wertkonstellation ist diejenige, in der textseitig eine hohe Disposition zur Parteinahme der Rezipierenden vorliegt. Dies geschieht oft über die Herstellung perspektivischer und moralischer Nähe zu bestimmten Figuren über erzähltechnische Mittel und die Figurenzeichnung. Die moralischen Fronten zwischen Gut und Böse sind verteilt. Der moralische Pakt mit den perspektivisch fokussierten Guten wird implizit gefordert, damit die Textfunktion zur Entfaltung kommen kann. Er dient dabei meist auch als Grundlage zur leserseitigen Akzeptanz und Legitimation von fiktiven Gewalthandlungen auf der Seite der Held_innen. Diese Wertkonstellation kommt dem vorherrschenden identifikatorischen Lesemodus entgegen. Prototypische Dystopien funktionieren über eine solche Wertkonstellation. Die Außenseiterfigur fungiert als gefährdete/r Repräsentant_in der moralischen Erwartungen der Rezipierenden in einer verwerflichen Zukunftswelt. Dabei stellt sich ein moralischer Pakt erst allmählich ein, da die Protagonist_innen anfangs meist noch systemkonform denken, fühlen oder zumindest handeln. Über den Devianzprozess vertieft sich der moralische Pakt dadurch, dass sich die Protagonist_innen zu einem modernen Subjektverständnis hin entwickeln, wie es den Vorstellungen der Rezipierenden entspricht. Die Rezipierenden müssen in diesen Fällen wenig alteritäre Innensichten nachvollziehen. Deviantes Empfinden und Verhalten ist aus der Perspektive der Rezipierenden moralisch unmittelbar plausibel. Perspektivübernahmen von systemkonformen Figuren sind ebenfalls begrenzt alteritär, da ihr Innenleben (extern fokalisiert) der extrapolierten und somit plausibilisierten Systemideologie immanent ist. Zur empathischen Anreicherung eigener Wahrnehmungs- und Empfindungsmuster und zur Übernahme fremder Perspektiven eignen sich viele dystopische Texte nur bedingt. Für die Entwicklung von Wertreflexionskompetenz in pluralen Lebensverhältnissen ist sie jedoch ein grundlegender Bestandteil, da das Wahrnehmen und das Nachvollziehen von Werthaltungen eine Voraussetzung zur Reflexion derselben sind. Provozierende Wertkonstellation Fällt dieser textinterne Distanzpunkt in Form der Außenseiterfigur weg, werden die Leser_innen zur unmittelbaren Nähe zum Verwerflichen herangeführt. Ansatzweise
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verschiebt sich die Wertkonstellation in Der Circle von der typisch dystopischen parteierheischenden hin zu diesem provozierenden Typus. Der die dystopische Handlung konstituierende Konflikt zwischen kollektiver Identitätsverordnung und individueller Identitätsbehauptung ist in Der Circle vergleichsweise gering, da die Protagonistin wenig inneren Widerstand zur zunehmend problematischen Entwicklung des Weltkonzerns Circle zeigt. Zum Ende der Handlung versiegen ihre eigenen ansatzweise entwickelten, devianten Bestrebungen und sie verliert sich im Schreckenssystem bzw. wird sogar zu dessen repräsentativer Aushängefigur. Die Erzählinstanz hält konsequent an der perspektivischen Nähe zur Protagonistin Mae fest und diese fungiert immer weniger als Distanzpunkt zum wertebedrohenden System. Jede leserseitige Hoffnung, sie komme zur (moralischen) Erkenntnis und zur Zurückweisung der wertbedrohenden Extrapolation, wird spätestens am Ende enttäuscht. Die bekehrende ‚Heilung‘ der Protagonistin durch das normative System des Circle vollzieht sich nicht über einen abrupten Identitätsbruch, sondern verläuft hier wesentlich schleichender als in den anderen Dystopien. Der Rezipient ist damit auf seine eigene moralische Standhaftigkeit verwiesen und ist genötigt, trotz der perspektivischen Nähe und des Nachvollzugs von Maes mangelnder moralischer Distanzierung vom wertebedrohenden System, in Rollendistanz zur Protagonistin zu treten. Er muss sich dem identifikationsheischenden Leserrollenangebot des Textes eigenständig entziehen. Gelingen kann das wohl insbesondere mithilfe von Nebenfiguren wie Ty, Maes Ex-Freund und ihren Eltern, die sich dem normativen System des Circle entziehen. Die konsequent intern fokalisierte Erzählinstanz hilft ihm dabei jedoch nicht (etwa durch verfremdende Effekte oder Distanzmarker). Rezipierende müssen dadurch eine tendenziell zunehmende Nähe zu moralischer Verwerflichkeit ertragen. Was ansatzweise in der Leseerfahrung mit Der Circle eintreten kann, bestimmt das Funktionsmuster von moralisch provozierenden Texten, die nicht selten einen Literatur- oder Theaterskandal hervorriefen. In den provozierenden Wertkonstellationen solcher Texte werden Rezipierende von der Erzählinstanz in die unmittelbare (perspektivische) Nähe unmoralischer Praktiken geführt und dort alleine gelas16 sen. Der Text bietet dabei wenig bis keinerlei Distanzierungsimpulse. Die Rezipierenden müssen die moralische Standhaftigkeit gegenüber zugemuteten Abgründen selbst aufrechterhalten. Das kann emotional z.B. über Entrüstung geschehen, aber auch rationalisierend durch eine interpretatorische Leistung, die der textuellen Zumutung beispielsweise eine sinngebende kommunikative Einbettung beigibt. Eine solche Zumutung kann auch im Sinne von Anselm (vgl. 2017a, 21f.) eine positive Herausforderung zur moralisch-ethischen Mündigkeit und Souveränität, die auch reflektierte Standhaftigkeit und die Fähigkeit zur kritischen Distanznahme beinhaltet, verstanden werden. Zu Bedenken ist dabei immer, dass eine
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Ein typisches Beispiel dafür ist z.B. Nichts. Was im Leben wichtig ist von Janne Teller.
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solche textuelle Zumutung insbesondere auch bei jüngeren Lernenden eine problematische Überforderung darstellen kann (vgl. Anselm 2012b, 23ff.). Problematisierende Wertkonstellation Problematisierende Wertkonstellationen stehen quer zur moralischen Ordnung der Rezipierenden und fordern sie zur Ausdifferenzierung und Akkommodation gewohnter Urteilsmuster heraus. Es werden ethisch brisante Konfliktsituationen inszeniert, die auf Textebene keine abschließende Lösung erfahren. Wie bei den provozierenden Texten fehlt die moralische Stellungnahme einer figurenübergeordneten Textinstanz (z.B. Erzählinstanz). Darüber hinaus ist jedoch auch die moralische Wertung der figuralen Akteure aus Sicht der Rezipienten nicht eindeutig. Das ‚Böse‘ – oder besser: die Ursache des sichtbaren Übels – ist ohne elaborierte ethische Reflexionsleistungen nicht lokalisierbar. Die moralische Beziehung zur Figurenkonstellation ist labil, unsicher oder ambivalent und fordert dadurch zur vertiefend-klärenden Auseinandersetzung mit dem Text heraus. Solche Texte stellen an ihre Rezipierenden einen hohen Anspruch hinsichtlich Perspektivenübernahme, ethischer Urteilsfähigkeit und eigenständiger, wertreflektierender Selbstverortung. Die dystopische Wertkonstellation und ihr gattungstypisches struktur-funktionales Verhandlungsmuster besitzt ein spezifisches Potenzial zur Reflexion insbesondere grundlegender Werthaltungen und gewisser Gefährdungspotenziale hinsichtlich dieser Werte. Der Vielfalt verschiedener gesellschaftlicher Themen, auf die dystopische Kritik abzielt, stehen relativ stark konventionalisierte persuasive Verfahren gegenüber. In der Art und Weise, wie ethisch brisante Themen und Werte verhandelt werden, unterscheiden sich verschiedene Dystopien eher wenig. Diese Ähnlichkeit in den persuasiven Verhandlungsmustern ist schließlich auch die Grundlage ihrer Gattungszugehörigkeit. Aufgrund der konventionalisierten Persuasionsverfahren herrscht in ihnen in der Regel eine statisch-parteierheischende Wertkonstellation vor. Vor dem Hintergrund der Skizze differenter Wertkonstellationstypen und ihren unterschiedlichen Herausforderungen zeigen sich auch Grenzen einer ethischen Bildung mit dystopischen Texten.
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Demokratische Grundwertebildung im Literaturunterricht Theoretische Grundlagen, fachspezifische Potenziale und didaktische Zugangsweisen Tabea Kretschmann Bis heute wird im Deutsch- (ggf. auch Englisch-)Unterricht ab der zehnten Jahrgangsstufe immer wieder George Orwells 1984 gelesen. Die Kernthemen des literarischen Klassikers, in dem die Dystopie eines totalitären Überwachungsstaates entworfen wird, erweisen sich dabei u.a. im Kontext einer zunehmend digitalisierten Gesellschaft mit Videoüberwachung im öffentlichen Raum, Datensammlungen zur Internetnutzung oder zu Bewegungsprofilen durch Facebook, Google und andere Unternehmen, Diskussionen um ‚E-Krankenkarten‘ oder um ein neu eingeführtes virtuelles Punktesystem zum normangepassten Sozialverhalten der Bürger in China als nach wie vor erschreckend aktuell. Bei einer Behandlung des Romans im Unterricht können daher auch gezielt in Deutschland geltende demokratische Grundrechte und -werte wie der Schutz der Privatsphäre, die Meinungsfreiheit oder die Demokratie als Staatsform angesprochen werden: Durch einen Vergleich der im Roman dargestellten dysfunktionalen Gesellschaftsordnung, deren negative Konsequenzen Schüler_innen bei der Arbeit mit dem Text emotional nachempfinden und kognitiv nachvollziehen können, mit der in Deutschland garantierten Rechts- und Werteordnung des Grundgesetzes bzw. aktuellen Debatten über mögliche Verstöße gegen diese können die Jugendlichen die elementare gesellschaftliche wie persönliche Bedeutung der Grundrechte und -werte erkennen. Insofern lässt sich, entsprechende Arbeitsanregungen für die Schüler_innen vorausgesetzt, mit der Besprechung von Orwells 1984 auch das Postulat einer spezifischen ‚demokratischen Grundwertebildung‘ im Deutschunterricht realisieren. Tatsächlich sehen Lehrpläne für Schulen in ganz Deutschland demokratische Grundwertebildung als ein zentrales Element des schulischen Erziehungs- und Bildungsauftrags vor, zu dem, soweit möglich, alle Fächer in allen Jahrgangsstufen 1 einen Beitrag leisten sollen. Der Deutsch- und insbesondere der Literaturunter1
Vgl. Art. 12 BaWüVerf.: „Die Jugend ist […] zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen.“; Art. 131 BayVerf.: „Die Schülerinnen und Schüler sind im Geiste der Demokratie […] zu erziehen.“; Art. 28 BbgVerf.: „Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, […] Anerkennung der Demokratie und Freiheit […] zu fördern.“; Art. 7 NRWVerf.: „Die Jugend soll erzogen werden […] im Geiste der Demokratie […]“; Art. 33 RhPfVerf.: „Die Schule hat die Jugend […] in freier, demokratischer Gesinnung […] zu erziehen.“; Art. 30 SaarldVerf.: „Die Jugend ist […] zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen.“; Art. 102 SächsVerf.: „Die Jugend ist […] zu freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen.“; Art. 22 ThürVerf.: „Erziehung und Bildung
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richt hat ein besonders großes Potenzial, um im Zusammenhang der Arbeit mit fachspezifischen Gegenständen und Methoden auch demokratische Grundrechte und -werte zu thematisieren und deren Bedeutung für das Zusammenleben in Deutschland ebenso wie für das Leben jedes Einzelnen zu reflektieren (vgl. u.a. Kretschmann, 2018a und b).2 Neben Orwells 1984 gibt es viele weitere Bücher – Kinder- und Jugendbücher, aktuelle Belletristik oder literarische Klassiker –, Filme, Dramen u.a.m., die eine Auseinandersetzung mit demokratischen Grundrechten und -werten nahelegen. Bisher wurden in deutschdidaktischen Modellierungen zur Wertebildung demokratische Grundwerte als eine besondere Kategorie von Verfassungswerten nicht systematisch von anderen (z.B. sozialen) Werten abgegrenzt.3 Eine solche Unterscheidung ist aufgrund des besonderen juristischen wie gesellschaftlichen Stellenwerts von Verfassungswerten als im Grundgesetz bzw. in Landesverfassungen normativ festgeschriebenen Werten zwingend nötig und bedingt spezielle didaktische Zugangsweisen. Zudem ermöglicht ein solch differenzierter Blick auf demokratische Grundwerte überhaupt erst deren bewusste und systematische Integration im Deutschunterricht, ohne dass – was bislang fälschlicherweise häufig geschieht – dies primär dem Sozialkundeunterricht als Aufgabe zugeschrieben wird und demokratische Grundwerte eher punktuell und ggf. ‚irgendwie‘ und ‚eher implizit‘ (wenn überhaupt) vorkommen. In diesem Aufsatz werde ich daher das nötige Basiswissen für eine fachspezifische demokratische Grundwertebildung – als einen speziellen, wichtigen Bereich der schulischen Wertebildung – im Deutschunterricht erläutern und Beispiele für Realisierungsmöglichkeiten im Literaturunterricht vorstellen.
1.
Demokratische Grundwerte/Verfassungswerte: Theoretische Grundlagen
In seinem Buch Verfassungswerte – Welche Werte bestimmen das Grundgesetz? hat der Politikwissenschaftler Joachim Detjen den Begriff Verfassungswerte genauer bestimmt. Einleitend stellt Detjen fest: „In der Sozialforschung beschreiben Werte die Vorstellungen vom gesellschaftlich Wünschenswerten. Werte steuern die Einstellungen und das Verhalten des Einzelnen. In unserer modernen Gesellschaft treffen Werthaltungen und Lebensweisen aufei-
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haben die Aufgabe, […] Anerkennung der Demokratie und Freiheit […] zu fördern.“ (zit. nach Scherb 2004, 18f.). Eine ausführliche und noch vertieftere Darstellung, als im Rahmen dieses Aufsatzes möglich, wird erscheinen in: Tabea Kretschmann & Volker Frederking (2019, in Vorb.): Ethische Bildung im Deutschunterricht: Theorie, Empirie, Praxis. Zur Klärung der Begriffe demokratische Grundwerte und Verfassungswerte in Abgrenzung zu anderen (z.B. sozialen) Werten, siehe den folgenden Abschnitt 1.
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nander. […] Da es in einer pluralistischen Gesellschaft diese unterschiedlichen Wertesysteme gibt, bedarf es zum Funktionieren des Gemeinwesens einer Klammer, die als gemeinsamer Kern, der für alle Überzeugungen gilt, das Ganze erst zusammenhalten kann. Nur mit einem gewissen Maß an Wertekonsens kann unsere freiheitliche, demokratische Grundordnung funktionieren. Dieser Wertekonsens war die Grundlage für die Beratungen der Verfassungsväter und -mütter im Parlamentarischen Rat, als sie den Text des Grundgesetzes formulierten.“ (Detjen 2009, 7)
Das Grundgesetz, das in Deutschland Verfassungsrang hat, sichert also einen Kernbestand an geteilten und zu teilenden Werten, die in einer pluralistischen, demokratischen Gesellschaft Freiheiten sowie Grenzen des Einzelnen markieren. Dieses gemeinsame Grundgerüst ist nötig, um das Miteinander in einer demokratischen Gesellschaft erst zu ermöglichen.4 Die Verfassungswerte spiegeln einerseits einen Wertekonsens der politischen Entscheidungsträger zum Zeitpunkt der formellen Verabschiedung der Texte. Andererseits haben Verfassungswerte auch die „Funktion zur Realisierung zugrunde liegender Werte“ (ebd.). In Artikel 3 wird beispielsweise explizit betont: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ (Art. 3 GG) In diesem Fall wird also eine Norm, basierend auf der Wertvorstellung der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, durch das Grundgesetz festgelegt; die tatsächliche Durchsetzung der Wertvorstellung in der Gesellschaft muss dieser Festschreibung dann folgen. Insgesamt handelt es sich bei den Verfassungswerten um „[...] Werte von fundamentaler Bedeutung für das Leben des Einzelnen, für das gesellschaftliche Zusammenleben sowie für die Legitimität und Qualität der staatlichen Ordnung“ (Detjen 2009, 9). Denn: „Hätten die Verfassungswerte nicht dieses Gewicht, hätte der Verfassungsgeber sie kaum im Grundgesetz, also dem ranghöchsten Normengebäude, verankert“ (ebd.). Somit strukturieren das Grundgesetz sowie die ihr nachgeordneten Landesverfassungen mit den in ihnen festgeschriebenen Werten das gesellschaftliche Miteinander in Deutschland. Durch das Grundgesetz soll ein gesellschaftlicher Wertekonsens hergestellt und kontinuierlich stabilisiert werden, weshalb Änderungen von Verfassungsartikeln nur durch Prozesse mit hoher politischer Zustimmung möglich sind. Die demokratischen Grundwerte als besondere Kategorie von Verfassungswerten liegen den einleitenden Artikeln 1 bis 20 des Grundgesetzes zugrunde. Artikel 1 und 20, welche die Achtung der Menschenwürde und die Demokratie als Staatsform garan-
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Vgl. z.B. Art. 117 BayVerf.: „Der ungestörte Genuß der Freiheit für jedermann hängt davon ab, daß alle ihre Treuepflicht gegenüber Volk und Verfassung, Staat und Gesetzen erfüllen. Alle haben die Verfassung und die Gesetze zu achten und zu befolgen, an den öffentlichen Angelegenheiten Anteil zu nehmen und ihre körperlichen und geistigen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert“.
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tieren, sind durch eine so genannte Ewigkeitsklausel (Art. 79 GG)5 dauerhaft vor Veränderungen geschützt; die zwischen diesen Artikeln normativ gefassten demokratischen Grundwerte dürfen gemäß Art. 19 (2) GG in ihrem Wesensgehalt nicht angetastet werden.6 Insofern werden die verfassungsrechtlichen Bestimmungen zwar durchaus immer wieder neu ausgelegt (man denke an Entwicklungen hinsichtlich der Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die durch neue Gesetze wie jenes zur Offenlegung von Gehältern in Unternehmen aus dem Jahr 2017 weiter ausdifferenziert werden) – die Kernwerte sind jedoch vor einem diese grundsätzlich in Frage stellenden Wertewandel geschützt. Durch die Aufnahme ins Grundgesetz werden die Grund- bzw. Verfassungswerte juristisch verbindlich, d.h. sie sind einklagbar und Verstöße gegen sie sanktionierbar. Ihre formale Fixierung im deutschen Grundgesetz und ihre juristische Verbindlichkeit unterscheiden die Verfassungswerte von anderen Werten oder Tugenden wie z.B. Fairness oder Familienorientierung, die stärker subjektiven Wertentscheidungen obliegen.
soziale und andere WERTE Familienorientierung, Fairness, etc. VERFASSUNGSWERTE z.B. „Liebe zur bayerischen Heimat“ als Demokratische GRUNDWERTE, Bildungsziel z.B. Achtung der Menschenwürde (Art. 131, (Art. 1 GG) BayVerf.)
Abbildung 2: Überblick Werte (eigene Darstellung)
Ergänzend sei angemerkt, dass das Grundgesetz als zentraler Bezugspunkt für die schulische Arbeit mit demokratischen Grund- bzw. Verfassungswerten sowohl formal vorgesehen als auch ggf. besser geeignet ist als die UN-Menschenrechtscharta: In das Grundgesetz, das in Deutschland verbindlich gilt, haben Menschenrechte Eingang gefunden. Die UN-Menschenrechtscharta selbst ist jedoch keine universell verbindliche Rechtsquelle des Völkerrechts. 5
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Art. 79 (3) GG: „Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.“ Art. 19 (2) GG: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“
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So gibt es auch zwei ‚islamische Fassungen‘ der Menschenrechte, die in wesentlichen Punkten Grundrechten der deutschen Verfassung widersprechen. In der Kairoer Erklärung der Menschenrechte im Islam werden die Menschenrechte unter den Vorbehalt der Scharia gestellt; so gelten das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit jeweils nur, wenn nicht ein Vergehen gegen die Scharia vorliegt, das mit körperlichen Strafen oder der Todesstrafe geahndet wird. Auch Meinungs- und Glaubensfreiheit werden eingeschränkt gesehen, soziale Rollen von Männern und Frauen deutlich unterschieden. In der Arabischen Charta der Menschenrechte, die unter anderem von Somalia, Eritrea, Marokko und Syrien unterzeichnet wurde, aus denen aktuell viele Menschen nach Deutschland kommen, wird in der Präambel die Kairoer Erklärung 7 bekräftigt und zudem Zionismus mit Rassismus enggeführt und abgelehnt. Gerade im schulischen Kontext, in dem es darum geht, Überzeugungsarbeit für in Deutschland geltende Grundrechte und -werte zu leisten, stellen das Grundgesetz und ggf. Landesverfassungen einen verbindlicheren Bezugspunkt dar als „Menschenrechte“ (welche?), die Lehrkräfte im Unterricht mit Schüler_innen verschiedenster Staatsangehörigkeiten in schwieriger zu begründende Argumentationssituationen bringen könnten, welche Menschenrechte nun warum für wen gelten sollten.
2.
2.1
Demokratische Grundwertebildung im Deutschunterricht – Didaktische Überlegungen Formale Voraussetzungen
Für Lehrkräfte, die u.a. bei ihrer Verbeamtung einen Eid auf das Grundgesetz leisten8, besteht formal eine Verpflichtung zur Thematisierung und kompetenz- bzw. anwendungsorientierten Behandlung von demokratischen Grundrechten und -werten im Schulunterricht, für die zudem Überzeugungsarbeit geleistet werden soll.9 So finden sich beispielsweise bei den KMK Bildungsstandards für Lehrerbildung (2004), die deutschlandweit gelten, unter Kompetenz 5 folgende Hinweise zur Ausbildung von Studierenden und Referendar_innen: 7 8
9
„Rejecting all forms of racism and Zionism, which constitute a violation of human rights […]“ (Rat der Arabischen Liga 2004, Präambel). Z.B. in Bayern: „Ich schwöre Treue dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung des Freistaates Bayern, Gehorsam den Gesetzen und gewissenhafte Erfüllung meiner Amtspflichten [, so wahr mir Gott helfe]“ (BayBG, Art. 73 [1]). Vgl. z.B.: Die Bayerische Verfassung verpflichtet dazu, die Schülerinnen und Schüler „im Geiste der Demokratie […] (Art. 131 [3]) [zu erziehen]“. Aktuell wird besonders deutlich, wie grundlegend es ist, dass alle Lehrkräfte an allen Schulen in Bayern politische Bildung in Schule und Unterricht umsetzen. Sie müssen dies tun „als überzeugte und überzeugende Botschafter der freiheitlichen demokratischen Grundordnung auf der Basis des Grundgesetzes, der Bayerischen Verfassung und der weiteren maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen“ (Bayerisches Staatsministerium für Unterricht und Kultus 2017, 296).
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„Lehrerinnen und Lehrer vermitteln Werte und Normen und unterstützen selbstbestimmtes Urteilen und Handeln von Schülerinnen und Schülern. […] Die Absolventinnen und Absolventen kennen und reflektieren demokratische Werte und Normen sowie ihre Vermittlung.“ (KMK 2004, 9)
Unter anderem in der Bayerischen Lehrerdienstordnung werden die verfassungsrechtlichen Grundwerte ausdrücklich als Unterrichtsgegenstand benannt: „Die Lehrkraft hat den in der Verfassung und im Bayerischen Gesetz über das Erziehungs- und Unterrichtswesen niedergelegten Bildungs- und Erziehungsauftrag zu beachten. Sie muss die verfassungsrechtlichen Grundwerte glaubhaft vermitteln.“ (Bayerische Staatskanzlei 2017a, LDO §2 (2)[1–2])
In den schulart- und fächerübergreifenden Erziehungs- und Bildungszielen des neuen LehrplanPLUS in Bayern findet sich die Aufforderung zur politischen Bildung, die eine Orientierung an der Anerkennung der und Zustimmung zu den Grundrechten respektive -werten einschließt: „Politische Bildung basiert auf der Kenntnis und Akzeptanz von Demokratie und freiheitlich-demokratischer Grundordnung […] der Bundesrepublik Deutschland. Die Schülerinnen und Schüler achten und schätzen den Wert der Freiheit und der Grundrechte.“ (ISB o.J., o.S.)
Für die Beschulung von Asylsuchenden und Flüchtlingen ist schließlich in Bayern gemäß neuem Integrationsgesetz insbesondere Art. 7 (1) relevant (Bayerische Staatskanzlei 2017b, o.S.): „Die Schulen […] vermitteln […] auch die grundlegende Rechts- und Werteordnung der Verfassung.“10 All diese Hinweise betreffen nicht ausschließlich das Fach Sozialkunde (das unter anderem an bayerischen Schulen ohnehin in nur wenigen höheren Klassenstufen mit geringer Stundenzahl unterrichtet wird), in dem Demokratiebildung primär verortet werden mag. Vielmehr können sie als Aufforderung zur demokratischen Wertebildung verstanden werden, zu der jedes Fach einen eigenen Beitrag leisten soll. Beachtenswert ist bei den genannten formalen Hinweisen, dass es nicht nur um die primär kognitive Vermittlung von Wissen über die Rechtsordnung des Grundgesetzes, der Landesverfassungen o.ä. geht. Sondern die schulische Bildungs- und Erziehungsarbeit soll dezidiert demokratische Grund- und Verfassungswerte fokussieren. 10
Auf Bundesebene setzen sich gerade Abgeordnete der Grünen für eine stärkere Vermittlung grundlegender Verfassungswerte u.a. in Integrationskursen für erwachsene Flüchtlinge ein: „Deligöz: Wenn man Leitkultur als etwas Abgeschlossenes betrachtet, ist es falsch. Wenn sie aber als gemeinsame Werte, wie sie in der Verfassung niedergeschrieben sind, verstanden wird, ist es richtig. Und diesen Wertekanon müssen wir jeden Tag aufs Neue vermitteln und verteidigen. Warum nicht, wie im Papier vorgeschlagen, die wertevermittelnden Orientierungskurse für alle Zuwanderer verpflichtend machen?“ (zitiert bei Niewendick 2019, o.S.).
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Dieser Anforderung kann die Einsicht zugrunde gelegt werden, dass allein das Wissen über die Rechtsordnung noch nichts darüber aussagt, ob ein Wert auch tatsächlich innerlich angenommen und entsprechend in Alltagshandeln übertragen wird. So wird womöglich ein Elternteil, das weiß, dass in Deutschland die gewaltfreie Erziehung per Gesetz vorgeschrieben ist, ein Kind nur dann nicht schlagen, wenn es davon ausgehen muss, dass jemand dies sehen und ggf. Anzeige erstatten würde. Ein Elternteil, das vom Wert der gewaltfreien Erziehung überzeugt ist, wird jedoch grundsätzlich das eigene Kind nicht schlagen – und durch den gewaltfreien Umgang mit dem Kind diesem auch Kompetenzen des gewaltfreien sozialen Umgangs beibringen, es zu einem gewaltfreien Umgang mit anderen Kindern anhalten und selbst einschreiten, wenn es sieht, dass andere Eltern gewaltsam mit Kindern umgehen. So kann ein aus Überzeugung geteilter Wert möglicherweise eine große Breitenwirkung erzielen. 2.2
Auswahl einzelner Grund- bzw. weiterer Verfasssungswerte für den Deutschunterricht
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland weist 146 Artikel auf. Aus didaktischen Gründen wird man daher eine Auswahl an Artikeln respektive Verfassungswerten vornehmen müssen, die sich für eine fachspezifische Thematisierung im Deutschunterricht besonders eignen. Aufgrund ihrer herausgehobenen Stellung sollten natürlich demokratische Grundrechte und ihnen zugrunde liegende Werte berücksichtigt werden, so u.a. die Achtung der Menschenwürde (Art. 1), das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit die Rechte anderer nicht verletzt werden (Art. 2), das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2), die Gleichberechtigung von Männern und Frauen sowie das Diskriminierungsverbot (Art. 3), die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz (Art. 3), die Freiheit des Glaubens, Gewissens und weltanschaulichen Bekenntnisses (Art. 4), das Verbot, gegen das eigene Gewissen zum Kriegsdienst gezwungen zu werden (Art. 4), Meinungsfreiheit und Zensurverbot (Art. 5), Versammlungsrecht (Art. 8), oder die Demokratie als Staatsform (Art. 20). Als zusätzliche Orientierungshilfe für eine Auswahl geeigneter Verfassungswerte mag das oben bereits erwähnte Buch von Joachim Detjen hilfreich sein. Im Inhaltsverzeichnis werden zentrale Werte genannt, denen dann in den Kapiteln Grundgesetzartikel zugeordnet werden, die wiederum genauer erläutert werden (u.a. „Menschenwürde – Oberster Wert des Grundgesetzes“, „Kommunikationsfreiheit – Bedingung der Verwirklichung geistiger Freiheit“, „Umwelt – Sorge für die zukünftigen Generationen“). Diese Werte können hinsichtlich ihrer Relevanz für die Schüler_innen einer Jahrgangsstufe bzw. einer speziellen Klasse abgewogen und im Unterricht mit geeignetem Material eingesetzt werden; umgekehrt mag ein Blick in das Inhaltsverzeichnis von Detjens Buch Lehrkräfte dazu anregen, Texte, Filme und anderes Material daraufhin zu prüfen, ob sie Verfassungswerte themati-
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sieren, die dann sinnvoll im Unterricht integriert werden können. Ergänzend mögen aktuelle gesellschaftspolitische Ereignisse, das Schülerinteresse und die Passung zu Vorgaben des Lehrplans die Auswahl einzelner Verfassungswerte für den Unterricht mitbedingen. Die Tatsache, dass aktuell besonders viele Menschen aus Ländern nach Deutschland kommen, in denen die hier geltenden Grundrechte und -werte gerade nicht verankert sind und gelebt werden – die Religionsfreiheit, das Diskriminierungsverbot von Homosexuellen, die Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder die Demokratie als Staatsform –, macht es zusätzlich notwendig, im Unterricht mit diesen Schüler_innen die Grundrechte zu thematisieren und die zugrunde liegenden Wertvorstellungen zu erarbeiten, die bei den neu Ankommenden nicht 11 als bekannt und anerkannt vorausgesetzt werden können. In Klassen mit höherem Anteil an Schüler_innen mit Migrations- bzw. Fluchthintergrund können diese Grundrechte und -werte als solche eingeführt, hinsichtlich ihrer Bedeutung reflektiert, positive Aspekte ihrer Geltung herausgearbeitet und mit Blick auf Vorteile und Schwierigkeiten ihrer äußeren wie inneren Annahme für das Leben in Deutschland besprochen werden. Durch die Beschäftigung mit diesen Werten können umgekehrt in Deutschland aufgewachsene Schüler_innen dazu veranlasst werden, sich der Grundrechte, ihrer Entstehung, Bedeutung und positiven ‚Werthaltigkeit‘ überhaupt bewusst zu werden. Denn auch bei diesen Schüler_innen ist, das zeigt die Unterrichtspraxis, das Wissen über demokratische Grundrechte und -werte und andere Verfassungswerte mitunter sehr gering, teils werden sie als selbstverständlich hingenommen, teils werden sie auch nicht geteilt. Dies wird im Unterricht manchmal nur durch kurze Bemerkungen und eher zufällig – wenn überhaupt – deutlich, woran wie an der Spitze eines Eisbergs situativ erkennbar wird, dass eine intensive Arbeit zu Grundrechten und -werten nötig wäre. 2.3
Didaktische Grundlagen für die Thematisierung von demokratischen Grundrechten und -werten im Deutschunterricht
Der Deutschunterricht hat große fachspezifische Potenziale für die Thematisierung von demokratischen Grundrechten und -werten, die jene des Sozialkundeunterrichts um eigene, wichtige Facetten ergänzen. Zunächst werden im Deutschunterricht ohnehin Gegenstände behandelt, die eine Auseinandersetzung mit den in ihnen thematisierten Grundrechten und -werten 11
In meinem Aufsatz Vermittlung von Verfassungswerten in Berufsintegrationsklassen – Einige didaktische Vorüberlegungen (Kretschmann 2017) habe ich Vorschläge zur Thematisierung von Verfassungswerten in Klassen, in denen v.a. Flüchtlinge unterrichtet werden – so eben in Berufsintegrationsklassen in Bayern –, ausgearbeitet. Den Begriff der Wertevermittlung vermeide ich inzwischen – zwar lässt sich Wissen über Grundwerte und -rechte durchaus vermittlen, entsprechende Einstellungen und Handlungsfägigkeiten jedoch nicht; hierfür ziehe ich nun den Begriff der Wertebildung vor, der in einer konstruktivistischen Perspektive den aktiven Anteil des Subjekts im Prozess der Aneigung von Werten, dessen Ausgang sich nicht vorhersagen lässt, betont.
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erlauben oder gar erfordern. Bei literarischen Texten entspräche dies einem interpretatorischen Zugriff ganz im Sinne von Umberto Ecos intentio operis (vgl. Eco 1990, 35ff.). Dies ist beispielsweise beim Drama Terror von Ferdinand von Schirach der Fall, das auch verfilmt wurde und das Lehrkräfte im Deutschunterricht ab der zehnten Jahrgangsstufe immer wieder einsetzen (vgl. Schirach 2016):12 Das Stück handelt von einer Gerichtsverhandlung gegen einen Major, der ein entführtes Passagier-Flugzeug zum Abschuss freigab; das Flugzeug sollte offenbar in die mit Menschen gefüllte Allianz Arena in München geflogen werden, bei seinem Absturz kamen alle Passagiere ums Leben. Die Zuschauer des Stücks werden zu einer Abstimmung aufgefordert, ob der angeklagte Major freigesprochen werden soll. Bei der Entscheidung über eine Anklage oder einen Freispruch muss das Recht auf Leben als im Grundgesetz verbriefter Wert ebenso wie die Achtung der Menschenwürde berücksichtigt werden, dergemäß Menschen nicht als ‚Mittel zu einem Zweck‘ benutzt werden dürfen. In diesem Fall hat sich der Major – wenn auch aus nachvollziehbaren Gründen – in der konstruierten Dilemma-Situation dafür entschieden, eine größere Menge von Menschen in der Allianz Arena zu retten, indem er den Tod einer kleineren Menge von 13 Menschen veranlasste. Als weiteres Beispiel ließe sich Janne Tellers Kurzroman Krieg. Stell dir vor, er wäre hier (2013) anführen, der momentan häufig als Klassenlektüre ab der siebten Klasse gelesen wird. Im Buch wird die Fiktion eines Krieges in Europa entworfen, der eine Familie dazu zwingt, nach Ägypten zu fliehen. Dort findet sich unter anderem die Schwester des Erzählers in einer im Vergleich zu Westeuropa ganz anderen Stellung der Frau wieder, die ihr kein gleichberechtigtes Leben mehr ermöglicht. So wird der Leser mit der impliziten Frage ‚Stell dir vor, du wärst betroffen – was würdest du denken und wie würdest du dich verhalten?‘ konfrontiert und auch danach gefragt, wieviel einem selbst das Recht auf bzw. eine tatsächlich realisierte Gleichberechtigung bedeutet und welche Konsequenzen der Verlust dieses Rechts 14 mit sich bringt. Mit entsprechend geschärftem Blick für demokratische Grundwerte als Thema, das in etlichen literarischen und anderen medialen Texten verhandelt wird, lassen sich viele weitere Beispiele finden, die für einen Einsatz im Deutschunterricht verschiedener Jahrgangsstufen geeignet sind. Sie reichen von Kinderbüchern für die Grundschule (z.B. Raphaele Frier: Malala – für die Rechte der Mädchen/Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen; Kathryn Cave und Chris Riddell: Irgendwie Anders/Diskriminierungsverbot) zu solchen für die Sekundarstufe I (z.B. Film Billy Elliot/u.a. Recht auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit; Arnulf Zitelmanns 12 13 14
Eine kritische Würdigung des Films schrieb Thomas Fischer: ‚Terror‘ – Ferdinand von Schirach auf allen Kanälen! (Fischer 2018). Das Dilemma ähnelt dem in der Philosophie bekannten ‚Straßenbahn-Dilemma‘. So gibt etwa ein Spiegel-Artikel aus dem Jahr 2013 Auskunft darüber, dass es Frauen in Ägypten im arabischen Raum mit am schlechtesten geht: Genitalverstümmelungen, sexuelle Belästigungen sowie eine im Vergleich zu Männern deutlich schlechtere Bildung prägen das Bild (vgl. Putz 2013).
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Jugendbiographie Keiner dreht mich um – Die Lebensgeschichte des Martin Luther King/Diskriminierungsverbot) und Sekundarstufe II (z.B. Sue Monk Kidds Bestseller Die Erfindung der Flügel/Diskriminierungsverbot, Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Achtung der Menschenwürde). Außerdem können selbstverständlich auch Sachtexte mit thematischem Bezug zu demokratischen Grundrechten und -werten gewählt werden. Methoden wie Diskussionen oder Debatten fördern nicht nur eine spezifische Form demokratischer Auseinandersetzung, sondern können ebenso zu Themen durchgeführt werden, die sich auf Grundrechte bzw. -werte beziehen. Und da in der Epoche der Aufklärung grundlegende Werte verhandelt wurden, die heute das deutsche Grundgesetz bestimmen, können diese natürlich im Zusammenhang der Epoche im Deutschunter15 richt gezielt mit besprochen werden. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich einige fachspezifische Vorteile und Besonderheiten bei der Thematisierung von demokratischen Grund- bzw. Verfassungswerten im Deutschunterricht benennen: Da im Deutschunterricht in den unteren Jahrgangsstufen mehr Unterrichtsstunden zur Verfügung stehen als im Sozialkundeunterricht, können hier mit Grundwerten verbundene Aspekte bereits früh und intensiv behandelt werden. Dies entspricht u.a. dem Postulat Jutta Standops: „Wirksame Werteerziehung muss sich über viele Wochen und viele Problembearbeitungen erstrecken. Kurzzeitige Werte-Thematisierung hat praktisch keine Effekte“ 16 (Standop 2005, 94). Die fachspezifischen Gegenstände und Methoden ermöglichen andere Zugänge als diese im Sozialkundeunterricht gegeben sind. Literarische Texte und andere Medien wie Film, Theater oder Hörspiel machen die Relevanz einzelner Grundwerte und ggf. damit verbundene Dilemmata besonders anschaulich. Schüler_innen können sich anhand eines exemplarischen Falls in diesen empathisch vertiefen, ihn kognitiv wie emotional erkunden, verschiedene Perspektiven erörtern, alternative Handlungsweisen probeurteilend und -handelnd entwerfen und diskutieren etc. Aus didaktischer Perspektive sind so vielschichtige Zugangsweisen möglich, die die eher wissenszentrierte Beschäftigung mit demokratischen Grundrechten oder Verfassungsartikeln im Sozialkundeunterricht höherer Jahrgangsstufen um andere Erfahrungsweisen ergänzen. Das scheint für eine gelingende Wertebildung besonders wichtig, wie Jutta Standop betont, denn diese sei „[…] nur erfolgreich im Sinne autonom verinnerlichter Werte, wenn Unterricht diese affektiv geprägten Erfahrungen aufgreift“ (Standop 2005, 92–93). Ohnehin für das Fach vorgesehene Gegenstände und Methoden wie das Lesen von literarischen Texten und Sachtexten, argumentierendes oder kommentierendes 15
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Eine Unterrichtssequenz von mir für den gymnasialen Deutschunterricht in der zehnten Jahrgangsstufe wird für die Publikation aktuell vorbereitet. Material hierzu wird in einem entsprechenden Modul der Kurse „Ethische Bildung im Deutschunterricht“ der Virtuellen Hochschule Bayern vorgestellt (vgl. https://www.vhb.org/; Kurse sind nur mit Login abrufbar). Die Aussage wäre empirisch zu überprüfen.
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Schreiben, Informationsrecherche, Debattieren und Diskutieren, Epochenarbeit (besonders zur Epoche der Aufklärung) etc. können umgekehrt mit aktuellen Themen, die demokratische Grund- bzw. Verfassungswerte berühren, gefüllt werden, ohne dass es zu einer ‚Verzweckung‘ des Deutschunterrichts für fachfremde Ziele und Inhalte käme. Neben der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den demokratischen Grund- bzw. Verfassungswerten, die ohnehin formal gefordert ist, mag es für Schüler_innen ein zusätzlicher Motivationsfaktor zur Beschäftigung mit Gegenständen und Methoden des Deutschunterrichts sein, wenn dies anhand von Themen geschieht, die für sie interessant und persönlich relevant sind. Für den Deutschunterricht lassen sich konkrete Zielsetzungen bei der Beschäftigung mit Grundwerten benennen, die sich unmittelbar aus der Arbeit mit fachspezifischen Gegenständen und Methoden ergeben: 1. Im Kontext der Beschäftigung mit fachspezifischen Gegenständen und Methoden des Fachs Deutsch lernen Schüler_innen einzelne, zentrale Grundrechte und -werte des Grundgesetzes kennen und erfahren, dass diese für alle in Deutschland lebenden Menschen verbindlich gelten. 2. Die Schüler_innen erschließen im Kontext der Arbeit mit fachspezifischen Gegenständen und Methoden die Bedeutung der Grundrechte und -werte, auch mit Blick auf das eigene Leben und das Zusammenleben in Deutschland. Dies kann u.a. in Auseinandersetzung mit Unterschieden der in der deutschen Verfassung verankerten Grundwerte zu den Wertestrukturen zu anderen Zeiten oder in anderen Gesellschaften geschehen. Auch durchaus problematische und nicht einfach zu lösende Fragen u.a. nach dem Umgang mit grundwerterelevanten Dilemmasituationen können diskutiert werden. 3. Die Schüler_innen reflektieren und erkennen die ‚positive Werthaltigkeit‘ der Grundrechte. Hilfreich können u.a. folgenden Leitfragen sein: Warum ist es 17 sinnvoll, dass es dieses Grundrecht gibt? Inwiefern garantiert das Grundrecht ein möglichst gutes und friedliches Leben für möglichst alle Menschen in Deutschland? Wie sähe ein Leben ohne diesen normativ gefassten Grundwert aus? 4. Die Schüler_innen sind sich der Existenz, Bedeutung und positiven Werthaltigkeit der Grundgesetzartikel bewusst, nehmen die Grundwerte als verbindlich für das eigene Leben in Deutschland an, stimmen den Werten innerlich zu und richten ihr Handeln nach ihnen aus. Während das Erreichen der Lernziele eins bis drei im Unterricht durchaus überprüfbar ist, fokussiert Lernziel vier innere Einstellungen und eine kompetenzorientierte Anwendung außerhalb der Schule. Gleichwohl sollte dieses Lernziel als Fernziel für die Beschäftigung mit demokratischen Grundwerten leitend sein. Denn nur,
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Die Frage nach dem Warum – nicht Ob – akzentuiert positive Begründungen für Verfassungswerte und verhindert, dass diese grundsätzlich in Frage gestellt werden.
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wenn der esprit de loi, der ‚Geist‘ der Verfassung, geteilt wird, können diese dauerhaft eine Grundlage für einen stabilen Wertekonsens in der Gesellschaft sein.18 Für die praktische Behandlung von demokratischen Grundwerten im Deutschunterricht sollten einige methodisch-didaktische Überlegungen beachtet werden: Die Beschäftigung mit Verfassungs- bzw. demokratischen Grundwerten im hier vorgestellten Sinne wird auch als fachspezifischer Beitrag zur politischen Bildung verstanden. Ein Hauptziel politischer Bildung ist, dass mündige Bürger_innen reflektierte Urteile fällen können. Entsprechend muss eine altersgemäß analysierendkognitive Auseinandersetzung mit dem demokratischen Grundwert bzw. -artikel selbst, seiner Bedeutung, Geltung und ethischen Begründung erfolgen, die vertiefend um vielperspektivische – auch affektive und kreativ-gestaltende – Facetten ergänzt werden sollte. Die oben vorgeschlagenen Lernziele können bei der Entwicklung von Unterrichtseinheiten als erste Checkliste dafür dienen, dass wichtige Elemente berücksichtigt werden. Bei der Durchführung von Unterrichtseinheiten zu demokratischen Grundrechten und -werten sollten Lehrkräfte sich ihrer eigenen Haltung selbstkritisch bewusst sein: Auch wenn es um die Thematisierung grundlegender Grundrechte und mit ihnen verbundener Werte geht, die in Deutschland juristisch verbindlich gelten und zu deren ‚glaubhafter Vermittlung‘ Lehrkräfte angehalten sind, ist ge19 mäß dem Beutelsbacher Konsens darauf zu achten, dass im Unterricht kein Antwortverhalten der Schüler_innen im Sinne sozialer Erwünschtheit ohne innere Überzeugung forciert wird. Der Grat zwischen der Vermittlung von juristischer Verbindlichkeit, Werben für den esprit de loi, ethischer Reflexion und manipulativer Indoktrination ist schmal. Dass den Schüler_innen Möglichkeiten gegeben werden, positive wie negative Emotionen als Reaktion auf grundwerterelevante Situationen zu äußern sowie Fragen, Irritationen und Schwierigkeiten im Umgang mit demokratischen Grundwerten zu benennen, ist für einen ausgewogenen Unterricht unerlässlich. Der Unterricht sollte dabei als Raum für offenes Denken verstanden werden, in dem auch ungewöhnliche Gedanken jenseits eines vermeintlichen Mainstreams geäußert werden können, ohne dass diese vorschnell mit einem moralischen Zeigefinger durch Mitschüler_innen oder Lehrkräfte gebrandmarkt würden. Wertekonflikte sollten ebenso angesprochen werden können – auch wenn sich ihre Lösung mitunter als nicht einfach erweist. Als sinnvoll erscheint es, auch ethische Begründungen für die Grundwerte zu erarbeiten, die ihre Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit nachvollziehbar machen. Selbstverständlich bietet es sich an, bei einer Sequenz, innerhalb derer demokratische Grundwerte eine zentrale Rolle spielen, fächerübergreifend zu arbeiten. Wenn 18 19
Zum Begriff esprit de loi in diesem Kontext vgl. Tibi (2001). Der Beutelsbacher Konsens beschreibt drei Prinzipien der politischen Bildung: Überwältigungsverbot; in Wissenschaft und Politik kontrovers diskutierte Themen müssen auch im Unterricht kontrovers sein; Befähigung des Schülers zur Analyse der politischen Situation der Gesellschaft und seiner eigenen Interessen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung 2011).
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man nach Anknüpfungspunkten sucht, lassen sich diese in verschiedensten anderen Fächern (von Philosophie über Religion, Fremdsprachen, Kunst und Musik bis hin zu Naturwissenschaften) finden. Unter anderem dann, wenn in Klassen mit Schüler_innen zu demokratischen Grundrechten und -werten gearbeitet werden soll, bei denen die Kenntnis von oder die selbstverständliche Zustimmung zu diesen Werten überwiegend nicht vorausgesetzt werden kann – u.a. weil Eltern von Schüler_innen mit Fluchthintergrund erst kürzlich nach Deutschland kamen und aus Ländern stammen, in denen demokratische Grundwerte nicht gelten und gelebt werden –, 20 könnte eine flankierende inhaltliche Elternarbeit sinnvoll sein. So kann etwa bei einem Elternabend aufgezeigt werden, warum welche Grundrechte und -werte im Unterricht thematisiert werden; diese können – ggf. in einfachem Deutsch – erläutert werden. Dies kann dazu beitragen, eine von Schüler_innen wahrgenommene ‚Wertekluft‘ zwischen Schule und Elternhaus zu verringern. Ebenso können sich Lehrkräfte bei zu erwartenden Wertekonflikten Schüler_innen für Einzelgespräche aktiv anbieten, um ihnen Gelegenheit zu geben, sehr persönliche Fragen, die sich aus der Thematik ergeben, zu besprechen. Man denke etwa an Fragen zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen, die in Deutschland gilt, jedoch in Familien möglicherweise nicht gelebt wird und somit insbesondere Mädchen vor schwierige Situationen zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Hinblick auf deren Privat- und Berufsleben stellen. Methodisch ist besonders zu beachten, dass die in Deutschland geltenden Grundwerte als verbindlich markiert werden. Herangehensweisen, die etwa in Klassen mit hohem Anteil von Schüler_innen mit Flucht- bzw. Migrationshintergrund die Norm- und Werteordnung von Herkunftsländern abfragen, in denen die demokratischen Grundwerte des deutschen Grundgesetzes nicht gelten bzw. gelebt werden, und diese ‚beliebig wählbar‘ neben jene in Deutschland gültigen stellen, sind im schulischen Kontext nicht legitim, da sie dem Anspruch der ‚glaubwürdigen Vermittlung der demokratischen Grundwerte‘ nicht gerecht werden. 2.4
Beispiele für die Thematisierung demokratischer Grundwerte im Literaturunterricht
Verfassungswerte bzw. demokratische Grundwerte können auf ganz unterschiedliche Weise sinnvoll im Deutschunterricht thematisiert werden. Zwei Beispiele aus der eigenen Unterrichtspraxis in einer zehnten Klasse am Gymnasium mögen das veranschaulichen. Zur Förderung der Lesemotivation und Lesefreude hatten die Schüler_innen den Auftrag, aus einer längeren Liste an Lektürevorschlägen sich ein Buch auszusuchen, das sie in Kleingruppen von ca. fünf Schüler_innen lasen. Durch dieses
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Vgl. u.a. Broschüre zu interkultureller Elternarbeit des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF 2016).
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Vorgehen konnten die Schüler_innen eine relativ stark individualisierte Auswahl hinsichtlich Thema, Anspruch und Umfang des Buches treffen. Die Schüler_innen bekamen die Gelegenheit, nach der Lektüre der ersten Kapitel, in der Mitte der Lektüre und nach Abschluss des Leseprozesses in ihren Kleingruppen über die Bücher zu sprechen und sowohl eigene Fragen als auch durch die Lehrkraft in die Gruppen gegebene Leitfragen zu diskutieren, um das Verständnis abzusichern und den Inhalt zu reflektieren. Danach wurden in der Klasse Expert_innengruppen zusammengestellt, in denen jeweils ein/e Schüler_in aus jeder Lektüregruppe teilnahm und das eigene Buch vorstellte; zudem sollten als Schreib- und Wertungsübung individuelle kurze Rezensionen geschrieben werden. Für diese Gruppenarbeiten wurden – neben aktuellen Romanen wie Édouard Louis‘ Das Ende von Eddy (autobiographischer Roman über einen Jungen, der aufgrund seiner Homosexualität in der französischen Provinz gemobbt wurde), Sue Monk Kidds Die Entdeckung der Flügel (Roman über zwei Mädchen, die sich als Sklavin und Tochter einer Sklavenhalterfamilie für die Abschaffung der Sklaverei sowie die Gleichberechtigung von Frauen und Männern einsetzen) oder Khaled Hosseinis Tausend strahlende Sonnen (über zwei afghanische Mädchen, denen der Zugang zu Bildung weitgehend verwehrt wird und die im Alter von 15 Jahren an einen deutlich älteren Mann zwangsverheiratet werden) – auch ‚literarische Klassiker‘ zur Auswahl gestellt, die sich mit demokratischen Grundwerten verbinden ließen, nämlich Jane Austens Stolz und Vorurteil und George Orwells 1984. Die Leitfragen mit Bezug zu Grundrechten und -werten für Jane Austens Roman können etwa so aussehen: 1. Im deutschen Grundgesetz steht in Art. 3 (2): „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin.“ Tauscht euch in der Gruppe darüber aus, was der Artikel bedeutet. 2. Zu der Zeit, zu der Jane Austens Roman spielt, gab es noch keine in der Verfassung festgeschriebene Gleichberechtigung von Männern und Frauen. Inwiefern wird im Roman deutlich, dass die Gleichberechtigung von Männern und Frauen noch nicht gesellschaftlich realisiert war? 3. Inwiefern würde es die im Roman beschriebene Handlung ändern, wenn Frauen und Männer bereits gleichberechtigt gewesen wären? 4. Überlegt vor dem Hintergrund der Lektüre und des Grundgesetzartikels, welche Vorteile es für jeden von euch persönlich hat, dass heute die Gleichberechtigung von Männern und Frauen gilt. Angeregt durch die Leitfragen realisierten die Schüler_innen, wie wichtig die Gleichberechtigung der Geschlechter ist, so dass im Unterschied zu Jane Austens Protagonistinnen heute z.B. Frauen selbst ihre Partner auswählen dürfen, Berufen nachgehen und selbst Geld verdienen dürfen und auch die Gestaltung partnerschaftlicher Beziehungen weniger durch Konventionen bestimmt ist.
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Die Schüler_innen, die Orwell lasen, äußerten hingegen zu entsprechenden Leitfragen, die demokratische Grundrechte berücksichtigten, dass sie durch die Lektüre über den dystopischen Überwachungsstaat viel besser verstehen, warum es gut ist, dass in Deutschland die Meinungsfreiheit, der Schutz der Persönlichkeitsrechte, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ebenso wie die Demokratie garantiert sind. Angeregt durch einen kurzen Zeitungsartikel, in dem berichtet und kommentiert wurde, dass bzw. warum George Orwell gegenwärtig wieder ein Bestseller ist, machten sie sich Gedanken über die Aktualität des Romans und suchten Beispiele dafür (vgl. Lindner 2017, o.S.). Im Gespräch und bei der Präsentation merkten sie an, dass die Lektüre des Romans und die in ihm dargestellten Überwachungsstrukturen mit drohender Folter oder Tötung bei ihnen Beklemmungsgefühle ausgelöst hätten – ein Indikator für eine auch gefühlsmäßige Auseinandersetzung mit der fiktiven Handlung. Die Reflexion über die Grundrechte und -werte fand sich in den Rezensionen der Schüler_innen wieder, so in einer zu 1984: Buchrezension zu George Orwells Roman 1984 In seinem dystopischen Roman 1984 beschreibt George Orwell einen totalitären Überwachungsstaat, in dem sogar Gedanken gegen die regierende Partei ein Verbrechen darstellen. Das Buch begleitet das Leben des Parteimitglieds Winston Smith, der versucht, sich dem System zu widersetzen und dabei die Konsequenzen seiner Handlung zu spüren bekommt. 1984 hat seinen Weg in den allgemeinen Sprachgebrauch als Metapher für totalitäre Systeme gefunden und wird auch heute noch oft zitiert, wenn neue Gesetze oder andere Situationen die Gesellschaft in diese Richtung lenken. Durch die in der deutschen und bayerischen Verfassung festgelegten Werte, wie zum Beispiel die Staatsform der Demokratie, die Meinungs- und Pressefreiheit und der Schutz von Minderheiten vor Unterdrückung scheint eine Diktatur weit entfernt zu liegen. Trotzdem ist die beschriebene Situation nicht unrealistisch und wird durch wenige Merkmale herausgestellt. Das Buch zeigt die Folgen einer Gesellschaft, in der die Werte unserer Verfassung nicht mehr existieren, und regt zum Denken über die potenzielle Macht des Staates an. Deshalb ist es stets aktuell und ein Klassiker, den man gelesen haben sollte.
Ebenfalls in der zehnten Klasse wurde mit einem kurzen Auszug aus Ian McEwans Roman Kindeswohl gearbeitet (vgl. McEwan 2016, 70–91). In dem Roman geht es um die Dilemmasituation, vor der eine Richterin – als Vertreterin des säkularen Staates – steht: Ein gerade noch nicht volljähriger, offenbar jedoch sehr reifer und intelligenter Junge benötigt aus medizinischen Gründen eine lebensnotwendige Bluttransfusion. Diese lehnt er jedoch in Übereinstimmung mit den Vorstellungen seiner streng religiösen Eltern und der Gemeindevorsteher der Zeugen Jehovas ab. Würde die Richterin dem Willen des Jungen und seiner erziehungsberechtigten Eltern folgen, würde der Junge sicher im Familienkreis sterben; würde die Richterin die Transfusion veranlassen, würde der Junge zwar überleben, jedoch aus Familie und Gemeinde ausgeschlossen und sein bisheriges soziales Umfeld verlieren.
Demokratische Grundwertebildung im Literaturunterricht
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Die Schüler_innen arbeiteten zunächst aus dem Textauszug das Dilemma heraus. Die nachfolgende Abbildung zeigt einen Vorschlag für eine Ergebnisvisualisierung auf einem Arbeitsblatt, in Form eines Tafelbildes oder auf einer PowerpointFolie:
Abbildung 3: Dilemma-Situation in Ian McEwans Kindeswohl (eigene Darstellung)
Anschließend sollten sie in Kleingruppen das Pro und Contra für und gegen die Transfusion aus der Sicht der Richterin als Vertreterin des säkularen Staates diskutieren und ihre Ergebnisse im Plenum präsentieren. Als Hausaufgabe sollte ein Plädoyer aus der Perspektive der Richterin verfasst werden, das dann in der Klasse vorgestellt wurde. Die Vorschläge der Schüler_innen wurden wiederum mit der fiktiven Rede der Richterin im Buch abgeglichen, in dem sie sich klar für das Kindeswohl und damit für die Transfusion entscheidet (vgl. McEwan 2016, 128–132). Abschließend wurde mit den Schüler_innen erörtert, welche Argumente dafür sprechen, dass in Deutschland wie in England, wo der Roman spielt, der Staat und somit die Rechtsprechung säkular sind (vgl. Art. 140 GG) und auch die Glaubensfreiheit (vgl. Art. 4 GG) insofern nicht unbegrenzt gilt, als die Einhaltung anderer Grundrechte wie das Recht auf Leben oder der Schutz des Kindeswohls durch die Glaubensfreiheit nicht beschränkt werden dürfen (vgl. Art. 140 GG, Abs. 1: „Die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten werden durch die Ausübung der Religionsfreiheit weder bedingt noch beschränkt.“). Eine solche Dilemmadiskussion mit anschließender Reflexion über die Grenzen der Glaubensfreiheit zeigte den Schüler_innen u.a., dass durch die Geltung von Grundrechten nicht automatisch alle Probleme gelöst sind, sondern diese auch durchaus in einen Widerspruch zueinander treten können, was eine abwägende,
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Tabea Kretschmann
vernunftgemäße und der Gesetzeslage entsprechende Entscheidung notwendig macht. Zudem wurde den Schüler_innen der Wert eines säkularen Staates deutlich.
3.
Ausblick
Wertebildung im Deutsch- und Literaturunterricht war und ist immer wieder Gegenstand didaktischer Reflexion. Als ein besonderes Element der Wertebildung, das sich mit Demokratiebildung überlappt, sind bisher demokratische Grundwerte als eine Sonderkategorie von Verfassungswerten zu wenig intensiv und zu wenig systematisch berücksichtigt worden. Daher wäre es äußerst wünschenswert, wenn demokratische Grundwerte ebenso wie ausgewählte Verfassungswerte in der theoretischen wie praktischen Phase der Lehrerbildung thematisiert würden, und zwar nicht nur in Staatsbürgerkunde im Referendariat, sondern auch hinsichtlich der verschiedenen Möglichkeiten einer Thematisierung im Fachunterricht. Dabei sollte das Bewusstsein für die Relevanz des Themas, die didaktischen Grundlagen, Herausforderungen und Möglichkeiten geschärft werden. Zudem scheint bisher die Unsicherheit bei Lehrkräften relativ groß zu sein, was mit ‚Wertebildung‘ im Unterricht überhaupt gemeint ist und welche Werte eigentlich wie in welcher Verbindlichkeit im Unterricht thematisiert werden können und sollen. Eine systematische Einarbeitung des Themas in Schulbücher und (Jahrgangsstufen-/Fach-)Lehrpläne sowie die Bereitstellung von geeignetem Unterrichtsmaterial etwa für die Arbeit mit Prosatexten, Filmen und Theaterstücken würde die Wahrscheinlichkeit zusätzlich erhöhen, dass der formale Anspruch einer demokratischen Grundwertebildung auch im Deutschunterricht tatsächlich bewusster und umfassender als bisher realisiert wird.
Literatur- und Quellenverzeichnis Primärliteratur McEwan, Ian (2016): Kindeswohl. Zürich. Schirach, Ferdinand von (2016): Terror. Ein Theaterstück und eine Rede. München. Teller, Janne (2013): Krieg – Stell dir vor, er wäre hier. München.
Sekundärliteratur Bayerische Staatskanzlei (2014): Verfassung des Freistaates Bayern in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1998, gültige Fassung vom 01.01.2014. (Vefügbar unter: http://www.gesetze-bayern.de/Content/Document/BayVerf/true) (30.04.2019).
Demokratische Grundwertebildung im Literaturunterricht
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Gesellschaftliche Erwartungen – soziale Werte
Der ferne Vater Vaterfiguren und Geschlechterrollen in der deutschsprachigen inter- und transkulturellen Gegenwartsliteratur Monika Riedel 1.
Einleitung
Deutsche familiäre Wirklichkeiten befinden sich nicht erst seit der Jahrtausendwende, als sie in einem – inzwischen auch politisch anerkannten – Einwanderungsland und in Verbindung mit der herkömmlichen Rede von Heterogenität und Andersheit von zunehmend interkulturellen Konzepten herausgefordert wurden, in einer Krise. Bereits der kulturelle und soziale Wandel des 20. Jahrhunderts, der mit einem beträchtlichen Individualisierungsschub einherging, hat die im Patriarchat gesellschaftlich dominanten Wertvorstellungen von Mann-Frau- und Eltern-KindBeziehungen wenn auch nicht gänzlich außer Kraft gesetzt, so doch der Bevölkerung einen flächendeckenden Feldversuch mit alternativen Formen wechselseitiger Fürsorge zugemutet. Angesichts des seit der Jahrtausendwende im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs vielzitierten gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts des 1 Vaters bei gleichzeitigen restaurativen Tendenzen des neuen Vater-Diskurses stellt sich in der interkulturellen Literaturwissenschaft und -didaktik meines Erachtens die Frage nach den Vätern in Einwandererfamilien, deren Rolle als Despot des Familiengefüges sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Literatur und Film seit der Arbeitsmigration festgeschrieben zu sein scheint. Der vorliegende Beitrag fokussiert vor dem Hintergrund der neueren sozial-, erziehungs-, kultur- und literaturwissenschaftlichen Familien-, Geschlechter- und Männerforschung (Kapitel 2 und 3) von Einwandernden oder deren Nachkommenschaft geschriebene Texte der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Kapitel 4) im Hinblick auf Bedeutung und Wert der Familie in Zeiten der Migrationen und sich wandelnder geschlechtsbezogener Rollenbilder. Er geht der Frage nach, welchen Einfluss die in den Herkunftskulturen gesellschaftlich gängigen Vaterfiguren auf die Entwürfe der Schriftsteller_innen ausüben, ob sie Spielräume für andere Konstruktionen der Männlichkeit und Vaterschaft (und folglich Weiblichkeit und Mutterschaft) ausloten und ob und inwieweit sie mit ihren Texten dem deutschen Wertekontext folgen. Bewegen sich die Autor_innen dabei im aktuellen gesellschaftlichen
1
Zusammenfassend zur Vaterdebatte zu Beginn des 21. Jahrhunderts vgl. Anz (2003).
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Monika Riedel
Spannungsfeld zwischen dem positiven Bild der Frau und einem von Konflikten geprägten Bild des Mannes? Da literarische Familienmodelle und Mutter- und Vaterfiguren genauso vielfältig sind wie ihre Pendants im realen Leben, kann dieser Beitrag keinen umfassenden Überblick bieten. Er bettet lediglich die Heterogenität aufgreifenden, exemplarischen Analysen von Darstellungen migrantischer Vaterfiguren in ausgewählten Prosatexten in den jeweiligen gesellschaftlichen und literarischen Interpretationskontext ein und verweist auf einige leitmotivisch wiederkehrende inhaltliche und konzeptionelle Besonderheiten. Abschließend wird diskutiert, wie die Analyseergebnisse für einen themenorientierten Deutschunterricht sowohl inhaltsbezogen als auch konzeptuell fruchtbar gemacht werden können.
2.
Die Ankunft von ‚fremden‘ Vätern (und Müttern) in Gesellschaft und Forschung
Zu Beginn dieser Abhandlung nehmen wir die gesellschaftlichen Transformationsprozesse in den Geschlechterverhältnissen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ihre Reflexionen in den oben genannten Wissenschaftsdisziplinen in den Blick. Als die ersten sogenannten Gastarbeiter in den späten 1950er-Jahren die Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland aufnehmen, treffen sie auf eine Gesellschaft, die trotz ihres Wandels im Nachkriegsdeutschland des Wirtschaftswunders noch immer in den alten patriarchalen Strukturen steckt. Im Zuge der 1968erStudentenrevolte, die eine andere Gesellschaft schaffen wollte, findet eine Auseinandersetzung mit den Ursachen geschlechtsspezifischer Diskriminierungen statt; eine junge Frauengeneration fordert u.a. eine selbstbestimmte Mutterschaft, einen straffreien Schwangerschaftsabbruch, die Aufhebung der Abhängigkeit vom Ernährer-Ehemann und die Enttabuisierung der häuslichen Gewalt gegen Frauen. Als die ersten Schriftsteller_innen sich in den 1970er-Jahren gegen ein Schreiben für ihre jeweiligen ‚Communities‘ in den Herkunftssprachen entscheiden und den Schritt in die literarische Deutschsprachigkeit wagen, um aus Solidarität mit den ausländischen Arbeitskräften deren Anliegen in der Aufnahmegesellschaft Gehör zu verschaffen, ist die neue Frauenbewegung in vollem Gange. Sie übt auf die Situation der Zugewanderten insofern auch Einfluss aus, als durch die Sichtbarmachung der prekären Situation vieler türkischer Frauen – fehlende Selbstbestimmung und Abhängigkeit vom Ehemann – deren Lage zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen wird. Ungewollt prägt damit die Frauenbewegung allerdings die Vorstellung der ‚ungebildeten‘ und ‚rückständigen‘ (türkischen) Migrantin, sodass „[d]ie Dreifachunterdrückung der Migrantin als Frau, Arbeiterin und Ausländerin sowie ihre Prägung durch (statische) kulturelle Differenzen […] zur vorherrschenden Wahrnehmung“ (Westphal 2004, 2) wird. Dass geschlechtsspezifische Aspekte von Einwanderung, Flucht und Asyl schließlich in den Mittelpunkt des Interesses der Forschung gerückt sind, ist der
Der ferne Vater
99
Migrationsforschung zu verdanken. Angestoßen durch die zunehmende unabhängige Arbeitsmigration von Frauen in den 1990er-Jahren, die vom Wandel der westeuropäischen Länder von Industrie- zu Dienstleistungsgesellschaften profitiert hat, gewinnt die These einer Feminisierung der Migration (vgl. Han 2003) an Bedeutung und ebnet den Weg, Bemühungen, kulturalisierende Wahrnehmungsmuster und Herangehensweisen selbstkritisch zu reflektieren. Das stereotype Zerrbild der Migrantin als fremde Frau, die sprach- und chancenlos ist, soll durch eine differenzierte Sicht abgelöst werden.2 Auch wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ein partnerschaftliches Zusammenleben und mehr Gleichstellung in der Frauenbewegung zunächst auf die Situation der Frauen bezogen thematisiert und ausgehandelt werden, bewirkt die Veränderung der Geschlechterverhältnisse und ihre Reflexion in Politik und Medien, dass die sich etablierende Genderforschung im Laufe der zwei folgenden Jahrzehnte auch mit dem Thema Mann und Männlichkeit befasst ist. Die deutschsprachige Väterforschung entwickelt sich – in unterschiedlichen Wissen3 schaftsdisziplinen und zunächst eher diskontinuierlich – seit den 1970er-Jahren. Die Rede vom ‚neuen Vater‘ prägt die Diskussionen seit den 1980er-Jahren kontinuierlich und nachhaltig, als zunächst die psychologische Väterforschung erste Argumente für eine intensive Vater-Kind-Beziehung lieferte. Darunter ist ein Vater zu verstehen, der sich im Gegensatz zum tradierten berufszentrierten Vaterschaftsverständnis aus dem Binnenraum der Familie nicht mehr zurückzieht, sondern am Familienleben teilhat und dieses, wie auch seine Vaterrolle, aktiv gestaltet (vgl. Meuser 2012, 63). Einen entscheidenden Auftrieb bekam dieses Modell, wie schon die Thematisierung der Situation der Migrantinnen, durch den Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft in den 1990er-Jahren. Zu den grundlegenden Befunden der sozialwissenschaftlichen Forschung seit der Jahrtausendwende gehört deswegen die Einsicht, dass die sich ändernden gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen und Erwartungen unsere 4 Vorstellungen von Familie und Vaterschaft entscheidend prägen. Dies soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die neuen Rollenbilder, Lebensformen und nicht-traditionellen Familienstrukturen nicht nur weit davon entfernt sind, in Deutschland gesellschaftlicher Mainstream zu sein, sondern auch weniger Vielfalt 2
3 4
Die ersten Studien, die auf die Stilisierung der Einwanderin als Symbol der Fremdheit reagieren und das Leben der ersten und zweiten Generation aus der Perspektive der Betroffenen betrachten und ihre Selbstdeutungsstrategien differenziert darstellen, hat die Biographieforschung bzw. biographische Migrationsforschung vorgelegt. So konnte z.B. Ursula Apitzsch 1990 in ihrer Habilitationsschrift zeigen, dass die Familienorientierung junger Migrantinnen für ihre Bildungskarrieren förderlich ist. Ihre Anfänge stehen im Zeichen von Alexander Mitscherlichs Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (1963). Für einen Überblick vgl. Walter (2002). Wenn „die ökonomischen und institutionellen Grundlagen des tradierten, auf die Ernährerfunktion fokussierten Vaterschaftskonzepts wegbrechen“, argumentiert Meuser, stößt die Betonung des „Engagement[s] in der Familie“ als Option einen Wandel von Vaterschaft an (Meuser 2012, 70).
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aufweisen, als die medialen Angebote suggerieren.5 Auf die Persistenz des für überholt erklärten Modells bürgerlicher Vaterschaft, das allerdings für das Selbstverständnis der Väter nicht mehr generationenübergreifend gilt, verweisen mehrere Studien.6 Es wirkt auch in der Alltagspraxis der jüngeren Väter, die sich mehrheitlich als ‚moderne Ernährer‘ (= Ernährer, fürsorglicher Vater, kooperative Arbeitsteilung im Haushalt) definieren, weiter.7 Darüber hinaus bleibt die gesellschaftliche Hierarchie zwischen den Geschlechtern von den Transformationen der Erwerbsarbeit, die oft als Ursache für die Infragestellung der hegemonialen Position des Mannes in der Familie genannt wird, weitestgehend unberührt. Obwohl die Väterforschung in den letzten Jahrzehnten auch Männlichkeitskonzepte jenseits der herkömmlichen Vorstellungen vom ‚Mann‘ – einschließlich marginalisierter Gruppen – in den Blick nimmt, thematisiert sie Väter mit Zuwanderungsgeschichte eher zögerlich. Denn die negativen Stereotype der öffentlichen Diskurse, nach denen migrantische Männer und Väter als homogene Gruppe erscheinen, die als ‚machohaft‘, ‚traditionell‘ und ‚konservativ‘ denkend wahrgenommen und mit problematischen Geschlechter- und Familienbeziehungen ver8 bunden werden, üben bis heute auch auf die Forschung Einfluss aus. Einen möglichen Ausweg aus den ethnisierenden Männlichkeitsdiskursen könnte der in der Frauen- und Geschlechterforschung entwickelte Ansatz der Intersektionalität darstellen, der das Individuum als Kombination und Kreuzungspunkt verschiedener Kategorien sozialer Differenzierung wie Geschlecht, Bildung, Klasse, Einkommen, Behinderung u.a. betrachtet und „die Chance [bietet], Strategien der Bewäl-
5
6
7
8
Zu den Unterschieden zwischen ländlich-traditionellen, karrierezentrierten und ‚modernen‘ Vorstellungen von Vaterschaft als Ergebnis eines Spannungsfelds aus Anforderungen, normativen Vorgaben und alltäglicher Lebensführung siehe Kudera 2002. In seiner qualitativ angelegten Studie zur Untersuchung der Determinanten des Handelns von Familienvätern konnte Michael Matzner vier Typen subjektiver Vaterschaftskonzepte ausmachen – den traditionellen und den modernen Ernährer sowie den ganzheitlichen und den familienzentrierten Vater (vgl. Matzner 2004, 339ff.). Sowohl Hofmeister/Baur/Röhler als auch Schwiter belegen 2009 in ihren Studien – die Ersteren im Vergleich von Ost- und Westdeutschland, Schwiter für die Schweiz – sowohl den Wunsch der interviewten Männer (und Frauen) nach aktiv erlebter Vaterschaft als auch ihre Prägung durch traditionelle Vorstellungen (vgl. Hofmeister/Baur/Röhler 2009; Schwiter 2009). Gleichzeitig zeigt sich eine deutliche Diskrepanz zwischen den Einstellungen der Väter und ihrer faktischen Beteiligung an Familienarbeiten; ein Befund, der auch im internationalen Vergleich bestätigt wurde. Meuser (2012, 73) zitiert das Ergebnis einer vergleichenden Studie von Dirk Hofäcker aus dem Jahr 2007, demzufolge individuelle Charakteristika wie Bildung, Religiosität, soziales Milieu und die mit ihnen zusammenhängenden Einstellungen auf die Hausarbeitsbeteiligung von Männern keinen Einfluss haben. Michael Tunç attestierte der deutschsprachigen Väterforschung mangelndes Diversitätsbewusstsein und spricht sich angesichts des im Mainstream aktueller Väterdiskurse dominierenden Bildes eines Vaters, „der meist weiß, heterosexuell, im mittleren Alter und der Mittelschicht zugehörig ist sowie keine Migrationsgeschichte und keine Behinderung hat“, für eine „zukünftige fünfte […] Phase Diversität“ der Väterforschung aus (Tunç 2014, 42).
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tigung bzw. Ausgestaltung von Mannsein/Vatersein bei Zugewanderten im Spannungsfeld von Ressourcen und Benachteiligung zu erfassen“ (Tunç 2014, 43).9
3.
Familien und Väter in der deutschsprachigen Literatur
Wenden wir uns nun den Vorstellungen von Familie und Vaterschaft im kulturellen Handlungsfeld Literatur und den literarischen Gattungen, die sie schwerpunktmäßig thematisieren und reflektieren, zu. Will man den Familienroman und die sogenannte Väterliteratur in ihrer historischen Entwicklung betrachten, muss man sich zunächst mit dem Erbe des 19. Jahrhunderts, einem dichotomischen kulturellen Denk- und Deutungsmuster auseinandersetzen: Dieses ordnet die Weiblichkeit der Sphäre der Natur und der Reproduktion, die Männlichkeit hingegen der Sphäre der Kultur und der Produktion zu und basiert auf dem mit einer geschlechtlich codierten Wertehierarchie verbundenen Patriarchat. Obwohl die allgemeingültige Existenz des Familienmodells der sogenannten bürgerlichen Kleinfamilie in der historischen Realität von der geschichtswissenschaftlichen Geschlechter- und Familienforschung angezweifelt 10 wird , dient es als Normalitätsfolie für die aktuellen öffentlichen Auseinandersetzungen über das Verständnis von Vaterschaft. Auch Schriftsteller_innen haben sich Generation für Generation von diesem kulturellen Konstrukt immer wieder von Neuem herausfordern lassen: angefangen vom Familienroman des 19. Jahrhunderts, der den Verfall der bürgerlichen Familie dokumentiert, über die Erzählungen von der Allmacht des Vaters in der literarischen Moderne nach 1900 bis hin zu den in die Familien verlagerten Auseinandersetzungen mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen derjenigen, welche in den 11 1970er- und 1980er-Jahren die sogenannte Neue Subjektivität vertreten haben. Seit den 1990er-Jahren erlebt der Familien- und Generationenroman in der deutschsprachigen Literatur eine Renaissance. Seine Neuentdeckung und Popularität verdankt er der Gedächtnis- und Erinnerungsthematik: Der moderne Familienroman umspannt im Gegensatz zum dualen Generationen- und Konflikt-Modell der Väter-Söhne- bzw. Väter-Töchter-Literatur drei oder mehrere Generationen und verschränkt Individuum, Familiengeschichte und nationale Geschichte miteinan9 10
11
Zu den Prozessen des Zusammenwirkens der Differenzlinien Geschlecht, Ethnizität und Klasse bei ethnisch minorisierten Vätern und Vätern of Color, siehe Tunç 2018. Die historische Geschlechter- und Familienforschung datiert die bürgerliche Kleinfamilie erst auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts und diskutiert sie mit Einschränkungen für die Arbeiterklasse, für die der Rückzug der Mutter in den Haushalt finanziell nur im Westdeutschland der 1950er- und 1960er-Jahre tragbar war (vgl. Martschukat/Stieglitz 2005, 107 und Correll 2010). Neben Theodor Fontane (Effi Briest, 1894/1895) und Thomas Mann (Buddenbrooks. Verfall einer Familie, 1901) können u.a. folgende Autor_innen genannt werden: Walter Hasenclever (Der Sohn, 1914), Franz Kafka (Brief an den Vater, 1919), Arnold Bronnen (Vatermord, 1920), Peter Henisch (Die kleine Figur meines Vaters, 1975), Elisabeth Plessen (Mitteilung an den Adel, 1976), Christoph Meckel (Suchbild. Über meinen Vater, 1979), Peter Härtling (Nachgetragene Liebe, 1980), Jutta Schutting (Der Vater, 1980).
