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German Pages [335] Year 2021
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Theater – Film – Medien
Band 6
Herausgegeben von Klemens Gruber, Stefan Hulfeld und Christian Schulte am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien Reihe mitbegründet von Elisabeth Büttner
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Gabriele C. Pfeiffer
Ephemer und leibhaftig Schauspielerische Erkundungen von Ariane Mnouchkine, Carmelo Bene und Jerzy Grotowski
Mit 42 Abbildungen
V&R unipress Vienna University Press
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Veröffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V&R unipress. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät sowie des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Das Forschungsprojekt, aus dem diese Publikation und die vorangestellte Habilitationsschrift hervorgehen, wurde durch das Elise-Richter-Programm des Wissenschaftsfonds FWF (Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung) in Österreich finanziert. Die Habilitationsschrift wurde im Jahr 2020 mit der Anerkennungsurkunde der Dr. Maria Schaumayer Stiftung ausgezeichnet. © 2021 V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Zigotographie von Laurette Burgholzer, die eigens für die Autorin angefertigt wurde. Layout: Peter R. Horn Lektorat: Karin Ballauff Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2366-3618 ISBN 978-3-7370-1172-3
Einleitende Worte
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Einen Schauspieler sieht man wie durch Kristalle. Antonin Artaud
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Einleitende Worte
Einleitende Worte
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Inhalt
Einleitende Worte..................................................................................................... 11
Räume und Visionen............................................................................................ 17 Ein eigenes Haus. Ariane Mnouchkine................................................................. 19 Das Gelände an der Peripherie................................................................................. Der Einlass in die Aufführungshalle........................................................................ Eine Anmerkung am Rande: Einlass auf Reisen, Wien ........................................ Die Spielhalle und ihre Wandelbarkeit.................................................................... Eine Anmerkung am Ende: offene Tore und Türen für alle, politisches Engagement.............................................................................................
19 24 30 33 38
Kellerbühnen und große Häuser. Carmelo Bene................................................ 43 Aus dem Süden kommend........................................................................................ Aus dem Kellertheater und dem Laboratorium..................................................... Im Klangraum Stimme und auf den großen Bühnen............................................ Eine Anmerkung am Ende: im öffentlichen Raum, Piazza und Burggraben..............................................................................................
43 50 63 65
Laboratorien. Jerzy Grotowski............................................................................... 69 Allüberall Laboratorien............................................................................................. Ein letztes Aufblühen im Working Space Pontedera............................................. Eine Anmerkung am Rande: das wandernde Labor, Wien und Istanbul...................................................................................................... Die Wurzeln im Teatr 13 Rzędów (Theater der 13 Reihen) Opole......................
69 82 87 89
Utopie(n) und Visionen........................................................................................... 95 Die Schauspielenden.................................................................................................. 95 Utopie, Labor, Leib und Träume............................................................................. 102 Licht, Darüberhinaus (oltre) und Vertikalität....................................................... 110
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Inhalt Einleitende Worte
Hamlet. Schauspieler-Werden......................................................................... 115 Ein politischer Hamlet oder Hamlet studieren. Grotowski und »Studium o Hamlecie«............................................................................................ 118 Stanisław Wyspiański. Hamlet als Jude.................................................................. 120 Der unmögliche Hamlet. »Hamlet-Studien« und »Action«................................ 123 Theater im Theater. Spiel im Spiel........................................................................... 127 Ein Post-Hamlet oder poetische Masken sprechen. Mnouchkine und Shakespeare............................................................................................................... 132 Mnouchkines Liebe zum asiatischen Theater........................................................ 135 Theater im Theater. Maskenspiel............................................................................. 139 Shakespeare-Zyklus und Mnouchkines Verhältnis zu den Schauspieler_innen...................................................................................... 144 Ein reduzierter Hamlet oder Hamlet streichen. Bene und »Hamlet suite« ........................................................................................................ 151 Hamlet-Variationen. Hamlet auf ewig.................................................................... 153 »Hommelette for Hamlet«. Kein Spiel mehr.......................................................... 157 »Hamlet suite«. Ein Ballett der Vokale................................................................... 165
Schauspielen und (finale) Transformation................................................. 169 Den Tod vor Augen.................................................................................................. 175 Sterben (Molière und Mnouchkine, Grotowski)................................................... 175 Töten (Kane, Kleist, Bene, Mnouchkine) .............................................................. 183 Betroffenheit und Stellvertretung (Schlingensief, Bene, Grotowski).................. 191 Das Wie, nicht das Warum des Sterbens (Verhandlung, Inszenierung)............ 200 Souverän sterben...................................................................................................... 202 Sterben und Tod (Prozess und Unbehagen).......................................................... 202 Gezähmter Tod (Von der Antizipation des Sterbens zur Emanzipation mit Hilfe der unsterblichen / untoten Maske)............................. 204 Souveränes Sterben (Unter schauspielpraktischer Anleitung)............................ 207 Wiederholtes Sterben (Ein außeralltägliches Verfahren)..................................... 222 Mit Leib und Leben................................................................................................. 227 Theater ist Fleisch...................................................................................................... 227 Empfinden oder nicht empfinden …...................................................................... 232 Eine Einfügung: Körper Schmerz Frau.................................................................. 235
Inhalt Einleitende Worte
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Die An- und Abwesenden....................................................................................... 242
Tier / Mensch. Dazwischen Sein..................................................................... 247 Innen und Außen. Die Suche nach dem Tier. Das Training........................... 250 Katze und Tiger......................................................................................................... 250 Das Tier im Körper und in der Stimme................................................................. 253 Das Tier und die Stimme......................................................................................... 256 Das spielerische Moment......................................................................................... 264 Erscheinungen. Das Auftauchen von (Tier-) Masken auf der Bühne ........... 268 Ein totaler, ein kommunikativer und ein gedoppelter Akt.................................. 268 Integrierte, erspielte und erbaute Tier (-Masken)................................................. 275 Verschwinden. Die Anrufung des Tiers oder des Kindes................................ 278 Aufgelöste Grenzen................................................................................................... 278 Im Zwischenraum..................................................................................................... 282 Schrecken, Freude, Melancholie.............................................................................. 286 Verzückung................................................................................................................ 287 Gleichzeitig und woanders. (Schauspielerisches) Sein und Werden ............ 292 Erspielt, erwacht und ästhetisiert............................................................................ 292 Kollektive, gemeinschaftliche und narzisstische Kommunikation..................... 294 Abschließende Worte.............................................................................................. 297 Literatur..................................................................................................................... 301 Film, Video, Audio.................................................................................................. 325 Bildnachweis............................................................................................................. 329 Dank........................................................................................................................... 333
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Einleitende Worte
Einleitende Worte
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Einleitende Worte
Wenn die feministische Autorin Hélène Cixous über ihre Arbeit mit dem Théâtre du Soleil spricht, führt sie das zurück in ihre Kindheit und zu dem Schauspiel, das sich – metaphorisch wie buchstäblich – vor ihrem Fenster im Algerien der 1940er-Jahre abgespielt hat. Immer wieder kommt sie zurück auf das Erlebte, Nicht-Erlebte, auf die Erzählungen ihrer dem Holocaust entkommenen Verwandten und derer, die nicht überlebt haben. Sie phantasiert davon, dass es ein Anderswo gibt, um den höllischen Wiederholungen zu entkommen. Am besten träume es sich dorthin, wo sich neue Welten (er-) finden lassen, meint sie. Dies impliziert unweigerlich den Weg in das Universum der Kunst, wobei Theater einer der Orte par excellence ist, der in unbekannte Welten zu (ent-) führen vermag. Es ist der Ort der Toten ebenso wie der Lebenden, des Hier und Jetzt und zugleich des Anderswo. Wie diese Welten erschaffen werden und wer sie kreiert, davon soll hier die Rede sein. Wie Theater und Schauspielpraxis gedacht werden, davon soll hier gesprochen werden. Künstler_innen in Europa reagieren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs auch auf den vehement ins Bewusstsein gerufenen Abgrund des Sterbens und des Todes. Die den Menschen immanente Kenntnis vom eigenen Tod treibt sie um. Diese im abendländischen Kontext fortwährende Kränkung an jedem einzelnen Subjekt erfordert verschiedenste Bewältigungsstrategien und Techniken. Das gekränkte Subjekt agiert – auch auf der Bühne. Nach den Theaterreformen der Jahrhundertwende und dem avantgardistischen Schock der Zwischenkriegszeit ergreift eine neue Generation die Initiative und nimmt jede Möglichkeit wahr, der Tristesse der Nachkriegsjahre, des Kalten Krieges und einer affirmativen Theaterpolitik zu entkommen und in ein Neuland aufzubrechen. Im Schwung der Neoavantgarde entstehen Theaterformen, -strukturen und -wege, die als Theater der Suche oder als das Neue Theater rezipiert werden. Experimentierfreudige Theaterschaffende stellen Schauspieler_innen ins
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Einleitende Worte
Zentrum ihrer Arbeit und lassen sich auf minutiöse Beobachtungen in einem laborähnlichen Umfeld ein. Sie orientieren sich an Theaterpraktiken vergangener Jahrhunderte (Théâtre de la foire, Commedia all’improvviso, Gauklerkunst, histrionisches Handwerk, alte Gesänge), an den Avantgarden der Zwischenkriegszeit (Dadaismus, Surrealismus) und an zeitlich wie geographisch fernen Theaterformen (asiatische Theaterkunst aus Japan, Bali, Indien und China). Sie verwerfen alte Grenzen und versuchen, neue zu überwinden. Drei herausragende Theaterpersönlichkeiten dieser neuen Generation geben ihr Debüt 1959. Sie wissen voneinander, berühren einander jedoch trotz partiell ähnlicher Ansätze nicht – weder in ihrer Praxis noch in ihren Auffassungen über Theater und Schauspielen: Ariane Mnouchkine in Paris, Carmelo Bene in Rom und Jerzy Grotowski in Opole. Unterschiedlich geprägt, sind diese drei Theaterpersönlichkeiten indes geeint im Anliegen ihrer Schauspieler_innen-Zentriertheit. Sie suchen und versuchen Theater aus der Praxis zu begreifen, zu untersuchen und zu (er-) leben. Die Schauspieler_innen selbst sind Subjekt und Objekt des Forschungsprozesses, sodass ihre Suchbewegungen jeweils unmittelbar aus der Schauspielpraxis heraus befragt werden: die Interaktion, das Innenleben, die Selbstvergessenheit. Sie beschäftigen sich mit dem, was Schauspieler_innen mit ihren Körpern (er-) schaffen, wie sie sie einsetzen, überwinden und wie sie sich verlieren. Der Leib und der Körper, Material und Instrument der Schauspielenden, sind Ausgangsund Endpunkt, sind der Kern der theatralen Herausforderung. Der Körper wird vergehen, das ist eine unumstößliche Tatsache, die die Frage aufwirft, was Schauspielende wie tun, wenn sie an diesen gebunden, in flüchtigen, dem Tod und Sterben gegenwärtigen Momenten auf der Bühne agieren. Wie bereiten sie sich vor, und was kann erschaffen werden, da wir doch wissen, dass dies alles wieder vergeht? Es geht um das Schauspielen als eine ephemere Kunst, erschaffen aus ephemeren Leibern. Eine Annäherung an das Theater (-Schaffen) und die Visionen Ariane Mnouchkines, Carmelo Benes und Jerzy Grotowskis wird im Kapitel »Räume und Visionen« anhand erster Begegnungen an Ort und Stelle vorgenommen. Verortung und Topographie aller drei werden vorgestellt. Diese Vorgehensweise veranschaulicht ein Entree in ihre tatsächlichen Räume, offenbart das Verhältnis zum Publikum und führt in ihre Theater (-praktiken) sowie die zu diskutierende Thematik ein. Dabei treten bereits charakteristische Aspekte ihres Umgehens mit Raum und Publikum zutage: Begegnungen in warmem Ambiente; Streben aus der Peripherie ins Zentrum; Laborsituationen, die Schutz und Experiment von Anfang bis Ende gleichermaßen gewährleisten. Die Orte, Theater- wie Bühnenräume, werden deskriptiv erfasst, vorgestellt und hinsichtlich ihrer Potentiale analysiert. Diese methodische Herangehensweise erlaubt eine Einführung in die drei Untersuchungsgegenstände sowie eine theaterhistoriographische Aufberei-
Einleitende Worte
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tung. Darüber hinaus wird eine erste Kontextualisierung der Rezeption durchgeführt. Hamlet als eine zentrale (Theater-) Figur für große Schauspieler_innen der letzten Jahrhunderte, eng verbunden mit William Shakespeare, erweist sich im Kapitel »Hamlet. Schauspieler-Werden« als geeignete Projektionsfläche, um die theatralen Konzepte Mnouchkines, Benes und Grotowskis konkret und eingehender vorzustellen und im Zuge dessen ihre Eigenheiten, Anliegen und utopischen Ausrichtungen in Bezug auf Theater zu präzisieren. Anhand ausgewählter Beispiele in Referenz auf Shakespeare werden ihre Grundprinzipien und -positionen dargelegt. Das Augenmerk liegt auf den Schauspieler_innen und ihrer Bedeutung, dem Verhältnis zur Narration, zu Schauspieltechniken und der Auseinandersetzung mit Individuum und Gesellschaft. In diesem Zusammenhang stehen insbesondere Techniken des Spiegelns und Verzerrens gesellschaftlicher Verhältnisse sowie diesen innewohnende individuelle Ansprüche im Zentrum des Interesses. Das Individuum und sein selbstreferentielles Begehren rücken ebenfalls in den Fokus. Zudem wird bereits in unterschiedliche Schauspielpraktiken eingeführt und damit zum folgenden Kapitel »Schauspielen« übergeleitet. Im Kapitel »Schauspielen und (finale) Transformation« geht es um die Schauspielkunst der drei ausgewählten Theaterschaffenden, die als sichtbare Transformationspraktik auslegbar ist. Eingebettet nicht nur in zeitgenössische Praxiskonzepte avantgardistischen und postavantgardistischen Theaters, werden ihre Schauspielpraktiken in den Kanon der seit Mitte des 18. Jahrhunderts verschriftlichten und darüber hinausgehend erfassten und im 20. Jahrhundert rezipierten Schauspielpraktiken einbezogen und erörtert. Das Werden, Entwickeln und Metamorphosieren der Schauspieler_innen vor der Folie der (vorerst) letzten Verwandlung stehen hier im Mittelpunkt der Frage nach Strategien und Techniken, die aus den Schauspielpraxen der drei Theaterpersönlichkeiten erwachsen, die Körper zu Leib transformieren. Darin zeigt sich, wie die Transformation des Sterbens im Theater sicht- und erfahrbar gemacht wird. Theater präsentiert sich aus diesem Blickwinkel als Ort der Toten. Es ist jener Mikrokosmos, in dem der Tod gedacht werden kann, ohne dass gestorben werden muss, und bietet somit eine Chance, das Sterben auszuhalten und dem Tod versöhnlich entgegenzutreten. Ephemeres und Leibliches der Schauspieler_innen und im Schauspiel bieten keine Lösung dafür an, wie wir die Kenntnis um unsere Endlichkeit zulassen können, aber es gewährt ausreichend Raum, uns für einen gegenwärtigen Augenblick damit zu konfrontieren, hinzuschauen, den Prozess zu erfahren und auszuhalten. Dieses Wissen um unsere Vergänglichkeit, das uns nach philosophisch-anthropologischer Auffassung vom Tier unterscheidet und uns zu Menschen werden lässt, die Schauspielen hervorzubringen vermögen, steht in den folgenden Ausführungen im Fokus. Am Verhältnis zwischen Tier und Mensch, das die Schauspieler_innen (aus-) agieren, lassen sich überdies noch einmal die un-
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Einleitende Worte
terschiedlichen Schauspielpraktiken ablesen. Das letzte Kapitel, »Tier / Mensch. Dazwischen Sein«, schließt an die Frage nach der Transformation auf der Bühne an. Wie unterschiedlich sich die Auffassungen von Schauspielen und konsequenterweise auch die Umsetzungen Mnouchkines, Benes und Grotowskis präsentieren, kulminiert in exemplarischen Sequenzen, in denen es um das Verhältnis zwischen Tier und Mensch geht. Anhand dieser Beispiele werden die Beziehungen auf der Ebene Realität / Fiktion, des Zusammenspielens der Schauspieler_innen und Figuren und insbesondere ihrer animalischen Aspekte analysiert. Die ausgewählten Szenen und Bilder sollen im Zuge dessen die drei Verfahrensweisen sowohl in ihrer Affinität als auch ihrer Divergenz vermitteln. Es geht um die Grenze, die überschritten und erweitert wird, das freudvolle Spielen mit Figuren bzw. Tieren oder mit sich selbst. Es geht um die Überschreitung von Grenzen aus dem Außen in ein Innen und vice versa. Am Ende schließt sich mit dem Aspekt des Kindes der Kreis wieder zum Anfang – und dem (kindlichen) Erschaffen von (Theater-) Welten. Ein Großteil des Analysematerials beruht auf Archivrecherchen. So finden sich hier erstmals im deutschen Sprachraum aufbereitete Materialien zu Carmelo Bene und Jerzy Grotowski. Carmelo Bene, 2002 verstorben, wird hauptsächlich in Italien und Frankreich rezipiert. Im Jahr seines Todes reichte ich meine Dissertation unter dem Titel Non esisto dunque sono als eine der ersten umfassenden Studien über seine Theaterarbeiten ein. Als grundlegende Forschungsliteratur diente Gilles Deleuzes auch ins Deutsche übersetzter Essay, »Ein Hamlet weniger«, sowie Piergiorgio Giacchès Monographie Carmelo Bene. Antropologia di una macchina attoriale. Inzwischen gibt es im deutschen Sprachraum vereinzelte Schriften, Essays, Artikel und Diplomarbeiten über Bene, v. a. über seine Filme. Hinsichtlich des theatralen Œuvres sind Gaetano Biccaris Studien hervorzu heben. Um Benes zehnten Todestag herum erschienen auch in Italien wieder vermehrt Publikationen, und die Aufarbeitung seines Theaterschaffens begann sich in Hochschulschriften niederzuschlagen. Abgesehen davon stellen seitdem immer mehr Privatpersonen Video- und Filmmaterial via Youtube zur Verfügung. Das Material, das in die vorliegende Arbeit eingeflossen ist, konnte im cta, dem Centro Teatro Ateneo in Rom gesichtet und studiert werden. Das Centro, das seit den 1970er-Jahren Materialien sammelt, ist kontinuierlich darum bemüht, Vorhandenes neu zu katalogisieren, digital aufzubereiten und zu archivieren. Bereits erfasste Bild- und Videodaten können mittlerweile über die Internetplattform eclap (European Collected Library of Artistic Performance) weltweit eingesehen werden. Das hier erstmalig in deutscher Sprache bearbeitete Material zu Jerzy Grotowskis Anfängen in Opole (Oppeln) liegt im Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław (Polen) auf. Hinsichtlich einer Aufarbeitung des politischen, ideellen
Einleitende Worte
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und gesellschaftlichen Kontextes dieser Zeit auf Deutsch ist auf Regina Jonachs mehrbändige Diplomarbeit Jerzy Grotowski. Annotationen aus dem Jahr 1995 zu verweisen. Für Grotowskis letzte Arbeitsphase sind seit seinem Tod 1999 Thomas Richards und das Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards in Pontedera (Italien) als Erben zuständig. Das Institut in Polen bemüht sich seit geraumer Zeit, Dokumente, Bildmaterial und Handschriftliches zu digitalisieren und über eine eigene Website sukzessive zugänglich zu machen. Auch seitens des Workcenters in Italien gibt es Bemühungen, eine Internetpräsenz aufzubauen, doch wirkt hier das ursprüngliche Credo erschwerend, kein Material aus der Hand zu geben und es nur bei Veranstaltungen ausschließlich von Angehörigen des Workcenters präsentieren zu lassen. Aufgrund meiner Tätigkeit im Dokumentationsteam eines EU-Projektes – Tracing Roads Across von 2003 bis 2006 – konnte ich das theatrale Schaffen des Workcenters intensiv begleiten. Ein Teil dieser auf meinen Erfahrungen basierenden Recherchen fließt in Form von Gedächtnisprotokollen in die vorliegende Arbeit ein. Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil sind nach wie vor aktiv. So verweisen etwa die Inszenierungen der letzten Jahre auf Ariane Mnouchkines anfängliche wie konstante Affinität zu Indien: 2016, Une chambre en Inde (Ein Zimmer in Indien), das im Mai 2018 zum letzten Mal gespielt und gemeinsam mit Gästen aus Indien feierlich entlassen wurde; das im selben Jahr 2018 gemeinsam mit tamilischen Student_innen von P. K. Sambandan erarbeitete Stück Notre Petit Mahabharata. Hommage à notre maître et aux origines d’Une chambre en Inde (Unser kleines Mahabharata. Hommage an unseren Meister und die Anfänge von Ein Zimmer in Indien) und das gemeinsam mit Robert Lepage entwickelte Stück Kanata – Épisode I – La Controverse (Kanata – Episode I – Die Kontroverse). Dieses Jahr, im Juni 2020, ist das Théâtre du Soleil wieder dabei, den öffentlichen Raum einzunehmen. Dies verweist auch auf eine Haltung, die es immer wieder bewiesen hat: dieses Mal durch die Beteiligung an der Manifestation des blouses blanches (Demonstration der weißen Kittel). Das Théâtre du Soleil unterstützt die Forderungen der Pflegekräfte bei der Protestparade, zu der von den Gewerkschaften des Krankenhauspersonals und von Angehörigen der Gesundheitsberufe aufgerufen worden war. Zudem arbeitet das Theater an der Umgestaltung seiner Internetpräsenz: Seit Jänner 2018 gibt es eine neue Website mit umfassendem und chronologisch angeordnetem Bildmaterial. Studien über das Théâtre du Soleil sind mehrsprachig zugänglich, mit dem Schwerpunkt auf französischer Sekundärliteratur. Da Mnouchkine einige ihrer Theaterproduktionen auch verfilmt hat, bieten sich diese – mit den üblichen, aus theaterwissenschaftlicher Perspektive zu bedenkenden Einschränkungen – als Anschauungsmaterial an. Eine Exkursion nach Paris zum Théâtre du Soleil, verbunden mit dem Besuch einer Aufführung zum 50-jährigen Theaterjubiläum, bot die Möglichkeit, sowohl die Archivmaterialien als auch das Gelände vor Ort zu erkunden und gemäß der
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Einleitende Worte
Idee des Théâtre du Soleil »mit allen Sinnen« zu erproben: Für das leibliche Wohl wird hier gesorgt, der Bezug zu dem eigenen Körper olfaktorisch wie kulinarisch provoziert und unterstützt und das Theater als physische Kunst zelebriert. Theater birgt das Potential, Raum und Zeit mittels des eigenen Körpers zu erfassen, womit man sich auch (schmerzlich) der eigenen Grenzen bewusst wird. Doch es bietet auch einen geschützten Raum an, in dem man seinem Bedürfnis folgen und diese Grenzen überschreiten kann, ohne dem Wahnsinn unwiederbringlich anheimzufallen. Und hierin liegt eine wesentliche Qualität von Theater: den Abgrund zu schauen, ohne hineinzustürzen, nicht an der Wahrheit (des Theaters) zu zerschellen. Wie dieser Abgrund aus der Schauspielpraxis heraus erforscht wird, auf welche Erkundungswege Ariane Mnouchkine, Carmelo Bene und Jerzy Grotowski sich wagen und welche Strategien sie finden, dem widmet sich die vorliegende, aus der gleichnamigen und leicht überarbeiteten Habilitationsschrift hervorgegangene Publikation.
Ein eigenes Haus. Ariane Mnouchkine
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Räume und Visionen
Gleich zu Beginn: Warum macht man Theater? … Weil man Vergnügen daran findet, sich durch das Theater auszudrücken. Anschließend fragt man sich: Worin liegt dieses Vergnügen, und welchen Weg soll ich einschlagen? Es geht nicht darum, sich zu rechtfertigen, das Vergnügen hat das nicht nötig, doch muß man wissen, was man tun wird, und eine Bewußtwerdung bewirken, die für einen selbst ebenso wertvoll ist wie für das Publikum.1 Ariane Mnouchkine
Theater sucht seit jeher nach einer besonderen Form von Ausdruckskraft, die mit allen Sinnen spielt und diese in alle Richtungen in Bewegung setzt. Es kann mindestens als eine Möglichkeit, sich zu artikulieren, und im besten Fall als eine vergnügliche Variante betrachtet werden. Es ist eine (Spiel-) Weise und auch Spielwiese, sich zu äußern, etwas nach außen zu kehren, und es hat die Fähigkeit, jenseits von offensichtlich Sichtbarem, Körper und Leib so in Bewegung zu versetzen, dass Unsichtbares sichtbar wird. Es birgt die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Seinsweisen umzugehen und verschiedenste Wesen des Seins (er-) leben zu lassen. Dabei schafft Theater Welten und Visionen, die sich in mannigfaltiger und zugleich höchst unterschiedlicher Weise zu präsentieren vermögen. Ariane Mnouchkine, Carmelo Bene und Jerzy Grotowski haben Theater in seiner Qualität als Kunst des Schauspielens gewählt, um sich auf eine lebenslange Suche nach dem Theater mit seinen mannigfaltigen Wesen und damit einhergehenden Seinsweisen zu begeben, um diese schließlich wiederum über Theater auszudrücken. Theater machen als Suchbewegung wird zu einem entscheidenden Charakteristikum, denn mehr als Theater machen ist es ein Theater suchen, in dessen Mittelpunkt die Schauspielenden stehen, die sich wiederum des Theaters als Ausdrucksmittel bedienen. Sich theatral auszudrücken ist also bestimmt durch eine Suchbewegung, die auch viele Theaterschaffende vor ihnen unternommen haben und an denen sie sich orientieren (können). Mnouchkine, Bene und Grotowski reihen sich somit in ein Ensemble von Theaterschaffenden der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Arbeitsmittelpunkt stets der Schauspieler bzw. die Schauspielerin ist. Sie greifen damit eine Betrachtungsweise auf, die bereits in der Avantgarde ihre Vertreter2 (sic) hatte. Oft wird die Suche auch in historisch oder geographisch ferne Dimensionen verlegt, sodass Rezeption und Forschung 1 Ariane Mnouchkine, »Eine Bewusstwerdung«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 14–17, hier S. 14. 2 Vgl. Birgit Wagner, »Gender«, in: Metzler Lexikon Avantgarde, S. 121–123.