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der. Zu den historischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts, mit denen sich deutschsprachige Schriftsteller_innen auseinandersetzen, gehören der Nationalsozialismus, der Sozialismus, die westdeutschen Protestbewegungen der 68er-Generation und die Migrationsbewegungen seit den 1950er-Jahren.12 Durch die Konfrontation der jüngeren Generationen mit der Vergangenheit ihrer Eltern und Großeltern vermitteln die Texte genealogisches Wissen, welches das kollektive kulturelle Gedächtnis um neue Identifikationsangebote und Sinnentwürfe ergänzt. Die literaturwissenschaftlichen Diskussionen der letzten anderthalb Jahrzehnte greifen allerdings diese Vielfalt nicht auf.13 Durch den Schwerpunkt ‚Nationalsozialismus aus westdeutscher Perspektive‘ wird der Familien- und Generationenroman als typisch deutsche Gattung wahrgenommen. Sigrid Löfflers Verweis auf interkulturelle Familienromane wird zwar regelmäßig genannt (vgl. dies. 2005), hat aber wenig Einfluss auf die Konzeption von Tagungen und Sammelbänden. Michaela Holdenried plädierte deswegen angesichts der auch oben referierten wissenschaftlichen Befunde zu Familienmodellen, die ihrer Wahrnehmung nach in vielerlei Hinsicht den medialen Einschätzungen über Stellenwert und Funktionsweise der Familie widersprechen (vgl. Holdenried 2012, 13ff.), als erste für „Familienkonstellationen aus interkultureller Perspektive“ mit einer „breiter interdisziplinär angelegt[en]“ (ebd., 12), Verallgemeinerungen und Stereotype hinterfragenden und kritisch reflektierenden Herangehensweise. Nach der Migrationsforschung hat inzwischen auch die (familien-)soziologische Forschung darauf hingewiesen, dass Migration, unabhängig davon, ob einzelne Personen oder ganze Familien wandern, stets ein „Familien- und Verwandtschaftsprojekt“ (Scholz 2012, 57) ist. Familienromane belegen diesen Befund ebenfalls und liefern eine vielfältige Sammlung von Geschichten, die sich nicht nur abhängig von Herkunft, Status und dem erlangten Grad der Eingliederung der Familie, sondern – wie Familiengeschichten ohne Migrationserfahrung – auch durch die intrabzw. intergenerationale (Selbst-)Thematisierung der Familie (als Familie), der Geschlechterrollen und Identitätsbildungskonzepte voneinander unterscheiden. Ihrer Erfassung und Analyse stehen bisher einerseits die weitgehend unhinterfragte 12
13
Beispielsweise folgende Autor_innen und Romane: Ulla Hahn (Unscharfe Bilder, 2003), Reinhard Jirgl (Die Unvollendeten, 2003), Egon Ruge (In Zeiten des abnehmenden Lichts, 2011), Gunnar Cynybulk (Das halbe Haus, 2014), Stephan Wackwitz (Ein unsichtbares Land, 2003), Zafer Şenocak (Gefährliche Verwandtschaft, 1998), Vladimir Vertlib (Das besondere Gedächtnis der Rosa Masur, 2003). Zur Darstellung der genannten Geschichtsereignisse in der Literatur siehe folgende Sekundärliteratur: Mauelshagen 1995, Vogt 1998, Priester Steding 2005, Eigler 2005, Kraft 2007, Hahn 2007. Zu Besonderheiten des neuen Familienromans im Hinblick auf individuelle Zugänge zur deutschen Geschichte und Verarbeitung von Erfahrungen unterschiedlicher, in der Familie miteinander verschränkter Generationen siehe Assmann 2009. Obwohl der inter- und transkulturelle Familienroman zu den beliebtesten Gattungen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur gehört, wird er in literaturwissenschaftlichen Studien und Sammelbänden zumeist nicht berücksichtigt (vgl. Brinker-von der Heyde/Scheuer 2004, Martinec/ Nitschke 2009, Eichenberg 2009, Kraft/Weißhaupt 2009, Costagli/Galli 2010, Neuschäfer 2013).
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Annahme einer stabileren familiären Eingebundenheit, die für einen Großteil der Einwandernden aus aufenthaltsrechtlichen, ökonomischen und sozialen Gründen durchaus attraktiv erscheint (vgl. Schweiger 2012, 157), andererseits die Rede vom kulturell konnotierten Generationenkonflikt, der durch die Konfrontation tradierter und neuer Vorstellungen von Familie, Eltern-Kind-Beziehungen und Geschlechterrollen entsteht und zu einem Wertewandel führen soll, im Wege. Während das Eine den Blick auf Spannungen, Konflikte und (auch friedliche) Aushandlungsprozesse in der Familie verstellt, sagt das Andere tatsächlich wenig sowohl über die herkömmliche als auch die – angenommene – ‚neue‘ Qualität der Sinngemeinschaft Familie aus. Um unseren Blick zumindest auf literarische Migrantenfamilien zu weiten, folgt im nächsten Abschnitt nach einer Prosatext-Trilogie die Analyse von je zwei Familienromanen und Väterbüchern unter Berücksichtigung dieser Aspekte.
4.
4.1
Exemplarische Darstellungen von Einwandererfamilien und Vätern in der deutschsprachigen inter- und transkulturellen Gegenwartsliteratur Der ferne Vater in den Texten der Gründungsphase
Die Darstellungen der Arbeitsmigration der ersten Schriftstellergeneration aus den 1970er- und 1980er-Jahren dominieren Prosatexte über alleinstehende (zumeist männliche) Personen (mit zuhause gebliebenen Eltern), die in den Aufnahmegesellschaften auf den ersten Blick ein mehr oder weniger befriedigendes, familienloses Leben führen. Geschichten über Familienväter oder Eltern, die im Rahmen der Anwerbeverträge für einen begrenzten Zeitraum ihre Arbeitskraft in den Dienst der Wirtschaft stellen wollen und deswegen zunächst ohne Familie bzw. ohne Kinder einwandern, sind eher selten und stellen die Anfangsphase einer familiären Einwanderungsgeschichte dar.14
14
In beiden Fällen gehört die zunehmende Entfremdung der Familienmitglieder voneinander – oft mit der durch den gesellschaftlichen Druck in den Heimatländern auch über die Grenzen hinweg aufrechterhaltenen Versorgungskette als letztes Bindeglied – zu den wichtigen inhaltlich-motivischen Merkmalen der Texte. Während der ferne Sohn den zuhause gebliebenen Eltern entgleitet, weil er zunehmend unter dem Einfluss der Aufnahmegesellschaft steht, literarisieren Texte von Schriftsteller_innen, die als Kleinkinder nachgeholt wurden, generationenunabhängig die durch die räumliche Trennung von den Vätern bzw. Eltern hervorgerufenen Traumata und die daraus resultierenden Schwierigkeiten für das spätere gemeinsame Familienleben und die Selbstfindung. Siehe das Motiv etwa bei Franco Biondi in der Erzählung Passavantis Rückkehr (1982); Letzteres bei der zweiten Autor_innengeneration etwa in Marica Bodrožićs Sterne erben, Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern (2007) oder Melinda Nadj Abonjis Tauben fliegen auf (2010).
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Die strukturelle Herausforderung, die die Abwesenheit der Väter für die familiäre Sozialisation darstellt, bildet auch den Auftakt der Trilogie einer Emigration15, dreier höchst poetischer Prosatexte zum Thema Fremdsein und Identitätsstiftung des Berner Schriftstellers Francesco Micieli. In ihnen entfaltet sich – ausgehend von der Erzählung der Auswanderung aus Italien in die Schweiz aus der Perspektive eines Kleinkindes über die Darstellung der Lebensgeschichte und Emigration der Mutter bis zu den Erinnerungen an die italienische Vergangenheit und Kindheit aus der Perspektive des bereits erwachsenen Sohnes – die Geschichte eines Jahrzehnte währenden persönlichen und familiären Land- und Sprachwechsels. Welche Rolle im heimatlichen Mikrokosmos der Figuren die Familie spielt, welche Vorstellungen von Männlichkeit/Vaterschaft bzw. Weiblichkeit/Mutterschaft in ihrem Weltbild zentral sind und in welchen Variationen diese bei einzelnen Familienmitgliedern auftauchen bzw. welche Aktualisierungen sie im Laufe der Zeit erfahren, sind im Folgenden meine Leitfragen. Tagebuch eines Kindes setzt mit der Beschreibung der Geburt des IchErzählers ein, welche die Familienangehörigen mit Erleichterung quittieren, denn „nur Buben nützen“ (Tagebuch eines Kindes, 9). Der Junge verinnerlicht die Bedeutung seiner Zugehörigkeit zum männlichen Geschlecht mit den daraus resultierenden Lebensaufgaben schon im frühen Alter unhinterfragt (vgl. ebd., 28), doch die patriarchalische Gesellschaftsordnung funktioniert in den Dörfern Kalabriens nur mehr scheinbar: Das Familienoberhaupt muss im Ausland der Pflicht nachgehen, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Die albanische Minderheit der Arbresh, zu der die Familie gehört, hat in der an sich schon strukturschwachen Region Italiens mit extremer Armut, Kindersterblichkeit, Diskriminierung und sozialem Abstieg zu kämpfen. Im Mittelpunkt der Darstellung Micielis steht die schleichende Entwertung der traditionellen Lebensformen und Biografie-Muster. Als erstes büßt der ferne Vater wegen der Abkoppelung seiner Lebenswelt von der Familie seine Autorität ein; seine Position im Familiengefüge bedarf einer Legitimierung durch die Großeltern, die für die Aneignung des nötigen Welt- und Handlungswissens aus sozialisatorischer Perspektive zum Ansprechpartner seiner Kinder werden. Die kulturelle Entfremdung erreicht ihren Höhepunkt mit dem Zweifel an der identitätsstiftenden Wirkung der Religion angesichts der Hörigkeit der armen Bevölkerung gegenüber der Kirche und der Infragestellung eines liebenden Gottes, als das Kind erleben muss, dass nach dem Ausbleiben der Überweisungen des Vaters der durch Zukunftsängste geplagten Mutter niemand unter die Arme greift (vgl. ebd., 31 und 72). Um der Untreue ihres Ehemannes in der Fremde vorzubeugen, zieht sie schließlich auch in die Schweiz (vgl. ebd., 35).
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Ich weiss nur, dass mein Vater grosse Hände hat – Tagebuch eines Kindes (1986), Das Lachen der Schafe (1989) und Meine italienische Reise (1996). Zitiert wird nach der Gesamtausgabe der Trilogie Micieli (1998) mit der Nennung der Einzeltitel und einfacher Seitenzahl.
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Zentrale Passagen des Textes verweisen fortan auf die psychischen Traumata, welche die Abwesenheit der Eltern beim Kind hervorruft. Problematische Gefühlslagen wie etwa die Einsamkeit werden von ihm auf die Großmutter projiziert, es flüchtet in Tagträumereien von einem die Rückkehr der Eltern ermöglichenden plötzlichen Reichtum (vgl. ebd., 45) oder in Vorstellungen und Phantasien, denen zufolge es später als Vater nicht ins Ausland muss bzw. nie ohne Frau und Kind ins Ausland gehen würde (vgl. ebd., 49, 56 und 66). Bedingt durch die fortgeschrittene Entfremdung von den Eltern lässt das Kind, das sich vor dem Verlust der Großeltern ängstigt, die Familienzusammenführung emotionslos über sich ergehen. Dieses Familien- und Vaterbild wird in Das Lachen der Schafe durch die Erinnerungen der Mutter um die weibliche Perspektive ergänzt. Frausein bedeutet im Süditalien der 1950er- und 1960er-Jahre fehlende Schulbildung, Armut und Sprachlosigkeit. Als Analphabetin ohne Sprache (hier bezogen sowohl auf das mündlich tradierte Italo-Albanische als auch später auf das Deutsche) sind die tradierten Lieder der Minderheit, aus denen unmarkiert einzelne Verse und Strophen in den Text eingefügt werden, lediglich ein schwacher Ausdruck ihrer Persönlichkeit und Sehnsüchte (vgl. Das Lachen der Schafe, 161). Gegen die Demütigungen des tyrannischen Vaters, der sich mit „unsterblichen | Helden der Fernsehserien“ (vgl. ebd., 148) vergleicht, kann sie sich nur durch die frühe Eheschließung mit einem sanften Mann wehren. Noch in den Jahren der Emigration versucht sie, sein Wohlwollen mit Geschenken („Opfer | für einen schrecklich mächtigen Heiligen“; ebd., 118) zu erkaufen. Die Mutterschaft bedeutet sowohl in der Heimat, wo der Sohn hungerte („Was für eine Mutter war ich?“; ebd., 198) als auch in der Schweiz ständige Gewissensbisse: „Und wir arbeiten für unseren Erfolg. Für das | und für den Traum, wieder zurück- | kehren zu können. | Wir ernähren ihn [den Sohn] nur. Wie ein Stück Vieh. | Liebe Worte und Berührungen am Abend, | vor dem Einschlafen. | Dann wieder unsere Fabrik. Und seine | Einsamkeit.“ (ebd., 121)
Trotz ihrer fast durchgehenden Anwesenheit und Nähe steht sie ihrem Sohn fern, weil ihnen die gemeinsame Sprache im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne fehlt. So muss sie sich angesichts der von der Gesellschaft normativ gesetzten Mutterrolle ihr Versagen eingestehen: „Mein Sohn spricht besser als ich. Mein Sohn | weiss mehr als ich. Was für eine Mutter bin | ich?“ (ebd., 198). Vor diesem Hintergrund problematisiert Micieli in Meine italienische Reise, dem dritten Teil der Trilogie, die dreißig Jahre spätere Selbstverortung des erwachsenen Sohnes. Vater und Sohn bringen den Leichnam der Mutter aus dem schweizerischen Lützelflüh in die Heimat. Während sie in den Vorwärts betitelten Kapiteln spiegelverkehrt die Stationen der damaligen Fahrt in die Schweiz absolvieren, reflektiert der Sohn, der deutschsprachiger Schriftsteller geworden ist (vgl. Meine italienische Reise, 221), in den Kapiteln Zurück prägende Erfahrungen und Erleb-
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nisse der Emigrationsjahre. Hierzu gehören die anfänglichen sprachlichen Schwierigkeiten in der Schweiz, die schrittweise Eroberung des öffentlichen Raumes durch die (männlichen) Arbeitsmigranten, die Beschreibung der Alltagsprobleme der Familien und schließlich der Erhalt der Aufenthaltsbewilligung. Der Erzähler quittiert den Eingliederungsprozess mit Ironie: „In der Schweiz Ausweis C, wie cittadino, citoyen. Der dritte Buchstabe, weil die Logik einfach ist: A, B, C. Anfänger, Betriebsbereit, Civilisiert“ (ebd., 246). Während auf der mentalen Landkarte der Eltern, die äußerste Armut erfahren haben, die Schweiz fast ausschließlich als Inbegriff von Wohlstand existiert, von dem sie selber ausgeschlossen sind, bewegt sich der Sohn im neuen Sprach-, Kulturund Wertesystem zunehmend sicherer. Was die Erfahrungen jener Zeit in der Familie betrifft, bedauert er die Distanz zu seinen Eltern, die er aber nicht ausschließlich auf die kulturelle Entfremdung, sondern auch auf den grundsätzlichen Mangel an Interaktion zurückführt. Während er dem strafenden Vater der jungen Jahre ebenso eine lakonische Absage erteilt wie dem alten, unnahbaren (vgl. ebd., 234), richtet er seinen Blick abschließend in seine persönliche Zukunft ohne Eltern und fragt nach seinen Entwicklungsmöglichkeiten: „Er denkt, dass ihn diese Reise zum Waisen machen wird, wenn er seinen Vater in Santa Sofia zurücklässt. Wer wird er sein, wenn er sich nicht mehr in den Augen des Vaters spiegeln kann. In diesen Augen, die ihn kaum gesehen haben. Wird er noch eine Geschichte haben, oder wird er nur frei sein, ohne verwandtschaftliche Kontrolle.“ (ebd., 253f.)
Micielis Texte verdeutlichen den Zwiespalt der ersten Einwanderergeneration, die sich ihres starren Kulturkorsetts und dessen Implikationen für die Familienbeziehungen und die Integration zwar bewusst war, doch oft keine Möglichkeit sah, es abzulegen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Bildern kulturell-ethnisch geprägter, als traditionell geltender Familien- und Elternschaftsmodelle und statischer Figuren autoritärer Vaterschaft fokussiert der Autor die Hilflosigkeit der ersten Generation gegenüber den sozialstrukturellen bzw. schichtenspezifischen Umständen. Die Bewusstseinsprozesse der Eltern werden trotz der schmerzenden Erinnerungen des erlebenden Ichs mit Verständnis dokumentiert. Das erzählende Ich und sicherlich auch der Schriftsteller selbst haben längst die wichtigsten Erkenntnisse aus den reflektierten Entwicklungsprozessen, die Bedeutung des Perspektivenwechsels, mehr noch: die Transkulturalität und Translingualität, zum Fundament eines alternativen Selbstverständnisses (vgl. ebd., 228 und 250) und zum Konstruktionsprinzip der Texte gemacht. 4.2
Väter in den Familienromanen seit den 2000er-Jahren
Die Anfänge des deutschsprachigen interkulturellen Familienromans liegen in den späten 1990er-Jahren. Die zweite Autor_innengeneration veröffentlichte nach der
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Wende zunehmend Romane, in denen Familiengeschichten Bedeutung erlangen und erinnert werden, weil das Individuum die existentielle Erfahrung des Fremdseins aufarbeiten oder die durch die Migration unterbrochene Kontinuität im eigenen Leben wiederherstellen möchte.16 Von den neueren Veröffentlichungen seit der Jahrtausendwende sollen exemplarisch die Romane Hochzeitsflug (2011) von Yusuf Yeşilöz und Spaltkopf (2008) von Julya Rabinowich näher beleuchtet werden, welche die Zuwanderung aus der Türkei und aus Russland behandeln. In beiden Migrationskontexten hat Familie, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen und mit einem anderen Verständnis, einen hohen Stellenwert. Die geschilderten Männlichkeits- und Weiblichkeitsvorstellungen basieren in beiden Ländern auf einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung, unterscheiden sich aber im Umgang der Geschlechter miteinander in der Alltagspraxis. Darüber hinaus gibt es einige wiederkehrende Merkmale der Familiensituation und -konstellation in den Familienromanen türkischstämmiger und russischstämmiger Schriftsteller_innen, die ich zunächst kurz skizzieren möchte. Die Familie schließt in den literarischen Darstellungen des türkischen Migrationskontextes, sofern die Eltern zu den Arbeitsmigrant_innen gehören (etwa in den Romanen von Yusuf Yeşilöz, Selim Özdogan und Dilek Güngör), eine weitverzweigte Verwandtschaft ein und versucht, durch eine starke Generationen- und Geschlechterhierarchie enge Familienbande zu erzeugen, um ihre wichtigste Funktion, die soziale Absicherung ihrer Mitglieder erfüllen zu können. Die Schriftsteller_innen dekonstruieren immer wieder auch die Annahme, die Vertreter der ersten Generation seien ‚Gastarbeiter‘, und präsentierten Eltern, die zum Studium in die Bundesrepublik kamen oder deren Familien zur türkischen Mittel- oder Oberschicht gehören (etwa 17 Zafer Şenocak, Yadé Kara, Selim Özdogan, Imran Ayata u.a.). Im Gegensatz dazu folgen Familienromane über die russische Migration (etwa von Lena Gorelik, Alina Bronsky, Julya Rabinowich, Vladimir Vertlib) vor allem dem Dreigenerationenschema und betrachten die Kernfamilie (mit den Großeltern), bei der es sich oft um eine Künstler- oder Intellektuellenfamilie handelt, auch vor dem Hintergrund epochaler historischer Ereignisse. Die Verwandtschaft ist über Länder und Kontinente verstreut, hält trotz Schwierigkeiten Kontakt und ironisiert (als Zeichen der Entfremdung, meistens bei Familienfesten) die russische Großfamilie (vgl. Willms 2012, 124ff.). Für die Geschlechter- und Familienbeziehungen spielt nicht nur der „hohe […] Stellenwert des Weiblichen in der russischen Tradition“ (ebd., 126), wie Weertje Willms aufzeigt, eine wichtige Rolle, sondern 16 17
Zu den meistdiskutierten Romanen gehören Zafer Şenocaks Gefährliche Verwandtschaft (1998) und Vladimir Vertlibs Zwischenstationen (1999). Sandra Vlasta weist auch auf Erzählungen hin, die auf die Thematisierung der Familiensituation ganz verzichten, sodass sich kulturelle Hintergründe lediglich durch die Namen der Protagonist_innen oder eingestreute türkische sprachliche Elemente manifestieren (vgl. Vlasta 2009, 105 und 111). In beiden Kontexten, im türkischen wie russischen, nehmen Darstellungen der transkulturellen Identitätskonstruktionen einer unabhängig lebenden, global agierenden jungen Generation zu (siehe Yadé Kara, Imran Ayata, Olga Grjasnowa).
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auch das Leitbild der emanzipierten, werktätigen Frau des Sozialismus und ihre Gleichberechtigung.18 Zwar zeigt die Mehrzahl der erwähnten Texte, dass die zweite Generation die Vorstellungen von Familie und Elternschaft der ersten Generation – etwa die normative Funktion des Vaters als Symbol der patriarchalischen Ordnung – durchaus akzeptiert. Die Schriftsteller_innen verbleiben aber nicht im vorgegebenen Rahmen herkömmlicher Muster und reproduzieren das Bild etwa eines übermächtigen Patriarchen, sondern bieten auch einen individuellen Blick auf den Vater. Dadurch werden, wie in den nachfolgenden Ausführungen sichtbar wird, die Familien- und Vaterbilder auch im Hinblick auf Lebensstile und Einstellungen differenziert. 19 Im Roman Hochzeitsflug behandelt Yeşilöz das im deutschsprachigen Raum vieldiskutierte Phänomen der Zwangsheirat bzw. arrangierten Ehe und den gesellschaftlichen Umgang mit Homosexualität. Erzählt wird aus der Perspektive des einzigen Sohnes einer in einem westeuropäischen Land lebenden türkischen Familie, an den die Aufgabe herangetragen wird, für die Berühmtheit und Langlebigkeit seines Geschlechts zu sorgen (vgl. Hochzeitsflug, 6). Er selbst versucht der traditionellen Rollenzuweisung zu entkommen, ohne sich ‚outen‘ zu müssen und einen handfesten Konflikt zu provozieren. Die Eltern sind tagsüber vor allem mit der Existenzsicherung der Familie beschäftigt, während sie abends in Erinnerungen an ihr tscherkessisches Dorf schwelgen. Von ihren Plänen ahnt ihr Sohn Beyto bis zur Urlaubsreise in die Türkei, die auf eine Eheschließung zielt, nichts. Yeşilöz fokussiert in seinen Beschreibungen des in seinen Traditionen und Bräuchen dem westlichen Alltag in vielerlei Hinsicht fernen dörflichen Milieus sowohl die Beziehungen innerhalb der Familie und weitverzweigten Verwandtschaft als auch die Selbstverortung Beytos in diesem Gefüge. Das Dorf und die Menschen wecken in dem introvertierten Jugendlichen, der bis zu seinem achten Lebensjahr in diesem Umfeld gelebt hat, positive Erinnerungen und Geborgenheitsgefühle, die sein Pflichtbewusstsein gegenüber der Sippe, über die er sich sonst gelegentlich ironisch-abfällig äußert, stärken. Zentral ist in der Darstellung die Vater-Sohn-Beziehung, die sich durch die anfängliche Weigerung des Sohnes, das Versprechen der Eltern einzulösen, vom Positiven zum Negativen ändert. Trotz der „Dauerfremde“ (vgl. ebd., 5) der Eltern, ihrer ewigen Knechtschaft gegenüber der übrigen Familie (vgl. ebd., 53), deren Mitgliedern Beyto stets mit Hohn begegnet, und seines vagen Gefühls, dass die 18
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Neben den kulturell bedingten (Generationen-)Konflikten sind in Familien aus Osteuropa allgemein auch ideologische Familienkonflikte von Belang, da die Väter als Oberhaupt der Familien oft Garant und Instrument der Erziehung zur Ideologietreue und zum Patriotismus waren oder – im Gegenteil – Regimekritiker, die mit ihrer Positionierung in der Opposition den Alltag, ja die Zukunft der Familie beeinträchtigen. Ideologische Konflikte scheinen für die Väter-Söhne- und VäterTöchter-Romane im bulgarischen und rumänischen Migrationskontext besondere Relevanz zu haben. Siehe hierzu die Romane Engelszungen (2003) von Dimitré Dinev, Vaterflucht (2009) von Carmen-Francesca Banciu und Vaters Land (2014) von Evelina Jecker Lambreva. Zitiert wird nach Yeşilöz (2011) mit Titel und einfacher Seitenzahl.
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Abwesenheit des Vaters in den ersten acht Lebensjahren des Sohnes zwischen ihnen eine unsichtbare Mauer errichtet hatte, pflegen sie ein respektvolles Miteinander. Erst in der Türkei nutzt der Vater das bisherige kulturkonforme Verhalten des Sohnes aus, indem er in der Frage der Eheschließung an seine Loyalität gegenüber der Familie und seinen Respekt gegenüber den Älteren appelliert. Beim einzigen Wutausbruch des Sohnes verwandelt sich der friedfertige und liebende Vater in einen zornigen Patriarchen und droht dem Sohn mit der Verbrennung seiner Reisedokumente und dem türkischen Militärdienst (vgl. ebd., 50). Beyto, der seine Eltern „in [s]einem ganzen Leben nie [hatte] verletzen wollen“, findet eine rechtfertigende Erklärung für den Vertrauensbruch – „sie wollten nichts anderes [sic!] als ein guter Teil dieser alten und klar strukturierten Kultur sein“ (ebd., 51). Nach der Rückkehr sind die Familienbeziehungen wieder die alten, während der Konflikt sich in das Innere des Sohnes verlagert. Das gesellschaftlich relevante Thema des sexuellen ‚Andersseins‘ behandelt der Roman kulturkontrastiv, zeigt aber nicht nur synchron und dichotomisch strukturierte Einstellungen und Umgang mit Homosexualität in beiden Kulturen, sondern entfaltet das Thema auch diachron, um durch die Ebene der historischen Entwicklung der Wahrnehmung und (Nicht-)Akzeptanz in beiden Kulturen zu einem differenzierten und vielschichtigen Bild zu kommen, das nach der Intention des Autors Widersprüche des gesellschaftlichen Diskurses offenbaren soll (vgl. Jambor 2017, 206). Die Tragik von Beytos Schicksal liegt einerseits in den verhärteten kulturellen Positionen der Eltern und des Freundes. Während seine Eltern sich in der Fremde in einer ritualisierten Herkunftskultur eingerichtet haben und über das Leistungsprinzip hinaus Werte der Aufnahmekultur ablehnen, verspottet sein auf ein klärendes Gespräch mit den Eltern drängender Freund gelegentlich die „zurückgebliebene dörfliche“ (Hochzeitsflug, 127) Lebensart der Eltern und hält sie so auf Abstand, ohne sie tatsächlich zu kennen oder kennen lernen zu wollen. Andererseits vermag Beyto nicht, den Menschen in seinem Umfeld seine positive Einstellung zu beiden Kulturen begreiflich zu machen, sich von den Fremdzuschreibungen abzugrenzen und seine Doppelzugehörigkeit als stimmiges Ganzes zu präsentieren (vgl. ebd., 207). Seine Flucht nach Großbritannien, wo er in einem Landsmann einen Ersatzvater findet, dem er seine Homosexualität ebenfalls verschweigt, ist ein vorläufiger Schlusspunkt. Das offene Ende mit der erneuten Kontaktanfrage des Freundes und dem angedeuteten Abstand der beiden zu den Geschehnissen der Vergangenheit lässt auf einen neuen Anfang unter veränderten Bedingungen hoffen. 20 In Rabinowichs Roman Spaltkopf wird aus der für den russischen Migrationskontext typischen (oft weiblichen) Perspektive der Kinder (der zweiten Generation) über eine in Österreich lebende jüdische Familie erzählt. Die Lesenden werden Zeuge der Identitätsfindung der Ich-Erzählerin Mischka, die das „Leben zwischen zwei Stühlen“ (Spaltkopf, 10) ironisierend zum Ausgangspunkt ihrer Bemühungen 20
Zitiert wird nach Rabinowich (2009) mit Titel und einfacher Seitenzahl.
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macht und im Laufe der Erzählung die Migrationsgeschichte ihrer Familie mit zahlreichen Sprüngen zwischen Vergangenheit und Gegenwart assoziativ wiedergibt, um schließlich zu einem Selbstbild zu finden, das – dem Roman übrigens in einem poetischen Text im ersten Kapitel vorangestellt – auf eine explizite Verortung keinen Wert mehr legt und stattdessen das Unterwegssein (nicht nur im geographischen Sinne) zelebriert (vgl. ebd.). Der Text schildert Mischkas steinigen Weg zu dieser Erkenntnis: Die Scham wegen ihrer Eltern, die die kulturellen Codes nicht beherrschen und ein fehlerhaftes Deutsch sprechen, ihre Rebellionen, aber auch ihr autoaggressives Verhalten tragen zu ihrem unsteten Leben bei. Attraktive familiäre Identitätsmuster und Vorbilder für die Zeit nach der Ankunft fehlen. Der Vater arrangiert sich mangels Alternative mit der Realität im Aufnahmeland, die dem aus der Ferne gegebenen Versprechen eines gelobten Landes entgegensteht. Er sehnt sich – einem gängigen literarischen Motiv der russischen Migrationskontexte entsprechend – nach einer Weiterreise und wird vom Heimweh geplagt, das aber angesichts der sowjetischen Vorgeschichte der Familie als irreal erscheint. Auf Pubertätskonflikte und Abnabelungsversuche reagieren die verunsicherten Eltern mit Entfremdungs- und Verlustängsten und pauschalisierender Kritik am Einwanderungsland. Während der Vater dem Konservativismus anheimfällt, findet bei der Mutter, aus Rücksicht auf die Zukunft der Kinder und ohne den Wunsch der Re-Migration, eine harmlosere Rückbesinnung auf russische Eigenarten statt (vgl. Willms 2012, 133f.). Die Tochter vermag es daher zunächst auch nicht, mit den migrationsbedingten Belastungen und dem Loyalitätskonflikt vernünftig umzugehen. Als ihre aggressiven, mit der Leugnung alles Russischen einhergehenden Integrationsversuche nicht fruchten, bekommt sie Schwierigkeiten in der Schule, leidet an Fresssucht und Selbsthass und heiratet einen Mann, den sie nicht liebt. Der titelgebende ‚Spaltkopf‘, ein energiefressendes Fabelwesen aus der Kindheit, das in kursiv gesetzten Passagen des Romans zu Wort kommt, ist Sinnbild für diese kräftezehrende Situation (vgl. Schweiger 2012, 164). Er verschwindet in dem Moment, in dem sich die Erzählerin intensiv mit dem Leben ihrer jüdischen Großmutter auseinandersetzt. Zugleich markiert sein Verschwinden das Ende des familiären Ausnahmezustandes. Die Großmutter ist, wie die Großmütter in Familienromanen im russischen Migrationskontext und im Gegensatz zu Vätern und Großvätern, die trotz ihrer Funktion als Familienoberhaupt eine eher untergeordnete Rolle spielen, stets Kraftzentrum und „Identitätskern“ (Willms 2012, 126) der Familie. Obwohl die Familie zerfällt, weil der Vater nach Russland zurückkehrt, beginnt durch die Geburt einer Tochter, für die Mischka zu ihren jüdisch-russischen Wurzeln einen Zugang finden möchte, eine hoffnungsvolle Zukunft. Yusuf Yeşilöz’ Hochzeitsflug und Julya Rabinowichs Spaltkopf sind zwei Romane, die in ihren Schilderungen des Vaters aus der erlebenden Perspektive der Kinder sowohl belastende als auch bereichernde Aspekte des Kind- und Vaterseins aufgreifen. Ersterer zeigt Eltern, die mit ihren begrenzten Ressourcen einen Platz in einer
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westlichen Leistungsgesellschaft erstritten haben und die selbst empfangene elterliche Fürsorge weitergeben konnten, was, anders als bei den Eltern in Micielis Trilogie einer Emigration, zu einem stimmigen Selbstbild beiträgt. In Rabinowichs Roman ist lediglich die Mutter in der Lage, ihre Identitätsvorstellungen an die Gegebenheiten anzupassen, da sie nicht das eigene Wohl verfolgt, sondern ihre Nachkommen im Blick behält. In beiden Familien haben die Eltern ihren auf die Migration und interkulturelle Situation zurückzuführenden Identitätskonflikt vor dem Hintergrund der Herkunftsgesellschaft und der dort gültigen Werteordnung und in den in der Aufnahmegesellschaft verfügbaren Orientierungszusammenhängen ausgetragen und – wenn auch nicht ganz im Sinne der Erwartungen der Aufnahmegesellschaft – für sich beilegen können. Gleichzeitig fördern sie durch ihre rigide Haltung maßgeblich Verzögerungen in der Identitätsentwicklung ihrer jugendlichen Kinder, die vor allem mit ihren Beziehungsproblemen, Sexualität und Berufswahl beschäftigt sind. Vor diesem Hintergrund ist nur Rabinowichs Figur eindeutig in der Lage, die Herausforderungen der Transitionen im eigenen Leben zu meistern. 4.3
Väterbücher zwischen Fakten und Fiktionen
In den vergangenen Jahren stieg die Zahl der Autor_innen, die im Zuge der Diskussionen um den demographischen Wandel in Europa das Altern sowie Krankheiten der letzten Lebensphase der Eltern als Thema journalistischer und literarischer Auseinandersetzung identifiziert haben und aus gegebenem Anlass ihre Beziehungen zum Vater ausloten. Großen Anklang fanden in der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit etwa Arno Geigers Der alte König im Exil (2011) und Aris Fioretos’ Die halbe Sonne. Ein Buch über meinen Vater (2013). Beide Schriftsteller versuchten, vor dem Hintergrund der Alzheimer- bzw. Parkinson- und DemenzKrankheit des Vaters dessen Lebensgeschichte und ihre Beziehung zu ihm jenseits von Klischeevorstellungen greifbar zu machen und biographische Fakten und flüchtige Erinnerungen mithilfe von persönlichen Kommentaren und poetischen Reflexionen in eine fortlaufende Erzählung zu gießen. Beide gehen auch auf den Unterschied zwischen ihrem Text und der tatsächlichen Biographie ein und thematisieren die Unmöglichkeit, zu Letzterer vorzudringen. Zu den Erinnerungsbüchern, die zwischen Fakten und Fiktionen oszillieren und sich einer eindeutigen Gattungszuordnung verweigern, zählen auch Nicol Lju21 bićs Heimatroman oder Wie mein Vater ein Deutscher wurde und Mely Kiyaks 22 Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an . Wie schon Fioretos, der als Sohn eines griechischen Vaters und einer österreichischen Mutter in Stockholm geboren wurde und die Lebensgeschichte seines Vaters im Spannungsfeld mehrerer Kulturen und Sprachen betrachtet, rücken Ljubić und Kiyak die vom
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Zitiert wird nach Ljubić (2006) mit Titel und einfacher Seitenzahl. Zitiert wird nach Kiyak (2013) mit Titel und einfacher Seitenzahl.
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Vater geschaffenen Lebens-, Denk- und Gefühlsräume, die ihre Kinder entscheidend geprägt haben, ohne die kulturell-ethnischen Herkunftskontexte überzubewerten, in den Vordergrund. Sie setzen in den Texten Aussehen und Habitus des Vaters mit demjenigen der jeweiligen Einwanderergruppe und der Einheimischen in Beziehung und thematisieren seine Verunsicherung wegen seiner mangelhaften Sprachkenntnisse, doch all dies erscheint angesichts des Selbstbewusstseins, mit dem der kraftstrotzende Überlebenskünstler in Ljubićs Roman durchs Leben geht bzw. der Lebensleistung als Vater bei Kiyak als belanglos. Ljubić, für den die erstaunlichen Anekdoten des Vaters bis dahin keine glaubhafte Lebensgeschichte (vgl. Heimatroman, 14) ergaben, schwört nach einem Kleinhirninfarkt des 53-jährigen Vaters, dass er, sollte sein Vater den Kampf gegen die Krankheit gewinnen, ihn endlich kennenlernen wollen würde (vgl. ebd., 18). Sein Versprechen löst er zwölf Jahre später mit einer Reise quer durch Europa ein, die Vater und Sohn nach Kroatien, Italien und Frankreich führt, an jene Orte, in denen der Vater nach seiner Flucht aus dem sozialistischen Jugoslawien gelebt hatte, bevor er sich 1974 mit seiner Familie endgültig in Deutschland niederließ. Die während der Reise leitmotivisch wiederkehrenden Fragen des Erzählers betreffen die Fluchtursache, den Identitätsfindungsprozess des Vaters und die Art seiner eigenen Beziehung zu ihm. Das Interesse des Sohnes an einer sinnhaften Lebensgeschichte des Vaters geht auch mit dem Erkenntnisinteresse des Journalisten einher, der nicht nur die Lebensstationen des Vaters gemeinsam mit ihm besucht, sondern diese Stationen auch durch die Postkarten des Vaters an seine Familie, private Aufnahmen und Archivfotos, Zeitungsartikel und Vorort-Recherche nach noch lebenden Personen aus seinem damaligen persönlichen Umfeld zu untermauern und (re-)konstruieren sucht. Schon die Befragung der Familienmitglieder in Kroatien liefert ein vielfältiges Bild. Die Genealogie muss man, da „allein die Ahnung desselben Ursprungs“ (vgl. ebd., 69) vorhanden ist, ebenso erarbeiten, wie man Lebensgeschichte, Haltungen und Entscheidungen des Vaters verstehen lernen muss. In der Ahnengalerie fehlen die Helden; das Bild, das der Vater von seinem eigenen Vater vermittelt, ist das eines zarten und reservierten Mannes, der aber im entscheidenden Moment den Sohn von der Auswanderung nicht abhielt und damit seinen Mut bewies. Auch die naive Vorstellung, der Vater hätte vor siebenundvierzig Jahren einfach das Abenteuer gesucht, wird durch die Thematisierung der glücklichen Kindheit und Jugend und damit indirekt der Verhältnisse, aus denen der Vater stammt, endgültig entkräftet. Mit der Flucht entging er nicht nur dem Militärdienst, den er aus politischen Gründen im sozialistischen Jugoslawien nicht ableisten wollte, sondern auch der Armut, deren Überwindung ihn zusammen mit dem Wunsch, seine Kinder sollten es einmal besser haben, sein ganzes Leben lang antrieb. Mit der Frage, ob der Vater seinen beruflichen Erfolg in Deutschland seinen mit den deutschen Wesenszügen korrespondierenden positiven Eigenschaften verdankt oder dieser Erfolg auf seine deutsche Sozialisation zurückzuführen ist (vgl. ebd., 32ff.),
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leitet der Erzähler seine Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit des Vaters und dem deutschen Integrations- und Identitätsdiskurs ein. Sowohl das positive Selbstbild des Vaters als auch seine Verbundenheit mit dem Land – „eine […] Mischung aus Stolz und Dankbarkeit“ (ebd., 34) – gründet auf der Tatsache, dass er, der einstige KfzMechatroniker-Lehrling ohne Deutschkenntnisse, bei der Lufthansa als Flugzeugtechniker Karriere gemacht hat und seinen Wohlstand erarbeiten konnte. In der Wahrnehmung des Sohnes vermischen sich der unbändige, liebenswerte und extrovertierte Vater, der einst seine Heimatstadt verließ, um das Glück in der freien Welt zu suchen, mit dem autoritären und egozentrischen, von Ordnung, Pünktlichkeit und Perfektionismus besessenen Vater, in dessen Verständnis Strenge „ein Ausdruck von Fürsorge“ (ebd., 65) und Kraftproben beliebte Erziehungsrituale (vgl. ebd., 135) sind. Die gelegentlichen Streitigkeiten führt er auf eine „natürliche Spannung zwischen Vater und Sohn“ (ebd., 47) und nicht auf unterschiedliche Ansichten zurück. Die eingangs formulierte Frage nach der Quelle der Skepsis gegenüber den Geschichte(n) des Vaters erhält mehrere Antworten und wird mit Unterschieden zwischen Vater und Sohn im Charakter (‚Grizzly‘ vs. ‚Hase‘), im sozialen Status (Armut vs. Wohlstand) und in der Lebensweise (Gemeinschaftsorientierung vs. Individualismus) erklärt. Da sich der Vater von seiner ursprünglichen kulturellen Identität längst gelöst hat und nicht nur im formalen Sinn Deutscher geworden ist, sondern auch seine Kinder im Sinne der deutschen Kultur erzogen hat, ist das Gefühl einer kulturellen Entfremdung beim Erzähler nur vage vorhanden (vgl. ebd., 183 und 192). Für Mely Kiyak und ihren Vater wird dessen Lungenkrebs „zum identitätsstiftenden Merkmal“ (Herr Kiyak, 10), das bei der Tochter für lange Zeit eine Verunsicherung auslöst und den Anstoß zum Schreiben gibt. Sie versammelt in ihrem Buch neben Alltagserfahrungen mit dem kranken Vater auch dessen Erinnerungen, Geschichten und Anekdoten. Seine Einschätzung prägender Ereignisse im gesellschaftlichen und familiären Gefüge, die sich alle vor seiner Auswanderung zugetragen haben, gibt seiner Erzählung im Roman eine Generationenstruktur; die Vermessung der kurdisch-alevitischen Gemeinschaft in Ostanatolien erfolgt wiederum im Kontext der größeren (multikulturellen) türkischen Gesellschaft, auch mit dem Erklärungsanspruch des Vaters, Kernelemente seiner persönlichen Identitätsbildung zu reflektieren. Die wilden Geschichten über die Großvätergeneration gleichen Heldenlegenden und stehen im Gegensatz zum sanften Charakter des Vaters (vgl. ebd., 26ff.). Neben der Verortung des Vaters in seiner Herkunftskultur werden durch die Darstellung des Familienlebens in Deutschland auch seine individuellen Eigenschaften, Haltungen und Einstellungen sichtbar. Die in ‚coole‘ Sprüche gekleideten Familiengeschichten, Sentenzen und Anekdoten sind auch als Erfahrungsschatz zu verstehen, 23 der, wenn man sie an die Kinder weiterreicht, erzieherisch wirksam wird. Umge-
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Siehe hierzu die Geschichte des Vaters über seinen Umgang mit den fehlenden Türkischkenntnissen seiner nur Kurdisch sprechenden Mutter in seiner Kindheit (vgl. Herr Kiyak, 52).
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kehrt bietet seine indirekte Erziehungsmethode für manche Probleme – z.B. mit den erwachsenen Töchtern über Privates oder Intimes zu reden – keine Lösungen: „Es war ihm alles peinlich. Weil er so ein Gespräch aus seinen Geschichten nicht kannte. Weil niemand […] ihm von einem solchen Gespräch mit seiner Tochter berichtet hatte. Weil in Vaters Welt Töchter diese Art von Gesprächen mit ihren Müttern führten und die Väter anschließend alles aus zweiter Hand von ihren Ehefrauen erfuhren.“ (ebd., 53f.)
Ausdruck emotionaler Bindung sind für ihn stattdessen ritualisierte Handlungen – die erste Begegnung mit den Töchtern am Feierabend im Haus oder später die gemeinsam genossene „vertraute Teestille“ (ebd., 58). Kiyak, deren Text von der Literaturkritik als eines der Bücher über das Sterben der ersten Gastarbeitergeneration wahrgenommen wurde (vgl. Luig 2013), behält in ihren Schilderungen des Privaten auch das Öffentliche im Blick – die Auseinandersetzung mit rechtlichen Vorgaben und Institutionen. Denn die Identität des Vaters (und sein Umgang mit der Krankheit) hängt nicht nur von den Normalitätsmustern der Herkunftsgesellschaft und seiner Sozialisation ab, sondern auch von denen der Aufnahmegesellschaft, in der er gegen die Abhängigkeit von institutionellen Vertreter_innen und deren kulturelle Dominanz zu kämpfen hatte und strukturelle Benachteiligungen erfuhr. Die Erzählerin stellt Fragen nach einem würdevollen Rentner_innendasein für Menschen aus sogenannten Drittstaaten, die im Alter wieder intensivere Kontakte in ihre Heimat pflegen wollen, nach einem menschenzentrierten und interkulturell orientierten Gesundheitswesen, das Patient_innen – egal welcher Herkunft und Zugehörigkeit – nicht einfach abfertigt, sondern auf ihre jeweiligen Bedürfnisse eingeht (vgl. Herr Kiyak, 42ff. und 98). Angesichts der Behauptung des Vaters, nie glücklich gewesen zu sein und sein Leben lang gekämpft zu haben (vgl. ebd., 33 und 75), wird schließlich auch nach der Anerkennung der Lebensleistung der ‚Gastarbeiter‘ jenseits der Festtagsreden gefragt. Obwohl die von Ljubić und Kiyak geschilderten Lebensgeschichten größtenteils im Europa der Nationalstaaten und des Kalten Krieges spielen, prägen ihre transnationalen und transkulturellen Erzählperspektiven das Bild. Die inzwischen erwachsenen Kinder nehmen die Rolle der Fürsprecher_innen an. Die Darstellungen der Entwicklung der Vater-Sohn- bzw. der Vater-Tochter-Beziehungen durchbrechen Klischees über das für die erste Generation unüberwindbar scheinende Lebensgefühl des kulturellen ‚Dazwischens‘, über den interkulturellen Generationenkonflikt bzw. die gattungstypische Abrechnung mit den Eltern. Sie weiten den Blick auf strukturell bedingte gesellschaftliche Schieflagen institutioneller Natur und auf das fehlende Identifikationsangebot jenseits eines national-ethnischen deutschen Selbstverständnisses, das eine von Zuschreibungen unabhängige, aktive und individuelle Identitätsarbeit in Migrationskontexten erheblich erschwert.
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Überlegungen zur schulischen Thematisierung von Familie und Vaterschaft
Die im vorliegenden Beitrag geschilderten Familien-, Identitäts- und Vaterschaftskonzepte sind durch die Migrationen in der globalisierten Welt und den damit einhergehenden sozialen und kulturellen Wandel der westeuropäischen Gesellschaften bedingt und für die Lebensumwelt und Sozialisation einer stets wachsenden Schülerschaft neben den rechtlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Länder und den dort herrschenden gesellschaftlich-kulturellen Orientierungsmustern konstitutiv. Sie dienen im besten Falle als Anregung und positives Vorbild für die erfolgreiche Selbstverortung des Einzelnen und garantieren dadurch wiederum die Funktionalität des Staates. Angesichts dieser die Bildungseinrichtungen der westeuropäischen Gesellschaften bevölkernden, zunehmend heterogenen Schülerschaft kommt der Schule die herausfordernde Aufgabe einer (Neu-)Justierung und Intensivierung der Gespräche über das Wertefundament zu, auf dem unsere Gesellschaften künftig stehen werden und das eine gleichberechtigte Partizipation an ihrer Gestaltung gewährleisten soll. Eine fundierte Auseinandersetzung über mitgebrachte, vorgefundene, altbewährte, antiquierte oder zukunftsweisende Wert- und Normvorstellungen wird aber im Unterricht grundsätzlich nur stattfinden können, wenn man die teils substanzlose mediale Überrepräsentanz einzelner Themen als solche identifiziert, die Diskussionen interdisziplinär anlegt, die Ergebnisse verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen auch im historischen Kontext betrachtet und alternative Wahrnehmungs- und Deutungsmuster gesellschaftlicher Phänomene, wie sie sich in der Literatur manifestieren, stärkt. Wie dies in einem themenorientierten Literaturunterricht im Hinblick auf unser zentrales Thema in der Sekundarstufe vonstattengehen könnte, soll in einigen abschließenden Überlegungen grob skizziert werden. Familie und Vaterschaft im Kontext von Migration im Unterricht zu behandeln, bedeutet zunächst darauf hinzuwirken, den durch Migration bedingten gesellschaftlichen Statusverlust und die mangelnde Wertschätzung der Ressourcen migrantischer Familien auszugleichen. Diese Familien sollen endlich bewusst und nicht (ab-)wertend, mit ihren spezifischen Bedarfen, aber ohne Defizit- und Problemorientierung, wahrgenommen und thematisiert werden. Obwohl in der deutschsprachigen Literatur der vergangenen fast fünf Jahrzehnte die multikulturelle (und auch familiäre) Realität in unzähligen literarischen Variationen immer differenzierter dargestellt wird, greift der Literaturunterricht das Thema kaum bzw. wenig reflektiert auf. Der Vergleich der medialen Repräsentationen mit den hier analysierten Texten der Gründerphase zeigt, wie stark die Erzählungen der ersten Generation und die Annahmen über ihre Wert- und Normvorstellungen die öffentlichen Diskussionen fortgesetzt prägen. Mit der beständigen Rede über migrantische Existenzen ‚zwischen den Kulturen‘ bei gleichzeitiger abweisender Haltung der Aufnahmeländer und der autoritär-patriarchalischen Familie nach tradi-
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tioneller Ordnung fallen wir immer wieder in die Argumentationsmuster der 1960er- und 1970er-Jahre zurück. Dass in einer die Vielfalt der Migrationen abbildenden unterrichtlichen Zusammenschau auch solche Bilder ihre Berechtigung haben, steht außer Frage, doch sie galten schon in der Zeit ihrer Entstehung nicht allgemein und entsprechen dem Lebensgefühl z.B. jener Nachfahren von Einwandernden in der dritten Generation in keiner Weise. Letztere zeigt nicht nur gegenüber Zuschreibungen der von der zweiten Generation der Einwandernden erkämpften Bindestrich-Identitäten Skepsis, sondern verweigert sich oft auch einer eindeutigen Zuordnung zu einer bestimmten Kultur, verortet sich lokal und agiert virtuell und zunehmend auch in der Realität global. Die analysierten Texte belegen die Entwicklung vom interkulturellen zum transkulturellen Wahrnehmungs- und Denkmuster mit individuellen Schattierungen bzw. die Koexistenz beider Muster für Gesellschaft und Literatur sowohl im historischen Fortlauf der Generationen als auch generationenübergreifend im Werkzusammenhang einzelner Schriftsteller_innen (hier am Beispiel Francesco Micielis). Mit ihnen wandelt sich die Art und Weise wie in den Familien mit Migrationserfahrungen Familie, Identität und Geschlechterrollen thematisiert bzw. wie sie in literarischen Texten porträtiert werden. Nichts spricht dagegen, im Unterricht der Sekundarstufe II das Bewusstsein der Schüler_innen für diesen diachron und synchron wahrnehmbaren Wandel zu stärken. Familie und Vaterschaft im Kontext von Migration im Unterricht zu behandeln, bedeutet auch, einzugestehen, dass die in der deutschsprachigen inter- und transkulturellen Literatur dargestellten Wirklichkeiten durchaus Parallelen mit der realen Entwicklung in den Aufnahmeländern und in den darüber geführten Diskussionen zeigen. Geschlechtergerechtigkeit als Selbstverständnis und als Alltagspraxis ist sowohl in Familien mit als auch in Familien ohne Zuwanderungsgeschichte vor allem von der sozialen Lage abhängig: Beim erfolgreichen Verlauf des familiären Migrationsprojekts erfahren Vaterschaftskonzeptionen eine Öffnung, die Rollen ‚Ernährer‘ und ‚Erzieher‘ werden gleich gewichtet, durch kulturelle Entfremdung bedingte Generationenkonflikte nehmen ab bzw. wirken nicht mehr verstärkend auf andere wie etwa altersbedingte. Familie und Vaterschaft im Kontext von Migration im Unterricht zu behandeln, bedeutet schließlich, (jungen) Einwandernden und Deutschen mit Migrationshintergrund, statt sie mit vorgefertigten Annahmen und Urteilen zu konfrontieren, die Definitionshoheit über ihre Familien und Eltern (nicht erst im mittleren Erwachsenenalter) zurückzugeben und der gesamten Schülerschaft herkunftsunabhängig mannigfaltige Lebens-, Familien- und Identitätsformen zu präsentieren und zur Diskussion zu stellen, um ein offenes Verhältnis zu verschiedenen Identitäten, sei es die eigene oder die fremde, zu entwickeln. Egal, ob sich die Lernenden dann im Alltag unterschiedlichen kulturellen Räumen zugehörig fühlen oder sich in der einen Welt als Kreuzungs- und Angelpunkt verschiedener Kategorien sozialer Differenzierung begreifen, sie werden unbewussten Wahrnehmungsroutinen, kulturali-
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sierenden und paternalistischen Haltungen oder Zuschreibungen (auch als Mütter und Väter) adäquat begegnen und ihre unterschiedlichen gesellschaftlichen Rollen eigenverantwortlich aushandeln können.
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Weiß sollte nicht die Norm sein, genauso wenig 1 wie hetero Der Umgang mit sexueller Vielfalt in (aktuellen) Jugendromanen Jana Mikota Die Darstellung sexueller Vielfalt ist ein fester Bestandteil in jugendliterarischen Werken seit den 1970er Jahren, die neben der sexuellen Orientierung auch sozioökonomische Ausgrenzung, körperliche Beeinträchtigung oder Benachteiligung aufgrund des familiären Hintergrundes beleuchten und kindlichen bzw. jugendlichen Leser_innen literarische Figuren präsentieren, die unterschiedliche Einstellungen und sexuelle Orientierungen haben, Empathie wecken und zur Identifikation einladen. Dabei erzählen jugendliterarische Texte von Figuren, die nicht nur ausschließlich wegen ihrer Sexualität ausgegrenzt werden, sondern oftmals gehen damit weitere Benachteiligungen einher. Vermittelt werden in diesen Werken dem Lesepublikum jene Werte, die den westlichen demokratischen Kulturkreis auszeichnen, nämlich Toleranz und Akzeptanz gegenüber anderen Lebensformen. Die Deutsche UNESCO-Kommission hat eine Erklärung zur Toleranz verfasst und hält im ersten Artikel fest: „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt, unserer Ausdrucksformen und Gestaltungsweisen unseres Menschseins in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt. Gefördert wird sie durch Wissen, Offenheit, Kommunikation und durch Freiheit des Denkens, der Gewissensentscheidung und des Glaubens. Toleranz ist Harmonie über Unterschiede hinweg. Sie ist nicht nur moralische Verpflichtung, sondern auch eine politische und rechtliche Notwendigkeit. Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden.“ (Deutsche UNESCO-Kommission 1995, Art. 1)
In der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur deutet sich nach dem PhantastikBoom um die Jahrtausendwende ein Trend zum realistischen Erzählen ab. Politische Themen in kinder- und jugendliterarischen Werken sind jedoch keine Innovation seit der Jahrtausendwende, sondern seit dem Paradigmenwechsel der 1970er 1
Nur drei Worte, 276. Der folgende Beitrag fokussiert sich auf die Darstellung von Werten und ergänzt folgenden Beitrag zum Thema Inklusion: Jana Mikota (2019): Geschlechtervielfalt thematisierende Werke der Kinder- und Jugendliteratur im inklusiven Literaturunterricht. In: Glasenapp, G.v./Frickel, D./Kagelmann, A./Seidler, A.: Der inklusive Blick II – Kinder- und Jugendliteratur im Fokus. Tagungsband. Frankfurt a.M. et al.: Peter Lang [in Vorbereitung].
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Jahre fest im Handlungs- und Symbolsystem Kinder- und Jugendliteratur verankert. Die kinder- und jugendliterarischen Texte der 1970er und frühen 1980er Jahre erzählen von neuen Stoffen wie bspw. familiären und schulischen Problemen, Erfahrungen mit Sexualität und Drogen oder Fragen nach Umweltschutz, Atomkraft und Atomausstieg, denn die Leser_innen sollen an gesellschaftlichen Problemen teilhaben und zum kritischen Denken angeregt werden.2 Die Beschäftigung mit dem Thema Gender spielt dabei eine wichtige Rolle, weil medial konstruierte Geschlechterbilder großen Einfluss auf das Lesepublikum haben können. Untersuchungen vor allem zu Fernsehserien zeigen, dass „[e]in Teil dieser Genderbilder […] sich aus dem gelebten Leben [ergibt]: Das Kind beobachtet und erlebt Machtverhältnisse, Rituale und viele Wege, wie Männer und Frauen sich und damit immer auch ihr Sein als Mann und Frau gestalten. Die inneren Bilder davon, was es heißt, ein Mann oder eine Frau zu sein, werden aber auch von den über den Alltag hinausweisenden Vorstellungen und Fantasien geprägt, die nach vorne weisen, die das Erlebte in einen größeren Kontext einordnen.“ (Götz 2013, 11)
Das betrifft jedoch nicht nur die Rollenbilder allgemein, sondern auch die Darstellung von sexueller Vielfalt und alternativen Lebensmodellen, die oftmals mit der sexuellen Orientierung einhergehen können. Daher fragt der folgende Beitrag nicht nur nach Geschlechterstereotypen, sondern untersucht die Bedeutung von Homo-, Trans-, Inter- und Heterosexualität in jugendliterarischen Werken. Die Kinder- und Jugendliteratur muss die Aufgabe haben, Genderkonstruktionen zu erweitern sowie Stereotypen und tradierte Rollenmuster zu hinterfragen. Diversität muss positiv besetzt werden, denn in literarischen Texten haben Jugendliche die Chance, verschiedene Perspektiven einzunehmen und sich mit unterschiedlichen Fragen auseinanderzusetzen. Daher hebt Sigrid Nieberle in ihrem Aufsatz zu Gender trouble die Bedeutung der inter-, trans- und homosexuellen Akteure in der Kinder- und Jugendliteratur im Zusammenhang von Diversität und Inklusion hervor. Geschlechterbinarismus und Kinder- und Jugendliteratur sind seit der Entstehung der spezifischen Kinder- und Jugendliteratur im ausgehenden 18. Jahrhunderts eng miteinander verbunden – als Beispiele kann die Ratgeberliteratur u.a. von Campe genannt werden, die zum Teil als Vorläufer der Mädchenliteratur gilt und explizit die Rollen von Mädchen und Jungen der bürgerlichen Schichten festlegt. Diese den Mädchen und Jungen bestimmte Geschlechternormen lösen sich erst seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf und ermöglichen es, literarische Akteure „jenseits der Geschlechternormen“ (Nieberle 2016, 25) zu entwerfen. Dies lässt sich am folgen2
Tatsächlich hielten die Literaturkritiker Susanne Gaschke und Wieland Freund in der Sendung Bücher für junge Leser im Deutschlandfunk fest, dass ihnen in den letzten Jahren keine Literatur begegnet sei, die rassistisch oder diskriminierend sei. Lediglich die Twilight-Tetralogie bilde, so Freund, aufgrund der Nähe zum Mormonentum durchaus rassistische Tendenzen aus (vgl. Lieske 2017, o.S.).
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den Beispiel erläutern: „Weiß sollte nicht die Norm sein, genauso wenig wie hetero“ (Nur drei Worte, 276), sagt daher auch der Junge Simon aus dem Roman Nur drei Worte von Becky Albertalli zu seinem neuen Freund. Beide lernten sich online kennen und ganz selbstverständlich ging der eine Email-Schreiber davon aus, dass sein Partner zwar schwul, aber eben hellhäutig sei. Erst beim Kennenlernen erkennt er, dass er sich geirrt hat und spricht mit seinem Freund darüber. Fast nebenbei hinterfragt er so sexuelle Identitäten, Formen männlicher Macht und Normen. Weder weiß noch hetero sollte, so Simon, die Norm sein. Realistische Kinder- und Jugendromane aus den USA, der BRD oder Großbritannien hinterfragen somit 3 Normen und bestimmte Werte der Gesellschaft. Der Geschlechterbinarismus basiert, so die Forschung, auf bestimmten Normen, die jedoch weder Regeln noch Gesetze sind (vgl. Nieberle 2016, 21): „Eine Norm wirkt innerhalb sozialer Praktiken als impliziter Standard der Normalisierung. […] Wenn Gender eine Norm ist, könnte das heißen, dass jede/r soziale/r Akteur/in sie einzig und allein ansatzweise verkörpern kann. […] Damit möchte ich lediglich sagen, dass die Norm einen Status und einen Effekt zu haben scheint, der unabhängig ist von den Handlungen, die sie regiert. […] Sie erlegt dem Sozialen ein Gitter der Lesbarkeit auf und definiert die Parameter dessen, was innerhalb des Bereichs des Sozialen erscheinen wird und was nicht. Die Frage, was außerhalb der Norm liegt, erweist sich als gedankliches Paradoxon.“ (Butler 2011, 73)
Nieberle stellt zurecht fest, dass „das außerhalb der Norm gestellte Geschlecht […] lediglich die Grenze für die innerhalb der Norm zugelassenen Geschlechter“ (Nieberle 2016, 21) markiert. Heteronormativität wird in den Jugendromanen aufgenommen, um parodiert und auch entmachtet zu werden. Homo-, trans- und intersexuellen Akteure treten als Ich-Erzähler auf, schildern ihre Sorgen und werden so heterosexuellen Figuren gegenübergestellt. Das Thema Homosexualität findet sich seit den 1970er Jahren in Jugendromanen. Akzentuiert wurde zunächst die Diskriminierung der Homosexualität: In der BRD galt Homosexualität bis in die 1960er Jahre als Straftat, erst ab 1969 wurde der Paragraph 175 reformiert und Homosexualität war unter erwachsenen Männern straffrei, aber erst 1994 wurde der Paragraph 175 abgeschafft und homo- sowie heterosexuelle Handlungen gleich bewertet (vgl. Buchholtz 2012, 34). Seit den späten 1980er Jahren nehmen „die ermutigenden Darstellungen“ (Buchholtz 2012, 35; auch Dethloff 1995) zum Thema Homosexualität zu. Diese Entwicklung charakterisiert auch die aktuelle Literatur zum Thema Homosexualität. Buchholtz sieht, dass der Wertewandel innerhalb der Gesellschaft vor allem die männliche Homosexualität betrifft. Weibliche Homosexualität wurde im Verlauf des 19. Jhs.
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In der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur finden sich nach wie vor tradierte Geschlechterrollen, die nur vereinzelt aufgelöst werden. Beispielhaft hierfür steht die Percy-Jackson-Serie von Rick Riordan.
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aus der Strafgesetzordnung herausgenommen mit der Begründung, dass zwischen Frauen kein regelrechter Geschlechtsverkehr stattfinde (vgl. Buchholtz 2012, 34). Noch 1996 hält Gertrud Lehnert fest, dass lesbische Beziehungen selten in Jugendbüchern thematisiert werden (vgl. Lehnert 1996; auch Buchholtz 2004). Seit Ende der 1990er Jahre werden auch lesbische Adoleszenz oder lesbische Lebensentwürfe in Jugendromanen wie Marsmädchen von Tamara Bach oder Über ein Mädchen von Joanne Horniman behandelt. Im Mittelpunkt des Beitrages steht die anspruchsvolle und preisgekrönte4 Kinder- und Jugendliteratur, die sich auch für den Deutschunterricht eignet: Liebe macht Anders (2013) von Karen-Susan Fessel, Nur drei Worte (2016) von Becky Albertalli, Letztendlich sind wir dem Universum egal (2014), Two Boys Kissing. Jede Sekunde zählt (2015) und Letztendlich geht es nur um dich (2016) von David Levithan, Der Sommer, als Chad ging und Daisy kam (2014) von Jennifer Gooch Hummer, Väterland (2017) von Christophe Léon, George (2016) von Alex Gino und Zusammen werden wir leuchten (2016) von Lisa Williamson. Auffallend bei der Textauswahl dürfte die große Zahl der Übersetzungen sein, aber tatsächlich ist die Behandlung der Thematik in „originär deutschsprachigen Romanen im Vergleich zu Übersetzungen, vor allem aus dem angloamerikanischen und skandinavischen Raum, allerdings in der Minderzahl geblieben“ (Buchholtz 2004, 60). Mit den ausgewählten Romanen wird der Blick auf sexuelle Vielfalt erweitert, es werden sechs unterschiedliche Aspekte in den Fokus genommen: Neben der (männlichen) Homosexualität, die in literarischen Texten dominiert, sollen auch Trans- und Intersexualität als neue Aspekte in jugendliterarischen Texten thematisiert werden. Hinzu kommen gleichgeschlechtliche Elternpaare, Homosexualität in historischen Kontexten und Homosexualität im Alltag. Die Texte klären auf, plädieren für Verständnis und Toleranz und können dazu beitragen, den Leser_innen teilweise neue Welten zu eröffnen.
Sexuelle Vielfalt in Jugendromanen: literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Aspekte Literarische Texte ermöglichen einen Blick in andere Welten, präsentieren fremde Figuren und Leser_innen lernen so neue/andere Werte und Normen kennen. Diese können sie dann reflektieren, hinterfragen oder auch übernehmen. Die Perspektivenübernahme lässt „fremde Erfahrungsperspektiven“ (Spinner 2008, 81) zu, die Auseinandersetzung „mit anderen Sichtweisen [erfolgt] nicht nur denkend, sondern auch gefühlsmäßig über Identifikationsprozesse mit literarischen Figuren“ (ebd.): „In der Psychologie nennt man dieses Mitfühlen mit anderen Empathie. […]
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Kriterien sind u.a. sprachliche Qualität, Literarizität, Innovativität, Figurenkomplexität, Erzählperspektiven. Die Kriterien orientieren sich an jenen der literarischen Wertung.
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Die besondere Leistung des Literaturunterrichts liegt im Wechselspiel von Empathie, Perspektivenübernahme und Argumentation“ (ebd.). Diese Chancen, die Literatur bietet, werden in unterschiedlichen Kontexten diskutiert. Damit argumentieren z.B. Anita Schilcher und Karla Müller, dass literarische Texte eine „Orientierung bei der Bearbeitung entwicklungsbedingter Themen, bei Problemlagen in konkreten Lebenssituationen und bei der Ausformung eines ethisch-normativen Weltbildes“ (Müller/Schilcher 2016, 15) besitzen. Literarisch konstruierte Geschlechterrollen können Leser_innen beeinflussen und daher sollten Lehrkräfte auch bei der Wahl der Literatur im Unterricht auf die Geschlechterrollen in den Romanen achten. Bereits das Zitat im Titel des Beitrages deutet an, dass zumindest heteronormative Wertvorstellungen in den hier ausgewählten Romanen kritisch betrachtet werden. Damit bietet die vorgestellte Literatur die Chance, bestimmte Wertvorstellungen der jugendlichen Leser_innen zu hinterfragen und neu zu positionieren. Denn gute Kinder- und Jugendliteratur sollte das Weltwissen erweitern und an die moralische Urteilsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen (vgl. Mikota/Oehme 2013, 20f.; vgl. auch Becker 2012, 254) anknüpfen und diese weiterentwickeln.
Homosexualität in aktuellen Jugendromanen Die Jugendliteratur blickt auf eine durchaus umfangreiche Textsammlung zu männlicher Homosexualität, weibliche ist, wie bereits erwähnt, in der Unterzahl. Während in der ersten Phase der 1970er und 1980er Jahre die Texte affirmativ waren, die Leser_innen aufklären wollten und sich vor allem durch eine problemzentrierte Darstellung auszeichneten, handeln die homosexuellen Identitäten in aktuellen Texten von alternativen Lebensentwürfen und dem Erwachsenwerden. Die Texte oszillieren zwischen Entwicklungs- und Liebesgeschichten, thematisch kristallisieren sich folgende Tendenzen heraus: (1) gleichgeschlechtliche Elternpaare (2) Homosexualität in historischen Kontexten (3) Homosexualität im Alltag Im Vergleich zu den frühen Texten der achtziger Jahre zeichnen sich die Romane, die zum Adoleszenzroman gerechnet werden können, durch komplexe narrative Erzählformen aus wie Rückblicke, intertextuelle Verweise, Mehrperspektivität, Innenperspektive sowie innere Rede- und Denkformen. (1)
Gleichgeschlechtliche Elternpaare
Gleichgeschlechtliche Elternpaare sind seit den 1990er Jahren ein Thema der Literatur und der Medien. 1993 bekam der Roman Jack von Amy H. Homes den Deutschen Jugendliteraturpreis, der sich mit dem Thema homosexuelle Väter aus-
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einandersetzt. 2017 erscheint dann der Roman Väterland von Christophe Léon, in dem es um ein homosexuelles Elternpaar und deren gesellschaftliche Stigmatisierung geht. Während in Serien wie Modern familiy selbstverständlich zwei Männer ein Kind adoptieren, ein Familienleben haben und so ein massentaugliches Leben in Hollywoods bunter Welt führen, setzt sich der Roman Väterland mit der Frage auseinander, wie eine Welt ohne sexuelle Vielfalt aussehen würde. Entworfen wird so eine Zukunft voller Intoleranz, in der Menschen, die nicht der Norm entsprechen, verfolgt und stigmatisiert werden. Die Hauptfiguren, die dem Credo, dass „die Liebe weder ein Geschlecht noch eine Hautfarbe“ (Väterland, 40) hat, folgen, widersetzen sich bestimmten Bildern einer heteronormativen Gesellschaft, plädieren für Akzeptanz und verweigern sich intoleranter Gesetzgebung. Die Handlung in dem dystopischen Zukunftsroman Väterland spielt in Paris, erzählt wird von George und Phil sowie Gabrielle. George und Phil sind Künstler, homosexuell und verheiratet. Sie haben Gabrielle, in Somalia geboren, adoptiert und leben ein offenes und wohlhabendes Leben in Paris. Beide sind erfolgreich und großzügig sowie liebevoll zu ihrer Tochter und ihrer Umwelt. War Homosexualität in der Vergangenheit fast ,normal‘, so hat sich plötzlich die politische Situation gewandelt und Homosexualität wird strafrechtlich verfolgt. Dieser Prozess geschah, so wird es in den Rückblenden reflektiert, langsam und wird von Phil sowie George zunächst ignoriert. Beide glauben nicht, dass sich die Gesellschaft in Frankreich verändern werde. Sie irren sich und verlieren schließlich fast alles: Sie müssen ihre Wohnung verlassen, ziehen in einen Vorort, der eine Art Ghetto für Homosexuelle darstellt, dürfen nicht mehr in die Innenstadt und auch ihre Kunst wird verboten. Ebenso muss auch Gabrielle Anfeindungen erleben, wird von Freundinnen gemieden und schließlich beschimpft. Phil fasst die Entwicklung in einer Geschichte zusammen: „Wirf einen Frosch in einen Topf mit kaltem Wasser und schalte die Herdplatte auf kleine Stufe. Der Frosch wird langsam erwärmt, ohne es zu spüren, und er wird an Verbrühung sterben. In kochendes Wasser geworfen, würde er keine Sekunde darin bleiben, sondern aus dem Topf springen. Etwas Ähnliches kommt auf uns zu, Gabrielle. Wenn niemand reagiert, wird es ganz schön heiß für uns.“ (Väterland, 46)
Mit diesen Worten wird treffend die Situation, in der sich die Familie befindet, beschrieben. Zugleich lässt sich die Passage auch als eine Warnung an das Lesepublikum verstehen. Die Werte wie Toleranz, Offenheit oder Akzeptanz einer Gesellschaft sind wichtige Güter, die jedoch einem stetigen Wandel unterliegen. Sie können aufgehoben werden und man muss sehr genau beobachten, um sich dem zu widersetzen. Die Darstellung von Vergangenheit und Gegenwart ermöglicht zahlreiche Fragen hinsichtlich Akzeptanz und Toleranz. Aus der Perspektive der ausgegrenzten Figuren erzählt, werden unterschiedliche Positionen entworfen und hinterfragt. Léon entwirft eine Gesellschaft voller Intoleranz, Gewalt, Angst und
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Unwissenheit. Aber: Es gibt auch Hoffnung. Er zeigt Menschen, die noch helfen und an Werten wie Menschlichkeit und Toleranz festhalten. (2)
Homosexualität in historischen Kontexten
Homosexualität wird in literarischen Texten historisiert, um so die Werteveränderungen und -entwicklungen nachzuzeichnen. In Romanen wie Two Boys kissing sowie Der Sommer als Chad ging und Daisy kam wird eine Gesellschaft entworfen, die gleichgeschlechtliche Liebe nicht akzeptiert. Die Männer müssen sich verstecken und begegnen Intoleranz und Vorurteilen. Die Romane thematisieren die für homosexuelle Männer schwierige Zeit in den achtziger Jahren in den USA. Es ist die Angst vor Aids, die die Menschen beeinflusst und Vorurteile schürt. Die Perspektive auf eine Gesellschaft voller Voreingenommenheit und Sätze wie „Präsident Reagan verspricht, Aids von Amerika fernzuhalten“ (Der Sommer als Chad ging und Daisy kam, 53), zeigen die Werteveränderungen im 21. Jahrhundert und regen an, sich mit Toleranz und Akzeptanz auseinanderzusetzen. In Der Sommer als Chad ging und Daisy kam tritt die 13-jährige Apron als homodiegetische Erzählerin auf, blickt zunächst ahnungslos und naiv auf die sog. Reagan-Ära sowie auf die gesellschaftlichen Entwicklungen. Apron fragt, was Aids ist, und glaubt, dass „nur … bestimmte Männer“ (ebd., 54, Hvh. i. T.) diese Krankheit bekämen. Erst ihr Vater klärt sie auf, dass nicht „nur bestimmte Männer“ betroffen seien, sondern ein „ganzer Kontinent [daran] stirbt“ (ebd., Hvh. i. T.). Damit erzählt kein homosexueller Erzähler über eine schwierige Zeit, sondern es ist der Blick von außen auf gleichgeschlechtliche Beziehungen. Apron lernt mit Mike und Chad ein homosexuelles Paar kennen, fragt sie direkt nach ihrem Leben und freundet sich mit ihnen an. Apron muss erleben, wie Homosexuelle verfolgt werden oder wie deren Eigentum beschädigt wird: „Chad packte mich an der Schulter und drückte mich zu Boden. ‚In Deckung!‘, brüllte er Toby zu, der hastig wieder hinter den Tresen rollte. Chad und ich blieben bäuchlings liegen, die Arme schützend über dem Kopf, bis wir hörten, wie jemand mit quietschenden Reifen davonfuhr. […] Der Stein war so groß wie seine Faust, und es stand etwas darauf: Schwule raus!“ (ebd., 92, Hvh. i. T.)
Chad, der an AIDS erkrankt ist und im Sterben liegt, hilft ihr, die Situation zu Hause und auch in der Schule auszuhalten. Es ist die Freundschaft zu den beiden jungen Männern, die ihr Selbstvertrauen und Mut gibt, denn auch Apron ist aufgrund ihrer roten Haare, Sommersprossen und Intelligenz ein einsames Mädchen. Aprons Vater unterstützt die Freundschaft zwischen Mike, Chad und seiner Tochter. Er setzt sich für Toleranz und Verständnis ein. Immer wieder äußern Figuren wie Mike oder Chad auch Kritik an der konservativen Politik Reagans. Fragen nach Liebe(sbeziehungen) und dem Verlust geliebter Menschen werden ebenfalls in die Handlung integriert. Jennifer Gooch Hummer entwirft eine konservative Gesellschaft in
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den USA der 1980er Jahre, voller Vorurteile und Intoleranz. Dem gegenüber steht Apron, die offen ist und sich ohne Vorurteile Mike und Chad nähert. Auch Two Boys kissing. Jede Sekunde zählt wirft einen Blick in die Vergangenheit und führt einen Erzähler ein, der den Bogen von den siebziger/achtziger Jahren ins 21. Jahrhundert spannt und so die Lage homosexueller Jungen/Männer aufzeigt: „Ihr könnt nicht wissen, wie es jetzt für uns ist – da werdet ihr immer einen Schritt hinterher sein. Seid dankbar dafür. Ihr könnt nicht wissen, wie es damals für uns war – da werdet ihr immer einen Schritt voraus sein. Seid dankbar, auch dafür.“ (Two Boys Kissing, 7)
Der Roman setzt zwei Jungen in den Mittelpunkt, die sich länger als 32 Stunden küssen möchten, um ins Guinness-Buch der Rekorde zu kommen. Es ist dieser Kuss zwischen zwei Jungen, der homosexuelle Beziehungen als der Norm entsprechend charakterisieren möchte. Um den Weltrekord werden weitere Geschichten von sechs Jugendlichen erzählt, die Homosexualität auf unterschiedliche Weise erleben. Auch im 21. Jahrhundert entspricht Homosexualität nicht der Norm, denn den Protagonisten begegnen Vorurteile. Der Anfang deutet an, dass der Erzähler mehr weiß, fast belehrend wirkt und sich immer wieder einmischt. Somit erinnert er an die Schwierigkeiten und die vielen Toten und verdeutlicht den Leser_innen, dass heute die Situation zwar besser, aber immer noch nicht perfekt sei. Nach wie vor werden Homo- und Transsexuelle diskriminiert, verfolgt und geschlagen. Er blickt auf die Geschichten verschiedener homosexueller Jungen, die in Beziehungen, einsam oder auf der Suche sind. Sie sind verwirrt und müssen sich mit ihren Eltern auseinandersetzen. Da ist zunächst Cooper, der seine Sexualität nur in Chatrooms ausleben kann. Seine Eltern ahnen nichts und Freunde hat er kaum. Als sein Vater einen der Chatrooms zufällig sieht, eskaliert die Situation und Cooper läuft von zu Hause weg. Er ist einsam, verloren und weiß nicht wohin. Auch im 21. Jahrhundert ist Homosexualität keine Selbstverständlichkeit, denn zu stark ist die Gesellschaft von einer Heteronormativität geprägt. Neil und Peter sind seit einem Jahr ein Paar. Peters Eltern finden es in Ordnung, Neil hat es seinen Eltern noch nicht erzählt und doch ist es in seiner Familie ein offenes Geheimnis. Avery ist ein Junge, der im Körper eines Mädchens geboren wurde und bereits früh eine Geschlechtsumwandlung hatte. Seine Schwierigkeiten werden ebenso ein Thema wie seine erste Begegnung mit Ryan. Sie lernen sich bei einem Schwulenball kennen, haben erste Dates und müssen sich mit Jugendlichen auseinandersetzen, die Homosexuelle verprügeln möchten. Ähnliches erlebt auch Tariq. Er wird überfallen und verprügelt. Es war dann seine Idee, dass sich seine beiden Freunde Craig und Harry 32 Stunden lang küssen und so den Rekord brechen. Craig und Harry sind Freunde und beide
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homosexuell. Craigs Eltern wissen allerdings nicht, dass ihr Sohn schwul ist und erfahren es erst während des Kuss-Rekords. Im Roman wird deutlich, dass es egal ist, ob man hetero-, homo-, bi- oder transsexuell ist. Viemehr werden neue Perspektiven, Ängste sowie Freuden gezeigt, die allen aus Beziehungen vertraut sein dürften. Es geht nicht darum, welche Sexualität Menschen haben. Es geht darum, was sie denken und wie sie sich verhalten. Im 21. Jahrhundert sollte man weder wegen seines Geschlechts noch seiner Sexualität oder seiner Hautfarbe ausgegrenzt werden. Das führt uns der Roman vor Augen. Ähnlich wie auch in anderen Romanen des 21. Jahrhunderts ist Levithan bemüht, sexuelle Diversität als etwas der Norm Entsprechendes zu betrachten und hervorzuheben. Die Historisierung der Thematik ermöglicht, die veränderte Einstellung der Gesellschaft zur Homosexualität aufzuzeigen und damit auch den Wertewandel einer westlichen Gesellschaft zur Toleranz und Akzeptanz. Eine solche Darstellung zwingt die Leser_innen auch dazu, über die eigene Gesellschaft nachzudenken und die vorhandenen Werte wie Akzeptanz oder Toleranz zu bewahren. (3)
Homosexualität im Alltag
Homosexualität im Alltag meint, dass Homosexualität als etwas „Normales“ wahrgenommen wird. Die Romane setzen weder auf Aufklärung noch zeigen sie homosexuelle Akteure im Abseits der Gesellschaft. Vielmehr bewegen sich diese selbstverständlich in der Schule, werden akzeptiert oder auch gehänselt. Aber damit haben sie durchaus Gemeinsamkeit mit anderen Mitschüler_innen, die nicht an der Spitze einer Schüler-Hierarchie stehen. Auch in dem Roman Nur drei Worte geht es um Homosexualität und ein Coming-out. Aber das Coming-Out ist nicht mit Angst besetzt, sondern mit der Sorge, dass die tolerante Familie übertreiben wird. Im Mittelpunkt steht der 16-jährige Simon, der in einem Vorort von Atlanta lebt, liberale Eltern und einen Freundeskreis hat. Er selbst hat sich noch nicht geoutet und fragt sich, warum sich Homosexuelle outen und Heterosexuelle nicht outen müssen. Simon möchte daraus jedoch „keine große Sache“ machen, denn für ihn ist es selbstverständlich und normal und er möchte, dass seine Umwelt es ähnlich sieht. Und genau das zeichnet den Roman aus: Er spricht sich gegen bestimmte Normen aus, fordert einen selbstverständlichen Umgang mit der Sexualität von Menschen und keine große Auseinandersetzung. Niemand kümmert sich bspw. um Simons Freunde Nick und Abby, die plötzlich ein Paar sind. Diese Fragen diskutiert er mit Blue, seinem Brieffreund, den er zufällig auf der Interseite creeksecrets seiner Highschool kennengelernt hat. Beide schreiben sich Emails, gestehen sich ihre Homosexualität und verlieben sich. Der Roman Nur drei Worte zeigt somit einerseits die Probleme des Coming-Outs, andererseits setzt er sich kritisch mit einer heteronormativen Gesellschaft auseinander. Es ist diese
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Gesellschaft – in der Regel weiß, gut situiert und heterosexuell – die die Normen festlegt. Normen, die, so Simon, durchaus im 21. Jahrhundert hinterfragt werden sollten. Die homosexuellen Jugendlichen sind keine Außenseiter mehr in der Schule, aber sie gehören auch nicht zu den Sportlern oder Cheerleadern, die das USamerikanische Highschool-Leben bestimmen. Sie sind anders, interessieren sich u.a. für Comics, bestimmte Musikrichtungen und verkehren in einem Umfeld, das sich ebenfalls für Comics oder Computerspiele interessiert. Die Themen um sexuelle Vielfalt sind zumindest in den Romanen, die in der Gegenwart spielen, eingebettet in Themen, die aus der Adoleszenzliteratur bekannt sind. Es fehlt jedoch die Verortung homosexueller Jugendlicher in dem ‚beliebten‘ Umfeld einer Highschool. Die homosexuellen Akteure sind witzig, schlagfertig und mit jenen Interessen ausgestattet, die diese Figuren mehrdimensional und damit auch ansprechend gestaltet. Sie kennen sich in der Welt der Popkultur aus, gehören trotz ihrer positiven Eigenschaften nicht zu den Sportlern oder Cheerleadern, die an der Spitze der Highschool-Pyramide stehen und den Ton unter der Schülerschaft angeben. Eine solche Darstellungsweise macht sie wiederum zu Randfiguren der Highschool-Gesellschaft. (4)
Transsexualität
Transsexualität ist ein aktuelles Thema der Jugendliteratur. Vorgestellt werden hier mit George ein Kinderroman sowie mit Zusammen werden wir leuchten ein Jugendroman. In beiden findet sich, um sich der Thematik Transsexualität zu nähern, zunächst eine (überspitzte) Geschlechternorm wieder. 2017 erschien zudem der Jugendroman Meine Mutter, sein Exmann und ich von T. A. Wegberg, in dem aus der Sicht eines Jungen auf seine Mutter, die sich in einen Mann umwandeln lässt, erzählt wird. In Zusammen werden wir leuchten stehen dagegen Leo und David im Mittelpunkt der Handlung. Erzählt wird je abwechselnd aus der Sicht von David und Leo und damit aus unterschiedlichen Geschlechterperspektiven, denn beide sind transgender. Während Leo schon in medizinischer Behandlung ist, zweifelt David noch und macht so die Ängste und Sorgen vor einer Geschlechtsumwandlung deutlich. Immer wieder fühlt sich David ‚unnormal’ und hat Angst, seine Eltern und seine jüngere Schwester zu enttäuschen. Er verheimlicht ihnen seine Kleider, seine Schminke und wünscht sich zugleich sehnlichst ihr Verständnis. Auch George erzählt von einem Jungen, der ein Mädchen sein möchte, sich heimlich verkleidet und Mädchenzeitschriften liest. Beide Texte arbeiten mit starken Geschlechterzuschreibungen. Leo, der neu an Davids Schule ist, wirkt unnahbar und Gerüchte über Gewalttätigkeit verfolgen ihn auch in der neuen Schule. Als David ihn sieht, „verschlägt es [ihm] fast den Atem“ (Zusammen werden wir leuchten, 40), denn Leos „Augen sind […] wunderschön. […] meergrün mit goldbraunen Flecken um die Pupille“ (ebd.). David starrt ihn an
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und beide kommen sich im Laufe der Geschichte näher. Leo bleibt der Außenseiter, verliebt sich und schließlich freundet er sich mit David an. Er erzählt ihm, dass er im Körper eines Mädchens geboren wurde, sich aber als Junge fühlt. David, der wiederum ein Mädchen sein möchte und noch zögert, seinen Eltern diesen Wunsch zu äußern, findet in Leo einen Ansprechpartner und auch Unterstützer. Nicht nur Leo entspricht dem Klischee eines Jungen, auch David hat konkrete Vorstellungen, wie ein weibliches Leben aussieht. Dazu gehören lange Haare, aber auch TVSendungen wie Project Runway – Designer gesucht. Auch in dem Kinderroman George, in dem es um ein Transgender-Kind geht, spielen solche binären Geschlechterzuschreibungen eine wichtige Rolle. George hat eine genaue Vorstellung, wie ein Mädchen sein soll. Es – im Roman wird ausschließlich das weibliche Personalpronomen genutzt, nur in direkter Rede wird George als Junge angesprochen – liest zahlreiche Mädchenzeitschriften, lernt Schminktipps kennen und sieht sich in einem „pinkfarbenen Bikini“ (George, 12). Nach seinem Geständnis reagiert sein älterer Bruder mit diesen Worten: „Irre, hat aber Sinn. Nimm’s mir nicht übel, aber als Junge bist du nicht besonders gut“ (ebd., 151). Er führt diese Aussage nicht weiter aus, denn George antwortet mit einem „Ich weiß.“ (ebd.) und nur seine Mutter blickt George mit „Sorge und Verwirrung“ (ebd., 152) an. Auch David, als das Mädchen im männlichen Körper, ist verständnisvoll und sensibel, Leo, als der Junge im weiblichen Körper, dagegen eher eigenbrötlerisch. Ähnlich wie die Romane, in denen Homosexualität im Mittelpunkt steht, ist auch David kein Außenseiter, gehört aber in der Schule nicht zu den „Coole[n] und Schöne[n]“ (Zusammen werden wir leuchten, 37), sondern ist mit Felix und Essie befreundet, die in keine der Highschool-Gruppen passen und sich die „Nonkonformisten (oder NKs als Abkürzung)“ (ebd.) nennen. Und noch etwas haben die Figuren in den Jugendbüchern gemeinsam: aufgeschlossene Eltern. In Zusammen werden wir leuchten fasst es David so zusammen: „Mum und Dad halten sich für ziemlich cool und aufgeschlossen, nur weil sie einmal die Red Hot Chili Peppers live gesehen haben und bei der letzten Wahl grün gewählt haben, aber ich bin mir da nicht so sicher.“ (ebd., 16)
Damit folgt die Beschreibung einem Muster jener Literatur, die Homo-, Trans- oder Intersexualität thematisiert. Die Elternfiguren ahnen den Zwiespalt ihrer Kinder, lieben und akzeptieren sie, wie sie sind. Auch der Vater in dem Roman Ich gebe dir die Sonne (2016) von Jandy Nelson reagiert fast erleichtert auf das Geständnis seines Sohnes Jude: „‚Oh‘, sagte Dad. ‚Oh, ich verstehe. Okay. Das war mir nicht klar. Ich dachte, Heather, weißt du? Aber das ergibt mehr Sinn‘“ (Ich gebe dir die Sonne, 474). Tatsächlich befürchten die jugendlichen Figuren fast zu viel Aufmerksamkeit von den Eltern, zu viel Verständnis und dieses Zuviel wird dann in den Romanen fast nebenbei diskutiert und hinterfragt.
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Intersexualität
Intersexualität ist seit den 1990er Jahren ein Thema in den Medien. Der deutsche Ethikrat setzt sich in einer Stellungnahme mit Intersexualität auseinander: „Mit dem Zusammenschluss von Intersexuellen in der Intersex Society of North America (ISNA) 1990 und dem damit beginnenden öffentlichen Auftreten der Betroffenen wurde das Grundproblem eines uneindeutigen Geschlechts in einer zweigeschlechtlich geprägten Gesellschaft und die damit verbundenen psychischen und sozialen Folgen erstmals zu einem öffentlichen Thema.“ (Deutscher Ethikrat 2012, 10)
Intersexualität meint somit, dass das Geschlecht nicht eindeutig ist und intersexuelle Menschen angeborene Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale aufweisen (vgl. BMFSFJ 2016). Sie begegnen immer wieder Vorurteilen, was an der Unwissenheit der Menschen liegt. Daher haben die kinder- und jugendliterarischen Texte anders als jene, die das bereits bekannte Thema Homosexualität thematisieren, auch die Aufgabe, aufzuklären und sich für Akzeptanz einzusetzen. KarenSusan Fessel nähert sich der Thematik in ihrem Roman Liebe macht Anders, in dem die Figur Anders im Mittelpunkt steht. Er/sie kommt als neue/r Schüler/in in die Klasse: „Alle sahen ihn sofort. Wie er da hockt, lässig auf den Stuhl gegossen, die Beine nach vorn gestreckt, die Daumen in den Schlaufen seiner Jeans. […] Er guckt sich nicht um, nicht ein einziges Mal […]. Seine Augen sind nicht zu sehen, aber sein Profil und die Körperhaltung, eigentlich ist sofort alles klar, für alle, die ihn jetzt, in diesem Moment, zum ersten Mal sehen.“ (Liebe macht Anders, 9)
Auffällig ist dabei, dass Anders sich auf seinem Stuhl inszeniert und seine (körperliche) Inszenierung sofort mit Männlichkeit gleichgesetzt wird. Zugleich entwirft die Autorin Karen-Susan Fessel ein authentisches Szenario einer neunten Gesamtschulklasse mit zahlreichen Facetten: gutaussehende Jugendliche, Außenseiter, Wohlhabende, Jugendliche aus prekären Verhältnissen sowie Starke und Schwache. Mit Anders gerät die Dynamik des Klassenverbandes durcheinander. Da ist zunächst Robert, gutaussehend, Klassensprecher und in Sanne verliebt. Robert erfüllt somit den männlichen Stereotyp. Sanne zeigt aber Interesse an Anders. Anders ist wohlhabender und, auch das deutet sich an, beliebter als Robert. Als dann noch der Posten des Klassensprechers wackelt, sinnt Robert auf Rache. Er beginnt in den sozialen Netzwerken nach Anders zu suchen und findet keine Spuren. Das ist ungewöhnlich, denn die meisten Jugendlichen sind aktiv im Netz, haben Freunde bei Facebook, sind auf Twitter und in diversen anderen Foren vertreten. Robert findet zwar Anders’ Familie, aber auf den Bildern sind nur seine Eltern und drei Töchter zu sehen. Robert rätselt, aber dann wird ihm klar, dass Anders möglicherweise ein Mädchen ist und er fängt an, ihn damit zu provozieren. Währenddessen erfährt Sanna die Wahrheit und bleibt bei Anders. Dennoch eskaliert die Situation und am
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Ende gibt es Verletzte. Fessels Roman beginnt mit der Eskalation. Verschiedene Schüler_innen kommen zu Wort und schildern die Lage. Unterschiedliche Stimmen ermöglichen unterschiedliche Sichtweisen und eröffnen Raum zum Nachdenken. Das Thema Intersexualität wird selbstverständlich und fast nebenbei behandelt. Anders erzählt Sanna seine Geschichte, die zwar etwas verwirrt reagiert, aber dennoch zu ihm hält. Damit macht sie klar, dass sie sich in den Menschen Anders verliebt hat, unabhängig vom Geschlecht. Die Suche nach der eigenen geschlechtlichen Identität begleitet die Jugendlichen in der Phase der Adoleszenz und das soziale Umfeld spielt eine Rolle, ob man sich eine der Heteronorm nicht entsprechenden sexuellen Identität eingesteht oder nicht. David Levithan widmet sich dieser Frage in seinem Roman Every Day, der 2012 in den USA und 2014 unter dem Titel Letztendlich sind wir dem Universum 5 egal in Deutschland erschienen ist. Im Roman geht es um Geschlechterwechsel, was kein neues Thema der Medien ist. Eingebettet in eine phantastische Figurenkonzeption befindet sich der Text nah an der Alltagsrealität jugendlicher Leser_innen. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Notwendigkeit des Geschlechts, nach Geschlechteridentitäten und Geschlechterrollen. Damit eröffnet Levithan neue Perspektiven und sein Roman oszilliert zwischen der sexuellen Vielfalt innerhalb der Gesellschaft. Zugleich geht es auch darum, Geschlechter im Kontext gesellschaftlicher Konstruktionen zu betrachten und zur Diskussion zu stellen. „5994. Tag Ich werde wach. Ich muss auf der Stelle herausfinden, wer ich bin. Nicht nur äußerlich – die Augen aufschlagen und nachsehen, ob ich am Arm helle oder dunkle Haut habe, ob meine Haare lang oder kurz sind, ob ich dick oder dünn bin, Junge oder Mädchen, voller Schrammen und Narben oder glatt und unversehrt.“ (Letztendlich sind wir dem Universum egal, 7)
Zu Beginn des Romans zählt A, der Ich-Erzähler der Geschichte, das auf, was (geschlechtliche) Identität auszeichnet: Hautfarbe, Haarlänge oder Gewicht sind die ersten Kategorien, die A benennt. Erst dann zählt er/sie das Geschlecht als weitere Kategorie auf. A selbst ist das Geschlecht, in dem er/sie sich gerade befindet, egal. Im Roman selbst finden sich keine Hinweise, ob A ursprünglich männlich oder weiblich war. David Levithan entwirft so eine 16-jährige Figur, die jeden Tag im Körper eines oder einer 16-Jährigen aufwacht und ihren Tag erlebt. Insgesamt wechselt A im Laufe der Geschichte vierzig Tage lang die Identität, dabei ist er/sie zwanzigmal ein männliches, neunzehnmal ein weibliches und einmal ein nicht geschlechtlich festgelegtes Wesen. Er/sie lernt neben dem biologischen Geschlecht auch Homosexualität kennen. Damit ist der/die Leser_in von Beginn an mit der 5
2016 kam mit Letztendlich geht es nur um dich die Fortsetzung, die anders als der erste Teil weniger mit Geschlechterzuschreibungen spielt.
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Frage konfrontiert, was Geschlechterrollen, Geschlecht oder Identität auszeichnet. Er/sie wechselt neben dem Geschlecht auch die ethnischen Zugehörigkeiten, kann dunkel- oder hellhäutig sein oder einen hispanischen sowie asiatischen Hintergrund haben. Doch am 5994. Tag seines Daseins trifft A, mittlerweile 16 Jahre alt, im Körper von Justin auf Justins Freundin Rhiannon und verliebt sich. Er versucht immer wieder, das Mädchen zu treffen und erklärt ihr schließlich im Körper des Mädchens Megan Powell sein Geheimnis. Auch Rhiannon fühlt sich zu A hingezogen und muss sich schließlich mit Identitäts- und Genderfragen auseinandersetzen, denn A begegnet ihr nicht nur in anderen Geschlechtern, sondern auch in unterschiedlichen körperlichen Hüllen. Er kann dunkelhäutig, aber auch korpulent sein. A ist immer anders, was Rhiannon reflektiert und als „echt total schräg“ (Letztendlich sind wir dem Universum egal, 166) bezeichnet. Sie küsst A zunächst in der Gestalt ihres Freundes Justin, später auch im Körper eines Mädchens und kommentiert: „‚Weil du ein Mädchen bist? Weil ich immer noch einen Freund habe? Weil wir eigentlich über Selbstmord reden?‘ ‚Tief in deinem Herzen, spielt da irgendwas davon eine Rolle?‘ In meinem nicht. ‚Ja. Tut es.‘ ‚Was genau?‘ ‚Alles. Das bist ja nicht richtig du, wenn ich dich küsse. Du bist irgendwo da drin. Aber ich küsse das, was außen rum ist. Und auch wenn ich dich darunter spüren kann, kriege ich nur Traurigkeit ab.‘“ (ebd., 166)
A’s Gefühle für Rhiannon sind nicht abhängig von der körperlichen Hülle, Rhiannon wirkt verunsichert und sie begegnet A mit gemischten Gefühlen. Damit greift der Roman auch Fragen nach Toleranz auf, denn es fällt Rhiannon schwer, sich auf A einzulassen und die unterschiedlichen Identitäten zu akzeptieren. Romane wie Letztendlich sind wir dem Universum egal spielen mit Geschlechtsidentitäten und Konstruktionen. Es geht nicht mehr um Aufklärung hinsichtlich einer sexuellen Vielfalt, denn diese wird nicht hinterfragt, sondern als gegeben betrachtet. Vielmehr steht im Mittelpunkt die Frage, was eine Person wirklich auszeichnet und ob das Geschlecht sowie das Äußere ausschlaggebend sind. Für Rhiannon ist die körperliche Erscheinung A’s bedeutend, denn sie betrachtet diese auch. An zwei Stellen im Roman fällt es ihr schwer, A nahe zu kommen. Das erste Mal tritt A ihr als Ashley entgegen und sieht „einfach zu perfekt“ (Letztendlich sind wir dem Universum egal, 191) aus. Das zweite Mal ist A ein „schwabbeliger, unförmiger Fettklops“ (ebd., 335), der im Kino „über seinen Sitz quillt“ (ebd., 339). Rhiannon selbst kann in dem Moment für A nichts empfinden. Im Fortsetzungsband Letztendlich geht es nur um mich, in dem Rhiannon als homodiegetische Erzählerin auftritt, schildert sie die erste Begegnung zwischen dem „[S]chwabbelige[n]“ (ebd.) wie folgt:
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„Aber es führt kein Weg darum herum – er ist fett. Richtig, richtig fett. Und damit komme ich nicht gut zurecht. Nicht weil er hässlich wäre. […] Aber ich würde bestimmt zweimal in ihn hineinpassen. Das schüchtert mich ein.“ (ebd., 325)
Erst durch Rhiannon beginnt A über seinen Körper und sich nachzudenken. Damit widersprechen Romane wie Letztendlich sind wir dem Universum egal einer binären Welt, in der es nur weiblich oder männlich gibt. Vielmehr wird deutlich, dass Geschlechterzuordnungen gesellschaftliche Kategorien sind, an die sich Personen anpassen. A reflektiert diesen Umstand, denn er/sie macht deutlich, dass die „Schnittmengen größer sind als die Unterschiede“ (Schilcher 2016, 190): „Erst in den Feinheiten wird es kompliziert und kontrovers – wenn die Mehrheit sich schwertut anzuerkennen, dass wir achtundneunzig Prozent miteinander gemeinsam haben, ganz gleich, welcher Religion, Rasse oder Geschlecht wir angehören oder aus welcher Region wir kommen. Ja, zwischen Männern und Frauen gibt es biologische Unterschiede, aber prozentual betrachtet ist da gar nicht mal so viel anders. Die Unterscheidung nach Rassen ist ein rein gesellschaftliches Konstrukt und nicht von Natur aus gegeben. Und was die Religion angeht – ob man nun an Gott glaubt, an Jahwe, Allah oder sonst was, letztlich geht es doch um das Gleiche.“ (Letztendlich sind wir dem Universum egal, 101f.)
A zeigt sich verwundert, dass sich die Menschen „auf die zwei Prozent“ (ebd., 102) konzentrieren, die sie unterscheiden, denn „daraus resultieren die meisten Konflikte in der Welt“ (ebd.). A sieht aber die 98 Prozent und appelliert so an die Toleranz und Akzeptanz der Menschen, denn die Unterschiede sind gesellschaftliche Konstruktionen.
Fazit „Toleranz bedeutet Respekt, Akzeptanz und Anerkennung der Kulturen unserer Welt“ (Deutsche UNESCO-Kommission 1995, Art. 1), heißt es in den Richtlinien der UNESCO und genau diese Aspekte spiegeln die aktuellen Jugendromane wider. Die handelnden Akteure hinterfragen eine heteronormative Gesellschaft und werfen einen Blick auf frühere Jahrzehnte, in denen man einer sexuellen Vielfalt mit zahlreichen Vorurteilen begegnete. Die sexuelle Vielfalt wird der Heteronormativität entgegensetzt und klar positiv besetzt – das zeigt sich auch an der Erzählperspektive, denn es wird fast ausschließlich aus der Sicht des nicht heteronormativen Akteurs erzählt. Damit wird (noch) die Differenzierung in Weiblichkeit und Männlichkeit, die mögliche Überspitzung von Männlichkeit oder Weiblichkeit wichtig, um eben jene Aspekte der Toleranz und Akzeptanz hervorzuheben. In den Romanen werden Figuren eingeführt, die zwar der Heteronormativität nicht entsprechen, aber abgesehen von ihrer sexuellen Orientierung sich nicht von heterosexuellen Menschen unterscheiden. Levithans schafft es schließlich in seinem Roman Letzt-
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endlich sind wir dem Universum egal zu zeigen, dass Gender eine Konstruktion ist. Erst A’s Begegnung mit Rhiannon zwingt ihn/sie, sich als Geschlecht zu inszenieren (vgl. hierzu Schilcher 2016, 193). Nach Schilcher sind es diese „Grenzgänger zwischen den Welten, die es schaffen, mit sich und der Welt im Reinen zu sein“ (ebd.). Allen hier vorgeführten Romanen ist gemeinsam, dass sie sexuelle Vielfalt als positive Gegenentwürfe zu einer heteronormativen Gesellschaft zeigen. Auch das Coming-Out, das in Romanen oft als schmerzhafter Prozess dargestellt wurde (vgl. hierzu Buchholtz 2012, 38), wird fast nebenbei erzählt. Den Figuren werden weitestgehend tolerante Eltern an die Seite gegeben, die ihre Kinder unterstützen. Erzählt wird aus ihrer Perspektive, man lernt die Gedanken und Gefühle der Figuren kennen, was bei dem Lesepublikum zur Empathie führen kann. Dieser Prozess kann auch eine Auseinandersetzung mit Toleranz ermöglichen und die Perspektiven der Jugendlichen erweitern. Frederking, Spinner und Kreft haben das Konzept eines identitätsorientierten Literaturunterrichts entworfen, das längst Eingang in die Bildungsstandards des Faches Deutsch gefunden hat (vgl. Frederking 2010, 433ff.). Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit der Geschlechtsidentität. Selbstbestimmung und Diversität müssen zugelassen werden und man muss Heranwachsende auf dem Weg der Identitätsfindung begleiten sowie unterstützen. Zugleich sollen Jugendliche (aber auch Kinder) Stereotypen erkennen und lernen, dass Identitäten vielschichtig und für eine weitere Entwicklung offen sind. Den Jugendlichen wird die Möglichkeit aufgezeigt, sich nicht zu stark in bestimmte Rollenerwartungen oder -muster pressen zu lassen. Aber: Die Texte müssen diese Diversität erlauben und den Spagat zwischen dem, was Bernhard Rank als vertraut und neu bezeichnet hat, zulassen (vgl. Rank 2005), denn im „Fremden des Textes kann dabei Eigenes entdeckt werden“ (Frederking 2010, 423). Zugleich lernen Schüler_innen, Ambiguität zu tolerieren. Die ausgewählten Texte bieten Leser_innen entweder neue oder vertraute Geschlechteridentitäten an, ohne jedoch direkt erzieherisch zu sein und damit haben sie ein Potenzial im Kontext einer Debatte, in der es auch um Toleranz, Akzeptanz und Respekt geht. Der Deutschunterricht leistet über die Lektüre der vorgestellten Texte einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung von Werten, die über eine reine Faktenvermittlung zur sexuellen Vielfalt hinausgehen. Mit den hier vorgestellten Romanen wird nicht nur eine literarische Verstehenskompetenz gefördert, sondern sie geben den Mut „zur eigenen Gender-Biographie“ (Schilcher 2016, 38).
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Literatur- und Quellenverzeichnis Primärliteratur Albertalli, Becky (2016): Nur drei Worte. Hamburg. Fessel, Karen-Susan (2013): Liebe macht Anders. Stuttgart. Gino, Alex (2016): George. Frankfurt a.M. Hummer, Jennifer Gooch (2014): Der Sommer, als Chad ging und Daisy kam. Hamburg. Léon, Christophe (2017): Väterland. München. Levithan, David (2014): Letztendlich sind wir dem Universum egal. Frankfurt a.M. Levithan, David (2015): Two Boys Kissing. Jede Sekunde zählt. Frankfurt a.M. Levithan, David (2016): Letztendlich geht es nur um dich. Frankfurt a.M. Nelson, Jandy (2016): Ich gebe dir die Sonne. München. Williamson, Lisa (2016): Zusammen werden wir leuchten. Frankfurt a.M.
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Weiß sollte nicht die Norm sein, genauso wenig wie hetero
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Offenheit für das Außergewöhnliche
Vom Absonderlichen zum Miteinander Der Roman Zeit des Mondes von David Almond und sein 1 pädagogisch-didaktisches Potenzial Ute Barbara Schilly Der Text der Kinder- und Jugendliteratur Zeit des Mondes von David Almond ist ein Roman über Gegensätze wie z.B. Nacht vs. Tag, Traum vs. Wirklichkeit, Kindheit vs. Erwachsenenalter, die allesamt eingefangen sind in der Grunddichotomie von Leben und Tod. Im Zentrum der Erzählung aber befindet sich das ‚Dazwischene‘, und dies macht das Besondere dieses Werkes aus: Es ist das Undefinierbare, das NichtKategorisierbare, es ist das Und anstelle des Oder, das schließlich auch die Dichotomien zu einem bedeutungsvollen großen Ganzen verwebt. Wohl auch aufgrund dieser in Zeit des Mondes angelegten Bedeutungsdimension bekam das Werk von den einschlägigen Blättern der britischen Presse außerordentlich gute Kritiken (vgl. Hachette o.J.), wurde von der Jury der CILIP Carnegie-Medaille als einer der zehn wichtigsten Kinder- und Jugendromane der letzten 70 Jahre (vgl. Lütge 2013, 100) gepriesen und gilt bereits seit seinem Erscheinen als Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Im Folgenden wird der Roman zunächst in seinen wesentlichen Zügen dargestellt. Dazu werden nach einer Synopse (1.) über die Rahmendaten des Buches sowie über Textinhalt und -struktur drei wesentliche Bedeutungsdimensionen erarbeitet und anschließend interpretatorisch zu einem thematischen Zentrum integriert (2.). Im Anschluss daran werden mehrere – teilweise auch gut kombinierbare – pädagogisch-didaktische Ausrichtungsmöglichkeiten für eine Arbeit mit dem Text im Rahmen des Deutschunterrichts umrissen (3.).
1. 1.1
Synopse Rahmendaten
Der Originaltext des britischen Autors David Almond (geb. 1951) erschien 1998 unter dem Titel Skellig und wurde noch im selben Jahr mit bedeutenden Auszeichnungen versehen, etwa der Carnegie Medal und dem Whitbread Children’s Book Award. Übersetzungen in mehr als 30 Sprachen, Adaptionen des Buches in andere Medienformate und weitere Preise folgten. Der Autor ist inzwischen nicht nur für 1
Sabine Anselm hat mir in einer schweren persönlichen Zeit kollegiale Unterstützung geleistet und wertvolle Ergänzungen zu diesem Beitrag vorgenommen. Dies ging weit über ihre Aufgaben als Herausgeberin dieses Bandes hinaus. Dafür bin ich ihr von Herzen dankbar.
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Skellig, sondern für sein literarisches Schaffen insgesamt vielfach national wie international ausgezeichnet worden, u.a. mit dem höchst renommierten Hans-ChristianAndersen-Preis für Kinder-/Jugendliteratur und gilt als einer der wichtigsten zeitgenössischen Schriftsteller. Skellig wurde von Johanna und Martin Walser aus dem Englischen übersetzt und erschien bereits 1999 auf Deutsch unter dem Titel Zeit des Mondes. Bis auf die doch erhebliche Veränderung des Buchtitels folgt der deutsche Text seiner englischen Vorlage, von kleineren Abweichungen abgesehen. Auch alle Eigennamen (Personen, Straßen) des Ausgangstextes wurden im Englischen beibehalten. Die Sprachlichkeit des Romans ist schlicht und leicht zugänglich bei gleichzeitig gegenüber dem Original unvermindert hoher literarästhetischer Qualität. Der Roman wurde zusätzlich 2006 als Lizenzausgabe in der auf 50 Werke der Weltliteratur beschränkten Edition Junge Bibliothek der Süddeutschen Zeitung als 45. Band herausgegeben. Auch für die Behandlung des Romans im Unterricht liegen in Deutschland bereits Materialien vor, sowohl für den Deutsch- (vgl. Ziemer 2006) als auch für den Englischunterricht (vgl. Heinz 2015 und 2016). 1.2
Inhalt
In Zeit des Mondes werden aus der personalen Ich-Perspektive die Ereignisse einer kurzen Phase im Leben des Jungen Michael erzählt, die seine Welt verändern. Michael ist mit seinen Eltern und der neugeborenen Schwester in ein neues, größeres Haus in ein anderes Viertel seiner Heimatstadt umgezogen. Das neue Haus ist heruntergekommen und der Garten verwildert. Doch die Hauptsorge der Familie ist der schwerkranke Säugling. Beim Erkunden des halbverfallenen Gartenschuppens entdeckt Michael einen verwahrlosten, abgemagerten Mann. Mit Essensresten vom chinesischen Take-away-Restaurant, Bier und Medizin versorgt Michael nun den sonderbaren Mann im Schuppen, an dessen Schulterblättern er etwas Merkwürdiges ertastet: Michael vermutet Flügel, was sich später bewahrheitet. Als die Mutter das Baby, dessen Zustand sich verschlechtert hat, für unbestimmte Zeit in das Krankenhaus bringen muss und dort bei ihm bleibt, versuchen der Vater und Michael, das Haus und den Garten herzurichten. Michael, der wegen der großen psychischen Belastung durch den Umzug und den lebensbedrohlichen Zustand der Babyschwester vorübergehend von der Schule befreit ist, verbringt nun auch viel Zeit mit dem Nachbarmädchen Mina, mit dem er sich angefreundet hat, und weiht es in sein Geheimnis ein. Michael und Mina bringen das Wesen aus dem einsturzgefährdeten Schuppen in ein leerstehendes altes Haus, das Minas Familie gehört, und kümmern sich fortan gemeinsam um es, von dem sie nun den Namen erfahren: Skellig. Michael glaubt an eine Verbindung zwischen ihm und seiner Schwester und bittet Skellig, ihr zu helfen. Im leerstehenden Haus wird Skellig zusätzlich von Waldkäuzen gefüttert, sodass er mit deren wie der Hilfe der beiden Kinder schließlich wieder zu Kräften kommt: In der Schlüsselszene des Romans tanzt Skellig mit
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den Kindern im Kreis, und für Michael fühlt es sich an, als atmeten sie alle drei im gleichen Rhythmus, als schlügen die Herzen im Takt, als hätten er und Mina Flügel und schwebten in der Luft. Bevor das Baby schließlich am Herzen operiert werden muss, sieht die Mutter einen Mann mit Flügeln, der sich mit dem Baby im Kreis dreht; ihre Beschreibung passt auf Skellig. Die Operation verläuft gut, das Baby wird gesund. Skellig geht fort. 1.3
Struktur
Der Roman Zeit des Mondes umfasst 182 Seiten und ist in 46 Kapitel unterteilt. Die Kapitel 1 bis 3 umfassen einen einzigen Tag, von Sonntagmorgen bis in die Nacht, die Kapitel 4 bis 10 den zweiten Tag, Montag, usw. Der Fluss des Geschehens verläuft überwiegend linear und kontinuierlich über die Kapitelgrenzen hinweg: Es ist der großen Dynamik und Tiefe der Geschehnisse geschuldet, dass jeweils ein Kapitel auf einen Moment oder eine einzelne Situation fokussiert. So sind bis einschließlich Kapitel 24 lediglich sechs Tage erzählter Zeit vergangen; es handelt sich hier um den Freitag der in Kapitel 1 mit Sonntag begonnenen Woche. Ab Kapitel 25 ist nicht mehr klar erkennbar, um welchen Wochentag der erzählten Zeit es sich genau handelt, doch das Prinzip der Ereignisfokussierung für die Kapiteleinteilung wird beibehalten, sodass lediglich ein oder zwei Tage vergangen sein können. Als in Kapitel 44 der Spannungsbogen vollendet ist und die Hauptereignisse abgeschlossen sind, setzt eine kleine Zeitraffung ein: „An diesem Abend und an den Abenden darauf half ich Papa im Haus“ (Zeit des Mondes, 173). In Kapitel 45 wird der Tag des Erzählgeschehens wieder konkret benannt, Samstag (vgl. ebd., 177), ebenso im letzten Kapitel: Das Geschehen vollzieht sich „[a]n einem Sonntag“ (ebd., 181). Das Romangeschehen wird im Rückblick erzählt, das narrative Tempus ist Präteritum. Die Erzählperspektive ist konsequent auf das erzählende und erlebende Ich des Jungen Michael begrenzt. Der Erzähler ist nicht nur die Hauptperson des Geschehens, durch den die Ereignisse, Empfindungen und Wahrnehmungen für die Leser_innen nachvollziehbar werden. Durch das erzählerische Mittel, in den meisten Kapiteln jeweils tagebuchartig den Tag und die Tageszeit zu benennen, kommt dem Erzähler-Ich zudem die Rolle des Chronisten zu. Das Nicht-Erfüllen dieser Rolle in den Kapiteln 25 bis 44, also das Ausbleiben einer zeitlichen Verortung der Geschehnisse seinerseits zeigt, dass Michael durch seine Auseinandersetzung mit dem Außergewöhnlichem in diesem Handlungsabschnitt einem alltäglich geordnetem Zeiterleben entschwindet. Die kleine Zeitraffung in Kapitel 44 markiert mittels iterativen Erzählens („An diesem Abend und an den Abenden darauf half ich Papa im Haus“ [Zeit des Mondes, 173]), dass sich Michael wieder in die alltägliche Zeitordnung einfindet. Die Erzählung setzt direkt im ersten Satz mit der Hauptursache für alles weitere Geschehen und die Persönlichkeitsentwicklung Michaels ein, nämlich der Entdeckung Skelligs im Schuppen, der sogenannten „Garage“:
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„Ich fand ihn an einem Sonntagnachmittag in der Garage. Einen Tag, nachdem wir in die Falconer Road umgezogen waren. Der Winter ging zu Ende. Mama hatte gesagt, wir zögen gerade rechtzeitig zum Frühling um. […] Er lag dort im Dunkeln hinter Teekisten in Staub und Dreck. […] Er war schmutzig, blass und ausgedörrt, und ich dachte, er sei tot. Mehr hätte ich mich nicht irren können. Bald sollte ich die Wahrheit über ihn herausfinden […].“ (ebd., 7)
Hier noch eher angedeutet („Einen Tag […] um.“), überwiegt dann im ersten Kapitel des Romans die Rückblende, um die Vorzeitigkeit des Geschehens zu beleuchten und Hintergrundinformationen zu liefern: Die Familienpersonen, der behandelnde Arzt des kranken Babys sowie das neue Haus mit Garten und Garage werden eingeführt. Das erste Kapitel endet mit dem Fazit: „Und das war der Stand der Dinge!“ (ebd., 8). Bis auf den spannungserzeugenden Vorausblick auf die Zukunft aus der erzählten Vergangenheit heraus („Mehr hätte ich mich nicht irren können. Bald sollte ich die Wahrheit über ihn herausfinden“) und den bereits erwähnten kleinen Zeitraffer zu Beginn des Kapitels 44 ist die Narration den Roman hindurch überwiegend szenisch gestaltet: Vom Erlebten wird erzählt, als nähmen die Leser_innen durch die Sinne des Ich-Erzählers daran teil, der überaus hohe Anteil an Dialogen unterstützt dies. Dadurch steigt der Grad an Unmittelbarkeit zwischen Figur- und Leserperspektive, was das Identifikationspotenzial mit dem Protagonisten erhöht. Einen Sonderfall stellen die Kapitel 2 und 3 dar. Auch hierbei handelt es sich um Analepsen in die Zeit vor dem erzählten Jetzt, jedoch geschieht dies hier nicht summativ-situationsklärend wie in Kapitel 1 bis zum Kapitel-Schlusssatz, sondern ganz im szenischen Duktus wie der Großteil des Romans. Die Funktion des Kapitels 2 wie auch überwiegend des Kapitels 3 ist demnach, derart zur Entdeckung Skelligs hinzuführen, dass diese allein schon durch den erzählerischen Spannungsaufbau als ein die persönliche Welt des Protagonisten bewegendes Ereignis vorbereitet wird: Zunächst handelt Kapitel 2 vom Sonntagmorgen, als Michael seinen ersten Versuch unternimmt, die Garage zu erkunden. Der erste Satz bringt es als Erzählbericht bereits auf den Punkt: „Am Sonntagmorgen war ich schon fast in der Garage“ (Zeit des Mondes, 9). Daran schließt eine ausführliche, szenische Schilderung in Rückblende an, zunächst des visuellen Eindrucks des Garageninneren („Ich nahm meine Taschenlampe und leuchtete hinein. Die Türen nach hinten heraus […]“ [ebd.]), die dann in eine olfaktorische („Es stank nach Moder und nach Verwesung“ [ebd.]), danach in eine akustische Wahrnehmungsbeschreibung übergeht („Ich hörte in einer der Ecken etwas kratzen und umhertrippeln, dann nichts mehr; es war wieder totenstill“ [ebd.]). Die Spannung im unmittelbar daran anschließenden Satz („Ich stand da und überlegte, ob ich es wagen würde hineinzugehen.“ [ebd.]) wird durch das Rufen der Mutter jäh beendet. Im darauffolgenden Gespräch mit Michael erteilt die Mutter das Verbot, die Garage zu betreten. In Kapitel 3 wird anfangs erneut die Entdeckung Skelligs durch Kontemplationen zum Garten verzögert. Es ist inzwischen Sonntagmittag, Michael verzehrt seinen Lunch, und dann heißt es aus der Ich-Perspektive: „Ich trank die Cola aus, wartete einen
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Augenblick, dann ging ich wieder zur Garage. […] Ich knipste die Taschenlampe an, holte tief Luft und schlich auf Zehenspitzen geradewegs hinein“ (ebd., 12). Doch wiederum erfolgt zunächst ein fast einseitiger Abschnitt, in dem erneut das Innere der Garage beschrieben wird. Erst im letzten Satz des Abschnitts heißt es: „Ich lehnte mich gegen einen Stapel Teekisten und leuchtete mit der Taschenlampe in den Raum dahinter, und dann sah ich ihn“ (ebd., 13). Der Folgesatz wiederholt einen der oben zitierten Anfangssätze des Romans: „Ich dachte, er sei tot“ (ebd.). Ab dieser Textstelle decken sich weitgehend Erleben und Erzählen des IchErzählers, wenn auch freilich das Vergangenheitstempus der Narration beibehalten wird.
2.
Thematische Erschließung
Wird in der nun folgenden Darstellung versucht, das thematische Zentrum des Romans Zeit des Mondes in Einzelbeleuchtungen zu erfassen, so erfolgt diese Zerlegung in einem heuristischen Sinne. Zunächst soll auf drei Dichotomien als wesentliche Achsen des Romans eingegangen werden. Durch eine anschließende Integration der drei Dichotomien soll das thematische Zentrum des Textes erschlossen werden. 2.1
Dichotomien
Der Roman ist inhaltlich an Gegensätzen aufgehängt, die ihn wie Achsen durchschneiden und zwischen ihren jeweiligen Polen ein Spannungsfeld bilden, in dem das Zentrum des Textes, nämlich das ‚Dazwischene‘ und Nicht-Identifizierbare verortet ist. Die Dichotomien lassen sich in drei Cluster zusammenfassen, Helligkeit vs. Dunkelheit, Inneres vs. Äußeres und Leben vs. Tod. Helligkeit – Dunkelheit Der dichotomische Bereich Helligkeit vs. Dunkelheit geht mit den Gegensätzen Tag vs. Nacht und Weiß vs. Schwarz einher. Diese Dichotomie bezieht sich naturgegeben auf die (Tages-) Zeit, aber auch auf Räume und selbst die Schlüsselpersonen des Romans. Zunächst einmal ist die räumliche Situation der Entdeckung Skelligs in diesem Kontrastbereich angesiedelt: In der Garage im Garten des Hauses der Familie Michaels ist es dunkel (vgl. Zeit des Mondes, 7, 9 und 12), Michael muss eine Taschenlampe benutzen, um sie zu erkunden und findet so Skellig: „Er lag dort im Dunklen hinter Teekisten in Staub und Dreck.“ (ebd., 7) Der Kontrast zwischen der Dunkelheit der Garage als Obdach Skelligs und der Helligkeit im Freien wird mehrfach ausgeführt, so heißt es z.B. einmal: „Ich verließ ihn, ging zur Tür zurück und hinaus
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ins Licht“ (ebd., 36). Auch das leerstehende Haus der Familie Minas, in das Skellig von den beiden Kindern zu seinem Schutz gebracht wird, ist dunkel (vgl. ebd., 45). Die Besuche bei Skellig finden somit durchweg bei Dunkelheit statt, zum einen aufgrund der Räumlichkeiten, wie eben ausgeführt. Zum anderen aber ist die Dunkelheit teilweise auch zeitlich bedingt, weil Michael bzw. Michael und Mina Skellig überwiegend nachts aufsuchen (vgl. 31ff., 57ff.). Die semantische Aufladung der Distribution von Helligkeit und Dunkelheit steht dabei offensichtlich in romantischer Symboltradition. Die Nacht bzw. Dunkelheit fungiert als Raum für transrationale, also den Alltagsverstand übersteigende Erlebnisse (vgl. z.B. Novalis’ Hymnen an die Nacht). In der Nacht oder Dunkelheit begegnen die Kinder Phänomenen, die die rational gedeutete (Erwachsenen-)Welt transzendieren. Auch die magischmystische Tanzszene in Kapitel 31 spielt im Dunkel der Nacht, lediglich der Mond scheint in das Zimmer des leerstehenden Hauses und auf die Gesichter der tanzenden Gemeinschaft (Zeit des Mondes, 120f.) und bildet so nicht nur einen Kontrast, sondern der Wechsel von hellem Mondlicht und nächtlicher Schwärze, „silbernen“ Gesichtern und dunklen Augen hat hypnotischen Rhythmus und steigert die Magie 2 des Moments: „Er machte einen Schritt zur Seite, und wir drehten uns zusammen, drehten uns langsam immer weiter, als ob wir vorsichtig und ängstlich zu tanzen begännen. Das Mondlicht beschien abwechselnd unsere Gesichter. Jedes Gesicht drehte sich aus dem Dunkel ins Licht, aus dem Dunkel ins Licht, aus dem Dunkel ins Licht, und jedes Mal, wenn die Gesichter Minas und Skelligs ins Licht kamen, waren sie noch silberner, noch ausdrucksloser. Ihre Augen waren noch dunkler, noch leerer, noch durchdringender.“ (ebd., 121)
Die Tanzszene in der Mondnacht verdichtet sich durch eine romantisch codierte Bildlichkeit zu einer Art mystischen Vereinigung (vgl. z.B. Eichendorffs Mondnacht). Auch der Tanz Skelligs mit dem Baby im Krankenhaus, woraufhin die HerzOperation des Babys gut verläuft und die kleine Schwester wieder gesund wird, findet während der Nacht statt, ebenso wie der zweite tanzartige Reigen der beiden Kinder mit Skellig in Kapitel 42 (vgl. ebd., 170), wobei diese Szene allerdings nicht dieselbe erzählerische Ausführlichkeit und Intensität aufweist wie die erste. Die Begegnung Michaels und Minas mit Skellig findet hier zum letzten Mal statt. Sie wissen darum und verabschieden sich voneinander. Als die Kinder später noch einmal zum Dachboden des Hauses gehen, den sie von Skellig verlassen wissen, geschieht dies dann bei Tag, „[d]ie Sonne schien noch“ (ebd., 174). Auch das genesende Baby kommt mit der Mutter schließlich an einem hellen Tag (ebd., 181) nach Hause zurück. Wie beim Wiedereintritt Michaels in die alltägliche Zeitordnung ab Kapitel 44 nach der Lösung des Spannungsbogens (vgl. 1.3), reintegriert er sich in die „Tag-Welt“ und ergreift wieder seine bürgerliche „Alltagsidentität“, von der er 2
Es ist wohl auch diese Szene, die zum Titel der deutschen Übersetzung geführt hat.
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sich während seiner transrationalen Erfahrungen zunehmend abgewendet hatte (Schule, Familie, Hausrenovierung, Schulfreunde und Fußball). Wie bereits in der Schlüsselszene des ersten Tanzreigens auf graphische Weise angedeutet wird, schließt die Hell-Dunkel-Dichotomie die zentralen Romanfiguren ein. Von Michael selbst wird kein Bild gezeichnet, er bleibt unbestimmt, vermittelt jedoch dem Leser eine Art Scherenschnitt der wichtigsten Personen. Zunächst wird die zentrale Figur Skellig entlang der Hell-Dunkel-Achse beschrieben: Sein Gesicht ist weiß (vgl. ebd., 13 und 57), „trocken wie Kalk“ (ebd., 162), blass (vgl. ebd., 13 und 120), gar „mondblass“ (ebd., 168) und „blass wie trockener Gips“ (ebd.). Doch sein Haar ist schwarz (ebd., 90), und er trägt einen schwarzen Anzug (vgl. ebd., 13, 23 und 162). Die drei Federn, die Skellig vor seinem Fortgang für Michael, Mina und das Baby zurücklässt, sind hingegen weiß (vgl. ebd., 174). Auch das Mädchen Mina und das Baby sind äußerlich von dieser Schwarz-Weiß-Dichotomie geprägt, z.B. „Mina mit ihrem blassen Gesicht, ihren dunklen Augen, mit ihrer schwarzen Ponyfrisur, die ganz genau an den Brauen aufhörte“ (ebd., 137), und erhalten zum Teil zusätzliche Bedeutungsnuancen: So wird Mina, die gerade auf Vögel fixiert ist (vgl. ebd., 75), diese beobachtet, zeichnet, in Ton modelliert oder behütet, an anderer Stelle auch durch die Beschreibung ihres Äußeren mit Vögeln in Verbindung gebracht. Ihr Haar ist nicht nur schwarz, sondern – wie ihre Augen 3 auch – „rabenschwarz“ (ebd., 29). In der Kurzbeschreibung des Babys klingt gleichzeitig die Krankheit an: „Sein Gesicht war totenblass und sein Haar ganz schwarz“ (ebd., 16). Auch die zweite Achsenlinie mit den Polen Inneres vs. Äußeres konstituiert sich in einem konkreten, zusätzlich jedoch in einem übertragenen Sinne, wie das folgende Kapitel zeigen wird. Inneres – Äußeres Der Dichotomiebereich Inneres vs. Äußeres umfasst wie schon der erste Dichotomiebereich von Helligkeit vs. Dunkelheit mehrere Aspekte: Ganz konkret zu verstehen ist eine Teilebene dieses Bereichs, nämlich räumlich innen vs. außen. Auf das Innen und Außen in einem übertragenen Sinne beziehen sich indes die aspektuellen Gegensatzachsen Traum vs. Wirklichkeit und (Sinnes-)Wahrnehmungsfähigkeit vs. Stumpf-Sinnigkeit. Konkret räumlich separiert sich die Welt Michaels in ein Innen und Außen. Zum Inneren gehört das neue Wohnviertel, in dem Michael nun mit seiner Familie lebt, genauer: Michaels neues Zuhause in der Falconer Road, aber auch Minas Zuhause und das leerstehende Haus ihrer Familie in der Crow Road samt der dazugehörigen Gärten. Die nach Vogelsorten benannten Straßen markieren den neuen
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Die Bildverdichtung ist hier allerdings auf die deutsche Übersetzung zurückzuführen, im englischen Ausgangstext ist der Wortlaut „black as coal“ (Zeit des Mondes, 23).
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Mikrokosmos und indizieren die Innen-Welt Michaels. Denn Vögel im engeren Sinne als Tierklasse, aber auch im weiteren Sinne als beflügelte Wesen, wie Skellig eines ist, sind von zentraler Bedeutung im Roman (vgl. 2.2; vgl Schneider 2005, 54), da sie zur Persönlichkeitsentwicklung Michaels führen. Skellig, als Nukleus des Mikrokosmos' Michaels, ist aufgrund seines rätselhaften Wesens nicht nur ein sonderbares Geheimnis an sich, sondern auch das Geheimnis Michaels, der lediglich Mina als Angehörige seiner Innen-Welt in sein Geheimnis einweiht. Von ihr möchte er die Bestätigung erhalten, dass er Skelligs Existenz nicht nur geträumt hat: „Als wir uns den Teekisten näherten, begann ich zu zittern. Vielleicht würde Mina nichts sehen. Vielleicht hatte ich mich die ganze Zeit über nur getäuscht. Vielleicht waren die Träume und die Wirklichkeit nur ein bedeutungsloses Durcheinander in meinem Bewusstsein.“ (Zeit des Mondes, 79)
Das räumliche Innen ist durch (Garten-)Mauern vom weltlichen Außen abgetrennt. Zum weltlichen Außen gehören die Schule, von deren Besuch Michael vom vierten Tag der erzählten Zeit an (Kapitel 14) vorübergehend freigestellt ist, die Lehrer, das Fußballspielen und seine (Schul-)Freunde Leakey und Coot: Als beispielweise Michael mit Mina einen Moment innerer Verbundenheit erlebt und sie sich bei der Hand halten, werden sie von Leakey und Coot, die „auf der anderen Seite der Mauer [standen]“ (ebd., 105), ausgelacht. Zum Außen gehören auch das Krankenhaus wie überhaupt die Stadt und Welt jenseits der Mauern des ‚Vogel‘-Viertels. Nachdem z.B. die Kinder Skellig gegen Ende der Nacht in das Haus in der Crow Road in Sicherheit gebracht haben, heißt es: „Man hörte schon den Verkehr in der Stadt, auf der nahen Crimdon Road“ (ebd., 90). Die Außen-Welt wird dabei mit Realität gleichgesetzt. Als nämlich Michael und Mina Skellig die Anzugsjacke ausziehen, damit dieser es bequemer habe, und sich dadurch dessen Flügel entfalten, lässt dies Michael vor Aufregung zittern, und er muss sich der Wirklichkeit vergewissern: „Auf Zehenspitzen ging ich zu den Fensterläden und starrte durch die schmalen Ritzen hinaus. ‚Was machst du?‘, flüsterte sie [Mina]. ‚Ich schau nur, ob die Welt noch da ist‘, sagte ich.“ (ebd., 100)
Michael versucht, in beiden Welten zu leben bzw. die Hemisphären, die gleichzeitig Realität und Fantastik bzw. Traum entsprechen, zu verbinden: So wendet er sich z.B. auch an die Krankenhausärzte, um zu erfahren, mit welchen Medikamenten er Skellig helfen kann. Auch verteidigt er seine Schulfreunde und die „gewöhnlichen Leute[n]“ (ebd., 113) der Außen-Welt gegenüber Mina (vgl. ebd., 113f.), die nicht zur Schule geht und offensichtlich außer zu ihrer Mutter und Michael keine sozialen Kontakte zu haben scheint. Am Ende des Romans, als Michael wieder zur Schule geht und sich in die Außenwelt re-integriert (Kapitel 43), verspricht er seinem
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Freund Leakey, von dem er während der Skellig-Episode „meilen- und meilenweit weg gewesen“ (ebd., 172) war, ihm eines Tages alles zu erzählen. Selbst Coot, der bei einem Besuch bei Michael pantomimisch eine Amsel abschießt (ebd., 112) und so momentweise als Bedrohung des Außen für das Innere, das für ein achtsames und liebevolles Miteinander im Gefüge der Natur steht, personalisiert wird, bezieht er hier mit ein (vgl. ebd.). Die Gegensatzachse Wahrnehmungsfähigkeit vs. Stumpf-Sinnigkeit lässt sich ebenfalls im Dichotomiebereich von Innerem vs. Äußerem ansiedeln. Als Michael Mina zum zweiten Mal begegnet, grenzt sie ihn noch als der Außen-Welt zugehörig aus und hält seine Stumpf-Sinnigkeit gegenüber der ihn umgebenden Natur für „typisch“ (ebd., 28ff.). Durch Mina lernt Michael, achtsam zu sein und genau hinzusehen und -hören, um die Nuancen der Umwelt wahrzunehmen. Das folgende Beispiel illustriert dies: Mina fragt Michael, welche Farbe eine Amsel habe, Michael antwortet: „Schwarz“ (ebd., 30), was Mina mit „typisch“ (ebd.) kommentiert. Doch noch am Ende der darauffolgenden Nacht wird Michael der wunderbaren Farbigkeit einer Amsel gewahr: „Ich blickte zur Amsel auf dem Garagendach und sah, wie sie den gelben Schnabel ganz weit öffnete, während sie sang. Ich sah es golden und blau schimmern, wo das Morgenlicht auf ihr Schwarz schien.“ (ebd., 32)
Aufgrund seines nun gesteigerten Wahrnehmungsbewusstseins weiß Michael die Zeichen der Natur um ihn herum zu deuten, z.B. versteht er, dass die Amsel, auf die Coot vorgibt zu zielen, Futter für ihre Jungen sucht und sich von der Anwesenheit der Jungen gestört fühlt (vgl. ebd., 110). Durch Horchen und Hinspüren kann Michael schließlich nicht nur das leiseste Piepen der Amseljungen im Nest oder Skelligs Atem im oberen Stockwerk des Hauses wahrnehmen (vgl. ebd., 119), sondern auch telepathisch den Atem und den Herzschlag seiner kleinen Schwester fühlen, während diese sich im Krankenhaus befindet (vgl. ebd.). Demgegenüber weisen neben Coo etwa besonders der Makler und Dr. Tod Stumpf-Sinnigkeit auf. Der Rat des Maklers, das heruntergekommene Anwesen mit dem „geistigen Auge“ (ebd., 7f.) zu sehen, ist nichts anderes als der Versuch, den Zustand der Immobilie schönzureden und bildet einen Kontrast zum tatsächlichen Sehen mit dem ‚inneren‘, spirituellen Auge, wie es die Schlüsselpersonen des Romans tun, insbesondere Michael, Mina, Skellig und das Baby: Sie alle vermögen, über die Augen Verbindung aufzunehmen und sich ohne Worte zu verständigen, z.B. „Ich suchte Minas Blick, ich wollte ihr mit den Augen ein Zeichen geben, dass wir gehen müssen. ‚Kann ich mit Michael einen Spaziergang machen?‘, sagte sie sofort“ (ebd., 76); Augen kommt dabei die sprichwörtliche Funktion als Spiegel der Seele zu, z.B.: „[Skellig] schaute tief in Mina hinein. Sie schaute tief in ihn hinein.“ (ebd., 84) oder „ich nahm sie [die Babyschwester] näher an mich heran und ihre dunklen Augen sahen direkt in mich hinein, direkt dahin, wo alle meine Träume
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waren, und sie lächelte“ (ebd., 182). Dr. Tod hingegen „sieht“ Michael bei einer Konsultation nur „an“ und „späht“ in ihn „hinein“, aber er kann Michael nicht wirklich sehen und bleibt an der Außengrenze: „Nie würden Flügel auf seinem Rücken wachsen. Da war ich [Michael] mir sicher“ (ebd., 125). Das Kindheitsbild verweist hierbei deutlich auf romantische Bedeutungstraditionen, in denen typischerweise Kinder eher noch „metaphysisch“ sehen können im Gegensatz zu den Erwachsenen. Sie sind noch nicht so sehr in der rein verstandesmäßig gedeuteten Welt der Erwachsenen angekommen, in der die erweiterten Sinne verkümmern. Michaels Mutter hat ebenfalls noch ein „erweitertes Sehvermögen“, da sie den Tanz Skelligs mit dem Baby und dessen Flügel wahrnimmt; sie ist sich jedoch hinsichtlich des Bewusstseinsmodus dieses Erlebnisses nicht mehr sicher (Traum oder Wachzustand). Aus Sicht ihrer vorwiegend rational gedeuteten Erwachsenenwelt war es somit konsequenterweise „wirklich merkwürdig“ (ebd., 161). Auch bei dem im Folgenden beschriebenen Bereich geht es um ein Spannungsfeld zwischen zwei Polen, doch noch stärker als bei den anderen beiden Dichotomiebereichen tritt hier das Dazwischen als Transition in den Vordergrund. Leben – Tod Im dichotomischen Komplex von Leben vs. Tod handelt es sich um den existenziellen Gegensatz, der das Romangeschehen rahmt und bedingt. Eingebunden ist diese Dichotomie jedoch in den umfassenderen und übergeordneten Kreislauf der Natur: Die beiden Pole gehen kontinuierlich ineinander über und gehören immerwährend und allgegenwärtig zusammen. Auch die Transitionen von Winter in Frühling sowie von Kindheit zum Erwachsenen gehören in diesen Bereich. Der Roman beginnt mit einer Situation, die von Tod, einmal dem des vorherigen Hausbesitzers, zum anderen dem drohenden Tod des Babys gekennzeichnet ist. Auch die Bestandsaufnahme Michaels hinsichtlich des Zustandes von Haus und Garten – wie weitaus mehr noch die ausführliche Beschreibung des Garageninneren – bestehen aus einer Verkettung von Wörtern bzw. Wortfeldern, die Verfall und Tod bezeichnen, z.B. „morsch“, „voller Risse und Löcher“, „Moder“, „Verwesung“, „zerbröckelten“, verfault“. „Knochen“, „gestorben“, „tote Schmeißfliegen“ (Zeit des Mondes, 9ff.). Unter diesen Vorzeichen findet Michael Skellig in der Garage auf: „Ich dachte, er sei tot. […] Er war mit Staub und Spinnweben bedeckt wie alles andere und sein Gesicht war dünn und blass. Tote Schmeißfliegen lagen auf seinen Haaren und Schultern.“ (ebd., 13)
Michael sorgt sich um seine kleine Schwester wie gleichzeitig um Skellig, von dem er den Eindruck hat, dass er nur dasitzt und auf den Tod wartet (vgl. u.a. ebd., 51). Zuerst versorgt Michael Skellig alleine, dann gemeinsam mit Mina und rettet ihn vor dem Tod. Ein Zeichen seines Wiedererstarkens ist, dass Skellig, von dem es bis zu
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seinem Transfer in das verlassene Haus in Kapitel 22 bei jeder Begegnung heißt, „[e]r lachte, aber er lächelte nicht“ (ebd., 24, 32, 59, 80 und 81), nun in Kapitel 31 die Kinder anlächelt und ihnen die Hand zum Reigen reicht (vgl. ebd., 121). Skellig bedankt sich vor seinem Weggang gegen Romanende bei den Kindern dafür, dass sie ihm sein „Leben wiedergegeben“ (ebd., 170) haben. An Skelligs Genesung ist die Gesundung des Babys gekoppelt, einmal als paralleler Erzählstrang, aber auch inhaltlich durch den Besuch Skelligs bei dem Baby im Krankenhaus, was als Kausalzusammenhang der erfolgreich verlaufenden Herzoperation des Säuglings nahegelegt wird (vgl. ebd., 161ff., 169 und 183). Mit dem Übergang von Krankheit und Todesnähe zu Kraft und Gesundheit korreliert ebenfalls die jahreszeitliche Verortung des Romangeschehens: Herrschte zu Beginn der Geschichte noch Winter (vgl. ebd., 7), die Jahreszeit, in der die Natur abgestorben scheint, so endet der Roman mit dem Frühlingseintritt: Das Baby kommt quicklebendig zurück, als „endlich richtig Frühling [war]“ (ebd., 181). Als eine der zahlreichen intertextuellen Referenzen des Romans (vgl. etwa Latham 2008, 216ff.) ist die Persephone-Sage in den Text eingewoben, indem Minas Mutter sie Michael erzählt, um ihm angesichts der bevorstehenden Operation des Babys Mut zu machen (vgl. Zeit des Mondes, 149f.). Aufgrund der Sage, die beide Momente, nämlich den des Wiedererstarken/der Rückkehr in das Leben wie auch den des Frühlingseinzugs in sich vereint, schlägt Michael vor, das Baby Persephone zu nennen, was seine Eltern aber als zu komplizierten Namen ablehnen (vgl. ebd., 161). Eine dritte, wesentliche Transition ist die des Heranwachsens, was mehrfach als Motiv im Roman aufscheint. Zentral gilt dies für die Hauptfigur und den Erzähler Michael, der zwar noch ein Kind ist und als solches von seinen Eltern beschützt wird, sich aber bereits im Zwischenstadium der Reifung zum Erwachsenen befindet (vgl. ebd., 125f.). Gemeinsam mit Mina bewacht Michael wiederum Vogeljunge im Garten, damit diese nicht Katzen und anderen natürlichen Feinden zum Opfer fallen. Auch die Waldkauzjungen im leerstehenden Haus und Schutzraum Skelligs wachsen heran, und Mina will die Bauarbeiten so lange verhindern, bis die Vögel das Nest verlassen haben. Als „Jungvögel“ (ebd., 143) bezeichnet Mina auch sich selbst und Michael. Es ist Michaels Kindsein und der magischen Welt der Kindheit zuzuschreiben, dass er Skellig offen begegnen kann, aber gleichzeitig bereits den Fuß in der Realität der Erwachsenen hat (vgl. auch Webb 2006, 242) und ihn verantwortungsvoll versorgen kann. Auch wenn es nicht explizit gesagt wird, liegt es nahe, dass er Skellig vor Erwachsenen und deren engem, fantasielosem und mate4 rialistischem Schubladendenken schützen will, die einem Wesen wie Skellig evtl. 5 Schaden zufügen könnten. 4 5
Der einzige Erwachsene, dem er wagt, sein Geheimnis preiszugeben, „wirkte, als sei er nicht ganz da“ (Zeit des Mondes, 40). Was einem beflügelten Menschen widerfahren kann, wenn er Erwachsenen in die Hände fällt, zeigt García Márquez in seiner Erzählung Un señor muy viejo con unas alas enormes, die David Almond zu Skellig bzw. Zeit des Mondes angeregt hat (vgl. Latham 2006).
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Der Kreislauf der Natur, das Geborenwerden und Sterben, das Fressen und Gefressenwerden, wird von Mina, die für Michael als Lehrmeisterin der Naturwissenschaft sowie des Feingeistigen zugleich fungiert, als Selbstverständlichkeit akzeptiert: Es ist Aufgabe des Menschen, der Natur ihren Lauf zu lassen und achtsam wie wertschätzend mit ihr umzugehen. Dies bezieht sich nicht nur darauf, aufmerksam hinzusehen und hinzuhören, wie es Michael durch Mina in Bezug auf die Vögel und Vogelarten als pars pro toto der Natur lernt. Wertschätzenden Umgang und gleichfalls ein Moment würdevollen, zivilisierten Menschseins an sich beweisen Mina und Michael, als sie die toten Kleintiere rituell beerdigen, die ihnen von den WaldkauzEltern im Haus der Crow Road dargebracht worden waren (vgl. Zeit des Mondes, 175). Demgegenüber dürfen Tiere „Wilde“ sein und ihrer Natur gehorchen (vgl. z.B. ebd., 147 und 175). Zu diesem Kreislauf der Natur von Leben und Tod, von (Heran-)Wachsen und Vergehen gehört in einem größeren Rahmen auch die Evolutionsgeschichte, die ein weiterer thematischer ‚roter Faden‘ im Roman ist: Im Kontext des Rätsels um Skellig und dessen Flügel sagt Mina zu Michael an einer Stelle im Text, dass sie als Menschen noch nicht das Endprodukt der Menschheitsgeschichte sein müssten, sondern eventuell bloß ein Zwischenstadium seien (vgl. ebd., 104). Damit führen die hier beschriebenen Transitionen zum Kern des Romans. 2.2
Zentrum
Das erzählerische Zentrum des Romantextes ist die Zwischenwelt im Spannungsfeld der oben beschriebenen Dichotomien. Das Epizentrum des Geschehens ist dabei die Figur Skellig. Skellig ist in vielfacher Weise nicht kategorisierbar, „[s]olch ein Wesen hat es noch nie auf der ganzen Welt gegeben“ (ebd., 7): Er hat die Gestalt eines Mannes (z.B. „Ich fand ihn“, „Er lag dort“ [ebd.]), aber er hat auch große Flügel, die aus seinen Schulterblättern herauswachsen, und er kann fliegen (vgl. ebd., 168); Skellig liebt Essen vom Chinesen und Bier, aber er nährt sich auch von Fliegen, Spinnen und Mäusen, deren Gewölle er wie ein Raubvogel wieder hervorwürgt; er riecht nach Schweiß wie ein Mensch, aber „[s]ein Atem war der Atem eines Tiers, das vom Fleisch anderer Tiere lebt“ (ebd., 121); er hat „Hunderte winziger Falten und Risse im blassen Gesicht“ (ebd., 33), aber als ihn die Kinder vom Schuppen in das Haus bringen, sieht er aus „wie ein junger Mann“ (ebd., 90); Skellig ist groß wie ein erwachsener Mann, aber so leicht, als bestünde sein Skelett aus Röhrenknochen wie die eines Vogels usw. Die nicht zuordenbare Natur Skelligs setzt sich in seiner Persönlichkeit fort und wird in seinem Verhalten gespiegelt: Zu Beginn zeigt er sich den Kindern gegenüber schroff und abweisend, teilweise fordernd (vgl. z.B. ebd., 80), teilweise gar beleidigend (vgl. ebd., 82), doch wandelt er sich durch sein Wiedererstarken: Er ruft die Kinder zu sich, umarmt sie, dankt ihnen, und nach seinem Weggang finden die Kinder ein eingeritztes Herz auf dem Holzboden des Hauses in der Crow Road und drei weiße Federn als Geschenk. Als
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Michael ihn anfangs um Hilfe für seine kleine Schwester bittet, sagt er noch abfällig „Babys! Speichel, Kot, Erbrochenes und Tränen.“ (vgl. ebd., 34), aber später sucht er das Baby im Krankenhaus auf, um ihm Kraft für die Operation zu verleihen, „[und] es war so eine Zärtlichkeit in seinen Augen“ (ebd., 162). Skellig ist zu Beginn zynisch (vgl. das wiederholte, symbolische „Er lachte, aber er lächelte nicht“ [u.a. ebd., 24]) und flucht („Verfluchte Kinder“, „verdammte Stadt“, „Verflixt noch mal“ (ebd., 60), doch am Schluss ist er liebevoll (vgl. ebd., 170). Das Wesen Skelligs bleibt bis zum Ende des Romans ungeklärt, obwohl bestimmte Auslegungen im Geflecht um die Koordinaten Flügel, Vögel, Engel, Archäopterix (als evolutionäres Übergangswesen) und den Bezug auf die Lyrik und Person William Blakes, der sich von Geistwesen und Engeln umgeben sah, angelegt sind. So könnte Skellig einerseits ein Engel sein, was die magischen Momente des Textes nahelegen wie der Reigen mit den Kindern oder dem Baby im Krankenhaus mit heilender Kraft, aber auch die Flügel an seiner menschlichen Gestalt, die ihn noch am ehesten in die Nähe traditioneller Engelsvorstellungen rücken, was durch die anderen Informationen jedoch zerstört wird. Es könnte sich bei ihm andererseits aber auch um eine Laune der Natur handeln, eine genetische bzw. evolutionsbiologische Variation (vgl. auch Levy 2003, 21; Pinsent 2006, 54), worauf ebenfalls verschiedene Aussagen der Romanfiguren hindeuten: Gibt die Mutter Michael noch eine etwas mystische Antwort, als sich Michael nach Schulterblättern erkundigt, weil dieser für die Auswüchse an Skelligs Schulterblättern eine realistische Erklärung sucht („Man sagt, die Schulterblätter sind da, wo die Flügel waren, als man noch ein Engel war. Man sagt, sie sind da, wo einem eines Tages wieder Flügel wachsen werden.“ [Zeit des Mondes, 42f.]), so antwortet Mina, der aufgrund ihrer umfassenden Kenntnisse u.a. der (Evolutions-)Biologie hohe Glaubwürdigkeit zukommt, auf Michaels Frage nach dem Zweck von Schulterblättern: „Es ist eine bewiesene Tatsache, Allgemeinbildung. Sie sind dort, wo deine Flügel waren und wo sie wieder wachsen werden“ (ebd., 56). Auch der Biologielehrer schließt zumindest nicht aus, dass es menschliche Wesen mit Flügeln geben könnte und scheint von Michaels Frage nach einem Menschen-Archäopteryx beeindruckt (vgl. ebd., 128f.). Nicht zuletzt Skellig selbst entzieht sich den Fragen zu seinem Wesen. Anfangs verweigert er sogar jegliche Auskunft über sich und negiert damit gar seine Existenz: „‚Woher kommst du?‘ ‚Nirgendwoher.‘ ‚[…] Was wirst du tun?‘ ‚Nichts.‘ […] ‚Wer bist du?‘ ‚Niemand.‘“ (ebd., 34)
In der Abschiedsszene in Kapitel 42, als Michael Skellig erneut befragt, wandelt sich zwar die Negation in das Positive, doch die Unbestimmtheit und Nicht-
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Kategorisierung Skelligs bleibt bestehen: „‚Wohin willst du gehen?‘, fragte ich. […] ‚Irgendwohin‘, sagte er. […] ‚Was bist du?‘, flüsterte ich. […] ‚Irgendetwas‘, sagte er“ und fährt fort: „‚Etwas wie du, etwas wie ein Tier, etwas wie ein Vogel, etwas wie ein Engel.‘ Er lachte. ‚So etwas in der Art.‘“ (ebd., 170) Während Michael beharrlich auf der Suche ist nach einer ‚realistischen‘ Erklärung und Bestimmbarkeit für Skellig, akzeptiert ausgerechnet Mina, die mehr als Michael über naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügt, das Unerklärliche und bezeichnet Skellig schlichtweg als „außergewöhnlich“ (ebd., 85). Der oben beschriebene, sich überlagernde Bildbereich um Vögel, Flügel, Engel und Menschen wird durch weitere Spuren noch verdichtet, beispielsweise durch die sichtbaren Flügel bei den Kindern (vgl. z.B. ebd., 183; vgl. auch Latham 2006). Michael und Mina werden sowohl von Skellig (vgl. ebd., 169), als auch von der Mutter Minas (vgl. ebd., 134) als Engel bezeichnet, wobei sich freilich zusätzlich über die den Text überschreitende Namensymbolik von Michael ein Bezug auf den gleichnamigen Erzengel sowie durch Skellig ein Bezug auf die Insel Skellig Michael, die zu Ehren des Erzengels Michaels so benannt wurde, herstellen lässt (vgl. Webb 2006, 244). Ein weiteres Beispiel ist die Gleichsetzung des Babys mit einem Jungvogel (vgl. ebd., 163), was auch durch den Namen nahegelegt wird, den es am Ende der Geschichte erhält: „Joy“, da dieser Name mit einem Blake-Zitat in Verbindung steht, in dem es heißt, dass Vögel zur Freude geboren sind (vgl. ebd., 54; eine andere Erklärung bei Pinsent 2006, 55). Auch das Baby wird von Mina als „außergewöhnlich“ (ebd., 183) bezeichnet, wie Skellig, Michael und sie selbst (vgl. ebd., 104), und Skellig sagt, dass nicht er dem Baby, sondern das Baby ihm Kraft gegeben habe (vgl. ebd., 169). Überdies nennt der Vater das Baby „kleiner Engel“ (ebd., 161), und die Mutter ist sich sicher, dass es Flügel gehabt habe und sich immer noch zwischen Himmel und Erde befinde (ebd., 43). Auch die Träume Michaels, in denen er anstatt im Bett in einem Vogelnest liegt, seine Verständigung mit Mina über das Imitieren von Käuzchenrufen und die Waldkäuze, die nach Skelligs Weggang Michael und Mina tote Tierchen als Futter darbieten, verschränken die Bereiche miteinander und verwischen die Grenzen der biologischen Taxonomie. Daran knüpft sich ein weiterer substantieller Gehalt an: Zeit des Mondes ist auch ein Buch über die Liebe – die Liebe zum Kreatürlichen, die Liebe unter Menschen – und gleichzeitig über das Außergewöhnlich-Sein, das in einem Umfeld von Menschen mit einer liebevollen Grundhaltung existieren darf. Eng verwoben mit dem sonderbaren Wesen Skellig und von zentraler Bedeutung für den Roman ist nämlich, wie Michael an den plötzlichen Herausforderungen seiner Lebenssituation wächst, von Mina unterstützt: Michael erkennt, dass das merkwürdige Wesen in der Garage in Not ist; das Entscheidende dabei ist, dass er alles nach seinen als Nochnicht-Erwachsener beschränkten Möglichkeiten unternimmt, Skellig vor dem Tod zu bewahren. So lässt er sich nach dem Auffinden Skelligs weder von dessen Ablehnung, z.B. „‚Was kann ich [Michael] tun?‘ | ‚Nichts.‘“ (ebd., 34), noch von dessen abschreckendem Äußeren abhalten. Der Ich-Erzähler führt wiederholt vor Augen,
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wie sehr er sich vor Skellig ekelt (vgl. z.B. ebd., 35 und 121), doch steht es für ihn außer Frage, sich um Skellig zu kümmern. Es ist diese Barmherzigkeit und Fürsorge aus Liebe zum Nächsten, die Michael letztlich zu einem Heilsbringer, einem Engel macht (vgl. ebd., 169; von Skellig an die Kinder gerichtet: „Aber ich komme wieder zu Kräften, den Engeln und den Käuzen sei Dank.“ [ebd.]). Ja, es ist fast, als erlöse Michael durch seine Nächstenliebe die Kreatur Skellig von einer erbärmlichen Existenz, wodurch sie dann ihren Zauber entfalten kann und nicht nur zu Kraft, sondern auch zur Liebe zurückfindet: Als die Kinder Skellig in Sicherheit gebracht haben, fragen sie erneut, wer er sei, und dieses Mal verweigert er sich nicht mehr: „Mein Name ist Skellig“ (ebd., 92). Mit diesem substantiellen Aspekt klingen weitere Momente an, einmal ein Bezug zur Gattung Märchen, wo häufig Widerwärtiges angenommen werden muss, um zum Glück zu finden, etwa in Der Froschkönig, und zum anderen zur Bibel, etwa Vers 15 der Kindersegnung Jesu (Markus-Evangelium 10, 13–16). Michael hat Skellig angenommen, wie dieser war, ohne ihn einer Kategorie zuordnen zu können. Damit – so könnte hier verstanden werden – hat er eine gute Tat vollbracht und darf eines Tages in das Himmelreich eintreten. Nicht zuletzt findet Michael Skellig an einem Sonntag, dem Tag des Herrn, und es ist wieder ein Sonntag, als das Baby – „[K]leiner Engel“ (Zeit des Mondes, 161) – nach Hause zurückkehrt. Der Kreis schließt sich (vgl. Stewart 2009, 311). Das Gebot des Mitgefühls, der Barmherzigkeit und der Fürsorge für Schwächere usw. ist auch in anderen Kulturen und Religionen ein wichtiges Element, wie es auch den Engel Michael beispielsweise im Islam (Mikal) gibt; der Roman könnte also in vielfältige kulturelle oder religiöse Sinnzusammenhänge gerückt werden, was ein Faktor seines Potenzials für die pädagogische Arbeit darstellt (vgl. Kap. III). Explizit im Text drückt sich das Verhaftetsein in einer religiösen Praxis lediglich darin aus, dass Michael und seine Eltern für das Baby beten (vgl. z.B. Zeit des Mondes, 146). Aus den oben ausgeführten Darstellungen wird ersichtlich, dass die Achsenlinien und der Nukleus des Romans miteinander verwoben sind, sodass insgesamt ein dichtes, schillerndes Bedeutungsgewebe aus ineinandergewirkten Narrationsfäden entsteht: Unabhängig davon, bei welchem Inhaltsmoment man einen Faden aufnimmt, man gelangt immer zu allen anderen Fäden des Textes und dabei ins Zentrum der Narration. Der Roman entspricht darin einem Hypertext aus Schattenspielen, Magischem wie Realistischem, Ungesagtem und doch auch Gesagtem und vermag dabei Wirklichkeit und Wahrheit des Seins eindrücklicher zu zeichnen als ein streng realistisches Modell: „By combining realism and fantasy Almond takes the reader into the unnamed boundary between those states of being and brings a greater understanding of that which defies definition, but which is nonetheless part for the human state for child and adult. “ (Webb 2006, 342)
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Für die Arbeit mit Zeit des Mondes im Deutschunterricht ist von nachgeordneter Bedeutung, welchem Genre bzw. welcher Form der Roman im Zwischen- und Überlappungsbereich verschiedener Konventionen und Strömungen letztlich am ehesten zuzuordnen ist.6 Wichtiger ist vielmehr, welches Bildungspotenzial der Roman seinen jungen Leser_innen bieten kann. Dies wird im folgenden Kapitel skizziert.