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Räume und Visionen
antiker und/oder mittelalterlicher Schauspielweisen Anregungen bieten oder außereuropäische Theaterstrukturen inspirieren.3 Eine erste Begegnung mit den drei Theaterschaffenden, die erste Annäherung an ihre jeweiligen (Theater-) Räume eröffnet einen Zugang zu ihren materiellen wie immateriellen Rahmenbedingungen und damit einhergehenden Theaterkonzepten und -strukturen. Diese vermitteln eine Ahnung jener Wesen und Weisen respektive Seinsdimensionen, die sie sehen und schließlich sehbar machen, abhängig davon, welche Seiten des Seins sie zu fassen bekommen und zum Schwingen bringen oder gebracht haben. So öffnet Mnouchkine höchstpersönlich die Türen ihres Theaters und lädt zu sich ein. So bespielt Bene etablierte Bühnen repräsentativer Theaterbauten und bietet (sich) dort an. So schafft Grotowski stets einen Raum in der Qualität eines geschützten Laboratoriums, in das er zeitweise Einblick gewährt. Alle drei stellen die Schauspielenden in den Fokus ihrer Konzepte und Ausführungen, ob verspielt, erhaben oder asketisch – sie sind es, die Bühnen jeglicher Art beleben und das Wesentliche zum Vorschein bringen. Sie sind es, die Buntes, Wirres, Warmes, Soziales, Politisches, Gesellschaftskritisches oder Helles, Klares, Dunkles, Menschheitsgeschichtliches, Sinnentleertes oder Narratives auftreten lassen. Sie breiten sich aus, tauchen aus dem Untersten nach oben und setzen sich Risiken und Gefahren aus, um einen Kontakt zum Leben herzustellen und Wesenhaftes erleben zu lassen. Sie sind die Kreativen dieser (Theater-) Welten. Ob Einladung, Angebot oder Kontrolle: Jede Form und Struktur einer Begegnung des Publikums mit den Schauspielenden und den damit entstandenen (Theater-) Welten in bestimmten und dafür geschaffenen Räumen und Bühnen szenarien und jedes dahinterliegende Theaterkonzept bieten einen eigenen Kosmos, ein eigenes utopisches Universum, in dem Schauspielen im Zentrum steht und die Suche nach den Facetten des Seins allgegenwärtig ist.
3
Vgl. beispielsweise Bertolt Brecht sowie Jacques Lecoq und Ariane Mnouchkine, Antonin Artaud sowie Wsewolod Emiljewitsch Meyerhold und Carmelo Bene, Konstantin Stanislawski sowie Peter Brook und Jerzy Grotowski.
Ein eigenes Haus. Ariane Mnouchkine
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Ein eigenes Haus. Ariane Mnouchkine Das Gelände an der Peripherie
Ariane Mnouchkine (geb. 1939) bespielt ein Theater (-gelände) außerhalb von Paris, die Cartoucherie de Vincennes, eine ehemalige Munitionsfabrik4. Diesen Ort beschreibt der französisch-rumänische Theaterwissenschafter Georges Banu als einen, »an dem es keinerlei institutionelles, ideologisches Machtgefüge«5 gibt. Die Geschichte der Aneignung des Geländes kann als paradigmatisch gelten für die Zeit, in der Mnouchkine und andere Theaterschaffende begonnen haben, Gelände, Häuser, Räume selbst (-verwaltet) zu organisieren, und andererseits auch für die Haltung der jungen Theatergruppe rund um Mnouchkine, die nach sechsjährigem Vagabundieren einen festen Platz gefunden hatte. 1959 als A.T.E.P. Association Théâtrale des Étudiants de Paris von Ariane Mnouchkine und Freund_innen ins Leben gerufen, nach Mnouchkines Rückkehr von ihrer ersten
Ariane Mnouchkine 1971 (Foto Gérard Taubman) Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 74–75: »Christian Dupavillon, ein Freund der Gruppe, überbringt den freundschaftlichen Hinweis der Pariser Stadträtin Madame Alexandre-Debray, daß die Gebäude einer alten Munitionsfabrik im Wald von Vincennes, ehemals im Besitz der französischen Armee, in den Besitz des angrenzenden Blumenparks übergegangen seien, und dem Théâtre du Soleil vorübergehend zur Verfügung gestellt werden könnten. Daraufhin ›bezieht‹ das Soleil Ende August [1970] drei der baufälligen Hallen der Cartoucherie, um dort kontinuierlich [bis heute] proben [und bis heute aufführen] zu können.« 5 Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 18–29, hier S. 19. 4
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Räume und Visionen
großen Reise 1964 erneut von neun Amateurtheaterleuten6 als private Genossenschaft gegründet, fand die Truppe, nun namens Théâtre du Soleil, 1970 in der Cartoucherie ihr Zuhause. Kurz zuvor hatte sie sich noch für die Pariser Markthallen7 eingesetzt und sich auch diese als Aufführungsort vorstellen können. Jedoch wurden die des Denkmalschutzes würdigen Hallen zwischen 1971 und 1973 abgerissen – ein Umstand, der Mnouchkine noch Jahre später in dem Dokumentarfilm Ariane Mnouchkine, l’aventure du Théâtre du Soleil 8 mit Unverständnis und Zorn erfüllte. Es waren andere Hallen, die am südwestlichen Stadtrand von Paris leer standen und dem jungen Theater durch Hilfe der damaligen Stadträtin Janine Alexandre-Debray für Proben zu Verfügung gestellt wurden. Und als nach der Premiere des hier einstudierten Stücks, die in Mailand stattgefunden hatte, in Paris kein passender Ort für Aufführungen zu finden war, keiner der günstig und groß genug gewesen wäre, beschlossen die Mitglieder der Theatertruppe, die Cartoucherie in Eigeninitiative zu adaptieren. Zunächst glich dies einer Besetzung, die im Nachhinein von besagter Stadträtin durch einen symbolischen Mietbetrag abgesegnet wurde. Auf diese Weise legalisiert bekam das Théâtre du Soleil ein eigenes »Haus« und ist seitdem in der Cartoucherie ansässig. Im Sinne Banus präsentiert sich also dieser Ort, und mit ihm das gesamte Gelände, als symbolträchtig, der sich bestens für Mnouchkines Auffassung von Theaterarbeit und der Begegnung mit Schauspielenden eignet. Er verfügt über genau die Eigenschaften, welche die Umsetzung ihrer Idee von Theater unterstützen und geradezu einladen, sie zu nutzen. Das Gelände am Stadtrand präsentiert sich weitläufig und mit unterschiedlichsten Gebäuden, großflächigen Wiesen und verschlungenen Pfaden, die zum Lustwandeln und Verweilen, zu Müßiggang oder einem schlichten Zusammentreffen anregen. Um dorthin zu gelangen, muss das Publikum allerdings einen weiten Weg zurücklegen, sich also auf den Weg machen, um durch ein großes blaues Gittertor das Gelände zu betreten, es zu durchqueren und schließlich vor dem schweren Tor der Aufführungshalle auf Einlass zu warten. Sobald man das erste Tor passiert hat, befindet man sich auf dem riesigen Anwesen, das vor Beginn der Vorstellung unbedingt erkundet werden sollte. Nur so lässt sich die besondere Stimmung, die Atmosphäre der Vgl. Marc Zitzmann, »Lebende Zeichen in Bewegung. Fünfzig Jahre Théâtre du Soleil«, in: Neue Zürcher Zeitung, 26.5.2014; und vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 19 und S. 42. 7 Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 70: »Mnouchkine bemüht sich vergeblich um eine feste Spielstätte für das Théâtre du Soleil. Ihr Vorschlag, das Soleil im ehemaligen Markthallenviertel im Herzen von Paris anzusiedeln, um dort die kulturelle Infrastruktur neu aufzubauen [FN 135], wird ebenso abgelehnt wie ihr Bemühen um den Cirque Montmatre.« In der FN 135 führt Seym weiter aus: »Heute befinden sich dort ein pompöses neumodisches unter- und oberirdisches Einkaufszentrum und etwas weiter der architektonische Koloß Centre Beaubourg, auf dessen großen Vorplatz sich teilweise eine neue Jahrmarktskultur herausgebildet hat.« 8 Vgl. Dokumentationsfilm Ariane Mnouchkine – l’aventure du Théâtre du Soleil von Catherine Vilpoux, Arte France Produktion, Koproduktion Agat Films & Cie 2009. [TC 00:11:00 bis 00:12:30].
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Umgebung hier wahrnehmen. Bernard Dort, Theatertheoretiker und -praktiker, erinnert sich an seinen Besuch des Stücks L’Âge d’or 9 (Das goldene Zeitalter) Mitte der 1970er-Jahre und sagt: »Zunächst beeindruckt der Ort«, ein Ort, den Dort seit dem Revolutionsstück 178910 ein paar Jahre früher als »Mekka des Pariser Theaters« bezeichnet hat. Die Cartoucherie habe »etwas von einer Kirche (oder eher einem Tempel) und einem Bahnhof an sich. Man fühlt sich sofort wohl«11. Er bezieht sich hier nicht so sehr auf Marc Augés Beispiel des Bahnhofs als geschichtslosem »Nicht-Ort« samt identitätsloser Ausstrahlung,12 sonst hätte er wahrscheinlich nicht identitätsstiftende Orte wie Kirche oder Tempel als Vergleich herangezogen. Es ist genau das Gegenteil einer identitätslosen Ausstrahlung: Hier wird vielmehr auf den philosophischen Sinn des Begriffs Nicht-Ort zu verweisen sein, wie Hakan Gürses in einem Artikel über Utopie, Migration und Kritik verdeutlicht,13 in dem der Begriff des A-Topos als Nicht-Ort Verwendung findet. In diesem Sinne ist auch Dort zu verstehen. Er spricht hier von einem Ort (Bahnhof), der sich der Unterwerfung, der Macht entzieht und der kein geschichtsloser Ort ist. Auch wird auf das Narrativ »heilige Orte« (Kirche, Tempel) Bezug genommen, die mit Reinheit, Konzentration sowie Zugehörigkeit
9 L’Âge d’or (Das goldene Zeitalter), 1975, kollektive Theaterarbeit der Mitglieder des Théâtre du Soleil zu Frankreichs sozialer Wirklichkeit Mitte der 1970er-Jahre mit den Mitteln und Masken der Commedia dell’arte (neuere Forschung spricht von Commedia all’improvviso; in der Literatur von und über Mnouchkine heißt es noch Commedia dell’arte) und arabischer Erzähltradition. Vgl. z. B. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 91–100. 10 1789 (1789), 1970–71, kollektive Theaterarbeit der Mitglieder des Théâtre du Soleil. Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 71–86. Mit dem Kunstgriff, Jahrmarktschauspieler_innen die Geschichte der Revolution erzählen zu lassen, wird einerseits die Perspektive der Geschichtsschreibung des Volkes vorgestellt und andererseits wird durch das Theater im Theater möglich, den fiktionalen Charakter beizubehalten, sodass »eine naturalistische wie auch eine mythisierende Darstellung des Revolutionsgeschehens« verhindert wird (Seym, S. 71). Diese allseits gerühmte und gelobte Inszenierung erhält nur wenige Gegenstimmen, eine davon ist Freddie Rokem: »Es handelt sich in gewisser Hinsicht um eine Inszenierung, die den Ereignissen auf den Straßen der 1968er Ära nicht unähnlich ist, als so viele Momente der politischen und sozialen Ereignisse zu Spektakel und Straßentheater wurden. Mnouchkine und ihre Truppe, die zweifellos einen wichtigen Beitrag zum Gegenwartstheater geleistet haben, scheinen sich in der Tat in genau jenem Diskurs verfangen zu haben, den sie in 1789 zu kritisieren versuchten.« Freddie Rokem, Geschichte aufführen, S. 163. 11 Bernard Dort, »Zwischen Vergangenheit und Zukunft«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 193–198, hier S. 193. 12 Vgl. Marc Augé, Nicht-Orte, S. 83: »So wie ein Ort durch Identität, Relation und Geschichte gekennzeichnet ist, so definiert ein Raum, der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt, einen Nicht-Ort.« Ebenda, S. 96: »Wie man leicht erkennt, bezeichnen wir mit dem Ausdruck ›Nicht-Ort‹ zwei verschiedene, jedoch einander ergänzende Realitäten: Räume, die in Bezug auf bestimmte Zwecke (Verkehr, Transit, Handel, Freizeit) konstituiert sind, und die Beziehung, die das Individuum zu diesen Räumen unterhält.« 13 Hakan Gürses, »Leben, wo man will? Utopie, Migration und Kritik«, in: Viel Glück! Migration heute, S. 26–34.
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und Identität verbunden werden, wie Peter Brook es mit seiner viergliedrigen Einteilung bzw. seiner Charakteristik von »Theater« anspricht.14 Vielleicht ist es bei Dort auch eine Anspielung auf das Unstete, das In-Bewegung-Sein als charakteristisch für einen Bahnhof. In-Bewegung-Sein, identitätsstiftend und Macht entziehend zu agieren, ein heiliges Theater im Brookschen Sinne zu sein, sind Eigenschaften, die auf das Théâtre du Soleil zutreffen. Damit steht es nicht alleine da. Die Idee, Theater als Stätte eines heiligen Ortes zu betrachten, ist ein wiederkehrendes Phänomen, das einige Theaterreformatoren (sic) schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgriffen. Mit dieser Einstellung dominierten sie die auf- und ausbrechende europäische Theaterszene jener Zeit.15 Die Nachfolgegeneration der 1960er-Jahre nimmt den Faden wieder auf, und so ist es keineswegs verwunderlich, dies im Zusammenhang mit dem Théâtre du Soleil zu lesen. Zahlreiche Theaterbesucher_innen haben sich entsprechend geäußert, so zum Beispiel auch die Theaterkritikerin Renate Klett. Es gibt Orte, die mythisch sind, im Leben wie in der Kunst. Das Haus der Kindheit, die Eiche, unter der Orlando träumt, die Montagne Sainte-Victoire des Herrn Cézanne. Für mich war seit jeher die Cartoucherie von Vincennes ein solcher Ort, und als ich sie das erste Mal betrat – das ist nun über 20 Jahre her [d. h. Mitte/Ende der 1970er-Jahre] – war ich aufgeregt wie bei einem Rendezvous. Seither bin ich den Weg viele Dutzend Male gegangen, aus Sentimentalität noch immer zu Fuß von der Metro-Endstation, obwohl es ja inzwischen einen Bus gibt, und noch immer habe ich Herzklopfen, wenn ich das große Tor passiere.16
Die Cartoucherie hat bis heute nicht an Faszination eingebüßt. Nach wie vor reist man aus Paris nach Vincennes an, und nach wie vor kann man das Gelände
14 Vgl. Peter Brook, Der leere Raum, 1964. 15 Vgl. Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 18–29, hier S. 24: »Die Metapher des Theaters als ›Kathedrale‹, ›Kirche‹ oder ›Kloster‹ taucht von Stanislawski und Appia über Craig und bis Copeau immer wieder auf. Wenn Mnouchkine von ›Heiligtum‹ oder ›Tempel‹ spricht, folgt sie der gleichen Richtung. Nur die Reinheit des Raums als ganzes erlaubt die Konzentration und fördert den Zugang zu einer Form.« Es handelt sich dabei um eine Form, die sich schließlich charakterisiert durch die Abwendung vom Naturalismus (und vom psychologisierenden Schauspielstil), durch das Bestreben einer Entliterarisierung und die Facetten, Theater als Fest in der Gemeinschaft (wie beim théâtre populaire), als Fest des Lebens (ähnlich der Debatte von Kunst und Leben) zu begreifen. So vereint die genannten ihre Visionen, ihre Suche und das Verständnis wie die Bedeutung des (Theater-) Raums mit Blick auf vergangene Theaterformen. Seien es Stanislawskis »Wahrheit« im Schauspiel, Appias Rückgriff auf Nietzsches Idee »Der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik«, Craigs antinaturalistische Stilbühne und Inszenierungen mit Rückgriff auf das englische Renaissancetheater, seien es Copeaus Ideen, mit seiner Truppe in der Bourgogne, den »Copiaus« (1925–1929), eine zeitgenössische Commedia zu finden, d. h. im Stil der Commedia all’improvviso zu spielen, oder Ariane Mnouchkines Orientierung an asiatischen Theaterformen und -masken sowie Anlehnung an das Théâtre de la foire. 16 Renate Klett, »Königin und Sphinx. Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil«, in: Theaterfrauen, S. 195–209, hier S. 197.
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durchstreifen und bestaunen. Allerdings gibt es inzwischen einen Shuttle von der Métrostation bis zum Eingangstor, durch das man direkt zum Theater gelangt. Geht man zu Fuß, so gelangt man zum oben erwähnten ersten Tor weiter westlich, vorbei an kulturellen Einrichtungen, die sich mit der Zeit hier angesiedelt haben, zu den Gebäuden des Théâtre du Soleil. Untergebracht sind hier Archiv, Büros und gegenüberliegend die Theaterkassen in märchenhaft anmutenden Wohnwägen. Poetisch gestaltete Hinweistafeln weisen den Weg. »Liberté, Égalité, Fraternité« prangt in großen Lettern über dem Eingang. Foyer und Aufführungshalle sind miteinander verbunden, die übrigen Gebäude des Theaterkomplexes reihen sich an: separate Hangars für Kostüm- und Maskenateliers und ein Probenraum. Insgesamt gibt es vier Hallen, drei von etwa gleicher Größe. Links des Eingangs befinden sich Verwaltung, Bühnenbildatelier und Küche. Die erste der drei miteinander verbundenen Hallen fungiert während der Vorstellungszeit als Foyer, die beiden anderen werden als Aufführungshalle genutzt.17
Einlass ins Théâtre du Soleil, über dem Tor die Parole der Französischen Revolution (Foto gcp) 17 Seym nennt die Maße: »Das Foyer und die Spielstätte beherbergen drei miteinander verbundene, insgesamt 55 x 44 m umfassende Hallen.« Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 156. Vgl. auch Marc Zitzmann, »Lebende Zeichen in Bewegung. Fünfzig Jahre Théâtre du Soleil«, in: Neue Zürcher Zeitung, 26.5.2014.
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Der Einlass in die Aufführungshalle
Durch einen Schriftzug mit dem Titel des jeweils aktuellen Stücks an der rohen Ziegelwand der größten Halle, die sich neben der doppelseitigen Tür der Eingangshalle des Theaters befindet, hebt sich dieser Komplex von den anderen Gebäuden im Gelände sichtbar ab. Die Halle(n) des Theaters sind stets der entsprechenden Aufführung, d. h. der aktuellen Inszenierung gewidmet: »Kaum kommt der Zuschauer vor dem Théâtre du Soleil an, entdeckt er auf den Mauern des Gebäudes den Titel des Stücks. Die dazu verwendete Farbe wird je nach dem behandelten Stoff ausgewählt.«18 Vor dieser Ziegelwand auf einer Bank oder direkt vor dem Hallentor oder in der Halle nebenan wird dann mehr oder weniger geduldig auf Einlass gewartet. Oft bilden sich Menschenschlangen bis weit ins Gelände hinein und breiten sich auf die Wiesen aus. Wer zu spät kommt, wird nicht mehr hereingelassen.19 Doch nicht nur die Türen der Hallen werden geschlossen, sondern auch die der Schauspielenden in einem metaphorischen Sinne – im Gegensatz zu Ariane Mnouchkine selbst, die immer durchlässig und offen bleibt. Es stimmt, dass ich auf gewisse Weise durchlässiger bin als sie [die Schauspieler_innen], weil ich mich öffnen kann. Für sie gibt es einen Moment – den ich nicht nur völlig dulde, sondern fordere –, jenen, in dem Türen und Fenster geschlossen werden: Es ist der Moment der Aufführung. Aber ich ersuche sie, jenseits der Aufführung diese Türen und Fenster erneut zu öffnen.20
Draußen befinden sich zwei Tafeln, eine für den côté cour, die andere für den côté jardin mit eingezeichneten Sitzplätzen und Abreißnummern. So kann sich jede und jeder Zusehende selbst eine Platzkarte wählen und in Ruhe anstellen, ohne zu drängeln. Von allen Plätzen aus hat man eine ausgezeichnete Sicht, die Reihen sind tribünenartig steil in die Höhe gezogen. Die Wahl besteht lediglich darin, sich für rechts oder links, außen oder Mitte, weiter unten oder weiter oben zu entscheiden, der Blick auf die Bühne ist stets frei. Die Pünktlichkeit bezieht sich 18 Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 18–29, hier S. 26. 19 Vgl. den Bericht von Josette Féral hinsichtlich der Regeln zur Pünktlichkeit für Schauspielende: Josette Féral, »Ein Lehrgang im Soleil: Ein ungewöhnlicher Theaterunterricht«, in: dies. (Hrsg.), Das Théâtre du Soleil, S. 37–43, hier S. 37–38: »Als ich am ersten Tag um zehn nach neun eintraf, hatte die Namenslesung schon seit neun Uhr begonnen. Der Saal der Cartoucherie ist so voll wie bei einer Vorstellung. […] Am Ende der Verlesung der zweihundertzwanzig Namen behält Mnouchkine die Zuspätgekommenen da, um sie abzukanzeln. Die erste Regel des Schauspielers sei Pünktlichkeit.« 20 Ariane Mnouchkine, »Teatro, mondo, utopia«, in: Silvia Bottiroli / Roberta Gandolfi, Un teatro attraversato dal mondo, S. 7–13, hier S. 9. (Orig. ital.: »È vero che in un certo modo sono più permeabile di loro [attori e attrici] perché posso aprirmi. Per loro, c’è un momento – che non solo ammetto completamente, ma richiedo – in cui chiudono porte e finestre: è il momento della rappresentazione. Ma chiedo loro che al di fuori della rappresentazione queste porte e finestre siano di nuovo aperte.«)
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so gesehen auf ein gemeinsames Agreement und nicht auf einen etwaigen individuellen Vorteil. Der Shuttlebus richtet sich nach dem Beginn der Vorstellung, sodass es hier zu keinen zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Und während die Gäste anreisen, bereiten die Gastgeber_innen alles vor, und zwar alle alles, wie Juliana Carneiro da Cunha, langjähriges Théâtre du Soleil-Mitglied, erzählt: »Um diese Reise zu machen, kommen wir schon frühzeitig ins Theater. Wenn das Stück zum Beispiel um halb acht beginnt, kommen wir um vier Uhr – oder um zwei Uhr, um andere Arbeiten wie putzen und so weiter zu erledigen.«21 »Es geht darum, den Ort für das Publikum vorzubereiten«, erzählt auch die Schauspielerin Myriam Azencot, »das heißt, die Toiletten zu säubern, unter Umständen in der Küche zu helfen, die Bar herzurichten, den Empfang vorzubereiten, die Sitzreihen in Ordnung zu bringen, die Bühne zu putzen, die Regieassistenz der Aufführung zu übernehmen.«22 Und es geht darum, einen Raum zu schaffen, der aus »Wärme«, »Wohlgefühl« und »Wonne« besteht. »›Findet Wärme‹, sagte Mnouchkine von Anfang an. Alles muß warm sein!«23 Oft ist Mnouchkine bis kurz vor Aufführungsbeginn damit beschäftigt, die Lampen auf den Tischen im Foyer richtig einzustellen, da sie findet, es fehle an Wärme. Und dies liege nicht nur daran, dass eine Leitung ausgefallen sei. Immer wieder wiederholt sie, wenn es ihr noch nicht warm genug ist: »Es ist kalt. Da fehlt noch Wärme.«24
Mnouchkine beim Einlass zu Macbeth 2015. Sie reißt die Tickets persönlich ab. (Foto gcp) 21 Juliana Carneiro da Cunha, »Eine festliche Stimmung«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 98–103, hier S. 102–103. 22 Myriam Azencot, »Ein Beruf für den Augenblick«, in: ebenda, S. 90–97, hier S. 93. 23 Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: ebenda, S. 18–29, hier S. 27. 24 Vgl. beispielsweise die Vorbereitungen zu Le Tartuffe im Film Au Soleil même la nuit von Éric Darmon & Catherine Vilpoux, Film AGAT Films & Cie. La Sept ARTE et le Théâtre du Soleil 1995. [TC 00:03:10 bis 00:03:50]
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Wenn schließlich alles zu ihrer Zufriedenheit ist, alle noch einmal kurz zusammengekommen sind, zwei, drei Worte gewechselt haben, dann spricht Mnouchkine den Satz: »Das Publikum tritt ein.«25 Daraufhin schreitet sie zum Tor und trommelt einen bestimmten Rhythmus auf die Innenseite, mehrmals hinter einander, um dann mit drei kräftigen Faustschlägen26 das Trommeln zu beenden und das Tor zu öffnen: Es ist eine Utopie. Wenn ich die Cartoucherie öffne, klopfe ich 3 Mal ans Tor und höre ein »Oh!« Dann mache ich auf. Und alle sind da. Fantastisch, dass ich heute an der Endstation Château de Vincennes das Tor öffne und alle da sind. Sie machen sich also die Mühe, nicht nach Hause, sondern ins Theater zu gehen.27
Mnouchkine begrüßt die Eintretenden einzeln, plaudert ein paar Worte mit ihnen und reißt die Karten ab, was längst legendär geworden ist. Sowohl Besucher_ innen, die zum ersten Mal kommen, als auch langjährige Fans stellen sich allein wegen dieser Begrüßung in Mnouchkines Reihe an, nicht in der Parallelreihe, die eine zweite Person betreut. Mnouchkine macht sich Gedanken um ihr Publikum und scheint auch noch nach Jahren aufgeregt zu sein, bevor sie die Menschen hereinkommen lässt: Sie gesteht, daß sie jeden Abend vor der Vorstellung zittert, wenn sie das Tor öffnet: »Ist alles der Erwartung des Publikums würdig? Man muß sich um das Publikum kümmern.« Dieser umfassende Raumbegriff wurde schließlich zu einem Identitätssiegel des Soleil, da »der Ort dem Publikum hilft, den Berg zu besteigen«.28
Während Ariane Mnouchkine an der Tür stehen bleibt und auf die letzten Gäste wartet, geht das Publikum über die Schwelle und geradewegs unter jenem Torbogen durch, auf dem »Liberté, Égalité, Fraternité« geschrieben steht. Nun öffnet sich ihm erstmals die Eingangshalle, das phantastische räumliche Gebilde des Théâtre du Soleil. Nachdem die Toiletten rechts und links passiert wurden, und »sobald der Zuschauer das Innere des Theaters betreten hat, erwarten ihn Unterlagen, Karten und Fotos, die beweisen, welche Bedeutung das Soleil dem Informa-
25 »Eine Truppe beginnt mit einem Traum«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 67. 26 Vgl. beispielsweise die Aufzeichnungen der Entstehung und Proben zu Le Tartuffe im Jahr 1994 / 1995, welche im Film Au Soleil même la nuit dokumentiert sind. Zu Beginn des Films finden sich Impressionen aus der Aufführungshalle, den Garderoben und der ersten Halle unmittelbar vor der Premiere. Es folgt das Klopfen von Mnouchkine auf der Innenseite des Eingangstors unmittelbar vor dem Öffnen. [TC 00:01:50 bis 00: 04:24] 27 Ariane Mnouchkine spricht im Original Französisch, dies ist eine Transkription der deutschen Untertitel im Dokumentationsfilm Ariane Mnouchkine – l’aventure du Théâtre du Soleil von Catherine Vilpoux, 2009. [TC 00:30:20 bis 00:31:00] 28 Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 18–29, hier S. 26.