3.
Pädagogisch-didaktisches Bildungspotenzial einer Auseinandersetzung mit dem Außergewöhnlichen in Zeit des Mondes
Es gilt zunächst, den Text im Verstehenshorizont der Ziel-Altersgruppe zu positionieren. Eine primäre Lektüreerfahrung von Schüler_innen, d.h. zunächst ohne didaktische Vermittlungsangebote, realisiert wohl weniger die intertextuellen Erweiterungen und impliziten Textverdichtungen wie die Symbolik und Indices der Namen und die damit verbundenen Engelslegenden oder auch die volkstümliche und romantische Bedeutungsdimension des Mondmotivs beim magischen Reigen. Auch die im Roman erwähnten Mythen und der Kosmos von William Blake als englischem Nationaldichter ließen sich von einem einschlägig belesenen Rezipienten weiter als jeweilige Sinngebungsquelle für den Romaninhalt ausschöpfen (vgl. Latham 2008). Dennoch wird jeweils das zum Verstehen des Gesamtzusammenhangs Nötige durch den Romantext bereitgestellt, indem andere Romanpersonen wie Miss Clarts, Minas Mutter oder Mina dem unwissenden Michael und damit eventuell auch den unwissenden jungen Leser_innen die jeweiligen Informationen liefern. Möglicherweise sind auch die englischen Straßen- und Personennamen für deutsche Schüler eher nichtssagend, d.h. die o.g. Abgrenzung in die Innen- und Außen-Welt Michaels wird durch diesen Aspekt nicht vorgenommen, was aber aufgrund des hohen Kohäsionsgrades des Textes nicht weiter ins Gewicht fiele. Was bleibt, ist ein Roman, der im Hinblick auf die Ziel-Altersgruppe eine leicht verständliche, realitätsnahe Sprache aufweist (vgl. Pinsent 2006), die dem IchErzähler angemessen ist, der zudem ein junger ‚Held‘ ist. Über die Sprache wird Zugang zu einer realistisch gerahmten Gegenwartswelt, deren Alltäglichkeit sich auch in Deutschland abspielen könnte, eröffnet. Aufgrund dieser Brücken zu den Leser_innen und gleichzeitig wegen der besonderen literarästhetischen Qualität des Werkes (“intensely literary“ (Levy 2003, 19); vgl. auch Lütge 2013, 98), die aus der Verbindung einer im Einzelnen sprachlich schlichten, aber poetisch reizvollen Form mit einer reichhaltigen inhaltlichen Substanz (vgl. Kap. II.) ersteht, birgt der Roman ein Potenzial für literarische (Lern-)Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten von Schüler_innen, das auf mehreren Ebenen (3.1–3.6) entfaltet werden kann. Dies soll in seinen Grundzügen nachfolgend umrissen werden. 6
Vgl. etwa die verschiedenen Versuche seiner Einordnung, z.B. in den magischen Realismus (z.B. Latham 2006; Lütge 2013) oder die Gothic Novel (vgl. Crossen 2014).
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3.1
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Identifikationspotenzial
Dass Michael als Protagonist ähnlich alt ist wie seine Leser_innen, ist eine wichtige Brücke für die Begegnung mit dem Text: Michael werden eine kind- bzw. jugendtypische Rolle und ein entsprechender Verhaltensrahmen zugeschrieben, z.B. verkneift er sich das Weinen, als sich Mina über ihn lustig macht (Zeit des Mondes, 114), er spielt Fußball mit seinen Freunden, muss zur Schule gehen und Hausaufgaben machen, Erwachsene um Rat und Information fragen, Verbote und Regeln seiner Eltern akzeptieren (vgl. z.B. ebd., 10) – auch wenn er sich nicht immer daran hält, was ebenfalls adoleszenztypisch ist. Durch Textstellen wie der folgenden kommt Michael als kind- bzw. jugendlichem Ich-Erzähler Glaubwürdigkeit zu, indem er auf die noch ungeliebte neue Umgebung mit Wut und Übertreibung reagiert: „Nur Nesseln und Disteln und Unkraut und halbe Ziegelsteine und Steinhaufen. Ich stand da und kickte Millionen Löwenzahnköpfe weg“ (ebd., 11). Auch eine Reihe von Erwachsenen nennt er ausschließlich mit Spitznamen wie den Arzt des Babys („Dr. Tod“) oder seine Lehrer, „der Yeti“, „Rasputin“ oder „Monkey“, wie es Schüler_innen häufig tun. Die Entstehung der Spitznamen wird nicht erklärt; dass Michael sie selbstverständlich so in seiner Erzählung nennt, macht die Leser_innen zum Eingeweihten auf Augenhöhe. Der Umzug in ein neues Umfeld, das Schließen einer neuen Freundschaft (überdies mit einem Mädchen), die Sorge um ein Familienmitglied (dabei hilflos sein und wenig tun können), das Erkunden verbotenen Geländes, ein Geheimnis haben, sich im Freundeskreis und in der Schule behaupten müssen, der Umzug in ein neues Stadtviertel usw. sind weitere, wohl grundsätzliche Erfahrungen, die viele Schüler-Leser_innen teilen können. Wie auf Seite 18, wo es um die Diskrepanz zwischen dem belasteten Privatleben Michaels auf der einen und der Normalitätserfahrung der Schule auf der anderen Seite geht, ist sicherlich für fast jede/r Schüler_in nachempfindbar und bietet somit ein leichtes Identifikationsangebot mit dem Ich-Erzähler. Doch auch wenn die Distanz der Leser_innen zum Text größer wäre, gilt grundsätzlich, dass die Leser_innen im „Akt des Lesens“ (Iser 1990) über den Ich-Erzähler Michael und dessen Gesichtskreis und Erleben, insbesondere auch durch die Passagen konkreter Sinneswahrnehmungen, an der fiktiven Welt teilhat (interne Fokalisierung). Diese ureigene literarische Erfahrung von Einfühlen in den Protagonisten/die Protagonistin und in die 7 fiktive Welt und das schrittweise Mitvollziehen des Geschehens sowie das Nachvollziehen der Rede und Handlungen der anderen Figuren ist schließlich das Fun7
Empathie an sich ist laut Bildungsstandards ein erklärtes Bildungsziel, das aus dem Umgang mit literarischen Texten erwachsen soll. Nun begegnen die Leser_innen im Prozess des Lesens weiteren Personen des Romans aus der engen Perspektive des Ich-Erzählers, deren Verhalten nicht erklärt wird, da Showing anstatt Telling überwiegt (vgl. Kap. I.3). Das Einfühlen in den Protagonisten und die anderen Personen des Romans ließe sich durch gezielte Übungen zur Perspektivenübernahme noch intensivieren bzw. erweitern, etwa dem Erzählen des Geschehens aus der Perspektive einer anderen Figur usw. Etliche Anregungen hierzu geben etwa Ziemer (2006) sowie Schneider (2005). Zur kritischen Diskussion des Begriffes Empathie vgl. hingegen z.B. Olsen (2008).
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dament für alle Erfahrungen, die der Schüler im Dialog mit dem Text macht. Die Begegnung mit dem Text erwirkt demnach eine Begegnung mit sich selbst, wie Sabine Anselm in ihrem Beitrag zum Wert des Lesens detailliert aufschlüsselt (vgl. Anselm 2012, 16ff.), und ist daher bereits an sich ein zentraler Selbstzweck und Mehrwert eines literarischen Rezeptions-, Konstruktions- und Reflexionsprozesses. 3.2
Auseinandersetzung mit Außer-Gewöhnlichem
Ohne den Kontext der erweiterten intertextuellen Referentialität, der bedeutungssteigernd als Netz über den Roman geworfen werden kann (vgl. oben), findet die Rezeption der jungen Lesenden dicht entlang der explizit vorhandenen Textbausteine statt. Die Schüler_innen als Lesende begegnen dem Text schrittweise im progredienten Lesefluss und vollziehen dabei probehandelnd die Begegnung Michaels mit Skellig mit. Die einerseits große Realitätsnähe mit Identifikationsangeboten des Romans bildet also die Vertrauensbasis und den gemeinsamen Grund, um dem Absonderlichen und Fremd-Fantastischen im Text andererseits dann überhaupt begegnen zu können (vgl. Pinsent 2006, 53). Es handelt sich um eine doppelte Alteritätserfahrung: einmal die des Textes als erzählte andere (britische) Welt an sich, in die sich Leser_innen im Rezeptionsprozess begeben und die sie sich anverwandeln müssen, und zum anderen die Alterität Skelligs, mit der sich die Schüler_innen aus ihrer, durch die interne Fokalisierung beschränkten Perspektive auseinandersetzen müssen. Ihnen stehen dabei keine weiteren Informations- und Wahrnehmungsquellen zur Verfügung als Michael, durch dessen Sinne sie die fiktive Welt wahrnehmen. Die Leser_innen vollziehen also Michaels Auseinandersetzung mit der außerordentlichen, transrationalen Erfahrung unweigerlich mit und sind genauso wie er gezwungen, sich einen Reim darauf zu machen bzw. sich immer wieder selbstkritisch zu hinterfragen, ob sie das alles glauben dürfen, oder ob es sich nicht eher um einen Traum, eine Fantasie handelt, was neben den unter Kap. 2.2 ausgeführten Lesarten eine weitere mögliche Auslegung des Romangeschehens wäre, für die es ebenfalls Hinweise gibt (vgl. etwa die vielen Selbstzweifel Michaels und die Sicht der anderen auf ihn, etwa des Vaters, der Freunde oder Dr. Tods). Zwischen den verschiedenen Spuren, die aus dem Romantext herauslesbar sind, bleibt die Identität Skelligs als „Leerstelle“ (Iser 1990, 284) offen (vgl. Kap. 2.2), sie ist “beyond knowing“ (Webb 2006, 245). Die Lesenden müssen deshalb im Dickicht von Alterität und Unbestimmtheit wie Detektiv_innen aufgrund der verschiedenen Spuren, die im Text angelegt sind, eine ihm nächstliegende Spurenlese betreiben, d.h. Spuren sammeln und auswerten und gleichzeitig textgestützt fortlaufend Hypothesen bilden bzw. diese revidieren. Der persönlichen Lesart sicher zu sein, kann sich jedoch niemand, da nicht nur eine Festlegung durch eine etwaige Explizitheit an irgendeiner Stelle des Romans ausbleibt, sondern unterschiedliche Spuren einander gar kreuzen oder sich gegenseitig konterkarieren und verunsichernd wirken wie
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beispielsweise die oben aufgeführten Aussagen zu Schulterblättern. Zeit des Mondes ist in dieser Hinsicht ein unbequemes Buch. Aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten, den Romantext auszulegen, unternehmen die Schüler-Leser_innen verschiedene Aktivitätsschritte. Sie nehmen die Textkonstituenten wahr, bewerten diese und entscheiden dann, welche sie für sich annehmen und in das von ihnen aufgewandte Leseverständnis integrieren möchten und welche nicht, insbesondere in Bezug auf die Spurenlese zum zentralen Geschehen des Romans. Im Deutschunterricht könnten die von den Schüler_innen vorgenommenen hermeneutischen Selektionen und Bewertungen im Hinblick auf ihre Weltsicht und die darin verinnerlichten Werthaltungen offenbar werden: Wie bewerten die Schüler_innen und nach welchen Referenzgrößen? Folgen sie z.B. eher einer naturwissenschaftlichen Auslegung, oder sehen sie in Skellig einen Engel? Dabei könnten die jeweils sinnstiftenden „webs of significance“ (Geertz 1975, 5) und die jeweilige religiös-ideologische bzw. kulturelle Verortung der vorgenommenen Bewertungen der Schüler_innen im Diskurs aufscheinen und reflektiert werden. „[E]s gilt, ein kritisches Bewusstsein für Werte zu bilden“ (Anselm 2009, 19), die dem Deutschunterricht in dieser Hinsicht „Leitfach“-Funktion zuschreibt (ebd.). Der Diskurs im Unterricht kann weitere individuelle Denkprozesse, Selbstreflektionen und Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung anstoßen, denn Werte sind „elementarer Bestandteil von Bildungsprozessen“ (Anselm 2012, 405). Entsprechendes gilt für die Beurteilung der Überlegungen und Handlungen Michaels sowie der Äußerungen, Handlungen und angenommenen Handlungsmotive der anderen Romancharaktere, denn insbesondere auch Michael als Agens, mit dem die Schüler-Leser_innen durch die Ich-Perspektive nah verbunden sind, fällt Schritt für Schritt Entscheidungen, auf denen jeweils sein weiteres Handeln fußt. Die hiermit verbundenen ethisch-moralischen Implikationen und Wertefragen lassen sich mit Schüler_innen erkunden und reflektieren, etwa Nächstenliebe, eine gute Tat tun, was ist überhaupt gut, Freundschaft, Loyalität, Gehorsam, oder Aufrichtigkeit, ggf. auch in Verknüpfung mit den im Roman präsenten „anthropologischen Grundthemen“ (Dieterle et al. 2001, 1) wie Krankheit und Tod, soziale und geschlechtliche Rollen, Liebe oder Jugend (vgl. ebd.; vgl. auch Rösch 2004, 37). Dies lässt sich auch fächerübergreifend mit dem Religions- und Ethikunterricht verschränken. 3.3
Andere(s) akzeptieren und anerkennen
Angesichts der heterogenen Schülerschaft ist es wesentlich, die diversen und ggf. konkurrierenden Text-Vorstellungen und erklärenden Rekurse bzw. Weltbilder der Schüler_innen gleichberechtigt nebeneinanderzustellen und jeweils wertzuschätzen (vgl. Koch/Trumm 2012, 226). So können die Schüler_innen Anerkennung erfahren wie die Figur Skellig auf textinterner Ebene: Sie werden in ihrem So-Sein angenommen und können für ihre Lesart Bestätigung erhalten. Dies kann sich
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insbesondere in Klassen mit benachteiligten oder einer Minderheit angehörenden Schüler_innen als von großem Wert für den Einzelnen erweisen; gleiches gilt gerade auch hinsichtlich der Entwicklungsstufe der sich möglicherweise in einer sensiblen Phase der Ich-Werdung befindlichen Schüler_innen. Insbesondere in der Sekundarstufe I ist der/m einzelnen Schüler_in als „Subjekt von Lernprozessen Bedeutung bei[zumessen]“ (Schubert-Felmy 2008, 105). Quasi probehandelnd üben Schüler_innen im Lektürevollzug über die Identifikation mit der Hauptfigur Michael, nicht nur Skellig, sondern auch ihren Mitschüler_innen gegenüber, die Anerkennung des außergewöhnlichen Anderen entgegenzubringen. Hier kann die Erfahrung eines akzeptierenden Umgangs mit dem Dazwischen und diverser Alterität fördernd in Bezug auf die Offenheit gegenüber Außergewöhnlichem wirken. Zeit des Mondes besitzt vor diesem Hintergrund auch Bildungspotenzial im Hinblick auf interkulturelles Lernen: „teaching children’s literature […] offers a fascinating platform for exploring questions of identity, values and worldviews, the basic ingredients for intercultural learning“ (Lütge 2013, 104). In ähnlichem Zusammenhang stellt Bredella über den Bildungswert von Literatur fest: „Was […] in der ästhetischen Erfahrung intensiviert zum Ausdruck kommt, gilt für das Verstehen des Anderen im Allgemeinen. Es bedeutet nicht, dass wir etwas nur zur Kenntnis nehmen, sondern dass wir darauf antworten, und daher erklärt sich auch, dass wir durch Verstehen verändert werden. Diese Veränderungen aufzuspüren und genauer zu erfassen, ist eine zentrale Aufgabe der Didaktik des interkulturellen und literarischen Verstehens.“ (Bredella 2010, XXXV)
Interkulturelle Kompetenz ist seit längerem in den Beschlüssen der Kultusministerkonferenz formuliertes Bildungsziel deutscher Schulen (vgl. KMK 2013), auf das fächerübergreifend hingearbeitet werden soll. Allerdings handelt es sich dabei um eine Cluster-Kompetenz, die verschiedene Teilkomponenten umfasst wie u.a. Offenheit, Empathiefähigkeit und Ambiguitätstoleranz (vgl. z.B. Straub/Nothnagel/ Weidemann 2010, 16ff.). Diese drei Teilkomponenten entsprechen den essentiellen Momenten der Auseinandersetzung mit dem vorliegenden Roman, wie oben dargelegt. In dieser Hinsicht reicht das Bildungspotenzial des Romans weiter, als gemeinhin mit dem „xenologischen Lesen“ (Rösch 2004, 38) von Texten, etwa im Fremdsprachunterricht, verbunden wird, wenn es beispielsweise darum geht, Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede zwischen – meist national gefassten – Kulturen zu referieren: Zeit des Mondes führt im Realbezug eine Welt vor, in der es Schulen und Krankenhäuser gibt, Familien alleine in einem Haus mit Garten wohnen, Kinder spielen können, Freund_innen haben, ungehorsam sein können und mit dem Bus zur Schule fahren. Da den Schüler_innen der Roman als Buch eines englischen Autors präsentiert wird, kategorisieren sie die gezeigte fiktive Welt folglich als englische. Eine kulturkontrastive Lesart würde nun interkulturelles Lernen darauf beschränken, den Roman als Abbild der sozio-kulturellen Realität Englands zu betrachten und zur Alltagsrealität der Schüler_innen in Beziehung zu setzen. Aller-
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dings läuft ein solcher Umgang mit Literatur leicht Gefahr, auf Kulturen als homogene Entitäten und damit auf ein beinahe überkommenes Kulturkonzept zu rekurrieren und könnte Stereotype und Vorurteile möglicherweise eher verfestigen. Der besondere Wert von Zeit des Mondes liegt demgegenüber gerade darin, dass der Text über Alterität und Unbestimmtheit bzw. Offenheit und Ambiguität, die ausgehalten werden müssen, ein interkulturelles Lernen im weiteren Sinne ermöglicht. 3.4
Ausdifferenzierung binärer Urteilspraktiken
Die Erkenntnis der Existenz und der Bedeutung des Dazwischen ist für die heutige Generation an Schüler_innen noch aus einem anderen Grunde relevant und stellt einen weiteren Bildungswert dar: Sie kann ihnen dabei helfen, die gemeinhin etablierte Bewertungslogik von „like/gefällt mir“ und „dislike/gefällt mir nicht“ sowie die Gut-und-Böse-Polarität zu transzendieren. Während letztere ihre Spannung aus dem Antagonismus der beiden Pole generieren, lebt die Spannung bei Zeit des Mondes vom Sonder- und Wunderbaren und vom Nicht-Wissen: Skellig ist, wie oben ausgeführt, nicht nur ein guter Engel, sondern auch ein garstiger alter Mann; Coot, der von Michael als Teufel gezeichnet wird, ist gleichzeitig auch einfach ein „bekloppte[r] Blödian“ (Zeit des Mondes, 172) und Freund Michaels; die Babyschwester wird nicht nur „Engel“ genannt, sondern auch „kleiner Teufel“ (ebd., 173); die Waldkäuze ernähren Skellig und sind gleichzeitig ihrer Natur als Raubvögel nach „Mörder“ (ebd., 157; vgl. auch Kap. 2.2). Es ist, wie Gadamer festgestellt hat, das „Zwischen […] der wahre Ort der Hermeneutik“ (Gadamer 2010, 300). Bei einer explizit vergleichenden Auseinandersetzung mit massenmedialen Bewertungsmustern sollte eine Abwertung von jugendkulturellen Bewertungspraktiken jedoch vermieden werden. 3.5
Offenheit gegenüber Unerklärlichem
Im Anschluss hieran lässt sich ein weiterer Gedanke ausformen, der mit Schüler_innen thematisiert und durch Übungen ergänzt werden kann: Das möglichst (vor-)urteilsarme Annehmen des Unerklärlichen und somit das bewusste Trennen von Wahrnehmen und Bewerten. Komplementär zur bereits beschriebenen Unbestimmtheit des Romans legt Zeit des Mondes den Rezipierenden nahe, Natur, Lebewesen und Welt so anzunehmen, wie sie jeweils sind. Dazu gehört das aufmerksame Beobachten und Wahrnehmen genauso wie das Sein-Lassen von Phänomenen, die wir anhand unserer gängigen Kategorien nicht nach Tier/Mensch, Nationalität oder Geschlecht einordnen können. Folgen wir diesem Gedanken, dann resultiert daraus ein Offensein für wunder-bare Phänomene im alltäglichen Leben bzw. sogar eine Hinwendung zur Spiritualität. Schneider regt deshalb an, mit Schüler_innen über in ihren Augen Unerklärliches zu sprechen (vgl. Schneider 2005, 55). Den entsprechenden, durch Shakespeares Hamlet sprichwörtlich gewordenen Gedanken hat
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David Almond kindgerecht explizit in den Roman eingebracht, wenn er Mina auf die Frage nach Skelligs Wesen erklären lässt: „Wir können es nicht wissen. Manchmal müssen wir einfach akzeptieren, dass es etwas gibt, was wir nicht wissen können. Warum ist deine Schwester krank? Warum ist mein Vater gestorben? […] Manchmal denken wir, wir sollten fähig sein, alles zu wissen. Können wir aber nicht.“ (Zeit des Mondes, 142)
Dieser Denkweise entsprechend wird an anderer Stelle auf die naturwissenschaftlich-materialistische Reduktion der Weltsicht als Gegenfolie Bezug genommen: „Sie [die Lehrerin] gab mir neue Arbeitsblätter. Da war ein aufgeschnittener Körper gezeichnet, dazu Pfeile, die auf die einzelnen Teile zeigten. Rasputin hatte notiert, ich solle die fehlenden Namen ergänzen. Mina und ich schauten zusammen die Zeichnung an. ‚Schienbein‘, sagten wir. ‚Wadenbein, Brustbein, Schlüsselbein, Speiche, Elle, Nieren, Leber, Lungen, Herz, Gehirn.‘ ‚Und ein Geist, der hineinspringt und hinausspringt, aber immer unsichtbar‘, sagte Mina.“ (ebd., 158)
Die achtsame Wahrnehmung der Welt des Romans gewinnt dann durch verschiedene Textstellen besondere Relevanz, wie der nachstehend wiedergegebene Gedankenfluss Michaels illustriert: „Ich beobachtete die Leute beim Ein- und Aussteigen. Ich schaute ihnen zu, wie sie Zeitung lasen oder ihre Nägel putzten oder verträumt aus dem Fenster sahen. Aber indem man sie beobachtet, kann man noch lange nicht sagen, was sie denken oder was sich in ihrem Leben ereignet. Auch wenn bekloppte oder betrunkene Menschen in den Bussen waren, Menschen, die sich dumm benahmen oder Quatsch redeten oder versuchten, einem alles über sich zu erzählen, wusste man trotzdem nicht wirklich etwas über sie. […] Ich wusste, auch wenn mich jemand anschaute, würde er genauso wenig von mir wissen.“ (ebd., 18)
In Verbindung mit dem o.g. Zitat Minas von Seite 142 zu den Vorstellungen, die wir uns machen, entsteht so eine Botschaft, die sich als Beobachten statt Bewerten im Sinne von (Vor-)Verurteilen auf den Punkt bringen ließe. Das heißt, all unsere Vorstellungen, die wir uns über andere machen, sind immer nur vorläufig. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, dass über das Äußere der Romanfiguren bis auf die holzschnittartige Schwarz-Weiß-Zeichnung der Schlüsselfiguren kaum etwas gesagt wird und stattdessen wiederholt auf die nach Innen weisenden Augen eingegangen wird. Hierauf die Aufmerksamkeit der Schüler_innen zu lenken, scheint in Zeiten der auf Äußerlichkeiten fixierten, bilderfokussierten Welt äußerst lohnend. Mit Übungen aus dem interkulturellen Training ließe sich das Trennen von Beobachten und Bewerten bzw. (Vor-)Verurteilen mit Schüler_innen vertiefend üben.
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Intertextuelle Spurenlese
Abschließend soll noch ein grundlegender Aspekt Erwähnung finden, der zum Bildungswert von Zeit des Mondes beiträgt. Dieser ist auf der Metaebene des Romans verankert und zielt auf die Vergesellschaftung und weltbürgerliche Enkulturation der Schüler_innen durch Literaturerwerb. Hier spielen dann die intertextuellen Referenzen durchaus eine Rolle als Anker des kulturellen Gedächtnisses (vgl. Assmann 1988, 15). So ist z.B. im kulturellen Gedächtnis britischer Schüler_innen William Blake als Lyriker repräsentiert, sodass die zahlreichen Verweise und Gedichtauszüge im Text diesen Horizont verdichten und das kulturelle Erbe perpetuieren. Deutsche Literaturdidaktik versteht sich dann auch als die Vermittlung des literarischen Welt-Erbes, zu dem neben Blake auch die bereits erwähnten griechischen Sagen gehören, und lässt Schüler_innen am europäischen Kulturgut (sowie potenziell den Meta-Diskursen darüber) teilhaben. Durch Hinzuziehen von deutscher und internationaler Lyrik insbesondere aus dem (neo-)romantischen Traditionszusammenhang, Fabeln, Märchen – etwa dem Kunstmärchen „Das fremde 8 Kind“ von E.T.A. Hoffmann – oder einfacheren Kurztexten des lateinamerikanischen magischen Realismus, zu denen der Romantext Bezüge nahelegt, könnte auf eine Vermittlung des deutschen und Weltliteraturerbes erweitert werden.
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Vgl. dazu auch die Hinweise von Carlo Brune und Ina Henke in diesem Band. Zudem s. Grimm (2012) und Richter (1987), der das Motiv des fremden Kindes über die Figur des Nothelfers in den Kinderunglücks-Geschichten der Aufklärung bis zum Kinderkult des 13. Jahrhunderts zurückverfolgt hat.
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Anselm, Sabine (2012): Ethische Bildung durch Wertereflexionskompetenz. Überlegungen zur Werteerziehung (nicht nur im Deutschunterricht). In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 2012/4, 401–415. Assmann, Jan (1988): Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Ders./Höllscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt, 9–19. Bausch, Petra (2008): Interkulturelle Kompetenzen mit Jugendliteratur fördern. In: Praxis Fremdsprachenunterricht 2008/6, 40–44. Bredella, Lothar (2010): Das Verstehen des Anderen. Kulturwissenschaftliche und literaturdidaktische Studien. Tübingen. Crossen, Carys (2014): ‘Something Like You, Something Like a Beast’: Gothic Convention and Fairy Tale Elements in David Almond’s Skellig. In: Abbruscato, Joseph/Jones, Tanya (Hg.): The gothic fairy tale in young adult literature: essays on stories from Grimm to Gaiman. Jefferson, 11–29. Dieterle, Bernard/Engel, Manfred/Lamping, Dieter/Ritzer, Monika (2001): KulturPoetik – eine Zeitschrift stellt sich vor. In: KulturPoetik 2001/1,1, 1–3. Gadamer, Hans-Georg (2010): Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen. Grimm, Sieglinde (2012): Erwachsenwerden zwischen Horror und Phantasie. In: Christian Exner/Bettina Kümmerling-Meibauer: Von wilden Kerlen und wilden Hühnern: Perspektiven des modernen Kinderfilms (Marburger Schriften zur Medienforschung). Marburg: Schüren, 270–291. Hachette Children’s Group: Pressestimmen zu David Almond: Skellig. (Verfügbar unter: https://www.hachettechildrens.co.uk/books/detail.page?isbn=9780340944950) (29.08.2017). Heinz, Susanne (2016): David Almond: Skellig. Teacher’s guide. Stuttgart. Heinz, Susanne (2015): David Almond: Skellig. Englische Lektüre für das 6. und 7. Lernjahr. Mit Annotationen und Zusatztexten. Niveau B2. Stuttgart. KMK – Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder (2013): Interkulturelle Bildung und Erziehung in der Schule. (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 25.10.1996 in der Form vom 05.12.2013). (Verfügbar unter: https://www.kmk.org/fileadmin/ Dateien/pdf/Themen/Kultur/1996_10_25-Interkulturelle-Bildung.pdf) (31.08.2017). Koch, Corinna/Trumm, Tanja (2012): Vom Wert der Grenze und von der Grenze des Werts. In: Dies./Geldmacher, Miriam/Hodaie, Nazli/Riedel, Margit (Hg.): Werte – Worte – Welten. Werteerziehung im Deutschunterricht. Baltmannsweiler, 219–234. Latham, Don (2006): Magical Realism and the Child Reader: The Case of David Almond's Skellig. In: The Looking Glass: New Perspectives on Children's Books, 2006/10,1. (Verfügbar unter: https://web.archive.org/web/20080325073415/ http://tlg.ninthwonder.com/rabbit/v10i1/alice1.html) (29.08.2017). Latham, Don (2008): Empowering Adolescent Readers: Intertextuality in Three Novels by David Almond. In: Children’s Literature in Education 2008/39, 213–226. Levy, Michael (2003): Children and Salvation in David Almond’s Skellig. In: Foundation 2003/88, 19–25. Lütge, Christiane (2013): Otherness in Children’s Literature: Perspectives for the EFL Classroom. In: Bland, Janice/Dies. (Hg.): Children’s literature in second language education. London, 97–105. Olsen, Ralph (2011): Das Phänomen Empathie beim Lesen literarischer Texte. Eine didaktischkompetenzorientierte Annäherung. In: zeitschrift ästhetische bildung 2011/3,1, 1–16.
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Nicht-Wissen und dessen Überwindung als Reflexionsmoment Erpenbecks Flucht-Roman Gehen, ging, gegangen als Gegenstand einer wissenspoetologisch orientierten Literaturdidaktik Wiebke Dannecker Während das Feuilleton in den 1990er Jahren der Gegenwartsliteratur attestierte (zu) unpolitisch zu sein, spielen im aktuellen literarischen Diskurs politische Inhalte wieder zunehmend eine Rolle. Exemplarisch seien drei aktuelle Romane genannt: Juli Zeh legt mit Leere Herzen (2017) nach Corpus Delicti (2009) erneut einen dystopischen Roman vor, wobei Leere Herzen die Frage nach der politischen Mitbestimmung des Individuums angesichts gesellschaftlicher Desillusionierung und pragmatischem Zynismus in einer nahen Zukunft stellt. Uwe Timms Roman Ikarien (2017) thematisiert die Frage, wie die Erkenntnisse der Eugenik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zur leitenden Gesellschaftsidee werden konnten, und damit die Frage danach, wie naturwissenschaftliche Forschung nicht nur der Erkenntnis, sondern auch einem Gewissen bzw. der Empathie verpflichtet sein sollte. 1 Jenny Erpenbeck führt mit ihrem Roman Gehen, ging, gegangen (2015) erzählerisch den Erkenntnisprozess der Hauptfigur Richard vor, die in Deutschland lebt und in Gesprächen mit Menschen auf der Flucht ein tieferes Verständnis von den Bedingungen und Ursachen transkultureller Migrationsdynamiken erwirbt und sich daraufhin für die Belange dieser Gruppe von Menschen engagiert. Erpenbecks Flucht-Roman, der 2015 erschien, wurde sogleich rezensiert als „Roman der Stunde“ (Hammelehle/Keller 2015, o.S.), als „brandaktueller Tatsachenroman“ (Apel 2015, o.S.) bzw. als „Roman zur politischen Situation“ (Lühmann 2015, o.S.). In einem Interview mit dem Tagesspiegel bestätigt Erpenbeck ihre politische Intention als Beweggrund für ihr Schreiben: „Ich kann doch mich als politisch denkenden Menschen nicht von mir als einer Schreibenden trennen. Ganz im Gegenteil.“ (Jenny Erpenbeck im Interview mit Gerrit Bartels 2019, o.S.). Dementsprechend verweist die Autorin, deren Romanneuling lange Zeit auf den Bestseller-Listen sowie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2015 platziert war, im Paratext zum Roman auf die Möglichkeit für Geflüchtete in Berlin zu spenden (GGG, 351). Dieser politischen Intention weiter folgend, spricht sich Erpenbeck in einem Interview zu Gehen, ging, gegangen für politische Implikationen als unmittelbare Wirkungsintention aus, indem sie sich auf die realpolitische Forderung festlegt: „Macht 1
Im Folgenden gekennzeichnet mit der Sigle GGG.
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die Grenzen auf!“ (Jenny Erpenbeck im Interview mit Ijoma Mangold 2015, o.S.). Während Autor_innen, wie Jean Paul Sartre, Martin Walser oder Günter Grass, seit den 1960er Jahren ihre Literatur programmatisch mit Engagement verbanden, lässt sich mit Wegmann bezüglich der politischen Dimension der Gegenwartsliteratur festhalten: „Literatur wird und wirkt wie die anderen Künste somit tatsächlich gesellschaftsbildend, wenn auch vielleicht nicht im Sinne der damals engagierten Akteure, sondern durch kreative, also immer wieder neue, auf ständige Innovation angewiesene Verschaltung von Subjekt und System.“ (Wegmann 2016, 226)
Damit ist die Innovation auch auf die formal-ästhetische Gestaltung der Texte bezogen, welche die Lesenden von der Reflexion über die eigene Wahrnehmung zur kritischen Reflexion sowie Selbstverständigung hinsichtlich eines individuellen und gemeinschaftlich geteilten Wissens zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu führen vermag. Inwiefern also ein Roman wie Erpenbecks Gehen, ging, gegangen, der den Umgang mit transkulturellen Migrationserfahrungen zum Thema hat, ein Unterrichtsgegenstand sein kann, der einen Beitrag dazu leistet, Wertewelten zu verbinden und bezogen auf literarische Bildungsprozesse den Fokus auf ethische Fragestellungen und deren Beurteilung zu lenken (vgl. Anselm 2017, 9), soll im Folgenden thematisiert werden. Dazu wird Bezug genommen auf die Rolle der Lite2 ratur als „Wissensvermittlerin“ (Thielking 2006, 57). Dies umfasst die Frage, inwiefern in Erpenbecks Roman (Nicht-)Wissen über subjektive Erfahrungen von Flucht und ihren Bedingungen dargestellt und mittels der formal-ästhetischen Gestaltung reflektiert wird. Als literaturdidaktische Konzeption ist ein wissenspoetologisch orientierter Zugang noch neu (vgl. dazu Dannecker/Grobenski 2018), daher sollen im Folgenden anschließend an die Analyse von Erpenbecks Gehen, ging, gegangen die konzeptionellen Grundlagen dieses Ansatzes sowie sein Bezug zur Critical Literacy erörtert werden. Dazu werden die Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Fragebogenerhebung mit Studierenden im Master of Education des Faches Deutsch herangezogen. Davon ausgehend wird skizziert, wie sich dieser Ansatz für die Planung und Gestaltung eines Literaturunterrichts für die Sekundarstufe II nutzen ließe, der die „wissensgenerierenden Leistungen literarischer Formen“ (Bies/Gamper/Kleeberg 2013, 15) fokussiert.
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Aus hochschuldidaktischer Perspektive forderte Sigrid Thielking bereits 2006 die Berücksichtigung von „Überlegungen zum Stellenwert der Literatur als Wissensvermittlerin, die weiter zu bedenken wären“ (Thielking 2006, 57).
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Von der Überwindung von Nicht-Wissen erzählen – Erpenbecks Gehen, ging, gegangen
Angesichts der gesellschaftlichen Umwälzungen, die sich in den letzten Jahren durch die vermehrt zu beobachtenden transnationalen Migrationsschübe ergeben haben und die in der medialen Berichterstattung für Europa als ‚große Zäsur‘ und krisenhafter Moment ausgelegt wurden (vgl. Feldenkirchen 2015, 6), erzählt Erpenbecks Gehen, ging, gegangen aus der Perspektive der im Zufluchtsland Lebenden. Der Roman führt den Erkenntnisprozess der Hauptfigur über die Bedingungen von transkulturellen Migrationsdynamiken von Unkenntnis hin zur Informiertheit vor. Der Text kann insofern als ein Beispiel für die literarische Darstellung der Überwindung von Nicht-Wissen durch Reflexion genannt werden (vgl. auch Dannecker 2017a). Dazu inszeniert die Autorin die Hauptfigur Richard als zunächst unwissend bezüglich der Prozesse und Dynamiken ‚erzwungener‘ oder ‚irregulärer‘ Migration und führt die Überwindung von Nicht-Wissen als Bildungsprozess der Hauptfigur im Rahmen einer programmatischen Aussage vor. Mit dieser Intention erzählt Erpenbecks Roman vom Schicksal einer Gruppe Geflüchteter, die vom Oktober 2012 bis zum April 2014 gegen den Umgang mit Asylbewerbern in Deutschland und damit gegen die Unterbringung in Heimen, gegen Abschiebungen, das Arbeitsverbot und die Residenzpflicht protestierten. Diese Gruppe machte mit ihrem Protest-Camp am Oranienplatz in Berlin auf sich und ihre Anliegen aufmerksam. Als Rezipient_innen erfahren wir von den jungen Männern und ihren Schicksalen aus der Sicht der Figur Richards, eines Berliner Alt-Philologen, der nach seiner Emeritierung seinen Auszug aus dem Büro abwickelt und damit als Fortgehender selbst sein Fortgehen organisieren muss. Beim Weg nach Hause, hinaus aus der Stadt, übersieht er zunächst die Gruppe junger Männer auf der Flucht. Erst in den Abendnachrichten wird der Emeritus auf die Gruppe aufmerksam. Auf einem Pappschild haben sie ihr Anliegen formuliert: „We become visible. […] Wir werden sichtbar. Warum hat er die Demonstration nicht gesehen? Das erste Brot hat er mit Schnittkäse belegt, nun kommt das zweite, mit Schinken. Manchmal schon hat er sich dafür geschämt, dass er Abendbrot isst, während er auf dem Bildschirm totgeschossene Menschen sieht, […] und isst trotzdem weiter, wie sonst auch.“ (GGG, 27)
Die Männer, die mitten in Berlin dafür demonstrieren, im öffentlichen Bewusstsein wahrgenommen zu werden und sich entschieden haben zu schweigen (vgl. GGG, 18), wecken Richards Interesse. Schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Erzählung deutet sich Erpenbecks erzählerische Intention an, auf moralischer Ebene für eine kritische Aufmerksamkeit zu plädieren.
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Das fragend-forschende Interesse als Ausgangspunkt für die Überwindung von Nicht-Wissen
Als Emeritus mit viel Zeit ausgestattet (vgl. GGG, 9), entscheidet sich Richard dazu, die Geflüchteten zu interviewen und damit seinem forschenden Interesse zu folgen: „Um den Übergang von einem ausgefüllten und überschaubaren Alltag in den nach allen Seiten offenen, gleichsam zugigen Alltag eines Flüchtlingslebens zu erkunden, muss er wissen, was am Anfang war, was in der Mitte – und was jetzt ist“ (ebd., 51). Er, der in seinem Beruf stets Wissen vermittelte, ist nun in der Rolle des Lerners, der einen Fragenkatalog erarbeitet und „bis abends um acht oder neun“ (ebd.) liest. Richard macht sich Notizen zu den Herkunftsländern und Sprachen der Männer (vgl. ebd., 61f.), die nach Verlassen des Oranienplatzes in einem ehemaligen Altersheim „nur provisorisch untergebracht“ (ebd., 57) sind. Richard befragt die Männer zu ihren Motiven für die Flucht, aber auch zu ihren Wünschen und Zukunftsplänen und lässt sie über ihre Herkunftsländer Ghana, Sierra Leone und Niger sowie über kulturelle und religiöse Traditionen berichten (vgl. ebd., 126): Raschid erläutert Richard etwa die fünf Säulen des Islams (vgl. ebd., 107) und Richard lernt über das Nomadentum der Tuareg, dass diese ihr Wissen über die Wüste in Erzählungen weitergeben (vgl. ebd., 187). Awad erzählt Richard von den Kriegserlebnissen und seiner Ankunft in Italien, wo ihn „sempre poco lavoro“ (ebd., 81) dazu zwingt, weiterzuziehen. Mit seinem Engagement bewegt sich Richard nicht nur räumlich hinaus aus der „Welt, in der er sich auskennt“ (ebd., 72). Hatte er vor seiner Emeritierung eine Vorlesung mit dem Titel „Über Sprache als Zeichensystem“ (ebd., 43) gehalten, beteiligt er sich nun am Sprachunterricht für die Geflüchteten, indem er einen Konversationskurs anbietet (ebd., 155). Durch das von Erpenbeck inszenierte fragend-forschende Interesse, das zu Austausch und Begegnung mit den Männern führt, überwindet die Hauptfigur Richard ihre ‚Uninformiertheit‘ bezüglich eines Wissens über die Motive und die Umstände einer Flucht nach Deutschland. Dies wird im Text markiert durch die wiederkehrende Dokumentation des Erkenntnisprozesses eines im Zufluchtsland Lebenden: „Richard versteht“ (ebd., 85), „Richard liest und liest“ (ebd., 180). Außerdem spricht Richard mit seinen Freunden über die Ausbeutung Afrikas (vgl. ebd., 181) und kauft einem der Männer ein Grundstück in Ghana (vgl. ebd., 278). Schließlich lädt Richard Raschid zu Weihnachten zu sich nach Hause ein (vgl. ebd., 234f.), denn er „weiß, dass er zu den wenigen Menschen auf dieser Welt gehört, die sich die Wirklichkeit, in der sie mitspielen wollen, aussuchen können“ (ebd., 271). Richard erkennt dies als Privileg und reflektiert zugleich dessen Kontingenz, da für ihn „der Gedanke an die immerwährende Bewegung, an die Flüchtigkeit aller menschlichen Ordnungen und an die prinzipielle Umkehrbarkeit aller Verhältnisse schon immer selbstverständlich gewesen“ (ebd., 297f.) ist. Damit stellt Erpenbeck den Erkenntnisprozess Richards, der schließlich zu einer kritischen Bestandsaufnahme seines bisherigen Wissens
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über die Beweggründe für und Bedingungen von Flucht und damit zu einer Überwindung seines Nicht-Wissens führt, als idealtypisch heraus. Indem Richard seine Unwissenheit überwindet und die Grenzen des Gewohnten durchbricht, findet er schließlich auch zu einer Auseinandersetzung mit seiner eigenen Geschichte und seinem fehlenden Mut angesichts der Herausforderungen des Lebens: „Damals, glaube ich, sagt Richard, ist mir klargeworden, dass das, was ich aushalte, nur die Oberfläche von all dem ist, was ich nicht aushalte“ (ebd., 348). So lässt sich die Darstellung von Richards Gefühlsleben als Odyssee jenseits alltäglicher Abläufe und bewährter Routinen beschreiben – wahrscheinlich ist das Homerische Epos nicht zufällig der Lieblingstext des Protagonisten (ebd., 29). Während das Leben des Berliner Alt-Philologen auf den ersten Blick als in geordneten Bahnen verlaufend dargestellt wird – er war verheiratet und hatte sich das Leben mit seiner Frau im eigenen Haus am See eingerichtet, war am Institut beliebt und ist als Redner auch nach der Emeritierung noch gefragt – so wird dieses Leben auf den zweiten Blick jenseits seiner bildungsbürgerlichen Fassade als eine Irrfahrt der Gefühle inszeniert – reichend von einem versagten Kinderwunsch und hin zu einer Flucht in Affären ohne glücklichen Ausgang. Erst die Begegnung mit den geflüchteten Männern, die sich in einem Protestcamp mitten in Berlin organisieren, wird für Richard zum Anlass, sein Gefühlsleben neu zu ordnen. So könnte man diesbezüglich einen Verweis Erpenbecks auf die antike Versdichtung Homers im Text erkennen, die von der abenteuerlichen Flucht Odysseus' über das Meer erzählt, der schließlich nach mehreren Irrfahrten nach Hause zurückkehrt (vgl. Homer 1990, 1–21). Der Roman erzählt damit vom Erkenntnisprozess Richards in didaktischer Absicht: Ein gutbürgerlich situierter Mann bemüht sich um Verständnis für die Flüchtlinge, beteiligt sich am Sprachunterricht, nimmt die Flüchtlinge bei sich auf und stellt ihnen Fragen zu ihrer Vergangenheit, ihren Gewohnheiten und ihren Wünschen. Zugleich wird die Beobachtung Richards, dass sich durch seine Gespräche mit den Menschen auf der Flucht „Blickwinkel und Maßstab“ (GGG, 71) seiner bisherigen Weltsicht verschoben haben, zur programmatischen Aussage des Romans. Dabei betont die Autorin die Bedeutung des Wissens, das sich Richard angeeignet hat, denn „erst heute, durch den kleinen Anteil an Wissen, der ihm nun zufliegt, mischt sich alles anders und neu“ (ebd., 177). Erpenbeck führt demzufolge erzählerisch die Überwindung von Nicht-Wissen und eine engagierte Auseinandersetzung mit den Beweggründen für die Flucht der Männer und die dadurch bei Richard angestoßene Reflexion des eigenen Lebens als Flucht vor. Somit zeigt der Roman Erkenntnisprozesse der im Zufluchtsland Lebenden in zweierlei Hinsicht: erstens die Überwindung von Nicht-Wissen hinsichtlich der Bedingungen von transkulturellen Migrationsdynamiken und zweitens die Auseinandersetzung mit den Ordnungskategorien und Routinen, die das Leben der Gastrecht Gewährenden bisher konturiert haben und die durch die Überwindung jenes Nicht-Wissens ins Wanken geraten.
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So ließe sich festhalten, dass mit dem Titel Gehen, ging, gegangen nicht nur auf die Fluchtbewegung der Männer, deren Unterbringung in alternativen Wohnräumen Richard nach deren Ausweisung organisiert, verwiesen wird, sondern auch auf den Eintritt Richards in den Ruhestand und auf die Frauen, die Richard verlassen haben. Die Auflistung der unregelmäßigen Verben gehen, ging, gegangen und sehen, sah, gesehen (vgl. GGG, 65), ist als Verweis auf die Ordnungsbezogenheit des bisherigen Lebens des Philologen Richards zu lesen. Auf eine Überschreitung der Ordnung durch das Gehen folgt, spinnt man diese Überlegung weiter, ein neuer Blick auf die Welt. Eine Neuordnung seines Lebens wird erst durch das genaue Hinsehen, auf das die Wiederholung der Verbfolge „sehen, sah, gesehen“ (ebd., 69) verweist, möglich. 1.2
Von Flucht erzählen – zwischen politischem Engagement und erzählerischem Anspruch
Gegenüber den Romanen Heimsuchung (2008) und Aller Tage Abend (2012) erzählt Erpenbeck in Gehen, ging, gegangen vergleichsweise konventionell. Während beispielsweise in Heimsuchung die Figuren nur teilweise voneinander wissen und die angesprochenen historischen Ereignisse und Lebenswelten jeweils streng aus der Sicht der einzelnen Figuren präsentiert werden (vgl. Köhler 2013, 237), so hält Hermes in Bezug auf Gehen, ging, gegangen Folgendes fest: „Fokalisierungsinstanz der heterodiegetisch vermittelten Narration bleibt größtenteils der Protagonist Richard“ (Hermes 2016, 181). Damit werden die Gefühle und inneren Beweggründe der Menschen auf der Flucht im Gespräch mit Richard in erlebter Rede wiedergegeben: „Der Junge schweigt. Warum sollte er einem fremden Mann sagen, dass er nicht weiß, warum er nie Eltern hatte? Wenn man weiß, wie die Dünen wandern, kann man den Sand unter dem Sand wiedererkennen“ (GGG, 67). Damit folgt Erpenbeck dem Anspruch, dass sich das innere Erleben der Figuren afrikanischer Herkunft nur im Sinne einer „Einfühlungsästhetik“ (Hamann/Timm 2003, 452) realisieren ließe, welche Hamann und Timm zufolge aus einer postkolonialen Perspektive abzulehnen sei (vgl. ebd.). An einer weiteren Stelle wird das Erzählte nicht aus Richards Sicht dargestellt, wenn nämlich Awad die Folgen der Flucht schildert: „Seit halb vier Uhr in der Frühe geht das schon so, schwindelig ist ihm vor Müdigkeit, und doch muss er seinen Kopf hergeben für dieses wildgewordene Denken, muss denken und will nicht, muss sich erinnern und will nicht, seit halb vier Uhr in der Frühe ist ihm übel von diesem Denken und diesem Erinnern, das seinen Kopf besetzt hat, seit halb vier Uhr früh ist er schon wach, erst hat er auf dem Bettrand gesessen und gehofft, dass es irgendwann wieder aufhört und er einschlafen kann.“ (GGG, 164)
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Doch auch wenn die Fokalisierungsinstanzen des Erzählten wechseln, so bleibt es Richard, der die Berichte der geflüchteten Menschen kommentiert und bewertet. In diesem Zusammenhang ist wiederholt auf die Zuschreibungen von Eigenschaften und Namen für die Gruppe Geflüchteter durch Richard als Zugehöriger einer privilegierten Mehrheitsgesellschaft hingewiesen worden. So nennt er Raschid „Olympier“ bzw. „Blitzschleuderer“ (ebd., 115), Awad ist für ihn „Tristan“ (ebd., 84), Rufu nennt er „der Mond von Wismar“ (ebd., 191), andere werden als „Apoll“ (ebd., 84) oder „Hermes“ (ebd., 189) bezeichnet. Dies wird im Roman damit erklärt, dass „es Richard schwer fällt, sich die fremden Namen der Afrikaner zu merken“ (ebd., 84). Aufgrund der Zuschreibungen werde allerdings, Steidl zufolge, eine koloniale Haltung suggeriert, mit welcher der Protagonist den einzelnen Personen die Individualität abspräche (vgl. dazu Steidl 2017). Damit korrespondiere, Hermes zufolge, die dominante Konzeptualisierung von Blackness im Roman, da von „schwarzen Gestalten“ (GGG, 35) oder „kohlrabenschwarzen“ (ebd., 155) Menschen die Rede sei. Dies verweise auf die Grenzen der Repräsentation von Afrikaner_innen, die sich erstaunlicherweise auch in deutschsprachigen Medien zeige (vgl. Hermes 2016, 183). Dies ist angesichts der angesprochenen Problematik eines Erzählens, das Menschen auf der Flucht keine Stimme gibt, zunächst problematisch, doch wird diese Einschränkung von der Autorin mit der Wahl der Figur Richards als dominierende Fokalisierungsinstanz begründet (Döhner 2018, o.S.). Zudem problematisiert der Roman Migration als Schwellenerfahrung, bei der die Schwelle „einen Zwischenort, eine Zwischenzeit und einen Zwischenzustand“ (Waldenfels 2015, 219) für beide Seiten, die aus den Herkunftsländern Geflüchteten und in den Zufluchtsländern Lebenden, bildet. Erpenbeck überträgt Richards Fremdheitserfahrungen in eine mythologische Alterität, die zunächst jedoch unreflektiert bleibt: So nimmt der Roman nicht nur Bezug auf mythologische Erzählungen, sondern geht auch auf Werke des europäischen Bildungskanons (Homer, Horaz, Seneca, Shakespeare, Bach, Goethe, Mozart) ein (vgl. Hermes 2016, 182f.). Diese Verweise auf einen eurozentrischen Bildungskanon markieren den Gegensatz zwischen den Kulturen. Wird auf der einen Seite die Nähe eines emeritierten AltPhilologen zur europäischen Literatur verdeutlicht, so wird auf der anderen Seite eine ‚Ihr-Identität‘ (vgl. ebd., 186) geschaffen, über deren kulturelles Erbe nur in Ansätzen erzählt wird. Allerdings differenziert eine andere Stelle im Roman das Motiv einer solchen Grenzziehung zwischen ‚Wir‘ und den ‚Anderen‘ wie folgt: „Zum ersten Mal kommt ihm der Gedanke, dass die von den Europäern gezogenen Grenzen die Afrikaner eigentlich gar nichts angehen. Kürzlich hat er, als er die Hauptstädte gesucht hat, wieder die schnurgeraden Linien im Atlas gesehen, aber erst jetzt wird ihm klar, welche Willkür da sichtbar wird an so einer Linie.“ (GGG, 66)
Auch hier zeigt sich eine Überwindung von Nicht-Wissen, indem schon das erste Gespräch mit den Geflüchteten erzählerisch als Reflexionsmoment Richards insze-
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niert wird. Später gelingt es Richard zudem, die Kontingenz nationalstaatlicher Grenzziehungen auf das Zusammenleben im Zufluchtsland zu übertragen: „Eine Grenze, denkt Richard, kann also auch plötzlich sichtbar werden, kann plötzlich an einem Ort erscheinen, wo sonst nie eine war – was in den letzten Jahren an den Grenzen Libyens ausgefochten wurde oder an den Grenzen Marokkos oder Nigers, findet nun mitten in Berlin-Spandau statt.“ (ebd., 259)
So vollzieht Richard einen Lernprozess in Bezug auf die Bedingungen und Erfahrungen von erzwungener Migration, der als Bildungsprozess der Hauptfigur und als programmatische Aussage des Romans vorgeführt wird. Dazu inszeniert Erpenbeck die Hauptfigur Richard als „wenig reflektierten ‚Gutmenschen‘“ (Hermes 2016, 182), dessen Vorstellungen über Menschen afrikanischer Herkunft zunächst von einem Gefangensein im eurozentrischen Weltbild geprägt sind, das Züge des Exotismus aufweist, wenn er sich etwa in die schöne Sprachlehrerin verliebt. Jenes Weltbild wird allerdings durch das fragend-forschende Interesse, die Aneignung von Wissen und die Annäherung im Gespräch überwunden. Demzufolge wird auf inhaltlicher Ebene der Prozess der Überwindung von Nicht-Wissen als idealtypisch herausgestellt, der schließlich darauf abzielt, anthropologische Grunderfahrungen wie Liebe, Verlust und Begegnung als verbindendes Element zu benennen. Eine solche Überwindung von Nicht-Wissen ließe sich als Wert verstehen, den literarische Texte als Reflexionsangebot auf zwei Ebenen bereitstellen: zunächst auf der Ebene der Darstellung (die Dimension des Inhalts und der formal-ästhetischen Gestaltung betreffend) und sodann auf der Ebene der Rezeption der Lesenden eines solchen Textes. Geht man davon aus, dass eine solche doppelte Reflexion der Überwindung von Nicht-Wissen (text- und leser_innenseitig) durch Erpenbecks Gehen, ging, gegangen angestoßen werden kann, so wird deutlich, inwiefern Literatur als Reflexionsmoment der Überwindung von Nicht-Wissen bzgl. transnationaler Migrationsdynamiken fungieren kann. Die Frage nach der Entstehung von Wissen und seinen sozialen und diskursiven Zusammenhängen wirft die Fragestellung auf, ob und inwiefern Literatur, Kultur und Theater ein Ort der Wissenszirkulation, -repräsentation und -reflexion sein können. Damit wird eine Diskussion aufgegriffen, die in den 1990er Jahren Foucaults Ansatz von diskursiven Ordnungen aufnahm und sie zu einer Poetologie des Wissens transformierte. Diese wissen(-schaft)stheoretische Entwicklung beruht auf der Annahme, dass Wissen „über Äußerungsweisen verschiedener Ordnung und Art […] in einem literarischen Text, in einem wissenschaftlichen Experiment, in einer Verordnung oder in einem alltäglichen Satz gleichermaßen“ (Vogl 1999, 11) erscheint. Diesen Überlegungen folgend, wird hier literarästhetisches Lernen verstanden als eine Auseinandersetzung mit dem literarischen Text unter Berücksichtigung seiner formal-ästhetischen Gestaltung, die eine Reflexion von bestehenden Gewissheiten, Meinungen und medial vermittelten Denkrahmen
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anzuregen vermag (vgl. Dannecker 2017a, 69). Damit wäre die Rolle von Literatur als Wissensvermittlerin und Reflexionsmoment charakterisiert, womit sich wiederum das „Potenzial für ethische Bildungsprozesse“ (Anselm 2017, 9) beschreiben lässt.
2.
Literatur als Reflexionsmoment – Critical Literacy als Zielperspektive einer wissenspoetologisch orientierten Literaturdidaktik
Nicht nur angesichts der derzeitigen Diskussion um alternative Fakten und der Gefahr, dass den im Internet nach Informationen Suchenden lediglich solche Wissensbestände präsentiert werden, die sich aus vorherigen Suchanfragen ergeben, rückt die Dringlichkeit der Vermittlung einer kritisch-reflektierenden Haltung und der Fähigkeit zur Reflexion und Bewertung von Informationen als Zielperspektive des Deutschunterrichts in den Vordergrund. Dies bezieht sich nicht nur auf die inhaltliche Ebene eines literarischen Textes, sondern auch auf dessen formalästhetische Gestaltung und demzufolge auf die Kongruenz von Inhalt und Form. In Abgrenzung zum kritischen Lesen, das in Deutschland in den 1970er Jahren auf die Entlarvung ideologischer Inhalte abzielte, geht der Critical-Literacy-Ansatz davon aus, dass die Schüler_innen anhand von Texten lernen, ihre eigenen Vorstellungen und Standpunkte zu einem Thema in Frage zu stellen. Ein solches kompetenzorientiertes Verständnis zielt auf die Aneignung einer kritischen Lesehaltung, die eine Reflexion über die sozialen Verhältnisse und das Moment der Agency mit einbezieht (vgl. Dannecker 2017b, 135). Dies stellt eine Erweiterung der lesesozialisationstheoretisch begründeten Lesekompetenzmodelle dar (vgl. Dannecker 2018), die ihrerseits hinsichtlich des Lesens und Verstehens literarischer Texte für eine Erweiterung des funktionalen Verständnisses von PISA plädieren (vgl. Hurrelmann 2002, 18; Garbe/Holle 2007, 110f.; Rosebrock 2005, 255). Geht man überdies, dem kulturwissenschaftlichen Ansatz Abrahams folgend, von einer anthropologischen Dimension literarischen Lernens aus, welche dessen individuelle, soziale und kulturelle Bedeutsamkeit in den Vordergrund rückt, so eignet sich die Auseinandersetzung mit literarischen Texten dazu, Facetten des Menschseins zu reflektieren (vgl. Abraham 2015, 8ff.). Abraham bestimmt die kulturelle Funktion literarischen Lesens so: „Literatur sammelt, verarbeitet und perspektiviert das kollektive Wissen einer Kultur über sich selbst; sie ist so betrachtet zum einen ein Wissensspeicher, zum andern eine Art Vergrößerungsglas für die scheinbaren Kleinigkeiten, aus denen sich der Alltag der Menschen einschließlich ihrer gedanklichen Welt zusammensetzt.“ (ebd., 8)
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Literarischen Texten wird demzufolge das Potenzial zugesprochen, die Pluralität von Lebensentwürfen und die damit verbundenen Anforderungen an die Persönlichkeitsentwicklung Jugendlicher zu thematisieren und damit eine Reflexion stereotyper Zuschreibungen, sei es in Bezug auf sozial konstruierte Kategorien wie beispielsweise sozio-kulturelle Herkunft, Behinderung oder Gender. Der CriticalLiteracy-Ansatz zielt darauf ab, dass die Lesenden lernen zu reflektieren: „how texts work, understanding and re-mediating what texts attempt to do in a world and to people and working students toward active position-takings with texts to critique and reconstruct the social fields in which they live“ (Luke 2000, 453). Allerdings bezieht sich der Ansatz auf unterschiedliche Textformen und berücksichtigt nicht die Poetizität literarischer Texte. Daher wird hier dafür plädiert, diesen Ansatz im Sinne einer wissenspoetologisch orientierten Perspektive zu ergänzen. Aus literaturdidaktischer Sicht ist der Wissensbegriff bisher insbesondere im Zusammenhang mit der Kompetenzorientierung in die didaktische Diskussion eingeflossen (vgl. dazu Möbius/Steinmetz 2016 sowie Pieper/Wieser 2011). Diesen Zugriffen liegt die Annahme einer Wissenspräsupposition literarischen Verstehens zugrunde, also die Vorstellung, dass ein textseitig begründbares Verständnis immer auch textspezifische Wissensbestände erfordert. In Erweiterung dazu erweist sich die Konzeptualisierung einer wissenspoetologisch ausgerichteten Literatur- und Kulturdidaktik als produktiv, da so ausgehend von einer genauen Textlektüre und der Analyse der Textgestaltung untersucht werden kann, inwiefern das im literarischen Text dargestellte Wissen inszeniert wird, um zu einer Reflexion des Dargestellten – beispielsweise Nicht-Wissen über Fluchtphänomene und deren Überwindung zu Beginn des 21. Jahrhunderts – anzuregen (vgl. Dannecker/Grobenski 2018). Diesen Überlegungen eines wissenspoetologischen Zugangs zu literarischen Texten folgend lässt sich bei der Auseinandersetzung mit Erpenbecks Roman fokussieren, inwiefern dieser Text (Nicht-)Wissen in Bezug auf transnationale Migrationsdynamiken darstellt und reflektiert. Im Gegensatz zu einer Vorstellung, die Nicht-Wissen abwertend als Abwesenheit von Wissen versteht, wird hier das schöpferische Potenzial von Nicht-Wissen zu einer Überwindung desselbigen hervorgehoben. Definiert man „Nicht-Wissen eher als Abjekt von gesetzten Ordnungen“ (Gamper 2012, 14; vgl. auch Kristeva 1982), so lässt sich untersuchen, inwiefern das Vergessene, Verdrängte, Überwundene, Weggeschobene von Wissenskonzep3 ten als eine Quelle für die Hervorbringung neuen Wissens angesehen werden kann.
3
Unter dem Begriff Abjekt ließe sich Kristeva folgend verstehen: ”A ‘something‘ that I do not recognize as a thing. A weight of meaninglessness, about which there is nothing insignificant, and which crushes me“ (Kristeva 1982, 2). Darin heißt es weiter: „It is not a lack of cleanliness or health that causes abjection but what disturbs identity, system, order. What does not respect orders, positions, rules. The in-between, the ambiguous, the composite” (ebd., 4).
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In Anlehnung daran ist Gamper zufolge „Nicht-Wissen […] also nicht bloß die – negativ oder positiv adressierte – Kehrseite von Wissen; vielmehr erscheint es als ein dynamisches Konglomerat von Objekten und Praktiken, von dessen Irritationspotenzial wesentliche Impulse für die Bewegungen in den Formationen des Wissens ausgehen.“ (Gamper 2012, 14)
Überdies sei die Unterscheidung von prinzipiell überwindbarem und nichtüberwindbarem Nicht-Wissen, Gamper weiter folgend, bedeutsam. So zeige sich in den drei Varianten des Nicht-Wissens, erstens der ‚Uninformiertheit‘, die sich durch die Aneignung von Fakten überwinden ließe, zweitens der ‚Ignoranz‘, die sich auch als Nicht-Wissen-Wollen beschreiben ließe, und drittens dem ‚strukturellen NichtWissen‘, eine notwendige Unterscheidung hinsichtlich der Abwesenheit von Wissen (vgl. ebd., 11). Die erste Variante wird in Erpenbecks Roman erzählerisch am Beispiel der Hauptfigur Richard dargestellt. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Text ist etwa im Deutschunterricht herauszuarbeiten, dass die Überwindung von Nicht-Wissen durch eine dialogische Begegnung und vertiefte Auseinandersetzung mit den Motiven und Bedingungen transnationaler Migrationsbewegungen zu einer Reflexion der bisher als unumstößlich geglaubten Gewissheiten bezüglich der eigenen Lebensgestaltung führen kann. Indem die Autorin im Paratext auf Interviews verweist, die sie mit Geflüchteten geführt hat, und dem Roman damit eine Aura des Dokumentarisch-Authentischen verleiht (vgl. Neumann 2015, o.S.), wird auf der Ebene der Gestaltung die von Wegmann geforderte „kreative, also immer wieder neue, auf ständige Innovation angewiesene Verschaltung von Subjekt und System“ (Wegmann 2016, 226) realisiert, wie oben dargestellt. Außerdem werden die Schüler_innen durch die Lektüre des Textes dazu angeregt, das Dargestellte zu reflektieren und auf ihre eigene Lebenswelt zu beziehen.
3.
Politische Gegenwartsliteratur in der Sekundarstufe II – empirische Ergebnisse und didaktische Implikationen zur Textauswahl für den Literaturunterricht
Auf die Frage, wie die Autorin selbst dazu steht, dass ihr Roman 2019 Abitur-Thema geworden ist, antwortet Erpenbeck, dass sie hoffe, dass die gründliche Analyse die Liebe zu dem Buch nicht verleide: „Besser fände ich es, wenn man im Deutschunterricht das Buch liest, einmal bespricht, es dann zur Seite legt, sich jeder einen Flüchtling als Paten sucht, ihn im Halbjahr sechsmal interviewt und daraus eine Kurzgeschichte schreibt.“ (Döhner 2018, o.S.)
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Damit ist einerseits das Ziel der oben beschriebenen agency im Sinne eines produktionsorientierten Literaturunterrichts benannt. Andererseits klingt mit der Einschätzung der Autorin ein Misstrauen gegenüber der Analyse literarischer Texte an, wie sie etwa von Hans Magnus Enzensberger in Bezug auf die schulische Interpretation von Gedichten formuliert wurde. Für die niedersächsischen Abiturprüfungen 2019 sollen am Beispiel von Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen unter dem Rahmenthema 5: Literatur und Sprache von 1945 bis zur Gegenwart im Unterricht folgende Aspekte verbindlich thematisiert werden: „Erfahrung von Ferne und Fremdheit“, „Erzählweise und Figurengestaltung“ sowie für Unterricht auf erhöhtem Anforderungsniveau: „Engagierte Literatur im Meinungsstreit“ (Niedersächsisches Kultusministerium 2017, 2). Diesen Vorgaben folgend ließe sich auf der inhaltlichen Ebene Richards Situation und Entwicklung sowie die Erzählsituation des Romans erarbeiten. In den Kursen, die auf erhöhtem Anforderungsniveau auf das Abitur vorbereiten, müsste zudem die Diskussion um die Funktion von Literatur im gesellschaftlichen Diskurs aufgegriffen werden. Dabei könnten folgende Aspekte, wie die Gründe für die Flucht – beispielweise Raschids Erzählung traumatischer Erlebnisse (vgl. GGG, 236ff.), die Bedingungen der Flucht – etwa die Bedeutung des Mobiltelefons für Menschen auf der Flucht (vgl. ebd., 220f.) oder die Ausbeutung Afrikas – hier etwa das Gespräch zwischen Richard und Sylvia (vgl. ebd., 181ff.), fokussiert und hinsichtlich ihrer Darstellung reflektiert werden. Mit Blick auf den Kompetenzbereich ‚Reflektieren und Bewerten literarischer Texte‘ könnte eine Wertung des Textes angestrebt werden, die ausgehend von ersten subjektiven Äußerungen der Lesenden zum Text im Sinne eines persönlichen Geschmacksurteils und der vertieften Auseinandersetzung mit dem Text und seiner Gestaltung sowie der Erarbeitung von Bewertungskriterien, die Schüler_innen bei der Aneignung einer kritisch-reflektierenden Lektürehaltung unterstützt (vgl. Dannecker 2018, 112). In Anlehnung an die hier vorgestellte didaktische Konzeption lassen sich der Prozess der Wissensaneignung Richards und die programmtisch-politische Aussage des Romans kritisch reflektieren. Dazu lässt sich etwa mit den Schüler_innen diskutieren, ob sich Erpenbeck der erzählerischen Großform des Bildungsromans verpflichtet fühlt. Grundlegend für eine solche Thematisierung des Romans ist die fachwissenschaftliche und -didaktische Auseinandersetzung auf Seiten der Lehrenden. Im Rahmen eines Seminars im Wintersemester 2018/19 an der Universität zu Köln wurden Studierende des Master of Education zu ihrer Auseinandersetzung mit Erpenbecks Roman im Anschluss an die Diskussion im Seminar mittels eines Fragebogens (N=17) befragt. Der Fragebogen umfasste sowohl geschlossene als auch offene Antwortformate zu Aspekten der Deutung und Analyse des Romans sowie zur Frage der Textauswahl für den Unterricht. Für die Auswertung werden hier lediglich die Items berücksichtigt, die sich auf die Auswahl des Romans als Unterrichtsgegenstand beziehen.
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Die Befragten sollten mittels vorgegebener Antwortmöglichkeiten („stimme nicht zu“ – „stimme absolut zu“) dazu Stellung nehmen, inwiefern Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen (2015) einen Beitrag dazu leistet, Wertewelten zu verbinden und bezogen auf literarische Bildungsprozesse den Fokus auf ethische Fragestellungen und deren Beurteilung zu lenken (vgl. Anselm 2017, 9). Dieser These stimmten die Befragten mehrheitlich „mit Einschränkung zu“ und nannten bezüglich der Frage, mit welcher Zielsetzung sie Gehen, ging, gegangen im Unterricht lesen lassen würden, folgende Aspekte: Umgang mit Alterität sowie Empathiefähigkeit und Perspektivübernahme bezüglich der Darstellung von Fluchtursachen und Erlebnissen Geflüchteter. Darüber hinaus benannten die Befragten die Fragestellung, inwiefern Literatur geeignet sein kann, aktuelle politische Themen zu verarbeiten. In diesem Zusammenhang würden die Studierenden mit den Schüler_innen darüber diskutieren, ob sich Fluchtursachen aus einer privilegierten Position heraus realistisch darstellen lassen und inwiefern Erpenbecks Roman hinsichtlich der Fortschreibung kolonialer Deutungsmuster und der Verwendung von Sprache (im Fall des Protagonisten Richard) kritisch zu bewerten wäre. Über die Analyse inhaltlicher und formalstruktureller Elemente des Romans hinaus würden die Studierenden anstreben, dass die Schüler_innen zu einer Urteilsbildung hinsichtlich moralisch-ethischer Grundannahmen geführt werden und ein Bewusstsein für die eigene privilegierte Perspektive und das Vermeiden von Alltagsrassismus ermöglicht wird. Die Ergebnisse dieser Befragung – die keineswegs repräsentativ sind – deuten an, dass sich die Hypothese ableiten lässt, dass sich eine fundierte Auseinandersetzung mit der Gestaltung des Romans sowie eine kritische Reflexion des eigenen Verständnisses von Literatur und deren gesellschaftlicher Bedeutung positiv auf die Formulierung differenzierter Lernziele auswirken. Im Unterricht ließe sich davon ausgehend mit den Schüler_innen erarbeiten, inwiefern Erpenbecks Roman (Nicht-)Wissen über abweichende und subjektive Erfahrungen von Flucht und ihren Bedingungen darstellt und dies mittels der formal-ästhetischen Gestaltung reflektiert wird. In Anlehnung an die wissenspoetologisch orientierte Konzeption lesen die Schüler_innen Sachtexte zu Fluchtursachen und zum Umgang mit Menschen auf der Flucht in Europa. Dazu ließe sich Bezug nehmen auf politische Diskussionen und juristische Entscheidungen. Daran anschließend ließe sich – auch in vergleichender Perspektive – kritisch reflektieren, ob es Erpenbeck gelingt, ihrem politischen Anspruch mit der Gestaltung von Gehen, ging, gegangen gerecht zu werden. Inwiefern ein solches Lernarrangement dazu führt, das Ziel einer wissenspoetologisch orientierten Critical Literacy zu erreichen, gilt es nun in weiteren Studien zu überprüfen.
Schlussbetrachtung Wenn man also davon ausgeht, „dass Aushandlungen von Wissen und Nicht-Wissen ein Spiel der Diskurse und Redeformen in Gang setzen, in dem Wissen sich oft auch
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herstellt über das Agieren im Nicht-Wissen anderer Positionen, Konzepte und Sprechweisen, also über die Konstituierung von Ergänzungen, Kompensationen und Funktionswechseln“ (Gamper 2012, 10), so konnten die hier vorgestellten Ausführungen zeigen, dass sich eine Auseinandersetzung mit der erzählerischen Darstellung von Nicht-Wissen grundsätzlich als zielführend für eine Reflexion des Erzählens von Flucht im Literaturunterricht erweist. Am Beispiel von Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen konnte aufgezeigt werden, dass Flucht-Narrative (Nicht-) Wissen über abweichende und subjektive Erfahrungen von Flucht und ihren Bedingungen darzustellen und dies qua Ausstellung und Thematisierung formal-ästhetischer Formgebung gestützt wird. Des Weiteren wurde das Konzept einer wissenspoetologisch orientierten Literaturdidaktik vorgestellt und in Abgrenzung zu bestehenden Modellen konturiert. Hinsichtlich einer Umsetzung dieses Ansatzes in der Praxis konnten die Ergebnisse einer explorativ angelegten Befragung von Studierenden im Master of Education Hinweise darauf geben, dass sich eine Reflexion der Kongruenz von inhaltlicher und formalästhetischer Gestaltung des Romans als bedeutsam für die Formulierung von Lernzielen erweist. Zudem macht das Ergebnis deutlich, dass es hinsichtlich der Thematisierung von Flucht-Narrativen im Literaturunterricht der Sekundarstufe II einer vertieften Auseinandersetzung sowohl mit den literarischen Texten als auch mit politischen und juristischen Grundlagen zum Thema Migration bedarf, um den Herausforderungen der öffentlichen Diskussion sowie der Verbreitung alternativer Fakten und populistischen Äußerungen differenziert begegnen zu können. Damit ist eine aktuelle Herausforderung der Lehrer_innenbildung benannt, die sich auf die Aneignung fachlicher und didaktischer Kompetenzen sowie einer kritisch-reflektierenden Haltung hinsichtlich der Auswahl von Unterrichtsgegenständen bezieht. Eine Auseinandersetzung mit literarischen Texten, die wiederum eine Diskussion des gesellschaftlichen Umgangs mit den jüngsten transnationalen Migrationsdynamiken anzuregen vermag, darf dabei im Sinne der Zielperspektive der Aneignung von Agency nicht nur auf die individuelle Überwindung von Nicht-Wissen beschränkt bleiben, sondern soll Schüler_innen dazu befähigen, an der öffentlich kontrovers geführten Debatte fundiert und differenziert teilhaben zu können.
Literatur- und Quellenverzeichnis Primärliteratur Erpenbeck, Jenny (2015): Gehen, ging, gegangen. München. Homer (1990): Odyssee. Aus dem Griechischen übersetzt von Johann Heinrich Voß. Frankfurt.
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Sekundärliteratur Abraham, Ulf (2015): Literarisches Lernen in kulturwissenschaftlicher Sicht. In: Leseräume 2, 6–15. Anselm, Sabine (2017): Werteerziehung mit Literatur? Das besondere Potenzial literarischer Texte für den Ethikunterricht. In: Ethik & Unterricht 3, 9–12. Apel, Friedmar (2015): Wir wurden, werden, sind sichtbar. (Verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/gehen-ginggegangen-von-jenny-erpenbeck-13770081.html) (01.01.2019). Bies, Michael/Gamper, Michael/Kleeberg, Ingrid: (2013): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Gattungs-Wissen: Wissenspoetologie und literarische Form. Göttingen, 7–18. Dannecker, Wiebke (2017a): „[V]on keinem Leiden mehr etwas wissen, von keiner Flucht“ – Nicht-Wissen als Reflexionsmoment in Flucht-Narrativen der Gegenwart von Erpenbeck, Stanišić und Jelinek. In: Arnold, Antje/Dies. (Hg.): Die Kunst der Ordnung. Standortbestimmungen gegenwärtigen Erzählens. Würzburg, 49–73. Dannecker, Wiebke (2017b): Geschlechter/Rollen/Spiel: Zur Inszenierung literar(ästhet)ischen Lernens am Beispiel von Terence Blackers Jugendroman Boy2Girl. In: Abraham, Ulf/Brendel-Perpina, Ina (Hg.): Kulturen des Inszenierens. Seelze, 135–146. Dannecker, Wiebke (2018): Literarische Texte reflektieren und bewerten – zwischen theoretischer Modellierung und empirischer Rekonstruktion am Beispiel einer empirischen Untersuchung mit Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe II. Trier. Dannecker, Wiebke/Grobenski, Zdenko (2018): „Jeder kann zum Mörder werden“. Ferdinand von Schirachs Der Fall Collini als Gegenstand einer wissenspoetologisch orientierten Literaturdidaktik. In: Genç, Metin/Hamann, Christof (Hg.): Kriminographien. Formenspiele und Medialität kriminalliterarischer Schreibweisen. Würzburg, 205–221. Döhner, Saskia (2018): Jenny Erpenbeck liest in der Käthe-Kollwitz-Schule. (Verfügbar unter: http://www.haz.de/Hannover/Aus-der-Stadt/zentralabitur-2019Jenny-Erpenbeck-liest-in-der-Kaethe-Kollwitz-Schule) (01.01.2019). Feldenkirchen, Markus (2015): Die neue Angst. Das Jahr 2015 wird in die Geschichte eingehen. In: Der Spiegel Chronik 2015, 6. Gamper, Michael (2012): Einleitung. In: Bies, Michael/Ders. (Hg.): Literatur und NichtWissen. Historische Konstellationen 1730–1930. Zürich, 9–21. Garbe, Christine/Holle, Karl (2007): Fachdidaktik und Unterrichtsqualität im (weiterführenden) Lesen. In: Arnold, Karl-Heinz (Hg.): Unterrichtsqualität und Fachdidaktik. Bad Heilbrunn, 95–124. Hamann, Christof/Timm, Uwe (2003): „Einfühlungsästhetik wäre ein kolonialer Akt“. Ein Gespräch. In: Sprache im technischen Zeitalter 41, 450–462. Hammelehle, Sebastian/Keller, Maren (2015): Gut gemeint wie die ganze Willkommenskultur. (Verfügbar unter: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/bestseller-gehen-ging-gegangenvon-jenny-erpenbeck-a-1055049.html) (01.01.2019). Hermes, Stefan (2016): Grenzen der Repräsentation. Zur Inszenierung afrikanisch-europäischer Begegnungen in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen. In: Acta Germanica. German Studies in Africa 22, 179–191. Hurrelmann, Bettina (2002): Leseleistung – Lesekompetenz. Folgerungen aus PISA, mit einem Plädoyer für ein didaktisches Konzept des Lesens als kultureller Praxis. In: Praxis Deutsch 176, 6–18.
Nicht-Wissen und dessen Überwindung als Reflexionsmoment
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Plurale Wertewelten
Differente Werte, Geltungsansprüche und kulturelle Einstellungen als Lerngegenstände im Literaturunterricht Analytisches und diskursives Arbeiten zu normativen Aspekten des palästinensisch-israelischen Konflikts am Beispiel des dokumentarischen Romans Der Himmel über Jerusalem Joachim Schulze-Bergmann Die Inhalte des Literaturunterrichts orientierten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Werken der Hochliteratur, wie sie durch die Rekonstruktion der deutschen Literaturgeschichte in eine historische Reihung gestellt wurden. Im Verbund mit den anderen normativ aufgeladenen Fächern sollten sie ein deutschnationales und christlich orientiertes Weltbild vermitteln. Dieses Arrangement blieb über 150 Jahre fast unverändert bestehen und ändert sich erst, als die deutschnational gefärbten Konventionen des täglichen Lebens ebenso erodieren wie die Ablösung von dem christlich geprägten Weltbild voranschreitet (vgl. Schulze-Bergmann 1998, 431– 434). Der traditionelle literarische Kanon wird durch Literaturlisten ersetzt, die nur noch einen literarischen Vorschlag der Schuladministration darstellen. Die Entscheidung über die tatsächlich eingesetzte Literatur aber wird den Fachlehrenden überlassen. Als Reaktion auf die geringere Lesemotivation und Lesefähigkeit der Schüler_innen in den Haupt-, Real- und Gesamtschulen wird Kinder- und Jugendliteratur zum Gegenstand des literarischen Unterrichts in der Sekundarstufe I. Aber gerade diese Texte werden traditionell mit pädagogischen Zielvorstellungen verfasst; davon sind auch die Texte nicht frei, die im Zeitraum nach 1970 entstehen. Sie gestalten nicht mehr nur oder überwiegend konventionelle Rollenvorstellungen, sondern nehmen zu aktuellen gesellschaftlichen Themen und typischen adoleszenten Problemen wertend Stellung. Textpassagen, mit denen die sozialen Regeln, deren Geltungsansprüche oder auch widerstreitende Werte, nach denen die fiktionalen Figuren handeln, greifbar hervortreten, lassen sich zu Vignetten kondensieren. Diese Text-Vignetten sind dazu geeignet, die intendierten Werte wahrzunehmen, sie zum Gegenstand einer angeleiteten Überprüfung zu machen und den Bezug zu eigenen Überzeugungen und zu eigenem praktischen Handeln zu finden. Ein solcher Unterricht kann sich nun nicht mehr auf die konsensuell geteilten Konventionen von Elternhaus und Schule stützen, wie Jürgen Kreft es für die 50er und 60er Jahre des letzten Jahrhunderts darstellt (vgl. Kreft 1980), sondern muss sich der Entwicklungsphasen und Entwicklungsbedingungen normativer Orientierungen fachlich
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versichern. Das gilt auch für den Literaturunterricht, der die normativen Anteile einer Texthandlung nutzt, um das Unterrichtsziel Wertebildung zu verfolgen. Dieser Unterricht muss einen Bezug zur normativen Orientierung der jeweiligen Schülerschaft ebenso herstellen wie die den Unterricht planende Lehrkraft sich ihrer eigenen Orientierung gegenüber dem im Text vorliegenden Problem vergewissern muss, um die gewünschte Passung und Entwicklung einleiten zu können. Mit dem Vorschlag, den im Folgenden behandelten dokumentarischen Roman Der Himmel über Jerusalem von Gabriella Ambrosio (2012) in den Unterricht aufzunehmen, soll ein Beispiel für die Entfaltung der didaktischen Möglichkeiten eines solchen wertbezogenen Unterrichts vorgestellt werden. Dazu ist es notwendig, die im Text verborgenen und nur gelegentlich explizit genannten sozialen Regeln und die mit ihnen vermachten Geltungsansprüche herauszuarbeiten, denen die literarischen Figuren folgen oder die von ihnen verletzt werden. Wünsche und Enttäuschungen der literarischen Figuren, die sich auf eigenes oder fremdes Verhalten richten, sind in der Regel mit starken Affekten der Protagonist_innen aufgeladen, so dass die rezipierende Person ihrerseits unmittelbarer an den Handlungsentscheidungen, der Freude und dem Leid der Protagonist_innen teilnehmen kann. Gerade diese Unmittelbarkeit der Lesenden gegenüber der eigenen Lesemotivation und dem Leseerlebnis führt sie nicht geradlinig zu einer Auseinandersetzung über die normativen Inhalte, die der Text anbietet. Diese sind eingebettet in die literarisch gestaltete Kulisse, die für die jüngeren Lesenden eher konkrete soziale Umwelten ausformt, für die älteren aber bereits historische und gesellschaftliche Aspekte einbezieht. In Texten für die jüngeren Lesenden gehen die positiven oder negativen Reaktionen von konkreten Personen oder Gruppen aus, in Texten für die älteren Lesenden treten Vertreter_innen gesellschaftlicher Institutionen, der Öffentlichkeit oder – abstrakter noch – die Gesellschaft und ihre Gesetze auf. Es wird deutlich, dass ein wertbezogener Literaturunterricht darauf verwiesen wird, die entwicklungsbedingten Voraussetzungen der sozialen Orientierung bei den Lesenden zu kennen und bei der Unterrichtsplanung zu berücksichtigen. Zugleich konstituieren die Bauformen des Textes und seine normativen Inhalte ein Niveau, von dem aus die wertbezogenen Lernziele bestimmt werden. Zwischen diesem Niveau und dem Entwicklungsniveau der Lesenden sollte eine hinreichende Passung bestehen bzw. sie sollte erreichbar sein und ggf. fördernd überschritten werden können. Der Text Der Himmel über Jerusalem ist ein markantes Beispiel für diese doppelte Herausforderung. Wie zu zeigen sein wird, geht es um eine exemplarische Darstellung des Konfliktes zwischen Palästinenser_innen und Israelis am Beispiel eines Selbstmordattentates. Bereits diese Konstellation impliziert ein dem Thema angemessenes Vorwissen bei den Lesenden, das wohl nicht vor der zehnten Klassenstufe erreicht wird. Im folgenden Abschnitt werden Textaufbau und normative Implikate des Textes dargestellt, um sodann einige der hier relevanten entwicklungsbedingten Voraussetzungen bei den Lesenden zu erläutern. Vor die-
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sem Hintergrund kann ein methodisches Vorgehen entworfen werden, das dem Ziel der Werteerziehung und -förderung zuarbeitet.
Textaufbau und normative Implikationen des Textes Im Jahr 2017 ereignen sich auf dem Staatsgebiet von Israel und auf palästinensischem Boden monatlich etwa 50 Zwischenfälle, Angriffe und terroristische Attacken gegen israelische Bürger_innen, Polizist_innen und Militärangehörige. Zugleich werden palästinensische Araber_innen festgenommen oder im Zusammenhang mit einer Straftat getötet (vgl. Israel vereitelt über 400 Terroranschläge 2016, o.S.). Gegenseitige offizielle Beschuldigungen in den Medien sind Teil einer Auseinandersetzung, die längst zu einem heftig geführten Kampf um die Geltung derjenigen Narration geworden ist, mit der die wechselseitigen Ansprüche auf den Besitz an Land, auf die politische Vertretung und die Verwaltungshoheit sowie die Verteidigung der staatlichen Grenzen vor der eigenen Bevölkerung und der Weltöffentlichkeit erläutert wird. Diese Auseinandersetzungen dauern seit der Gründung des Staates Israel an und haben eine neue Zuspitzung durch den 100. Jahrestag der sogenannten Balfour-Erklärung im November 2017 erhalten (vgl. Prill 2018, o.S.). Die politischen und sozialen Spannungen werden durch die Erklärung des USPräsidenten Trump vom Dezember 2017 noch brisanter, mit der Jerusalem zur Hauptstadt Israels erklärt und die Verlegung der US-Botschaft dorthin angekündigt wird (vgl. ZEIT Online 2017, o.S.). Die italienische Schriftstellerin und Journalistin Gabriella Ambrosio greift mit ihrem ersten Roman diese komplizierte Konfliktkonstellation auf und gestaltet sie im Rahmen einer dokumentarischen Erzählung. Der Text berichtet von einem am 28. März 2002 gegen 14 Uhr verübten Selbstmordattentat, das eine junge palästinensische Frau in einem Supermarkt von Jerusalem begeht. Die Grundlage für den Text hätte das polizeiliche Protokoll zum Hergang des Attentats gewesen sein können, aber darüber hinaus recherchiert die Autorin im sozialen Umfeld der Opfer und ihrer Angehörigen vor Ort, bevor sie sich gegen eine journalistische Bearbeitung und für eine fiktionale Formgebung der vorgefundenen Daten entscheidet. Im Mittelpunkt des im Folgenden zu betrachtenden Textes stehen die palästinensische Attentäterin Dima und ihre beiden israelischen Opfer Myriam und Abraham. Ausgehend vom Zeitpunkt des Attentats erhält die Erzählung eine um sieben Stunden zurückführende Zeitachse, sie beginnt also am frühen Morgen desselben Tages und berichtet in stündlichen Schritten von dem Tagesablauf der Opfer und der Attentäterin. Dieser dokumentarische Duktus des Textes wird durch Rückblenden unterbrochen, mit denen von bedeutsamen zurückliegenden Erlebnissen der beiden Protagonistinnen Dima und Myriam erzählt wird. Es entstehen dadurch Anteile ihrer jeweiligen biografischen Narrationen, die zum Zeitpunkt des Attentats ihr Ende finden. Aber die jüdische Narration endet mit einer Ermordung, die palästinensische Narration erzählt von einem Märtyrertod. Fügt man die in stündliche
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Abschnitte zerlegten Textteile für jede der beiden Figuren zu zwei eigenständigen Textblöcken zusammen, so ergeben sich folgende Informationen zum Tagesablauf: Die fast 18jährige Palästinenserin Dima beginnt diesen Tag in einem der großen Flüchtlingslager auf dem Gebiet der Westbank, sie geht wie immer zur Schule, die sie im Verlauf des Vormittags aber verlässt, um die mit Sprengstoff präparierte Tasche von den ihr zuarbeitenden Mittätern zu erhalten. Sie wird nach Jerusalem in die unmittelbare Nähe eines Supermarkts gefahren. Als das jüdische Mädchen Myriam, das ihre Freundin oder Schwester sein könnte, auf den Supermarkt zugeht, schließt sie sich diesem an, gemeinsam betreten sie den Supermarkt. Dort zündet Dima die Bombe. Die Explosion tötet die Attentäterin, Myriam und den jüdischen Wachmann Abraham. An diesem Morgen geht die Israelin Myriam nicht zur Schule, sondern zu einem einsam gelegenen Hügel und verweilt dort bis gegen 12 Uhr. Sie trauert um ihren Freund Michael, der vor zwei Monaten durch ein Attentat getötet worden ist. Seitdem zieht sie sich auf diesen Hügel als einen Ort zurück, an dem sie ungestört ihren Gedanken und Gefühlen nachgehen kann. Gegen 13 Uhr bricht sie auf, um in einem nahegelegenen Supermarkt für die Familie einzukaufen. Um 14 Uhr betritt sie den Supermarkt zusammen mit einer fremden jungen Frau, die eine Bombe zur Explosion bringt. Abraham ist der jüdische Wachmann des Supermarkts. Er erkennt die Attentäterin als Palästinenserin an ihrem Blick. Aber seine Intervention kommt zu spät. Im Verlauf des Textes erfahren die Lesenden von entwicklungsbedingten Handlungsoptionen, die die Protagonistinnen aufgreifen oder verwerfen: Die junge Palästinenserin Dima sieht in ihrem bisherigen Leben keinen Sinn, die unmittelbar bevorstehende Zukunft würde sie in eine traditionell geprägte Ehe führen, sie ist bereits verlobt. Da sie eine sehr erfolgreiche Schülerin ist, stände ihr eine Berufsausbildung als Journalistin offen. Zugleich würde sich aber das Leben unter den gegebenen Bedingungen ständiger Demütigung, Bedrohung und Rechtlosigkeit nicht ändern. Dima fehlt eine Vision für die eigene Zukunft in Freiheit und für eine politische Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Mit dem Entschluss zum Attentat und Suizid hat sie den Eindruck, ihre Handlungsoptionen selbst zu bestimmen. Zugleich rechtfertigt sie ihr Vorgehen als Vergeltung für die unzähligen Erniedrigungen durch die israelische Staatsmacht, die sie selbst erlebt hat und bei anderen miterleben musste. Mit dieser Entscheidung schlägt ihre langanhaltende und ziellose Melancholie um in eine Stimmung, in der sie konzentriert und mit ganzer Kraft eine selbstgestellte, ihr sinnvoll erscheinende Aufgabe annimmt. Sie gewinnt ihr Selbstwertgefühl zurück. Mit dieser Einstellung ist sie nicht allein: Ihre jungen palästinensischen Helfer erleben den Bau der Bombe und die Teilhabe an der geheimen Attentatsplanung ebenfalls als eine Form der Gegenmacht in einer ansonsten fremdbestimmten Lebenssituation. Dima und ihre Komplizen folgen also einem Handlungsimperativ, der seinen realen Ursprung in der von ihnen empfundenen sozialen Depravierung hat und der seinen Geltungsanspruch nicht nur aus
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dem Zusammenhang von konkretem und persönlichem Rachebedürfnis nimmt, sondern aus der muslimischen Ideologie, hier der Sharia, bezieht. Für Myriam gelten strukturell ähnliche, aber inhaltlich völlig andere Orientierungsprozesse. Sie wächst zunächst in den USA auf, erst als sie zwölf Jahre alt ist, zieht ihre Familie nach Israel um. Sie spricht nicht hebräisch, sie versteht als Kind die Gründe für die politischen Auseinandersetzungen nicht, die sie während der ersten Intifada miterlebt. Sie weigert sich über Jahre, eine jüdische Identität anzunehmen und fordert von ihrer Familie, in die USA zurückzukehren. Sie bleibt bei dieser Auffassung bis zu dem Augenblick, in dem ihr erster intimer Freund Michael durch ein Attentat getötet wird. Sie verfällt in eine Depression, in der sie zunächst jeden Bezug zu anderen sozialen Kontakten ablehnt und für sich selbst keine Identität mehr darstellen kann. Aus dieser Phase arbeitet sie sich heraus, indem sie die jüdisch-religiöse Historie ihrer Familie und des jüdischen Volkes erarbeitet. Sie vergegenwärtigt sich die Flucht der Eltern ihrer Mutter aus Russland im Jahr 1943 und die Migration des Vaters aus Marokko im Jahr 1946 nach Palästina. Myriam empfindet eine neue Bindung an das Land Israel, nicht aber an den Staat und seine aktuelle Politik. Im Moment, in dem sie diese Bindung empfindet und für sich selbst als relevant erachtet, ist sie in der Lage, ihre biografische Narration unter dieser Thematik neu zu erzählen mit der Folge, dass sie sich für sich selbst eine Zukunft in Israel vorstellen kann. Ihre depressiv gefärbte Orientierungslosigkeit löst sich auf, sie wird von einer heiteren Stimmung ersetzt. Die Lesenden erkennen anhand dieser Inhalte, dass beide Figuren durch Ereignisse im Verlauf ihrer zurückliegenden Lebensjahre derart tiefgreifend beeinträchtigt werden, dass sie mit den während der Kindheit erworbenen sozialen Orientierungen nicht über eine Grundlage zur Bewältigung ihrer anstehenden Entwicklungsaufgaben verfügen. Ihre selbstreflexiven Anstrengungen richten sich auf das Ziel, ihr Selbstwertgefühl wiederzuerlangen und für sich selbst in ihren Bezügen, ihren Familien, zu ihren Ethnien und zu ihren religiösen Gemeinschaften eine sinngebende Perspektive zu entwerfen (vgl. Schulze-Bergmann 2018, 47ff.). Diese beiden biografischen Narrative – Myriam hier und Dima dort – sind von kommentierenden und beschreibenden Textanteilen durchsetzt, in denen die den Protagonist_innen nahestehenden Figuren in den Fokus der Erzählinstanz rücken, z.B. Myriams Mutter, Myriams Bruder Nathan, Abraham, Dimas Vater und Leila, die Starreporterin des Senders al-Arabiya sowie Dimas Verlobter Faris. Sie nehmen aus unterschiedlicher Perspektive Bezug auf ihre jeweilige aktuelle Lebenssituation. Durch diese Beiträge erhält die/der Lesende eine Vorstellung von der Vielschichtigkeit des politisch-ethnischen Konflikts, der von dem jeweiligen sozialen Umfeld der Protagonist_innen aus dem jeweils eigenen Blickwinkel unterschiedlich dargestellt wird. So beschreibt z.B. Myriams Mutter sich selbst nach ihrem jahrelangen Engagement für friedliche Lösungen als erschöpft, sie signalisiert moralische Ratlosigkeit und ist sich nicht mehr sicher, für welche politische Option sie sich einsetzen soll. Aber ihr Engagement für den Staat Israel will sie nicht aufgeben. Myriams
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20-jähriger Bruder Nathan ist Soldat in der israelischen Armee und ist an einem Check Point am Gaza-Streifen eingesetzt. Seine Einstellung gegenüber den Palästinenser_innen ist geprägt von einem Attentat an diesem Kontrollpunkt, bei dem sein Schulfreund getötet wird. Die latente Angst, selbst Opfer zu werden, ist Grundlage seines Bedürfnisses nach Vergeltung und Gegengewalt. Er zeigt keine Bereitschaft, sich auf rechtfertigende Erklärungen für das palästinensische Vorgehen einzulassen. Dimas Vater Said ist 54 Jahre alt und hat die vielfältigen Auseinandersetzungen zwischen Palästinenser_innen und Israelis während der vergangenen Jahrzehnte miterlebt. Er arbeitet in einem jüdischen Betrieb in Jerusalem als Bauleiter und verdient also bei einem Betrieb des Feindes sein Geld. Er kehrt täglich in das Lager zurück, in dem seine Familie auf engstem Raum lebt. Er erträgt die ethnischen Spannungen am Arbeitsplatz ebenso wie die Demütigungen im Lagerleben. Er versucht, sich mit den Machtverhältnissen zu arrangieren, und findet die Bestätigung für sein Vorgehen darin, dass er seine Familie ernähren kann, was seinem traditionellen Verständnis von seiner Rolle als Familienoberhaupt entspricht. Der TV-Sender al-Arabiya wird im Lager empfangen und bildet eine wesentliche Verbindung zur Außenwelt. Leila ist eine Reporterin, die von den Auseinandersetzungen zwischen Palästinenser_innen und Israelis berichtet. Sie wagt sich in die aktuellen Konfliktzonen und berichtet von den Grausamkeiten der israelischen Strafmaßnahmen. Ambrosio belässt es nicht bei der nur additiven Reihung dieser Beiträge. Vielmehr zerlegt sie die Texte in kleinere Teile und fügt sie Stunde für Stunde zu einem neuen Mosaik. Ein solches Arrangement beansprucht die Aufmerksamkeit der Leser_innen und erhöht ihre Lesemotivation zugleich. Denn sie sind aufgefordert, die Beziehungen zwischen den Figuren selbst gedanklich herzustellen, ihre unfertigen Entwürfe erzeugen eine gewisse Erwartungshaltung und treiben die Lesebereitschaft an. Zugleich treten die literarischen Figuren durch diese Sinn erarbeitende Aktivität der Lesenden aber plastischer hervor als eine von der Autorin vorgegebene Beschreibung es leisten könnte. Im Anschluss an die Darstellung des Attentats lässt die Autorin die Angehörigen der Toten zu Wort kommen. Die meisten sprechen von ihrer Trauer, aber zwei Reaktionen erhalten ein besonderes Gewicht: Dimas Verlobter Faris beklagt sich über Dimas Vorgehen. Seine Erwartung, in ihre Pläne einbezogen zu werden, stützt sich auf die traditionelle Sichtweise, die für seine Lebensperspektive Richtung gebend ist: Er erwartet, Dima zu heiraten und als zukünftiger Ehemann beansprucht er die Autorität, mit der für die neue Familie Entscheidungen getroffen werden. Diese soziale Regel sieht er als verletzt an. Zweitens ist er enttäuscht darüber, dass ihm die gemeinsamen Zukunftsplanungen genommen worden sind. Da er Dimas Handlungsmotive für ein Selbstmordattentat nicht teilt, zweifelt er an der Wahrhaftigkeit ihrer Liebe (Der Himmel über Jerusalem, 109). Auch die Lagerbewohner_innen reagieren auf das Attentat: Sie versammeln sich am Haus der betroffenen Familie und beginnen, Dimas Tod als Märtyrertod zu feiern. Damit wer-
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den dem Attentat zwei Bedeutungsebenen zugesprochen: Einmal der Mord an den beiden Israelis und andererseits eine suizidale Opferung als Bekenntnis für die Werte der eigenen Ethnie.
Entwicklungspsychologische Voraussetzungen von Lesenden Um die historischen und wertbezogenen Dimensionen dieses politischen Konflikts erarbeiten zu können, müssen bestimmte entwicklungspsychologische Voraussetzungen bei den Lesenden erfüllt sein. Zum einen handelt es sich um das historische Wissen. Es bildet sich bei Kindern und Jugendlichen in Abhängigkeit von ihrer kognitiven Entwicklung und von historischen Sachinformationen, die von Dritten gegeben werden. Dieser Wissensbestand und der Grad seiner Komplexität sind die Grundlage für eine kulturell gefärbte Narration, welche in einem engen affektiven Verhältnis zur Identität des Subjekts steht. Die Erklärung dafür liegt in der Tatsache, dass die eigene Lebensgeschichte, die der Familie und die der sozialen Gruppe im Verlauf der komplexer werdenden Sozialperspektive wahrgenommen und sprachlich gefasst wird. Mit einer solchen Narration beantworten die Jugendlichen die Fragen „Wer bin ich, woher komme ich und wohin gehe ich“ für sich selbst und für andere. Die Antworten auf diese Fragestellungen bilden die kognitive und sprachlich gefasste Grundlage für diejenige Zeitachse, auf der sie sich selbst und ihre Beziehung zu Dritten verorten. Die adoleszenten Lesenden befinden sich in einem solchen Entwicklungsprozess, sie könnten also eine gewisse Vertrautheit mit den Situationen und Affektlagen empfinden, in denen die Protagonist_innen sich befinden. Allerdings sind die sozialen Umstände doch so fremd, dass der Unterricht immer dort sachliche Kenntnisse über die Historie des palästinensisch-israelischen Konflikts beisteuern muss, wo der Text Leerstellen lässt. Diese Leerstellen finden sich in den fehlenden Kommentaren zum historischen Hintergrund, der zur Erläuterung des Konflikts bis in die Zeit um 1918, besonders aber bis um 1945 zurückreicht. Durch die Erarbeitung der historischen Daten der Konfliktentwicklung rücken die Lesenden in eine gewisse Distanz zum fiktionalen Geschehen, so dass sich eine vorschnelle Parteinahme eher nicht einstellen wird. Es ist empirisch gut belegt, dass politische Konflikte in dieser Altersphase noch nicht sachgerecht wahrgenommen werden. Die Jugendlichen tendieren dazu, gesellschaftliche Auseinandersetzungen nach Merkmalen zu beurteilen, die für konkrete und persönliche Konflikte angemessen wären, und arbeiten mit einer Übergeneralisierung, wie Sybille Reinhardt ausführt: „Die Tendenz zur Harmonie wird dem öffentlichen Bereich übergestülpt und führt zu Fehlbeurteilungen“ (Reinhardt 2004, 13ff.), so dass die machtpolitischen und historischen Aspekte des Konfliktes ausgeblendet werden. Im vorliegenden Fall können die sachgerechten Wahrnehmungen des realen politischen Konfliktes darüber hinaus durch Vorurteile behindert werden, die die religiösen Weltbilder beider
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sozialer Gruppen, also einerseits von Menschen jüdischen Glaubens, andererseits von Menschen muslimischen Glaubens, negativ konnotieren. Wird der Text als Schullektüre verwendet, so muss bei der Unterrichtsplanung davon ausgegangen werden, dass die Lesenden einer gegebenen Lerngruppe auf die Handlungsmotive und Schicksale der fiktionalen Figuren auf Grund ihrer individuellen sozialen Wahrnehmung nicht in gleicher Weise wertend reagieren werden. Die Textaussage führt zu der Fragestellung, welches Handeln als legal oder welches als legitim oder aber moralisch positiv oder negativ zu beurteilen sei. Um zu der Textaussage wertend Stellung zu nehmen, müssen die jugendlichen Lesenden ihre eigenen aktuellen moralischen, rechtlichen oder religiösen Überzeugungen miteinbeziehen. Die strukturelle Entwicklung dieser Teilkompetenzen ist, wie Sozial- und Moralpsycholog_innen, die in der Tradition von Piaget, Kohlberg, Oser und anderen stehen, überzeugend darlegen können, abhängig von der individuellen kognitiven Ausstattung und von den Anregungen aus dem kulturellen Hintergrund (vgl. Oser/ Althof 1992). In der vom Text angesprochenen historischen Situation häufen sich Übertretungen moralischer Prinzipien und gesetzlicher Gebote mit der Folge, dass ein Maß für das moralisch richtige Handeln verloren geht und gesetzesfreie Räume entstehen, in denen Gewalt und Gegengewalt ausgeübt wird. Den Schüler_innen dürfte es nicht leichtfallen, ein gut begründetes Urteil abzugeben, weil religiöse und politische Konflikte, wie der Text sie darstellt, im lebenspraktischen Alltag der Schüler_innen in dieser Schärfe kaum vorkommen. Sollen die Schüler_innen sich nicht allein auf ihre persönlichen Werturteile stützen, so müssen sie auf das Urteil einer anerkannten Autorität zurückgreifen. Es liegt nahe, sich auf das Urteil einer überstaatlichen Organisation zu beziehen; tatsächlich liegen Resolutionen des UNSicherheitsrates zu diesem langjährigen Konflikt vor (vgl. UN-Sicherheitsrat 2016, 1). Dort heißt es in der Resolution aus dem Dezember 2016 zur israelischen Siedlungspolitik auf der Westbank und zu den üblichen Strafmaßnahmen gegen die Palästinenser_innen, dass der Rat einig ist in der „Verurteilung aller Maßnahmen, die darauf abzielen, die demografische Zusammensetzung, den Charakter und den Status des seit 1967 besetzten palästinensischen Gebiets, einschließlich Ost-Jerusalems, zu ändern, darunter der Bau und die Ausweitung von Siedlungen, die Überführung israelischer Siedler, die Beschlagnahme von Land, die Zerstörung von Wohnhäusern und die Vertreibung palästinensischer Zivilpersonen, unter Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht und die einschlägigen Resolutionen, mit dem Ausdruck ernster Sorge darüber, dass die anhaltende israelische Siedlungstätigkeit die Tragfähigkeit der Zwei-StaatenLösung auf der Grundlage der Linien von 1967 ernsthaft gefährdet […].“ (ebd., 1)
Zugleich wird aber auch die palästinensische Seite an ihre Aufgaben erinnert, es heißt in derselben Resolution, dass der Rat darin übereinstimmt,
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„dass die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde nach dem Fahrplan des Quartetts verpflichtet sind, auch weiterhin wirksame Einsätze zu führen, um gegen alle diejenigen vorzugehen, die Terror ausüben, und Terroristen handlungsunfähig zu machen, unter anderem durch die Einziehung illegaler Waffen, unter Verurteilung aller Gewalthandlungen, einschließlich Terrorakten, gegen Zivilpersonen sowie aller Akte der Provokation, der Aufwiegelung und der Zerstörung, […].“ (ebd.)
Die jugendlichen Lesenden können diesen Appell nur nachvollziehen, wenn sie gegenüber der historischen Situation dieses Konfliktes in eine Beobachterperspektive treten können, die ihnen eine abständige Beurteilung ermöglicht. Das aber setzt eine entsprechende Entwicklung ihrer Fähigkeit zur Perspektivenübernahme voraus, welche sich ebenfalls im Rahmen von kognitiver Entwicklung und kultureller Anregung ausdifferenziert. Diese Entwicklungsreihe wird z.B. von Patricia H. Miller unter anderem anschaulich rekonstruiert. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass auf der einfachsten Entwicklungsstufe gedanklich das Verhältnis von Selbst und einem konkreten Anderen möglich ist, z.B. „Der Junge denkt an sich selbst und an das Mädchen“ (Miller 1982, 158). In einer weiteren Entwicklung werden die eigenen Gedankeninhalte und die Gedankeninhalte Dritter zum Gegenstand z.B. „Der Junge denkt, dass das Mädchen an ihn denkt“ (ebd.). Schließlich ist eine weitere Vergegenständlichung eigener und fremder Gedankeninhalte möglich, z.B. „Der Junge denkt, dass das Mädchen denkt, dass er an sie denkt“ (ebd.). Nach Selman werden diese kognitiv-strukturellen Fähigkeiten im Verlauf der Kindheit zur Adoleszenz zunehmend inhaltlich komplexer, so dass schließlich das Individuum sich selbst und Dritte im Verhältnis zur Gesellschaft gedanklich erfasst und diese aus einer nur gedachten Beobachterperspektive in Bezug zu möglichen Handlungsoptionen oder Handlungsfolgen reflektiert werden können.
Didaktische Diskussion: Lernziele, methodisches Vorgehen Ich gehe davon aus, dass die Texterschließung nach dem 4-Phasen-Standard-Typ von Jürgen Kreft vorgenommen wird (vgl. Kreft 1979). Dieser Typus der Texterschließung unterstellt, dass bei der Erarbeitung einer Textaussage der hermeneutische Zirkel notwendigerweise zur Anwendung kommt. Die Erarbeitungsschritte können als vier Phasen aufgefasst werden, in die die Lernenden als Rezipierende alters- und entwicklungsangemessen eingeführt werden müssen. Insofern handelt es sich bei Krefts Vorschlag zugleich um ein lerntheoretisch zu beschreibendes Vorgehen: In einem ersten Schritt sollen sich die Schüler_innen zu ihren Leseeindrücken spontan äußern, in einem zweiten Schritt die textinternen Strukturen erarbeiten, in einem dritten Schritt überprüfen, ob das eigene Erstverständnis und die textinternen Daten kompatibel sind oder zu Veränderungen des Textverständnisses nötigen. Schließlich kann in einem vierten Schritt die Textaussage in einen Bezug zur eigenen Lebenspraxis oder z.B. zu literaturhistorischen Daten gestellt
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werden. Für jede dieser vier Phasen wählt die/der Lehrende methodische Formen aus, die der Lerngruppe und den Lernzielen angemessen sind (vgl. SchulzeBergmann 2018, 118ff.). Anders als bei einem nur auf die Wahrnehmung und Erlernung der literarischen Bauformen abgestellten Unterricht geht es hier um Wahrnehmung der impliziten sozialen Regeln, Normen und normativen Konflikte. Beispielhaft können folgende Lernziele für den hier vorliegenden Text genannt werden:
· die Erarbeitung der konfliktauslösenden Aspekte der historischen und aktuellen Situationen in Palästina und Israel
· die Erarbeitung der die starken Affekte auslösenden Erlebnisse der beiden Protagonistinnen
· die Klärung des begrifflichen Bedeutungsumfangs von Mord und Märtyrer · die Erarbeitung der das Handeln der Protagonistinnen leitenden sozialen Regeln · die Erarbeitung der differenten Erwartungen an die Protagonistinnen aus dem jeweiligen sozialen Hintergrund
· die Erarbeitung der Verletzung von Geltungsansprüchen sozialer Regeln, religiöser Gebote, gesetzlicher Regelungen und humaner Prinzipien durch die Protagonistinnen und Dritte · die Erarbeitung eines individuellen Textverständnisses und eine erörternde Bezugnahme zur eigenen Lebenswelt · Teilnahme an einem diskursiven Austausch zu den in der Lerngruppe vertretenen differenten Positionen zu ausgewählten Aspekten des Textes. Die Planung und Strukturierung des Unterrichts anhand des 4-Phasen-StandardTypus von Kreft ist zunächst eine Hilfe für die Lehrenden. Zugleich ist es aber auch ein Ziel, dass die Erarbeitung eines Textes und die Auseinandersetzung mit seinen wertbezogenen Inhalten zunehmend an die adoleszenten Lesenden übergeben werden kann. Um diesen Lernprozess zu unterstützen, setzt die Lehrkraft altersund entwicklungsangemessene Methoden ein, die die Arbeit im Rahmen der Teilziele der vier Phasen befördern. Im Zeitraum der Sekundarstufe I sollte die zunehmend selbstständige Orientierung an den vier Phasen des Standard-Typus mit Hilfe des eingeübten methodischen Arrangements schrittweise erlernt werden. Es ist denkbar, dass die unterrichtliche Planung vorsieht, nicht jede der vier Phasen bei einer gegebenen Textbearbeitung auch zum Gegenstand des Unterrichts werden zu lassen. Dennoch sind einige didaktische Prinzipien so relevant, dass sie hier noch einmal betont sein sollen: In jedem Fall gilt der Anspruch, dass die Schüler_innen die Möglichkeit haben müssen, ihr Erstverständnis zu artikulieren, und dass in einem zweiten Schritt die Textstrukturen rekonstruiert werden. Erstverständnis und die Wahrnehmungen bei der textnahen Arbeit ergeben selbst bei den geübten Lesenden nur selten eine Doublette, vielmehr sehen sich die Lesenden zu einem Abgleich zwischen den Textstrukturen und ihrem Erstverständnis aufgerufen, wodurch entsprechende individuelle Korrekturen einsetzen. Das Ergebnis dieser
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Korrektur führt zu einer Neuformulierung der Textaussage und ggf. zum Austausch dieser individuellen Verständnisse in der Lerngruppe. Hier wie auch in der folgenden Phase drei sind Gespräche notwendig, mit denen ein Austausch über die unterschiedlichen Textverständnisse erfolgt, in diesen Gesprächen mischen sich argumentative und erörternde Anteile. Normative Standpunkte sind oft affektiv hoch aufgeladen. Ihre Verteidigung in den unterrichtlichen Gesprächssituationen kann zu offenen Streitformen führen. Um solche misslingenden Gesprächssituationen zu vermeiden, ist die Einübung von Verfahrensformen, die den Beteiligten im Gesprächsverlauf Schutz bieten, unbedingt anzuraten. Dieser Vorgehensvorschlag stützt sich auf Erfahrungen aus der Literaturdidaktik (vgl. z.B. Schilcher 1999), aber es finden sich gleichwertige und durchaus ergänzende Vorschläge in der Politikdidaktik, so z.B. bei Sibylle Reinhardt, die ihre Methoden zugleich an die alters- und entwicklungsbedingten Voraussetzungen der Lerngruppe gebunden wissen will (vgl. Reinhardt 1999, 119; Reinhardt 2005, 202–210). Phase 1 In Phase 1 nehmen die Schüler_innen den Text zur Kenntnis. In der hier unterstellten Altersstufe können etwa 300 Wörter in der Minute als angemessenes Lesetempo gelten, so dass der Text in längstens zwei Schulstunden oder von einer auf die folgende Unterrichtsstunde als Hausaufgabe bewältigt werden kann. Das gemeinsame Gespräch über die Leseeindrücke gibt Raum, erste individuelle Fragen und Bewertungen festzuhalten und dazu einen Themenspeicher für spätere Aufgaben zu erstellen. Diese Arbeit dürften die Schüler_innen nach einer Phase der Einübung etwa ab Klassenstufe 8 weitgehend selbsttätig durchführen können. Bleiben die Lesenden zunächst bei einer textintern und spontan sich einstellenden Beurteilung des Textes, kann es zu einer Reihe von nicht hinreichenden Verständnissen kommen, z.B.:
· Die Lektüre stelle die Attentate gegen Israel, die jüdischen Opfer und das Leid ihrer Angehörigen als Folgen der palästinensischen Aggression dar. In dieser Perspektive wird das kollektive Leid der palästinensischen Bevölkerung nicht als ein Grund für Attentate gegen den israelischen Staat anerkannt. · Es ist auch denkbar, dass das Leseinteresse auf die Figur Dima gerichtet ist, aber Lesende ihren Entschluss zum Attentat nur als eine individuelle Radikalisierung einer verzweifelten jungen Frau verstehen. Dann wird diese Entwicklung als ein Einzelfall, eine Fehlentwicklung verstanden in dem Sinne, als es dieser Frau nicht gelingt, sich mit der Lebenssituation, in die sie hineingeboren wird, abzufinden. Diese individuelle psychosoziale Schwäche würde dann als Grund für die tragischen Folgen verstanden werden, die das Attentat auslöst: Unschuldige jüdische Personen werden getötet, Lebensentwürfe lösen sich auf und Familien bleiben trauernd zurück.
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· Andere Lesende könnten die Frage stellen, ob ein Attentat dieser Art überhaupt einen politischen Sinn haben könnte, da doch die Attentäterin selbst und ihre Komplizen die Folgen des Attentats in Bezug auf ihre eigene politische Zielvorstellung kaum kontrollieren können. Diese Fragestellung hat die strategischtaktischen Optionen im Blick, die moralisch-rechtlichen Implikationen werden ausgeklammert. · Zudem könnte die Perspektive der jungen israelischen Soldat_innen eingenommen werden, weil die Lesenden mit deren Aufgaben sympathisieren. Die Frage nach möglichen Handlungsoptionen wäre etwa so zu beantworten: Die staatliche Aufgabe Israels besteht im Schutz der Bevölkerung und der staatlichen Grenzen. Die polizeiliche Verfolgung von Straftaten und der Einsatz des Militärs gegen Terrorist_innen und kriegerische Angriffen sind legal. Dieser Standpunkt blendet seinerseits sowohl die machtpolitischen Entwicklungen seit 1948 wie auch die aktuelle Landnahme auf der palästinensischen Westbank durch die jüdische Besiedlung aus. Die berechtigten Interessen der palästinensischen Bevölkerung werden eher nicht thematisiert. · Letztlich können die Lesenden sich die von Dimas Vater verkörperte konventionelle Haltung zu eigen machen, wonach jeder sein Geld so und dort verdient, wie und wo er es unter den gegebenen Umständen kann, und auf konkreter lebenspraktischer Ebene seine ihm zugewiesenen Pflichten erfüllt. Damit wird allerdings nicht realisiert, dass es bisher eine rechtliche Gleichbehandlung zwischen palästinensischer und israelischer Bevölkerung nicht gibt und die Frage unbeantwortet ist, wie die politische Gleichberechtigung aussehen könnte. Die Reduzierung gesellschaftlicher Verhältnisse auf das Funktionieren nur familialer Strukturen erweist sich als eine thematische Engführung. · Vermögen die Lesenden spontan, die historischen, religiösen und politischen Rahmenbedingungen zu realisieren, die zum Verständnis des israelisch-palästinensisch-arabischen Konflikts herangezogen werden müssen, könnten diese Lesenden zugleich in der Lage sein, gedanklich die widerstreitenden Perspektiven zu konzeptualisieren und sich die Konstellationen auf abstrakter wie konkreter Ebene vorzustellen. Das heißt aber, dass sie mehrere unterschiedliche historische Narrationen entwerfen und zu beurteilen haben und zugleich den vorliegenden literarischen Text als eine von vielen möglichen narrativen Darstellungen verstehen, die sich aus der Perspektive der betroffenen Personen ergeben können. Mit diesen und weiteren ersten Reaktionen, zu denen auch eine völlige Abwehr des Textes gehören kann, muss die unterrichtliche Planung rechnen und sich darauf einstellen, aus dieser Vielfalt die angedachten Lernziele herauszuarbeiten und für die weiteren Lernschritte angemessene methodische Formen bereitzuhalten bzw. mit den Schüler_innen festzulegen.
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Phase 2 In Phase 2 geht es um die Inhaltssicherung, die Rekonstruktion des Textaufbaus und in diesem Fall besonders um die Erarbeitung der Raumkulisse und der Zeitachsen, der Figurenkonstellation und der Auflistung der Handlungsmotive. Im Ergebnis dieser textnahen Arbeit finden sich soziale Regeln und ihre Geltungsansprüche, die die im Text entfaltete Orientierung der einzelnen Figuren begründet zusammenhalten. Die jugendlichen Leser_innen des Textes werden nicht spontan die räumliche und zeitliche Gegebenheit dort einfügen können, wo der Text Leerstellen hat. Es ist notwendig, sich während des Lesens gedanklich im Staatsgebiet Israels bewegen zu können. Im Einzelnen hieße das: Die lokale und regionale Kulisse des Textes besteht aus dem Lager Deheishe, das in dem besetzten West Bank-Gebiet liegt. Dort lebt Dima mit ihrer 13-köpfigen Familie in einem 4-Zimmer-Haus, das eine Grundfläche von etwa 50 Quadratmetern hat. Fußläufig ist Dimas Schule zu erreichen. In der Nähe des Lagers liegt Bethlehem. Jerusalem ist etwa 50km entfernt. In einem Vorort von Jerusalem befindet sich der Supermarkt, der Ort des Attentats. Nicht weit entfernt von diesem Markt liegt ein unbebauter, bewaldeter Hügel, in der Nähe befinden sich Myriams Wohnung, ihre Schule und Saids Arbeitsstelle. Der Check Point Erez befindet sich am nördlichen Ende des Gazastreifens und ist etwa 100km von Jerusalem entfernt. Zugleich müssen die Lesenden hinreichende Kenntnisse von den Motiven haben, die aus der Sicht der palästinensischen Bevölkerung zur ersten und zweiten Intifada führten. Der Text hat hier eine problematische Leerstelle, die dazu verführen kann, verfrüht und unwillkürlich Partei gegen die palästinensische Attentäterin zu beziehen. Die zu erarbeitenden Informationen sind komplex und müssen gedanklich dennoch dort abrufbar sein, wo sie mit anderen Textanteilen sinnvoll verknüpft werden müssen. Phase 3 In Phase 3 des Standard-Typus wird der Unterricht dazu anregen, die Ergebnisse von der unmittelbaren Arbeit am Text mit dem Erstverständnis abzugleichen, die individuellen Textaussagen vorzustellen und in der Lerngruppe Gelegenheit zur Begründung dieser Verständnisse zu geben. Diese Auseinandersetzung gelingt dann besser, wenn die individuellen Verständnisse zuvor schriftlich erarbeitet werden. Einzelne dieser Schüler_innentexte können – auch anonymisiert – zur gemeinsamen Diskussionsgrundlage werden, in der die Plausibilität des gewählten Argumentationsganges überprüft und ggf. auch einer beispielhaften Bewertung unterzogen wird. Da der Text die Frage provoziert, ob das Attentat als Mord oder Martyrium, als Terror oder Kriegsakt zu verstehen ist, können die Lesenden unterschiedliche Positionen einnehmen, so dass die nun erarbeiteten individuellen Textverständnisse keineswegs gleichartig sein müssen. Deshalb kann es hilfreich sein, in eine Klä-
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rung der zentralen Begriffe Mord und Martyrium einzutreten. Dabei werden die umgangssprachlichen Verwendungen und individuellen Konnotationen dieser Begriffe gesammelt und durch die fachspezifischen und hier relevanten Merkmale ergänzt. Diese Abklärung wirkt zurück auf die individuellen Textverständnisse und schließlich auf eine individuelle Formulierung der Textaussage, über die erneut ein Austausch erfolgen kann. Als Arbeitshilfe eignet sich die Übersicht zu den Methoden der Begriffsklärung von Barbara Brüning:
Methoden der Begriffsanalyse
Begriffserläuterung
Begriffsexplikation
(Präzisierung von Begriffen)
(Klassifizierung von Begriffen nach Ober- und Unterbegriffen)
Modellfälle
Begriffspyramiden
(charakteristische Merkmale suchen)
(Gewichten von begrifflichen Bedeutungen)
entgegen gesetzte Fälle (Gegenbeispiele suchen)
Grenzfälle (erdachte Fälle suchen, um begriffliche Grenzen zu ziehen)
Modellfälle
Wortfelduntersuchung
deduktive Leiter
Bilden von Sätzen
Charakteristisches Merkmal (Definition)
Strukturskizze
etymologische Untersuchung
Vergleiche, Analogien
Übersetzung in andere Sprachen
Abbildung 4: Methoden der Begriffsanalyse (eigene Darstellung, nach Brüning 2003, 52)
Eine andere Gesprächssituation wird von Georg Lind vorgeschlagen, wenn die Protagonist_innen sich in einer Dilemma-Situation befinden (vgl. Lind 2015). Das
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ist im vorliegenden Text durchaus der Fall: Dima steht vor der Entscheidung, eine traditionelle Lebensperspektive einzuschlagen, und damit die momentanen sozialen Bedingungen im Lager hinzunehmen, oder aber in den Widerstand gegen die israelische Unterdrückung zu gehen und dabei das eigene Leben zu verlieren. Wie immer sie also entscheiden würde, würde sie einen oder mehrere konkurrierende Werte nicht beachten oder sogar verletzen. In einer vergleichbaren Situation befindet sich Myriam: Sie will Israel verlassen und in die USA zurückkehren, sie müsste dafür ihre Familie zurücklassen und die Option aufgeben, im Rahmen der gegebenen sozialen und politischen Verhältnisse eine jüdische Identität zu entwickeln. Indem sie die Rückkehr verwirft, trennt sie sich von ihrer Kindheit und akzeptiert die jüdische Historie als stützenden Wert für ihr eigenes Selbstverständnis. Lind schlägt nun vor, die in einem Text angelegten Dilemmata in einem schmalen Text so auf den Punkt zu bringen, dass die konkurrierenden Werte deutlich erkennbar werden. Er plädiert also dafür, einen Text zu produzieren, der in Analogie zu den von Kohlberg und anderen konstruierten Dilemma-Texten im Unterricht zum Gegenstand eines gemeinsamen Lernprozesses werden kann (vgl. ebd., 176). Diese Aufgabe kann zunächst nur von den Lehrenden geleistet werden, zum Ende der Sekundarstufe I aber auch von den Lesenden individuell erarbeitet werden, um in einem zweiten Schritt zum Gegenstand einer Dilemma-Diskussion zu werden. Lind nennt einige Schreibregeln, die für den hier behandelten Text z.B. zu folgenden Lösungen führen würden (vgl. ebd.): Schreibregeln nach Lind 2015, 176
Textvorschlag
Erzähle deine DilemmaGeschichte so, wie du sie einem Freund erzählen würdest!
Ich habe von einer 18-jährigen Palästinenserin gehört, sie heißt Dima.
Stelle deine Hauptperson kurz vor!
Im Jahr 2004 lebte sie in einem der Lager in Israel. Sie wird ihre Schulausbildung erfolgreich abschließen. Sie will Journalistin werden.
Nur die Hauptperson erhält Dima ist bereits mit einem jungen Mann verlobt, aber noch lebt einen Namen, die anderen sie bei ihrer Familie. Ihre Heirat ist in den kommenden Wochen geplant. Personen nicht! Die Hauptperson muss andeuten, dass ihr eine Entscheidung schwerfällt.
Dima sieht seit Jahren täglich fern. Dabei erhält sie Kenntnis von den Auseinandersetzungen zwischen den Israelis und den Palästinensern. Zugleich erlebt sie, wie die Israelis Haus und Hof palästinensischer Familien zerstören, wenn ein Familienmitglied einen Israeli getötet hat. Israelis siedeln auf palästinensischem Gebiet und verdrängen und enteignen die Palästi-
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Textvorschlag nenser aus dem ihnen angestammten Gebieten. Solche Gewalt gegen Palästinenser wird fast täglich ausgeübt, ohne dass aus Dimas Sicht eine Gegenwehr möglich erscheint. Sie freut sich auf ihre Heirat mit Faris, den sie liebt. Und sie will eine kämpferische Journalistin werden gerade so wie ihr großes Vorbild Leyla vom Sender Al-Arabiya. Aber sie kennt auch palästinensische Widerstandskämpfer, diese rufen zu Selbstmordattentaten auf.
Die Hauptperson muss sich Dima leidet unter diesen Lebensumständen. Sie steht vor der entscheiden, ein Abwarten Entscheidung, im Rahmen des Lagerlebens und den demütigenden Machtverhältnissen ihre Zukunft zu akzeptieren oder ist nicht möglich. sich dem Widerstand anzuschließen. Ein Sprengkörper ist fertig, ein Märtyrer wird gesucht. Die Entscheidung für eine von zwei Lösungen fällt.
Dima schließt sich dem Widerstand an. Sie führt das Attentat aus. Sie trägt einen Sprengkörper am Körper und betritt einen israelischen Supermarkt. Dort zündet sie die Bombe und mit ihr sterben zwei Israelis.
Was ging der Hauptperson Im Gruppengespräch wird die Perspektive der Protagonistin wohl vor der Entscheidung eingenommen und ihre denkbaren Handlungsoptionen und Handlungsmotive rekapituliert. Es wird wertend geprüft, ob durch den Kopf? Dima eine andere Option gehabt hätte, welche sozialen Regeln oder Prinzipien damit befolgt, gegen welche verstoßen werden würde. Schließlich versucht die Gruppe, zu einem gemeinsamen Standpunkt zu kommen.
Das Arrangement und den Verlauf einer mündlichen Dilemma-Diskussion hat Lind mehrfach publiziert, es liegen aber auch filmische Aufzeichnungen von DilemmaDiskussionen vor, die Lind mit Schüler_innen unterschiedlicher Klassenstufen durchgeführt hat (vgl. Lind o.J., o.S.). Diese Materialien können als Anregung verstanden werden, analoge Planungen vorzunehmen. Phase 4 Schließlich wird in Phase 4 der Unterrichtseinheit die Frage gestellt, welche Bedeutung die Textaussage für die/den individuelle/n Leser_in und die Lerngruppe haben könnte. Mehrere Optionen bieten sich unter anderem für die Leser_innen an: 1. Der/die Leser_in setzt sich mit der deutschen Historie in ein Verhältnis zum Staat Israel und wägt ab, ob es eine Unterstützungsverpflichtung für ihn/sie
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gibt. Dabei müsste er/sie die umfangreichen finanziellen Hilfestellungen und die enge politisch-wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen der BRD und Israel kennen und würdigen.1 Der/die Leser_in setzt sich mit der Historie des englischen Mandats auf dem Gebiet Palästinas auseinander und beurteilt die politischen und religiösen Konflikte aus dieser Perspektive.2 Der/die Leser_in nimmt die Perspektive der jüdischen Menschen ein, die nach 1939 aus Europa und arabischen Ländern vertrieben wurden und flüchten mussten, und beurteilt von dort die Auseinandersetzung mit der arabischmuslimischen Welt. Der/die Leser_in nimmt die Perspektive der palästinensischen Bevölkerung ein und beurteilt die Handlungsmotive der westeuropäischen Großmächte, die zur Gründung des jüdischen Staates führten.3 Der/die Leser_in nimmt die Perspektive der arabischen Anrainerstaaten Israels ein, die sich durch den Staat Israel in ihren Interessen bedroht fühlen. Er/sie eröffnet damit die Beantwortung der Frage, welche Lösungen dieser Konflikt haben kann: eine Zwei-Staaten-Lösung, eine Ein-Staat-Lösung oder eine föderative Regelung.4
Um der Flüchtigkeit der nur mündlichen Darstellungen zu entgehen, ist eine Verschriftlichung dieser individuellen Positionen vorzuziehen. Es wird durch aktuelle empirische Untersuchungen gut belegt, dass Gespräche zwischen Jugendlichen in der Familie und in der peer-group anders verlaufen als im Unterricht (vgl. u.a. Krah 2017; Quasthoff/Morek 2015). Diesen außerschulischen Gesprächsformen fehlen die erörternden und argumentierenden Formatanteile. Insofern setzen sich die hier vorgeschlagenen diskursiven Gesprächsformate deutlich von denen der Alltagspraxis ab. Dennoch halte ich an dem Vorschlag fest, die Qualität der zu erwartenden Argumentationsführungen dadurch zu verbessern, dass die Schüler_innen das Argumentations-Schema von Toulmin kennenlernen (vgl. Toulmin 2005). Mit ausgewählten Aufgabenstellungen werden sie aufgefordert, sowohl die Positionen der einzelnen fiktionalen Figuren wie auch die des eigenen Standpunktes in ihrer Struktur nach diesem Schema auszuformulieren und für sich selbst und für Dritte offenzulegen. Eine solche Arbeit schlagen auch J.-L. Patry, S. Weyringer und A. Weinberger in ihrem Beitrag Kombination von Moral- und Werteerziehung und Wissenserwerb mit VaKE – Wie argumentieren die Schülerinnen und Schüler? vor (vgl. Patry/Weyringer/Weinberger 2010). Im Wesentlichen wird durch eine solche Strukturierung für alle Beteiligten deutlich, wie überzeugend die mit der Bewertung der Textaussage eingebrachten Geltungsansprüche wirken. Zugleich 1 2 3 4
Vgl. hierzu Belkin (2007) Vgl. hierzu Krämer (2002, Kap. VIIff.), Philipp (2008) sowie Woffsohn (2008). Vgl. UN-Sicherheitsrat (1967). Vgl. hierzu Schäuble (2008) sowie Schäuble und Flug (2008 a und b).
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wird die Lerngruppe entscheiden müssen, ob die in Anschlag gebrachten Wertvorstellungen dem Anspruch der Verallgemeinerbarkeit genügen. Im Sinne des Vorgehens von Patry et al. (2010) können zunächst diejenigen Gründe, die der Text z.B. gegen ein Attentat liefert, gesammelt werden. Dadurch kommt es zu Argumenten, welche für eine mündlich zu erarbeitende Gewichtung zur Verfügung stehen müssen, z.B. sprechen gegen ein Attentat: die Rücksicht auf die Familie, die Sicherung der eigenen beruflichen und ehelichen Zukunft. Für ein Attentat sprechen: die religiösen kontroversen Ansprüche auf die Heiligtümer in Jerusalem und das Land Palästina, die Unterstützung der 2. Intifada, das persönliche Rachebedürfnis, die Vergeltung des Landraubs, der Demütigungen und der Verweigerung von Gleichberechtigung durch die Israelis. Nach einer entsprechenden Diskussion und Recherche in der Lerngruppe könnten folgende Ergänzungen eingebracht werden, die ggf. die Gewichtungen verändern: Gegen ein Attentat sprechen: die Rücksicht auf die Familie, die Sicherung der eigenen beruflichen und ehelichen Zukunft, die konkrete Folgenlosigkeit, die praktische Unmöglichkeit, zwischen politischen Gegnern und unbeteiligten Opfern zu unterscheiden, die unkontrollierte Beförderung der Gewaltspirale, die Minimierung der Chancen auf eine politische Zwei-Staaten-Lösung. Für ein Attentat sprechen: die religiösen kontroversen Ansprüche auf die Heiligtümer und das Land, die Widerstandbewegungen der 1. und 2. Intifada, das Rachebedürfnis, eine fehlende Lebensperspektive, die Vergeltung des Landraubs, der Demütigungen und der Wunsch nach Gleichberechtigung, die Unterstützung durch arabische Drittstaaten, die Unterstützung durch den UN-Sicherheitsrat, die Unterstützung durch die muslimische Weltgemeinde. Welche Standpunkte auch immer eingebracht werden, sie werden ihrerseits einer Beurteilung ausgesetzt werden. Dabei müssen die Beteiligten prüfen, ob die Wertvorstellungen, denen zugestimmt wird, gruppenspezifische Interessen stützen oder ob eine Wertvorstellung favorisiert wird, die universale Geltung beanspruchen kann. Für die mündliche Erörterung der in Phase 4 aufgeworfenen Fragestellungen eignen sich Gesprächsformen, wie sie von Anne Sliwka in ihrer Arbeit Bürgerbildung. Demokratie beginnt in der Schule vorgestellt werden (vgl. Sliwka 2008, 84ff.). Es geht ihr nicht um einen Wettstreit der Argumente, sondern um einen Meinungsbildungsprozess, der allerdings nur gelingen kann, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind (vgl. ebd., 97):
· Die Teilnehmer_innen sind bereit, ihre eigenen Einstellungen infrage zu stellen. Deliberation dringt bis zu dem vor, was Meinungen zugrunde liegt: Erfahrungen, Emotionen, mentale Modelle und subjektive Theorien. · Wahrnehmungen werden in einer Atmosphäre gegenseitigen Respekts ausgetauscht. · Heftige Gefühlsreaktionen werden weder unterdrückt noch aggressiv ausgelebt, sondern zunächst im Kopf zurückgestellt, um sie dann sorgsam in Worte zu fassen.
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Abbildung 5: Vorschlag für eine Gesprächskonstellation (eigene Darstellung, nach Sliwka 2015, 323)
Deshalb muss der Unterricht sicherlich auch auf Methoden zurückgreifen, mit denen die Wahrnehmung der unterschiedlichen Standpunkte in einem Verfahren erfolgt, das vor gegenseitigen Verunglimpfungen schützt. Solche Verfahren finden sich in Anne Sliwkas Beitrag, z.B. mit folgender Gesprächskonstellation: Die Diskussion um die Berechtigung des Attentats wird in Kleingruppen verlagert. Die dort erzielten Ergebnisse der ausgetragenen Kontroversen gehen in die Lerngruppe zurück. Die Voten werden Gegenstand eines vorläufigen Fazits (vgl. Sliwka 2008, 97f.). Schließlich geht es nicht nur darum, bei der Auseinandersetzung mit dem Text stehen zu bleiben, sondern zudem um die Aufgabe, zwischen der Textaussage und der Lebenspraxis der Schüler_innen einen Bezug herzustellen. Mit diesem Schritt soll vermieden werden, dass die zuvor geleistete unterrichtliche Arbeit allein als gedankliche Übung wahrgenommen und eingeübt wird, die zum sozialen Leben in der Schule und zur konkreten Lebenspraxis keinen Bezug hat. Durch Ergebnisse aus diesen Erörterungen und Reflexionen kann die Lerngruppe überlegen, welche Konsequenzen für das eigene Handeln in der Schule und im konkreten Lebensumfeld zu ziehen sind. Lehrende müssen auch damit rechnen, dass die vorgestellte Problematik nicht vor dem Hintergrund eines demokratischen Gesellschaftsmodells gesehen wird und versucht wird, die Lösungen im Rahmen der dort gegebenen Machtmittel zu finden, sondern dass in der Lerngruppe auf radikale Lösungen zurückgegriffen wird, worauf Yascha Mounk in seinem Text Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht verweist (vgl. Mounk 2018, 144).
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Wenn Werte nichts mehr wert sind – Gewalteskalation im Jugendroman Nichts Katharina Goubeaud Einleitung Um so sensible, individuell geprägte und umfassende Themen wie Werte oder Wertvorstellungen unterrichten zu können, ist es in der Literaturdidaktik von Nöten, sich einerseits mit der Kehrseite von Werten zu beschäftigen und andererseits deren Umsetzung und Weitergabe zu besprechen. Gewalt, Verbrechen, Hass und Intoleranz sind Phänomene, die einer an Werten orientierten Lebensführung gegenüberstehen und trotzdem allgegenwärtig und alltäglich sind. Mobbing, sei es durch Ausgrenzungen, körperliche Übergriffe oder üble Nachrede gekennzeichnet oder nur in den Welten des Internets als sogenanntes Cyber-Mobbing vertreten, ist ein omnipräsentes Phänomen in der heutigen Gesellschaft. Drohungen, Beschimpfungen und Beleidigungen werden direkt ausgesprochen, langsam durch Taten aufgebaut oder im Internet hinter einer Maske der Anonymität geäußert. In einer von sozialen Medien bestimmten Welt begegnet Gewalt in verschiedenen Ausprägungen schon den jüngsten Teilnehmer_innen der Gesellschaft: Kindern und Jugendlichen. Da auf ihren Schultern die Zukunft der Gesellschaft liegt, ist es von großer Bedeutung, in allgemeinbildenden Schulen nicht davor zurückzuschrecken, ‚schwierige‘ Themen wie Gewalt und Werterziehung in den Unterricht miteinzubinden. Während Gewaltausübung und ihre Folgen im Politik-, Geschichts- und Sozialwissenschaftsunterricht auf sachlicher Ebene behandelt und in Ethik- oder Philosophiestunden moralisch und logisch diskutiert werden, bietet der Literaturunterricht die Gelegenheit, Gewalt in einem geschützten Raum aus vielerlei Perspektiven erfahrbar zu machen und den Schüler_innen die Möglichkeit zu geben, auf der Basis verschiedener Aufgaben herauszuarbeiten, wie sich angesichts von Hass und Gewalt die Grenzen der ihnen bekannten Werte verschieben. In dieser Hinsicht leistet der Literaturunterricht, sofern sorgfältig und reflektiert geplant und durchdacht, einen Beitrag zu Aufklärung und Prävention. Literatur bietet Schüler_Innen die Möglichkeit, in die Gedanken und Gefühle anderer (fiktiver) Personen einzutauchen und sich somit von ihrer eigenen Sichtweise zu distanzieren. Eine Frage, die sich den (jugendlichen) Leser_innen hier stellt, ist die, wieso Werte wie die Unantastbarkeit des Lebens sowie das Recht auf Intimsphäre oder Schutz des persönlichen Eigentums offenbar nicht zu halten sind. Wo wird die Grenze zwischen Akzeptanz und Ablehnung gezogen? Die Literaturdidaktik sieht sich in einem solchen Fall mit der Aufgabe konfrontiert, herauszuarbeiten, mit welchen Wertvorstellungen Kinder und Jugendliche heute aufwachsen und inwie-
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fern sich eine Störung der ihnen vertrauten Handlungsmuster, die in Literatur präsentiert werden kann, auf sie auswirkt. Ein Verständnis für die Mechanismen, die Regelverstößen und abweichendem Verhalten zugrunde liegen, dient als Prävention für beispielsweise gewalttätige Handlungen. Diese Möglichkeiten, die das Unterrichten eines literarischen Textes, welcher Gewalt und das Aufgeben bekannter Werte thematisiert, bietet, sollen hier anhand eines Beispiels dargestellt werden. Die sachlich-fachliche und didaktische Analyse des Textes eröffnet eine Grundlage für mögliche methodische Ansätze im Literaturunterricht.
Der Gegenstand Janne Tellers Jugendroman Nichts. Was im Leben wichtig ist erschien im dänischen Original im Jahr 2000, in deutscher Übersetzung erstmals zehn Jahre später. Er handelt von einer Gruppe Jugendlicher, die während eines erbitterten Kampfes für ihre Überzeugung, dass im Leben vieles von Bedeutung ist, die Kontrolle über die Dynamik ihres Tuns verlieren und einander auf verschiedenste Art gewaltsam das abnehmen, was die höchste Bedeutung für sie hat. Die Handlung, in einer Rückblende von der Ich-Erzählerin Agnes dargestellt, beginnt mit der Erinnerung an einen Jungen namens Pierre Anthon, der aufgrund seiner nihilistischen Überzeugung den Schulbesuch verweigert und dessen Verhalten sich darauf beschränkt, in einem Pflaumenbaum zu sitzen und seinen ehemaligen Klassenkamerad_innen die Bedeutungslosigkeit ihres Daseins einbläuen zu wollen. Nachdem alle anfänglichen Versuche, ihn an seinen Parolen zu hindern, gescheitert sind, beschließen die Schüler_innen, er müsse davon überzeugt werden, dass es Bedeutung in der Welt gebe. Im Zuge dieser Idee sammeln sie Gegenstände, die für sie von Bedeutung sind und häufen sie zu einem Berg an, dem sie den Namen „Berg aus Bedeutung“ (Nichts. Was im Leben wichtig ist, 30) verleihen. Nachdem sie feststellen müssen, dass sich die meisten zieren, etwas wirklich Bedeutungsvolles abzugeben, beschließen sie, sich reihum gegenseitig individuell bedeutungsvolle Opfer abzuverlangen. In einer sich immer weiter intensivierenden Kette von zunehmend rachsüchtigen Forderungen beginnen sie mit Comic-Heften und Sommerschuhen, steigern sich aber schnell von Haustieren über wertvolle symbolische Gegenstände bis hin zur Tötung eines Tiers, einer Vergewaltigung und der Abtrennung eines Fingers. Nachdem die Erwachsenen vom Handeln ihrer Kinder erfahren, bekommen diese entsprechend viel Aufmerksamkeit und erhalten sogar die Möglichkeit, ihren Berg als Kunstwerk für viel Geld an ein Museum zu verkaufen. Nachdem sie ihr Werk dem abtrünnigen Nihilisten Pierre Anthon gezeigt haben, nimmt er ihnen ihre Illusion, sie hätten Bedeutung sichtbar machen können, indem er verkündet, dass die Bedeutung der Opfer nicht existent sei, weil sie bereit gewesen seien, die Sammlung für Geld zu verkaufen. Daraufhin eskaliert die Situation: Die Jugendlichen bringen den Jungen mit körperlicher Gewalt bis zur Ohnmacht und
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lassen ihn wehrlos zurück. In der Nacht sehen sie dabei zu, wie das Sägewerk, in dem alles stattgefunden hat, verbrennt und nehmen so Pierre Anthons Tod in Kauf. Wie Janne Teller in einem Interview schildert, wehrte sich Dänemark nach Erscheinung des Romans gegen dessen Verbreitung: „Die Hauptdebatte fand zwischen Lehrern, Bibliothekarinnen und Pädagogen statt, von denen viele meinten, das Buch mute jungen Lesern zu viel zu“ (Gaschke 2010, 1). Im Zuge der kontroversen Diskussionen entwickelte sich Nichts dennoch zu einem Bestseller, der heute aus den meisten Lehrplänen im skandinavischen Raum nicht mehr wegzudenken ist (vgl. ebd.). Auch in Deutschland erlangte der Roman bald die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Die Kritiken reichen von missgestimmten Pädagogen, die mahnen, der Roman „fördere eine negative Einstellung zum Leben“ (vgl. ebd.), über unsichere Stimmen, die sich fragen, warum die drastischen Schilderungen im Mittelteil des Romans nötig seien (vgl. ebd.), bis hin zu Kritikern, die Nichts. Was im Leben wichtig ist euphorisch loben und den philosophischen Gehalt des Werkes wohlwollend hervorheben (vgl. ebd.). Der Großteil der Rezensionen zu Tellers Roman postuliert, dass er nicht ohne weiteres im Unterricht behandelt werden dürfe, aber doch so gehaltvoll und interessant für die Schüler_innen sei, dass er ihnen auch nicht vorenthalten werden sollte. Die Behandlung im Deutschunterricht fordert gleichermaßen Vorsicht und Sicherheit seitens der Lehrperson. Diese muss dazu in der Lage sein, das Thema Gewalt in einem angemessenen Rahmen zu besprechen, die drastischen Szenen mit Hintergrundinformationen anzureichern und sie durch verschiedene Methoden greifbarer zu machen. Die Lehrer_innen verschaffen sich nicht nur selbst einen Überblick über das Thema, erschließen die Zusammenhänge und verarbeiten die teils drastischen Bilder, sondern sie stehen vor der Aufgabe, diesen Überblick transparent an Schüler_innen weiterzugeben, die aufgrund ihres jungen Alters und eventuell noch fehlender Abstraktionsfähigkeit größere Schwierigkeiten mit der Bewältigung des Themas Gewalt und den möglichen Folgen, die in diesem Roman so deutlich geschildert werden, haben. Das Ziel der Arbeit ist es, den Schüler_innen zu ermöglichen, sich mit der Gewalt konfrontiert zu sehen, der sie sich nicht entziehen können, und trotzdem eine distanziert-objektive Einstellung dazu zu entwickeln, um die geschilderten Ereignisse kritisch zu hinterfragen. Interessant sind hier besonders die Gruppengewalt und ihre Ausprägung im Gruppendruck, der die einzelnen Figuren dazu bringt, sich der Bedeutungssammlung anzuschließen, obwohl sie an deren Sinn zweifeln. Wie entsteht dieser Druck, wer erhält das System aufrecht und was tragen die einzelnen Personen dazu bei, dass die Eskalation der Gewalt stattfindet? Ein weiterer interessanter Aspekt ist die Schuldfrage: Wer hat den Wettstreit um die Suche nach Bedeutung ausgelöst und wer hat Interesse daran, dass er aufrechterhalten wird? Wessen Taten sind strafwürdig und wer hat nicht helfend eingegriffen? Gerade im Gespräch mit den Schüler_innen sollte deutlich werden, dass es keine einfache Antwort auf diese Fragen geben kann. Indem mit der Lerngruppe mithilfe von inhaltlichen Analysen eruiert
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wird, welche Figuren inwiefern an der Entwicklung der gewalttätigen Energie beteiligt sind, kommen diese schlussendlich zu der Erkenntnis, dass die Schuld nicht nur einer einzigen Person zugewiesen werden kann. Eine von Gruppendruck, verletztem Stolz und Rachegelüsten geprägte Situation sorgt für eine Verkomplizierung des klassischen Verständnisses von Schuld: Die Diskussion hinterfragt also im Kontext eines sich auflösenden Wertesystems das Phänomen der Schuld und die Schüler_innen definieren ihr Schuldverständnis neu.