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tionsmaterial beimißt«.29 Es gibt einen Büchertisch: Hefte, Bücher, DVDs, Plakate und Ansichtskarten von vergangenen Inszenierungen und zusätzliches Material, manchmal auch von anderen Autor_innen wie beispielsweise von Carmelo Bene30, das jedenfalls im Zusammenhang mit der aktuellen Aufführung steht und zu erschwinglichen Preisen erworben werden kann. Personen, die am Büchertisch vorbeigehen, gelangen zur Theke, wo sie beispielsweise Getränke, Brot und Suppe – gekocht wiederum nach Rezepten, die zu der jeweiligen Inszenierung passen – erstehen und an einem der großen runden Tische einnehmen können. Auch das Interieur der Halle wird dem aktuellen Stück angepasst, verweist darauf oder bietet zusätzliche Informationen, wie etwa bei der 50-Jahre-Jubiläumsaufführung von Macbeth, bei der sämtliche Plakate historischer Aufführungen an den Seitenwänden sowie ein Porträt von Shakespeare überdimensional groß an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand angebracht worden waren. In diesem Fall begrüßte unmittelbar nach Mnouchkine William Shakespeare die Gäste. Bei der Inszenierung des Stücks L’Indiade ou L’Inde de leurs rêves (Die Indias oder das Indien ihrer Träume; Anm. d. Übers. L.B.: Der frz. Titel spielt implizit auf Homers »Ilias« an, auf frz. »Iliade«), das die Autorin Hélène Cixous 1987 gemeinsam mit dem Théâtre du Soleil geschrieben hat, öffnet sich der Raum den Besucher_innen auf diese besondere Weise, so Andrea Löw: Typisch für das Théâtre du Soleil ist die vollständige Umgestaltung der Eingangshalle für jede seiner Produktionen. Die Erzählung beginnt somit bereits an der Tür, die Außenwelt bleibt davor ausgesperrt. Im Fall der L’ Indiade manifestiert sich diese Umgestaltung in Form vieler kleiner Karren und Lebensmittelstände mit indischen Spezialitäten sowie einer großen Landkarte von Indien, Pakistan, Bangladesh und ihren Nachbarländern an der Hinterseite der Eingangshalle.31
Wer in die nächste Halle weitergeht, wird dort – wie vor jeder Aufführung – Gelegenheit haben, den Schauspieler_innen beim Schminken und Ankleiden zuzusehen, sie bei ihrer (ersten) (Ver-) Wandlung vom Alltäglichen zum Außeralltäglichen32 zu beobachten. Auch dies hat sich inzwischen als Charakteristikum des Théâtre du Soleil etabliert. Die anfängliche Intention lag darin, eine Haltung und eine Gegenhaltung zum Ausdruck zu bringen. Die Vorbereitungen auf den Auftritt sollten nicht mehr hinter den Kulissen getroffen werden, sondern vor den 29 Ebenda. 30 So etwa war bei Macbeth im März 2015 auf dem Büchertisch auch eine Übersetzung ins Französische der gesammelten Werke von Carmelo Bene zu finden. Vermutlich einerseits, da auch Carmelo Bene sich eingehend mit Shakespeares Macbeth beschäftigt hatte, sowie andererseits, weil ein junges Theaterensemble auf dem Cartoucherie-Gelände, das Atelier de Paris Carolyn Carlson, zur selben Zeit Macbeth Kanaval aufführte und dabei auf Audiomaterial von Carmelo Benes Macbeth zurückgriff. Auch Ariane Mnouchkine sah sich am 28. Februar 2015 diese Vorstellung an. 31 Andrea Löw, Hélène Cixous und das Théâtre du Soleil, S. 64–65. 32 Vgl. Eugenio Barba, »Wiederkehrende Prinzipien«, in: Der sprechende Körper, S. 77–98.
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Augen des Publikums. Die Schauspieler_innen saßen um einen riesigen Tisch herum, schminkten und kleideten sich an, und die Gäste sahen ihnen dabei zu. Diese Erweiterung der Inszenierung gestaltete das Ereignis lebendiger, intensiver und leibhaftiger. Heute sitzen die Schauspieler_innen vor ihren Spiegeln unterhalb der Tribüne, ein Garderobenraum, den ein Gazevorhang abschirmt. Verschieden hohe Löcher im Vorhang laden die Gäste ein hindurchzublicken. Damals wie heute jedenfalls dient dies wohl weniger einem Illusionsbruch, wie ihn Brecht durch Verfremdungseffekte zu erzielen versuchte, u. a. indem den Zuschauer_innen das ostentative Herzeigen von Bühnenfiguren vorgeführt wird, sondern vielmehr einer Einführung des Publikums in die Schauspielpraxis. Auch wenn Banu es aus dem Geiste seiner Zeit auf Brecht zurückführt, bestätigt er doch die Bedeutung des »Ambientes«, das dadurch heraufbeschworen wird. An anderer Stelle erhebt er die Vorgehensweise zu einer Methode des Théâtre du Soleil schlechthin, der »ambientalen Methode«33. So können die Zuschauer im Soleil der Vorbereitung der Schauspieler beiwohnen, was auf Brecht zurückzuführen ist. Allerdings betrachtet das Publikum das Arbeitsambiente hier wie eine Landschaft mit Masken und Farben, Kostümen und Kopfbedeckungen. Es läßt sich von dem Recht auf Vertraulichkeit, das ihm die Truppe einräumt, ebenso faszinieren wie vom Reiz des »Vorthea tralischen«, dessen Zeuge es ist.34
Es gibt etliche Beispiele für detaillierte Beschreibungen dieser Situation unmittelbar vor einer Aufführung, die zugleich bereits Teil davon ist, dennoch nicht die Aufführung selbst darstellt (wie etwa im postdramatischen Theater). Auch in Mnouchkines Shakespeare-Zyklus zeigen sich die Schauspielenden bereits mit Beginn ihres (Ver-) Wandelns, wie Simone Seym festhält: Dem Kostümieren [Anm. d. A.: im Sinne von Ankleiden] und Schminken, Coiffieren und letztem Memorieren können die Zuschauer durch […] hängende Tuchbahnen [zuschauen]. Stück für Stück wächst das Kostüm zusammen, Strich für Strich und Farbe um Farbe entsteht die Maquillage [Anm. d. A.: im Sinne von Maske, nicht Schminke] und damit die sichtbare Transformation des Schauspielers in seine Kunstfigur. Die Maskenträger setzen ihre Masken behutsam auf. Der Prozeß des monatelangen Rollenaufbaus findet hierin im Zeitraffer seine symbolische Wiederholung.35
Das Hervorheben eines gemeinsamen Erlebens der Erschaffung von Figuren und ihrer (Theater-) Welten verweist bereits auf die Vorahnung eines gemeinsamen Zelebrierens, das sich in einem (Theater-) Fest mit Speis und Trank verfeinern kann. Dies geschieht verstärkt aufgrund der »ambientalen Einstellung«: Schminkende Schauspieler_innen und Büchertische, »diese Vorgehensweise [entspricht] 33 »Eine ambientale Methode« ist eine Zwischenüberschrift in: Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 18–29, hier S. 25. 34 Ebenda, S. 18–29, hier S. 25–26. 35 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 157.
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dem Wunsch, den Zuschauer in ein globales Umfeld zu versetzen. Diese ambientale Einstellung erklärt auch, warum es ein Buffet gibt, an dem sich das Publikum mit Speisen stärken kann, die aus der traditionellen Küche der jeweiligen, von der Aufführung behandelten Kultur stammen«,36 resümiert Banu. Und es sei darauf hingewiesen, dass es sich keinesfalls um ein kleines Buffet in einem Seitenfoyer handelt, bei dem man etwa zu überzogenen Preisen ein Glas Wein oder Wasser und ein Häppchen erhält. Vielmehr präsentiert sich das Buffet in der Eingangshalle und bestimmt den Charakter des Foyers zur Gänze. Es gibt Platz für alle, und Speisen und Getränke sind in ausreichend großer Menge vorhanden. So passen bei L’Âge d’or in Dorts Erinnerung »im ersten Saal […] die Nüchternheit des Raums, der (von den Schauspielern servierte) Rotwein und die Brötchen der Bar, die Andenken an 1789 und 1793, die Lenin- wie die Mao-Zitate gut zusammen«.37 In den Inszenierungen werden teilweise auch vorangegangene Aufführungen sichtbar gemacht, wie beispielsweise bei den erwähnten 1789 und 1793, indem durch Rückgriffe deutliche Bezüge hergestellt werden. Requisiten, Überbleibsel des Bühnenbildes, Kostümfragmente oder Textilreste aus eigenen oder anderen früheren Stücken kommen erneut zum Einsatz – gerade wie in einem Theaterfundus.38 Noch stärker hervorgehoben und zeitlich, wie bereits erwähnt, über die eigene Inszenierungsgeschichte hinaus verweisend, wurde dieses Bild bei der 50-JahrGeburtstagsinszenierung mit Macbeth. Schon in der Empfangshalle waren neben dem Shakespeare-Porträt und den historischen Plakaten auch Informationen zu historischen Macbeth-Inszenierungen zu finden. Selbst das Plakat des Théâtre du Soleil spielte mit historischen Hinweisen – war es doch nach der ersten bis dato aufgefundenen Abschrift des Stückes gestaltet. Eigens für das Théâtre du SoleilPlakat wurde der Titel des Stücks von Ariane Mnouchkine per Hand abgeschrie36 Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 18–29, hier S. 26. 37 Bernard Dort, »Zwischen Vergangenheit und Zukunft«, in: ebenda, S. 193–198, hier S. 193. 38 Vgl. Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: ebenda, S. 18–29, hier S. 24: »Dabei verwendet sie den unglaublich reichen Fundus des Soleil, als müßte man ausgehend vom fragmentarischen, abgenutzten, zerstückelten Alten immer Neues schaffen. Was bereits gedient hat, muß wiederverwertet werden. Das ist Mnouchkines Moral: Sie verwertet die Cartoucherie ebenso wieder wie sie die Schauspieler auffordert, alte Stoffe, nicht zusammenpassende Ärmel oder nicht mehr vollständige Hosen wieder zu verwenden.« Hinsichtlich des Zusammenhangs eines Theaterfundus und der Inszenierung historischer Stücke weiß schon der Portier in Jura Soyfers Stück Broadway-Melodie 1492 den Regisseur eines Avantgardetheaters aufzuklären: Jura Soyfer, »Broadway-Melodie 1492«, in: ders., Auf uns kommt’s an!. Szenen & Stücke, Werkausgabe Band II, hrsg.v. Horst Jarka, Wien / Frankfurt am Main: Deuticke 2002, S. 215–309, hier S. 220: »Alstern passen S’ auf: Für ein historisches Stück braucht man drei Dinge: an Fundus, a Traditiaun und a Subventiaun. Durch ’n Fundus entsteht die Traditiaun, durch die Traditiaun entsteht das Defizit, durch das Defizit entsteht die Subventiaun, durch die Subventiaun entsteht a neicher Fundus, durch’n neichen Fundus entsteht a neiche Traditiaun, a neiches Defizit, a neiche Subventiaun, und so weiter bis ins Metaphysische. Haben Sie mich verstanden?«
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ben und gedruckt. Hier präsentiert sich nicht nur der eigene Theaterfundus, sondern eine lange Tradition sämtlicher Theater (-Truppen) seit Shakespeare in einer kunstvollen Mischung der Schriftzüge von damals und heute.
Eine Anmerkung am Rande: Einlass auf Reisen, Wien
Ariane Mnouchkine geht es indes nicht nur um die historischen Referenzen, die sie berücksichtigt, sondern auch um räumliche und örtliche Dimensionen. Denn, »wenngleich das ›Théâtre du Soleil‹ […] selten [39] auf Tournee [geht], denn Mnouchkine hat nicht die Absicht, das Gesetz zu opfern, das sie sich zu eigen gemacht hat: das Gesetz des Theaters als einer Ganzheit, die Aufführung, Küche und Bibliothek mit einschließt«40, versucht sie, muss sie versuchen, ihre Cartoucherie – ihr Ambiente, um es mit Banu zu sagen –, auf Reisen mitzunehmen, wenn eine solche dann doch vorgesehen ist. Ob nun »Ambiente«, »Bibliothek«, »Fundus«, »Küche« – alles muss mit, muss eingepackt werden, wenn eine Tournee ansteht, wenn sich die Truppe als »ganzer Stamm«41 in Bewegung setzt. Mnouchkine behält auch die (Ver-) Wandlungen der Schauspieler_innen, ihr persönliches Umhergehen vor Beginn und in den Pausen der Aufführungen, das Essen und Trinken bei Gastspielen bei – bis hin zu einem Ende mit Festcharakter,42 der »gleichsam
39 Es ist nicht ersichtlich, welchen Maßstab Banu hier für die Wertung von »selten« setzt, denn es ist hinlänglich bekannt, dass das Théâtre du Soleil sehr wohl auf Tourneen geht und zahlreiche Gastspiele im deutschsprachigen Raum durchführt, sodass u. a. bei der Verleihung der Goethe-Medaille darauf verwiesen wurde. Vgl. www.goethe.de/resources/files/pdf25/1e1.pdf [06/07/2015] auf Deutsch unter www.goethe.de/resources/files/pdf25/1d2.pdf [05/02/2015] (Orig. engl.: »From 1971 onwards, numerous productions were shown in Germany, in cities such as Berlin, Munich and Essen. Through her life’s work, Ariane Mnouchkine has rendered outstanding services to international cultural relations, for which she is to be honoured with the Goethe Medal.« Goethe Institut: »Prize-winner: Ariane Mnouchkine founder and director of the ›Théâtre du Soleil‹«) 40 Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 18–29, hier S. 26. 41 In Anlehnung an Begrifflichkeiten aus der Ethnologie, die in der Theaterwissenschaft Eingang gefunden hatten (und vice versa), etablierten sich in den 1970er-Jahren im Zuge theaterethnologischer Studien ein dementsprechendes Vokabular sowie teilweise auch Methoden (intrinsische Studien, Feldforschung). Vgl. ebenda, S. 18–29, hier S. 26. 42 Zu »Theater und Fest« vgl. Miriam Haller, Das Fest der Zeichen. Schreibweisen des Festes im modernen Drama, 2002; Theater und Fest in Europa: Perspektiven von Identität und Gemeinschaft, 2012 (etwa den Beitrag von Katrin Kröll); sowie Paul Hugger, »Einleitung. Das Fest – Perspektiven einer Forschungsgeschichte«, in: ders. / Walter Burkert, Ernst Lichtenhahn (Hrsg.), Stadt und Fest. Zur Geschichte und Gegenwart europäischer Festkultur, S. 9–24. Zu den diversen Studien von Gerda Baumbach siehe insbesondere: »Zwischenruf von Fest und Theater«, in: dies., Schauspieler, Band 2, S. 222–230.
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als letzter Akt des Spektakels«43 gesehen werden kann, wie Ulf Birbaumer es beschreibt. Theater gedacht als Fest – einschließlich der Speisen und Getränke wie beim Théâtre de la foire (Pariser Jahrmarktstheater) – wird von einem Ort zum anderen transportiert. So reist dieses dem Théâtre du Soleil eigene Ambiente im Jahr 2012 zu den Wiener Festwochen44 für die Aufführung von Les Naufragés du Fol Espoir [Aurores] (Schiffbruch mit verrückter Hoffnung [Morgenröte]). Neben einem langen Büchertisch, betreut von den Schauspieler_innen, gab es auch in Wien eine Bar und eine umherwandelnde Mnouchkine, freundlich, unauffällig, leise und dennoch omnipräsent. Sie kam, sprach mit der einen oder dem anderen, verschwand fast unbemerkt, um kurze Zeit später neben den Ticketkontrolleur_innen der Wiener Festwochen wieder aufzutauchen, so wie sie es bei sich zu Hause zu tun pflegt. Entlang der Tribüne hatte man einen Gang eingerichtet, wo es vor der Aufführung die Möglichkeit gab, die gegenüberliegenden, offenen Garderoben anzuschauen und den Darsteller_innen zu begegnen. Auch Zuschauer_innen, die bereits ihre Plätze eingenommen hatten, kamen noch einmal neugierig herunter. Die Garderoben müssen zwar mit, werden aber nur manchmal in gewohnter Weise unter der Publikumstribüne angeordnet: Über ein Gastspiel des Tartuffe auf den Berliner Festwochen 1996, das ein Jahr zuvor für die Wiener Festwochen erarbeitet worden war, wird in einer Kritik auf den Hinterbühnenaufbau hingewiesen: […] die Bühne [besteht] aus einer steil aufragenden Tribüne, unter der die Theaterleute eine Art Zeltstadt errichtet haben. Jedem Schauspieler ist ein kleiner quadratischer Raum zugewiesen, den er sich ganz individuell herrichten kann für das immerhin zweiwöchige Gastspiel […]: ein irgendwie auch an Puppenstuben erinnerndes Refugium. Durch das sich die Zuschauer frei bewegen
43 Ulf Birbaumer, »Volkstheater und (soziales) Fest, Spektakuläre Theaterwelten 1974«, in: TRANS, Nr. 16 / August 2006 [07/02/2017] 44 Ariane Mnouchkine bei den Wiener Festwochen 2012 mit Théâtre du Soleil / Ariane Mnouchkine Les Naufragés du Fol Espoir [Aurores] / Schiffbruch mit verrückter Hoffnung [Morgenröte], Mai 2012, Messe Wien. Als Ariane Mnouchkine in den 1970er-Jahren zum ersten Mal nach Wien kam, kannte man sie noch nicht nicht. Sie war in das Dramatische Zentrum, eine alternative Ausbildungs-, Fortbildungs- und Kommunikationsstätte für Dramatiker_innen, Schauspieler_innen und alle am Theater Tätigen, eingeladen worden. Vom 15. bis 17. April 1975 gab es unter dem Titel »Theatergespräch Ariane Mnouchkine«, eine Vorführung der Filmaufzeichnung von 1789, einen Bericht über die Arbeit an L’Âge d’or (Das goldene Zeitalter) und eine Diskussion über das Théâtre du Soleil. Ulf Birbaumer erinnert sich an diese Veranstaltung im Dramatischen Zentrum im siebten Wiener Gemeindebezirk, die unter der Leitung und dem Verdienst von Horst Forester, der mit dem Zentrum den alternativen, linken und avantgardistischen Strömungen in Wien einen Platz gab, abgehalten wurde. (Gedächtnisprotokoll d. A. 15/02/2017) Vgl. dramatisches zentrum wien (Hrsg.), texte zur theaterarbeit, nr. 1 / Jahrgang 1975, S. 7. Vgl. zudem dramatisches zentrum wien (Hrsg.), texte zur theaterarbeit: das théâtre du soleil, beispiel kollektiver theaterarbeit, ein probenbericht von paul jenewein, nr. 4 / Jahrgang 1975; sowie Wiener Festwochen 1992 mit Les Atrides, 1995 mit Tartuffe und La Ville parjure und 2008 mit Les Ephemeres.
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und die Prinzipalin, welche gemessenen Schrittes durch ihr Reich flaniert, jederzeit ansprechen können.45
Das Wiener Festspiele-Publikum von Les Naufragés du Fol Espoir [Aurores] im Jahr 2012 schien ein solches Arrangement wie selbstverständlich erwartet zu haben und zückte Mobiltelefone oder digitale Kameras für das private Archiv, anstatt sich dieser dem Théâtre du Soleil eigenen »Atmosphäre«46 blind anzuvertrauen und darin einzutauchen. Bedenkt man, wie penibel Mnouchkine als Gastgeberin – und genau nicht als »mosca cocchiera«47 (Wichtigtuerin), wie sie sich selbst gern ironisch bezeichnet – darauf bedacht ist, dass alles gut geht und es allen gut geht, dass ihre Gäste sich wohlfühlen, so zeugt das Verhalten des Wiener Publikums nicht von Anerkennung oder respektvollem Umgang mit den Schauspielenden. Mnouchkine selbst achtet ohne Unterlass darauf, dass sich ihr Publikum weder vernachlässigt noch überwacht fühlen [darf]. Fotos und andere Aufnahmen sind verboten, so daß der Ort eine Art dem Schauspiel vorbehaltener Unterschlupf wird, der dem Theater den Mut verleiht, sich der Besitzergreifung durch die Medien zu widersetzen. Die Utopie des Théâtre du Soleil ist geschützt, und dieser Schutz betrifft sowohl die Schauspieler als auch das Publikum, die durch dasselbe Ambiente vereinigt sind.48
45 Herrmann Pitt, »Tartuffe_Ariane Mnouchkine«, in: Sonntagsnachrichten [1996] www.sn-herne. de/index.php?cmd=article&aid=7054 [24/04/2015]. 46 Vgl. FN 33 hinsichtlich der »ambientalen Methode« von George Banu; vgl. auch das Lemma »Atmosphäre« von Sabine Schouten in: Metzler Lexikon Theatertheorie, 2005. 47 Ariane Mnouchkine, »Teatro, mondo, utopia«, in: Silvia Bottiroli / Roberta Gandolfi, Un teatro attraversato dal mondo, S. 7–13, hier S. 9. »Ich hingegen spiele nicht, ich bin – wie ich es zu sagen liebe – ›wie die Fliege auf der Deichsel der Fabel‹, das heißt: ich achte darauf, dass alles gut läuft, vor allem mit dem Publikum.« (Orig. ital.: »Io al contrario non recito e faccio, come amo dire, ›la mosca cocchiera‹, cioé sorveglio che tutto vada bene, in particolare con il pubblico.«) Zu »mosca cocchiera«: Der Ausdruck »fare la mosca cocchiera« entspricht dem Italienischen »minacciare a vuoto« bzw »attribuirsi meriti che non si hanno« (Dampf plaudern, sich aufspielen bzw. sich mit fremden Federn schmücken). Er geht auf die Geschichte von La Fontaine zurück, die von einer Fliege (mosca) und einer Kutsche (cocchiera) handelt, deren Pferde nur mit Anstrengung einen Berg erklimmen. Oben angelangt, brüstet sich die Fliege, nur mit ihrer Hilfe und ihren Zurufen sei dies möglich gewesen: La Fontaine, »Le coche et la mouche« (Die Landkutsche und die Fliege). La Fontaine war begeisterter Leser des römischen Poeten Phaedrus (ital. Fedro), welcher wiederum der Autor der Geschichte »musca et mula« (Die Fliege und das Maultier) ist. Vgl. »fare una mosca cocchiera«, in: Dizionario dei modi di dire, dizionari.corriere.it/dizionario-modi-didire/M/mosca.shtml [13/10/2016], Die Fabeln der Antike. Griechisch Latein Deutsch, hrsg. und übersetzt von Harry C. Schnur, überarbeitet von Erich Keller, Düsseldorf/Zürich: Artemis und Winkler 1997, S. 207; sowie Jean de La Fontaine, »9. Die Landkutsche und die Fliege«, in: Lafontaines Fabeln – Kapitel 136 gutenberg.spiegel.de/buch/lafontaines-fabeln-8478/136 [13/10/2016] und Giovanni Andres, Dell’origine, progressi e stato attuale d’ogni letteratura, Parma 1782, S. 469. 48 Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 18–29, hier S. 27.
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In Wien 2012 legte das Publikum auf Mnouchkines Wunsch und Haltung jedoch keinen Wert, sondern zückte ungeniert die Fotoapparate. Möglicherweise lag das mit daran, dass die der Cartoucherie nachgebaute Situation, das Ambiente der Pariser Peripherie, in Wien einen Hauch von Musealität heraufbeschwor bzw. Eventcharakter zu haben schien. Doch auch hier waren die zentralen Aspekte der Feststimmung berücksichtigt worden, selbst die Peripherie wurde durch die Wahl des Messegeländes in dezentraler Lage angedeutet. Beim Gastspiel mit den Atriden 1992 trat das Théâtre du Soleil noch im Zentrum von Wien auf, im Messepalast, d. h. den ehemaligen Wiener Hofstallungen und dem heutigen Museumsquartier. Die Möglichkeit, sich zumindest auf eine Art Festcharakter einzulassen, war von Seiten der Theaterleute ansatzweise geschaffen worden. Wahrgenommen wurde dies aber nicht, denn ein mittlerweile arriviertes Wiener Festwochen-Publikum kam wohl vor allem, um die Mnouchkine zu sehen und nicht wirklich, um den Kosmos des Théâtre du Soleil zu erleben. Offenbar ist das Théâtre du Soleil aus der Cartoucherie nicht so leicht zu transferieren, als ob der Ort am Pariser Stadtrand von den Theatermitgliedern in einen Raum verwandelt wird, der weitere vielfältige Räume öffnet, dabei aber doch ortsgebunden, dem Ort verbunden bleibt.
Die Spielhalle und ihre Wandelbarkeit
Doch ob der Cartoucherie eine Kirchen- oder Bahnhofsatmosphäre49 oder etwas Mythisches50 zugesprochen wird, ob in musealen Anlagen und Hallen an der Peripherie oder in Stadtzentren bei Gastspielen – das Théâtre du Soleil fasziniert die Menschen, die es sehen. »Das theatralische Universum des Soleil hat solche Aussagekraft und solche szenische Stärke, daß es ganz offensichtlich bezaubert,«51 schreibt Josette Féral. Ort und Zeit werden außergewöhnlich, unbestimmbar. Der Raum, den die Cartoucherie bietet, lädt nicht nur zu einem Transfer ins Ausland ein, sondern auch die Theaterleute, ihn je nach Bedarf zu transformieren und Welten entstehen zu lassen, allein durch ein »Phantasie anregendes Ambiente«52. Für Mnouchkine ist genau diese Anregung zentrale Voraussetzung für die Kreativität der einzelnen Schauspielenden. »Für den Anfang gibt es: den Ort«, schreibt die Autorin Hélène Cixous. »Der Ort! Der Ort ist magisch. Wie wundervoll, ihn zu entdecken. Aus der Vision eines Ortes wird Arianes ganze Arbeit 49 Vgl. S. 21 hinsichtlich Bernard Dorts Ausführungen. 50 Vgl. S. 22 Renate Kletts Beschreibung. 51 Josette Féral, »Jedes Theater ist politisch«, in: dies. (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 165–178, hier S. 175. 52 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 156.