Gruppendruck und Konformität: Eine Gewaltspirale als Handlungsantrieb Im Hinblick auf die Gruppenpsychologie werten Nijstad und van Knippenberg eine Schulklasse als „aufgabenbezogene Gruppe“ (Nijstad/van Knippenberg 2007, 415). Diese Art Gruppe zeichnet sich durch eine hohe „Entitativität“ (ebd., 414), also die Möglichkeit der Wahrnehmung der einzelnen Personen als Einheit, sowie mittlere bis hohe Interaktion, wechselseitige Bedeutsamkeit, gemeinsame Ziele und gemeinsame Handlungserlebnisse aus, während die Ähnlichkeit der Individuen untereinander und die Dauerhaftigkeit ihres Bestehens nur mittelmäßig ausgeprägt sind. Die Durchlässigkeit einer solchen Gruppe ist ebenfalls mittelmäßig, während ihre Größe eher klein ausfällt (vgl. ebd., 415). Schüler_innen einer Klasse formen demnach also aufgrund ihrer täglichen Interaktion, der gemeinsamen Lernziele und Interessen, der gleichen Altersklasse und potenzieller geteilter Antipathien gegenüber Lehrpersonal und Rektorat oder auch Parallelklassen eine Gruppe, auch wenn die Individuen verschieden geprägt sind und kein undurchdringliches Netz von Beziehungen bilden. Diese Theorie ist auf die Protagonist_innen des Romans anwendbar: Die Jugendlichen, die in Tellers Roman Pierre Anthon entgegentreten und dessen Überzeugungen als unwahr entlarven möchten, sind dadurch, dass sie alle eine Klasse besuchen, als Gruppe definierbar, die sowohl aufgrund äußerer Gegebenheiten als auch aufgrund ihres Selbstverständnisses zusammengehörig ist. Im Laufe der Zeit wächst das Gefühl der Zusammengehörigkeit innerhalb der Gruppe, da die Schüler_innen ein weiteres Ziel außerhalb des gewöhnlichen Unterrichtsalltags teilen: Sie haben einen gemeinsamen Gegner in ihrem ehemaligen Klassenkameraden, den es von der Bedeutsamkeit des Lebens zu überzeugen gilt. Aufgrund ihrer Entschlossenheit, ihren Lehrer_Innen und Eltern nichts von ihren Plänen zu verraten (vgl. etwa Nichts. Was im Leben wichtig ist, 17, 26 und 45), verringert sich zudem die Durchlässigkeit der Gruppe als Ganzes. Die Klassengemeinschaft wird enger, die Beziehungen werden stärker und die Position des Einzelnen in der Hierarchie der Gruppe gewinnt an Bedeutung. Gruppen basieren auf Normen, deren Einhaltung für die Aufrechterhaltung des Systems wichtig ist, auch wenn sie zumeist nicht fest vorgeschrieben sind (vgl. Nijstad/van Knippenberg 2007, 429). Zwar kann es vorkommen, dass einzelne
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Personen, die sich der Gruppe zugehörig fühlen, die Normen hinterfragen und ablehnen, dies führt jedoch entweder zu problematischen Verhältnissen innerhalb der Gruppe, bis abweichendes Verhalten ausgeglichen wird, oder zum Ausschluss aus der Gruppe. Das Kollektiv erwartet in vielen Situationen ein bestimmtes Verhalten von den Einzelnen und fordert im Zuge dieser Erwartung auch eine erkennbare Anpassung aller an diese Vorstellung ein (vgl. ebd., 429f.). An diese grundlegenden Überlegungen zur Gruppendynamik lässt sich ein Experiment zum „Konformitätsdruck“ (Sader 1998, 160) anschließen, das in den 1950er Jahren von Solomon Asch entwickelt und erstmalig durchgeführt wurde. Er untersuchte mithilfe von Mustern von Fragen und Antworten, inwieweit sich einzelne Personen von der Mehrheit der Gruppe leiten lassen. Ausschlaggebend dabei ist, inwiefern die Testpersonen von ihren persönlichen Überzeugungen abweichen, obwohl sie sich sicher sind, im Recht zu sein. In der Durchführung betrat die Testperson einen Raum, in dem in das Experiment eingeweihte Personen saßen, die weitere Testpersonen spielten. Alle Teilnehmer_innen mussten vor der gesamten Gruppe Einschätzungen über vorliegende Karten und darauf sichtbare Linien abgeben: Eine Referenzlinie sollte mit drei weiteren Linien verglichen und ihrer Länge entsprechend eingeordnet werden. Die fingierten Testpersonen waren zunächst dazu angehalten, korrekte Antworten zu geben, um ihre Glaubhaftigkeit gegenüber der Testperson zu beweisen. Sie gingen dann aber dazu über, geschlossen falsche Angaben zu machen. Es wurde beobachtet, dass sich die einzige echte Testperson in der Mehrheit der Fälle der Masse beugte und dieselbe falsche Antwort gab. Dass dies dem Konformitätsdruck zuzuschreiben war, wurde später dadurch nachgewiesen, dass im Falle einer schriftlichen und von äußeren Einflüssen unabhängigen Lösungsüberprüfung keine echte Testperson falsche Antworten gab (vgl. ebd., 161ff.). Die Ergebnisse dieses Versuches, Konformität, also „die Beeinflussung des Denkens und/oder Verhaltens von Gruppenmitgliedern in Richtung auf […] Gruppen-Normen“ (ebd., 159), besser einschätzen zu können, lassen sich auf den Roman übertragen, da die Jugendlichen dort gemeinsam fragwürdige Entscheidungen treffen, während sich niemand traut, den Kreislauf zu durchbrechen, bis auch der Letzte sein Opfer gebracht hat. Die Erzählerin Agnes formuliert das vorläufige Zusammenbrechen der Gewaltspirale so: „Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn Jan-Johan nicht gepetzt hätte“ (Nichts. Was im Leben wichtig ist, 99). Daran wird deutlich, dass sie erkannt hat, welche gravierenden Folgen die Dynamik ihrer Gruppe genommen hat und wie verheerend es hätte ausgehen können, wenn alle sich weiterhin der Gruppen-Norm entsprechend verhalten hätten. Agnes schildert im Laufe des Romans immer wieder, dass sich Einzelne der Masse beugen und trotz Wut, Enttäuschung und des Gefühls, ungerecht behandelt worden zu sein, nicht zur Wehr setzen (vgl. u.a. ebd., 28f., 33, 36, 38f., 41, 46f., 69, 72 und 77f.). Hier ist deutlich erkennbar, dass der Konformitätsdruck, der auf den einzelnen Personen lastet, enorm hoch ist und nicht ohne weiteres gelöst werden kann. Die Gruppe wächst zu einer Einheit zusammen, die keine Verfehlungen und Abweichungen
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duldet, und jeder nimmt durch die Möglichkeit, von einer weiteren Person ein Opfer zu verlangen, eine Gelegenheit zur Rache an dem aus der Gruppenstruktur entstandenen System wahr. In diesem System werden die Werte, die die Klassenkamerad_innen in ihrer Erziehung und dem westlichen Kulturkreis, in dem sie sich bewegen, erlernt haben, außer Kraft gesetzt. Sie lehnen moralische Grundsätze wie körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Eigentum und die Möglichkeit zur individuellen Persönlichkeitsentfaltung ab, setzen sich darüber hinweg und lassen die Folgen dieser Handlungen außer Acht. Die Jugendlichen schaffen es nicht, aus der Situation auszubrechen, obwohl sie diese selbst erzeugt haben, und sind innerhalb ihrer eigenen Regeln gefangen. Ein zentrales Beispiel für den Kontrollverlust ist Jan-Johan, der zu Beginn der Wortführer der Klasse ist und erklärt, man könne sich nicht an die Erwachsenen wenden, um Unterstützung gegen Pierre Anthon zu erlangen (vgl. ebd., 17), und am Ende, nachdem er seinen Finger für den Berg aus Bedeutung opfern musste und somit schwer verletzt ist, seinen Eltern alles verrät (vgl. ebd., 99). Er harrt bis zum Schluss aus und zerbricht dann an seinen eigenen Regeln, die sich verselbstständigt haben, während er Konformität vom Rest der Gruppe erwartete. Der Druck, der innerhalb einer Gruppe von Menschen aus ihrer Dynamik, aus ihren Zielsetzungen und Überzeugungen entsteht, ist somit der zentrale Aspekt, der im Roman Nichts die Gewalt über die Kontrollmöglichkeit der Jugendlichen hinauswachsen lässt und eine Eskalation unvermeidbar macht. Die Wertvorstellungen des Einzelnen zerbrechen am Druck des Kollektivs, innerhalb dessen niemand fähig zu sein scheint, sich zu erheben und für seine moralischen Überzeugungen einzustehen. Die Jugendlichen ordnen sich der Mehrheit unter, obgleich offenkundig ist, dass die Mittel, mit denen sie ihre Ziele durchsetzen wollen, moralisch nicht vertretbar sind. Aus der Not heraus, sich ihren Klassenkamerad_innen nicht entziehen zu können und vor Angst, ausgegrenzt und bestraft zu werden, passen sie sich an und üben aus Rache verschiedenste Formen der Gewalt aus. Dabei folgt immer eine höhere Form der Gewaltausübung auf das Erleiden von Gewalt – sei diese geprägt durch Drohung, Erpressung, Beleidigung, Provokation oder körperliche Übergriffigkeit – durch die anderen Jugendlichen. Wird am Anfang noch freiwillig Eigentum abgegeben (vgl. ebd., 26ff.), beginnt bald ein Kreislauf, in dem die Schüler_innen einander dazu bringen, etwas zum Berg aus Bedeutung beizutragen, das ihnen wirklich etwas bedeutet. Dies nimmt damit seinen Lauf, dass Gerda entdeckt, wie wichtig die Sandalen für Agnes sind und fordert, sie müsse diese abgeben (vgl. Nichts. Was im Leben wichtig ist, 29f.). In ihrer Wut beschließt Agnes, ihrer Klassenkameradin dies heimzuzahlen, und verlangt Gerdas Hamster als Beitrag (vgl. ebd., 33ff.). Von diesem Punkt an werden immer größere Zumutungen eingefordert. Ein Lebewesen neben die bisher gesammelten Gegenstände zu stellen, erhöht die Intensität der Bedeutung in den Augen der Schüler_innen (vgl. ebd., 35) und somit schrecken sie auch nicht vor hochgradig symbolischen Gegenständen wie Tagebüchern (vgl. ebd., 38f.) und religiösen
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Besitztümern (vgl. ebd., 69 und 75ff.) zurück. Aufgrund der Tatsache, dass jeder/m etwas abverlangt wird, wächst in jeder/m der Schüler_innen ein Rachebedürfnis heran und bringt alle dazu, die nächsten brutalen Forderungen tatkräftig zu unterstützen. Daraus ergibt sich eine spiralförmige Dynamik, die durch die Schüler_innen allein nicht unterbrochen werden kann und die ihnen jeden Respekt vor der menschlichen Würde nimmt: Nicht nur schneiden die Jugendlichen Marie-Ursula die Haare ab, sondern sie trennen auch Jan-Johans Finger gewaltsam ab und ordnen die Vergewaltigung Sofies und die damit einhergehende Opferung der für sie bedeutsamen Unschuld an (vgl. ebd., 66f., 72ff. und 88ff.). In diesem unaufhaltsamen Anstieg von Aggression und Rachsucht verliert das ursprüngliche Ziel an Bedeutung und ist bloß noch Mittel zum Zweck. Ein Stoppen der Gewaltspirale scheint unmöglich, kein Erwachsener greift ein, da die Schüler_innen unerschütterlich an den von der Gruppe erzeugten Idealen festhalten und nichts verraten. Die Überforderung mit der Situation schlägt sich in nur noch wilderen Gewalttaten nieder. Die Identität der Einzelnen verliert ihren Wert, während der Zusammenhalt der Gruppe und der Triumph über Pierre Anthon, den sie mit diesen Mitteln zu erlangen glaubt, immer mehr Macht gewinnen. Aufgrund der Konformität der Gruppe entsteht somit ein gefährlicher Strudel aus Grausamkeit, dessen Ende von der gewaltsamen Eskalation, die in Pierre Anthons Tod gipfelt (ebd., 136f.), markiert wird. Die Jugendlichen in Tellers Roman wachsen während ihrer Mission, die Bedeutung in ihren Leben zu finden und deren Existenz Pierre Anthon zu beweisen, also zu einer engen Einheit zusammen, in der der/die Einzelne sich nicht von den Entscheidungen der Allgemeinheit lösen kann, ohne gestraft zu werden. Diejenigen, die sich nicht der Masse beugen möchten, werden ausgegrenzt und bedroht, weshalb sich niemand an die Eltern oder Lehrer_innen wendet. Die verunsicherten Zweifler wandeln ihren Unwillen in Aggression um, mit der sie dann das nächste Opfer auswählen. Die Gewaltbereitschaft nimmt stetig zu und entlädt sich langsam in Einforderungen von zunächst materiellen Opfern und schlussendlich in einem Gewaltgelage, das der verhasste Pierre Anthon, der eigentlich die Wogen glätten wollte, mit dem Leben bezahlen muss. Die Dynamik, mit der sich der Druck innerhalb einer Gruppe zu gewalttätigem Verhalten ausbreitet, ist ein Phänomen, das die Lehrperson im Gespräch mit den Schüler_innen erläutert und reflektiert, um sie vor ebensolchen Taten zu bewahren, ihre Reflexionsfähigkeit zu erhöhen und ihnen die moralische Verwerflichkeit von Erpressung und Rachsucht zu verdeutlichen. Der Verlust klassischer Werte, wie die Wahrung der Intimsphäre der Mitmenschen sowie der Sicherstellung ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit, wird somit als gefährlich und die Stabilität jedes Einzelnen gefährdend gekennzeichnet, wodurch im Umkehrschluss Prävention ermöglicht werden sollte. Im Sinne eines produktionsorientierten Ansatzes beschäftigen sich die Schüler_innen schreibend mit dem Ausgangstext und formulieren Textpassagen im Hinblick auf die Perspektivierung um. Indem sie verschiedene Textstellen aus der Sicht der Opfer der ge-
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waltsamen Handlungen oder aus der eines Erwachsenen schildern, erkennen sie die fatalen Auswirkungen des Verhaltens der Jugendlichen und reflektieren in einem von der Lehrkraft vorbereiteten Unterrichtsgespräch, welche Maßnahmen zur Prävention im Setting des Romans hätten ergriffen werden können. Daraufhin überprüfen sie diese präventiven Verhaltensweisen auf ihre Gültigkeit für das eigene Leben: Wie kann verhindert werden, dass sich in Gruppen von Jugendlichen eine solche Dynamik der Gewalt entwickelt? Und: Wie ist das auf ihre Lebenswelt anwendbar? Der persönliche Bezug ermöglicht eine reflektierte Sichtweise auf das im Roman geschilderte Verhalten, die wiederum in einer schriftlichen Form fixiert werden kann.
Die Schuldfrage Von besonderem Interesse in diesem Roman ist das Verhältnis der Figuren zueinander. Dabei ist es nicht jeder einzelne Konflikt zwischen zwei Kindern, der Aufschluss über die Dynamik gibt, sondern vielmehr das Zusammen- und Entgegenwirken von Pierre Anthon und seiner ehemaligen Klasse. Aufgrund des Feindbilds, das der Junge wegen seiner Negation jeglicher Bedeutung für die Klassengemeinschaft verkörpert, fungiert er als Gegenspieler für sie alle, doch es ist fraglich, ob man ihm deswegen die Schuld an der Eskalation der Geschehnisse zuweisen kann. Einerseits ist es Pierre Anthon, der durch das Verlassen der Schule und seine deutlich geäußerten Zweifel an der Bedeutung des menschlichen Lebens die Schüler_innen in Aufruhr versetzt (vgl. ebd., 11), andererseits sind es die Schüler_innen selbst, die sich dazu entschließen, das Problem von Beginn an mit aggressiven Mitteln zu bekämpfen (vgl. ebd., 16ff.). Auch am Ende des Romans erklärt Pierre Anthon seinen ehemaligen Mitschüler_innen, dass Wut und Gewalt ebenso bedeutungslos sind wie die Gegenstände, die sie so mühsam gesammelt haben (vgl. ebd., 131ff.). Er zeigt damit, dass es nicht seine Intention war, die Jugendlichen zu gewaltsamem Verhalten anzustiften und sich einander physisch und psychisch verletzen zu lassen. Seine Überzeugung, die er im Laufe des Romans wiederholt kundtut, hat keinen aggressiven Hintergrund und nimmt so den brutalen Handlungen der Klasse die Grundlage. Zu überlegen bleibt, ob man Pierre Anthon als den Auslöser der Gesamtsituation betrachten kann, ohne ihn als den Schuldigen zu bezeichnen. Zu diesem Zweck können die Lernenden seine Äußerungen und Handlungen analysieren: Was genau sagt und tut er; stachelt er die anderen an? Seine Beteiligung am Geschehen ist, abgesehen von seinen nihilistischen Parolen, gering; die Dynamik entsteht weitestgehend unabhängig von ihm. Die Handlungen der anderen Jugendlichen entwickeln sich aufgrund der Mutmaßung, Pierre Anthon könne so überzeugt werden, lösen sich aber inhaltlich bald von seinen ersten Äußerungen ab und zeigen ein hohes persönliches Gewaltpotenzial. Die Schüler_innen müssen entscheiden, worin die Schuld besteht und inwiefern Pierre Anthons Handeln das schuldbehaftete Verhalten der anderen beeinflusst.
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Die Schüler_innen selbst führen die Gewaltakte durch und stacheln sich gegenseitig zu immer schlimmeren Taten an. Einzelne erlangen Anerkennung und Bestätigung, wenn sie besonders große Opfer von den anderen verlangen. So erklärt Agnes, Frederik werde weitaus höher geachtet, seit er einen so persönlichen Gegenstand wie das Tagebuch von Dame Werner verlangt habe (vgl. ebd., 38) und sie bezeichnet den Einfall, das Grab von Elises Bruder auszuheben, als „großartig“ (ebd., 44). Aufgrund des engen Netzes an Vergeltung, das sich durch die Klasse spannt, ist die Frage nach der Schuld einzelner Personen nicht leicht zu beantworten. Sofie ist schuldig, da sie es ist, die erkennt, dass Pierre Anthon bewiesen werden muss, dass es Bedeutung gibt, wodurch sie die sich im Roman entfaltenden Geschehnisse auslöst (vgl. ebd., 24). Ole ist verantwortlich, wenn man die Figur für schuldig befindet, die zuerst jemanden zwingt, etwas abzugeben, woran ihm tatsächlich etwas liegt (vgl. ebd., 28). Agnes wiederum ist die erste, die aus Rache eine Gabe für den Berg eingefordert hat, wodurch sie einen Beitrag zur Eskalation der Gewalt leistet (vgl. ebd., 30). Die Gesamtheit der Schüler_innen als die Schuldigen zu bezeichnen, ist insofern nicht zufriedenstellend, als Leser_innen nicht eindeutig feststellen können, ob alle Jugendlichen gleichermaßen engagiert an der Gruppengewalt beteiligt waren, oder ob dieser Eindruck von Agnes‘ Erzählperspektive und den Kürzungen in der Darstellung herrührt. Die Schüler_innen können nicht endgültig hinter die Kulissen von Agnes‘ Erzählung schauen und müssen sich auf die Informationen verlassen, die sie den Rezipierenden weitergibt. Die Leser_innen sind also versucht, sich auf die Einschätzung der Figur zu stützen, wenn es darum geht, den oder die Schuldigen zu finden. Dass diese Perspektivierung Probleme mit sich bringt, muss die Lehrkraft mithilfe von Analyseaufgaben und in Unterrichtsgesprächen gemeinsam mit den Schüler_innen herausarbeiten. Die Frage nach Schuldigen führt weiterhin zu der Überlegung, welche Rolle die Erwachsenen in diesem Roman spielen und welchen Einfluss sie nehmen. Grundsätzlich sind Eltern als Erziehungsberechtigte und Lehrer_innen als Schutzbeauftragte in der Pflicht, Kindern und Jugendlichen den richtigen Weg aufzuzeigen und ihnen zu helfen, sich sicher auf diesem zu bewegen. Im Verlauf der Erzählung ist allerdings anhand von Agnes‘ Worten ein deutlicher Prozess der Ablösung zu erkennen: Zu Beginn drückt sie mehrfach aus, dass die Schüler_innen sich nicht gegen das wehren, was Erwachsene ihnen beigebracht haben. Nicht nur nehmen sie still ihre Plätze im Klassenraum ein, „ohne [sich] über die vorgegebene Ordnung aufzuregen“ (ebd., 8), sondern sie wiederholen auch Dinge, die ihre Eltern sagen, ohne sich über die Bedeutung der Worte im Klaren zu sein (vgl. ebd., 10). Dieser stille Gehorsam wandelt sich parallel zum Gruppenbildungsprozess zu einer stillen Geheimhaltung dessen, was den Schüler_innen eigentlich wichtig ist, da sie um jeden Preis ihre Ideale durchsetzen und sich dabei nicht von den Erwachsenen aufhalten lassen wollen (vgl. ebd., 17). Je enger die Gruppe zusammenwächst, desto mehr werden Eltern und Lehrer_innen ausgegrenzt und desto weniger Ehr-
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lichkeit herrscht zwischen den Generationen (vgl. u.a. ebd., 25f., 29, 33, 36, 45, 54, 66, 69, 77ff., 86 und 93f.). Den Eltern kann insofern Schuld zugesprochen werden, als sie ihre Kinder teilweise stark vernachlässigen. Dieser Eindruck kann erneut der Perspektive von Agnes geschuldet sein, die nicht erzählt, was bei ihren Mitschüler_innen zu Hause passiert, nachdem ihnen etwas Bedeutsames abgerungen wurde: Ein Mädchen kommt mit abgeschnittenen Haaren nach Hause, die Adoptionsurkunde eines Mädchens fehlt und eine gehbehinderte Mitschülerin verwendet plötzlich wieder alte und nicht mehr passende Gehstützen, da sie die neuen auf den Berg legen musste. Dass keine unmittelbaren Konsequenzen folgen, erscheint nicht ganz nachvollziehbar: Lassen die Eltern sich allzu leichtfertig auf Erklärungen der Schüler_innen ein und entziehen sich somit der Verantwortung? In einer intensiven Betrachtung der entsprechenden Textpassagen konfrontiert die Lehrkraft im Unterricht die Schüler_innen mit der Frage, ob die Eltern so nicht im Umkehrschluss zu Mitschuldigen an der Eskalation werden. Da die Lehrer_innen im Roman ihren Schüler_innen jeden Tag begegnen, liegt es nahe zu argumentieren, sie seien diejenigen, die die Veränderungen, die in dem System der Klasse vor ihnen vor sich gehen, als erste bemerken müssten. Agnes erwähnt den Lehrer Eskildsen, der sich über das Verhalten der Klasse verwundert und verärgert zeigt (vgl. ebd., 64 und 73), jedoch auch nicht eingreift, indem er tiefergehend nachforscht. Eine gewisse Mitschuld trägt somit auch das Schulsystem, in dem solche Machenschaften unentdeckt vonstattengehen können. Dass die Schuldfrage in diesem Roman nicht eindeutig zu klären ist, muss den Schüler_innen vermutlich erst vor Augen geführt werden. Wenn sie verstehen, dass nicht immer eindeutig bestimmbar ist, wer die Schuld an einer Situation trägt und dass das Rechtssystem nicht jeden verurteilen kann, der Verbrechen begeht, Gewalt ausübt oder sich auf andere Weise normwidrig verhält, erkennen sie, dass es nicht ratsam ist, Schuldzuweisungen oder Entlastungen vorzunehmen, bevor sie sich umfassend über die Grundlagen und die Opferperspektive informiert haben, da das persönliche Gerechtigkeitsempfinden nicht immer der Rechtsprechung entspricht. Der Verlust der Werte spielt auch hier eine wichtige Rolle: Wie kann durch die letzte Generation gewährleistet werden, dass die folgende ein stabiles Wertesystem erlangt, innerhalb dessen sie sich sicher und nicht eingeengt fühlt? In wessen Hand liegt es zu überprüfen, welche Werte wie an Kinder und Jugendliche weitergegeben werden? Indem die Lehrperson mit Schüler_innen intensiv das in einer funktionierenden Gesellschaft bestehende Wertesystem bespricht und erfragt, welche Verhaltensweisen zu einer Aufrechterhaltung eines solchen Wertekanons beitragen, wird erarbeitet, dass jeder Mensch als Teil der Gesellschaft sowohl Verantwortlicher als auch Nutznießer eines Wertesystems ist. Hier bietet sich möglicherweise auch eine Kooperation mit Lehrer_innen des Faches Sozialwissenschaften an, die einen Überblick über die sozialen Verantwortlichkeiten und Vorteile erarbeiten können, die das Leben in einem der westlichen Kultur zugehörigen Land mit sich bringt. Die Schüler_innen
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erkennen auf diese Weise, dass sie Verantwortung übernehmen müssen und dass gemeinsame Wertvorstellungen und die Weitergabe derselben dazu beitragen, das Leben für alle Beteiligten einfacher zu machen. Es herrscht eine deutliche Diskrepanz zwischen dem, was für Jugendliche offensichtlich richtig und erlaubt ist, und dem, was in den Medien dargestellt wird. Nichts. Was im Leben wichtig ist bildet in diesem Zusammenhang keine Ausnahme, da hier eine Gruppe Jugendlicher begleitet wird, die erstens ihre Probleme mit einem zunehmenden Gewaltpotenzial zu lösen versucht, zweitens von den verantwortlichen Erwachsenen nicht aufgehalten wird und drittens ihr Verhalten gänzlich mit der Suche nach Bedeutung legitimiert. Aufgrund dessen könnten die Wertvorstellungen und Weltanschauung von Jugendlichen durcheinandergebracht werden: Wann ist es in gewisser Weise legitim, Gewalt auszuüben und wer fällt die Entscheidung darüber, wer die Schuld an einer Situation trägt? Wie viel Entscheidungsmacht sollten Erwachsene tatsächlich über das Leben und Handeln von Jugendlichen haben, wenn sie Lügen und Ausflüchte nicht durchschauen oder sie schlichtweg nicht genügend hinterfragen? Jugendliche Schüler stellen diese Fragen eventuell nicht nur sich selbst, sondern auch der Lehrperson, die mit entsprechenden Lernarrangements reagiert: Rechtliche Hintergründe können gemeinsam auf der Basis tatsächlicher landestypischer Rechtsprechung erarbeitet werden, die die Lehrkraft mithilfe anschaulicher Beispiele für die Schüler_innen vorbereitet und aufarbeitet. Die Frage nach Schuld ist in vielen Bereichen des alltäglichen Lebens und im juristischen Kontext oft einfach zu klären. Ein Transfer, der dann mit der Lerngruppe vollzogen wird, bezieht sich auf die Literatur als von den Grenzen der Realität unabhängige Form: In einem Roman ist es möglich, auf Probleme zu stoßen, die man im Alltag mit einfachen Mitteln lösen zu können glaubt. Die Konstellation in Tellers Roman eröffnet eine problematische Schuldfrage, die im Rahmen rationaler Rechtsfragen nicht einfach beantwortet werden kann. Wenn die Schüler_innen sich mit dieser Problematik konfrontiert sehen, bietet dies wiederum eine Grundlage für reflektierte Überlegungen über Entscheidungsmechanismen und Schuldzuweisungen in der Lebenswelt der Schüler_innen selbst. Es ist von großer Bedeutung, den Schüler_innen während der Lektüre eines Romans wie Nichts. Was im Leben wichtig ist eine klare Vorstellung davon zu vermitteln, was dem Gesetz (nicht) entspricht, welche Bedeutung zivilcouragiertem Verhalten zuzubilligen ist und welche Werte in der vorliegenden Gesellschaft berechtigterweise vorherrschen. Die Lehrperson muss insbesondere bei den in Tellers Roman so prominenten aufwühlenden Themen wie gefährlich fahrlässigem Verhalten, Vergewaltigung und weiteren Formen körperlicher Gewalt, die bis hin zur Tötung reichen, deutlich Position beziehen und das nicht rechtmäßige Verhalten auch als solches benennen. Diskussionsrunden zwischen den Schüler_innen müssen mit offenen Ohren und klarer Stellungnahme gegenüber gewalttätigem Verhalten begleitet und ggf. moderiert werden, um Verharmlosung und unernster Lektüre Einhalt zu gebieten und diese kritischen Fragen zu reflektieren. Die Lehrkraft hält
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die Schüler_innen zu einem sachlichen wechselseitigen Austausch an, denn nur so kann ein Verständnis füreinander wachsen. Besonders in der Schule als Erziehungsund Lernort muss deutlich werden, wieso ein Wertesystem in einer Gesellschaft aufrechterhalten werden muss und nicht wie im Roman von einzelnen Gruppen ausgehebelt werden darf, und welche Sicherheit aus einem stabilen Wertesystem ohne Gewalt und Bedrohungen für alle Beteiligten erwächst.
Sprachliche Strukturen des Textes Die Gewalt und damit einhergehend auch der Werteverlust werden in Janne Tellers Roman anhand von Aussagen wie „[er] drohte Pierre Anthon mit der Faust“ (ebd., 21), „[…] hätte er Prügel bekommen“ (ebd., 24), oder „hatte sein Vater […] ihn windelweich geschlagen“ (ebd., 69) direkt greifbar und präsent. Auch unmittelbare sprachliche Gewalt wird durch Beschimpfungen, Beleidigungen oder Drohungen ausgeübt (vgl. etwa ebd., 23, 33f. und 94). Somit stellt die Sprache nicht nur das Medium dar, mithilfe dessen die Handlung vermittelt wird, sondern auch den Gegenstand der Gewalt. Da sich die Schüler_innen der Gewalt weder bei der Lektüre noch im Unterrichtsgespräch entziehen können und sie die gleiche Sprache, mit der sie den Stoff behandeln, in ihrem privaten Umfeld sprechen, besteht die Gefahr, dass sie beide Bereiche nicht länger voneinander trennen können. Wichtig ist daher, sprachliche Dimensionen des Textes mit den Schüler_innen zu erarbeiten, sodass sie die verlorene Distanz zum Text wieder aufbauen können. Wenn deutlich wird, dass man Sprache instrumentalisieren kann, erweitert sich zudem das Bewusstsein für die Macht der Worte und die Vorsicht, die im Umgang mit ihnen geboten ist. Um dies zu erarbeiten, bieten sich unter anderem sprachliche Betrachtungen politischer Reden an, die auf eloquente Weise extreme Inhalte weitergeben und somit Auswirkungen auf das Zielpublikum nehmen können. Damit empfiehlt sich zudem eine Kooperation mit dem Fach Geschichte, etwa im Themenbereich des Dritten Reiches. Eine unzuverlässige Erzählerin? Die Geschehnisse werden aus der Sicht eines der an der Anhäufung des Bergs aus Bedeutung beteiligten Mädchens geschildert: Agnes. Die Leser_innen erfahren erst im Laufe des dritten Kapitels, dass es sich um eine weibliche Erzählstimme handelt, als diese sich und ihre Klassenkameradinnen als „wir Mädchen“ (Nichts. Was im Leben wichtig ist, 16) bezeichnet. Ihren Namen erfährt man von Pierre Anthon, der sie direkt anspricht, während er mit Steinen attackiert wird (vgl. ebd., 20). Nach der Definition von Martínez und Scheffel liegt in diesem Fall ein „homodiegetischer Erzähler“ (Martínez/Scheffel 1998, 81) vor: Agnes als Erzählfigur ist Teil der erzählten Welt, gibt den Leser_innen Einsicht in ihre Gedanken und reflektiert retrospektiv das Geschehen in ihrer Klasse. So wendet sie ein, dass sie sich hätten be-
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sinnen sollen, als es noch nicht zu spät war (vgl. Nichts. Was im Leben wichtig ist, 28), versucht, sich davor zu schützen, zu denjenigen zu gehören, die den Sarg des Bruders einer Mitschülerin ausgraben sollen (vgl. ebd., 47ff.), bricht beinahe in Tränen aus, als ihre beste Freundin ihr Haar opfern muss (vgl. ebd., 67), bedauert die Vehemenz, mit der sie alle die Gabe von Hans einforderten, weil dies im Umkehrschluss Sofies Unschuld kostete (vgl. ebd., 70ff.) und gibt zu, dass der Triumph, von der Weltpresse für den Berg aus Bedeutung anerkannt zu werden, sich nicht vollkommen anfühlte (vgl. ebd., 117). Die Leser_innen können nur an ihrer Sicht teilhaben und sind daher gezwungen, ihr zu vertrauen und sich auf sie als Kommentatorin der Ereignisse einzulassen. Die Schilderung ist subjektiv geprägt und die Rezipierenden müssen hinterfragen, welche Informationen einer Überprüfung bedürfen. Die fehlende Möglichkeit zum Perspektivwechsel, der im Unterricht jedoch mit handlungs- und produktionsorientierten Aufgaben vorgenommen werden kann, schränkt die Weitsicht auf die erzählte Welt zunächst ein. Hinzu kommt die Tatsache, dass der Roman in einer vollständigen Rückblende erzählt wird. Erst im letzten Kapitel wird erwähnt, wie groß der zeitliche Abstand von Erzähltem und Erzählen ist: „In jenem Sommer wurden wir auf größere Schulen im Norden, Süden, Osten und Westen verteilt […] Das ist acht Jahre her“ (ebd., 140). Alles, was den Leser_innen bleibt, sind also Erinnerungen, an denen sie teilhaben dürfen, die aber verfälscht sein könnten. Agnes schildert die Geschehnisse chronologisch und in einer Mischung aus raffenden und zeitdeckenden Passagen. So vergehen manche emotional aufwühlenden Momente nach gewaltsamen Taten innerhalb eines Satzes: „Dame Werner und Maike legten den notdürftigen Verband um Jan-Johans Hand an, der fromme Kai fuhr den Zeitungswagen vor, und als Jan-Johans Beine unter ihm wegsackten, trug der große Hans ihn nach draußen und setzte ihn hinein.“ (ebd., 98)
Andere Ereignisse werden über Seiten hinweg zerdehnt (vgl. ebd., 56ff.). Auch die Wiedergabe der Kommunikation ist in dieser Hinsicht erwähnenswert, da der Roman besonders arm an Dialogen und wörtlicher Rede im Allgemeinen ist. Dies soll hier an drei kurzen Textbelegen deutlich gemacht werden. Die erste Textstelle bildet das Ende der anfänglichen Überlegungen, was gegen Pierre Anthon und seine Aufmüpfigkeit getan werden könne: „‚Lasst uns Steine nach ihm werfen‘, schlug Ole vor, und darauf folgte eine längere Diskussion, woher wir die Steine bekommen und wie groß sie sein sollten und wer werfen sollte, denn die Idee an sich war gut.“ (ebd., 18)
Die zweite Stelle findet sich später im Roman, als Hussein beschließt, Hans sein Fahrrad opfern zu lassen: „‚Das gelbe Fahrrad.‘ […] Aber wir wussten es nicht und bestanden bloß darauf, der große Hans solle das neongelbe Fahrrad abliefern, wie
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Hussein gesagt hatte“ (ebd., 70f.). Der letzte Textbeleg markiert den Moment, in dem der Beschluss darüber gefällt wird, ob Jan-Johan seinen Zeigefinger abgeben muss oder nicht: „‚Alle anderen haben bekommen, was sie haben wollten. Und wenn die hübsche Rosa Jan-Johans Zeigefinger will, dann soll sie [ihn] haben.‘ Schließlich sagten wir okay […]“ (ebd., 89). Hier wird deutlich, wie die Erzählerin die Rezipierenden durch ihre Eindrücke des Geschehens leitet. Ihre Strategie, nur Ausschnitte der Kommunikation mithilfe wörtlicher Rede und den Rest des Gesagten mithilfe von indirekter Rede und Raffungen wiederzugeben sowie zu kommentieren, leitet die Leser_innen durch ihre persönliche Wahrnehmung und nimmt ihnen die Möglichkeit, aus der direkten Kommunikation Rückschlüsse über das tatsächliche Verhältnis zwischen den Figuren zu ziehen. Auf diese Weise ergibt sich nie ein gleichbleibendes Erzählmuster und die Leser_innen bleiben Agnes und ihrem Wissensvorsprung ausgeliefert, bis sie sich dazu entscheidet, etwas preiszugeben. Die deutlichen Hinweise darauf, dass das Geschehen eskalieren wird (vgl. u.a. ebd., 11, 13, 21, 28, 38, 46, 69, 71, 87, 90, 93, 99 und 134), wecken in den Rezipierenden Neugier und Unbehagen, da bereits feststeht, dass die Ereignisse nicht mehr zu ändern sind, sich ungebremst aufbauen und dementsprechend auch entladen werden. Indem die Textstellen besprochen werden, die Hinweise auf den tragischen Ausgang des Geschehens enthalten, haben die Schüler_innen die Möglichkeit, zu verbalisieren, wie sich ihre Erwartungshaltung dem Ende des Romans gegenüber aufbaut und welche Empfindungen sie dabei haben. Die so geäußerten Erwartungen werden während der fortlaufenden Lektüre des Textes immer wieder mit den tatsächlichen Geschehnissen abgeglichen, sodass die Schüler_innen lernen, ihre persönlichen Reaktionen auf den Text richtig einzuordnen und die sich entspinnende Handlung Stück für Stück nachzuvollziehen. Elliptische Klimax Die beiden Stilmittel, die in Janne Tellers Roman am häufigsten vorkommen, sind die Ellipse, also die Aussparung sprachlicher Einheiten (vgl. Staffeldt 2016, 173), und die Klimax, also die „steigernde[] Aufzählung […], wobei die Reihenfolge semant[isch] festgelegt ist (vom weniger Bedeutenden zum Wichtigen oder vom ‚schwachen‘ zum ‚starken‘ Wort […])“ (Vollers 2016, 71). Auffallend ist, dass die beiden Stilfiguren zumeist zusammen auftreten, dass also drei elliptisch geformte Sätze nach dem Prinzip der Steigerung aufeinander folgen. Beispiele dafür sind etwa „Still. Stiller. Ganz still“ (Nichts. Was im Leben wichtig ist, 35), „Ruhe. Mehr Ruhe. Grabesruhe“ (ebd., 47), „An der Zeit! Höchste Zeit! Im letzten Moment!“ (ebd., 93) oder „Vollkommen. Ganz und gar. Komplett egal“ (ebd., 114). In jedem Kapitel finden sich, teils mehrfach, diese Arten von Aufzählungen, wenn die Erzählerin das Geschehen um sich herum reflektiert und Kommentare zu ihrem eigenen Handeln und dem der anderen einfügt. Bei der Darstellung von Agnes‘ Gedanken
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bedient sich die Autorin einer komplexeren Sprache als in den Passagen, in denen die Handlungen der ganzen Gruppe geschildert werden. Der Aufbau wird zunehmend hypotaktisch und einzelne Sätze reichen aufgrund dessen teilweise über eine Vielzahl von Zeilen (vgl. etwa ebd., 35 und 100). Im Gegensatz dazu stechen die Ellipsen und Klimaxe nicht nur optisch heraus, sondern sie unterbrechen auch den Lesefluss. Obwohl Agnes zu einer reflektierten Betrachtungsweise des Geschehens fähig zu sein scheint, gelingt es ihr stellenweise nicht, ihre Gedanken und Gefühle in vollständige Sätze zu fassen, weshalb sie in die verkürzende Form der Ellipse verfällt. Daran lässt sich der Grad ihrer Überforderung mit der Situation abschätzen: Sie ist geistig nicht mehr dazu in der Lage, die Eskalation und Gewalt zu verarbeiten und kann dementsprechend auch keine Worte dafür finden. Werteverlust hat also nicht nur zur Folge, dass Gewalt ausbrechen kann und gebilligt wird, sondern bringt auch Kontrollverlust und Verunsicherung mit sich. Anhand der Klimaxe wird die zunehmende Zuspitzung der Ereignisse in Richtung eines brutalen Endes angedeutet. Die Bedrohung kommt unverkennbar näher und kann nicht aufgehalten werden – denn wo es einen Komparativ gibt, wartet auch ein Superlativ, und im Falle von „Dreizehn. Vierzehn. Erwachsen. Tot“ (ebd., 124) sogar noch eine weitere Steigerung, die das Ende voraussagt. Das Versagen des rationalen Denkens, das durch die Dopplung von Ellipse und Klimax ausgedrückt wird, verdeutlicht die Angst, die die Erzählerin in sich spürt und deren Anzeichen sie auch in den anderen Jugendlichen wahrnimmt, und die Gefahr, die hinter der Aufgabe vertrauter Wertesysteme lauert. Passiv-Gebrauch In Anbetracht der Tatsache, dass das Passiv auch als Leideform bezeichnet wird, liegt es nahe, dass man anhand von Passivformen in der Sprache erkennen kann, wer in einem mit Gewalt aufgeladenen Kontext Täter_in ist und wer das Opfer darstellt. Im Falle von Tellers Roman stellt sich dies jedoch als nicht eindeutig heraus, da sie in Gewaltszenen weitestgehend auf den Gebrauch von passivischen Formulierungen verzichtet und ohne Umschweife schildert, wie die Jugendlichen einander Gewalt antun:
· „Ole […] kniff den frommen Kai“ (Nichts. Was im Leben wichtig ist, 16), · „[E]r würde mir eine runterhauen, wenn ich angerannt käme“ (ebd., 58), · „Hussein machte so viel Ärger, dass wir schließlich gezwungen waren, ihn zu verprügeln“ (ebd., 69),
· „Und so musste Ole Jan-Johan ein paar runterhauen“ (ebd., 94), · „[D]er große Hans […] drückte Jan-Johans rechte Hand nach oben“ (ebd., 97). Aufgrund der Tatsache, dass Leser_innen die Opferperspektive nur in dem Teil des Romans erleben, in dem Agnes ihre Sandalen abgeben muss und dass ihr dort keine körperliche Gewalt angetan wird, können sie kein Gespür für die Opfer entwickeln
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und demnach auch nicht entscheiden, wer (un-)schuldig ist. Somit ist bis zum Ende nicht klar, wer die Gewaltspirale ausgelöst hat, wer sie hätte stoppen können und ob es jemanden in der Gruppe gibt, der sich von einer Mitschuld freisprechen kann. Diese Gestaltung trägt in hohem Maße dazu bei, dass letztlich Unklarheit darüber herrscht, was der Weg gewesen wäre, die Gewalt zu vermeiden oder schnellstmöglich zu beenden. Die Leser_innen stehen somit auf einer Stufe mit den jugendlichen Figuren, die ebenfalls den Blick dafür verlieren, was moralisch richtig ist und die in ihrer Urteilsfähigkeit stark eingeschränkt sind, und teilen ihre Betroffenheit vom Verlust der Werte als Orientierung. Da der Text bewusst keine Anhaltspunkte dazu gibt, welche Handlungsalternativen vorliegen, werden diese von den Schüler_innen erarbeitet. Sie untersuchen den Text auf Stellen, an denen die Jugendlichen sich für ein anderes Vorgehen hätten entscheiden können und diskutieren in Kleingruppen, welche Auswirkungen diese veränderte Handlungsrichtung auf die Gesamthandlung hätte nehmen können. Ein Beispiel dafür kann die Hinwendung zu einem Elternteil durch eine/n der Jugendlichen zu einem früheren Zeitpunkt sein. Kai, der aus der Kirche seines Vaters eine Jesusfigur entwenden soll (vgl. ebd., 75), könnte seiner inneren Zerrissenheit vorbeugen, indem er mit seinen Eltern spricht, jedoch entscheidet er sich dagegen. Diese verschiedenen Möglichkeiten werden von den Schüler_innen analysiert und jeweils begründet, sodass sie ein tieferes Verständnis für die Dynamik und Motivation der Handlung entwickeln: Woran liegt es, dass die jugendlichen Protagonist_innen keinen anderen Ausweg sehen, als sich ihrem gemeinsam festgelegten Schicksal zu fügen? Gefühlte Unvermeidbarkeit Die Jugendlichen erleben im Fortlauf der Erzählung, wie eine ursprünglich gut gemeinte Idee sich zu einem Selbstläufer entwickelt, deren Folgen sie sich nicht entziehen können und dessen Ausgang sie nicht hätten abschätzen können. Die Kontrolle über ihr Handeln entgleitet ihnen schrittweise, sie fühlen sich von ihren eigenen Idealen instrumentalisiert und rechtfertigen jeden Schritt damit, dass die Zielsetzung, nämlich Pierre Anthon von der Bedeutung des Lebens zu überzeugen, erreicht werden muss. Deutlich wird dieses Phänomen an verschiedenen wiederkehrenden Formulierungsmustern, die ausdrücken, dass die Jugendlichen selbst nicht dazu in der Lage sind, sich zu stoppen. Im größten Teil der Fälle finden sich Formulierungen mit dem Modalverb müssen, welches einen Zwang impliziert, dem die Schüler_innen sich unterworfen sehen; sie haben schlichtweg keinen anderen Ausweg, als ihren Mitschüler_innen Gewalt anzutun, um sie dazu zu bringen, sich der Mehrheit zu beugen (vgl. u.a. ebd., 28, 33, 39, 42, 54, 67, 72, 80, 94 und 135). Am deutlichsten wird der Kontrollverlust der Vernunft über das Handeln, als Jan-Johans Finger abgetrennt wird und es heißt: „Viermal musste Sofie das Messer hineinrammen“ (ebd., 97). Die Erzählerstimme hinterfragt weder Sofies Kaltblütigkeit noch ihre Brutalität und
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schildert die Vorkommnisse nüchtern und sachlich, was den Eindruck vermittelt, dass weder Reue noch Unsicherheit entstehen, sondern dass das gewaltsame Verhalten als notwendig empfunden wird. Weitere Formulierungen, die eine ähnliche Interpretation zulassen, sind solche, die eine gewisse Form der Rechtfertigung des eigenen Handelns mit dem Nutzen für das große Ziel darstellen. So heißt es etwa, die Schüler_innen seien „gezwungen“ (ebd., 69) gewesen, Hussein körperlich zu unterdrücken, oder dass sie „nun schon so weit gekommen“ (ebd., 78) seien und demnach nicht weglaufen könnten, obwohl sie nach dem Diebstahl der Jesusfigur Angst empfinden. Jedes geforderte Opfer wird von der Gruppe akzeptiert, wenn der Fordernde nur eine gute Begründung für den Bedeutungsgehalt der zu opfernden Sache anbringen kann. Als etwa Kai verlangt, dass Rosa dem Hund den Kopf abschneiden solle, konstatiert Agnes: „Es gab nichts weiter zu reden“ (ebd., 85). Einzelne zählen weniger als das gemeinsame Ziel der Gruppe; jede und jeder bekommt die Folgen seines Abweichens zu spüren, sobald es Einfluss auf den Erfolg der Mission der Gruppe nimmt. Zum Ende hin verwendet die Erzählfigur zweimal das Verb wollen (vgl. ebd., 129 und 134) und drückt damit das Gefühl aus, dass sie und die anderen Beteiligten nicht mehr Herr ihrer eigenen Wünsche sind. Der übermächtige Wille nach Vergeltung und Gerechtigkeit treibt die enttäuschten Jugendlichen dazu, sich gegenseitig anzugreifen und sich an der Person zu rächen, die sie auf die Idee gebracht hat, die Bedeutungssuche zu beginnen. Das Gefühl, etwas tun zu müssen, schlägt in die Überzeugung um, etwas tun zu wollen, sei es auch brutal und unmenschlich. Schüler_innen nähern sich diesem Phänomenbereich, indem sie sich intensiv mit dem Gebrauch der Modalverben auseinandersetzen und den Zusammenhang von Sprache und sich entfaltendem Inhalt herausarbeiten.
Fazit Die Analyse von Janne Tellers Jugendromans Nichts. Was im Leben wichtig ist zeigt deutlich, wie die Autorin mithilfe sprachlicher Mittel und der Konstellation von Figuren in einem komplexen Abhängigkeitsgefüge eine Gewaltspirale erzeugt, die sich bis zur Eskalation hochschraubt. Die dargestellten Jugendlichen scheinen nicht fähig, die schicksalhafte Handlung zu unterbrechen. Leise Zweifel klingen an und doch bedarf es letztlich einer Bluttat, bis eines der Opfer sich seinen Eltern anvertraut. Die Gruppe scheint innerhalb ihrer ganz eigenen Dynamik die Negation aller Werte, die ihnen beigebracht wurden, zu akzeptieren und diese bereitwillig voranzutreiben. Dabei schrecken sie vor nichts zurück und die Situation eskaliert sukzessive auf diversen Ebenen. Es wird ein sehr deutliches Bild von ansteigender sozialer Gewalt gezeichnet, die sich aus Hilflosigkeit und Unsicherheit entwickelt und an der jeder Einzelne zerbricht. Der Verlust eines stabilen Wertesystems und der Regeln, die mit einem solchen einhergehen, führt zur Desorientierung und inneren Ablösung der Jugendlichen
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voneinander und von ihren eigenen Persönlichkeiten. Eine ‚Parallelwelt‘, in der das Altbekannte und Vertraute keinen Wert mehr zu haben scheint, erwächst aus der Verunsicherung durch einen Klassenkameraden, der das gesellschaftliche System hinterfragt. Pierre Anthon als Rebell im Pflaumenbaum zeigt den Jugendlichen Mängel an der ihnen bekannten Welt auf und macht sie so zunächst wütend, dann nachdenklich und rachsüchtig. Schlussendlich muss er dabei zusehen, wie seine Ansichten so verquere Auswirkungen in seinen ehemaligen Klassenkameraden auslösen, dass sie ihn letztlich das Leben kosten. Dieser Roman kann in einem Lernarrangement, in dem sowohl analytische Überlegungen als auch die individuellen emotionalen Reaktionen auf den Text einen Platz haben, dazu dienen, Jugendliche für Werte, Recht und Moral zu sensibilisieren, ihr Verständnis von Gewalt und Schuld zu definieren und zu überdenken, ihre Wahrnehmung für außer Kontrolle geratendes und grenzüberschreitendes Verhalten zu schulen und ihnen einen besseren Zugang zu dem in der Literatur behandelten Thema zu ermöglichen. Somit bilden sie ein reflektiertes Weltverständnis aus und setzen sich nicht nur mit aktuellen, relevanten und sie betreffenden Themen auseinander, sondern erarbeiten ein vertieftes Verständnis für Handlungsdynamik und -logik, entwickeln Ansätze für Reflexion und Bewältigung emotional fordernder Inhalte und vollbringen die Transferleistung zwischen der eigenen Lebenswelt und der Erzählwelt. Die Herausforderung, die eine Beschäftigung mit einem Thema wie Gewalt und dadurch bedingten Wertverlust unter Jugendlichen im Unterricht darstellt, ist enorm und es ist dennoch unerlässlich, dass Lehrer_innen sich ihr stellen, um einen Beitrag zur Hinterfragung, zum tiefgreifenden Verständnis und damit zur Stabilisierung eines Wertesystems zu leisten.
Literatur- und Quellenverzeichnis Primärliteratur Teller, Janne (2010): Nichts. Was im Leben wichtig ist. München.
Sekundärliteratur Gaschke, Susanne (2010): Lehrer sagten, dieses Buch sei schädlich. In: zeit.de. (Verfügbar unter: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2010-08/janne-teller) (15.03.2017). Lötscher, Christine (2010): Wer hat Angst vorm Nihilisten? In: tagesanzeiger.ch. (Verfügbar unter: http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/buecher/Wer-hat-Angst-vormNihilisten-/story/20053379) (15.03.2017). Martínez, Matias/Scheffel, Michael (1998): Einführung in die Erzähltheorie. München.
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Nijstad, Bernard/van Knippenberg, Daan (2007): Gruppenpsychologie: Grundlegende Prinzipien. In: Jonas, Klaus/Stroebe, Wolfgang/Hewstone, Miles (Hg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung. Heidelberg, 409–441. Sader, Manfred (1998): Psychologie der Gruppe. Weinheim. Staffeldt, Sven (2016): Ellipse. In: Glück, Helmut/Rödel, Michael (Hrsg): Metzler-Lexikon Sprache. Stuttgart/Weimar, 173. Strobel, Heidi (2010): Der Nihilist im Pflaumenbaum. In: faz.net. (Verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/kinderbuch/janne-tellersjugendroman-nichts-was-im-leben-wichtig-ist-der-nihilist-im-pflaumenbaum-1612950.html) (15.03.2017). Vollers, Elisabeth (2016): Aufzählung. In: Glück, Helmut/Rödel, Michael (Hrsg): MetzlerLexikon Sprache. Stuttgart/Weimar, 71.
What’s so funny about Love, Peace and the American Way? Konstitution und Wandel von Werten zwischen jüdischen Wurzeln und amerikanischem Traum am Beispiel der Comicfigur Superman Janwillem Dubil Die Dominanz des Romans in der Kompilation einschlägiger Klassiker verstellt zunehmend den Blick darauf, dass auch andere literarische Gattungen Texte aufweisen, die nicht nur die Voraussetzungen erfüllen, als ,klassisch‘ rezipiert zu werden, sondern zudem auch Perspektiven auf diesen Begriff eröffnen, die die kanonisierte Literatur nicht aufzuzeigen vermag. So verfügt etwa die vielfach als trivial diskreditierte Comic-Serie Superman, die seit 1938 konstant produziert wird und einen der „allgegenwärtigsten und zugleich am wenigsten beachteten Kulturbestände“ (Hausmanninger 1989, 2) des 20. Jahrhunderts darstellt, durch ihre Publikationsgeschichte über ein Potenzial, aus historischer Perspektive „auf Kontinuitäten und Wandel hin“ (Ecke 2016, 234) untersucht zu werden, das zeitgleich erschienenen Werken der Hochliteratur vollständig fehlt. Da der von Autor Jerry Siegel und Zeichner Joe Shuster konzipierten Serie, deren erste Episode im Juni 1938 in dem Heft Action Comics #1 erschien, der Status des Klassischen bislang nicht zugesprochen wurde, empfiehlt es sich voranzustellen, wie sich dieser konstituiert: Legt man das Kriterium des Erstrangigen, Mustergültigen und Normsetzenden an (vgl. Zabka 2007, 386), so ist darauf zu verweisen, dass der Erfolg von Superman die Etablierung des Comic-Hefts und in der Folge die Ausbildung eines kompletten Industriezweigs initiierte, während er parallel das Genre der Superheldenerzählung etablierte (vgl. Fuchs/Reitberger 1982, 18). Wie die Serie die Voraussetzung erfüllt, „konzentriert und unverfälscht“ (Zabka 2007, 386) die typischen Merkmale ihrer Entstehungszeit wiederzugeben, so dass sie „das Wesen der zeitgenössischen Welt“ (Scholl 2005, 11) spiegeln, wird dezidiert Inhalt der folgenden Ausführungen sein. Auch die Definition des Klassischen als überzeitlich Gültiges, als ein Text, der „kontinuierlich rezipiert“ (Zabka 2007, 386) wird, ist angesichts der knapp 80-jährigen Erfolgsgeschichte der Serie zur Genüge erfüllt. Durch die Vielzahl und den Umfang der einzelnen Episoden, die in dieser Zeit 1 publiziert wurden , ist Superman auch als Chronik des 20. und 21. Jahrhunderts 1
Folgende Angaben sind geeignet, diese Ausmaße zu verdeutlichen: Action Comics brachte es, bevor die Serie 2011 unter einer neuen Nummerierung fortgesetzt wurde, auf 919 Einzelhefte, es
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lesbar, an der sich „die Bezüge zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und Serienentwicklung“ (Hausmanninger 1989, 7) innerhalb der letzten acht Dekaden untersuchen lassen. Auch die Titelfigur wurde dabei multiplen Veränderungen unterworfen (vgl. Denison 2007, 161), unter denen ihre historisch divergierenden Wertevorstellungen eine exponierte Position einnehmen (vgl. Karp 2009, 2). Es gilt aufzuzeigen, dass die moralische Konzeption der Serie einem stetigen Wandel unterliegt, der „mit den je aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen interagiert und nicht selten als pointierter Kommentar zu diesen gelesen werden kann“ (Hausmanninger 1989, 2), wodurch das „Serienethos“ (ebd., 201) auch zu einer „geschichtliche[n] Größe“ (ebd.) avanciert. Für die folgenden Ausführungen ist im Hinblick auf den didaktischen Nutzen einer Auseinandersetzung mit Superman ein weiterer Aspekt bedeutsam: In jüngerer Vergangenheit werden verstärkt jene Texte in den Rang des Klassikers erhoben, die einen „überliterarischen Status“ (Scholl 2005, 13) erlangt haben, indem ihre Figuren „längst mehr als literarische Gestalten“ (ebd.) geworden sind und sich als global bekannte Ikonen emanzipiert haben. Sie gehören in solch einem Maße „zum kollektiven Gedächtnis der modernen Welt“ (ebd.), dass eine Vertrautheit mit den zugrundeliegenden Werken nicht mehr obligatorisch ist, um über relevante Kenntnisse ihrer Protagonisten zu verfügen. Superman, der als Figur bereits seit den 1940er Jahren eine „gleichzeitige Präsenz auf allen medialen Kanälen“ (Ecke 2016, 237) aufweist, exemplifiziert dies: Als Teil einer umfassenden Verwertungskette wird er nahezu konstant in Form von Fernseh- oder Kinoadaptionen aufbereitet (vgl. Hughes 2009, 8), während sein Konterfei und Emblem durch MerchandisingArtikel „von Sammelkarten über Spielzeug bis hin zu Vintage-Kleidung oder der Kaffeetasse“ (Schikowski 2014, 80) derart omnipräsent sind, dass „schon Kindergartenkinder wissen“ (ebd.), wie Superman aussieht. Somit rekurriert der didaktische Ansatz auf einen Topos, der besonders im Alltag von Kindern und Jugendlichen fest installiert ist und an ein kollektives Interesse und Vorwissen anknüpft, das bezüglich kanonisierter Romanklassiker nicht einmal im Ansatz besteht. Aktualität erhält das didaktische Potenzial der Serie zudem über ihren Subtext, der seit 80 Jahren sukzessive die Themenkomplexe Flucht und Migration verhandelt und dabei die Geschichte der Erzählform Comic ebenso aufgreift, wie die persönliche Biografie der beiden Erfinder Supermans. Eine entsprechende Rekapitulation bildet daher im folgenden Abschnitt die Grundlage der weiteren Ausführungen und ermöglicht es anschließend, die Publikationsgeschichte der Figur in sechs, hinsichtlich des Serienethos stark divergierende Phasen zu differenzieren, an die sich die abschließende Frage nach weiterführenden Ansätzen knüpft.
folgten Superman (1939–1987) mit 423, Superboy (1949–1977) mit 230, The Adventures of Superman (1987–2006) mit 226 und Superman: The Man of Steel (1991–2003) mit 134 Ausgaben. Hinzu kommen kurzlebige Publikationen, gemeinsame Serien mit anderen Superhelden und SpinOffs in einem bibliografisch kaum mehr aufschlüsselbaren Umfang.
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Flucht und Migration, die Entstehung des Comics und die Konstitution des Helden Oberflächlich betrachtet erscheint die Serie als „genuin amerikanisches, jedoch international verbreitetes Produkt“ (Hausmanninger 1989, 2), das „spezifisch westliche Wertvorstellungen und Ethosformen“ (ebd.) in „beinahe alle Kulturen“ (ebd.) exportiert. Wie die folgenden Ausführungen zeigen werden, offenbart ein zweiter Blick aber vielmehr, dass Superman sich zwar plakativ dem Eintreten für „Truth, Justice and the American Way“ (Karp 2009, 1) verschrieben hat, seine Interpretation dieser Werte aber über bloßen Patriotismus hinausgeht: „Eine zweite Chance. Das ist, was Amerika wirklich auszeichnet. Das ist die amerikanische Lebensart. Leben, Freiheit und das Streben nach Glück – und zweite Chancen. Keiner von uns ist gezwungen, etwas zu sein, das er nicht sein möchte. […] Das sind die Prinzipien, auf denen Amerika errichtet wurde, aber sie gelten nicht nur für die Menschen, die hier geboren wurden, sie gelten für jeden.“ (Robertson/Straczynski/Barrows 2011, 30)
Das Aufgreifen des Motivs der Migration erweist sich nicht nur vor dem Hintergrund der Serie, sondern bereits in Bezug auf die Erzählform Comic als bezeichnend: Unmittelbarer als andere literarische Gattungen wird diese durch Flucht und Einwanderung konstituiert, denn als sie sich um 1896 in New York auszubilden beginnt (vgl. Schikowski 2014, 29), koexistieren im „ethnischen Gemisch“ (Knigge 2016, 6) der Stadt über siebzig Sprachen und einzig der „neuartige Bildwitz“ (ebd.) konnte aufgrund seiner simplen Texte und der Vermeidung komplexer Handlungen von Einwanderern jeglicher Herkunft dennoch verstanden werden (vgl. Eckhorst 2012, 30). In der Folge werden neue Comic-Serien von Zeitungen gezielt konzipiert, um bestimmte Migrantengruppen anzusprechen (vgl. Fuchs/Reitberger 1982, 15), da diese aufgrund fehlender Sprachkenntnisse oder mangelnder Bildung auf anderem Wege nicht als Käuferschicht erreicht werden können (vgl. Eckhorst 2012, 30). Auch Superman ist ein Immigrant (vgl. Becker 2011, 8) und knüpft auf diese Weise an die Ursprünge des Comics an: Geboren wird er als Kal-El auf dem Planeten Krypton, den eine Implosion zerstört (vgl. Engelmann 2011, 319), kurz nachdem es seinen Eltern gelingt, ihren Sohn im Säuglingsalter in einer Raumkapsel zur sicheren Erde zu schicken (vgl. Knigge 2004, 191). Im ländlichen Kansas gestrandet, findet ihn das Ehepaar Jonathan und Martha Kent, das ihn am Rande der Kleinstadt Smallville auf einer Farm großzieht (vgl. Karp 2009, 16). Unter dem Namen Clark aufwachsend, übernimmt Kal-El als „typischer Abkömmling der amerikanischen Mittelschicht“ (Hausmanninger 1989, 156) die bodenständigen Wertvorstellungen seiner Adoptiveltern, in deren Mittelpunkt Moralempfinden und eine ausgeprägte Arbeitsethik stehen. Als er erkennt, dass ihm die Sonne der Erde ein breites Spektrum übermenschlicher Kräfte verleiht, die von immenser Körperstärke über die Fähigkeit zu fliegen bis hin zu einem Hitzeblick reichen, schwören ihn die Kents darauf ein,
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diese Hypertrophien zum Allgemeinwohl einzusetzen (vgl. Knigge 2008, 92). Als Superman beginnt Kal-El, Verbrechen zu vereiteln und Menschen in Not zu retten. Er avanciert zum größten Helden der Erde und wird „die ultimative Metapher auf den amerikanischen Traum, zu dem Migration gehört“ (Endres 2015, 3). Im Laufe seiner Publikationshistorie hat Superman eine modern-inklusive Interpretation des ‚American Way‘ entwickelt. Die finale Seite aus Superman #711 (2011, 30) setzt durch den fortlaufenden Monolog exemplarisch Selbstwahrnehmung, Migrationshintergrund und ländliches Aufwachsen des Helden mit der Diversität der kontemporären amerikanischen Gesellschaft in Bezug (s. Abbildung 6). Die Genese der Figur verweist dabei auf die konkrete Biografie ihrer Urheber (vgl. Karp 2009, 16): Jerry Siegel und Joe Shuster stammten gleichermaßen aus jüdischen Einwandererfamilien (vgl. Engelmann 2011, 318) der unteren Mittelschicht, in denen sie im Glauben an die sozialen Aufstiegschancen des amerikanischen Traums erzogen wurden (vgl. Feige 2005, 717). Dabei wuchsen sie nicht in Kansas, sondern im vergleichbar ländlichen Ohio auf (vgl. Knigge 2008, 95), einem römisch-katholisch geprägten Umfeld, in dem sie sich selbst wie die Repräsentanten einer fremden Zivilisation fühlten (vgl. Feige 2005, 717). Die Konzeption Supermans lässt sich folglich auch „im Kontext der jüdischen Erinnerungsarbeit“ (Engelmann 2011, 318) lesen, kulminieren in der Figur doch alttestamentarische Vorbilder wie Moses und dessen Status als Findelkind (vgl. Knigge 2004, 193) oder Samson (vgl. Fuchs/Reitberger 1982, 101), dessen gewaltige Körperkraft Kal-El noch übertrifft. Auch die legendäre Figur des Golems, eines übermächtigen, aus Lehm geformten Wesens, das dem Schutz des jüdischen Volkes dient (vgl. Engelmann, 317), wird als Vorbild des Helden gesehen.2 Den Subtext der Serie bilden daher „das Verhältnis von Immigration und Assimilation, die Bedrohungssituation in Europa und die eigene Marginalisierung in einer Gesellschaft, in der Juden mit einem alltäglichen Antisemitismus zu tun hatten“ (ebd. 2011, 318). Synchron verhandelte Superman aber auch Motive wie die „Erfahrung verkannter Identität“ (Knigge 2016, 14) oder eine „Isolation in einer nur leidlichen Heimat“ (ebd.), die unter Migrant_innen aller Länder universell nachempfunden werden und den Helden gerade für die Kinder der Einwanderergenerationen zu einer Identifikationsfigur ersten Ranges erheben (vgl. Karp 2009, 22). Gerade im didaktischen Einsatz für eine teilweise durch Flucht und Einwanderung geprägte Schülerschaft lässt sich hier auch in formaler Hinsicht eine besondere Eignung der Serie konstatieren: Die plakative und überzeichnete Darstellung, die den Superheldencomic bis in die 1960er Jahre prägt, lässt die Präsentation der genannten Themen unmittelbarer hervortreten und durch ihre Anschaulichkeit intensiver wirken, als es die konventionelle Buchstabenliteratur vermag. Gleichsam ist das Bildangebot auch dann noch verständlich, wenn die Kenntnisse der Unter2
Zu den Gemeinsamkeiten zählt etwa, dass der Golem durch das Platzieren des hebräischen Schriftzugs „emeth“ („Wahrheit“) auf seiner Stirn zum Leben erweckt wird und in der Folge für einen Wert einsteht, den auch Superman proklamiert (vgl. Engelmann 2011, 317).
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Abbildung 6: Chris Robertson/J. Michael Straczynski/Eddy Barrows: Superman #711 (Vol. 3), © 2011, DC Comics, New York, 30.
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richtssprache seitens der Schüler_innen bisher nur rudimentär ausgebildet werden konnten – die Popularität des Comics unter den New Yorker Migrationsgruppen von 1896 (vgl. Schikowski 2014, 35f.) vermag als Beleg dieser These zu gelten.
Die historische Entwicklung der Wertstruktur 1938–1941: Des Cowboys extraterrestrisches Echo Der frühe Superman, der primär durch seine physische Omnipotenz gekennzeichnet ist, entspringt noch ganz den Wunschvorstellungen seiner nach Anerkennung strebenden Urheber (vgl. Knigge 2004, 192). Gleichzeitig ist er durch einen moralischen Auftrag gekennzeichnet, der den Werten, die der amtierende Präsident Franklin D. Roosevelt in den auslaufenden 1930er Jahren propagiert, entspricht: Der Bessergestellte ist angehalten, den weniger Privilegierten in seinem Streben nach sozialem Aufstieg zu unterstützen (Karp 2009, 22). In Verbindung mit der altruistischen Orientierung, die ihm die Kents vermittelt haben, verleihen diese Werte Supermans Handeln „einen Rahmen“ (Hausmanninger 1989, 100), aber letztlich keine Einschränkungen (ebd., 68). Kal-El handelt in der Folge nach einem „selbstumrissenen“ (ebd., 100) Ethos, er scheint „aus quasi naturgegebenem Recht“ (ebd., 75) über die Gesetze der menschlichen Gesellschaft erhaben und ist einzig an seine eigenen Moralvorstellungen gebunden (vgl. ebd., 68), nach denen er festlegt „wie die Benefizien auszusehen haben, die er der Menschheit zukommen läßt“ (ebd., 202). Um nun durchzusetzen, „was er zur Beförderung der Menschheit im Namen der Menschlichkeit für richtig erachtet“ (ebd., 202), überschreitet Superman nach eigenem Ermessen Gesetze, verhindert Rechtsprechungen, begeht Hausfriedensbruch, Nötigung und Freiheitsberaubung (vgl. ebd., 75–202). Folglich kooperiert er nicht mit der Polizei und dem Rechtssystem, sondern handelt lediglich in einer „gewissen Kohärenz“ (ebd., 70) mit diesen Institutionen. Da es dem Helden aber wiederholt gelingt, seine kriminell agierenden Antagonisten auf diese Weise zu bekehren, avanciert er stets aufs Neue vom Kriminellen „zum missionarischen Pädagogen“ (ebd., 76). Das Erreichen eines moralisch erstrebenswerten Ziels erklärt in diesem Fall „das gesetzlose Handeln des Helden zum sittlichen Handeln“ (ebd.). In einer Zeit, in der sich unter dem Druck von Massenarbeitslosigkeit (vgl. Knigge 2004, 193) und einer seit der Prohibition ständig virulenten Kriminalität der Wunsch „nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung“ (Hausmanninger 1989, 202) verstärkt, verkörpert Superman die Sehnsucht nach einem „keiner gesellschaftlich verankerten Norm unterworfenen, moralisch per se integren Helden“ (ebd.), der instinktiv über richtig und falsch entscheidet und „das Gute stets nicht nur will, sondern auch schafft“ (ebd.). Dass sich die Figur dabei in einer unhinterfragten Verfügung über Andere zur Entscheidungsinstanz über das Leben Einzel-
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ner aufschwingt und in Form eines politisch-terroristischen Handelns auch in Auseinandersetzungen eingreift, deren Lösung der Regierung obliegt, verleiht dem frühen Superman jedoch einen „latent faschistoiden Zug“ (ebd., 77). 1942–1945: Mobilmachung und erstarkender Patriotismus Mit dem Eintritt Amerikas in den Zweiten Weltkrieg am 8. Dezember 1941 werden die Superhelden zur „expliziten Propaganda“ (ebd., 137) als „Allzweckwaffe gegen den Faschismus“ (Ecke 2016, 234) instrumentalisiert. Superman demontierte nun deutsche U-Boote und „packte Hitler und Hirohito am Kragen“ (Knigge 2008, 93), während er gleichzeitig in Werbeanzeigen den Kauf von Kriegsanleihen und Spenden an das Rote Kreuz forciert (vgl. Fuchs/Reitberger 1982, 104). An der Front avanciert die Figur zur moralischen Stütze der Soldaten (vgl. Moscati 1988, 138), denen sie als „Ersatz konventioneller Religion“ (Fuchs/Reitberger 1982, 104) dient. Als patriotisches Symbol wird sie zu einer amerikanischen Institution (vgl. Knigge 2008, 93), die als „Spiegel des neu erwachenden Selbstgefühls“ (Hausmanninger 1989, 59) Zuversicht und Zusammenhalt der US-Bevölkerung stärkt (vgl. Knigge 2008, 93). Dadurch, dass Superman für sein Land in den Krieg zieht, erweist er sich sowohl als aufrechter Amerikaner (vgl. Hausmanninger 1989, 79) als auch als Immigrant, „der die Aufgabe des Golems zum Schutz des jüdischen Volkes übernommen hat“ (Engelmann 2011, 319), indem er den antisemitischen Armeen Hitlers entgegentritt. Gleichzeitig nobilitiert ihn sein Engagement zunehmend als „gesellschaftsfähig“ (Hausmanninger 1989, 202) und schwächt seine moralische Ambivalenz ab: Als ungebrochen positive Erscheinung kämpft Kal-El, nun klar in die Hierarchie des amerikanischen Militärapparats eingebunden, für das Allgemeinwohl der freien Welt und vertritt nicht mehr ein selbstformuliertes Ethos, sondern konkret „das von Amerika requirierte moralische Recht“ (ebd., 221) als „postulierte, weltgeschichtliche Mission“ (ebd.). 1946–1969: Der assimilierte Held als Stütze der Gesellschaft Die Darstellung Supermans als assimilierter Held, der gewillt ist, „sich den kollektiven Regeln, vorzüglich dem Gesetz, zu unterwerfen“ (ebd., 202f.), setzt sich auch nach dem Ende der globalen Kampfhandlungen fort (vgl. ebd., 79). Die Figur wird zu einem „legitimen Law-enforcer“ (ebd., 203), der nun den juristischexekutiven Auftrag der Verbrechensbekämpfung vertritt und die lose Kohärenz mit dem Gesetz durch eine konkrete Kooperation substituiert, die ihn zu einem „Superpolizist[en] unter normalen Polizisten“ (ebd., 70) erhebt. Dabei erstreckt sich der neue Status als Verteidiger der durch das Gesetz geschützten Gesellschaft aber vornehmlich auf die mittleren bis oberen sozialen Schichten (vgl. ebd., 89). Auch wohlhabenden Juwelieren und Bankiers wird nun Kal-Els Schutz zuteil, obgleich sie als Privilegierte „keiner Hilfe, sondern allenfalls eines Wächters bedürfen“ (ebd.,
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203). Die Werte der Figur erscheinen nun in neuer Hinsicht problematisch, da sie Superman als „Vertreter eines entfesselten Kapitalismus“ (Ecke 2016, 233) lesbar werden lassen, der „einen fundamental ungleichen Status Quo“ (ebd.) schützt, statt weiterhin für die Bedürftigen einzutreten. Diese Entwicklung verschärft sich ab 1954 zunehmend, als mit dem Comics Code ein Regelwerk eingeführt wird, das konservative amerikanische Wertvorstellungen festschreibt (vgl. Schikowski 2014, 72f.) und dazu eine „massive Restriktion der Erstellung realer und gesellschaftlicher Bezüge“ (Hausmanninger 1989, 206) vornimmt, die eine verstärkte „Bildung von Typen und Travestien“ (ebd.) initiiert. Superman wird daraufhin zu einer reinen „Inkarnation des Guten, Wahren und Schönen“ (ebd.) erhoben, die sich in das politisch vorherrschende „Klima ethischer Schwarzweißmalerei“ (ebd., 49) einfügt wie kaum eine andere Comic-Figur. In Gestalt einer „wandelnden Wertstruktur“ (ebd.) bestätigt er in der Folge unreflektiert die „mittelständisch-bürgerlichen Normvorstellungen der 50er und 60er Jahre“ (ebd.). Die USA werden in dieser Phase als ein „Amerika der Weißen“ (ebd.) dargestellt, da es der Code verbietet, Bevölkerungsgruppen zu verspotten und die Autoren aus Angst davor, diese Auflage ungewollt zu verletzen, sämtliche ethnischen Minderheiten aus ihren Geschichten verbannen (ebd.). Superman scheint nun vollständig in den amerikanischen Alltag assimiliert, sein Migrationshintergrund wird nicht einmal mehr im Subtext behandelt. Zwar beginnt er, als Reaktion auf den russisch-amerikanischen Wettlauf ins All ab 1957, vermehrt im Weltraum zu agieren (vgl. Ecke 2016, 234), doch geschieht dies eben nicht aus einer Sehnsucht nach Krypton heraus, sondern einzig, um die USA vor kosmischen Gefahren zu schützen (vgl. Koppers 2014, 35), respektive um als Symbol einer überlegenen amerikanischen Raumfahrt zu fungieren. Zunehmend zeichnet sich in der Serie ein zeitgemäßer antikommunistischer Zug ab, der etwa hervortritt, als Kal-El in präsidialem Auftrag gegen Revolutionäre ins Feld zieht, die dem kubanischen Vorbild nachempfunden sind (vgl. Hausmanninger 1989, 137). 1970–1985: Ein Wanken des Weltbildes Ende der 1960er Jahre führt der gesellschaftliche Wandel sukzessiv zu einer tiefgreifenden Veränderung des Superheldencomics (vgl. Koppers 2014, 35): Als die Bürgerrechtsbewegung die Rassendiskriminierung ins öffentliche Bewusstsein hebt, Unruhen in den urbanen Slums die soziale Not unübersehbar werden lassen, zunehmende Berichte über Drogenabhängigkeit „das Bild vom gesunden, sauberen Amerika“ (Hausmanninger 1989, 223) erschüttern und Studentenunruhen weitere „(vor allem Wert-)Konflikte und Verunsicherungen in der amerikanischen Gesellschaft“ (ebd.) initiieren, schlägt sich dies als „Verunsicherung der Helden, als Zweifel an Politik und Politikern“ (ebd.) auch im Comic nieder, dem ein paralleler Ab-
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bau der Zensurbestimmungen eine „Differenzierung der Darstellung“ (ebd., 206f.) ermöglicht. Superman kann sich in dieser Phase nicht weiterhin als „agierendes Gesetzbuch“ (ebd., 207) generieren, sondern muss sich und sein Handeln verstärkt in Frage stellen (ebd.). In dieser „humaneren Orientierung“ (ebd., 120) verliert die „ethische Ordnung der Welt […] ihre Eindeutigkeit“ (ebd.), der obrigkeitstreue Held ist gezwungen, zunehmend eine „Unzulänglichkeit des Gesetzes allein für die Herstellung des (sittlich) Guten“ (ebd., 207) zu erkennen und sich mit den Grauzonen zwischen Gut und Böse, Schuld und Bestrafung auseinanderzusetzen, wodurch er erstmals wahrlich „zum moralischen Subjekt“ (ebd.) wird. Zwar bleiben „Status und Habitus des Gesetzeshüters“ (ebd., 208) erhalten, doch die Flucht in die „(scheinbar) aufrechte Haltung der Gesetzestreue“ (ebd., 209) ist kaum mehr als ein Ausweg, wenn eine ethische Stellungnahme in der unübersichtlich gewordenen Welt nicht mehr leistbar ist. Gleichzeitig muss Superman erkennen, dass sein Handeln dazu beiträgt, die „Mündigwerdung des Volkes“ (ebd., 208) zu behindern: In Superman #247 (vgl. Elliot S. Maggin/Curt Swan, 1972) wirft ihm ein außerirdischer Rat vor, die Entwicklung der menschlichen Rasse zu verzögern, da sein Schutz sie davon abhalte, Eigenverantwortung zu übernehmen. Kal-El beginnt daran zu zweifeln, dass es gerechtfertigt ist, sich nach eigenem Ermessen in die Ereignisse auf der Erde einzumischen: „Seit Jahren spiele ich den großen Bruder der menschlichen Rasse! Habe ich mich geirrt? Verlassen sie sich zu sehr auf mich… Und zu oft…?“ (ebd., 9) Superman weigert sich nun, die Konflikte der Menschen für sie auszutragen und fordert diese stattdessen auf, aktiv zu werden, sich zu politisieren und die eigenen Bürgerrechte einzufordern (vgl. Fuchs/Reitberger 1982, 238). Seine Legitimation wird somit vermindert, denn „wo das Volk sich als mündig erweist und seine Geschicke selbst in die Hand nimmt“ (Hausmanninger 1989, 134), wird er zunehmend überflüssig. Ein Eingreifen ist nur noch bei Naturkatastrophen oder außerirdischen Angriffen erforderlich, weshalb die Figur zunehmend eine beobachtende Funktion einnimmt und Entwicklungen zwar initiiert, anschließend aber nicht mehr sukzessive vorantreibt. Indem die Außerirdischen Superman für seine selbst formulierte Entscheidungshoheit kritisieren, während die amerikanischen Bürger mit Unverständnis reagieren, als er ihnen eine schnelle Lösung verweigert, wird Kal-El erneut als heimatlose, isolierte Migrationsfigur konnotiert, die zwischen allen Fronten steht. Dieser reflektierte, selbstkritische Ansatz verflacht allerdings bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wieder zunehmend (vgl. ebd., 135), bevor sich die Serie mit Beginn der folgenden Dekade auf eine „Botschaft anachronistischer Stärke“ (ebd., 162) zurückbesinnt. In den frühen 1980er Jahren wird Superman als „der starke Mann der frühen und mittleren Reagan-Ära“ (ebd., 210f.) inszeniert, dessen latent faschistoide Züge abermals hervortreten (vgl. ebd., 166): Aufgrund seiner physischen Autarkie wird der Held „zum antidemokratisch agierenden Garanten
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der Demokratie erklärt“ (ebd., 163), der die Vorstellung eines Individuums verkörpert, „das seine und die kollektive Freiheit gegen jede politische Verflechtung mit apolitischen Mitteln selbst herstellt und durchsetzt“ (ebd., 161). 1986–1993: Der Bruch mit den Werten als Sündenfall Es lässt sich an dieser Stelle festhalten, dass der Wandel, den die Serie in den Jahren von 1938 bis 1985 vollzieht, primär auf Verschiebungen innerhalb der amerikanischen Gesellschaft zurückzuführen ist. Dies ändert sich in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre, in der es vornehmlich thematische Entwicklungen in der Comicindustrie selbst sind, die eine Neubestimmung von Supermans Wertvorstellungen initiieren: In eine kommerzielle Krise geratend, brechen die Hefte zunehmend mit ihren Konventionen (vgl. Schikowski 2014, 95f.), wobei besonders der Ansatz, die Superhelden als „Neurotiker, desillusionierte Noir-Figuren oder brutale Schläger“ (Ecke 2016, 234) zu interpretieren, regen Zuspruch erfährt. Auch die vermehrte Psychologisierung der Protagonisten (vgl. Koppers 2014, 36) und eine Entwicklung „hin zur Pathologie, zur offenen Politisierung und zur Gewalt“ (Ecke 2016, 234) erschließt dem Genre ein neues Publikum, dem der optimistische, moralisch integre Superman nun wie ein Anachronismus erscheint. Mit Man of Steel (1986) wird deshalb eine neue Serie lanciert, die der Figur eine realistischere Grundlage verleihen soll (vgl. Knigge, 193), indem Kal-Els Omnipotenz bei gleichzeitiger Betonung seiner moralischen Ambivalenz reduziert wird. Superman erhält nun den Charakter eines physisch überlegenen, „psychisch jedoch durchschnittlich-menschliche[n] Wesen[s]“ (Hausmanninger 1989, 211), wodurch der Gegensatz zwischen Herkunft und Lebenswelt erneut betont wird. Expliziert wird zudem die liberal-wertkonservative, von den Adoptiveltern vermittelte Haltung, deren „bürgerlich-mittelschichtsspezifische Weltsicherheit“ (ebd.) ebenso fokussiert 3 wird, wie die Anerkennung familialer Autoritätsverhältnisse und die Affirmation „bürgerlich-wertkonservativer Vorstellungen von Ehe und Sexualität“ (ebd., 200). Diese ,kleinstädtische Ethik‘ bleibt nicht unproblematisiert (vgl. ebd.), da entsprechend der veränderten Erwartungshaltung der Leser_innen explizite Brutalität Einzug in die Serie hält (vgl. ebd., 187), die nun beginnt, „ästhetisch mit Grausamkeit zu kokettieren“ (ebd., 184). Da Supermans Gegner in der Folge zunehmend eine „zynische Violenz“ (ebd.) offenbaren, die sich diametral zu dessen unbedingtem Respekt vor allem Leben verhält, gelingt es dem Helden in seiner „Konfrontation mit der amerikanischen Realität“ (ebd.) nicht, die in seinem behüteten Umfeld vermittelte Ethik „ohne Erschütterung aufrechtzuerhalten“ (ebd.). Mehr noch: Die kleinstädtischen Verhaltensregeln erweisen sich angesichts der Konfrontation mit diabolischen Sozio3
Die Miniserie A Superman for all Seasons (Loeb/Sale 1998) präzisierte diesen Aspekt später und erzählte, wie die Kents Superman die konkreten Tugenden Bescheidenheit, harte Arbeit und Hilfsbereitschaft lehrten. Gleichsam wird Supermans Auffassung, dass es angesichts seiner Kräfte eine Sünde wäre, der Welt nicht zu helfen, fokussiert.
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pathen, die mit sadistischer Freude foltern und morden, als nahezu impraktikabel. Dabei geht die Serie so weit, Superman an dem zum Scheitern verurteilten Versuch, seine Werte gegen alle äußeren Herausforderungen zu verteidigen, psychisch nahezu zerbrechen zu lassen. In Superman #22 (1988) verwüsten drei kryptonische Verbrecher einen der Erde ähnelnden Planeten und töten fünf Milliarden ihrer Bewohner, bevor Superman ihnen Einhalt gebieten und ihre Kräfte in einem provisorischen Gefängnis neutralisieren kann. Nachdem die politischen und juristischen Strukturen des Planeten zerstört wurden, stellt Kal-El die letzte moralische Autorität dar. Er wird von den Kryptoniern, die wissen, dass ihm seine Wertvorstellungen verbieten, ein Leben zu nehmen, aber verhöhnt. Sie kündigen an, ihrem Gefängnis bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu entfliehen und auch auf der Erde einen Genozid anzurichten, woraufhin der Held mit seinem Kodex bricht und die Inhaftierten der tödlichen Strahlung eines außerirdischen Minerals aussetzt. Supermans Lage wird dabei als ausweglos dargestellt: Das Gefängnis vermag die Kryptonier nicht auf Dauer zu halten und in einem erneuten Kampf würde Superman aller Wahrscheinlichkeit nach unterliegen. Seine Adoptiveltern lehrten ihn, stets Gnade walten zu lassen, doch würde dies nun Milliarden Leben gefährden. Der Schwur, niemals zu töten, ist mit der selbstgewählten Aufgabe, die Unschuldigen zu beschützen, nicht vereinbar: Da er Ethos und Handeln nicht mehr in Einklang bringen kann, wird KalEl von Schuldgefühlen übermannt. Obgleich der Bruch mit den eigenen Werten unausweichlich war, initiiert er eine ebenso umfassende wie beispiellose Dekonstruktion des Helden. Die mit den Werten, die von der neuen Heimat ausgehen, verbundenen Ansprüche überfordern den Migranten in diesem Fall, weshalb ihn die gescheiterte Assimilation in eine existentielle Krise versetzt. Zunächst verliert Superman die Selbstkontrolle und lässt seine Wut zum eigenen Entsetzen an einem physisch weit unterlegenen Gegenspieler aus; anschließend führt sein Gewissenskonflikt gar zur Abspaltung einer aggressiven zweiten Persönlichkeit, die nachts durch die Straßen zieht, um Kriminelle brutal zu verprügeln, ohne dass Kal-El sich am Morgen daran erinnern kann (vgl. Adventures of Superman #446, 1988). Der Held muss erkennen, dass er nunmehr selbst zu einer Gefahr geworden ist und begibt sich ins kosmische Exil, um einen Planeten zu suchen, auf dem er als Einsiedler leben kann (vgl. Superman #28, 1989). Seine Odyssee endet erst, als er einem kryptonischen Geistlichen begegnet, der ihn mit einem mächtigen Relikt von seinen Traumata erlöst und eine Rückkehr zur Erde ermöglicht (vgl. Superman #33, 1989). Allerdings scheint Supermans Sündenfall damit noch nicht gesühnt: Als ein extraterrestrisches Ungeheuer namens Doomsday auf der Erde landet (vgl. Superman: Men of Steel #17, 1992), gelingt es Kal-El nur unter Aufwendung seines eigenen Lebens, einen Sieg zu erringen. Nach einem erbitterten Kampf erliegt er seinen Verletzungen (vgl. Superman#75, 1993) – der Held erbringt das ultimative Opfer für die Menschheit, das seine Werte ein letztes Mal affirmiert und ihn von seiner Schuld befreit.
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Der postmoderne Prometheus Supermans Tod lenkt die mediale Aufmerksamkeit in bisher ungekanntem Maße auf die Serie (vgl. Knigge 2004, 193f.), die in der Folge eine Welt skizziert, die ohne den Helden ihr moralisches Zentrum verloren hat. Da nun wieder ein erkennbares Interesse an der Reinstallation einer ethisch integren Interpretation der Figur besteht, erlebt sie in Superman #82 (1993) ihre Wiedergeburt (vgl. Knigge 2004, 194). Von den Toten auferstanden vereint sie moderate Grundzüge unterschiedlicher Phasen des Helden, dessen Handeln nun souverän ist, ohne dabei die faschistoiden Züge wieder aufzugreifen. Der neue Superman reflektiert sein Eingreifen, ohne dass ihn eventuelle negative Konsequenzen lähmen und wird moralischen Zerreißproben ausgesetzt, die ihn aber nicht erneut in ernsthafte Identitätskrisen stürzen. Dennoch initiiert das Festhalten an seinen traditionellen Wertevorstellungen wiederholt Konflikte, die nun auch die Erwartungen der Gesellschaft miteinbeziehen. Diese fordert mitunter, dass Superman sein Ethos einer Welt anpasst, die sich angesichts neuer Gefahren und Feindbilder im Wandel befindet. In Action Comics #775 (2001) eilt Superman zu einem Einsatz, nur um festzustellen, dass ein Zusammenschluss aus Superhelden, der sich ‚The Elite‘ nennt, die terroristische Bedrohung bereits eliminiert und deren Vertreter getötet hat. Obgleich das gnadenlose Vorgehen der Elite mit erheblichen Kollateralschäden einhergeht, wird die Gruppe von der Öffentlichkeit für ihre Effektivität gefeiert, während Superman, der ihre Leichtfertigkeit und die eigenmächtige Gesetzesübertretung kritisiert, mit dem Vorwurf konfrontiert wird, bei seinen Rettungsaktionen nicht mit einer der Situation angemessenen Härte zu agieren. Da Manchester Black, der Anführer der Elite, keinen Hehl daraus macht, dass er Kal-Els Werte für antiquiert hält und ablehnt, kommt es zu einem weltweit übertragenen Duell der beiden Parteien, bei dem es Superman gelingt, seine Gegner zu besiegen ohne sie töten zu müssen. Am Ende spricht er sich publikumswirksam gegen die Forderungen aus, seine Methoden denen der Elite anzupassen, und er distanziert sich von deren Brutalität und Zynismus. Letztlich ist es hier aber weniger die Gruppe, die Supermans Ethos in Frage stellt, als vielmehr der Zuspruch, den ihre Methoden von Seiten der Bevölkerung erfahren: Obgleich er im physischen Duell siegreich bleibt, muss der Held doch erkennen, dass sich die Menschen zumindest partiell von seinen Werten abgewandt haben und berechtigte Kritik an seinem auf dem Prinzip der Gnade basierenden Handeln üben – indem Superman selbst notorische Mörder verschont, nimmt er letztlich weitere Tote billigend in Kauf. Gleichzeitig droht er, „als Relikt einer altmodisch […] wertarbeitsgläubigen Zeit“ (Dath 2005, 5) belächelt zu werden und ist gezwungen, die Validität seiner Einstellung gerade deshalb stets aufs Neue im Kampf gegen aktualisierte Antagonistentypen unter Beweis zu stellen. Zu Beginn der 2000er Jahre erschließt sich die Serie eine neue Generation von Leser_innen, indem sie Elemente ihrer Publikationshistorie, die sich einer großen Popularität erfreuen, modernisiert (vgl. Koppers 2014, 36). Die Episoden dieser
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Zeit vermögen in der Folge kaum mehr neue Akzente zu setzen, sondern aktualisieren stattdessen Aspekte, die in den vorangegangenen Abschnitten thematisiert wurden (vgl. Schikowski 2014, 234f.). Der Erzählzyklus Grounded, der in Superman #701 (2010) seinen Anfang nimmt, liest sich etwa wie ein Rekurs auf die reflexive Phase um 1970: Superman bezweifelt hier, dass seine Existenz überhaupt einen Nutzen für die Bewohner der Erde erfüllt und zieht in Erwägung, den Planeten zu verlassen. Zuvor beschließt er aber, auf seine Fähigkeit fliegen zu können zu verzichten und die Vereinigten Staaten von Küste zu Küste zu durchwandern, um mit den normalen Bürgern in Kontakt zu treten. Unmittelbar mit den Problemen seines Landes konfrontiert, wird ihm erneut bewusst, für wen er eintritt und er erkennt, dass er von den Menschen gebraucht wird. Eine vergleichsweise neue Entwicklung ist einzig die verstärkte Publikation sogenannter Imaginary Stories, die außerhalb der Kontinuität der eigentlichen Serie positioniert sind und Interpretationen Supermans vornehmen, die seiner tradierten Darstellung widersprechen (vgl. Hausmanninger 1989, 59). Besonders aus diesen Abweichungen ergeben sich immer wieder verzerrte bis pervertierte Wertvorstellungen der Figur, deren auffälligste es sich hier kurz zu skizzieren lohnt. Ein frühes Beispiel stellt die Ideologiekritik The Dark Knight Returns #1–4 (1986) dar, die den blinden Gehorsam Supermans den regierenden Organen gegenüber problematisiert, der zu einem sukzessiven Werteverfall führt: In einer nahen Zukunft, in der sich die Superhelden unter dem Druck der Öffentlichkeit zurückgezogen haben, ist einzig Kal-El, der zum reinen Befehlsempfänger degradiert wurde, staatlich legitimiert. Durch die Aufgabe seiner Souveränität ist Superman zunächst in der Lage, seinen Altruismus weiterhin zu praktizieren. Die Situation zwingt ihn aber auch dazu, seine Grundsätze zunehmend aufzugeben: Als mit Batman ein anderer Superheld beginnt, ohne Legitimation der Regierung gegen die zunehmende Gewalt auf den Straßen vorzugehen, wird ,der Stählerne‘ instruiert, ihn zur Räson zu bringen. Im Kampf nimmt er den Tod Batmans, dem er physisch deutlich überlegen ist, billigend in Kauf und verrät somit seine ethischen Prinzipien. Problematisiert wird dabei vor allem ein Patriotismus, der einzig auf die Unterordnung den Herrschenden gegenüber hinausläuft und eine oppositionelle Haltung nicht einmal in Betracht zieht. Ein weiterer Ansatz der Imaginary Stories fokussiert die Relevanz der Erziehung für die Wertekonstitution, indem er hinterfragt, welchen Prinzipien Superman unter abweichender elterlicher Führung folgen würde: Absolute Power, publiziert in den Heften Superman/Batman #14–18 (2005), nimmt diesbezüglich eine vollkommene Verkehrung ins Negative vor, indem ein kosmisches Schurkentrio etabliert wird, das in der Zeit zurückreist, Kal-El als Baby in seine Obhut nimmt und zu einem Tyrannen erzieht, der sich zum Herrscher über die Welt aufschwingt. Eine vergleichbare Konzeption findet sich in The Dark Side #1–3 (1998), einer Imaginary Story, in der Supermans Raumkapsel nicht auf der Erde, sondern auf dem Planeten Apokolips landet, auf dem die Macht des Stärkeren den einzigen relevan-
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ten Wert darstellt. Kal-El wird aufgrund seiner Kräfte nun zum Anführer einer intergalaktischen Armee ausgebildet, deren Ziel es ist, die Erde zu unterwerfen. Subtiler ist Superman Inc. (1999) konzipiert, eine Erzählung, in der die Figur in einem urbanen Umfeld aufwächst, dessen Arbeitsethos einzig auf finanziellen Erfolg ausgerichtet ist. Statt seine Fähigkeiten für das Allgemeinwohl einzusetzen, beginnt er eine Karriere als Sportler und errichtet auf Grundlage seines Erfolgs ein ökonomisches Imperium. In True Brit (2004) wird der pädagogische Aspekt hingegen durch eine nationale Relokalisierung der Figur pointiert: Kal-El gelangt nun als Baby nach England, wo er von seinen Adoptiveltern, die den Klatsch der Nachbarn fürchten, nicht zu altruistischem Handeln ermutigt, sondern stattdessen darauf eingeschworen wird, seine Kräfte zu verbergen. Superman beginnt daraufhin, mit seiner Herkunft zu hadern und kann erst nach diversen Umwegen zum Helden avancieren. Andere Versionen erweitern die geografische Verschiebung mit dem Aufwachsen in einer antidemokratischen Staatsform, die die Ausbildung positiver Wertvorstellungen verhindert: In Red Son #1–3 (2003) landet Kal-El 1953 in der Sowjetunion und steigt zum Helden des Kommunismus auf (vgl. Knigge 2016, 194), der schließlich die USA unterwirft. The Multiversity: Masterman #1 (2015) erzählt hingegen, wie das Findelkind im Sudetendeutschland des Zweiten Weltkriegs von Hitlers Armeen aufgenommen wird, die es instrumentalisieren, um dem Dritten Reich zum Sieg zu verhelfen.
Der Heros in tausend Gestalten Angesichts des in den vorangegangenen Ausführungen aufgeworfenen Zusammenhangs zwischen Kal-Els Werten und der Staatsform, in der sich diese entwickeln, wäre es bezüglich weiterführender Ansätze von aktuellem Interesse zu untersuchen, inwiefern sich die Präsidentschaft des xenophoben Donald Trump, dessen Ethos dem Altruismus Supermans explizit widerspricht, in den gegenwärtigen Episoden der Serie manifestiert. Der spezifische didaktische Wert einer Weiterführung der hier formulierten Ansätze liegt jedoch primär an anderer Stelle, da Kal-El bis heute als „Urtypus des Superhelden“ (Hausmanninger 1989, 54) gilt, in dem „all jene Charakteristika zumindest potenziell angelegt sind“ (ebd.), die seitdem „von seinen Plagiaten und Nachfolgern kopiert, differenziert und weitergebildet werden“ (ebd.). Die exemplarische Analyse Supermans ermöglicht es folglich, sich auf ihrer Grundlage eigenständig mit den Wertesystemen weiterer Superhelden nach Wahl auseinanderzusetzen. Der migrationsspezifische Fokus wird in diesem Fall beibehalten, waren die ursprünglichen Produzenten der Comic-Hefte doch „fast ausschließlich nach Anerkennung strebende jüdische Einwanderer […] in der zweiten Generation“ (Knigge 2016, 14). Unter dem Eindruck gesellschaftlicher Ausgrenzung erschufen sie im Comic ihre eigenen Welten und bildeten so paradoxerweise „die Mythen und Ideale
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einer amerikanischen Kultur, an die sie sich zu assimilieren suchen, überhaupt erst aus“ (ebd.). Die Dominanz dieser ersten Generation dauerte bis in die späten 1960er Jahre an, weshalb der Großteil der populären Titelhelden von Heften wie Batman (1940) und Green Lantern (1941) hin zu The Amazing Spider-Man (1963), Uncanny X-Men (1963) und The Invincible Iron Man (1968) vergleichbare Ursprünge und Motive aufweist. Dennoch ist es angesichts einer sich zunehmend diversifizierenden Schülerschaft ratsam, im Unterricht ein möglichst breites ethnisches Spektrum zu offerieren, zumal sich auch die Interpretationen des Golems nicht exklusiv auf jüdisch konnotierte Figuren beschränken. Besonders afroamerikanische Helden wie Luke Cage, der in Luke Cage, Hero for Hire #1 (1972) debütierte und Nighthawk, der erstmals in Supreme Power #2 (2003) in Erscheinung trat, sind in dieser Hinsicht ein ergiebiges Untersuchungsfeld, da sie im Gegensatz zu Superman nicht die Welt, sondern explizit ihre spezifischen Gemeinden gegen Aggressionen von außen verteidigen. Vermehrt stehen dabei auch die ökonomische Ausbeutung afroamerikanisch geprägter Viertel oder die Jagd auf rassistisch motivierte Serienmörder im Fokus der Handlung, wodurch der ethnische Hintergrund der Helden und die Narration miteinander verknüpft werden. Aufgrund der interkulturellen Diversifizierung der modernen Gesellschaft sind jüngere Comics zudem bestrebt, diese Tendenz mit ihren Figuren aufzugreifen (Gustines 2013, 3). Vor diesem Hintergrund ist besonders die Serie Ms. Marvel (2014) hervorzuheben (vgl. Vähling 2016, 130), die im historischen Kontext als „logische, aktualisierte Fortsetzung einer langen Tradition“ (Endres 2015, 3) gilt, die mit Superman ihren Anfang nahm (vgl. ebd.): Die Protagonistin Kamala Khan ist als Tochter pakistanischer Einwanderer die erste amerikanische Superheldin mit muslimischer Religionszugehörigkeit (vgl. ebd.). In Folge extraterrestrischer Erbanlagen, die Superkräfte aktivieren, sofern ihr Träger mit einem kosmischen Nebel in Berührung kommt (vgl. ebd.), erlangt die 16-Jährige die Fähigkeit, ihre Physiognomie zu verändern sowie ihre Extremitäten nach Belieben zu strecken oder zu stauchen (vgl. Gustines 2013, 3), woraufhin sie sich entschließt, unter dem Alias Ms. Marvel die Bewohner ihrer Heimatstadt New Jersey zu beschützen. Die Figur stellt dabei in multipler Hinsicht ein ergiebiges Untersuchungsfeld dar, da sich in ihr ein Superlativ der Migration entspinnt, der nicht nur zwischen extraterrestrischen und irdischen Erbanlagen, sondern auch zwischen pakistanischen Wurzeln und US-amerikanischer Lebensrealität oszilliert. Zudem bewundert Kamala einerseits die klassischen amerikanischen Superhelden und orientiert sich bewusst an deren Werten, andererseits verfügt sie über ein Ethos, das durch die Erziehung in einem traditionellen pakistanischen Elternhaus geprägt ist. Indem hinterfragt wird, wie sich die Existenz als Superheldin mit familiären und muslimischen Vorschriften vereinbaren lässt (vgl. Vähling, 130), expliziert Ms. Marvel den religiösen Aspekt, den Superman primär auf der subtextuellen Ebene verhandelt. Inwiefern Kamalas Absicht, altruistisch in ihrer Gemeinde zu handeln, positive
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Wertvorstellungen des Islams bestätigt (vgl. Hannon 2015), bietet sich hier für eine Untersuchung ebenso an, wie die Frage danach, ob mit dem spezifischen Schauplatz New Jersey ein abweichendes Ethos einhergeht: Der tendenziell provinzielle Ort der Handlung ist hier erkennbar als Kontrast zum geografisch nahen, aber durch seinen urbanen Charakter abgehobenen New York konzipiert.
Conclusio In seiner acht Dekaden umfassenden Publikationsgeschichte wandelte sich Superman vom latent faschistischen Autokraten zum humanistischen Pazifisten und wieder zurück. Er affirmierte ländlich-mittelständische Wertvorstellungen und ging an deren Unvereinbarkeit mit seinem Status als größter Held und Beschützer der Erde beinahe zu Grunde. Nach seinem Opfertod und der darauffolgenden Wiedergeburt gibt er sich gemäßigt und reflektiert, einzig in den außerhalb der regulären Serie stehenden Imaginary Stories zeichnet sich die Varianz ins Extrem nach wie vor ab. Die Kriterien des Klassischen erfüllt Superman weiterhin widerspruchsfrei, gleichsam präsentiert sich dieser Status aber auch als Limitation: Um den Marktwert zu erhalten und eine ebenso konstante wie unmittelbare Wiedererkennbarkeit der Figur zu gewährleisten, sind kaum mehr Abweichung von den tradierten Interpretationen möglich. Obgleich der Klassiker des Superheldencomics seinem Genre in der Folge keine neuen Impulse mehr zu verleihen mag, belegt eine neue Generation von Serien, die seine Verhandlung des Migrationstopos wieder verstärkt in den Fokus nehmen, die anhaltend konsistente Validität als Schlüsseltext.
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What’s so funny about Love, Peace and the American Way?
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Exemplarische Analysen
Neue Zugänge zu einem ‚didaktischen‘ Roman Zur Werteorientierung von Juli Zehs Dystopie Corpus Delicti Alexander Sperling Juli Zehs Longseller Corpus Delicti1 wird nicht nur von Kritikern, sondern auch von der Autorin selbst als „didaktisches Buch“ (Moritz 2009, o.S.) bezeichnet; tatsächlich ist der Roman mittlerweile zu einem modernen Klassiker des Literaturunterrichts avanciert. Sein Erfolg als Schullektüre lässt sich unter anderem daran erkennen, dass sämtliche hierfür einschlägigen Verlage begleitende Lektüreschlüssel und Unterrichtsreihen in ihr Programm aufgenommen haben. Doch gerade bezüglich der Frage, welche moralisch-politischen Werte im Text und durch den Text eigentlich vertreten werden, sind die didaktischen wie auch die fachwissenschaftlichen Sekundärtexte durch Oberflächlichkeit geprägt. Dabei liegt das Hauptproblem darin, dass eine Unterscheidung zwischen im Text vertretenen Positionen (v.a. durch die Geschwister Moritz und Mia) und der Positionierung des Textes in aller Regel völlig ausbleibt. So wird die Haltung Mias am Ende des Romans als allgemeine ‚Textintention‘ betrachtet – und je nach eigenem Standpunkt gelobt oder kritisiert, was dem Roman in beiden Fällen nicht gerecht wird. Es ist anzunehmen, dass sich dieses interpretatorische Problem auch in den Literaturunterricht überträgt, da der Text eine solche figuralidentifikatorische Lesart vor allem durch starke Rückgriffe auf traditionell-dystopische Erzählschemata nahelegt. Im ersten Abschnitt wird diese konventionelle Erzählweise der Dystopie Corpus Delicti, nach einer kurzen Übersicht über den Inhalt, aufgezeigt und in ihrer Wirkung beschrieben. In einem zweiten Schritt wird aufgrund mehrerer Textmerkmale argumentiert, dass es sich beim Roman trotz der Rückgriffe auf Genretraditionen um eine Dystopie völlig neuen Typs handelt, worauf Fachwissenschaft und -didaktik bislang jedoch kaum reagiert haben. Darauf aufbauend wird drittens der Frage nachgegangen, welche Werte durch den Roman explizit und implizit vertreten werden. Abschließend werden die didaktischen Implikationen dieser Überlegungen beleuchtet.
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Die gebundene Erstausgabe des Textes erschien 2009 bei Schöffling, im Jahr darauf die seitenidentische Taschenbuchausgabe bei btb. Im Folgenden zitiert als CD.
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Zehs Zukunftsstaat in der Mode von 1984 Nach zwei kurzen Voranstellungen erfolgt der eigentliche Einstieg in die Romanhandlung über eine betont idyllische Schilderung des fiktiven deutschen Staates in der Mitte des 21. Jahrhunderts, an die sich jedoch direkt eine Szene anschließt, in der die Hauptperson Mia wegen Missachtung ihrer gesundheitsfürsorglichen Pflichten Gegenstand einer Verhandlung vor Gericht ist. In der Folge entfaltet sich die Handlung und die Leser_innen erfahren, dass sich Mia gerade in einer Lebenskrise befindet, da ihr Bruder Moritz, der über einen DNA-Test scheinbar des Mordes überführt wurde, mit ihrer Hilfe Selbstmord begangen hat. Mia ist ebenso von seiner Unschuld überzeugt wie von der im Text stets in Kapitälchen geschriebenen „METHODE“, auf deren rein logisch-vernünftigen Prämissen das Staatswesen aufbaut und deren Anwendung auch zur Verurteilung Moritz’ geführt hat. In der Folge ist sie hin und hergerissen zwischen Ablehnung und Akzeptanz der „METHODE“, wobei Heinrich Kramer, ein führender Journalist, sie zu einem öffentlichen Bekenntnis zur „METHODE“ bringen möchte. Es entwickelt sich ein Justizdrama, dessen Höhepunkt die Aufdeckung der Unschuld Moritz’ ist, was das Vertrauen Mias, aber auch vieler Anderer, bezüglich der Legitimität der „METHODE“ erschüttert. Mia entwickelt sich daraufhin zu einer Widerstandskämpferin gegen die scheinbar rein objektiv-vernünftigen Prinzipien, auf denen der Zukunftsstaat fußt. Schlussendlich wird Mia wegen schwerster Vergehen angeklagt und mit der Höchststrafe, dem Einfrieren auf unbestimmte Zeit, belegt. In einer überraschenden Wendung allerdings wird das Urteil doch nicht vollstreckt, da Mia sonst in den Augen der Bevölkerung zur Märtyrerin werden könnte. Stattdessen soll sie durch ein aufwendiges Programm umerzogen und damit resozialisiert werden, was aus Mias Perspektive eine noch größere Bestrafung darstellt. Die dystopischen Merkmale des fiktiven Staates sind im Text rasch zu erkennen und kennzeichnen den utopischen Einstieg als falsche Idylle. Eigentlich alltägliche Handlungen, etwa das Kauen auf einem Bleistift und der Konsum von Koffein, gelten als gefährlich bzw. sind verboten (vgl. CD, 13). Schnell wird also das Thema Krankheitsprävention als Leitmotiv deutlich, das einen totalitären Anspruch des Staates gegenüber dem Individuum zur Folge hat. Die Begründung dieses Anspruchs, den die Richterin Sophie expliziert, ist, dass sich aus der Verpflichtung des Staates zur Fürsorge im Krankheitsfall umgekehrt eine Verpflichtung des Individuums zur Vorbeugung dieses Falles ergibt (vgl. CD, 58). Es macht den Reiz des Romans wesentlich aus, dass die Leser_innen diese Argumentation nicht nur logisch nachvollziehbar finden können, sondern sie ansatzweise auch aus der eigenen Lebenswelt kennen. Beispielhaft zeigt sich hier das extrapolative Verfahren von Dystopien, durch das reale Zeittendenzen übersteigert und so in ihrem Wesenskern erkennbar gemacht werden sollen. Dieser Kern des heutigen Sicherheitsstrebens soll anhand des fiktiven Zukunftsstaats eindeutig negativ erscheinen – der Roman kritisiert in überspitzter
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Form das heutige Sicherheits- und Präventionsbedürfnis und setzt diesem den hohen Wert individueller Freiheit entgegen. Um diese ethische Aussage narrativ umzusetzen, bedient sich der Roman ausgiebig jener ästhetischen Strategien, die das dystopische Genre im 20. Jahrhundert, vor allem durch die prägenden Texte Samjatins, Huxleys und Orwells, hervorgebracht hat. Die Emotionslenkung in traditionellen Dystopien erfolgt typischerweise über den Aufbau einer positiven Identifikationsfigur (in Orwells Nineteen Eighty-Four Winston Smith), die nolens volens in einen Konflikt mit dem Staat gerät, dadurch in eine Außenseiterrolle und eine Gegnerschaft zum Staat gedrängt wird und schließlich ein tragisches Ende findet. Das fiktive Gemeinwesen bzw. die ihm zugrundeliegende Staatsräson zeigt somit am Schicksal eines schuldlosen Sympathieträgers exemplarisch sein wahres Gesicht. Der dystopische Staat wird dabei von einem hochrangigen und eigentlich charismatischen Vertreter personifiziert (Mustapha Mond in Brave New World, O'Brien in Nineteen Eighty-Four); das finale offene Gespräch zwischen der positiv besetzten Hauptfigur und dem staatlichen Antagonisten bildet den Höhepunkt klassischer Dystopien. Die Emotionslenkung in Corpus Delicti – und damit auch die ‚Didaktik‘ des Textes hinsichtlich der zugrundeliegenden Werte – erfolgt im Wesentlichen nach diesem traditionellen Schema (vgl. Layh 2014, 153–162): Mia besetzt die Rolle der positiven Identifikationsfigur, Kramer ist ihr charismatischer staatlicher Antagonist. Geradezu klassisch ist es außerdem, dass der entworfene dystopische Staat totalitäre Züge trägt. In Gesundheitsfragen kennt der fiktive Staat des Romans aufgrund der bei Krankheit entstehenden Kosten für die Allgemeinheit keine „Privatangelegenheiten“ (CD, 54) mehr. Da körperliche und geistige Gesundheit mit allen öffentlichen und privaten Aspekten des Lebens in engster Verbindung stehen, ergibt sich ein im Roman unausgesprochener, aber überall durchscheinender totaler Anspruch des Staates auf das Individuum. Hierdurch entstehen Assoziationen zu den beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts, dem NS-Staat und der DDR. Über die strikte Zuweisung und Beschränkung der Eheschließungen und damit der Sexualkontakte „aus immunologischen Gründen“ (CD, 112f.) wird z.B. eine Verbindung zu den NS-Rassegesetzen von 1935 hergestellt, durch die der NSStaat vor allem eine Vermischung von ‚arischer‘ und jüdischer Bevölkerungsgruppe verhindern wollte. Führte nach der Rassenideologie des NS-Staats eine Verletzung dieser Regelungen zur sogenannten ‚Blutschande‘, so geschieht dies nach der rationalistischen Gesundheitsideologie des Staates in Corpus Delicti durch eine Vermischung ungünstiger „Haupthistokompatibilitätskomplexe“ (CD, 112). Diese Analogien alleine legen schon eine negative Wertung des fiktiven Staates mehr als nur nahe. Darüber hinaus verweisen Mia Holl und Heinrich Kramer durch ihre Namensgebung aber auch auf die Zeit der Hexenverfolgung. Die Nördlingerin Maria Holl erlangte im späten 16. Jahrhundert einige Berühmtheit, da sie, als Angeklagte in einem Hexenprozess, trotz wiederholter Folter kein Geständnis ablegte, sondern stets auf ihrer Gottesfürchtigkeit beharrte, woraufhin sie freigelassen wurde
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(McCalmont/Maierhofer 2009, 386). Der historische Heinrich Kramer, bzw. latinisiert Henricus Institoris, ist der Autor des berüchtigten Malleus maleficarum, des Hexenhammers. Auch dadurch ist klar: Der Zukunftsstaat ist dystopischer, nicht utopischer Natur. Bei der konkreten Konzeption dieser Dystopie extrapoliert der Roman aus der Gegenwart keine in sich schlüssige Zukunftswelt. Der deutsche Staat etwa erscheint größtenteils wie eine Insel ohne Kontakt zu anderen Staaten, ohne dass es hierfür einen Grund zu geben scheint. Offen bleibt, was etwa aus den Vereinten Nationen geworden ist, aus der EU, aus dem EuGH, die heute potenzielle Anlaufstellen für ein in seinen Persönlichkeitsrechten massiv eingeschränktes Individuum wären. Der Text verhandelt diese Fragen nicht und er interessiert sich auch nicht für sie, da er für das deutsche Gemeinwesen keine plausible Prognose, sondern ein Zerrbild entwickelt. Corpus Delicti reduziert die dystopische Welt auf ein Minimum und die Künstlichkeit des Ergebnisses wird kaum kaschiert; der Text präsentiert keine natürlich gewachsene Welt, sondern er schafft die Voraussetzungen für einen experimentellen Beweis seiner relevanten Kernthesen unter Laborbedingungen.
Corpus Delicti: Eine Dystopie neuen Typs Über diesen Punkt gehen auch die fachwissenschaftlichen Publikationen meist kaum hinaus. So befasst sich zwar bereits Susanna Layh explizit mit dem Roman als Dystopie, ihre generelle Einschätzung, dass es sich bei Corpus Delicti um eine klassische Antiutopie handle, die wenig innovativ sei (vgl. Layh 2014, 173f.), muss allerdings trotz der Rückgriffe auf die klassischen antiutopischen Genreschemata in Corpus Delicti in Frage gestellt werden. Was Zehs Roman als Grundproblem der Jetztzeit kritisiert, ist nämlich viel mehr als nur die Bevormundung des Individuums durch den Staat. Es ist das Fehlen einer sinn- und gemeinschaftsstiftenden Leitidee, das sich – aus Sicht des Textes – nach der Entideologisierung der Gesellschaft in der Postmoderne immer gravierender auswirkt. Grundlegend für Corpus 2 Delicti ist ein Gedanke der Kritischen Theorie, wonach das aufklärerische Ziel einer ersatzlosen Abschaffung aller Ideologie zwangsläufig eine Aporie darstellt, da in diesem Fall ursprünglich nicht-ideologische Inhalte oder Prinzipien, insbesondere die Vernunft als handlungsleitendes Prinzip, übersteigert und damit selbst ideologisch würden: „Das Fortschreiten der Aufklärung löst die Idee der objektiven Vernunft auf, den Dogmatismus und den Aberglauben; aber oft ziehen Reaktion und Obskurantismus den größten Vorteil aus dieser Entwicklung. Hergebrachte Interessen, die den traditionellen humanitären Werten entgegengesetzt sind, pflegen sich im Namen des
2
Hier nicht im Sinne der historischen Epoche, sondern als „umfassend-kritische“ Denkhaltung gemeint.
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‚gesunden Menschenverstandes‘ auf die neutralisierte, ohnmächtige Vernunft zu berufen.“ (Horkheimer 1967, 33; Hervorhebung A.S.)
Zu beachten ist hier unter anderem, dass es Kramer ist, der sich genau in der durch Horkheimer beschriebenen Weise auf den „gesunden Menschenverstand“ (ebd.) beruft und dass auch die Zeitung, für die Kramer tätig ist, diesen Namen trägt (vgl. CD 199ff.). Es ergibt sich dadurch eine Verbindung zur Dialektik der Aufklärung, in der Adorno und Horkheimer von einem „Rückfall von Aufklärung in Mythologie“ (Adorno/Horkheimer 2016/1944, 3) ausgehen. Die zugrundeliegende Annahme, dass Entideologisierung gesellschaftliche Leerstellen hinterlässt und dadurch selbst wieder Ideologien hervorbringt, wird im Roman mehrfach verhandelt: „[Mia:] ‚Erst hat die naturwissenschaftliche Erkenntnis das göttliche Weltbild zerstört und den Menschen ins Zentrum des Geschehens gerückt. Dann hat sie ihn dort stehen lassen, ohne Antworten, in einer Lage, die nichts weiter als lächerlich ist.‘“ (CD, 26–27)
Moritz’ und im Laufe der Handlung immer stärker auch Mias Suche nach einem übergeordneten Sinn kann aufgrund der aufklärerischen Entzauberung ihrer Welt auf göttliche Inhalte nicht mehr zurückgreifen, vollzieht sich aber noch in den ursprünglich metaphysischen Kategorien. Daher spricht Moritz von der geheimen Lichtung als „Kathedrale“, in der „gebetet“ (CD, 60) werde. Übrig bleibt also ein ehemals metaphysisch aufgeladenes Vokabular, das nach einer entzaubernden Entideologisierung zu leeren Begriffshülsen verkommt und mit neuen, sinnstiftenden Inhalten gefüllt werden muss. Abgesehen von Außenseitern wie Mia und Moritz füllt die Gesellschaft des Romans diese Hülsen mit einem völlig einseitigen, rein positivistischen Rationalismus und einem maßlosen Körperkult. Die Krankheitsanfälligkeit des Individuums, die den Ausgangspunkt der staatlichen Disziplinierungsmaßnahmen darstellt, hat die früher christlich begründete Sündhaftigkeit der menschlichen Natur ersetzt. Dass der Mensch erkranken kann, fungiert in der 3 fiktiven Welt des Romans als positivistische Ersetzung der Ursünde; an die Stelle der in der Aufklärung angegriffenen Priesterherrschaft tritt die Reglementierung und Disziplinierung des Individuums durch Bio-Politik im Foucaultschen Sinne (‚biopouvoir‘). Das frühere Ideal eines sündenfreien Lebens wird zum Ideal eines völlig gesunden Lebens, und im Versuch, diesem Ideal möglichst nahe zu kommen, sieht die Gesellschaft des Romans ihren Lebenssinn: Die Gesundheit „ist sichtbar gewordener Wille“ (CD, 7) heißt es symptomatisch in Kramers fiktivem Standardwerk Gesundheit als Prinzip staatlicher Legitimation.
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Mogendorf spricht von der Darstellung des Menschen im Roman als Mängelwesen, was sich mit der obigen Deutung durchaus verbinden lässt (vgl. Mogendorf 2017, 397).
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Diese theoretischen Grundlagen des Romans sind auch aus genregeschichtlicher Perspektive relevant. Bislang werden die Begriffe ‚Dystopie‘ und ‚Antiutopie‘ noch oft synonym verwendet, da die genreprägenden Dystopien des 20. Jahrhunderts in aller Regel gegen konkrete Utopien gerichtet waren und deren Schwächen und Gefahrenpotenziale aufzeigen sollten. Orwells Klassiker Nineteen Eighty-Four etwa richtet sich speziell gegen die Utopie des Sozialismus in seiner frühstalinistischen Form. Corpus Delicti dagegen ist ein Beispiel dafür, dass diese Gleichsetzung von Antiutopie und Dystopie für innovative Dystopien der Gegenwart überholt ist. Denn da der Text eine metaphysische Leere und – eng damit verbunden – gerade das Fehlen gesellschaftlicher Leitutopien problematisiert, wird die Bezeichnung Antiutopie obsolet: „[Kramer:] Nach den großen Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts hatte ein Aufklärungsschub zur weitgehenden Entideologisierung der Gesellschaft geführt. Begriffe wie Nation, Religion, Familie verloren rapide an Bedeutung. Eine große Epoche der Abschaffung begann. Zur Überraschung aller Beteiligten fühlten sich die Menschen zur Jahrtausendwende jedoch nicht auf einer höheren Zivilisationsstufe, sondern vereinzelt und orientierungslos […]. Es war übersehen worden, dass auf jede Abschaffung eine Neuschaffung folgen muss. […] Die METHODE hat sich der Probleme angenommen und sie gelöst.“ (CD 88f.; Hervorhebung A.S.)
Diese Stelle zeigt exemplarisch, dass Layhs Einschätzung, Corpus Delicti sei eine konventionelle Antiutopie (vgl. Layh 2014, 173), abzulehnen ist. Zwar bedient sich Corpus Delicti noch konventioneller Erzählschemata, worauf sich Layhs Argumentation stützt, geht auf inhaltlicher Ebene jedoch über den antiutopischen Ansatz klassischer Dystopien des 20. Jahrhunderts weit hinaus. Gerade die ersatzlose Abschaffung von sinnstiftenden Leitideen hat fiktionsimmanent ein Vakuum erzeugt, in dem sich dann der pseudorationale Gesundheitswahn der „METHODE“ ausbreiten konnte. Somit problematisiert Zehs Dystopie nicht nur utopisches Denken (etwa durch die trügerische Idylle zu Beginn), sondern zugleich auch eine Gesellschaft ohne Leitutopien. Es zeigt sich hier ein Grunddilemma, das Corpus Delicti massiv prägt: Die gründliche Diskreditierung von Leitutopien wie dem Sozialismus – nicht zuletzt durch Dystopien älterer Prägung – löste ein Problem (Utopiegläubigkeit), indem es ein neues schuf (Utopielosigkeit). Dieser komplexe, dilemmatische Zugang zu utopischem Denken taucht in der Geschichte des dystopischen Genres ungefähr ab der Jahrtausendwende auf und markiert einen radikalen Wandel innerhalb des Genres, der sich auch aktuell noch vollzieht. Corpus Delicti ist somit trotz der oft schematisch-didaktischen Erzählweise in eine Reihe zu stellen mit anderen innovativen Dystopien wie Infinite Jest von David Foster Wallace (1996) oder Michel Houellebecqs Soumission (2015), die ebenfalls für die Emanzipation des dystopischen Genres vom rein antiutopischen Ansatz orwellscher Prägung stehen.
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Ein weiterer Aspekt, der in der Forschungsliteratur zu Zehs Roman noch stärker beachtet werden sollte, ist sein hohes Maß an Selbstreflexivität. Ebenfalls im Jahr 2009 hat Juli Zeh zusammen mit Ilija Trojanow die essayistische Schrift Angriff auf die Freiheit veröffentlicht, die einen „Abbau bürgerlicher Rechte“ (Trojanow/Zeh 2009) in der Bundesrepublik bzw. den westlichen Industriestaaten kritisiert. Besonders in didaktischen Texten wird diese Publikation häufig als nichtfiktionale Variante von Corpus Delicti betrachtet (bzw. andersherum). Einer solchen Auffassung entgeht, dass der Roman zu facettenreich und reflektiert ist, um ihn als bloße Literarisierung des Essays zu betrachten. Denn die Erzählinstanz lenkt nicht nur durch auffällige Kommentare die Aufmerksamkeit der Rezipierenden auf das Er4 zählverhalten und weist sich somit selbst als potenziell unzuverlässig aus, auch über andere Strategien lässt sich eine selbstreflexive, ironische Erzählhaltung des Romans erkennen. Ausgehend davon, dass Mia ihr Leben als sinnlos wahrnimmt, entsteht in ihr der Drang, „Kupferrohre beliebig miteinander zu verschweißen. Bis sie vielleicht einem Kranich ähneln. Oder einfach nur ineinandergewickelt sind wie ein Nest aus Würmern. […] Um etwas Zweckloses zu schaffen. Alles, was einen Zweck hat, erfüllt ihn eines Tages und ist damit verbraucht.“ (CD, 25f.)
Hier klingt der maßgeblich von Kant geprägte Gedanke der Autonomieästhetik an, wonach sich Schönheit und praktischer Nutzen ausschließen, etwas Schönes also notwendigerweise zweckfrei bzw. nutzlos im praktischen Sinne ist. Diese Auffassung wird im Zitat auf zeitgenössische Kunstproduktion bezogen, wodurch sich eine Anwendung auch auf den Roman selbst aufdrängt. Die Dystopie spielt mit ihrer eigenen moralisch-didaktischen Haltung, die einen realpolitischen Zweck erfüllen soll, und distanziert sich selbstironisch von dieser. Hier lässt sich beispielhaft erkennen, dass die vorherrschende Lesart von Dystopien als rein humorlos-ernste ‚Warnromane‘ insbesondere für die neueren Texte wie Corpus Delicti einem Missverstehen geschuldet ist und dass Corpus Delicti auch in seinem Wesenskern von Angriff auf die Freiheit erheblich abweicht; das politische Essay etwa lässt, verglichen mit dem Roman, viel weniger Hinweise auf Ironie und Selbstdistanzierung erkennen.
Der Roman als antietatistische Propaganda? Von Seiten der Literaturkritik und -wissenschaft wurde dem Roman ein gewisser Schematismus bzw. eine Schwarz-Weiß-Zeichnung vorgeworfen. Während aber etwa Rainer Moritz (2009) dies in seiner Rezension für die NZZ als ästhetischen Mangel wertet (vgl. Moritz 2009), sieht Evelyn Finger in der Zeit diesen Umstand 4
Etwa: „Mia tritt in die Pedale und denkt an – was? Gehen wir der Einfachheit halber davon aus, dass sie an Moritz denkt. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir richtig liegen, ist sehr hoch“ (CD, 79).
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schlicht als typisch für das dystopische Genre an (vgl. Finger 2009). Dennoch ergab sich der Grundkonsens, dass der Hinweis auf die Relevanz der individuellen Freiheit gegenüber einem steigenden kollektiven Sicherheitsbedürfnis einen wesentlichen und positiven Beitrag des Romans zum gesamtgesellschaftlichen Diskurs darstelle; so beispielsweise auch in der eigentlich eher ablehnenden Rezension Christian Geyer-Hindemiths für die FAZ: „Obwohl immer mehr Lebensbereiche von der Prävention durchherrscht werden, liegt die Kulturkritik dieser Herrschaftsfigur brach. Erst recht gibt es bisher keinen erzählerischen Versuch, hinter dem Vorsorgeanspruch den permanenten Ausnahmezustand sichtbar zu machen. Das ist mit dem Buch ‚Corpus Delicti‘ nun schlagartig anders geworden, ein Buch, das an den Nerv unserer zutiefst verängstigten Gesellschaft rührt.“ (Geyer-Hindemith 2009, o.S.)
Aus diesem Konsens scheren Harro Albrecht und Henk de Berg bewusst und vehement aus, indem sie dem Text vorwerfen, staatliche Eingriffe einseitig als negativ und Freiheiten des Individuums einseitig als positiv zu werten, sodass eine „naive Dichotomie von Individuum und Staat“ (de Berg 2013, 34) entstehe, wodurch die Grundhaltung des Textes strikt antietatistisch sei (vgl. Albrecht 2009, o.S.). In letzter Konsequenz führe der vom Text propagierte Antietatismus zu einem extrem libertären Staatsverständnis, unter dem beispielweise die USA leiden würden (de Berg 2013, 32–36). In der Tat ist ja, aus Sicht europäischer Wohlfahrtsstaaten, die soziale Absicherung in den USA defizitär. Nicht zuletzt zeigt sich dies im Bereich des Gesundheitswesens: Die tief in der US-amerikanischen Geschichte verwurzelte Skepsis gegenüber staatlichen Eingriffen in individuelle Freiheitsrechte führt dazu, dass das zähe Ringen um eine flächendeckende Krankenversicherung – seit vielen Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit in europäischen Wohlfahrtsstaaten – in den USA bis heute andauert. Albrecht und de Berg kritisieren, dass Corpus Delicti letztlich eine Sympathiebekundung für einen solch radikal zurückhaltenden Staat US-amerikanischer Prägung sei. Diese Beobachtung ist sicherlich nicht unbegründet und weist auf einen wesentlichen Punkt hin, der in Forschung und Literaturkritik häufig übersehen wurde. Tatsächlich nämlich vertritt die Identifikationsfigur Mia am Ende des Textes Positionen, die selbst wieder ideologisch sind: „‚Ab heute‘, sagt Mia langsam, ‚macht sein [Moritz’] Name jede Vernunft unmöglich. Ab heute tue ich alles aus Liebe und frei von Furcht.‘ […] ‚Wochenlang warst du nicht bei dir‘, sagt die ideale Geliebte zu Mia. ‚Jetzt bist du es zu sehr.‘“ (CD, 174; Hervorhebung im Original)
Noch deutlicher wird dies hier: „‚Brennt das Land nieder‘, sagt Mia. ‚Reißt das Gebäude ein. Holt die Guillotine aus dem Keller, tötet Hunderttausende! Plündert, vergewaltigt! Hungert und friert! Und wenn ihr dazu nicht bereit seid, gebt Ruhe. […]‘“ (ebd., 258).
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Wird hier also nur eine Ideologie gegen eine andere, die Sicherheitsideologie gegen eine antietatistische Freiheitsideologie ausgetauscht? Allerdings betrachten offenbar auch Albrecht und de Berg die Aussagen Mias als Aussagen des Textes insgesamt. Der Roman nimmt aber, worauf bereits die Äußerung der ‚idealen Geliebten‘ im Zitat oben hindeutet, das Wissen um dieses neue ideologische Moment in sich auf. Tatsächlich wirft der Text implizit und an einer Stelle auch explizit das Problem des Widerstandes in postutopischen und, zumindest im Anspruch, postideologischen Zeiten auf: „[Kramer:] ‚Wofür wollen Sie denn streiten, Mia Holl, während Sie mich mit kämpferischen Augen ansehen? Für ein politisches Paradies auf Erden?‘“ (CD, 183)
Dies ist das Dilemma, das sich aus Sicht des Romans für Revolutionäre ergibt: Der Verweis auf die Ideologie des herrschenden Systems stellt eine wichtige argumentative Waffe dar, doch gleichzeitig ist es dem Revolutionär unmöglich, seinerseits ideologiefreie Systeme als Alternativen vorzuschlagen. Die zentrale Stelle5 des Romans lautet: „[Mia:] ‚[…] Es hat sich nichts geändert. Es ändert sich niemals etwas. Ein System ist so gut wie das andere. Das Mittelalter ist keine Epoche. Mittelalter ist der Name der menschlichen Natur.‘“ (CD, 235)
Bezeichnenderweise gibt Mia auf Kramers zentralen Kritikpunkt (vgl. CD, 183) nur die ausweichende Antwort, jetzt überhaupt nicht mehr zu „rationalisieren“ (ebd.), sondern einfach nach Gefühl zu handeln (vgl. ebd.). Sie ist tatsächlich zur Revolutionärin geworden, die für ihre ideologische Überzeugung kämpft. Der Text jedoch verdeckt Mias Dilemma bei genauerem Hinsehen nicht – er übernimmt nicht, wie bislang implizit angenommen, einfach kritiklos die Position seiner Hauptfigur – sondern lässt Mia und Kramer offen darüber diskutieren, ob sich deren Positionen am Ende des Romans strukturell nicht völlig entsprächen. Als Ausgangspunkt dieser Frage dient die Unterscheidung zwischen den Begriffen Märtyrer und Fanatiker: „[Kramer:] ‚Ich komme nicht darüber hinweg‘, fährt er fort. ‚Was unterscheidet den Fanatiker von der Märtyrerin? Bin nicht ich der Märtyrer, weil ich mich schon vor Jahren für eine Seite entschieden habe und ihr alles opfere?‘“ (CD, 245)
Ein wesentlicher Unterschied liegt darin, dass Kramer Anhänger der herrschenden Ideologie ist, während Mia sich mit der Unterstützung einer Gegenideologie außerhalb des Mainstreams bzw. der diskursiven Macht gestellt hat. Mia vertritt in der Tat
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Corpus Delicti war ursprünglich ein Theaterstück, das Juli Zeh für die RuhrTriennale 2007 verfasste. Das Motto der Veranstaltung war Mittelalter. An der zitierten Stelle findet sich der einzige explizite Verweis des Romans auf das Mittelalter.
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eine als ideologisch zu bezeichnende Position, aber es ist immerhin eine andere als die der breiten Masse. Aus einer philosophischen Perspektive mag Mia Kramer daher vielleicht nicht überlegen sein, aber aus pragmatischer Sicht kann sie mit ihrer Gegenideologie theoretisch zu einer Öffnung des im Roman entworfenen dystopisch-totalitären Systems beitragen. Ob Mia durch ihren Einsatz eine solche freiheitliche Bewegung ausgelöst hat, hält der Text offen – während Nebenfiguren wie Driss am Ende erkennbar eine Veränderung durchlaufen haben, wird Mia gegen ihren Willen resozialisiert. Mias persönliches Schicksal, das erneut an Orwells Winston Smith erinnert, bewahrt sie aus der ideologiekritischen Perspektive des Romans immerhin vor dem Schicksal siegreicher Revolutionäre: Tragisch wird der Revolutionär aus dieser Perspektive erst, wenn er in die Lage kommt, seine alternative Ideologie umzusetzen und dadurch seinerseits ein ideologisches System zu begründen. Während jedoch die fiktive Mia ihre Freiheitsrevolte in einem totalitären System losbricht, revoltiert Corpus Delicti als Roman gegen den Mainstream innerhalb des pluralistischen bundesdeutschen Systems – dies ist ein weiterer Unterschied zwischen der Dystopie und ihrer Hauptfigur. Der starke Schematismus des Romans ist dabei wohl weniger als Symptom einer Inkonsequenz des Textes zu sehen, sondern dem Bewusstsein um die Überlegenheit der diskursiven Macht, der er sich entgegenstellt, geschuldet. Anders jedenfalls ist die eklatante Spannung zwischen der Freiheitsideologie Mias einerseits und der ideologiekritischen Reflexion des Romans andererseits kaum zu erklären. Wenn in dieser Dystopie an vielen Stellen die Übermacht des Mainstreams innerhalb der entworfenen Welt kritisiert wird (vgl. z.B. CD, 22, 83 und 227), dann soll sich dies auch auf die reale Welt beziehen. Viele tausend kleine Widerstände und Revolutionsversuche können den realen gesamtgesellschaftlichen Diskurs vielleicht davor bewahren, noch weiter in seiner Ideologisierung voranzuschreiten. Hierin liegt, neben der Betonung des Werts der Freiheit, ein weiterer ‚didaktischer‘ Aspekt des Textes – der Hinweis auf den Wert einer permanenten Kritik der herrschenden Ideologie. Der Hauptperson Mia ist dieser Gedanke im Übrigen unwichtig, ihr geht es um den Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit. Freilich wird die Distanz des Romans zu seiner Hauptfigur eher angedeutet als ausgestellt und Zehs Text geht durch die überwiegende Verwendung traditionelldystopischer Erzählschemata das Risiko ein, ganz auf die Positionen Mias reduziert zu werden. Eine in diesem Sinne völlig erfolgreiche Revolte durch den Text, eine totale Umkrempelung des bundesdeutschen Diskurses zugunsten von Freiheitswerten, würde sehr schnell die problematischen Aspekte der im Text propagierten Ansichten zum Vorschein bringen (woran sich Albrecht und de Berg stören). Aber da sich der Roman innerhalb des realen gesellschaftlichen Diskurses offenbar einem übermächtigen Präventions-Mainstream gegenübersieht, macht er sich dennoch zu einem Sprachrohr Mias. Insofern bleibt Corpus Delicti auch in seiner Gesamtausrichtung der Philosophie Horkheimers und Adornos eng verbunden:
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„Kritisches Denken, das auch vor dem Fortschritt nicht innehält, verlangt heute Parteinahme für die Residuen von Freiheit, für Tendenzen zur realen Humanität, selbst wenn sie angesichts des großen historischen Zuges ohnmächtig scheinen.“ (Adorno/Horkheimer 2016/1944, IX)
Ein literaturdidaktischer Zugang zu einem ‚didaktischen‘ Roman Einem Text, der selbst bereits ‚didaktisch‘ konzipiert ist, literaturdidaktisch angemessen zu begegnen, ist auf den ersten Blick einfach, bei näherer Betrachtung aber besonders tückisch. Müssen die meisten Romane durch die Lernenden erst mühevoll erschlossen und interpretativ zugänglich gemacht werden, bietet sich beim ‚didaktischen‘ Roman Corpus Delicti, der sich traditionell-dystopischer Erzählschemata bedient, ein bestimmter Zugang wie ein roter Teppich an. Dieser Weg führt ohne große Umwege zu einem Plädoyer für den großen Wert individueller Freiheiten, die durch staatliche und gesellschaftliche Tendenzen aber immer stärker bedroht sind. Weder aus Perspektive der Lernenden, noch der Lehrenden ist es verwerflich, sich zunächst dieses weichen Teppichs zu bedienen – man darf sich jedoch nicht verführen lassen, nur der im Text angelegten Didaktik zu vertrauen. Hierin liegt die Tücke des Romans für den Literaturunterricht. Weitere Zugänge zum Wesen des Textes jenseits des gepolsterten Hauptwegs sind erheblich schwerer zu finden und steiniger. Gleichwohl finden sich jene Aspekte, die den Roman überraschend vielfältig und anspruchsvoll machen, ausschließlich jenseits der breit angelegten Textdidaktik: Die Problematik innerhalb der Schlussthesen Mias, die Entideologisierung als tiefere Ursache der dystopischen Entwicklung sowie die feinen Bruchlinien zwischen dem Text und seiner Hauptfigur. In einem nicht unerheblichen Maße muss sich die Literaturdidaktik somit von der bereits im Roman angelegten Didaktik unabhängig machen. Die Gewichtungen sind dabei natürlich dem Kenntnisstand und der Auffassungsgabe der jeweiligen Schülerschaft anzupassen; eine ausführliche Auseinandersetzung mit der Ideologie-Problematik beispielsweise könnte Klassen in der Mittelstufe überfordern, während eine solche Annäherung an die Kritische Theorie in der Oberstufe im Sinne einer reflektierten Werteerziehung sehr bedeutsam wäre. Doch in jedem Fall braucht es Lehrkräfte, die hinsichtlich der Unterscheidung zwischen den Positionen Mias und des Romans als Ganzem sensibilisiert sind und auf diese bei der Konzeption des Unterrichts achten. Und gerade weil Corpus Delicti im Literaturunterricht v.a. im Kontext der Werteerziehung herangezogen wird, müssen auch die von Mia propagierten Freiheitswerte einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Nur so kann sich bei den Lernenden, neben bestimmten Werten, auch eine „Wertreflexionskompetenz“ (Anselm 2012, 410) herausbilden. Der Umstand, dass Werteerziehung im Literaturunterricht der Mittel- und Oberstufe in den nächsten Jahren mit einer Schülerschaft stattfinden wird, deren Mitglieder in ihrer Kindheit häufiger als heute nicht im westlichen Wertesystem sozialisiert wor-
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den sind, spielt gerade auch bei Corpus Delicti eine wichtige Rolle. Trotz all seiner Unzulänglichkeiten stellt der westliche (Sozial-)Staat in erster Linie eine Errungenschaft dar, was auch und gerade im Rahmen der Lektüre von Corpus Delicti thematisiert werden sollte. Dabei ist es dann auch eine Frage der philologischen Genauigkeit, problematische Aspekte der Positionen Mias nicht pauschal dem Text als Ganzem anzulasten. Für die konkrete Umsetzung dieser Anregungen im Unterricht ist eine Aufteilung empfehlenswert. Zunächst können, wie bisher üblich, die dystopischen Elemente des fiktiven Zukunftsstaates herausgearbeitet und kontrastierend hierzu der Wert individueller Freiheit thematisiert werden. Vermutlich stößt der Hinweis auf die Wichtigkeit von Freiheitsrechten bei den jugendlichen Leser_innen auf Akzeptanz. Danach jedoch sollte jener vom Text entrollte rote Teppich mehr und mehr verlassen werden, sodass möglichst viele weitere Zugänge zum Roman gefunden und erprobt werden können. Idealerweise haben sich im bisherigen Unterrichtsgang durch Äußerungen von Schüler_innen bereits Ansatzpunkte hierzu entwickelt, die nun produktiv weiterverfolgt werden können. Andernfalls oder ergänzend hierzu können über externe Impulse – etwa Auszügen aus Albrechts Rezension (Ein bisschen Diktatur darf sein, 2009) – Perspektiven jenseits der Didaktik des Textes eröffnet werden. Es ist nicht verwunderlich, dass im Rahmen von Literaturunterricht eine affektive Verschmelzung der Lernenden mit dem literarischen Werk gemeinhin als ideales Ergebnis gelungenen Unterrichts betrachtet wird: Die Lehrkraft hat in der Regel einen großen Einfluss auf die Textauswahl, sie soll und möchte die Lernenden nicht nur vom Einzelwerk, sondern vom Medium Buch an sich begeistern usw. Anhand des Romans Corpus Delicti lässt sich jedoch erkennen, dass auch die reflektierte Distanzwahrung zu einer Schullektüre, bzw. einem literarischen Werk allgemein, eine wichtige Kompetenz sein kann, auf deren Herausbildung im Laufe der Leseentwicklung zu achten ist. Es geht um die Entwicklung einer emotionalen und doch kritischen Lesehaltung, die gegenüber literarischen Texten zu einem Oszillieren zwischen affektiver Verschmelzung und Distanzwahrung in der Lage ist. Der Ansatz, sich nicht nur auf den vom didaktischen Text Corpus Delicti selbst angelegten und angebotenen Textzugang zu beschränken, bietet sich zur Ausbildung einer solchen Lesehaltung besonders an. Auch die individuelle ästhetische Wertung des Romans kann in diesem Kontext thematisiert werden. Die hohe Kontroversität der Textästhetik in den Rezensionen (vgl. Finger 2009 sowie Geyer-Hindemith 2009) lädt hierbei zur Verwendung von Unterrichtsmethoden ein, die ihren Reiz aus gro6 ßer Kontroversität beziehen, wie etwa das ‚Literarische Quartett‘. Im Laufe eines solchen Literaturunterrichts, der auch auf Distanzwahrung achtet, gewinnen die Lernenden, natürlich abhängig von ihrem Alter und Leistungsstand, 6
Analog zum bekannten Fernsehformat tauschen sich vier Lernende in einem Rollenspiel als Kritiker über die Ästhetik des in Frage stehenden Romans aus. Dringend sollte dabei davon abgesehen werden, von vornherein feste Rollen (je zwei Pro- und Contra-Positionen) zu vergeben.
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an Sensibilität für tiefergehende Fragestellungen und damit für weitere Zugänge zum Roman. Über eine Relektüre entscheidender Abschnitte können, wie oben gezeigt, sowohl Entideologisierungsprozesse als (eine) tiefere Ursache der dystopischen Entwicklungen wie auch die Bruchlinien zwischen der Positionierung Mias und des Textes als Ganzem herausgearbeitet werden. Paradoxerweise gewinnt durch eine solche Lektürepraxis, die sich nicht alleine der Didaktik des Textes anvertraut, schlussendlich auch Corpus Delicti als Roman – ästhetisch und didaktisch.
Literatur- und Quellenverzeichnis Primärliteratur Zeh, Juli (2009): Corpus Delicti. Ein Prozess. Frankfurt a.M.
Sekundärliteratur Adorno, Theodor/Horkheimer, Max (2016/1944): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. Anselm, Sabine (2012): Ethische Bildung durch Wertreflexionskompetenz. Überlegungen zur Werteerziehung (nicht nur im Deutschunterricht). In: Mitteilungen des deutschen Germanistenverbandes 59. Jg./H. 4. Göttingen, 401–415. Berg, Henk de (2013): Mia gegen den Rest der Welt: zu Juli Zehs „Corpus Delicti“. In: Kupczyńska, Kalina u. Artur Pełka (Hg.): Repräsentationen des Ethischen. Festschrift für Joanna Jabłkowska, Frankfurt a.M., 25–48. Heuer, Julia (2013): Nacktes Leben. Juli Zehs Dystopie „Corpus Delicti. Ein Prozess im Literaturunterricht. In: Dawidowski, Christian u. Dieter Wrobel (Hg.): Kritik und Kompetenz. Die Praxis des Literaturunterrichts im gesellschaftlichen Kontext. Baltmannsweiler, 187–209. Horkheimer, Max (1967): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft: aus den Vorträgen und Aufzeichnungen seit Kriegsende. Frankfurt a.M. Layh, Susanna (2014): Finstere neue Welten. Gattungsparadigmatische Transformationen der literarischen Utopie und Dystopie. Würzburg. McCalmont, Virginia/Maierhofer, Waltraud (2009): Juli Zehs Corpus Delicti: Health Care, Terrorists, and the Return of the Political Message. In: Monatshefte 104(3). Madison, 375–392. Mogendorf, Christine (2017): Von ‚Materie, die sich selbst anglotzt‘. Postmoderne Reflexionen in den Romanen Juli Zehs. Bielefeld. Mogendorf, Christine (2012): Zugang zu einer als möglich gedachten Realität: AlltagsSurrealismus in Juli Zehs „Spieltrieb“ (2004) und „Corpus Delicti“ (2009). In: Dirscherl, Margit u. Sven Hanuschek (Hg.): Alltags-Surrealismus. Literatur, Theater, Film (NeoAvantgarden). München, 177–190.
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Trojanow, Ilija/Zeh, Juli (2009): Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte. München.
Rezensionen Albrecht, Harro (2009): Ein bisschen Diktatur darf sein. In: Die Zeit vom 19.03.2009. (Verfügbar unter: https://www.zeit.de/2009/13/M-Gesundheitsdiktatur) (11.08.18). Finger, Evelyn (2009): Das Buch der Stunde. In: Die Zeit vom 26.02.2009. (Verfügbar unter: https://www.zeit.de/2009/10/L-Zeh) (11.08.18). Geyer-Hindemith, Christian (2009): Geruchlos im Hygieneparadies. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 01.03.2009. (Verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/ buecher/rezensionen/belletristik/juli-zehs-neuer-roman-geruchlos-im-hygieneparadies1774442.html) (11.08.18). Moritz, Rainer (2009): Unverträgliche Immunsysteme. In: Neue Zürcher Zeitung vom 18.07.2009. (Verfügbar unter: https://www.nzz.ch/unvertrgliche_immunsysteme1.3090964) (11.08.18).
„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will 1 und stets das Böse schafft.“ Wertereflexion zwischen Realität und Fiktion am Beispiel von Juli Zehs Unterleuten im Literaturunterricht Carlo Brune und Ina Henke „Mit dem Dorf stimmt was nicht. Ganz massiv.“ (UL, 434)
Der Beitrag befasst sich mit Juli Zehs Roman Unterleuten. Ausgehend von einer Bestimmung der Rolle, die literarisches Schreiben hinsichtlich einer kritischen Reflexion sowohl gesellschaftlich-politischer Entwicklungen als auch ethischmoralischer Fragen einnehmen kann, sollen Zugangsmöglichkeiten eröffnet werden, an die eine spätere Unterrichtspraxis anknüpfen kann. Im Fokus stehen dabei zum einen zentrale Motive, die den Text strukturbildend durchziehen und über die eine Wertereflexion erfolgt. Zum anderen bildet die im Roman aus verschiedenen Perspektiven reflektierte und zugleich auf die virtuellen Welten der social media bezogene Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion einen Schwerpunkt. Aufgezeigt wird, wie literarästhetische Lernprozesse zu einer kritischen Reflexion von Moralvorstellungen respektive Werten hinführen, worüber zugleich die Spezifik und Relevanz literarischen Lernens auf einer allgemeinen Ebene konturiert werden kann.
1.
„Ich möchte den Lesern keine Meinungen, sondern Ideen vermitteln“ – Politik und Moral in den Romanen Juli Zehs
In ihrem Essay Auf den Barrikaden oder hinterm Berg?, der auf dem Beitrag Wir trauen uns nicht vom 4. März 2004 in der Wochenzeitung Die Zeit beruht, setzt sich Juli Zeh mit den Gründen für „die zeitgenössische Abkehr der Literatur vom Politischen“ (Zeh 2006a, 214f.) auseinander.2 Was sie hier ausmacht, sind durchweg Phänomene und Prozesse, die sich mehr als zehn Jahre später eher weiter verschärft als gewendet haben. Diese Form ‚politischer Neutralität‘ entspringt dabei weniger, wie etwa in bestimmten Schulen der literarischen Moderne, „einem ästhe-
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Zeh, Juli (2016): Unterleuten. München, 328. Künftig im fortlaufenden Text mit der Sigle UL nachgewiesen. Dieses Zitat ist durch folgenden Satz eingeleitet: „Jule musste an den Goethe-Satz denken, der seine wahre Tragik erst erreichte, wenn man ihn falsch zitierte.“ Diesem Artikel von Juli Zeh ist auch das in der Kapitelüberschrift verwendete Zitat entnommen (ebd., 219).