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entstehen.«53 Für Cixous ist der Ort etwas sehr Persönliches, »ein großer heiliger Schauspieler.«54 Mnouchkine versteht sich auf das (Aus-) Nutzen des leeren Raums55. In einem Interview mit der New York Times sagt sie, sie arbeite ausgehend vom Konzept des leeren Raums, liebe Reinheit und hasse Sparsamkeit. Sie glaube, dass Schauspielende einen prachtvollen, leeren Raum benötigen.56 Das Theatergelände und die zunächst komplett leeren Hallen der ehemaligen Munitionsfabrik sind eng verknüpft mit dem kreativen Potential der Schauspielenden und der kollektiven Arbeitsweise. Mnouchkine möchte »den Sinnen neue Nahrung geben, aber man muß auch aufräumen, die Bühne muß wie eine nackte Hand sein, die die Schauspieler vorstellt.«57 In den Hallen der Cartoucherie manifestiert sich das gemein-
Die Aufführungshalle des Théâtre du Soleil im Jahr 1970 (Foto Michel Maingois) 53 Hélène Cixous, »Das Theater tritt auf«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 108–119, hier S. 112. 54 Ebenda. 55 Vgl. Peter Brook, The Empty Space, 1968; Dt.: Der leere Raum, 1969, fotomechanischer Abdruck dieser Ausgabe erschien beim Alexander Verlag in Berlin 1994. 56 Vgl. Ariane Mnouchkine in: Anne Tremglay, »A French director gives Shakespeare a new look«, in: New York Times 10 June 1984, zit. n. Guy-Claude François, »Devising a new scenograhpy for each production«, in: Collaborative Theatre, S. 36–42, hier S. 36. (Orig. engl.: »Like Peter Brook, I work on the concept of the empty space […] I like purity, but I hate austerity. I think an actor needs a magnificent empty space.«) 57 »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 118.
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same Tun als Voraussetzung und Charakteristik ihrer Arbeit. Die Hallen um hüllen und schützen gewissermaßen das Herz des Théâtre du Soleil: das theatrale Geschehen und seine Akteur_innen. Als die Theaterleute die zuerst noch völlig unbeheizten riesigen Hallen zu erproben begannen, (er-) öffneten sie sich als geeignet für ihre Bedürfnisse und Anliegen – sowohl in ästhetischer als auch politischer Hinsicht. Nachdem die Hallen mit den Jahren zunehmend renoviert, adaptiert und ihren Aufgaben (Küche, Foyer, Aufführungshalle) gemäß gewidmet worden waren, blieb und bleibt bis heute noch immer für jede einzelne Inszenierung zunächst der leere Raum für das Erproben von Neuem. Somit ist das ehemalige Munitionsfabrikgelände seit dem Einzug der Truppe 1970 eine einzigartige, inspirierende Spiel- und Probestätte geblieben, die in allen Facetten und Nuancen immer wieder neu ausprobiert und bespielt wird. Die Grundfesten des Gebäudes wie des Leitmotivs indes sind seit Anbeginn dieselben. Die zum Theaterort umgestaltete, südöstlich von Paris im Wald von Vincennes gelegene Cartoucherie schafft von vornherein ein phantasieanregendes Ambiente. […] Das Théâtre du Soleil hat seit jeher mit großer Sorgfalt seinen theatralischen Raum gewählt und gestaltet. Die jeweilige Transformation der Spielstätte richtet sich dabei nach den formalen Notwendigkeiten des Stückes und der Inszenierung.58
Im Inneren der Aufführungshalle öffnet sich der große, hohe Raum59 gleichsam als Angebot an die Theaterleute, ihn stets nach ihren sowie des Stückes Belieben oder Notwendigkeiten und der jeweiligen Inszenierung anzupassen, zu füllen und zu bespielen. Diesbezüglich merkt der Bühnenbildner François an, jede einzelne Produktion weise ihren individuellen Charakter auf, und deshalb gebe es auch keine vorab festgelegten Kriterien für das Bühnenbild. So sei man an eine Produktion im Jahr 1973 zunächst noch mit fixeren Ideen herangegangen und habe sich eine multifunktionale Halle vorgestellt. Doch inzwischen, drei Jahre später, habe ein Umdenken stattgefunden und sich herauskristallisiert, dass jede Produktion ihre eigene Bühnenform verlange.60 Das entspricht der konsequenten Haltung Mnouchkines, die immer schon mit Vorliebe in unterschiedlichsten Räumen und Raumanordnungen gearbeitet hat, schon vor ihrer Zeit in der Cartoucherie. Für ihre erste eigene Inszenierung,
58 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 156. 59 Vgl. FN 17 hinsichtlich der Maße der Hallen. 60 Vgl. Guy-Claude François, »Devising a new scenograhpy for each production«, in: Collaborative Theatre, S. 36–42, hier S. 36. (Orig. engl.: »Every production possesses its own characteristics, and it’s precisely for that reason that we have no fixed criteria in terms of scenography. Only three years ago [1973], we had certain ideas, we wanted a multi-purpose hall. Now our thinking is rather that each production requires a different form of scenography, even (almost) a form of architecture.«)
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engis Khan 61 im Jahr 1961 mit der A.T.E.P., wählte Mnouchkine einen SpielG ort, »der zum einen jeden institutionellen Rahmen sprengt und zum anderen […] den Kontakt zu den Theatertraditionen sucht, die Theater als eine öffentliche Kunst, die im Freien stattfindet, verstehen«62. Schon diese Arbeit also offenbart ihre Zugangsweise, das Charakteristische ihres Theaterschaffens bis heute. Ihre Handschrift ist zu Beginn der Aufführung bereits erkennbar, ebenso ihr persönlicher Hintergrund, ihre Reisen, auf denen sie sich hat inspirieren lassen. Auch die entrées, die rhythmisch-choreographischen Auftritte der Bühnenfiguren, dieses spezifische Auf-die-Bühne-Kommen, das mit der Musik korrespondiert und von ihr unterstützt wird, verdanken dem chinesischen Theater viel. Diese entrées werden mit der Zeit zu einem der Charakteristika Mnouchkineschen Stils.63
Ein weiteres Beispiel aus Mnouchkines ersten Jahren ist die mit 1200 Ziegenfellen bis zur Hälfte der Ränge hinein ausgestaltete Bühne vor der lamellenbedeckten Wand als Hintergrund für Shakespeares Le songe d’une nuit d’été (Ein Sommernachtstraum), inszeniert 196864. Diese Lösung evozierte eine Lichtung im Wald, einen sanften Hügel, hinter dem das Meer leise zu rauschen schien, und die Zuschauenden wurden förmlich in die (Theater-) Welt der Feen hineingezogen. Im darauffolgenden Jahr wurde für Les Clowns 65 (Die Clowns) – die erste Kollektivarbeit der Gruppe – aus den Bühnenelementen des vorigen Stückes ein Laufsteg arrangiert, der ebenso weit in den Raum hineinführte und damit das Prinzip des Aufgreifens fortsetzte. Bei den Revolutionsstücken 178966 und 179367 wurden z. B. Simultanbühnen gebaut, Arenen oder auch Bühnen auf der Bühne. Mit dem Stück Mephisto 68 kehrte Mnouchkine zur Guckkastenbühne zurück,69 61 Gengis Khan wird in den Arènes de Lutèce (ehem. römisches Amphitheater im 5. Pariser Arrondissement) in der Nähe der Sorbonne aufgeführt. Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 25. 62 Ebenda. 63 Ebenda. 64 Le Songe d’une nuit d’été (Ein Sommernachtstraum) von Shakespeare, 1968, Adaption von Philippe Léotard. Zur Gestaltung des Bühnenbilds vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 60. Vgl. auch Béatrcie Picon-Vallin, Le Théâtre du Soleil, S. 26–30. 65 Les Clowns (Die Clowns) 1969, kollektive Theaterarbeit der Mitglieder des Théâtre du Soleil, aufgeführt im Theater Elysée-Montmartre in Paris und im Piccolo Teatro in Mailand. Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 66–70; und Béatrice Picon-Vallin, Le Théâtre du Soleil, S. 30–35. 66 1789 (1789) 1970–71, kollektive Theaterarbeit der Mitglieder des Théâtre du Soleil, zunächst aufgeführt im Piccolo Teatro in Mailand und danach in der Cartoucherie de Vincennes. 67 1793 (1793) 1972–73, kollektive Theaterarbeit der Mitglieder des Théâtre du Soleil. Vgl. z. B. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 82–91, und Béatrice Picon-Vallin, Le Théâtre du Soleil, S. 89–97. 68 Méphisto. Le Roman d’ une carrière (Mephisto, Roman einer Karriere) 1979–80, nach dem Roman von Klaus Mann. Gastspiele gingen nach Avignon, Tourcoing, Lyon, Rom, Berlin, München, Lons le Saulnier. 69 »Dieser Rückgriff erweist sich jedoch als Fehler, da er auf die Spieldynamik des Soleil eine lähmende Wirkung hat«, so Seym. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 54.
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u.a. wurde mit einer reich verzierten und bemalten Variante eines Portalrahmens gespielt. Zutreffender ist, hier von einer Frontalsituation zu sprechen, die sie bereits im Jahr davor bei L’Âge d’or ansatzweise ausprobierte. Banu beschreibt sie als »frontale Gruppierung der Zuschauer«, die sich wieder durchsetzte und bis heute erhalten ist, was sich in Mnouchkines textlastigen Shakespeare-Inszenierungen besonders deutlich abzeichnet. [Sie rehabilitierte] das Verhältnis, bei dem sich Schauspieler und Publikum gegenüber befinden. Das entspreche, wie sie erklärt, ihrem Wunsch, »die Augen der Schauspieler« zu sehen, die an die Rampe gehen, um sich an das nun wieder unbewegliche Publikum zu wenden.70
Die Schauspieler_innen in all ihren Facetten zu sehen – vor, während und nach der Vorstellung –, ist Mnouchkines großes Anliegen. Nichts soll im Dunkeln bleiben, und das ist hier keineswegs metaphorisch gemeint.71 Mnouchkines Bühnenanordnungen gehen schließlich so weit, dass ein in ein Stummfilmstudio umfunktionierter, fiktiver Dachboden auf der Bühne errichtet wird, für Les Naufragés du Fol Espoir [Aurores] 2010.72 Auch die Cartoucherie selbst wird in ein Filmgelände mit Studio(s) verwandelt, wenn Mnouchkine ihre Theaterinszenierungen verfilmt oder sie zu Filmen umarbeitet.73 Der Transfer von einer Theaterinszenierung zum Film, oder gar die Kombination aus Theater und Film, erfüllt zwei Anliegen des Théâtre du Soleil: das kollektive Bewusstsein eines gemeinsamen Arbeitsprozesses und die Annäherung an Geschichten und Figuren. »[B]eim Theater fühlt man sich als Teil einer Gemeinschaft. Beim Film, diesem Medium der Großaufnahmen, geht man ganz nah heran. Wir wollten beides haben.«74 Ein Beispiel für die Erfüllung dieser beiden Wünsche ist die Verfilmung von Les Naufragés du Fol Espoir [Aurores]. Bei der dem Film vo rangegangenen Theateraufführung nahm das Publikum auf einer Tribune direkt
70 Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 18–29, hier S. 25. 71 Vgl. S. 111 hinsichtlich der Bedeutung des Lichts für Mnouchkine. 72 »Guy-Claude François, Bühnengestalter des Théâtre du Soleil, äußerte sich dazu anläßlich von 1789 (aus dem Jahr 1970–71) folgendermaßen: ›nous pensons […] que chaque spectacle impose une forme de scénographie différente‹ (Copfermann, 1976, 23) / ›wir gehen davon aus […], daß eine jede Aufführung nach einer unterschiedlichen Bühnengestaltung verlangt‹.« Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 156, FN 8. 73 Der weit über Theaterkreise hinaus bekannte Film von Ariane Mnouchkine ist Molière aus dem Jahre 1978 mit Philippe Caubère in der Titelrolle; mittlerweile werden fast alle ihre Theaterproduktionen auch als Film unter ihrer Regie herausgebracht: 2013 Les Naufragés du Fol Espoir (Aurores), 2009 Les Ephémères, 2007 Un Soleil à Kaboul… ou plutôt deux, 2006 Le Dernier caravansérail, 2002 Tambours sur la digue, 1999 D’après La Ville parjure ou le réveil des Erinyes, 1997 Au Soleil même la nuit, 1989 La Nuit miraculeuse, 1978 Molière, 1974 1789; das Video 1789 war jahrelang vergriffen und ist 2017 neu als DVD erschienen. 74 Transkription des deutschen Voice-Over. Ariane Mnouchkine im Vorspann des Films von Le Dernier Caravansérail. Odyssées, 2006. [TC DVD I, 00:01:27 bis 00:01:44]
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gegenüber der Bühne Platz. Dies entspricht der Anforderung, allen Zusehenden die bestmögliche Sicht anzubieten. Gleichzeitig bereitet diese Sitzordnung schon auf die filmische Rezeption vor.
Eine Anmerkung am Ende: offene Tore und Türen für alle, politisches Engagement
Während das Théâtre du Soleil in Winterpause geht, öffnet es als Gastgeber_in seine Tore und Türen anderen Gruppen, Personen und Veranstaltungen. Wir haben unsere 306. und allerletzte Vorstellung des Fol Espoir in Taiwan gegeben. Unser Schiff liegt nun für einige Zeit am Kai. Um nicht zu sagen auf dem Trockendock. Ein Bauer würde sagen, eine Brachzeit ist unumgänglich. Ob Bauern oder Seeleute, wir werden tun, was zu tun ist, bis diese in künstlerischer wie in finanzieller Hinsicht wohltuende und notwendige Unterbrechung – die einigen lang erscheinen mag – unserer Truppe erlauben wird, heiter und fröhlich wieder mit den Proben zu beginnen. Wann? So bald wie möglich, das heißt für uns ab September. Das Soleil macht also Winterpause, schließt aber seine Tore nicht, ganz im Gegenteil. Es nimmt junge Neffen, Cousins, Töchter und Söhne aufnehmen [sic], und auch weniger junge Freunde. Manchen von ihnen sind Sie vielleicht bereits begegnet, und andere werden Sie entdecken.75
Geöffnet ist also immer – für geladene wie unerwartete Gäste und auch für »Schutzsuchende«.76 Dies stellen die Theaterleute seit Jahren unter Beweis, indem sie sowohl mit ihrer Arbeit als auch durch ihre Arbeitsweise politisches Engagement und Bewusstsein zeigen. Ein Grundsatz ihres Verständnisses von Kollektivität, die stets eine demokratische Haltung voraussetzt, ist seit Beginn ihres Bestehens deutlich: Unter dem Eindruck der Ereignisse im Mai 1968 spielte die Theatertruppe gratis für streikende Arbeiter von Citroën und Renault. Sie hatte sich nach Le Songe d’une nuit d’été dazu entschieden,77 das im Jahr zuvor erarbei75 Théâtre du Soleil, Brief am 11. Januar 2013, Paris. Das Théâtre du Soleil versendet nach wie vor bewusst in altmodisch haptischer Form Papiersendungen über seine Verteilerkreise, veröffentlicht diese anschließend in mehreren Sprachen auch auf der Website, hier Théâtre du Soleil unter www.theatre-du-soleil.fr/thsol/site-allemand/les-lettres-376/article/den-11-januar-2013-1617 [05/02/2014]. Seit 2018 gibt es eine umfassend neu gestaltete Site www.theatre-du-soleil.fr. 76 Angesichts der Veränderungen in Europa rücken auch der Mehrheitsgesellschaft flüchtende Personen zunehmend in ihr Blickfeld, und sie reagiert darauf mit Zivilcourage und Willkommenskultur – vgl. die Ereignisse ab Sommer 2015 an den europäischen Grenzen und darüber hinaus. Das Théâtre du Soleil mit künstlerischer Sensibilität und politischem Verständnis agierte schon Jahre zuvor in diesem geöffneten und offenen Sinne. Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Magari lo fosse stata – ›Le Dernier Caravansérail (Odyssées 2003)‹, creazione collettiva del Théâtre du Soleil«, in: Aspetti dell’ Ulissismo intelletuale dall’ Ottocento a oggi, S. 225–235. 77 Vgl. »Die letzten Vorstellungen des Sommernachtstraums sind eingerahmt von der hochexplosiven Stimmung des Mai 1968. Nach den Vorstellungen eilen die Schauspieler in die besetzte Sorbonne. Kurz vor ihrer Abreise auf Tournee nehmen die Schauspieler des Soleil an der Gene-
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tete Stück La Cuisine (Die Küche) von Arnold Wesker in den besetzten Fabriken aufzuführen. Die auf Pantomime basierende Inszenierung, dem Einfluss Jacques Lecoqs geschuldet, dessen Schülerin Mnouchkine war, präsentierte La Cuisine als sehr spezielle Arbeit: Mnouchkine selbst betont die dynamische und disziplinierte performative Ästhetik sowie die ausgezeichnete Orchestrierung der Bühnenaktion, wenn sie darüber spricht.78 Das Stück erzählt über Organisation und Struktur unmenschlicher Arbeitsbedingungen. Dies soll durchaus auch als ein Hinweis auf die Einstellung zu Arbeits- und Organisationsstil der Theatertruppe selbst gelesen werden, die sich genau von diesen Zuständen befreien will.79 Die von klirrendem Geräusch und Pantomime bestimmte und an Fließbandarbeit erinnernde Inszenierung war ein Publikums- und erster finanzieller Erfolg, so dass »die Mitglieder der Arbeitskooperative endlich bezahlt werden und sich somit ausschließlich dem Theater widmen«80 konnten. Sich für einen aktiven Streik zu entscheiden, entspricht ihrer Haltung, denn »das Soleil zieht den künstlerischen Weg der Solidarität einer verbalen aber passiven Unterstützung vor«81. Zudem bestätigt »die Begegnung mit der realen Arbeitswelt der Fabrikarbeiter […] die Mitglieder des Théâtre du Soleil in ihrem Wunsch, einen kollektiven Arbeitsstil zu entwickeln und ohne Starsystem auszukommen«82. Angesichts des zwar »hyperrealistischen Spiels«83, das aber keinen Zweifel an realistischen Assoziationen ließ, war das Stück den Arbeitern selbst allerdings – vom Solidaritätsakt abgesehen – keine willkommene Ablenkung oder Erleichterung. Ihrer Realität ins Auge zu sehen, ihr auf diese neue Art und Weise gegenüberzustehen, brachte ihnen bloß die Zuschreibung des »betroffendste[n] Publikum[s]«84 (sic) ein. Bevor das Théâtre du Soleil La Cuisine in bestreikten Fabriken spielte, fanden die Aufführungen im Cirque Montmartre statt – auch ein Ort, für den sich Mnouchralversammlung der Schauspieler im großen Amphitheater des Instituts für Kunst und Archäologie teil. Das Soleil erkennt die dort aufgeworfenen Fragestellungen als die ihren an, die sie seit Gründung der Kooperative sukzessive mit ihrer Arbeit zu lösen versuchen. Heiße Diskussionen entbrennen an der Frage, ob die Gruppe sich dem totalen Streik der Schauspieler anschließt oder den Weg eines aktiven Streiks wählt. […] die Mehrheit [ist] für den aktiven Streik. Von Mitte Mai bis Mitte Juni spielen sie in besetzten Fabriken der Provinz.« Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 62. Vgl. auch Mnouchkine im Gespräch in »Ariane Mnouchkine«, in: In contact with the Gods?, S. 175–190, hier S. 177. 78 Vgl. Mnouchkine im Gespräch in »Ariane Mnouchkine«, in: In contact with the Gods?, S. 175– 190, hier S. 177. (Orig. engl.: »in its dynamic and disciplined performative aesthetics and its exquisite orchestration of stage action«) 79 Vgl. Adrian Kiernander, Ariane Mnouchkine and the Théâtre du Soleil, S. 55. 80 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 56. 81 Ebenda. 82 Ebenda, S. 58. 83 Vgl. ebenda, S. 52. 84 Ebenda, S. 56.
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kine lange stark gemacht hatte. Generell wurden die ersten Théâtre du Soleil-Produktionen allesamt als brillant hinsichtlich der gewählten Spielorte beschrieben. Vom Anbeginn bis heute setzte und setzt sich die Gruppe politisch ungebrochen widerständig ein. Ob für Gefängnisinsassen in den 1970er-Jahren, für Vaclav Havel oder für argentinische Desaparecidos in den 1980er-Jahren, für vom Bürgerkrieg bedrohte algerische Künstler_innen oder in den 1990er-Jahren für Asylsuchende aus Mali, die in einer Pariser Kirche Zuflucht gesucht, aber nicht gewährt bekommen hatten und daraufhin vom Théâtre du Soleil aufgenommen wurden. Das Stück Et soudain, des nuits d’éveil (Und plötzlich Nächte des Erwachens)85 von 1997 spiegelt diese Erfahrungen wider, während Le dernier Caravansérail (Die letzte Karawanserei) von 2003 das Schicksal zentralasiatischer Asylsuchender als Sujet hat. Mnouchkine – selbst in einer russisch-englischen, jüdischen Emigrantenfamilie aufgewachsen, der Vater Filmproduzent, die Mutter Schauspielerin – wurde in Les Éphémères (Die Vergänglichen) von 2006 durch die szenische Umsetzung einzelner Episoden aus ihrer Biographie von den Ensemblemitgliedern überrascht. Anfang 2015, nach dem Anschlag auf die Redaktion Charlie Hebdo, nahm das Ensemble am Marsch der Republik in Paris teil, mit einer Trauer tragenden Stabbzw. Stockpuppe aus dem Stück 1789. Dieselbe war schon als La Justice (Justitia), weiß gekleidet, mit Schwert und Waage, auf Demonstrationen dabei gewesen, u. a. im Juni 2011 auf dem Syntagma Platz in Athen.86 In Paris nun nahm sie teil als La République (die Republik) mit schwarzer Armbinde und phrygischer Mütze.87 85 Vgl. Johannes Wetzel, »Ariane Mnouchkines neues Stück in Paris engagiert sich für Tibet. Asylspiele unterm Theaterdach«, in: Berliner Zeitung, 10.1.1998. 86 Es gab während des Marsches kleine szenische Einlagen durch herannahende schwar ze Vögel (ebenfalls Stabpuppen), die von der Figur Justice vertrieben wurden, eine Allegorie auf die drohende Pleite Griechenlands 2011 oder wie 2010 in Paris hinsichtlich der droh enden Pensionsreform. Siehe z. B. Aufnahme von 12. Oktober 2010 unter youtube.com/ watch?v=cqjbltL6B7Q [09/02/2017] sowie von 18. Juni 2011 unter youtube.com/watch?v tre du So leil =d1cqt4MHMjg [06/03/2016]. Vom 10. bis 11. Juni 2011 gastierte das Théâ mit Les Naufragés du Fol Espoir [Aurores] / Schiffbruch mit verrückter Hoffnung [Mor genröte] im »Metropolitan Expo« in Athen im Rahmen des Greek Festivals. La Justice (Justitia) und die herannahenden Vögel waren auch am 16. Juni 2020 bei der Manifestation des blouses insatz, siehe die Aufnahmen blanches (Demonstration der weißen Kittel) in Paris wieder im E des Théâtre du Soleil unter: www.theatre-du-soleil.fr/fr/guetteurs-tocsin/le-theatre-du-soleil-ala-manifestation-des-blouses-blanches-184 [14/08/2020]. 87 In der Inszenierung von 1789 im Jahr 1973 spielten Schauspieler_innen sowie Hand- und riesengroße Stabpuppen mit, um die unterschiedlichsten Spielebenen zu verdeutlichen. Eine der großen Figuren wurde später zur Justitia und ging durch die Pariser Straßen auf Demonstrationen, die im September und Oktober gegen die Pensionsreform durchgeführt wurden. Später ausgestattet mit ihrem Attribut der Waage, nahmen die Theaterleute sie am 18. Juni 2011 zur Demonstration nach Griechenland mit (siehe FN 86). Erneut auf die Straße kam die Stabpuppe am 12. Jänner 2015 in Paris beim großen Protestmarsch nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo,
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Auch in der künstlerischen Arbeitsweise zeigen sich das demokratische Grundprinzip und die politische Ambition des Théâtre du Soleil. Unter dem Einfluss der 1968er-Bewegung sind vorwiegend seitens junger Theaterleute die Créations collectives (kollektive Produktionen) als »Ausdruck neuen Denkens und als praktische Konsequenz des Mai 1968«88 entstanden. Bereits ein Jahr später in Les Clowns (1969) lassen sich erste Anzeichen dieser neuen Herangehensweise erkennen – wie z. B. das Arbeiten ohne feste Textgrundlage und Erarbeiten von Figurentypen aus Improvisationsübungen nach der Copeau-Tradition herauszuentwickeln (mit Commedia- und Clownstechniken), wodurch alle zu Autor_innen werden. Hier zeigen sich erneut eine Verbindung und Affinität zu Praktiken vor und jenseits der Literarisierung, verwandt den Ausdrucksformen des Théâtre de la foire. Die freie Rollendisposition wurde zum Credo erhoben. Somit konnten viele einzelne Geschichten revueartig erzählt werden. Später entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit der Autorin Hélène Cixous, die sich jahrelang bewährt hat und bis heute existiert. Sie zeichnet sich vor allem durch eben diesen kollektiven Schaffensprozess aus, wenngleich Cixous letztlich federführend ist. Auch für die Kostüme, das Bühnenbild, die Lichtregie und die Musik waren alle gemeinsam zuständig. Der musikalische Rahmen wurde zunehmend live gestaltet, basierend auf mit Jean-Jacques Lemêtre erarbeiteten Kompositionen. In der Inszenierung 1789 ist die Création collective bereits sehr weit fortgeschritten. Sowohl in der Erarbeitung als auch der Umsetzung kommen die neuen Denkstrukturen sowie die Suche nach neuen (angelehnt an jahrhundertealte) Spielweisen zum Ausdruck, und auch eine gemeinsame Geschichte gibt es, ein Mosaik, das sich aus vielen kleinen Geschichten zusammensetzt. Die Ereignisse der Revolution von 1789 bis 1794 sind im Bewusstsein der meisten Menschen in Frankreich durchaus verankert, doch das Théâtre du Soleil erzählt sie aus der Perspektive des Volkes und mit der dieser innewohnenden Vielstimmigkeit. Für die Inszenierung der Polyphonie kommen fünf Simultanbühnen nach Art des Théâtre de la foire zum Einsatz, was das Verhältnis zwischen Spielenden und Publikum eklatant verändert. Denn das Publikum kann und muss nun selber entscheiden, welchem Bühnengeschehen es zusehen will. Als Kunstgriff fungiert zusätzlich das Spiel von Theater im Theater: Die Bühnengeschichte wird von Komödiant_innen einer Jahrmarktstruppe erzählt. Hier erprobt das Théâtre du Soleil also bereits jenen Kunstgriff, den Mnouchkine in ihrem Film Molière (1978) eindrucksvoll weiterführt. diesmal ohne Waagschalen, dafür mit einer schwarzen Trauerschleife sowie einer phrygischen Mütze als La République (die Republik). Das Théâtre du Soleil transformierte La Justice in La République, so wie es die Schauspielenden beim Auffinden neuer Figuren, Rollen und Stimmen tun. Zum Selbstverständnis des Théatre du Soleil siehe auch deren Website zu Charlie Hebdo, www.theatre-du-soleil.fr/thsol/les-lettres/article/editorial-du-12-janvier-2015 [14/10/2016]. 88 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 66.
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Die ganze Vorstellung ist geprägt durch die Jahrmarktsatmosphäre, wozu die Hallen der Cartoucherie und das (Fest-) Essen ebenso beitragen wie tragende dynamische Elemente: Farce, Tableaux vivants, Theater im Theater, Erzähler_innenfigur, dazu Musik und Aspekte wie Parodistisches, Naives, Karikierendes, Aggressives. Historische Passagen sowie fiktionale Texte werden nicht nur von Menschen, sondern auch von übergroßen Marionetten89 und Handpuppen vorgeführt. Das im Kollektiv entstandene Revolutionsstück 1789 ist es schließlich auch, mit dem die Cartoucherie am 23. Dezember 1970 – damals noch in unbeheizten Räumen – eröffnet wird: ein bezeichnender, zeichnender Moment für das Théâtre du Soleil. 1974 wird 1789 abwechselnd mit dem Stück 1793 aufgeführt, drei Kameras schneiden jeweils mit. Mnouchkines Vater Alexandre unterstützt die junge Theatertruppe als Produzent.90 Programm, Stil und der fixe Standort sind damit gegründet, und bis heute gilt das auf die Steinmauern gepinselte Leitmotiv »Liberté, Égalité, Fraternité«. Es ist ein Zuhause für Mnouchkine und ihre Truppe, das Welten (er-) öffnet und zugleich ihnen und ihrem fragilen künstlerischen Schaffen Schutz gewährt.91
89 Dies soll Mnouchkine auch Kritik und Plagiatsvorwürfe eingebracht haben, die aber unberechtigt gewesen sein dürften, wie Seym mit Hinweis auf Peter Schumann und sein Bread and Puppet Theatre erläutert. Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 79. 90 Ihr Vater habe für sie das Kino verkörpert, erzählt Ariane Mnouchkine im Dokumentationsfilm, also habe sie das Kino ins Theater geholt. Sie bezieht sich dabei auf den Film Molière. Vgl. Dokumentationsfilm Ariane Mnouchkine – l’aventure du Théâtre du Soleil von Catherine Vilpoux, 2009 [TC 00:43:58 bis 00:45:57]. Die verfilmte Inszenierung von 1789 im Jahr 1974 wurde von Alexandre Mnouchkine und Georges Dancigers produziert und war als Video erhältlich. Im ORF wurde 1789 am 18. Jänner 1993 in »kunst-stücke« ausgestrahlt. (Archiv der Videothek des tfm, ebenso wie die CD-Neuauflage von 2017). 91 Vgl. Mnouchkine im Gespräch in »Ariane Mnouchkine«, in: In contact with the Gods?, S. 175– 190, hier S. 186. (Orig. engl.: »I have a small home here. It’s an island so we protect each other in a way, although we are very fragile sometimes.«)
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Kellerbühnen und große Häuser. Carmelo Bene Aus dem Süden kommend
Carmelo Bene (1937–2002) trat als Schauspieler, Regisseur und Autor in Personalunion immer im Zentrum und in bestehenden (sogenannten bürgerlichen Literatur-) Theater (-gebäuden) auf. Kurzzeitig war er auch als Filmemacher tätig.92 Vorwiegend und vorzugsweise spielte er in den Metropolen Italiens und in Frankreich93, wo er v. a. von Gilles Deleuze, Michel Foucault und Pierre Klossowski rezipiert und weitergedacht wurde. Er trat mit ihnen in Kontakt, pflegte einen regen Austausch und konnte so wiederum weiterführende Theaterprojekte realisieren.94 Um ihn zu sehen, sein Theater zu besuchen, war es zunächst für das (zumindest italienisch- und französischsprachige) Publikum nicht notwendig, einen längeren Weg an die Peripherie, einen noch unbekannten Weg einzuschlagen. Es musste sich lediglich am pulsierenden Zentrum orientieren. Schon als Kind war Bene täglich für alle sichtbar wie auf einer Bühne, denn er stand dem Priester als Ministrant beim morgendlichen (katholischen)
92 Carmelo Bene ist in all seinen künstlerischen Belangen als (Theater-) Schauspieler zu sehen, selbst wenn sein kurzes Filmschaffen durchaus auch von Cineast_innen als eigenständiges Werk rezipiert wird. Seine Filme entstanden zwischen 1968 und 1973, danach kehrte er wieder und endgültig auf die Theaterbühne zurück. Für das Initial-Interesse am Film war sein Part als Kreon in Pier Paolo Pasolinis Film Edipo Re (Edipo Re – Bett der Gewalt, König Ödipus) von 1967 ausschlaggebend. Vgl. FN 147, eine Auflistung sämtlicher Filme. 93 Im deutschsprachigen Raum war er nur einmal zu sehen: 1997 war Carmelo Bene im Hebbel Theater in Berlin mit Macbeth horror suite zu Gast, die angekündigte Aufführung im selben Jahr bei den Wiener Festwochen musste er kurzfristig aus Krankheitsgründen absagen. Vgl. Wien (OTS), »Wr. Festwochen-Macbeth-Horror Suite abgesagt«, Presseaussendung 25. April 1997; wesentlich öfter war er in Paris eingeladen: bereits 1977 mit Romeo e Giulietta, storia di Shakes peare secondo Carmelo Bene (Romeo und Julia von Shakespeare, nach Carmelo Bene) in der Opéra Comique – Opéra Studio. Diese Aufführung haben namhafte französische Philosophen besucht, u. a. soll es zu einer ersten Begegnung Benes mit Gilles Deleuze gekommen sein, aus der eine innige Zusammenarbeit erwuchs. Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Carmelo Bene – Histrione und ›non-attore‹ – auf Spurensuche im Hause Meyerhold«, in: Akteure und ihre Praktiken im Diskurs, S. 410–430, hier S. 421–422. Weiters war er im selben Jahr ebendort mit S.A.D.E. (S.A.D.E.), 1983 mit Macbeth (Macbeth) im Théâtre de Paris und 1996 mit Macbeth horror suite (Macbeth Horror Suite) im Odéon-Théâtre de l’Europe jeweils im Rahmen des Festival d’Automne à Paris (Herbstfestival in Paris) zu Gast. Vgl. Online-Archiv: Festival d’Automne à Paris www.festival-automne. com/archive [11/02/2017]; vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Carmelo Bene – ein Narziss auf der Bühne, einmal auch in Berlin«, in: Zibaldone, S. 33–42. 94 Vgl. Gianluca Pulsoni, »Cinema As Embodiment Art: Close Up on Carmelo Bene’s Cinema, Ten Years After His Death«, in: Experimental Conversations, Issue 9 / Summer 2012. (Orig. engl.: »recognised in France, thanks to philosophers such as Gilles Deleuze or Pierre Klossowski and their analysis of his theories and masterpieces«); vgl. Carmelo Bene und Gilles Deleuze, Sovrapposizioni, 1978.
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Carmelo Bene 1983 (Foto Vittorio La Verde)
ottesdienst in seinem Heimatort im »Sud del Sud«95 (im Süden des Südens), G einem kleinen Dorf namens Campi Salentina in Apulien im Salento, zur Seite. Währenddessen betrieb er seine eingehenden Beobachtungen des Priesters, des Verhaltens der Kirchengemeinde, der Liturgie, auf Hochzeiten, Taufen und beim Requiem. Er beobachtete das zeremonielle Geschehen und dessen Dramaturgie en détail.96 Zu Hause hörte er Radio (Fernsehen gab es noch nicht) und vor allem Opern. Mit seinen Eltern besuchte er das Teatro Margherita (Bari), das Teatro Politeama (Lecce), das Teatro Terme di Caracalla (Rom) und die Arena (Verona). Diese Jahre waren für sein späteres Theaterschaffen prägend. Die katholische Messerfahrung, insbesondere die agierende(n) Hauptperson(en), und die Oper, Musik und Schauspiel zugleich, wurden für sein Verständnis von Theaterereignis schlechthin sowie für sein künstlerisches Schaffen bestimmend – ebenso wie für seine Auffassung von Sprechtheater. Auch der Theaterwissenschafter Gaetano Biccari meint darin Ursprung und Stärke für ein neues und gegen das herkömmliche Sprechtheater zu erkennen. »Seine ersten Theatereindrücke kommen [aus95 Carmelo Bene, Sono apparso alla Madonna vie d’(h)eros(es), autobiografia, Postfazione die Piergiorgio Giacchè, Milano: Tascabili Bomiani 2005, S. 8. Erste Veröffentlichung (ohne Postfazione) Milano: Longanesi 1983. Ebenfalls abgedruckt in Carmelo Bene, Opere, con l’Autografia d’un ritratto, Milano: Bompiani 1995 (1996), S. 1049–1200. 96 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Carmelo Bene – Histrione und ›non-attore‹ – auf Spurensuche im Hause Meyerhold«, in: Akteure und ihre Praktiken im Diskurs, S. 410–430.
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schließlich] von der Oper, die seine Eltern bis hin zum Fanatismus lieben. Daher stammt wohl auch seine Aversion gegen das Sprechtheater, das er durch seine Arbeit am klanglichen Potential der Sprache revolutioniert hat.«97 Lange bevor Carmelo Benes Klang-, Sprach- und Stimmrevolten in der phonè (Phonè, griech.: φωνή (phoné), Phon, Klang) mündeten und er mit Echos experimentierte, übte er also kniend in den Kirchen in Campi Salentina oder in Lecce und hockte oder wütete als junger Mann in den Kellertheatern in Rom. Selbst wenn es in den ersten Jahren seiner Aktivitäten diese kleinen Theater im Souterrain waren, die er bespielte und auch gründete, so lagen sie doch im Herzen Italiens, in der Hauptstadt und stets zentral. Die Raumanordnung betreffend bevorzugte er Guckkastenbühnen, den Blick des Publikums nach vorne gerichtet wie in den ehrwürdigen Kirchenschiffen. Selbst im Laboratorium und dem Experiment verschriebenen Theater, Carmelo Benes erster Spielstätte98, war die Orientierung zentral angelegt, wenngleich er hier noch publikumsnah agierte. Es bestand aus »einer kleinen Kassa, einem Bogen (Durchgang) und einer Bühne […] fünf Meter Bühnenrahmen«99. Er verblieb also in einer strikten Anordnung von Agierenden und Rezipierenden und zog die Form der Guckkastenbühne jeder anderen Theaterstruktur vor, die Grenzüberschreitungen seitens des Publikums ermöglichen würde. Er behielt das autoritäre Gefüge der katholischen Messe bei und mochte vielleicht auch deshalb kurze Zeit Gefallen am Film gefunden haben – seinem Publikum wird der Platz zugewiesen, es bleibt außen vor. Bene bediente trotz wagemutiger (Ver-) Suche eine gewohnte und gewöhnliche Sehanordnung, wobei das, was zu sehen war, durchaus ungewohnt und ungewöhnlich war. Wohl aufgrund seines zu Beginn noch geringen Bekanntheitsgrades und des experimentellen Charakters seiner Aufführungen musste er sich zunächst mit den kleineren Bühnen begnügen, doch später bespielte er auch die großen – sein eigentliches Ziel waren die Bühnen der Teatri stabili (Feststehende Theater) in Bari, Bologna, Mailand, Palermo, Rom … In Rom verstarb er 2002. Seine Herkunft aus dem südlichsten Süden der Apenninhalbinsel wirkte nachhaltig auf sein Theater- und Kunstschaffen ein, sowohl auf die Intention als auch die Form und den Inhalt. Der Schritt aus dem vergleichsweise entschleunigten Süden hinaus in den schnelllebigeren Norden, von der Peripherie in die Landesmitte, vom Land in die Stadt, von der Kleinstadt in die Großstadt, vom Stadtrand ins Zentrum und schließlich von den Kellerbühnen in die großen Theaterhäuser spiegelte sich auch im Theaterraum selbst wider, indem es Bene vom Bühnen97 Gaetano Biccari, »Carmelo Bene (1937–2002). Skizze für ein Porträt«, in: AufBrüche. Theaterarbeit zwischen Text und Situation, S. 312–319, hier S. 313. 98 Vgl. FN 129 bezüglich ergänzender Ausführungen zu Benes Laboratorium. 99 Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 123; vgl. auch: Francesca Rachele Oppedisano, »Cristo 63«, in: Benedetto foto! Carmelo Bene visto da Claudia Abate, S. 38–43, hier S. 38. (Orig. ital.: »una piccola cassa, un arco e un palcoscenico […] cinque metri di boccascena«).
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Carmelo Bene im Odéon in Paris 1996, Interview zu Macbeth horror suite (Still aus Carmelo Bene à propos de sa conception du théâtre)
rand – er spielte anfänglich mit mehreren Schauspieler_innen – in die Bühnenmitte zog, in der er allein oder zu zweit agierte. Stets das Zentrum im Blickfeld zu haben, wirkte auch auf die Ästhetik seiner theatralen Umsetzungen ein. Die von ihm bewusst angestrebte Klimax hin zu einem (bürgerlichen) Zentrum in all seinen Dimensionen fand im Laufe seines Theaterschaffens im Fluchtpunkt einer barocken Perspektivbühne100 ihren finalen Exzess. Für gewöhnlich ist diese Bühnenform der Ausgangspunkt für revolutionäre Theaterhandlungen und gerade aufgrund ihrer zentralen Ausrichtung ein (kausal und materiell gesehen) guter Grund, sie zu verlassen. Für Bene jedoch war dieses Format vielmehr Ziel eines erneuerten Bespielens, und auch wenn er es vorher nicht verlassen musste: zerlegen und neu zusammenbauen musste er es schon. Den Fokus richtete er dabei auf den Schauspieler, wie schon als Kind auf den Priester, und damit letztlich auf sich selbst. Carmelo Bene waren die narzisstischen Betrachtungen gewidmet, auf ihm lag seine Konzentration.101 Er selbst stand im Mittelpunkt des theatralischen Geschehens, und die dazugehörige Theaterform war hoch reflexiv und auf höchstem Niveau philosophisch: Das Theater von Carmelo Bene ist ein grundlegend philosophisches Theater. Nicht in dem Sinne, dass es philosophisch scharfsinnige Situationen in Szene setzt, wie dies etwa beim Theater Sartres der Fall ist, oder jenem jüngeren [Beispiel] von Alain Badiou. Das Theater von Carmelo Bene ist philosophisch, weil es ein Theater des Denkens ist, ein durch und durch intellektuelles und 100 Vgl. Leonhard Schmeiser, Die Erfindung der Zentralperspektive und die Entstehung der neuzeit lichen Wissenschaft, 2002. 101 Eine verschriftlichte Manifestation fand diese selbstreflexive Beschäftigung in dem Titel des Buches La voce di Narciso und wohl auch darin, dass Bene keine Schule gründete, keine Workshops anbot, keine Schüler_innen hatte und nicht einmal ein Ensemble hinterließ.
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metaphysisches Theater: ein Theatrum Mundi nach barocker Manier, d. h. ein Theater, das nicht akzeptiert, auf die engen Grenzen des künstlerischen Begriffs »Theater« reduziert und erfasst zu werden. Das Theater von Carmelo Bene ist philosophisch, weil seine Sprache, seine Annahmen, seine Referenz und seine praktischen wie theoretischen Ausführungen philosophisch sind. (Über Carmelo Bene haben Deleuze und Klossowski geschrieben, und Carmelo Bene selbst hat in den letzten Jahren Deleuze und Derrida als die eigenen philosophischen Referenzen zitiert.)102
Benes Theater, in dem er als Schauspieler im Zentrum steht, ist (selbst-) reflektierendes Theater. Diese Positionierung entspricht einer der größten Theaterfiguren Shakespeares und einer der wichtigsten überhaupt, der sich Carmelo Bene sein ganzes Künstlerleben lang widmet: Hamlet. Wenngleich Bene die Kraft einer Spiegelung der Gesellschaft nicht interessierte, sah er sich doch als Autor, Schauspieler, Theatermann und Denkender (s)einem Hamlet gleich. Hamlet, eine Figur, an der sich europäische Theaterschaffende früher oder später gerne abarbeiten, besticht in seiner Interpretation des 20. Jahrhunderts: ein nicht-handelnder, junger Mann, grübelnd und melancholisch, ein ruheloser Geist, innerpsychisch aufgewühlt und rastlos.103 Gerade diese Theaterfigur ist es, mit der Bene seiner Meinung nach verschmilzt. Beatrice Barbalato nennt die Hamlet-Bene-Konstellation »leit-motiv« (sic): »Hamlet / Bene ist ein unzertrennliches Paar, das leit-motiv (Leitmotiv) des gesamten künstlerischen Lebens von Carmelo Bene«104. Bene selbst definiert sich als »Hamlet des 20. Jahrhunderts« schlechthin: »Mich«, schreibt er, »›definiert‹ der Hamlet des 20. Jahrhunderts.«105 Und ganz einer Hamlet-Interpretation gemäß ist auch Benes Leben der (Thea ter-) Kunst gewidmet, und sein Leben »(so) kurz«. … Ich müsste nur handeln, unterschreiben, töten, ihn ermorden! Ihn das Leben auskotzen lassen! Ich habe an Polonius geübt:
102 Edoardo Acotto, »L’impossibile teatrico. Carmelo Bene e la filosofia (appunti per una lezione alla Cattolica, 2005?)«, in: Filosofare stanca. Scritture quasi private, non prive di stanchezza, 27 marzo 2011 edoardoacotto.blogspot.it/2011/03/limpossibile-teatrico-carmelo-bene-e-la.html [15/10/2016]. (Orig. ital.: »Il teatro di Carmelo Bene è un teatro essenzialmente filosofico. Non nel senso che insceni situazioni filosoficamente pregnanti, come nel caso del teatro sartriano, o di quello, più recente, di Alain Badiou. Il teatro di Carmelo Bene è filosofico perché è un teatro di pensiero, un teatro intrinsecamente intellettualistico e metafisico: Theatrum mundi secondo la metafora barocca, vale a dire un teatro che non accetta di essere ridotto e contenuto entro i ristretti confini del genere artistico ›teatro‹. Il teatro di Carmelo Bene è filosofico perché sono filosofici il suo linguaggio, i suoi presupposti, i suoi riferimenti, i suoi esiti pratici e teorici. (Su Carmelo Bene hanno scritto Deleuze e Klossowski, e Carmelo Bene stesso negli ultimi tempi citava Deleuze e Derrida come propri riferimenti filosofici).«) 103 Vgl. »Lesarten« in: Hamlet Handbuch, S. 77–125; sowie Wolfram Ette, Kritik der Tragödie, S. 279. 104 Beatrice Barbalato, »Carmelo Bene come Amleto«, in: dies., Sul palco c’é l’autore, S. 17–42, hier S. 17. (Orig. ital.: »Amleto / Bene è un binomio indissolubile, il leit-motiv di tutta la vita artistica di Carmelo Bene«) 105 Carmelo Bene, Opere, S. 1351. (Orig. ital.: »mi ›definisce‹ Amleto del novecento«)
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er spionierte mir nach von hinter dem Wandteppich des »Massakers der Unschuldigen«! Alle gegen mich! und morgen wird es vielleicht Laertes sein und übermorgen Fortinbras, der Spanner! Handeln. Es ist notwendig, zu töten, Kate! … Oder von hier zu fliehen Oh! Fliehen, fliehen, fliehen! Freiheit, lieben, leben, träumen. Berühmt sein weit weg von hier! Oh geliebtes goldenes Mittelmaß Aber die Kunst ist so groß, und das Leben so kurz!106
Bene befasste sich über Jahrzehnte hinweg und in unterschiedlichsten Varianten und Variationen mit Shakespeares Hamlet. So begann er schon in seiner ersten Variation »von« (di) Shakespeare auf ein »nach« (da) Shakespeare (um-) zudenken und dabei Jules Laforgues Hamlet (mit-) zudenken. Der letzte Satz in obigem Zitat ist bereits Laforgues Prosatext entnommen, die Kunst sei groß und das Leben kurz.107 Dieses Motto begleitete Bene bis zur letzten Variante der Hamlet suite (Hamlet Suite) und wurde dem Einführungstext vorangestellt. Hamlet und die Kunst (des Schauspiels) stehen im Zentrum seines Schaffens, in dem wiederum er sich selbst sah – wie einst die weltlichen und geistlichen Fürsten: im Mittelpunkt des Geschehens. In den zentralperspektivischen [Bild-] Bühnen [...], die zu Beginn des 16. Jahrhunderts an den italienischen Fürstenhöfen zur Regel werden, erhält die beherrschend und verwandelnde Macht von Wissenschaft, Technik und Kunst ihren repräsentativen Ausdruck. Die etwa einhundertjährige Verspätung gegenüber der Malerei dürfte ihren Grund darin haben, daß die Projektion dieses im Zusammenwirken von Humanisten und Künstleringenieuren entstandenen Bildgebungsverfahrens in den Raum (der Bühne) alles andere als selbstverständlich oder »natürlich« war. Es bedurfte dazu der frühneuzeitlichen Höfe ihrer festlichen Aufführungen, die nur der Verherrlichung eines weltlichen oder geistlichen Fürsten dienten.108
So stellt auch Bene sich in den Mittelpunkt seines (Theater-) Geschehens in der Qualität des Schauspielers. Zwar mochte er sich vorerst nicht selbst verherrlichen, 106 Carmelo Bene, »Hamlet Suite. Versione-collage da Jules Laforgue«, in: ders., Opere, S. 1355– 1378, hier S. 1373. (Orig. ital.: »… Dovrei soltanto agire, firmare, uccidere, | ammazzarlo! Fargli vomitare la vita! | Mi son fatto la mano con Polonio: | mi stava spiando da dietro l’arazzo | della ›Strage degli innocenti‹! | Tutti contro di me! e domani magari sarà Laerte, | e dopodomani Fortebraccio, quel dirimpettaio! | Agire. Bisogna uccidere, Kate! … O evadere da qui! | Oh! Evadere, evadere, evadere! | Libertà, amare, vivere, sognare. | Esser celebri lontano da qui! | Oh cara aurea mediocritas! | Ma l’arte è tanto grande, | e la vita è così breve!«) 107 Vgl. Jules Laforgue, »Hamlet oder Die Folgen der Sohnestreue«, in: ders., Hamlet oder die Folgen der Sohnestreue und andere legendenhafte Moralitäten, S. 7–53, hier S. 37. 108 Hans-Christian von Hermann, Das Archiv der Bühne, S. 47. Zu einer Untersuchung des Zusammenhangs von Bühnenform und Wahrnehmung der italienischen Renaissance und des Barock vgl. Ulrike Hass, Das Drama des Sehens. Auge, Blick und Bühnenform, 2005.
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doch beschäftigte er sich mit dem Heraufbeschwören des Großen Schauspielers, des Histrionen und all seiner (vielleicht auch) verlorengegangenen (sur-) realen Qualitäten. Schon als junger Künstler, der die Schauspielschule nach ersten Erfahrungen abgelehnt und sie ohne Abschluss verlassen hatte, notierte er sich aus dem wichtigsten italienischen Lexikon des Risorgimento:109 Aus dem Wörterbuch der italienischen Sprache von Tommaseo-Bellini: Histrione und Strione m. Bühnendarsteller. Aus der etruskischen Sprache stammend überlebt diese Bezeichnung in der Mundart rund um Lucca, wo die Theatermenschen nicht anders genannt werden. Mit Sicherheit entnahmen die Römer ihre Art des Bühnenspiels sowie die Histrionen aus der Toskana […]. Die Komödianten bei den Latinern verdanken ihren Namen einem gewissen Histros, ein Toskaner und begnadeter Darsteller […]. Wenn der Histrione außer Takt gerät oder einen Vers kürzer oder länger vorträgt, so wird er ausgepfiffen […]. Da für die Histrionen die Darstellung und für die Tänzer die Posen nicht willkürliche sind […] Imperator Histricus, der Theaterprinzipal oder Ähnliches […].110
Carmelo Bene sollte sein gesamtes künstlerisches Schaffen dieser Suche des »Strionen«, des Histrionen, widmen – als wäre es Hamlet, der ewig Suchende und Unentschlossene, der hier Anweisungen für die Schauspieltruppe gibt. Hamlet kann als die (fiktive) Figur und gleichsam als Alter Ego für Bene gedacht werden. So war es Hamlet, den er mehrmals inszenierte oder vielmehr »aus der Szene nahm« (»togliere di scena«111), den er in Variationen durch alle ihm zu Verfügung stehenden Mittel durchjagte, die ihn reizten.112 In der Tat kann allein am Beispiel von Amleto (Hamlet) und seinen Versionen und daraus folgenden Variationen Carmelo Benes Theaterschaffen eingehend beschrieben werden: die Konzentration auf den Schauspieler, das Spielen im Sinne von agieren (lat. agere / ital. agire), das Spielen im Sinne von »sprechen, plädieren 109 Carmelo Bene, »Due passi a casa Meyerhold«, in: ders., La voce di Narciso, S. 47–51, hier S. 49. 110 Gabriele C. Pfeiffer (gem. m. Lorenza Castellan): »Due passi in casa Meyerhold von Carmelo Bene. Versuch einer Übersetzung des Textes«, in: Akteure und ihre Praktiken im Diskurs, S. 431– 438, hier S. 433. 111 Vgl. Carmelo Bene: »Mein Metier ist es und wird es stets sein, aus der Szene zu nehmen. | Ich weiß nicht, wie man ›in-szeniert‹. Man sagt zum Requisiteur gewöhnlicherweise aus der Umkleide heraus: ›Hast du es auf die Bühne gebracht?‹ Also, eine wahre Aufgabe für einen Requisiteur […]« (Orig. ital.: »Il mio mestiere è e sempre sarà quello di togliere di scena. | Io non so ›mettere in scena‹. Si dice al ›trovarobe‹, di solito dal camerino: ›Hai messo in scena?‹ Ecco, un compito davvero da trovarobe […]«) Carmelo Bene, Sono apparso alle Madonna, S. 72. 112 Zu diversen Variationen von Hamlet vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »›One Hamlet Less‹ & Others. Carmelo Bene’s Variations«, in: Hamlet – Transfer, S. 37–43. In chronologischer Reihenfolge sieht dies wie folgt aus: 1961 Amleto di Shakespeare (Teatro Laboratorio in Rom); 1967 Amleto o le consequenzes della pietà filiale da William Shakespeare e Jules Laforgue (Teatro Beat 72 in Rom); 1973 Un Amleto di meno (Film); 1975 Amleto da William Shakespeare e Jules Laforgue (Teatro Metastasio in Prato sowie als Videotheater 1974 und im R adio 1978); 1987 Hommelette for Hamlet, operetta inqualificabile da Jules Laforgue (Teatro Piccinni Bari sowie als Videotheater 1987); 1994 Hamlet Suite (Teatro Romano in Verona und im Radio/CD).