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tischen Programm“ (Zeh 2006a, 215), sondern ist „einfach da. Eine Selbstverständlichkeit, zu der es keine Alternative zu geben scheint“ (ebd.). Die Ursachen hierfür sind in den Augen Zehs vielfältig; sie verortet sie zum einen in dem stark ausgeprägten Individualismus ihrer Generation (vgl. ebd.) und zum anderen in gesellschaftlichen Entwicklungen, in deren Folge die „öffentliche Meinung […] die Schriftsteller aus dem Dienstverhältnis entlassen [hat], und letztere […] nicht einmal versucht [haben], Kündigungsschutzklage zu erheben“ (ebd., 217). An die frei gewordene Stelle seien nichtliterarische, journalistische Formen der Meinungsbildung getreten sowie die Orientierung an einem (vermeintlichen) „Experten- und Spezialistentum“ (ebd., 219). Zeh bezieht deutlich hiergegen Position. In ihrem Verständnis kommt „der Literatur per se eine soziale und im weitesten Sinne politische Rolle“ (ebd., 218f.) zu. Im Unterschied zu anderen Diskursen öffentlicher Meinungsbildung füllt sie diese allerdings nicht dergestalt aus, dass sie, wie journalistische Formen, „ein angeblich ‚objektives‘ – und deshalb immer verfälschendes – Bild von der Welt zu zeichnen“ (ebd., 219) bestrebt ist. Der der Literatur hier zugeschriebene „nichtjournalistische[] und trotzdem politische[] Blick auf die Welt“ (ebd.) steht in der Tradition einer Littérature engagée, wie sie von Jean-Paul Sartre geprägt wurde. Auch für ihn bedeutet literarisches Sprechen gesellschaftlich relevant zu handeln (vgl. Sartre 1981, 26). Wenn er vom Prosaschriftsteller als demjenigen spricht, dem die Worte zu Waffen werden: „Wenn er spricht, schießt er“ (ebd., 27), dann lesen sich seine zunächst provozierenden Thesen (vgl. Gockel 2006, 245) bei näherer Betrachtung als eine Aufforderung, die so weit von den Gedanken Zehs nicht entfernt ist. „So ist der Prosaist jemand, der einen bestimmten sekundären Modus des Handelns gewählt hat, den man Handeln 3 durch Enthüllung nennen könnte“ (Sartre 1981, 26). Sein Schreiben diene dem Ziel, Dinge öffentlich zu machen und so ins Bewusstsein zu rücken, „die Welt und besonders den Menschen den andren Menschen zu enthüllen, damit diese gegenüber dem derart aufgedeckten Gegenstand ihre ganze Verantwortung übernehmen“ (ebd., 27). Dabei „appelliert der Schriftsteller an die Freiheit des Lesers, daß sie an der Produktion seines Werks mitarbeite“ (ebd., 41), denn letztlich vermag der Text erst über seine Lektüre zu wirken. Wenn Juli Zeh ihre eigene Literatur so versteht, dass sie „den Lesern keine Meinungen, sondern Ideen vermitteln“ (Zeh 2006a, 219) möchte, schließt das an die Gedanken Sartres an: Eine engagierte Literatur in diesem Verständnis will vorhandene Wirklichkeiten nicht unmittelbar abbilden, sondern den Leser_innen Einsichten in diese vermitteln, die deren bewusstere Wahrnehmung ermöglichen (vgl. Iser 1994, 3
Sartre gewinnt seine Bestimmung literarischer Prosa dabei aus einer – letztlich fragwürdig pauschalisierenden – Abgrenzung zur (modernen) Poesie. Diese widersetze sich jeder Form eines instrumentellen Sprachgebrauchs: „Dichter sind Menschen, die sich weigern, die Sprache zu benutzen. […] Sie denken auch nicht daran, die Welt zu benennen […]“ (Sartre 1981., 16). Die Art der Sprachverwendung sei hier eine solche, in der die „Wörter als Dinge und nicht als Zeichen betrachtet“ würden (ebd., 17), weshalb es „dem Dichter versagt ist, sich zu engagieren“ (ebd., 23).
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232). Mögliche Ideen im Sinne veränderter Perspektiven auf Altbekanntes, die so während der Lektüre entstehen, nehmen ihren Ausgang von ästhetischen Formen des Verstehens und den Möglichkeiten, die literarische Sprachverwendung und bestimmte Erzähltechniken, wie das unzuverlässige Erzählen, das im Verlauf dieses Aufsatzes noch eingehender thematisiert werden wird, hierbei eröffnen. Ein solches Verständnis der politischen Rolle von Literatur berührt notwendig Fragen von Moral und Ethik. Denn wie jedes Interesse bedarf auch diese Form des Engagements eines Wertesystems, vor dessen Hintergrund agiert werden kann. Zeh sieht beide Bereiche, den des Gesellschaftlichen und im weitesten Sinne Politischen sowie den von Moral und Ethik, in einem unmittelbaren Bedingungsverhältnis: „Ein Mensch, der alleine auf einer Insel lebt, hat keine Moral. Er braucht keine, er wird auch keine entwickeln. Moral entsteht dadurch, dass wir Absprachen darüber brauchen, was gut und was böse ist“ (Zeh 2011, 62). Insbesondere in Zehs literarischen Werken dominiert ein „sekundäre[r] Modus des Handelns“ (Sartre 1981, 26), der auf Reflexionsprozesse in der spezifisch ästhetischen Realisierung des Textes durch die Lektüre zielt und so ethische Fragen aufwirft, die an die Lebenswelt von Schüler_innen anknüpfen und im Unterricht fruchtbar gemacht werden können. Denn im Ausbleiben solcher Reflexionen sieht Zeh ein grundlegendes Defizit unserer Gesellschaft: „Ich will gar nicht sagen, dass wir keine Werte haben, sondern dass wir das Gefühl haben, keine zu besitzen. Wenn man uns in der Nacht weckt und fragt: Woran glaubst du, dann zögern wir“ (Zeh 2016c, o.S.).
2.
„‚Und wer gewinnt?‘, fragte Gerhard. ‚Der Stärkere‘, sagte Kaczynski.“ – Das literarische Spiel mit Moral und Ethik in Unterleuten
Zehs Roman Unterleuten vereint die beiden Themenfelder von gesellschaftlich engagierter Literatur und Wertediskurs, was unter anderem durch den Verweis auf ihren politischen Essayband Nachts sind das Tiere (2014) in einer der übergeordneten Kapitelüberschriften markiert ist.4 Vom Verlag als „große[r] Gesellschaftsroman über die wichtigen Fragen unserer Zeit“5 beworben, mikroskopiert er in Form von „mit feiner Ironie und toller Beobachtungsgabe gezeichnete[n] Porträtminiaturen“ (Kliemann 2016, o.S.) eine scheinbare Landidylle in Brandenburg und dekuvriert die zerstörerischen Kräfte egoistischer, allein auf persönlichen Erfolg angelegter Lebensentwürfe, die hinter der Fassade wirksam sind. Im Mittelpunkt
4 5
Das in der Überschrift erwähnte Zitat ist entnommen aus Unterleuten (206). Entnommen aus der Verlagsanzeige zum Roman auf der Internetseite der Autorin. In einem Interview äußert sich Juli Zeh hierzu wie folgt: „Ich habe ja dem Roman dieses etwas aufgeplusterte Etikett Gesellschaftsroman verliehen. Die Figuren sind absolut stellvertretend für die Gesellschaft im Ganzen“ (Zeh 2016c, o.S.).
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des Romans steht die Errichtung eines Windparks in dem brandenburgischen Dorf Unterleuten. Dieses Vorhaben ist Auslöser dafür, dass sowohl alte Streitigkeiten zwischen den ursprünglichen Dorfbewohnern wieder aufbrechen als auch neue Konflikte mit aus der Stadt zugezogenen Bewohnern entstehen. So versucht beispielsweise Linda Franzen, eine aus Berlin mit ihrem Freund Fredrik Wachs nach Unterleuten gezogene Pferdetrainerin, mit aller Macht und unter Rückgriff auf moralisch fragwürdige Methoden, eine Parzelle des Gebiets, die ihr gehört und auf der die Windräder stehen sollen, gegen eine große Pferdekoppel für ihren Hengst einzutauschen. Der ebenfalls aus Berlin zugezogene Gerhard Fließ, ein rund 50jähriger ehemaliger Universitätsdozent der Soziologie, der nun als Vogelschützer arbeitet, und seine frühere Studentin und jetzige Ehefrau, Jule Fließ-Weiland, sind mit ihrer nur sechs Monate alten Tochter in die hierdurch entstandenen Konflikte verwickelt. Je stärker sie ihre je eigenen Interessen verfolgend in diese eingreifen, desto mehr verändert sich das Paar und ihre Beziehung. Auch die beiden alten Kontrahenten Gombrowski und Kron, die seit Kindertagen verfeindet sind, nutzen die geplante Windparkanlage, um ihre alte Fehde wieder aufleben zu lassen und sich gegenseitig zu bekämpfen. Den Höhepunkt des Romans bildet das Verschwinden des Kindes der Tochter Krons, Kathrin Kron-Hübschkes, das schließlich in die ‚Auslöschung‘ Unterleutens bzw. einiger seiner Bewohner mündet. Als Gesellschaftsroman des 21. Jahrhunderts findet Unterleuten zudem Fortsetzung in den Welten des Internets, zu deren Besuch die Autorin die Leser_innen auf der Internetseite zum Roman explizit auffordert: „Die Erzählung ‚Unterleuten‘ geht weiter, in Büchern, in Zeitungen, im Internet. Wenn Sie ihr folgen, werden Sie überall auf Teile von ‚Unterleuten‘ stoßen. Weil die Gesellschaft nicht mehr so funktioniert wie zu Zeiten von Balzac, Thomas Mann oder John Updike, ist ‚Unterleuten‘ als Gesellschaftsroman des 21. Jahrhunderts ein literarisch-virtuelles Gesamtkunstwerk.“ (Zeh 2016b, o.S.)
Gesellschaftliche Wirklichkeit, literarische Fiktion und medial inszenierte (Schein-) Welten werden hier ineinandergeblendet. Dadurch wird für Schüler_innen nachvollziehbar, inwieweit virtuelle Simulationen von Wirklichkeit auch das vermeintlich reale Leben prägen.
2.1 Zentrale Motive des Romans Kampfläufer „‚Alles ist Wille‘“ (UL, 5) – bereits das dem Roman vorangestellte Motto, das aus der Feder eines gewissen Manfred Gortz stammt (vgl. ebd.), macht die Frage nach Moral und Ethik als zentrales Thema Unterleutens erkennbar. So entpuppt sich einerseits Gortz innerhalb der fiktiven Welt als Verfasser „eine[r] Art neodarwinis-
„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.“
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tische[n] Lebensratgeber[s]“ (Lehmkuhl 2016, o.S.), in dem Erfolg und Stärke als letzte verbindliche Werte propagiert werden. Mit Sätzen wie „Dass sich der Starke vor den Schwachen rechtfertigen soll […], ist der faule Kern der demokratischen Idee.“ (UL, 586) entwirft er in seinem auch in der Romanwelt begegnenden Bestseller „Dein Erfolg“ (ebd., 129) das Bild einer Gemeinschaft, in der das Survival of the Fittest die einzige verbleibende Handlungsmaxime darstellt. Andererseits verweist sein vermeintliches Zitat „Alles ist Wille“6 auf eine philosophische Tradition der Wertereflexion, die ihren Ausgang an der Schwelle zur Moderne nimmt, an der rationalistische Ordnungsvorstellungen brüchig werden.7 Als Mitbegründer einer solchen Tradition lässt sich Friedrich Nietzsche begreifen. Er entwickelt die Idee eines Willens zur Macht, der das Grundprinzip allen Lebens darstellt. Ausgehend hiervon diskutiert Nietzsche, ob Werten wie einem „Willen zur Täuschung“, „Eigennutz“ und „Begierde“ nicht „ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste“ (Nietzsche 1988b, 16f.) als alten Werten wie Wahrhaftigkeit und Selbstlosigkeit. In einer von diesen Werten bestimmten Gesellschaft kann gut dann nur sein, „was das Gefühl der Macht, den Willen zur Macht, die Macht selbst im Menschen erhöht“ (Nietzsche 1988a, 170). Schlecht hingegen ist „[a]lles, was aus der Schwäche stammt“ (ebd.). Wird der mit Nietzsches Gedanken des Willens zur Macht in Verbindung zu bringende Gesellschaftsentwurf Gortz‘ nun auf Unterleuten bezogen, liegt folgende Lesart nahe: Der im Zentrum des Romans stehende Dorfkosmos ist ein Gesellschaftsraum, in dem Nietzsches „Umwerthung aller Werthe“ (ebd., 253) verwirklicht ist. Bestätigt wird diese Lesart darüber hinaus durch die Widmung „Für Ada“ (UL, 4), die dem Roman ebenfalls vorangestellt ist. Auch sie legt nahe, Unterleuten als Miniaturbild einer Gesellschaft zu betrachten, in der die alten Moralvorstellungen im Sinne Nietzsches aufgelöst sind; handelt es sich bei Ada doch um die Protagonistin in Zehs Zweitwerk Spieltrieb, die hierin immer wieder eine ebensolche Gesellschaft fordert (vgl. Zeh 2006b, 543–553), in der „das Spiel […] anstelle der Moral [tritt]“ (Probst 2009, o.S.). Wird die Auflösung allgemeingültiger Vernunftnormen zugunsten des individuellen Machtstrebens also schon auf der Ebene des Paratextes als essenzielles Sujet Unterleutens angedeutet, rückt es auf der Ebene des Haupttextes vor allem über das Motiv des Kampfes in den Fokus. Dementsprechend begegnen die Dorfbewohner ganz der Forderung Adas gemäß dort als „Einzelkämpfer[]“ (UL, 108), die jeglichen Gemeinsinn verloren haben: Jule Fließ-Weiland empfindet beispielsweise 6
7
Dass sich das Thema der Wertereflexion durch Zehs gesamtes Werk zieht, zeigt sich unter anderem in ihrem Roman Nullzeit. So taucht der Leitsatz „Alles ist Wille“ auch hier immer wieder auf, vgl. Zeh 2012, 44, 91, 197 und 247. In Anlehnung an Peter V. Zima wird hier davon ausgegangen, dass „modernistische Philosophen und Schriftsteller“, zu denen er unter anderem Nietzsche und Dostojewskij zählt, „zentrale Gedanken der Aufklärung und des Rationalismus in Frage stellen“ und „an der Beherrschbarkeit der Welt im Rahmen des aufklärerischen und rationalistischen Fortschrittsglaubens zu zweifeln“ (Zima 2001, 28) beginnen.
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alles als feindlich, was sich außerhalb der imaginären Mauer befindet, die sie um sich und ihr Kind errichtet (vgl. ebd., 118), ihr Mann Gerhard nutzt das Verschwinden von Krönchen, der Enkelin des Altkommunisten Kron, ausschließlich, um seine (Kampf-)Position in der Dorfgemeinschaft zu stärken (vgl. ebd., 361ff.), und Konrad Meiler ruft seine Frau Mizzie offenbar nur an, um Monologe zu seinem eigenen Befinden zu führen (vgl. ebd., 225). Besonders deutlich wird die kämpferische Vereinzelung der Bewohner Unterleutens am Beispiel Hilde Kesslers: Die alte Frau mit den vielen Katzen, die von Elena Gombrowski als „Einsamkeit[] mit Tier“ (ebd., 399) bezeichnet wird, verlässt das Haus nicht mehr aus Angst, sie könnte – wie ihr verstorbener Mann – von einem vom Himmel fallenden Ast erschlagen werden (vgl. ebd., 88). Kessler scheint sonach ein der christlichen Tradition entgegengesetztes Verhältnis zum Himmel entwickelt zu haben: Anstatt als Sinnbild metaphysischer Geborgenheit und Sehnsucht, wird er für sie zur Bedrohung und kann keine Hoffnung mehr bieten. Verstärkt wird die negative Codierung des Himmels im Roman durch die Verknüpfung der Farbe Blau mit den Figuren Linda Franzen und Rudolf Gombrowski. Indem Linda als Frau mit einem „auffällige[n] blaue[n] Kleid“ (ebd., 126), das zugleich an traditionelle Mariendarstellungen erinnert (vgl. Schuth 1995, 173), und Gombrowski als Besitzer eines „mit leuchtend blauen Ziegeln gedeckt[en]“ (UL, 63) Hauses beschrieben werden, werden beide in die Nähe göttlicher Wesen gerückt und damit wird erneut auf die „Umwerthung aller Werthe“ (Nietzsche 1988a, 253) in der Gesellschaft Unterleutens aufmerksam gemacht: An die Stelle übergeordneter religiöser Prinzipien tritt in der kleinen Dorfwelt der skrupellose Wille bzw. das Interesse des Einzelnen, der keine Gemeinschaft mehr kennt. Auch an anderer Stelle im Roman nehmen Linda und Gombrowski eine Art Gottesfunktion ein. So bemisst Gombrowski – vornehmlich aus seiner eigenen Perspektive heraus – als Manager und Arbeitgeber des gesamten Dorfes Erfolg, ganz im Sinne einer utilitaristischen Ethik, nach dem größtmöglichen Nutzen für die größtmögliche Zahl der von der Handlung Betroffenen (vgl. UL, 406). Linda wiederum vermag – nahezu gottgleich8 – die Menschen in der Welt in Bewegung zu setzen: „Sie führte ihn [Meiler] durchs Haus, durch den Garten, schritt jeden Meter des Grundstücks mit ihm ab, navigierte ihn hierhin und dorthin. Sie kam ihm zu nah, so dass er auswich, fasste seinen Arm, um den Meiler-Körper in eine neue Richtung zu drehen, ließ ihn zurücktreten und führte ihn gleich darauf wieder nach vorn.“ (UL, 130)
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Sie begegnet in gewisser Weise als säkularisierte und in einigen Aspekten abgewandelte Variante des aristotelischen Gottes, der die Welt erst in Bewegung setzt. (Vgl. hierzu das zwölfte Kapitel der Metaphysik des Aristoteles.)
„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.“
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Die enge Verknüpfung von (All-)Macht und Bewegung exponiert derweil auch der Leitsatz Lindas aus Gortz‘ Dein Erfolg: „Macht ist die Antwort auf die Frage, wer wen bewegt“ (ebd., 129). Die Fähigkeit, andere Wesen bzw. die Welt bewegen zu können, wird hier als mit Omnipotenz verbundene Kraft begriffen.9 Gleichwohl ist das Bewegungsmotiv in Bezug auf Linda nicht ausschließlich mit (All-)Macht verbunden, sondern beinhaltet noch eine weitere Dimension: Weil sie als „Leistungssportlerin“ (ebd., 134), die grundsätzlich zu schnell Auto fährt (vgl. ebd., 240), selbst nie stillsteht, kann ihr Bewegungsdrang zugleich als Verweis auf eine innere Leere gelesen werden, die dadurch kompensiert werden muss. Blind folgt die „Rossfrau“ (ebd., 138) den Anweisungen ihres Lieblingsautors Gortz und ersetzt so die Frage nach Sinn durch ein letztlich leerlaufendes Streben, für das auch die Rotoren der Windräder, um die sich die gesamte Romanhandlung dreht, sinnbildlich stehen: „Alles in Linda strebte, ganz egal, ob das Ziel nun Bergamotte, Objekt 108 oder Unterleuten hieß. Beängstigend war, dass es ihr letztlich gar nicht um eine bestimmte Sache ging“ (ebd., 417). Bewegung wird bei Linda folglich zu einem sinnentleerten ‚Frei-Drehen‘ (vgl. ebd., 139) oder Über-Drehen des Willens. Dass dies Linda vollkommen entmenschlicht, verdeutlicht schließlich ihre Bestimmung als „Maschine“, die „mit zu hoher Drehzahl [läuft]“ (ebd., 135). Dadurch wird ihr eine Gewaltsamkeit10 zugesprochen, die mit Empathie bzw. Menschlichkeit unvereinbar ist und sie rücksichtslos macht: Unaufhaltsam wie eine Maschine11 verfolgt sie ihre Interessen und kreist dabei allein um sich selbst. Sie entpuppt sich somit – wie ihr Freund Frederik Wachs12 treffend bemerkt – als Prachtexemplar der Gattung der „Kampfläufer“ (UL, 527), einer Vogelart, die bereits in ihrem Namen Bewegungs- und Kampfmotiv insoweit verknüpft, dass ihr allegorischer Charakter offensichtlich wird. Als ‚Wappentier‘ des Dorfes13 repräsentiert der Kampfläufer jedoch nicht nur Linda, sondern nahezu alle Bewohner Unterleutens und lässt den gesamten Dorfkosmos damit abermals als in sich geschlossene Welt erscheinen, in der ein überdrehender Wille jeden zum Kampf gegen jeden treibt.
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Die (All-)Macht Lindas zeigt sich auch in folgender Passage: „Ihr Beruf bestand darin, Wesen zu bewegen, die hundertmal stärker waren als sie“ (UL, 129). Die Gewaltsamkeit Lindas wird auch in folgender Gedankenrede Frederiks deutlich: „Dann sehnte er sich nach […] Lindas Art, das Leben mit den Händen zu würgen“ (UL, 244). Ähnlich wie bei einer Maschine wirken die grünen Augen Lindas aus der Perspektive Frederiks „hell wie von innen beleuchtet“ (UL, 298). Frederik Wachs fungiert in Unterleuten als Gegenbild Lindas: So scheint er völlig willenlos zu sein und sich nach einem Verschwinden in der Anonymität der Masse zu sehnen, wie unter anderem seine kurzzeitigen Ausbrüche aus der Dorfwelt Unterleutens in die Großstadt Berlin verdeutlichen (vgl. UL, 243ff.). Bezeichnenderweise gilt der Schutz der Kampfläufer im Unterleutener Naturschutzgebiet in besonderer Weise (vgl. ebd., 24f.).
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Waldkulissen Der Wald ist im Roman der Dorfgemeinschaft und ihrem sozialdarwinistischen Kampf um Macht gegenübergestellt. Doch auch wenn er diesbezüglich einen exterritorialen Ort markiert, lauern in ihm zugleich auch viele Gefahren: „Niemand ging zum Spaß in den Wald. Für die Unterleutner war der Wald kein Naherholungsgebiet, sondern ein Arbeitsplatz, und zwar ein gefährlicher. […] Die meisten männlichen Dorfbewohner konnten verheilte Knochenbrüche oder Narben von Kettensägenverletzungen vorweisen. Der Wald hatte Erik umgebracht und Kron ein Bein zertrümmert. Der Wald war kein Ort, an dem man sich freiwillig aufhielt.“ (UL, 254)
Eine solche Verwendung des Waldmotivs steht in einer literarischen Tradition, die vor allem in der sogenannten Schwarzen Romantik nachweisbar ist. In E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen Das fremde Kind verwandelt sich der Wald vom buchstäblich zauberhaften Raum einer phantastischen Naturbegegnung in eine gespenstische Kulisse, in der das kindliche Geschwisterpaar von bösen Mächten verfolgt wird (vgl. Hoffmann 2001). Hieran schließt die Art und Weise, wie das Motiv in Unterleuten Verwendung findet, an. Die in der oben zitierten Passage bereits nachweisbare Konnotation auf Tod und Verderben bestätigt sich im weiteren Verlauf des Romans. Die Verbindung von Wald und Tod findet mittels einer Personifikation in der folgenden Analepse Ausgestaltung, in der aus der Erinnerung des Bürgermeisters Arne Seidel die Sterbeszene seiner Frau geschildert wird: „Durch das offene Fenster drängte die Nacht herein und flüsterte mithilfe von Wind und Zweigen: Was ist, wird nicht sein“ (UL, 382). Die nach der vermeintlichen Entführung Krönchens gestartete Suche im dunklen Wald (vgl. ebd., 371–380) gehört ebenso wie der Tod Erik Kesslers (vgl. ebd., 489– 491) in dieses semantische Feld. In besonderer Weise bedrohlich erscheint der Wald indes, weil er – ganz im Gegensatz zu der überdrehenden Dorfgesellschaft – eine höhere Ordnung bereitzuhalten scheint, der sich auch der Wille des Einzelnen unterordnen muss: „Ganz anders als in der Welt der Menschen besaß hier alles einen Sinn. Was existierte, bot einem anderen Wohnung oder Nahrung. Was verging, diente dem Überleben des Nächsten. Sterben bedeutete hier keinen Skandal. Es war nur eine unter vielen Funktionen des Seins. Im Wald gab es Töten ohne Hass, Fortpflanzung ohne Liebe, Kooperation ohne Gesetze, Ernährung ohne Wissenschaft und Lebensfreude ohne Philosophie.“ (UL, 482)
Moralisch-ethische Fragen entbehren hier jeglicher Relevanz – was angesichts der Antworten, die sie im Kontext der Dorfgesellschaft finden, den Leser_innen als der ‚sympathischere‘ Weg erscheinen mag. Und doch bleibt das, was sich hier als Zweck
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einer natürlichen Ordnung präsentiert, letztlich eine menschliche Projektion angesichts der inneren Leere und Bedeutungslosigkeit, in die sich alle zentralen Figuren des Romans verlieren. Kriegszustände Im letzten Drittel des Romans, das mit dem Verschwinden von Krönchen eingeleitet wird, tritt abschließend der Krieg als weiteres zentrales Motiv in den Vordergrund. Dies zeigt sich u.a. in den Urteilen, die die verschiedenen Figuren übereinander und über das Dorf fällen: So sieht Jule Fließ-Weiland in ihrem Mann nur noch einen „Feldherren“ (UL, 371), Gerhard Fließ nennt Bodo Schaller einen „Terrorist[en]“ (ebd., 370) und Schallers Tochter Miriam bezeichnet die Lage in Unterleuten als „Kriegszustand“ (ebd., 430). Dies weist bereits auf eine katastrophische Auflösung der Ereignisse voraus – und eröffnet Analogien zu Hobbes‘ Staatsphilosophie und dessen Menschenbild. Ähnlich wie im Naturzustand bei Hobbes14 scheint auch in Unterleuten jede staatliche Kontrolle ausgesetzt: Mehrfach wird betont, dass sich Konflikte im Dorf ohne Hilfe der Polizei regeln ließen (vgl. u.a. ebd., 152). Dies führt jedoch – wie auch bei Hobbes – dazu, dass im Dorf allein das Recht des Stärkeren gilt und der Naturzustand sich zum „elenden Zustande eines Krieges aller gegen alle“ (Hobbes 1970, 151) entwickelt: Der Mensch wird des Menschen Wolf und vernichtet sich somit selbst (vgl. ebd.). In besonderer Weise exponiert ist diese Entwicklung Unterleutens in folgender Passage: „Kathrin hatte nichts dagegen, dass Unterleuten seine Probleme selbst löste, auch wenn es dabei gelegentlich etwas rauer zuging […]. Aber Unterleuten, Kathrins Unterleuten, vergriff sich nicht an Unschuldigen. Schon gar nicht an Kindern. […] Kathrins Unterleuten las keine Zeitung, sah kaum fern […], rief niemals die Polizei und vermied überhaupt jeden Kontakt mit der Außenwelt […]. Unter der ruppigen Oberfläche von Kathrins Unterleuten wohnte vielleicht keine Menschenliebe, aber doch eine Art Menschenfreundschaft. Mochte es auch mal poltern – ein Unterleuten, das Kinder entführte, gab es nicht. Krönchens Verschwinden drohte Unterleuten auszulöschen.“ (UL, 450f.)
Indem aus der Perspektive Kathrin Kron-Hübschkes hier – im Kriegsvokabular verbleibend – von einer „Auslöschung“ Unterleutens durch das Verschwinden ihrer Tochter gesprochen wird, wird der Blick der Leser_innen abschließend auf die Folgen des Verlustes von allgemeingültigen Werten und Normen, die das Zusam14 Der Naturzustand bei Hobbes stellt ein Gedankenexperiment dar. Er bezeichnet einen Zustand des Zusammenlebens, in dem die Menschen ihren „natürlichen Leidenschaften“ wie „Zorn, Stolz und den Begierden aller Art“ folgen, was aufgrund des Fehlens einer von allen anerkannten staatlichen Macht, die Gesetz und Strafverfolgung garantiert, die Gefahr eines ständigen Konkurrenzkampfes birgt, in dem sich keiner seines Lebens und Eigentums sicher sein kann (vgl. Hobbes 1970, 151).
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menleben einer Sozialgemeinschaft bestimmen (wie etwa Solidarität, Mitgefühl und Rücksichtnahme), gerichtet und damit implizit eine politisch-moralische Mahnung ausgesprochen: Eine Gesellschaft wie die Unterleutens, in der sozial verbindliche Wertvorstellungen und vereinbarte Rechtsgrundlagen durch individuelle Machtinteressen ersetzt sind, steuert unweigerlich in die eigene Vernichtung. Verdichtet erscheint diese Vernichtung auf der einen Seite im Bild des Fallwilds, das die Überschrift des letzten Teils bildet und auch im Epilog noch einmal ins Zentrum rückt: Als „Wild, das sich selbst erledigt hat“ (UL, 634), steht es sinnbildlich für das Dorf Unterleuten, das die eigene „Auslöschung“ ganz allein herbeiführt. Auf der anderen Seite wird der Untergang des Dorfes im Schlusskapitel noch einmal anhand der beiden Gegenspieler Kron und Gombrowski vorgeführt. Kron, der den Kampf um die Windräder gegen Gombrowski am Ende gewinnt, wird im Augenblick des Triumphes bezeichnenderweise auf eben jener Waldlichtung, die auch Schauplatz des Todes von Eric war, bewusst, dass ihm nur mehr noch Leere bleibt. Er unterzieht sein gesamtes Leben und Streben einer kritischen Revision und kommt zu folgendem Schluss: „Seit er aber wusste, dass er Gombrowski besiegen konnte, ohne dass es das Geringste bedeutete, sah die Sache anders aus. Wenn Unterleuten so verkommen war, dass es noch nicht mal zum Schauplatz für ausgleichende Gerechtigkeit taugte, dann zeichnete es sich nicht durch eine eigene, sondern durch die Abwesenheit jeglicher Moral aus. Dann war es den Boden nicht wert, auf dem es stand, und verdiente die Auslöschung, die schon im Gange war.“ (UL, 613)
Damit gelangt er zumindest zu einem eingeschränkten Eingeständnis eigener „Schuld“ (UL, 614) und verurteilt die (un)moralischen Werte, nach denen man im Dorf lebt. In der Konsequenz dessen beschließt er laut Finkbeiners Epilog wenig später, sich einfach hinzulegen und zu sterben, womit er seinen „Teil zur Auslöschung des Dorfes bei[trägt]“ (ebd., 614). Wie ‚moralisch‘ der Wunsch Krons nach einer gänzlichen Auslöschung Unterleutens seinerseits wiederum ist, muss allerdings ebenso in Frage gestellt werden wie seine Antwort auf die Situation, die darin besteht, dass er sich jeglicher weiteren Verpflichtung entzieht und nur noch seinen eigenen Tod sucht. In Analogie hierzu erkennt Gombrowski seinerseits die eigene innere Leere. Doch während Kron die Beendigung seiner Existenz natürlichen Prozessen überlässt, nimmt Gombrowski auch dies selbst in die Hand und tötet sich in der Trinkwasserbrunnenanlage des Dorfes. Beim Abstieg in den Schacht überkommen ihn die Bilder eines Kindheitserlebnisses. Sie zeigen ihn im Alter von 13 Jahren, also im Übergang der Entwicklung vom Kind zum ‚Mann‘, wie er eine Schachtel mit „Spielzeugsoldaten“ (ebd., 621) im Keller entsorgt, „übereinander und durcheinander, ohne Ordnung und Aufstellung, ohne Rücksicht auf Dienstgrad oder Funktion, ein wirrer Haufen von steifen Miniaturkörpern“ (ebd.). Dieser Kellergang ist analog zur nun unmittelbar anstehenden ‚Entsorgung‘ seiner eigenen Existenz zu lesen. Auch
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im Erwachsenenalter hat er ein Leben lang Krieg gespielt und steht nun vor den Trümmern seiner Existenz (vgl. ebd., 622). Im Gegensatz zu Kron zeigt Gombrowski jedoch keine Züge von Reue über sein rücksichtloses Verhalten. Bis zum selbst gewählten Tod vermag er die Begrenztheit seiner egozentrischen Sicht auf die Dinge nicht zu überwinden und bleibt einzig fokussiert auf das Gelingen seines finalen ‚Coups‘ – das Aufschneiden der Pulsadern im Brunnenschacht.15 Dass sein letzter Gedanke, schon im Delirium des nahenden Todes, dabei keinem menschlichen Wesen, sondern seiner Hündin Fidi (und der Maisernte…) gilt, wirft ein letztes, schon parodistisch-komisches Schlaglicht auf die Figur. Wurden das Erscheinungsbild und das Auftreten Gombrowskis zuvor immer wieder mit dem eines Hundes verglichen,16 so erhält nun sein Hund menschliche Züge: „Sein [Gombrowskis] Verstand geriet auf Abwege, gaukelte ihm vor, am Rand eines sonnigen Felds zu sitzen, auf dem sich schwer der Mais wiegte. Etwas Schwarzes fuhr ihm durchs Blickfeld. Dann raschelte es wieder im Mais, und Fidi sprang hervor, zeigte ihr lachendes Gesicht mit heraushängender Zunge, während sie einem Hasen hinterherjagte, und Gombrowski war überglücklich, sie zu sehen, neigte sich mit letzter Kraft nach vorn, immer weiter nach vorn, bis er kippte. Das Überwinden des Schwerpunkts ein kurzer Jubel.“ (UL, 624)
In der Enge des Schachts, der seinen einst großen Bewegungsradius jetzt massiv begrenzt und sich nur noch zum Abgrund, zum Tod hin öffnet, fordert nach der Öffnung der Pulsadern die Gravitation einen letzten Tribut und dann hat sein Spiel, denn als solches gibt sich all sein Handeln in diesem buchstäblichen Abstieg zu erkennen, und das des Romans (mit Ausnahme des Epilogs) ein Ende gefunden. Drastischer lässt sich die hinter all dem Kämpfen und Intrigieren zutage tretende Sinnlosigkeit, die auch im Schlussbild noch einmal durch die kreisenden Windräder symbolisiert ist, (vgl. UL, 634) kaum zum Ausdruck bringen.
2.2 Formen narrativer Vermittlung Multiperspektivisches Erzählen Mit Kron und Gombrowski lässt der Roman die beiden mächtigsten Figuren am Ende scheitern; über Lindas Schicksal wird weiter nichts bekannt, ihre Pläne ver-
15 Die Brunnenanlage bildet die solipsistische Struktur abermals ab: Es handelt sich um ein Projekt, das der Bürgermeister einst verfolgte, um die Wasserversorgung des Dorfes autark zu machen. (Vgl. UL, 159). 16 Diese Zuschreibungen erfolgen aus einer Vielzahl verschiedener Figurenperspektiven. Vgl. etwa: „Es war lachhaft, wie ähnlich er seinem Hund sah“ (Perspektivträger: Schaller, vgl. UL, 80), „Der fette alter [sic] Hund frisst sich an uns gesund.“ (Protestplakate angesichts des Windkraftprojekts, vgl. UL, 307) oder: „der fette alte Hund“ (Perspektivträger: Seidel, vgl. UL, 439).
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wirklichen konnte aber auch sie nicht und die Gegenfigur, ihr ‚wachsweicher‘ Freund Frederik, erleidet Genickbruch. Auch wenn die ersten drei Figuren gewiss keine Sympathieträger sind – was eingeschränkt auch für Frederik gilt –, so werden sie den Leser_innen doch nicht ausschließlich als verurteilenswert präsentiert; sie können vielmehr im Sinne Lessings als ‚gemischte Charaktere‘ bezeichnet werden, die sowohl negativ als auch positiv konnotierte Eigenschaften aufweisen und deshalb – wie es Lessing formuliert – „mit uns von gleichem Schrot und Korne“ (Lessing 1973, 580f.) sind. Die Funktion dessen ist bei Lessing wie bei Zeh, eine Nähe zwischen literarischer Figur und Theaterzuschauer_in respektive Leser_in herzu17 stellen. Zwar zielt Zeh damit gewiss nicht mehr auf eine Verwandlung von Affekten oder auf die Vermittlung einer bestimmten Lehre bzw. Einstellung wie Lessing, sehr wohl aber auf die Anregung ethischer Reflexion. Im Zuge dessen wird der Blick u.a. darauf gelenkt, wie unterschiedlich bestimmte Ereignisse oder menschliche Handlungen aus verschiedenen Sichtweisen bewertet werden können – und wie unsicher die Grundlagen, von denen aus solche Wertungen erfolgen, oftmals sind. Zu dieser Vielschichtigkeit der Charaktere im Roman trägt erzähltechnisch zweierlei bei: Zum einen die Fremdcharakteristiken18 anderer Figuren, die Züge beinhalten, welche die Sympathie der Leser_innen sowohl positiv (im Falle Gombrowskis etwa durch Jule Fließ-Weiland) als auch negativ lenken können (bei Gombrowski etwa durch seinen Gegenspieler Kron sowie Fließ und mit Einschränkung Seidel). Zum anderen ermöglichen die Kapitel, in denen die jeweilige Figur selbst Fokalisierungsinstanz19 ist, Einblicke in ihre Gedankenwelt und so einen Nachvollzug von Handlungsmotivationen. Die Art, wie der Roman multiperspektivisches Erzählen zur Grundlage seiner narrativen Vermittlungsstruktur macht, fordert die Leser_innen im Abgleich der sich stetig verschiebenden Sichtweisen dazu auf, die unterschiedlichen Darstellungen und Bewertungen des Geschehens vonseiten der Figuren in Frage zu stellen. Die Leser_innen werden dazu angehalten, über die Plausibilität der einzelnen figural gebundenen Wirklichkeitsentwürfe und die ihnen zugrundeliegenden Bewertungsmaßstäbe zu reflektieren. So können ihnen zugleich auch die Grundlagen ihrer eigenen Urteile und Wertmaßstäbe bewusst und deren Bedingungen wie Be17 Diese zunächst ggf. fragwürdig anmutende Analogisierung dramatischer und narrativer Wirkungsmechanismen legitimiert sich auch vor dem Hintergrund der folgenden Aussage Zehs, die im Kontext ihre Tätigkeit am Deutschen Literaturinstitut Leipzig in einem Interview fällt: „Es gibt eigentlich nur eine Sache, zu der ich die jüngeren Autoren immer anzuhalten versuche […]. Sie sollen sich einmal im Leben klar machen, was aristotelische Dramaturgie ist“ (Zeh 2008, 36). 18 Bei der figuralen Charakterisierung lässt sich zwischen Eigencharakterisierungen, die von der Figur, die charakterisiert wird, selbst vorgenommen werden, und Fremdcharakterisierungen, die von anderen Figuren vorgenommen werden, unterscheiden (vgl. Pissarek 2013, 141). 19 Mit Fokalisierungsinstanz ist hier die Instanz gemeint, über die das Geschehen wahrgenommen wird, also der Perspektivträger. In einem Erzähltext kann Genette zufolge intern, d.h. über eine Figur, extern, d.h. aus einer Außensicht, oder auktorial, d.h. aus der Perspektive einer allwissenden Wahrnehmungsinstanz, fokalisiert werden. Sie lässt sich von der Stimme unterscheiden, die das Geschehen erzählt (vgl. Martínez/Scheffel 2007, 63–66).
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dingtheiten vor Augen geführt werden. Sah Nietzsche in dem Einbezug einer Vielzahl verschiedener Perspektiven noch einen potenziellen Erkenntnisgewinn,20 so wird dies in Zehs Roman bereits deutlich skeptischer bewertet: „Je mehr ich erfuhr, desto stärker erinnerte mich die Geschichte an mein Lieblingsspielzeug aus Kindertagen, ein rotes Kaleidoskop, in dem man Muster aus winzigen bunten Perlen betrachten konnte. Man drehte ein wenig, und alles sah anders aus. Ich konnte stundenlang hineinsehen. Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen.“ (UL, 629)
So die erst im Epilog eingeführte Lucy Finkbeiner, die sich bei genauerer Prüfung durch die Leser_innen allerdings trotz ihrer Distanz zum Geschehen auch nicht als sonderlich vertrauensvolle Informationsquelle erweist (vgl. unten). Ihre Recherche der Ereignisse in Unterleuten, über die sie durch eine kurze Meldung in der Boulevard- und Sensationsrubrik „‚Panorama‘“ (UL, 626) von spiegel.de erfahren hatte und die sie zu zahlreichen Interviews in das Dorf führt, liegt den einzelnen Figurenperspektiven der jeweiligen Kapitel maßgeblich zugrunde. Dabei ist es letztlich unerheblich, ob, wie in ihrem Facebook-Profil behauptet, Finkbeiner sämtliche Akten an die (in diesem Falle fiktive) ‚Autorin Juli Zeh‘ weitergegeben hat – und 21 vergeblich auf Dank und Anerkennung ob des Erfolgs des Romans hofft – oder ob man rein auf Grundlage des Romans den Schluss ziehen kann, dass Finkbeiner selbst diese fiktive Autorin ist. Der Roman vereint so zwei Techniken, die Vera und Ansgar Nünning unabhängig voneinander als hinreichendes Kriterium multiperspektivischen Erzählens benennen: Zum einen wird „dasselbe Geschehen alternierend oder nacheinander aus der Sicht bzw. dem Blickwinkel von zwei oder mehreren Fokalisierungsinstanzen bzw. Reflektorfiguren wiedergegeben“ (Nünning/Nünning 2000, 18), zum anderen gibt es mit der in der ersten Person Singular berichtenden Lucy Finkbeiner eine extradiegetisch-heterodiegetische Erzählstimme – wenn man die Angaben in ihrem Facebook-Profil mit hinzunimmt, wäre mit der Übergabe der Akten an die fiktive Autorin Juli Zeh, die dann erst den Roman ausarbeitet, noch einmal eine weitere Erzählebene eingezogen –, die sich zumindest im Erzählmodus von den vorherigen Kapiteln abgrenzen lässt (vgl. ebd.). Unzuverlässiges Erzählen Der Roman spielt mit Formen unzuverlässigen Erzählens auf mehreren Ebenen: Dies beginnt bei der Figur Lucy Finkbeiner. Sie greift im Zuge ihrer Recherchen 20
„Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches ‚Erkennen‘; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser ‚Begriff‘ dieser Sache, unsre ‚Objektivität‘ sein“ (Nietzsche 1988d, 365). 21 Vgl. https://de-de.facebook.com/people/Lucy-Finkbeiner/100010852756339 (23.02.2017).
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nicht nur auf fragwürdige Quellen zurück,22 ihr Epilog ist von Beginn an mit sprachlichen Indikatoren durchsetzt, die ihre eigene Unsicherheit hinsichtlich der Rekonstruktion der Geschehnisse zum Ausdruck bringen.23 Noch entscheidender als diese Hinweise ist der ihren eigentlichen Bericht im Epilog einleitende Satz, nachdem sie die Meldung zum Fund der Wasserleiche in der Trinkwasserbrunnenversorgungsanlage gelesen hat: „Ich weiß noch, dass ich mit wohligem Schauer innehielt und meiner Phantasie freien Lauf ließ: […]“ (UL, 626). Das Satzzeichen, ein Doppelpunkt anstelle eines Punktes, markiert, dass alle folgenden vermeintlichen Tatsachenberichte von den Geschehnissen im Dorf nach dem Tod Gombrowskis auf ihre rege Imaginationstätigkeit zurückgeführt werden könn(t)en. Und dies betrifft keineswegs nur Finkbeiners Rekonstruktion der Geschehnisse im Epilog, sondern auch die perspektivischen Narrationen der einzelnen Figuren. Denn Finkbeiner kann mit einem Teil der Figuren aus unterschiedlichen Gründen nicht gesprochen haben; so ist Gombrowski bereits tot, im Falle von Hilde Kessler und Linda Franzen ist ein Kontakt zumindest sehr unwahrscheinlich, weil sich beide bewusst vom Dorfleben verabschiedet haben. Auch bei allen übrigen Figuren lässt sich nicht klar ausschließen, dass Teile ihrer Berichte der Imagination Finkbeiners entstammen. Nur einem Teil der hier gegebenen Informationen kommt auf diegetischer Ebene 24 der Status gesicherter Fakten zu, ein weiterer Teil beruht – folgt man dem Epilog – auf den Interviews und somit auf Informationen, die aus zweiter oder dritter Hand stammen, oder – was auch für die Leser_innen nicht rekonstruierbar ist – von Finkbeiner sogar eigenhändig ‚hinzugedichtet‘ wurden. All dies führt dazu, dass keine verlässliche narrative Instanz zur Verfügung steht, an deren Maßstab sich der Realitätsgrad des Erzählten messen ließe. Die Erzählstruktur des Romans bildet somit ein Phänomen ab, das insbesondere in den virtuellen Welten des Internets mehr und mehr zum Problem wird und mit dem Begriff des postfaktischen Zeitalters einen Namen gefunden hat: Die erste Informationsquelle respektive eine verbürgte Wahrheit verschiedener kursierender Informationen erweist sich oftmals als nicht mehr auffindbar. Sie löst sich auf im Spiel verschiedener aufeinander verweisender Berichte.
22 Mehrfach bezieht sie sich auf Internetquellen wie wikipedia.de oder eine gänzlich anonymisierte „kurze Notiz“ (UL, 632); darüber hinaus muss die Authentizität der Berichte des ‚Dorffunks‘ grundsätzlich infrage gestellt werden, da diese sich z.T. unmittelbar widersprechen (so die Berichte über den Zeitpunkt und die Umstände von Gombrowskis Tod) oder mit von ihr recherchierten Fakten nicht übereinstimmen (so die Berichte über den Tod Frederiks, der ihrem Bericht nach aber in einem Krankenhaus liegt und den Unfall überlebte). 23 So heißt es zu Frederik: „Gesundheitlich geht es ihm inzwischen wohl wieder recht gut“ (UL, 630). Selbst die genauen Umstände des Todes Gombrowskis sind hier mit einbegriffen: „Wie die Leiche in den Brunnen gelangt war, stand noch nicht fest. Aber im Grund gab es nur eine Erklärung: Der Mann musste Selbstmord im Inneren des Brunnens begangen haben“ (UL, 626). 24 Hierzu zählt etwa der Tod Gombrowskis (aber schon nicht mehr die genauen Umstände), das Windkraft-Projekt, die Feindschaften im Dorf etc.
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Damit ist eine zweite Ebene unzuverlässigen Erzählens benannt, die in dem oben bereits dargestellten multiperspektivischen Erzählen begründet liegt.25 Die unterschiedlichen Wahrnehmungen der Figuren führen dazu, dass ein und dasselbe Geschehen nicht nur unterschiedlich bewertet, sondern bereits hinsichtlich der ‚harten Fakten‘ verschiedenartig dargestellt wird.26 Hieraus ergeben sich folgende drei Konsequenzen: Den Leser_innen wird zum einen bewusst, wie sehr die Wahrnehmung der Außenwelt, der Mitmenschen, aber auch der Blick auf das eigene Ich immer nur ausschnitthaft und perspektivisch ‚eingefärbt‘ ist – und sich dabei als höchst interessengeleitet präsentiert. Zum zweiten wird ihnen vor Augen geführt, dass die Vielzahl der Perspektiven zwar ein vielschichtigeres, aber nicht unbedingt stimmigeres Bild der Welt ergibt. Zum dritten, und dies macht den Ansatz didaktisch so chancenreich, werden sie auf die erzähltechnische Vermittlungsebene des Romans aufmerksam. Denn durch „die Kontrastierung unterschiedlicher Perspektiven auf dasselbe Geschehen verlagert sich der Akzent von der Darstellung der fiktiven Welt auf die Perspektiventräger und ihre Relationen zueinander“ (Nünning/Nünning 2000, 19) und so zugleich „auf den Modus der Wirklichkeitserfahrung“ (ebd., 3f.). Metafiktion Neben dem unzuverlässigen Erzählen und der Multiperspektivität erweist sich die Metafiktion27 als wichtige Erzählstrategie, die in Unterleuten Anwendung findet: Dies zeigt sich zunächst darin, dass das im Roman geschilderte Geschehen immer wieder als Inszenierung markiert wird. Die Figuren scheinen die Welt des Dorfes weniger als Wirklichkeit, sondern vielmehr als „Film“ (UL, 348f.), „Szene“ (ebd., 464) oder „Kammerspiel“ (ebd., 551) zu begreifen, in dem bzw. der jeder seinen „Auftritt“ (ebd., 464) hat und dessen bzw. deren „Kulissen“ am Ende fallen (ebd., 580). Besonders exponiert wird der Fiktionscharakter der Realität Unterleutens mittels der Figuren Frederik Wachs und Wolfi Hübschke: Beide verwandeln die vermeintliche Wirklichkeit des Dorfes in ein Spiel mit klarem Rahmen und eindeutigen Regeln. Während Wolfi ein Theaterstück über Unterleuten schreibt, dessen
25 Für Carola Surkamp stellt „das Nebeneinander kontrastierender Versionen ein und desselben Geschehens einen Indikator für Unzuverlässigkeit einer oder mehrerer der Erzählinstanzen dar“ (Surkamp 1998, 165). 26 Als einfaches Beispiel kann hier etwa der letzte Satz genannt werden, den Gombrowski zu Gerhard Fließ äußert, bevor dessen Frau Jule das Zimmer verlässt. In dem Kapitel, in dem sie Fokalisierungsinstanz ist, lautet dieser: „‚Ihr Vogelmenschen!‘, polterte Gombrowski. ‚Ihr glaubt wirklich, ihr habt immer recht, was?‘“ (UL, 329); im Folgekapitel, fokalisiert auf Gerhard, heißt es hingegen: „‚Ihr Vogel-Heinis!‘, rief Gombrowski. ‚Ihr denkt wirklich, ihr seid immer im Recht, was?‘“ (ebd., 330). 27 Unter Metafiktion wird eine Diskursform verstanden, „die dem Rezipienten die Fiktionalität (im Sinne von imaginärer Referenz und/oder von Gemachtheit bzw. Medialität) bewusst macht“ (Nünning 2001, 130).
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Rezensionen Finkbeiner zufolge jedoch so spärlich und mittelmäßig sind, dass es bald nach seiner ersten Aufführung wieder abgesetzt wird (ebd., 632), entwickelt Frederik das Computerspiel „Traktoria nature“ (ebd., 536), in dem sich die Spieler in einer fiktiven Dorfwelt bewegen und entscheiden können, „ob sie in erneuerbare Energien [investieren] oder ob sie lieber die mühsam aufgebaute Artenvielfalt [schützen]“ (ebd., 537). Vor allem Frederik verliert sich am Ende in seinem virtuellen Kosmos, so dass er die Wirklichkeit nicht mehr vom Spiel unterscheiden kann (ebd., 538). Wird das Verschwimmen von Realität und Fiktion zunächst also innerhalb der fiktiven Romanwelt thematisiert, setzt sich das metafiktionale Spiel auch über die Grenzen derselben hinaus fort. Hier, außerhalb des fiktionalen Kosmos Unterleutens wird jedoch nicht mehr die (Roman-)Realität als Fiktion erkennbar gemacht, sondern – genau umgekehrt – die Fiktion als vermeintliche (Internet-)Realität inszeniert, wie das Beispiel Manfred Gortz‘ verdeutlicht: Der Verfasser des Bestsellers Dein Erfolg taucht überraschenderweise in einem YouTube-Video auf und nimmt zu Juli Zehs Roman Unterleuten Stellung.28 Zudem ist sein bereits vor der Veröffentlichung des Romans erschienener Ratgeber auf amazon.de kontrovers rezensiert worden.29 Ähnliches gilt für Frederik Wachs: Auch er ist im Netz präsent und tauscht sich in einem Pferdeforum über die Probleme mit sogenannten „Rossfrauen“ aus.30 Gleichwohl bleibt die Existenz sowohl Gortz‘ als auch Frederiks letztlich auf einen virtuellen Raum beschränkt und genau dies kann die Leser_innen dazu bringen, eine Reflexionshaltung einzunehmen: So wird es möglich, dass sie darüber nachdenken, ob das, was ihnen im Internet als vermeintliche Realität präsentiert wird, real oder doch fiktiv ist. Handelt es sich bei Gortz, Wachs und allen anderen virtuellen Existenzen um reale Personen oder um fiktive Figuren? Beruhen ihre Wertungen, Thesen und Äußerungen auf Fakten oder Fiktionen? Und kann man ihnen glauben oder nicht? Gerade in Zeiten von ‚Fake News‘ erscheinen solche Fragen unabdinglich, soll die unreflektierte Übernahme einer fragwürdigen ‚Erfolgsoptimierungsmoral‘ à la Gortz verhindert und ein differenzierter Umgang mit bestehenden Wert- und Moralvorstellungen ermöglicht werden – wie genau dieser Umgang aussehen kann, wird im folgenden Kapitel näher ausgeführt.
28 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=6Wkecy6EHsk (23.02.2017). 29 Vgl. https://www.amazon.de/Dein-Erfolg-Manfred-Gortz/dp/3442839424 (23.02.2017). 30 Vgl. http://www.reiterrevue.de/forum/kummerkasten/52326-rossfrauen-pferdeverr%C3%BCckt.html (23.03.2017). Darüber hinaus verfügen drei der wichtigsten Figuren des Romans über Facebook-Profile [vgl. u.a. https://de-de.facebook.com/people/Lucy-Finkbeiner/100010852756339 (23.02.2017)] und auch der Unterleutener Vogelschutzverein hat eine eigene Webseite, vgl. http://www.vogelschutzbundunterleuten.de/ (23.02.2017).
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Fazit und didaktische Implikationen
Die Auseinandersetzung mit Juli Zehs Unterleuten birgt insofern ein besonderes didaktisches Potenzial, als sich die Art, wie der Text zur Wertereflexion herausfordert, aus seiner literar- bzw. medienästhetischen Struktur und Anlage ableitet. Insbesondere die metafiktionale Ausweitung auf die virtuellen Welten des Internets rückt Fragen nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion in den Blick und knüpft hierbei unmittelbar an die Erfahrungen und die Lebenswelt von Schüler_innen an. Um dieses Potenzial im Unterricht zu nutzen, wäre es beispielsweise möglich, mit Schüler_innen im Anschluss an die Lektüre des Romans zunächst ganz grundsätzlich über das Verhältnis von Fiktion und Realität im Internet zu sprechen. Dies könnte anhand des Beispiels einer holländischen Bloggerin geschehen, die Familie und Freunden auf Facebook einen Asien-Urlaub vorgetäuscht hat (vgl. Beisch 2014, o.S.). Hier können die Schüler_innen auch ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse mit Selbst- und Fremddarstellungen in sozialen Medien einbringen. Anschließend könnte den Schüler_innen der Arbeitsauftrag gegeben werden, nach Spuren von Unterleuten im Internet zu recherchieren. Dabei werden sie vermutlich auf die Facebook-Seiten der Figuren Jule Fließ-Weiland und Lucy Finkbeiner, auf das Pferdeforum, in dem sich Frederik Wachs über die Probleme mit ‚Rossfrauen‘ austauscht, und auf das YouTube-Video von Gortz sowie die AmazonRezensionen seines Ratgebers stoßen. Auf Grundlage der Recherche-Ergebnisse könnte im Weiteren diskutiert werden, welches Ziel die Autorin Juli Zeh wohl verfolgen könnte, wenn sie ganz bewusst fiktive Figuren in den Welten des Internets auftauchen und dort mit realen Personen über ihre Probleme diskutieren lässt, und was es auf Seiten der Diskutierenden für Folgen hat, wenn sie erkennen, dass sie einer ‚Täuschung‘ aufgesessen sind. Hierbei sollte vor allem herausgearbeitet werden, dass das Internet ein Medium ist, in dem die Grenzen von Fiktion und Realität leicht verschwimmen können, und dass deshalb ein kritischer Umgang damit vonnöten ist. Methodisch könnte dies durch den Arbeitsauftrag realisiert werden, die Schüler_innen einen Blog-Beitrag aus der Sicht von Juli Zeh verfassen zu lassen, in dem sie ihr ‚metafiktionales Spiel‘ aufdeckt und erklärt. In diesem Kontext könnte schließlich auch auf die aktuelle Debatte um ‚Fake News‘ eingegangen werden. Nicht zuletzt kann ausgehend von den Recherche-Ergebnissen der Schüler_innen auch eine Reflexion ethischer Fragen angeregt werden: So wäre es beispielsweise möglich, den Schüler_innen den Arbeitsauftrag zu geben, selbst eine Rezension zu Gortz‘ „neodarwinistische[m] Lebensratgeber“ (Lehmkuhl 2016, o.S.) zu schreiben. Anschließend könnte über die unterschiedlichen Rezensionen und ausgehend davon über die den Rezensionen zugrundeliegenden Moralvorstellungen gesprochen werden. Potenzial für eine Auseinandersetzung mit ethischen und erkenntnistheoretischen Fragen und Problemen bietet aber nicht nur das über die Grenzen des eigent-
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lichen Romans hinausgehende ‚metafiktionale Spiel‘ Zehs, sondern auch der Roman selbst bzw. die darin Verwendung findenden Erzähltechniken. So kann den Schüler_innen beispielsweise ein Bewusstsein der „ständigen Relativierung der perspektivisch gebundenen und gebrochenen Sichtweisen sowie der von den Perspektivträgern repräsentierten Werte und Normen“ (Nünning/Nünning 2000, 4) vermittelt werden, indem mit ihnen das Verfahren des unzuverlässigen Erzählens, das Zeh ganz bewusst nutzt, um auf die perspektivische Gebundenheit von ‚Realität‘ aufmerksam zu machen, erarbeitet wird. Realisiert werden kann dies konkret, indem nach der Lektüre des gesamten Romans der Epilog in den Blick genommen wird. Hier könnte die Lehrkraft den Schüler_innen die Aufgabe stellen, Signale dafür zu sammeln, dass Finkbeiners Recherchen möglicherweise auf unsicheren Quellen basieren. Ausgehend von den Ergebnissen der Schüler_innen sollte dann diskutiert werden, ob und wenn ja, welche Auswirkungen die Unzuverlässigkeit der Erzählerin darauf hat, wie die Leser_innen die gesamte Geschichte in der Rückschau bewerten: Fassen sie sie weiterhin als Tatsachenbericht auf oder kommt es zu einem ‚Illusionsbruch‘? Und wenn es zu einem ‚Illusionsbruch‘ kommt, welche Auswirkungen hat dies wiederum auf die Leser_innen? Eine weitere Möglichkeit, Schüler_innen zur Reflexion über die Bedingungen menschlicher Wahrnehmung und Realitätsbildung anzuregen, bietet eine Thematisierung der Multiperspektivität im Roman. Da jedes Kapitel aus der Sicht einer anderen Figur erzählt wird, wird es den Leser_innen bewusst schwer gemacht, sich ausschließlich einer der Perspektiven zuzuordnen bzw. diese zu übernehmen. Stattdessen müssen sie mit der Lektüre jedes neuen Kapitels ihre Wahrnehmung der Welt Unterleutens verändern. Um den Schüler_innen dies ins Bewusstsein zu heben, könnten sie beispielsweise in Arbeitsgruppen eingeteilt werden, denen jeweils eine Figur zugeordnet wird. (Hierfür bieten sich vor allem die Figuren Kron, Gombrowski, Linda Franzen und Gerhard Fließ an, da sie häufig einander entgegengesetzte Bewertungen der Ereignisse vornehmen.) Innerhalb der Gruppen sollten sich die Schüler_innen dann ganz genau mit der ihnen zugewiesenen Figur und ihrer Sicht Unterleutens befassen. Anschließend könnte ein fiktives Streitgespräch zwischen den vier Figuren inszeniert werden, in dem jede Figur ihre Sicht der Dinge darlegt. Dabei wird den Schüler_innen schnell bewusst werden, dass sich sowohl die Wahrnehmungen Unterleutens als auch die Bewertungen der Ereignisse von Seiten der verschiedenen Figuren zum Teil deutlich voneinander unterscheiden – und es der Text durch seine Struktur unmöglich macht, eine der Perspektiven gegenüber den anderen zu privilegieren. Im Anschluss daran könnte den Schüler_innen noch der Arbeitsauftrag gegeben werden, bestimmte Äußerungen und Ansichten der einzelnen Figuren (etwa die Frage, inwieweit eine Dorfgemeinschaft Konflikte untereinander, also abseits staatlicher Gewalt, zu regeln bestrebt sein sollte) selbst aus ihrer eigenen Sicht heraus zu kommentieren. Dadurch wird der Transfer vom Roman zur Lebenswelt der Schüler_innen geleistet, denn sie können die Perspektiven des Romans nun durch ihre eigene Perspektive, die sich aus der
„Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.“
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reflektierten Auseinandersetzung mit den verschiedenen Perspektiven des Romans entwickelt, ergänzen und so ihr eigenes Urteilsvermögen schulen.
Literatur- und Quellenverzeichnis Primärliteratur Hoffmann, E.T.A. (2001): Das fremde Kind. In: Ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht. Bd. 4: Die Serapions-Brüder. Frankfurt a.M., 570–616. Zeh, Juli (2006b): Spieltrieb. Frankfurt a.M. Zeh, Juli (2012): Nullzeit. Frankfurt a.M. Zeh, Juli (2016): Unterleuten. München.
Sekundärliteratur Beisch, Stephanie (2014): Auf Facebook im Asien-Urlaub. In: Stern vom 05.09.2014. (Verfügbar unter: https://www.stern.de/panorama/studentin-taeuscht-familie-und-freunde-auffacebook-im-asien-urlaub-3612388.html) (05.04.2019). Gockel, Heinz (2006): Poésie engagée. Erich Frieds Lyrik. In: Ders.: Literaturgeschichte als Geistesgeschichte. Vorträge und Aufsätze. Würzburg, 245–258. Hobbes, Thomas (1970): Leviathan. Erster und zweiter Teil. Übersetzung von Jacob Peter Mayer. Nachwort von Malte Diesselhorst. Stuttgart. Iser, Wolfgang (1994): Die Appellstruktur der Texte. In: Warning, Rainer (Hg.): Rezeptionsästhetik. München, 228–252. Kliemann, Thomas: Kampf gegen Windräder. In: General-Anzeiger Bonn vom 08.03.2016. (Verfügbar unter: http://www.general-anzeiger-bonn.de/news/kultur-und-medien/ medien/Kampf-gegen-Windr%C3%A4der-article3203083.html) (23.02.2017). Kremer, Detlef (2007): Romantik. Lehrbuch Germanistik. 3., aktualisierte Auflage. Stuttgart. Lehmkuhl, Tobias (2016): Wer in Juli Zehs ‚Unterleuten‘ wen bewegt. In: Süddeutsche Zeitung vom 14. April 2016. (Verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/kultur/julizehs-unterleuten-hat-juli-zeh-fuer-ihren-aktuellen-roman-abgeschrieben-1.2949260) (23.02.2017). Lessing, Gotthold Ephraim (1973): Hamburgische Dramaturgie. In: Ders.: Werke. Vierter Band. Dramaturgische Schriften. Hg. von Herbert G. Göpfert. Darmstadt, 229–720. Martínez, Matías/Scheffel, Michael (2007): Einführung in die Erzähltheorie. 7. Auflage. München. Nietzsche, Friedrich (1988a): Der Antichrist. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 6. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München. Nietzsche, Friedrich (1988b): Jenseits von Gut und Böse. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 5. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München, 9–243.
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Nietzsche, Friedrich (1988c): Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 3. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München. Nietzsche, Friedrich (1988d): Zur Genealogie der Moral. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 5. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. 2., durchgesehene Auflage. München, 245–412. Nünning, Ansgar (2004): Metanarration als Lakune der Erzähltheorie: Definition, Typologie und Grundriss einer Funktionsgeschichte metanarrativer Erzähleräußerungen. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik 2004/26, 125–164. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (2000): Von ‚der‘ Erzählperspektive zur Perspektivenstruktur narrativer Texte: Überlegungen zur Definition, Konzeptualisierung und Untersuchbarkeit von Multiperspektivität. In: Dies. (Hg.): Multiperspektivisches Erzählen. Zur Theorie und Geschichte der Perspektivenstruktur im englischen Roman des 18. bis 20. Jahrhunderts. Trier, 3–38. Pissarek, Markus (2013): Merkmale der Figur erkennen und interpretieren. In: Schilcher, Anita/Pissarek, Markus (Hg.): Auf dem Weg zur literarischen Kompetenz. Ein Modell literarischen Lernens auf semiotischer Grundlage. Baltmannsweiler, 135–168. Probst, Hans-Ulrich (2009): Laudatio Solothurner Literaturpreis 2009. (Verfügbar unter: http://www.solothurner-literaturpreis.ch/index.php?0&page= xc4a4142d8daca6&parent=xc4a01869482357&lang=de) (23.02.2017). Sartre, Jean-Paul (1981): Was ist Literatur? Hg., neu übersetzt und mit einem Nachwort von Traugott König. Reinbek bei Hamburg. Schuth, Dietmar (1995): Die Farbe Blau: Versuch einer Charakteristik. Münster. Surkamp, Carola (1998): Die Auflösung historischen Geschehens in eine Vielfalt heterogener Versionen: Perspektivenstruktur und unreliable narration in Paul Scotts multiperspektivischer Tetralogie Raj Quartet. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier, 165–186. Zeh, Juli (2006a): Auf den Barrikaden oder hinterm Berg? In: Dies.: Alles auf dem Rasen. Kein Roman. Frankfurt a.M., 214–219. Zeh, Juli (2008): Der Unterschied zwischen Realität und Fiktion ist marginal. Werkstattgespräche zur LiteraTour Nord 07/08. Oldenburg. Zeh, Juli (2011): ‚Ich weiß, dass ich permanent über Moral schreibe.‘ Juli Zeh im Gespräch. In: Waldow, Stephanie (Hg.): Ethik im Gespräch: Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute. Bielefeld, 55–64. Zeh, Juli (2016b): Juli Zeh über Manfred Gortz und den virtuellen Kosmos von ‚Unterleuten‘. (Verfügbar unter: http://www.unterleuten.de) (23.02.2017). Zeh, Juli (2016c): Werte sind nicht mehr in unserer DNA. In: Wiener Zeitung vom 10.03.2016. (Verfügbar unter: http://www.wienerzeitung.at/themen_channel/literatur/ autoren/805657_Werte-sind-nicht-mehr-in-unserer-DNA.html) (23.02.2017). Zima, Peter (2001): Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur. 2. Auflage. Tübingen/Basel.
Autor_innenverzeichnis Dr. Sabine Anselm ist Professorin für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur und Leiterin der Forschungsstelle Werteerziehung und Lehrerbildung an der LMU München. Dr. Carlo Brune ist Professor für deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der PH Ludwigsburg. Dr. Wiebke Dannecker ist Juniorprofessorin für Literaturdidaktik für Lernende mit besonderem Förderbedarf sowie Inklusion am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Janwillem Dubil M.A. promoviert am Institut für Neuere deutsche Literatur- und Medienwissenschaft der CAU Kiel zum Phänomen der Comicverfilmung. Katharina Goubeaud erlangte im Herbst 2018 den Master of Education der Anglistik und Germanistik an der Universität Siegen. Dr. Sieglinde Grimm ist Professorin für Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik mit dem Schwerpunkt Literatur im Unterricht am Institut für Deutsche Sprache und Literatur II der Universität zu Köln. Ina Henke ist Koordinatorin im QLB-Teilprojekt "Praxisprojekte in Kooperationsschulen" der Abteilung Literatur- und Mediendidaktik der WWU Münster. Dr. Tabea Kretschmann ist Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Universität Erlangen-Nürnberg. Dr. Jana Mikota ist Oberstudienrätin am Germanistischen Seminar der Philosophoschen Fakultät der Universität Siegen. Dr. Monika Riedel ist Akademische Rätin (auf Zeit) an der TU Dortmund, Arbeitsstelle Deutsch als Zweitsprache. Dr. Jan Rupp ist Privatdozent des Anglistischen Seminars der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und war als akademischer Mitarbeiter im Projekt heiEDUCATION (2015– 2018) der Heidelberg School of Education tätig. Dr. Ute Barbara Schilly ist Professorin für Angewandte Deutsche Sprach- und Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Interkulturelle Kommunikation an der TH Köln. Dr. Joachim Schulze-Bergmann war wissenschaftlicher Referent am Landesinstitut für Schule (NRW) und Lehrbeauftragter an den Universitäten Hamburg (1980–2002) und Paderborn (2006–2013). Alexander Sperling ist Lehramtsassessor und promoviert an der LMU München über Dystopien in der Gegenwartsliteratur. Dr. Berbeli Wanning ist Professorin für Literaturwissenschaft und -didaktik an der Universität Siegen und Leiterin der Forschungsstelle Kulturökologie und Literaturdidaktik. Dr. Bettina Wild ist akademische Mitarbeiterin am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Simon Zebhauser arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschungsstelle Werteerziehung und Lehrerbildung an der LMU München.
Quellenverzeichnis Die Herausgeberinnen dieses Buchs und der Verlag haben sich bemüht, für die abgedruckten urheberrechtlich geschützten Texte und Abbildungen die derzeitigen Rechteinhaber ausfindig zu machen. Diejenigen Rechteinhaber, bei denen dies nicht gelungen ist, bitten wir auf diesem Weg um Kontaktaufnahme mit dem Verlag. Seiten 132–134
Levithan, David: Letztendlich sind wir dem Universum egal, aus dem amerikanischen Englisch von Martina Tichy, © 2013, 92016, Frankfurt am Main, S. Fischer
Seiten 144–146, 148–150, 153
Almond, David: Zeit des Mondes, aus dem Englischen von Martin und Johanna Walser, © 2013, Ravensburger Buchverlag, Ravensburg
Seiten 168, 171–173
Erpenbeck, Jenny: Gehen, ging, gegangen, © 2015, Albrecht Knaus Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Seite 198
Brüning, Barbara: Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien, © 2003, Beltz, Weinheim
Seite 218f.
Teller, Janne: Nichts. Was im Leben wichtig ist, aus dem Dänischen von Sigrid C. Engler, © 2010, Carl Hanser, München
Seite 227
Robertson, Chris/Straczynski, J. Michael/Barrows, Eddy: Superman #711, © 2011, DC Comics, New York
Seiten 249–253
Zeh, Juli: Corpus Delicti. Ein Prozess, © 2010, btb, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Seiten 262–264, 266–269, 271
Zeh, Juli: Unterleuten, © 2016, Luchterhand Literaturverlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Register Alterität 14, 158, 160f., 172, 178 Ästhetik, ästhetisch 68, 171, 234, 251, 256f. Textästhetik 256 Wirkungsästhetik 58 Bildung 10f., 14, 22, 26, 35f., 44, 65f., 69f., 73, 76f., 81, 84f., 87, 89, 100, 105, 153, 159–161, 163, 168, 173, 227, 232 Bildungsziel 81, 157, 160 Demokratiebildung 81, 92 ethische Bildung 11, 45, 67, 174 Lehrerbildung 17, 80, 92, 179 literarische Bildung 167, 178 Politische Bildung 80, 87 Wertebildung 12, 64, 76f., 80f., 83, 85, 92, 186 Bildungskanon 12, 14, 24, 40, 172 Bildungsstandards 80, 135, 157 Dilemma 10, 15, 51, 84f., 91, 198–200, 250, 253 Dilemmasituation 15, 84, 90f., 198 Dystopie, dystopisch 10, 12, 16, 43–49, 51, 53–60, 62–73, 76, 90, 125, 166, 245–248, 250–252, 254–257 Ethik, ethisch 10f., 14, 16f., 40, 44f., 66–69, 72f., 87, 124, 159, 167, 174, 178, 206, 232–234, 236f., 247, 259, 261f., 264, 266, 270, 275 Gegenwart 12, 17, 38, 43, 47f., 55–58, 60, 63–65, 97, 102f., 110, 125, 129, 156, 166, 176f., 248, 250 Geschlecht 22, 89, 97f., 100f., 104, 107f., 122–129, 131–135, 159, 161 Geschlechterrolle 12f., 97, 99, 102, 107, 116, 121f., 124, 129, 132–135 Gesellschaft, gesellschaftlich 9, 11–13, 15f., 23f., 26f., 35f., 39, 43f., 46–49, 51–55, 57f., 60f., 63–68, 73, 76–78, 83, 86f., 89f., 97–99, 103–105, 107– 109, 113–115, 117, 121f., 125–129, 131f., 134, 163, 166–168, 172, 177– 179, 185f., 191, 193, 196, 203, 206, 215f., 223, 226, 228, 230–232, 234,
236, 238f., 248–250, 252, 254f., 259–264, 268 Aufnahmegesellschaft 98, 103, 111, 114 Gesellschaftsordnung 49, 53, 55, 76, 104, 107 Herkunftsgesellschaft 111, 114 Leistungsgesellschaft 111 Gesellschaftskritik, gesellschaftskritisch 46, 49, 59, 61, 63, 66f. Gewalt 15f., 33, 65, 71, 82, 98, 125, 129, 190, 192f., 199, 202, 206–218, 220–223, 234, 237, 252, 276 Grundwertebildung 12, 76f., 80, 92 Identität 13, 24, 27, 48– 53, 57, 60, 69, 72, 104, 107, 109–116, 122, 124, 132f., 135, 146, 158, 172, 189, 191, 199, 212, 228, 236 Identitätsbildung 64, 102, 104, 113 Inszenierung, inszeniert 10, 12, 21, 24, 26, 28, 31, 131, 273 Konflikt, konfligierend 11, 15, 49, 52f., 57, 59–63, 65, 68f., 72f., 98, 101, 103, 108–111, 134, 185f., 188f., 191–194, 196, 201, 213, 232f., 235f., 247, 254, 262, 267, 276 Generationenkonflikt 103, 114, 116 Wertekonflikt 10, 49, 54f., 57–61, 65, 68, 87f. Lesen 9–12, 17, 21–32, 34–40, 43, 52f., 61, 76, 84f., 90, 157, 160, 171, 174, 178, 197, 226, 228, 260, 265, 268, 272 Literaturunterricht 12, 14f., 17, 23, 38– 40, 43–45, 63, 66, 68, 76f., 88, 92, 115, 120, 124, 135, 167, 176f., 179, 185f., 206f., 245, 255f., 259 Migration 13f., 16, 83, 88, 97, 99f., 102– 111, 114–116, 166–168, 170, 172f., 175f., 179, 189, 226–228, 230, 232f., 238–240 Moral, moralisch 9, 11, 16, 36, 40, 44, 48, 50, 53–55, 57, 60, 62, 64f., 68– 73, 87, 120, 124, 168, 178, 189, 192, 196, 201, 206, 211f., 221, 223, 226f.,
282
Register
230f., 233–236, 245, 251, 259, 261– 263, 268, 274f. Narration, narrativ 10f., 49, 54, 57–61, 66, 68, 124, 143–145, 155, 171, 179, 187, 189, 191, 196, 239, 247, 269, 270, 272 Reflexion, reflektieren 9–12, 14–17, 21, 23f., 27, 29–31, 34, 36, 38f., 43–45, 61–68, 70f., 73, 77, 81, 86f., 89–92, 98f., 101f., 111, 113, 123, 158f., 166–168, 170, 172–179, 203, 212, 216, 223, 254f., 259, 261, 263, 270, 274–276 Urteilsbildung 15, 68, 178 Utopie, utopisch 10, 28, 43, 48f., 56f., 62, 66, 246, 248, 250 Vielfalt 13, 21, 73, 99, 102, 116, 120f., 123, 125, 129, 132–135, 196, 274
Werte 10–16, 21f., 24–27, 35, 37–40, 43, 45, 47–49, 51, 53f., 56f., 63f., 66–73, 76–90, 92, 97, 101, 106, 109, 111, 115, 120, 122f., 125f., 128, 135, 159, 167, 178, 185, 191, 199, 206f., 211f., 215–217, 220–223, 225–227, 230, 232, 234–239, 245, 247f., 255, 259, 261, 263, 267f., 276 Wertebildung 12, 64, 76f., 80f., 83, 85, 92, 186 Werteerziehung 9, 11f., 15–17, 44, 85, 187, 201, 255 Wertereflexion 17, 259, 263, 275 Wertewandel 12f., 17, 79, 103, 122, 128 Zukunft 9–12, 17, 43, 46–49, 53, 55, 57f., 64, 66f., 71, 104, 106, 108, 110, 115, 125, 144, 166, 169, 188–190, 200, 202, 206, 237, 246, 248, 256