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und nicht von handeln« [Anm. d. Übers.: von verhandeln und nicht von handeln] (»agere, perorare e non da ›agire‹«113), die Wandlungen, Variationen, die Entwicklung vom Theater zum Film und zurück zum Theater, das Wenigerwerden, das Am-Puls-sein, das Videotheater und die Umsetzungen fürs Radio sowie die Herausbildung der Phonè, bis schließlich nur mehr (seine) Stimme bleiben wird.
Aus dem Kellertheater und dem Laboratorium
Carmelo Benes erste (Theater-) Aufführungen fanden schon in Rom, aber noch auf Bühnen in Kellern statt, im Zuge der wilden 1960er-Jahre, die sich zunehmend als Ausgangspunkt seiner weit über diese Dekade hinausreichenden wilden Jahre herauskristallisieren würden. Seine ersten Arbeiten wurden vorwiegend als Skandal interpretiert und rezipiert. Bereits sein offizielles Debüt 1959 als und in Caligola (Caligula) von Albert Camus unter der Regie von Alberto Ruggiero, für das Bene bei der Wiederaufnahme, d. h. einer weiteren Version nach zwei Jahren, nicht mehr nur Protagonist, sondern auch Regisseur war, schlug ihm Entrüstung seitens Kritik einerseits und Respekt seitens Kolleg_innen andererseits entgegen:114 eine Ambivalenz, die ihn über Jahrzehnte hinweg begleitete. Ab nun Regisseur und Schauspieler in Personalunion, erlangten Benes Aufführungen und Auftritte auch durch Skandalmeldungen und Anekdoten ihren Bekanntheitsgrad. Der Wahrheitsgehalt dieser Geschichten ist freilich ohne Gewähr. So erlangte beispielsweise die Geschichte um den auf einen Botschafter urinierenden Carmelo Bene über die Boulevardpresse Eingang in italienische und sogar englischsprachige Theater- und Literaturgeschichtsbücher115, obwohl sie nicht im 113 Vgl. Andrea Pesce, »Carmelo Bene«, in: www.FILOSOFICO.net | La filosofia e i suoi eroi, www. filosofico.net/carmelobene.htm [07/01/2016]: »Aus diesem Grund, durch diese Epoche der Aktion, die durch die unbewusste Handlung sublimiert wird, sieht er den Nachweis, dass das Etymon des Wortes ›attore‹ (›Akteur‹) verwechselt wurde. Bene behauptet nämlich, dass ›attore‹ vom Verb agere, perorare, sprechen/plädieren herkommt und nicht von ›agire‹, agieren, unendlich weit weg von dem Hantieren der Darsteller vieler Aktionsfilme; os oris, rhetorischer/sprechender Akt, denn wie von Lacan postuliert, ›die Rede ist nicht das sprechende Wesen‹.« (Orig. ital.: »Per questo motivo, per questa epochè dell’azione, sublimata dall’atto inconsapevole, egli sostiene che della parola ›attore‹ si sia confuso l’etimo. Bene afferma infatti che ›attore‹ deriva dal verbo agere, perorare e non da ›agire‹, immensamente distante dallo sfaccendare dei protagonisti di molte pellicole d’azione; os oris, atto-retorico in quanto, come voleva Lacan, ›il discorso non è l’essere parlante‹.«); vgl. auch Cosetta G. Saba, Carmelo Bene, S. 12, die sich auf Piergiorgio Giacchès Ausführungen bezieht. 114 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, S. 14–19. 115 Vgl. als Beispiel für einen italienischsprachigen Eintrag: Piergiorgio Giacchè, »Bene, Carmelo«, in: Dizionario biografico, abrufbar unter Treccani.it www.treccani.it/enciclopedia/carmelobene_%28Dizionario-Biografico%29/ [20/11/2014]; als Beispiel für einen englischsprachigen
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Geringsten den Tatsachen entspricht. Dennoch zog sie eine immer wiederkehrende Narration über den Bürgerschreck Bene nach sich und umgab ihn zudem mit einer Aura des Verruchten, die weltweit ausstrahlte. Denn so sehr sein Wirken auf Italien und Frankreich konzentriert blieb, so nachhaltig ist seine Wirkung bis in den angloamerikanischen Raum hinein, wo er in den Nachrufen als Enfant terrible des italienischen Theaters (und Kinos) bezeichnet wurde. Obwohl er vielmehr noch als Schauspieler-Regisseur-Schriftsteller oder als Theaterkünstler zu sehen ist, wird er als literarisches Phänomen116 wahrgenommen. Zugetragen hatte sich die der Erzählung vorangehende Begebenheit während einer seiner ersten Aufführungen, Cristo 63117, die James Joyce gewidmet war.118 Sie war eher als Aktion angelegt und wies Happening-Charakter auf. Die Handlung, vielmehr der textliche Ablauf war von Carmelo Bene, Giuseppe Lenti und Alberto Greco zusammengestellt worden und stützte sich auf Textstellen aus Ulysses und Werke von Jean Genet. Das Bühnengeschehen sollte sich aus sich heraus entwickeln, durch freie Improvisation der Schauspielenden, nach dem Motto »Arte Vivo« von Greco.119 Der argentinische Maler Alberto Greco sorgte durch sein Mitwirken wohl für Prominenz im Publikum. Er war in der Rolle des Apostels Johannes zu sehen, während Carmelo Bene den Part des Christus übernommen hatte und kopfüber – das Gesicht dem Publikum zugewandt – an einem Kreuz auf dem Boden der Bühne zum Liegen kam. Dies allein wurde im erzkatholischen Italien der 1960er-Jahre bereits als Blasphemie interpretiert. Während Bene also eher mehr als weniger unbeweglich im Hintergrund agierte, urinierte Greco – provoziert durch die besondere Stimmung und Dynamik des Abends und unter Einfluss
Eintrag: Joseph Farrell, »Carmelo Bene«, in: Encyclopedia of Italian Literary Studies, Band 1, S. 168–171, hier S. 169. 116 Vgl. John Francis Lane, »Carmelo Bene. Actor and writer whose iconoclasm shocked Italy«, in: The Guardian, Monday 18 March 2002. (Orig. engl.: »The enfant terrible of Italian stage and screen, actor-director-writer Carmelo Bene […] of being a theatrical artist who also became a literary phenomenon.«); vgl. auch N.L, »Eccentric and Visionary, the Films of Carmelo Bene«, 25. April 2012, in: i-Italy, www.iitaly.org/24707/eccentric-and-visionary-films-carmelo-bene [07/07/2014] (Orig. engl.: »The enfant terrible of Italian stage and screen, Bene […]«) 117 Cristo 63, Regie und Protagonist Carmelo Bene, Teatro Laboratorio 1963. 118 Vgl. Francesca Rachele Oppedisano, »Cristo 63«, in: Benedetto foto! Carmelo Bene visto da Claudia Abate, S. 38–43, hier S. 38: Texte, auf denen die Aufführung basiert, sind vorwiegend ein paar »schöne Ausschnitte aus Ulysses von James Joyce« sowie »skurrile Textstellen« von Jean Genet: (Orig. ital.: »alcune belle pagine dell’Ulisse die James Joyce e […] altre piuttosto scurrili del romanziere francese Genet«) Vgl. auch Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, Kapitel: Il Laboratorio, S. 123–135 sowie Stefania Chinzari, »Carmelo. Il’ incomprensibile«, in: Panta. Carmelo Bene, S. 325–329. 119 Vgl. Francesca Rachele Oppedisano, »Cristo 63«, in: Benedetto foto! Carmelo Bene visto da Claudia Abate, S. 38–43. Sie beruft sich hier auf das Plakat von Cristo 63 in: Panta. Carmelo Bene, S. 324.
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von Alkohol – vom Bühnenrand hinunter in die erste Reihe und traf ausgerechnet den argentinischen Botschafter, der mit Gattin und Kulturattaché anwesend war.120 Die Legende des Abends aber schreibt diese Aktion oder zumindest die Verantwortung dafür Carmelo Bene zu, wenngleich das räumlich gesehen gar nicht möglich gewesen wäre. Und obwohl Bene die fälschliche Verbreitung des Hergangs mehrfach aufklärte, bleibt die Fama unumstößlich. Ich wurde von diesen Taten gänzlich freigesprochen. Alles Tatsachen, die im Archiv des Gerichts zu finden sind. Trotz der wiederholten Mahnungen meinerseits, die die Journalisten ignorieren. Es gibt nichts, das einen Gemeinplatz bewegen könnte, wenn es eine journalistische Anekdote wird. Diese Piss-Aktion wird mein Leben lang an mir heften bleiben.121
Erwiesen bleibt von allen beteiligten Seiten zum einen, dass der »etwas paralysierte Botschafter Argentiniens die Vorstellung [verließ]: Er war beschmiert mit Speiseresten und Urin.«122 Zum zweiten ist ebenso unbestreitbar, dass in weiterer Folge das Laboratorium geschlossen und Carmelo Bene zum Antichrist erklärt wurde. Cristo 63 ist die letzte Aufführung in diesem Keller gewesen. Der Theateranthropologe und Bene-Spezialist Piergiorgio Giacchè fasst in seinem Beitrag im italienischen Biographischen Lexikon Treccani die Ereignisse zusammen und betont – ungeachtet der Tatsachen – den historischen Wert des »ersten großen Skandals« durch die Theaterarbeiten Carmelo Benes. In jedem Fall sei hier Benes eigentliches Anliegen zu erkennen, das in der Zerstörung des (herkömmlichen Literatur-) Theaters zu begreifen ist: Es lohnt sich, auch Cristo 63 zu zitieren, in dem Sinne es der erste »Skandal« einer Aufführung war, was ihm schließlich den Ruf eines unberechenbaren und unverbesserlichen Provokateurs einbringen sollte. Zudem war es – um einiges früher als sein Kinoerfolg und seine Auftritte im Fernsehen – ein vorteilhaftes Vergehen, insofern es die »Persönlichkeit Carmelo Bene« entwarf, und zwar jenseits seines Rufs als Künstler. Im Speziellen nach der Legende des Schauspielers, der ins Gesicht eines Kritikers uriniert hätte und dann geradewegs die Geste bei anderen Gelegenheiten nachstellte, ist die Frage umstritten: Bene bestätigt zwar die Episode als wahr, bestreitet jedoch, der Verantwortliche der Geste zu sein. Generell jedoch kann man die Bedeutung des Skandals – eines jeden Anlass zum Skandal – für seine Konsequenzen auf Sichtbarkeit und Wirksamkeit der von ihm verkörperten öffentlichen und später medienwirksamen Persönlichkeit nicht leugnen.123 120 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, S. 22; sowie ebenda FN 34 mit dem Hinweis auf Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 131–133. 121 Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 133–134 (auch zitiert in: Francesca Rachele Oppedisano, Cristo 63, in: Benedetto foto! Carmelo Bene visto da Claudia Abate, S. 38–43. (Orig. ital.: »Io fui assolto per essere estraneo ai fatti. Formula piena. Tutte cose che risultano negli archivi del tribunale. Malgrado le mie diffide, che i giornalisti si ostinano a ignorare. Non c’è niente che possa smuovere il luogo comune quando diventa aneddoto giornalistico. Quel pissing mi resterà adosso tutta la vita.«) 122 Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, S. 22. 123 Piergiorgio Giacchè, »Bene, Carmelo«, in: Dizionario biografico, abrufbar unter Treccani.it www. treccani.it/enciclopedia/carmelo-bene_%28Dizionario-Biografico%29/. [20/11/2014] (Orig. ital.:
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In dieser wilden Zeit hat Bene erste Stücke fürs Theater geschrieben. Er entpuppte sich somit nicht nur als attore-autore (Schauspieler-Autor), sondern auch als scrittore (Schriftsteller) – ebenso wie Hamlet. Er erschuf sich als Theatermensch durch und durch, wobei er jedoch immer als Schauspieler, als Histrione zu verstehen ist. Dies gilt auch für seine beiden Romane, was wiederum außerhalb Italiens in Frankreich und im angloamerikanischen Raum wahrgenommen wurde.124 Giacchè sieht in diesen ersten Prosaarbeiten Beweise für Benes literarisches Talent sowie frühe Hinweise auf sein Theaterverständnis und spätere Bühnenumsetzungen. In dieser Zeit schrieb er ein erstes Stück für das Theater (Pinocchio Manon e Proposte per il teatro, Milano 1964) und veröffentlichte seine beiden einzigen Romane: Nostra Signora dei Turchi (ibid. 1966) e Credito italiano. V.E.R.D.I. (ibid. 1967), zwei literarische Werke, die vieles vorwegnahmen, was in seinem Theater später vorkommen bzw. diesem nützlich sein würde.125
Benes spätere intensive Beschäftigung, d. h. Aus-ein-ander-Setzung mit Theater im wahrsten Sinne des Wortes, die von vielen kritischen Stimmen als massakrierte Klassikerinszenierungen ausgelegt wurden, ist also bereits früh angelegt. Mit jeder neuen Version, die dem entspricht, was Deleuze als Variation beschreibt,126 rückt Bene der großen Literaturbühne näher und zerstört sie und sich selber als Schauspieler gleichermaßen; insbesondere indem er sich in den 1980er-Jahren
»Conviene citare anche Cristo 63 in quanto fu lo spettacolo di un primo ›scandalo‹ che dette origine alla sua fama di imprevedibile e irriducibile provocatore e – molto prima della fortuna del suo cinema e della frequenza delle sue apparizioni televisive – ebbe il vantaggioso demerito di lanciare il ›personaggio Carmelo Bene‹ oltre la fama dell’artista. In particolare, sulla leggenda dell’attore che avrebbe orinato in faccia a un critico e poi addirittura replicato il gesto in altre occasioni, la questione è controversa: Bene, pur riconoscendo vero l’episodio, ha negato di essere l’autore del gesto. In generale però non si può non tener conto dell’importanza dello scandalo – di ogni occasione di scandalo – per le sue conseguenze sulla vistosità e l’efficacia del personaggio pubblico e poi mediatico da lui impersonato.«) 124 Vgl. John Francis Lane, »Carmelo Bene. Actor and writer whose iconoclasm shocked Italy«, in: The Guardian, Monday 18 March 2002. (Orig. engl.: »Though most of his writings were for the theatre and cinema, he also published several novels and two autobiographies – one [schon zu einer fortgeschritteneren Zeit seiner Schaffensperiode] in 1983 entitled, somewhat brazenly, Sono apparso alla Madonna (I Appeared to The Madonna).«); vgl. auch N.L, »Eccentric and Visionary, the Films of Carmelo Bene«, 25 April 2012, in: i-Italy, www.iitaly.org/24707/eccentric-and-visionary-films-carmelo-bene [07/07/2014]. 125 Piergiorgio Giacchè, »Bene, Carmelo«, in: Dizionario biografico, abrufbar unter Treccani.it www. treccani.it/enciclopedia/carmelo-bene_%28Dizionario-Biografico%29/. [20/11/2014] (Orig. ital.: »In questo periodo scrisse un primo saggio per il teatro (Pinocchio Manon e Proposte per il teatro, Milano 1964) e pubblicò i suoi unici due romanzi, Nostra Signora dei Turchi (ibid. 1966) e Credito italiano. V.E.R.D.I. (ibid. 1967), due prove letterarie che anticiparono molti dei riferimenti e degli ingredienti utili al suo teatro.«) 126 Vgl. »[…] alles in kontinuierliche Variation zu setzen«, Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: Aisthesis, S. 379–405, hier S. 391.
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Shakespeare widmete und ihn auf seine Art und Weise kritisierte. Dies kommentiert Deleuze wie folgt: Zu seinem Stück »Romeo und Julia« sagt Carmelo Bene (CB): »Dies ist ein kritischer Versuch über Shakespeare.« Aber in Wirklichkeit schreibt CB nicht über Shakespeare; der kritische Versuch ist selbst ein Theaterstück.127
Bene sagt, er spreche über das, was Shakespeare vergessen habe, nicht darüber, was er geschrieben habe: »Ich inszeniere Shakespeare nicht, ich parodiere ihn nicht, ich analysiere ihn nicht und ich psychoanalysiere ihn auch nicht. Ich kümmere mich um seine Schnitzer und Versprecher, das Nichtgesagte.«128 Hamlet, Macbeth, Richard iii, Otello, Romeo und Julia – sie alle wurden neu geschrieben. Dasselbe geschah, wenn Bene sich mit O. Wilde, P. Klossowski, J. W. Goethe oder H. v. Kleist befasste. Solche Versuche der Kritik und Beschäftigung mit den Großen der Literaturgeschichte schimmerten in Ansätzen bereits im Keller durch, etwa wenn er sich Majakovskij, C. Marlowe, A. Jarry oder auch seiner eigenen Werke annahm. Es war die Zeit, in der sein Wildern im Literaturkanon und die ersten Zerstörungen begannen. Sie bilden einen Ausblick auf die Zertrümmerung und Neuschaffung, auf die (De-) Konstruktion im uralten, ureigensten Sinne der großen, überladen ausstaffierten Bühnen, die Benes eigentliches Ziel waren. Sein Beginn, in dem trotz und gerade aufgrund seines theatralen Aufschreis erste und zweite Experimente des Zerstörens von Theater ihren Ausgang nahmen, wurde im Keller zelebriert. Von dort wuchsen seine Arbeiten nach oben ans Licht und schließlich ins große Schweinwerferlicht. Sein kleines experimentelles Theater auf der Piazza Cosimato, il Teatro Laboratorio,129 »ein Loch, das Theaterlaboratorium, 127 Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: Aisthesis, S. 379–405, hier S. 379. 128 Carmelo Bene, »Notate zum Theater«, in: Theater etcetera, S. 74–79, hier S. 75. 129 Es wird immer davon gesprochen, dass das Laboratorium »auf der Piazza San Cosimato« in Rom gelegen wäre; die genaue Adresse war aber Via Roma Libera Nr. 23 »an der Ecke zur Piazza«, in einem Hinterhof: »In Rom, via Roma Libera Nr. 23, gleich neben dem Restaurant ›Corsetti‹, am Eck zur Piazza San Cosimato in Trastevere, in einem Hinterhof in einer ehemaligen Tischlerei, lag das ›erste Haus des Theaterprinzipals‹ Carmelo Bene.)« (Orig. ital.: »Roma, al numero 23 di via Roma Libera accanto al ristorante ›Corsetti‹, all’angolo con piazza San Cosimato in Trastevere, all’interno di uncortile, dentro una ex falegnameria, si trova la ›prima casa da capocomico‹ di Carmelo Bene.«) Francesca Rachele Oppedisano, »Cristo 63«, in: Benedetto foto! Carmelo Bene visto da Claudia Abate, S. 38–43, hier S. 38. Die Informationen hat Oppedisano aus Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 123 entnommen. Salvator Vendittelli, Maler, Bildhauer und Bühnenbildner, arbeitete von 1961–1971 mit Carmelo Bene und widerspricht dezidiert Benes Erzählungen: »In seinen Memoiren spricht Carmelo vom Laboratorium und behauptet, dass dieses Theater aus der Asche einer Tischlerei entstand. Erneute Verdrängung, erneute Unwahrheit: In seinem Versuch, mich zu ignorieren, erfindet er die Tischlerei. In jenen Räumlichkeiten hatte seit Jahren der ›Circolo Drammatico Romano‹ (›Römisch-dramatischer Club‹) seinen Sitz, bei dem ich Mitglied war und von dem ich nach wie vor die aus 1958 stammende Mitgliedskarte besitze.« (Orig. ital.: »Nel suo libro di memorie, Carmelo parla del Labo-
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mit 26 Plätzen«130, wie Carmelo Bene meinte, hatte sich in der römischen Szene der 1960er-Jahre herumgesprochen. Bisweilen ist davon zu lesen, dass es die kulturelle Revolution der 1960er- und 1970er-Jahre sogar entscheidend mitgeprägt habe.131 Damit ist nicht nur die Kulturrevolution in Italien, sondern auch die der gesamten europäischen Szene gemeint. Das intellektuelle Publikum Italiens fühlte sich von Benes Theater förmlich angezogen. So etwa suchte Elsa Morante ihn begeistert auf – eine mehrfach belegte Tatsache, worauf Carmelo Bene selbst an unterschiedlichsten Stellen hinwies: »Elsa Morante kam immer mich zu sehen. Sie vergötterte mich«132; »Elsa Morante (himmelte mich an)«; »Sandro Penna (ging niemals aus dem Haus, für meine Aufführungen machte er eine Ausnahme)«133. Neben Morante und Penna besuchten u. a. auch Alberto Moravia oder Pier Paolo Pasolini das Laboratorium. Bene hielt eine Liste der Besucher_innen dieser Zeit, die ihm wichtig waren, in seinen autobiographischen Notizen fest: »Es kamen mich Moravia, Pasolini, Sandro Penna, Ennio Flaiano, Angelo Maria Ripellino, Elsa Morante etc. besuchen.«134 Da es auch möglich war, den Proben beizuwohnen, kann angenommen werden, dass der eine oder die andere nicht nur zu einer Vorstellung kam. Die Attraktivität seines Kellertheaters fand sogar noch Jahre später Eingang in die Belletristik, z. B. 2012 in dem Roman Addio a Roma von Sandra Petrignani. Ich stelle es mir so vor: Sartre kann man nicht werden, man muss als solcher geboren sein. Also, ich kann es kaum erwarten, das neue Stück von Carmelo Bene zu sehen. Es muss wirklich was Besonderes sein, wenn sogar du schockiert warst. Erinnerst du dich, wie ekelhaft es war in diesem Hinterhof auf der Piazza Cosimato vor nur drei Jahren? Und trotzdem waren die Intellektuellen verrückt nach ihm. Man sah die Morante, die sich für ihn wie für ein Kind entzückte und Sandro Penna, der niemals außer Haus ging, aber für Carmelo Bene eine Ausnahme machte und kam, um lieblich und geschniegelt zu klatschen; und dann die bürgerlichen Damen, die in schierem trasteverianischem Stile von den Balkonen mit Wasser aus Eimern begossen wurden und dabei
ratorio e afferma che quel teatro nasceva dalle ceneri di una falegnameria. Altra rimozione, altra falsità: pur di ignorare il sottoscritto s’inventa la falegnameria. In quei locali risiedeva da anni il ›Circolo Drammatico Romano‹, di cui io ero socio e di cui ho ancora la tessera di iscrizione che risale al 1958.«) Salvatore Vendittelli, Carmelo Bene fra teatro e spettacolo, S. 23. 130 Carmelo Bene in L’ Unità, 8 febbraio 1994, zit. n. Stefania Chinzari, »Carmelo. Il’ incomprensibile«, in: Panta. Carmelo Bene, S. 325–329. (Orig. ital.: »un buco, il Teatro Laboratorio, di ventisei posti«) 131 Vgl. Paolo Spedicato, »Carmelo lives«, in: Bridge. Puglia – USA. www.bridgepugliausa.it/articolo. asp?id_sez=1&id_cat=57&id_art=3590&lingua=en [05/07/2014] und [29/12/2015]. 132 Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 177. (Orig. ital.: »Veniva sempre a vedermi Elsa Morante che mi adorava.«) 133 Ebenda, S. 124–125. (Orig. ital.: »Elsa Morante (stravedeva per me), Sandro Penna (non usciva mai di casa, faceva un’eccezione per i miei spettacoli)«) 134 Ebenda, S. 24. (Orig. ital.: »Venivano a visitarmi Moravia, Pasolini, Sandro Penna, Ennio Flaiano, Angelo Maria Ripellino, Elsa Morante ecc.«) Vgl. zudem Carmelo Bene, in: Opere, S. 1069; sowie Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, S. 22.
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glaubten, das sei Teil der Aufführung! Das hast du gut gemacht, zuzustimmen, diesen sonderbaren Film zu drehen anstelle fürs Fernsehen zu arbeiten. Jetzt, da er Mit der Faust in der Tasche[135] und nicht mehr mit Familienhygiene heißt, ist es viel besser.«136
Carmelo Benes Theater war ein wesentlicher Bestandteil der römischen Theaterszene und nahm eine Vorreiterrolle der sogenannten cantine romane (der Römischen Kellertheater)137 ein, wenngleich Bene, wie Piergiorgio Giacchè es formuliert, vielleicht der italienischen Neoavantgarde zuzurechnen, nicht aber deren Repräsentant war.138 Bene blieb mit all seinen Experimenten und Happenings stets dem Guckkastenprinzip treu: Er bevorzugte eine frontale Raumanordnung des szenischen Vorgangs, und war grundsätzlich auf die Trennung von Akteur_ innen und Publikum bedacht, auch wenn wie bei Cristo 63 das Publikum nicht
Eingang zu Carmelo Benes Teatro Laboratorio in Rom (Foto Giuliana Rossi) 135 I pugni in tasca (Mit der Faust in der Tasche), Film von Marco Bellocchio 1965. 136 Sandra Petrignani, Addio a Roma, S. 261. (Orig. ital.: »Dunque mi sono fatta questa idea: Sartre si nasce, non si diventa. Be’, non vedo l’ora di vedere il nuovo spettacolo di Carmelo Bene. Deve essere davvero speciale se sei rimasta ›scioccata‹. Ti ricordi quanto era laido in quel cortile di piazza San Cosimato solo tre anni fa? Eppure gli intellettuali ne andavano matti. Vedevi la Morante che gli faceva le feste come a un bambino e Sandro Penna, che non usciva mai di casa, per Carmelo Bene faceva un’eccezione e veniva ad applaudirlo vago e impomatato, e poi le signore borghesi che si beccavano le secchiate d’acqua dai terrazzini in puro stile trasteverino, ma credevano che facesse parte dello spettacolo! Hai fatto bene, sai, ad accettare di girare quel film strampalato invece di lavorare in televisione: adesso che si chiama I pugni in tasca e non più Igiene famigliare va molto meglio.«) 137 Vgl. Silvia Carandini (Hrsg.), Memorie dalle cantine, Teatro di ricerca a Roma negli anni ’60 e ’70, 2013. 138 Vgl. Piergiorgio Giacchè, »Bene, Carmelo«, in: Dizionario biografico, abrufbar unter Treccani.it www.treccani.it/enciclopedia/carmelo-bene_%28Dizionario-Biografico%29/ [20/11/2014].
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ohne Spuren davonkam oder – raumtechnisch gesprochen – wenn die Schauspielerin Lydia Mancinelli in Don Chisciotte 139 in einer der dem Publikum zugedachten Schulbänke Platz nahm und von dort aus ihren Text rezitierte. Natürlich gab es – animiert durch die Skandale und das Theaterlaboratorium – auch kritische Stimmen in der Szene, vorwiegend seitens der Theaterrezensent_innen in den Tageszeitungen. Bene jedoch nahm die Meinungen der Kritiker erst gar nicht ernst. In einem Interview sagte er, die kämen nicht freiwillig und würden sich auch nicht durchgehend mit dem Theater befassen so wie er. Vielmehr »müssten« sie zu ihm kommen und über ihn schreiben, weil sie dafür bezahlt würden. Für mich ist ein Theatermensch eine Person, die authentisch einer Aufgabe nachkommt, eine, die sich von früh bis spät und von spät bis früh ausschließlich diesem [dem Theater] widmet. Das ist das Problem. Derzeit widme ich mich kontinuierlich diesem. Das Publikum kann nicht abends (zur Abendvorstellung) zwischen 22 und 24 Uhr kommen, verstehen oder dem folgen, oder sich vielleicht verlieben. Nein, absolut nicht. Verstehen Sie? Sie machen das zum Vergnügen. Ich mache es hingegen fürs Leben. So können auch die Kritiker nicht [verstehen]. Die Kritiker leben zwischen 23, besser zwischen 22 und 24 Uhr – also zwei Stunden am Abend; und mit zwei Stunden am Abend können sie nicht das verstehen, was ich hingegen kontinuierlich lebe, Stunde für Stunde, und wenn ich nicht so lebe, so bedeutet dies, dass ich schlafe.140 139 Don Chisciotte von M. de Cervantes 1968 im Teatro Carmelo Bene in Rom von Carmelo Bene gemeinsam mit Leo de Berardinis aufgeführt. Vgl. Teatro avanguardia von Rai Teche [1968]. Ausschnitt von CTA-Doku [TC 00:00:37 bis 00:01:46 und 00:05:25 bis 00:05:40] Zu Beginn der Dokumentation ist der Eingang bzw. Abgang von Straßenseite aus zu sehen, darüber ein Schild mit der Aufschrift »Club Bene«. Giacchè merkt an, dass es sich dabei auch um den letzten Kontakt Benes zur Neoavantgarde handelt »und schließlich – um die Periode zu schließen und die Zusammenarbeit mit den anderen Vertretern der Neoavantgarde zu bezeugen – der Don Chisciotte (1968), den er gem. mit Leo de Berardinis erarbeitete und durchführte.« (Orig. ital.: »e infine – a chiusura del periodo e a testimonianza dei suoi rapporti di collaborazione con gli altri protagonisti della neoavanguardia – il Don Chisciotte (1968), che curò e firmò assieme a Leo De Berardinis.«) Piergiorgio Giacchè, »Bene, Carmelo,« in: Dizionario biografico, abrufbar unter Treccani.it www.treccani.it/enciclopedia/carmelo-bene_%28Dizionario-Biografico%29/ [20/11/2014]. 140 Carmelo Benes O-Ton aus einer Dokumentation. Teatro avanguardia von Rai Teche [1968]. Ausschnitt von CTA-Doku [TC 00:02:25 bis 00:03:37]. Transkription d. A. (Orig. ital.: »Io considero uomo di teatro che assolva un compito autentico colui, che dalla mattina alla sera e dalla sera alla mattina si dedichi esclusivamente a questo. Questo è il problema. Ora io mi dedico continuamente a questo. Non può il pubblico della serale dalle 22 alle 24 venire e capire o seguire, o anche innamorarsene. No, assolutamente no. Capisce? Loro lo fanno per divertimento. Io lo faccio invece per vita. Così la critica non può. La critica vive dalle 23, ah dalle 22 alle 24. E con due ore alla sera, non può capire quello che io invece continuo a vivere ora per ora e quando non ho da vivere così significa che dormo.«) Vgl. Dialoghi Resistenti tra Ultimo Teatro Produzioni Incivili e Alessandro Toppi, 4. febbraio 2016, dort wird dieser Absatz Carmelo Benes (verkürzt) zitiert unter: dialoghiresistenti.wordpress.com/2016/02/04/alessandro-toppi/ [16/10/2016] »Utilizzando le parole di Carmelo Bene, ti pongo una serie di quesiti: ›Io considero uomo di teatro che assolva ad un compito autentico, colui, che dalla mattina alla sera e dalla sera alla mattina si dedichi esclusivamente a questo. Questo è il problema. Ora io, mi dedico continuamente a questo.
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Der jugendlich-rebellische, eigensinnige und radikale Unterton, der hier durchaus mitschwingt, zeigt nicht nur ein Mal mehr das oft zitierte Enfant terrible, sondern auch eine Grundhaltung Carmelo Benes, die er bis zum Ende seiner künstlerischen Schaffenszeit auszubauen wusste und mit der er sich von zeitgleichen Strömungen wie z. B. der des Armen Theaters von Jerzy Grotowski unterscheidet, […] indem er an unpassende Orte eine Form von Theater adaptierte und mit unsicheren Mitteln realisierte, [ein Theater,] das bereits szenographische und technische Lösungen anstrebte, [etwas] definitiv anderes als die Logik – bzw. Missbilligung – eines »armen Theaters«, auf das er nie je Rücksicht genommen hatte (weder hatte er das essentielle Bestreben noch die Ideologie der Differenz dazu).141
Carmelo Bene gründete und betrieb drei Jahre lang das Theaterlaboratorium (1961 Pinocchio i edizione, Amleto i edizione, 1962 Spettacolo-concerto Majakovskij ii edizione, Spettacolo-concerto Majakovskij iii edizione, 1963 Addio porco ii edizione rivisitata di Gregorio: cabaret dell’800, Cristo 63), wie erwähnt in dem römischen Stadtviertel Trastevere auf dem Platz San Cosimato, um später den Club Bene142 zu eröffnen, ein Theater in der Via del Divino Amore. Der Club Bene firmierte auch unter dem Namen Teatro Carmelo Bene und blieb ein kurzes Abenteuer. Es kam zu zwei Produktionen: 1968 Arden of Feversham und Spettacolo-concerto Majakovskij iv edizione: Die sogenannten Kellertheater sind ein Phänomen Ende der ’60er-Jahre. Davor gibt es ein einziges Kellertheater in Rom, und das ist meines, in der Divino Amore, das Theater Carmelo Bene. Innerhalb von sechs Monaten öffne und schließe ich es, da ich anderes zu tun habe. Ich gehe zum Film.143
[…] La critica vive dalle 22:00 alle 24:00, cioè due ore alla sera. E con due ore alla sera, non può capire quello che io continuo a vivere ora per ora.‹« 141 Piergiorgio Giacchè, »Bene, Carmelo,« in: Dizionario biografico, abrufbar unter Treccani.it www. treccani.it/enciclopedia/carmelo-bene_%28Dizionario-Biografico%29/. [20/11/2014] (Orig. ital.: »[…] adattando in luoghi impropri e realizzando con mezzi incerti un teatro che già aspirava a soluzioni scenografiche e tecnologiche decisamente diverse dalla logica – ovvero dalla condanna – di un ›teatro povero‹ che non lo ha mai riguardato (né come aspirazione all’essenzialità né come ideologia della differenza).«) 142 »Club Bene« war ein mit selbigem Schriftzug beleuchteter Würfel oberhalb des Theatereingangs, vgl. FN 139. Der Zusammenhang zwischen Club Bene und Teatro Carmelo Bene ist rasch erklärt: »Geht man zum Theater Carmelo Bene und erwirbt eine Mitgliedskarte des Clubs Carmelo Bene, kann man bei einer Aufführung von Carmelo Bene dabei sein« (Orig. ital.: »recandosi al teatro Carmelo Bene e acquistando la tessera del Club Carmelo Bene, si puó assistere ad uno spettacolo di Carmelo Bene«) Kommentator in der Dokumentation Teatro avanguardia von Rai Teche [1968]. Ausschnitt von CTA-Doku [TC 00:00:00 bis 00:00:24]. Im Teatro Carmelo Bene konnten folgende Aufführungen besucht werden: Arden of Feversham (1968), Spettacolo-concerto Majakovskij (IV edzizione) (1968), Don Chisciotte (1968) Diese Angabe entspricht z. B. Salvatore Margiotta, Il Nuovo Teatro in Italia 1968–1975, S. 425, nicht aber den Angaben von Carmelo Bene, Opere, S. 1558. 143 Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 134. (Orig. ital.: »Le cantine cosiddette sono un fenomeno della fine anni ’60. Prima di allora, c’è una sola cantina a Roma ed è la mia, al
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An beiden Orten fanden also seine ersten Experimente und sein erster Furor statt. Er bespielte zwischenzeitlich auch kleinere Bühnen und Kellertheater wie etwa das Teatro delle Arti (sein Debüt mit Caligola z. B.) oder Teatro Arlecchino, Teatro dei Sartiri oder Teatro Beat 72. Zwar unternahm er seine experimentelle Ausein-ander-Setzung mit Theater stets unter prekären Arbeitsbedingungen, aber niemals wurde dieses Prekariat zu einem ästhetischen Kriterium, einem Prinzip erhoben oder als Charakteristikum beschworen. Er war dezidiert gegen ein Armes Theater, das durch Jerzy Grotowski damals europaweit bekannt und heftig diskutiert wurde. Die Idee des Armen Theaters hatte bereits namhafte Theaterpersönlichkeiten wie Peter Brook affiziert. Bene hingegen hielt sich bedeckt und von ihr fern. Befragt zu den Theatern außerhalb Italiens antwortete er einmal: Sprechen wir nicht davon, wirklich, sprechen wir nicht davon … tja, es sind Schauspiele [Anm. d. A.: CB unterscheidet grundlegend zwischen spettacolo (Schauspiel/Aufführung) und teatro (Theater)144], und diese interessieren mich nur bis zu einem bestimmten Punkt. Ich würde sagen, sie interessieren mich gar nicht. Grotowski [wäre] so ein Beispiel.145
Carmelo Bene ging also allein, wenn auch nicht als Einziger, (s)einen konsequenten Theaterweg. Den ersten großen Erfolg konnte er 1966, sieben Jahre nach seinem Debüt, mit der zweiten Fassung von Pinocchio im Teatro Centrale in Rom feiern.146 Sie brachte ihm schließlich die Breitenwirkung in Italien und einen Namen, den man von nun an nicht mehr ausschließlich mit dem Provokateur Bene in Verbindung brachte. In den 1970er-Jahren widmete Bene sich für eine überschaubare Zeit dem Film.147 Die Initiation war seine Mitwirkung als Creonte (Kreon) in Pier Paolo Divino Amore, il Teatro Carmelo Bene. Che apro e chiudo nel giro di sei mesi, perché ho altro da fare. Passo al cinema.«) 144 Vgl. auch Carmelo Bene, Il teatro senza spettacolo, 1990. 145 Carmelo Bene in einem Interview zu Teatro avanguardia von Rai Teche [1968]. Ausschnitt von CTA-Doku [TC 00: 05:14 bis 00:05:25]. (Orig. ital.: »Non ne parliamo, davvero, non ne parliamo … cioè …. sono spettacoli, mi interessano fino a un certo punto. Direi che non mi interessano affatto. Grotowski per esempio è uno così.«) 146 Vgl. die Zusammenfassung der Ereignisse in den Anfängen von Piergiorgio Giacchè, »Bene, Carmelo«, in: Dizionario biografico, abrufbar unter Treccani.it www.treccani.it/enciclopedia/carmelo-bene_%28Dizionario-Biografico%29/. [20/11/2014]; sowie von Roberto Tessari, Pinocchio. ›Summa atheologica‹ di Carmelo Bene, 1982. 147 Filme von und mit Carmelo Bene: Ventriloquio (1967), Hermitage (1968), Nostra Signora die Turchi (1968, Unsere liebe Frau von den Türken, mit dt. Untertiteln produziert vom WDR), 1969 Capricci (Capricci), 1971 Don Giovanni (Don Giovanni), 1972 Salomè (Salome) und 1973 Un Amleto di meno (Ein Hamlet weniger), der am meisten – auch außerhalb Italiens – rezipierte Film Benes. Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, S. 15, FN 8. Als Schauspieler mitgewirkt hat Carmelo Bene u. a. bei: Edipo Re (1967) von Pier Paolo Pasolini als Creonte (Kreon); Lo scatenato (1967) von Franco Indovina als prete (Priester) gemeinsam mit Vittorio Gassmann als Bob Chiaramonte; Colpo rovente (1969) von Piero Zuffi als Billy Desco; Necropolis (1970) von Franco Brocani als diavolo (Teufel); Tre nel mille (1971) von Franco Indovina als Pannocchia; in Umano
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Carmelo Bene in Pinocchio 1966 (Foto Claudio Abate)
Pasolinis Film Edipo Re (1967, Bett der Gewalt)148, der in Marokko gedreht wurde. Im Cast waren auch Franco Citti, Silvana Mangano, Alida Valli und Julian Beck vom Living Theatre vertreten. Noch in demselben Jahr kam Benes erster Film Ventriloquio (Bauchrednerei) heraus, ein Jahr später seine Romanverfilmung Nostra Signora di Turchi (Unsere liebe Frau von den Türken). Nach einigen weiteren Filmen erschien 1973 sein letzter: eine Hamlet-Variation mit dem Titel Un Amleto di meno (Ein Hamlet weniger). Danach kehrte er zum Theater zurück und arbeitete wieder für die Bühne. Doch v. a. seine Filme waren es, die international – auch im deutschsprachigen Raum – wahrgenommen wurden, zumindest in Cineast_innenkreisen, was vor allem auf Gilles Deleuzes Beschäftigung mit Carmelo Bene zurückzuführen ist. So schrieb Deleuze einen Artikel über Benes (Theater-) Arbeiten mit dem Titel Ein Manifest weniger 149 als Replik auf Benes non umano (1971) von Mario Schifano; Vgl. Alessandro Cappabianca, Carmelo Bene, Il cinema oltre se stesso, 2012; sowie Kino in Klammern: Die Filme von Carmelo Bene / In Parentheses: The Films of Carmelo Bene, 2005. 148 Unmittelbar danach drehte er den ersten von fünf Langfilmen und begann damit seine Filmtätigkeit, zu der auch o. a. Kurzfilme zu zählen sind. Stets ist er Regisseur und Schauspieler/Protagonist in einem – zudem verantwortlich für Kostüme, Szenerie, Schnitt im Sinne und entsprechend seinen theatralen Produktionen. 149 Das erste Mal veröffentlicht 1978 auf Italienisch: Gilles Deleuze, »Un manifesto di meno«, in: Carmelo Bene und Gilles Deleuze, Sovrapposizioni, Milano Feltrinelli, S. 67–92; Ital. Fassung wurde im Jahr seines Todes 2002 neu aufgelegt (Macerata: Quodlibet 2002) sowie erneut 10 Jahre
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letzten Film, ausgehend von Richard iii. Auch in Zeit-Bild. Kino 2 150 schlagen sich Deleuzes Erfahrungen mit Bene und seinen Arbeiten nieder. Eine erneute Rezeption von Benes filmischem Schaffen innerhalb und außerhalb Italiens fand erst ab 2012, also zehn Jahre nach seinem Tod statt. Carmelo Benes künstlerische Anfänge, die ihn von der gemeinhin beliebten Silvio d’Amico-Schule fern hielten – er war freiwillig abgegangen –, sind gekennzeichnet durch seine autodidaktische Herangehensweise. So entwickelte er seine Theaterstücke, Romane und künstlerischen Umsetzungen jeglicher Art. Erkennbar ist, dass er stets bestimmten Themen treu blieb, sich diesen mehrmals und in Variationen151 widmete, sie bearbeitete und (sich) fortführte. Sein wesentliches Material – auch schauspieltechnisch, -theoretisch, -praktisch und -ästhetisch betrachtet – bleibt wie eine »zweite Natur«152 an ihm: Hamlet, mit all seinen philosophischen Abgründen und Unschärfen. Ebenfalls interessant ist die mehrfach erfolgreiche Umsetzung des Pinocchio, obwohl dies »die Geschichte eines Begräbnisses« sei, »das Begräbnis der vorzeitig begrabenen Kindheit, die im eigenen Sarg um sich tritt. Erwachsen ist die Erde, die Pinocchio bedeckt«153, und gegen die er zu kämpfen bereit ist. Es kamen auch hier verschiedene Versionen, ästhetisch ausgefeilt und stimmlich variiert, auf die Bühne und fanden einen Abschluss insofern, als Bene alle(s) bis auf die Stimme der Fee selber sprach.154 So kamen Carmelo Benes Stimmen-
später (Quodlibet Bis 2012). 1979 erschien der Artikel auf Französisch »Un manifeste de moins«, in: Carmelo Bene / Gilles Deleuze, Superpositions, Paris: Les Éditions de Minuit, 1979, S. 85–131. Auf Deutsch: Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: ders., Kleine Schriften, aus dem Französischen von K.D. Schacht, Berlin: Merve 1980, S. 37–74; und in: Aisthesis, 1990, in vorliegender Arbeit wird aus der 6. durchgesehenen Auflage von 1998 zitiert, S. 379–405. Auf Englisch erschien der Artikel unter dem Titel »One Less Manifesto«, in: Mimesis, Masochism, & Mime. The Politics of Theatricality in Contemporary French Thought edited by Timothy Murray, University of Michigan Press 1997, S. 239–258. 150 Gilles Deleuze publiziert 1985 Cinéma 2, L’Image-temps; Dt.: Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, übersetzt von Klaus Englert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, siehe v. a. das achte Kapitel. 151 Variationen sind bei Carmelo Bene nicht nur auf einer Makroebene der Werke, sondern auch innerhalb derselben als Verfahren auszumachen, vgl. Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: Aisthesis, S. 379–405; sowie Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, Kapitel 2, S. 66–110. 152 Vgl. Eugenio Barba zur »zweiten Natur«: »Wiederkehrende Prinzipien«, in: Der sprechende Körper, S. 77–98, hier S. 90. 153 Carmelo Bene in einem Interview: Nicoletta Repaci, »Pinocchio, qua uccidono i bambini«, in: Panta. Carmelo Bene, S. 103–105, hier S. 103. (Orig. ital.: »Pinocchio è la storia di una sepoltura, la sepoltura dell’infanzia, prematuramente sepolta, che scalcia nella propria bara. Adulta è la terra che ricopre Pinocchio.«) 154 Erste Version 1961: Pinocchio da C. Collodi im Teatro Laboratorio in Rom, zweite Version 1966: Pinocchio ’66 da C. Collodi im Teatro Centrale in Rom, dritte Version 1981: Pinocchio da C. Collodi, Musik von Gaetano Gianni Luporini im Teatro Verdi in Pisa. Diese Version wurde auch 1981 auf Schallplatte von CGD (Compagnia Generale del Disco) herausgebracht und 2002 als CD neu aufgelegt. Neben Carmelo Bene ist Lydia Mancinelli zu hören. Vierte Version 1998:
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reichtum, sein vokales Spektrum, seine tonalen Variationen zum Einsatz, und das Stück bot ein anschauliches und (un-) erhörtes Beispiel für sein Theaterschaffen insgesamt. Er spielte zum Schluss nur mit einer Partnerin, gab alle Stimmen in allen Stimmlagen, spielte playback (Playback) und stieg in eine andere Welt ein. Er ging oltre (jenseits / woandershin) und hatte wundersame Masken sowie ein verträumtes Bühnenbild.155 Dass Pinocchio also, im kulturellen Gedächtnis der Italiener_innen fest verankert, (auf der Bühne) blieb und nicht verschwand, mag möglicherweise der größte Unterschied sein zu Benes Zertrümmerung von Thea ter, zum Verlassen der Narrativität und zum Hinübergleiten ins Echo der Stimmen. Pinocchio (re-) präsentiert ebenso wie Hamlet »die Seele des Theaters von Carmelo Bene«.156 Er selbst sagt: »Alle meine Aufführungen sind Versionen eines Pinocchio, auch Hamlet.«157 Pinocchio also – als Fabel, Geschichte, Präsentation und Repräsentation des Beneschen Welt- und Menschenbilds – kann letztlich als Folie für sein Gesamtwerk verstanden werden. Für Bene ist das Menschwerden im Hinblick auf sein Erwachsen-Sein die unausgesprochene tragische Wahrheit der Fabel Pinocchio: Krieg als Notwendigkeit, um der angeborenen Aggressivität des Menschen zyklisch ein Ventil zu gewähren, denn unterdrückt, würde das den Fortschritt der Zivilisation selbst gefährden. Dies lässt sich für Bene ebenso auf den einzelnen Menschen übertragen, der durch Erziehung, gesellschaftliche Regeln, Zwänge und aufoktroyiertes soziales Verhalten daran gehindert wird, sich sein Leben seinen Wünschen gemäß zu gestalten.158
Pinocchio ovvero Lo spettacolo della povvidenza mit Sonia Bergamasco, Playback-Stimmen von Carmelo Bene, Sonia Bergamasco und Lydia Mancinelli. Musik von Gaetano Gianni Luporini. 155 Schon für die erste Version hatte Salvatore Venditelli Maske und Bühnenbild hergestellt: »Es gab kein Geld, so baute ich in meinem Bühnenarbeiter-Atelier die Tiermasken: die Katze und den Fuchs, die Esel, die Kaninchen und die Grille. Ich bereitete die Bühne vor, ganz ohne Skizze oder Planung.« (Orig. ital.: »Non c’era una lira, così nel mio atelier di scenotecnica realizzai le maschere degli animali: il Gatto e la Volpe, gli Asini, i Conigli e il Grillo. Preparai la scena, senza bozzetto o progettazione.«) Salvatore Venditelli, Carmelo Bene fra teatro e spettacolo, S. 35. 156 Vgl. Francesca Rachele Oppedisano, »Pinocchio ’66«, in: Benedetto foto! Carmelo Bene visto da Claudia Abate, S. 54–59, hier S. 54. (Orig. ital.: »Pinocchio assieme ad Amleto è l’anima del teatro di Carmelo Bene.«) 157 Roberto Tessari, »Conversazione di Carmelo Bene«, in: Pinocchio, ›Summa atheologica‹ di Carmelo Bene, S. 98. Zit. n. Francesca Rachele Oppedisano, Pinocchio ’66, in: Benedetto foto! Carmelo Bene visto da Claudia Abate, S. 54–59, hier S. 54. (Orig. ital.: »Tutti i miei spettacoli sono versioni di un Pinocchio, anche Amleto.«) 158 Francesca Rachele Oppedisano, »Pinocchio ’66«, in: Benedetto foto! Carmelo Bene visto da Claudia Abate, S. 54–59, hier S. 54. (Orig. ital.: »Per Bene il divenire dell’uomo al suo essere adulto è la verità tragica sottintesa dalla favola di Pinocchio: alla guerra come necessità dell’essere umano di dar sfogo ciclicamente a una aggressività innata che altrimenti repressa comprometterebbe il suo stesso progresso di civilizzazione, Bene contrappone il tema altrettanto fondante di un essere umano costretto a rinunciare alla messa in pratica del suo desiderio attraverso un processo di incivilimento dettato dalle regole dell’educazione e del vivere sociale.«)
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Mithin impliziert Pinocchio den tieferen Sinn von Benes Theater, worauf das Kind-Sein, die Stimme(n) und die Auseinandersetzung mit der Narration verweisen. Der kindliche Gegenpart, den man in der Musikalität des Sagens jenseits dessen, was gesagt wird, findet, deckt den Wunsch des inneren Kindes auf, die Fabel als Fiktion zu beschützen: was zählt, sind nicht die Taten, sondern die Geschichte darüber. Es geht um eine kritische Grundhaltung der Realität gegenüber, in der man den tieferen Sinn von Benes Theater findet.159
Im Klangraum Stimme und auf den großen Bühnen
Die Bedeutung, die Carmelo Bene in die (Arbeit mit) Stimme und Dekonstruk tion von Sprache legte, zeigt sich ebenfalls schon in seinen rebellischen Anfängen, und zwar bei der Bearbeitung von Majakovskij. Er nennt das Stück Spettacolo-concerto Majakovskij und führt es 1960 im Teatro alla Ribalta in Bologna auf. Die zweite und dritte Version bringt er bereits im eigenen Laboratorium zur Aufführung. Die Betitelung »spettacolo-concerto« (Konzerttheater) weist klar auf sein Ziel hin. Bestimmend und charakteristisch für seine (Theater-) Arbeiten ist die Stimme: Die Stimme wird sein Theater, und das Theater zu einem Konzert. Majakovskij, ein Jahr nach dem Debüt mit Caligola, scheint als zweiter Eintrag in Benes Theaterbiographie auf. Es war die Zeit, in der er sich mit dem Komponisten Sylvano Bussotti anfreundete. Sie gingen gemeinsam in Konzerte, beschäftigten sich mit Phonologie und betrieben Studien am Ton/Klang.160 Bene erzählt, dass Bussotti und ihn etwas ganz Bestimmtes verband, »eine gewisse Versessenheit, uns in den Grenzen der Sprache und der Partitur zu messen«161. Als der Stadtrat für Kultur in Bologna, Carlo Maria Badini, Bene und Bussotti einlud, am Teatro Ribalta ein avantgardistisches Stück aufzuführen, erarbeiten die beiden den ersten Majakovskij. Gemeinsam mit Bussotti haben wir einen Majakovskij aufgeführt. Er spielte [Musik] (auf der Bühne) allerlei improvisierend und ich rezitierte. Ich hab viele Majakovskijs gemacht, dieser war der allererste […] und mein Debüt auf Schallplatte.162 159 Ebenda, S. 54–59, hier S. 54. (Orig. ital.: »Il controcanto fanciullo, che si ritrova nella musicalità del dire al di là di ciò che è detto, svela il desiderio dell’essere bambino di proteggere la favola come finzione, quel che conta non sono i fatti ma il racconto dei fatti stessi, un atteggiamento critico nei confronti del reale in cui si ritrova il senso profondo del fare teatro per Bene.«) 160 Vgl. Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 113. 161 Ebenda. (Orig. ital.: »certa smania di misurarci con i limiti del linguaggio e delle partiture.«) 162 Ebenda, S. 114. (Orig. ital.: »Insieme a Bussotti concertammo un Majakovskij. Lui suonava in scena, improvvisando un sacco di cose, io ero la voce recitante. Ne ho fatti tanti di Majakovskij, questo fu il primo […] Ecco il mio debutto nella discografia.«)
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Als er dem Plattenverlag Voce del Padrone in Mailand ein Demoband schickte, kam per Telegramm postwendend die Zusage: »Aufnahme interessiert uns.«163 Damit war es besiegelt, Bene nahm Schallplatten auf und wurde im Radio übertragen. Die Schallplatte als Tonträger und spätere CD-Aufnahmen, zu Lebzeiten und posthum, bilden die Krönung seines Schaffens, ist es doch die Stimme, die von ihm bleibt. Franco Quadri allerdings sieht die »Idee, Benes Theater ins Radio zu übersetzen«, eher skeptisch: Die Idee, Carmelo Benes Theater ins Radio zu übernehmen, scheint ein ziemlich unmögliches Unterfangen, man könnte fast sagen, das Ergebnis einer Wette, wenn man bedenkt, welche Wichtigkeit sein Theater dem visuellen Element zuschreibt.164
Ein Großereignis war Ende der 1970er-Jahre Manfred nach Byron mit der Musik von Schumann. Bene übersetzte, führte Regie und gab die voce solista (SoloStimme). Er wurde vom Orchester und Chor der Accademia di S. Cecilia unter der Leitung von Piero Bellugi begleitet, die Premiere fand im Teatro alla Scala in Mailand statt. Schon mit S.A.D.E. fünf Jahre zuvor gab Bene eine Premiere in Mailand, er hatte also einen weiteren der Theatertempel der großen italienischen Städte erobert. Im Zentrum stand oder vielmehr klang seine Stimme, von einem Orchester begleitet. Wollte man die Differenz zwischen Wort und Gesang orten oder vielmehr die Art, mit der Bene bei Schumann durch Byron anlangte, reicht es nicht festzuhalten, dass er enthüllen konnte, wieviel Theatralität in der Musik steckt, denn das ist nebensächlich, es ist vielmehr das Ergebnis einer langen und ernsthaften Suche.165 Mailand gegenüber blieb Bene jedoch distanziert, zumindest pflegte er ein ambivalentes Verhältnis zu der Stadt im Norden. »Diese Stadt gefällt mir nicht […] Eine einzige Sache fand man in Mailand: Geld«166, sagte er. An späterer Stelle führt er aus:
163 Ebenda, S. 114. (Orig. ital.: »Interessaci sua incisione«) 164 Franco Quadri, »Dal teatro alla radio (passando per il cinema)«, in: La Salomè di Oscar Wilde secondo Carmelo Bene, XXIX Premio Italia, RAI Readiotelevisione Italania, Venezia 1977, zit. n. Carmelo Bene, Opere, S. 1461–1467, hier S. 1461. (Orig. ital.: »L’idea di trasferire in radio il teatro di Carmelo Bene sembra un’impresa abbastanza impossibile, si direbbe quasi il frutto di una scommessa, data l’importanza che nel teatro di Carmelo Bene è attribuita all’elemento visivo.«) 165 Jean-Paul Manganaro, »Il pettinatore di comete«, in: Carmelo Bene, Otello, o la difficienza della donna, zit. n. Carmelo Bene, Opere, S. 1474–1486, hier S. 1482. (Orig. ital.: »Volendo situare per forza di cose le differenze tra parola e canto, o piuttosto il modo in cui Bene arriva a Schumann con Byron, non basta dire che ha rivelato quanta teatralità ci fosse nella musica, poiché questo è secondario, è l’effetto di una lunga e severa ricerca.«) 166 Carmelo Bene im Gespräch mit Gigi Zazzeri, »Volete la verità? Milano no mi piace, i milanesi li odio«, in: La Repubblica, 22 gennaio 1982, zit. n. Panta. Carmelo Bene, S. 107–111, hier S. 108. (Orig. ital.: »Questa città non mi piace. […] Solo una cosa si trovava a Milano: i soldi«)
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Ich sage Ihnen etwas. In Mailand, wie generell im Norden Italiens, wurde nie je etwas geschaffen. Letzte Woche habe ich etwas Naives angestellt: Ich bin in eine Art Keller gegangen, wo ich weiß nicht wer war, ein Wichtigtuer aus der Provinz, der über den nordischen Gedanken sprach. Aber wo ist der? Wer hat diesen je gesehen? [Giambattista] Vico, [Tommaso] Campanella, [Giordano] Bruno, und so weiter bis Don Benedetto [Richeldi], ist jemand nördlich des Po geboren? Das einzig Gute war das Geld.167
Und wieder macht sich hier leise aber deutlich seine Herkunft, seine Haltung, seine Perspektive aus dem Süden des Südens bemerkbar, ähnlich wie die Kontextualisierung in Hinblick auf die zeitgenössisch agierende Neoavantgarde. Von dieser grenzt er sich zwar auch im Hinblick auf gemeinsam vorhandene Vorbilder immer wieder ab, doch zieht er sie auch für seine Einstellungen heran, etwa mit Bertolt Brecht. Wenn dies geschieht, selbstverständlich auf seine höchst eigene Weise. So hat Bene Brecht teils sogar im Ohr und beschäftigt sich eingehend mit ihm. Der Zusammenhang hinsichtlich (Arbeit mit) Stimme ist dabei durchaus beachtenswert: Der wahre Brecht, der von den Anfängen, tourte durch die Lokale von Berlin, um seine Lieder zu singen. Und wenn Sie die Platten hören, die es gibt, werden Sie das Timbre hören, unangenehm, beinahe krächzend, all das finden Sie [auch] in meiner Stimme wieder.168
Eine Anmerkung am Ende: im öffentlichen Raum, Piazza und Burggraben
In allen Versuchen, Experimenten und Umkehrungen bestehender Ordnungen blieb der Raum bei Bene zweigeteilt: in den Bereich der Aufführung der Akteur_innen resp. der Schauspielenden und den der Zuschauenden jeweils in bestehenden (Theater-) Gebäuden. Dies war für ihn unumstößlich. Eine Ausnahme stellen seine Lesungen von Lectura Dantis per voce solista (Lectura Dantis für Solo-Stimme) dar: so etwa die Lesung am Platz in Bologna vor dem Campanile, dem Torre degli Asinelli.169 Im Gegensatz zu Mailand hatte Carmelo Bene zu Bologna ein liebevolles Verhältnis und kam gerne dorthin. Dies lag nicht nur daran, dass man ihn mit seinem ersten Spettacolo-concerto Majakovkij zum Auftritt eingeladen hatte. Er spielte auch im Teatro Duse seine Shakespeare-Umsetzun167 Ebenda, S. 107–111, hier S. 109. (Orig. ital.: »Le dico una cosa. A Milano, e in generale nel nord Italia, non si è mai creato niente. La settimana scorsa ho commesso un’ ingenuità, sono andato in una specie di scantinato dove c’era non so chi, un maestrino di provincia che parlava del pensiero del nord. Ma dov’è? Chi l’ha mai visto? Vico, Campanella, Bruno, su su fino a don Benedetto, c’è qualcuno che sia nato sopra di Po? L’unica cosa buona erano i soldi.«) 168 Ebenda, S. 107–111, hier S. 109. (Orig. ital.: »Il vero Brecht, il primo, girava per i locali di Berlino a cantare le sue canzoni. E se [L]ei va ad ascoltare i dischi che ci sono, sentirà i suoi timbri, sgradevoli, quassi [sic]gracchianti, li trova tutti nella mia voce.«) 169 Die mittelalterlichen Geschlechtertürme gehören zu den Wahrzeichen Bolognas. Unter den rund 20 erhaltenen sind auch die ca. 97 Meter hohen Türme Asinelli.
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gen und startete die gemeinsame Tournee mit Eduardo De Filippo von Bologna aus.170 Das Publikum dort liebte ihn. »Carmelo Bene liebte Bologna, da es hier den harten Kern seines Publikums gab. Er spürte es physisch. Auf den Bühnen konnte er sich aufführen, wie er wollte.«171 Benes Auftritt mit Lectura Dantis in Bologna war für den 31. Juli 1981 angesetzt – in Gedenken an den Anschlag auf den Hauptbahnhof (Strage di Bologna) vom 2. August 1980. Dieser war von der neofaschistischen Terrororganisation Ordine Nuovo verübt worden, und es hatte über 80 Tote und 200 Verletzte gegeben. Eine weitere Lesung im öffentlichen Raum, die zugleich sein letzter öffentlicher Auftritt ebenfalls mit Lectura Dantis war und vom Kontrabassisten Fernando Grillo begleitet wurde, fand in seiner Heimat, dem Süden des Südens statt: im Burggraben von Otranto, einer Hafenstadt in Süditalien und Benes Wohnort. Die allerletzte Begegnung mit dem Publikum gab es mit Lectura Dantis, live begleitet von einem Kontrabass, gespielt von Fernando Grillo, im Graben des Schlosses von Otranto am 5. September 2001, nur wenige Tage vor seinem 64. Geburtstag.172
Otranto spielt für Carmelo Bene nicht nur in seinen späteren Jahren aufgrund seines gewählten Wohnsitzes (und Sitzes seiner späteren Stiftung)173 eine entscheidende Rolle, schon in seiner jungen wilden, stürmischen Zeit war der Stadt in künstlerischer Hinsicht große Bedeutung zugedacht. In seinem Roman und der filmischen Umsetzung von Nostra signora dei Turchi nimmt er Bezug auf die historischen Ereignisse im Ort, auf die 800 Märtyrer von 1480 sowie auf das Umland und das Meer – Drehorte seines Films. Auch dürfte in diese Arbeiten die Schwarze Romantik Lord Byrons hereinwehen, der gerade Horace Walpole mit seinem Schauerroman The Castle of Otranto Vater der Gothic Novels nennt.174 Später setzt Bene sich auch mit Francis Bacon, E. A. Poe u. a. auseinander.
170 Vgl. Carmelo Bene, Cos’è il teatro?!, S. 17–20. 171 Ebenda, S. 17–20, hier S. 18 (Orig. ital.: »Carmelo Bene amava Bologna perché qui c’era lo zoccolo duro del suo pubblico. Lui lo sentiva fisicamente. Sui palcoscenici poteva fare di tutto.«) 172 Piergiorgio Giacchè, »Bene, Carmelo«, in: Dizionario biografico, abrufbar unter Treccani.it www. treccani.it/enciclopedia/carmelo-bene_%28Dizionario-Biografico%29/ [20/11/2014] (Orig. ital.: »L’ultimo appuntamento con il pubblico avvenne con una Lectura Dantis accompagnata dal contrabbasso dal vivo di Fernando Grillo, nel fossato del Castello di Otranto, il 5 settembre 2001, a pochi giorni dal suo sessantaquattresimo compleanno.«) 173 Carmelo Bene organisierte noch zu Lebzeiten eine Stiftung mit Piergiorgio Giacchè als Präsident L’ Immemoriale di Carmelo Bene (Das Unvordenkliche Carmelo Benes) zur Archivierung, Verwaltung und Distribution seines künstlerischen Schaffens. Aufgrund familiärer Erbstreitigkeiten nach seinem Tod kam es zu schwerwiegenden Unstimmigkeiten, sodass diese Stiftung bis heute nicht in ihrem vollen und v. a. in Benes gedachtem Sinne wirken kann. 174 Vgl. Horace Walpole, Das Schloss Otranto, 2014. Vgl. insbesondere S. 63, S. 67, S. 84 und S. 89 mit Szenen aus Nostra Signora dei Turchi von Carmelo Bene. Vgl. zur Bedeutung der Gegend rund um Otranto Antonio Maglio, »Io barbaro, unico vivo tra i morti«, in: Panta. Carmelo Bene, S. 341–346, hier S. 344.
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Doch abgesehen von den erwähnten Ausnahmen sind es stets die Innenräume (be-) stehender Theater, die Bühnen selbst, die Bene bespielt, auch wenn er sich gegen sie auflehnt. Grundsätzlich wäre bei ihm zunächst kein Unterschied zum bürgerlichen Literaturtheater (teatro della prosa) und der seit dem 18. Jahrhundert etablierten Raumanordnung zu sehen. Aber da es Bene von Anfang an darum ging, das Theater, dieses Theater zu zerstören, erhebt sich die Frage, inwiefern dies geschehen sollte. Einerseits war Bene nicht auf der Suche nach einer Alternative, er wollte genau dorthin, auf die großen Bühnen, aber er wollte diese anders, neu, weniger langweilig gestalten. In seinem Artikel »Due passi in casa Meyerhold«175 in La voce di Narciso, in dem er sich neben Meyerhold auf Baudelaire stützt, schreibt er: »Im Zuschauerraum herrscht dieselbe Totenstille wie in einem Lesesalon. [Es ist] das Publikum, [das] döst.«176 Diese Totenstille war es, vor der er das Theater retten wollte. Deshalb musste er aber auch vor Ort sein und dort beginnen; zunächst einmal damit, Vorhandenes zu zerstören: »Ich muß das Theater zerstören, nicht nur das italienische. Das gesamte. Und um das zu tun, muß ich mich selbst zerstören.«177 Dies erinnert an den Wunsch Eleonora Duses: »Um das Theater zu retten, muß man es zerstören.«178 Benes Konzentration lag im (wortwörtlich zu verstehenden) Rahmen (des Bühnenraums) der Dekonstruktion (nach Gilles Deleuze), nicht in einer Form der Destruktion. Sein Ziel war die (Re-) Konstruktion des Schauspielers, des Großen Schauspielers, des Histrionen.179 Bene wollte sich als Schauspieler im Sinne des Darstellers zerstören, töten, um den Schauspieler im Sinne des Histrionen auf der Bühne leben zu lassen. Der Rahmen blieb aufrecht und war stets vorhanden, es gab keine persönliche Begegnung mit dem Publikum.180 Es gab höchstens eine Art Einstimmung, bei der es sich tatsächlich um ein Ein-Stimmen handelte wie in einem (bzw. auch tatsächlich aus dem) Orchestergraben. Im Laufe der Zeit würde Bene mehr und mehr seine Konzentration auf die Stimme, auf das Herausbilden – wie erwähnt und wie er es nennt – der Phonè legen. Die Bühne mit ihrem Rahmen bleibt, 175 Carmelo Bene, »Due passi in casa Meyerhold«, in: ders., La voce di Narciso, S. 47–51. Vgl. Gabriele C. Pfeiffer gem. m. Lorenza Castellan, »Due passi in casa Meyerhold von Carmelo Bene. Versuch einer Übersetzung des Textes«, in: Akteure und ihre Praktiken im Diskurs, S. 431–438. 176 Carmelo Bene, »Due passi in casa Meyerhold«, zit. n. Gabriele C. Pfeiffer (gem. m. Lorenza Castellan), Due passi in casa Meyerhold von Carmelo Bene. Versuch einer Übersetzung des Textes«, in: Akteure und ihre Praktiken im Diskurs, S. 431–438, hier S. 436. 177 Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 62; vgl. auch Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, S. 14. (Orig. ital.: »Io devo rovinare il teatro, non solo quello italiano. Tutto. E, per fare questo, devo rovinare me stesso.«) 178 Puah! oder Eleonora Duse. Dokumente und Dialoge, S. 127. 179 Vgl. Carmelo Bene, »Due passi in casa Meyerhold«, in: ders., La voce di Narciso, S. 47–51; sowie Gabriele C. Pfeiffer (gem. m. Lorenza Castellan), »Due passi in casa Meyerhold von Carmelo Bene. Versuch einer Übersetzung des Textes«, in: Akteure und ihre Praktiken im Diskurs, S. 431– 438. 180 Vgl. Carmelo Bene, Il teatro senza spettacolo, 1990.
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ausgestattet in ästhetischer Reinheit und teils barock-üppiger Fülle. Seine letzte Hamlet-Variation, Hamlet suite, gleicht einem großen weißen Friedhof, auf dem engelsgleiche, menschengroße Statuen stehen. Mittendrin kauert Bene, Hamlet rezitierend. Als Schauspieler bewegt er sich kaum noch mit seinem Körper, aber seine Stimme spielt Kapriolen, (er-) fasst den gesamten Raum, baut Klangwolken in alle Richtungen, Höhen und Tiefen. Bereits deutlich sicht- und v. a. hörbar ist Benes Klang- und Stimmarbeit 1979 in Manfred versione per concerto in forma d’oratorio (Orchestra e coro comunale di Bologna; direttore d’orchestra P. Bellugi; maestro del coro L. Magiera)181. Bene lädt hier kein Publikum ein oder begrüßt es freundlich feierlich. Viel eher ist es ein Angebot, sich einzustimmen, sich auf das Gemurmel und die Stimmsequenzen aus dem Orchestergraben einzulassen. Daraus geht das Einstimmen im Orchester bei seinen spettacoli concerti (Konzerttheater) hervor. Die Akustik steht mithin im Zentrum des Beneschen Theaters. Alle Stückvariationen, die ihm wichtig sind, setzt er als spettacoli concerti um und lässt sie auf Tonträger übertragen, u. a. Pinocchio, Lectura Dantis, Manfred, L’Adelchi und »Amleti« (die Hamlets), d. h. sein Hamlet, aus dem letztlich die Hamlet suite entsteht.
181 Manfred ist der Titel eines dramatischen Gedichtes in drei Akten von Lord Byron (1817), das zur Schauerliteratur gezählt wird und als das zentrale literarische Werk der Romantik gilt.
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Laboratorien. Jerzy Grotowski Allüberall Laboratorien
Jerzy Grotowski (1933–1999) verfügte nacheinander über mehrere eigene Theaterräume an unterschiedlichen Plätzen und Orten, auch weit über seine heimatlichen Grenzen hinaus. Sie alle zeichneten sich durch den Charakter des Laboratoriums aus und wanderten nach und nach vom Zentrum an die Peripherie. Sie manifestierten sich analog zu Grotowskis jeweiligen Arbeitsphasen, die sich im Laufe seiner Schaffenszeit feststellen lassen und die von ihm selbst als solche betitelt wurden.182 Bis heute sind diese Perioden erkennbar, denn im Laufe der Zeit sind »Ableger« diverser Theaterleute entstanden, die Grotowskis Ideen, Schritte und Ansätze fortsetzen oder weiterentwickeln und sie somit gewissermaßen (re-) präsentieren. Als erste Phase ist – noch während Grotowskis letztem Ausbildungsjahr183 – sein Arbeitsbeginn in Opole (Oppeln) 1959 sowie die Übersiedlung mit seinem Teatr 13 Rzędów (Theater der 13 Reihen) nach Wrocław (Breslau) 1965 zu sehen.
Jerzy Grotowski 1968 (Foto Eugeniusz Wołoszczuk) 182 Vgl. Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Jerzy Grotowski an physischen Handlungen, S. 179–216, hier S. 109–192. 183 Jerzy Marian Grotowski studierte an der Staatlichen Schauspielschule in Kraków (Schauspiel) und am Institut für Theaterkunst in Moskau (Regie) sowie an der Staatlichen Theaterhochschule in Kraków (Regie), war Assistent an der Staatlichen Theaterhochschule in Kraków, Diplom-Abschluss in Regie 1960 – ein Jahr zuvor hatte er schon das Theater der 13 Reihen gemeinsam mit dem Literaturkritiker Ludwik Flaszen übernommen.
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Dieses ist nach der Umbenennung in Teatr Laboratorium 13 Rzędów 184 schlicht und in seiner Bezeichnung selbst als experimentelles Theater, als ein Theaterlaboratorium zur Erforschung der Theater- und Schauspielkunst zu verstehen. Man habe versucht, eine neue Ästhetik von Theater zu finden, die die Kunst gleichsam reinigen sollte,185 schrieb Eugenio Barba später. Schon allein, aber nicht nur durch die Gründung gemeinsam mit dem Literaturkritiker Ludwik Flaszen wird diese Schaffensphase als die Zeit rezipiert, in der Grotowski nahe an und mit dramatischen Texten arbeitete. Dabei ist zu betonen – wie dies der polnische Theaterwissenschafter Zbigniew Osiński tut –, dass die Umbenennung des Theaters in Teatr Laboratorium 13 Rzędów von Grotowski ausging, nachdem er und Flaszen das Theater schon drei Jahre zusammen geführt hatten. Die Umbenennung wurde von Flaszen vollends akzeptiert, schreibt Osiński. Er habe sie sogar öffentlich verteidigt, allerdings oblag die praktische Arbeit vor allem Grotowski und den Schauspielenden sowie dem Architekten Jerzy Gurawski.186 In die erste Zeit fallen auch Grotowskis Überlegungen und Erprobungen, aus denen später Für ein Armes Theater 187 entsteht. Die Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen und praktizierten Theaterformen und mit dem bis dato in seinen Studien erlangten Wissen ist mitunter die bekannteste im deutschsprachigen (akademischen) Kontext und die wohl am meisten rezipierte und zitierte seiner unterschiedlichen Arbeitsphasen. Der Bekanntheits- und Rezeptionsgrad dieser Zeit betrifft sowohl seine theoretischen Überlegungen als auch die praktische Seite seiner Theaterarbeiten. Seine Beschäftigung mit Theater gehört zu den Thea terreformen, die zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einsetzten und von Grotowski sowie u. a. auch von Eugenio Barba ihre Fort- und Umsetzungen fanden. Vor allem sehen polnische Forscher_innen durch diese beiden Theaterleute und deren regen Austausch sowie durch die Verbreitung ihrer Arbeiten im westlichen ielka Raum, also jenseits des »Eisernen Vorhangs«, eine Wiederentdeckung der W 184 Zu den mehrmaligen Umbenennungen in den Jahren 1959 bis 1975 siehe: Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: Tadeusz Burzyński und Zbigniew Osiński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 7–110, hier S. 10. 185 Eugenio Barba, »Theatre Laboratory 13 Rzedow«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 73–82, hier S. 73. (Orig. engl.: »They were trying to build a new aesthetic for theatre and thus to purify the art.«) 186 Zbigniew Osiński, »Jerzy Grotowski and Ludwik Flaszen«, in: Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 141–159, hier S. 141. (Orig. engl.: »Of course Flaszen fully accepted this and justified it publicly, but the practical activities were shaped first and foremost by Grotowski together with his actors and the architect Jerzy Gurawski.«) 187 Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, 1994 (aus dem Jahre 1965). 1. Aufl. erschienen 1968 im Jerzy Grotowski and Odin Teatrets Forlag, Titel der Originalausgabe Towards a Poor Theatre, aus dem Englischen von Michael Merschmeier. Auf Polnisch erschien 1965 in der Zeitschrift Odra unter dem Titel »Ku teatrowi ubogiemu« (Das arme Theater) eine »erste systematische Zusammenfassung dieser Idee, verbunden mit einer praktischen Übungsanleitung«, vgl. Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne, S. 750.
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Reforma,188 einer Theaterreform um 1900, oder, wie Brauneck sie in seinem Buch über das Theater im 20. Jahrhundert tituliert, des »Theaters der Zukunft«189. Die Lehrjahre des in Skandinavien lebenden Süditalieners Eugenio Barba190 bei Grotowski in Polen bringen ihm manchmal sogar die Konnotation eines »›Polish‹ director«191 ein. Barba tätigt(e) zudem einen Rückgriff auf große Theaterreformatoren wie etwa Stanislawski, Meyerhold oder Tairow, den auch Carmelo Bene und Ariane Mnouchkine aufweisen.192 Als Argument, um ihn mit dem Attribut »polnisch« zu versehen, wird hier ausschließlich die persönliche Verbindung zu Grotowski herangezogen, der wiederum – wie Kott schreibt – zwar in Polen tätig war, aber dessen Arbeiten keinen Zugang zum polnischen Theaterleben fanden.193 Abgesehen von der strittigen Frage, ob polnisch (beeinflusst) oder nicht – gegenseitig haben Grotowski und Barba sich in jedem Fall beeinflusst, aber mehr auch nicht. Zumindest werden die beiden in der Rezeption bezüglich ihrer Entwicklungen unterschieden. So wird z. B. hervorgehoben, dass Grotowski sich auf innere Werte konzentriere und auf eine spirituelle Suche begebe, während Barba sich vorwiegend auf die politische Aussagekraft des Theaters und auf soziale Themen stütze.194 188 Vgl. die Übersetzung »Große Theaterreform« von Frank Heibert im Zuge seiner Übersetzungen für Für ein Armes Theater, insbesondere Jerzy Grotowski, »Für ein Armes Theater«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 13–26, hier S. 25. Vgl. auch Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 80–81. (Orig. engl.: »In Western Europe the memory of the breakthrough of modern theatrical art was generally quite dim compared with Eastern Europe. Dust hat quickly settled over the picture, we might say. There had been a dramatic severing caused by Nazism, fascism and World War II, then the separation of the two blocs, divided by the Iron Curtain.«) 189 Manfred Brauneck, Theater im 20. Jahrhundert, S. 63. 190 Im Jänner 1961 kam Eugenio Barba von Norwegen nach Polen, um die Warschauer Theaterschule zu besuchen, traf Grotowski und blieb als Regieassistent bei ihm bis 1964, um nach Norwegen zurückzukehren und das Odin Teatret zu gründen. (1964 in Oslo gegründet, übersiedelte es 1966 Holstebro, Dänemark, wo es heute noch aktiv ist.) Barbas Odin Teatret sowie Grotowskis Teatr 13 Rzędów in Opole werden in der europäischen Theatergeschichte als die ersten beiden zu nennenden Theaterlaboratorien der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert. Vgl. Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 81 und v. a. Eugenio Barba, Das Land von Asche und Diamant 2000. 191 Vgl. Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 80; sowie ebenda, S. 81 (Orig. engl.: »Barba is, to all intents and purposes, as far as his education is concerned, a director of Polish origin, who grew up in a milieu that carried on the work of the early twentieth century theatre reformers.«) 192 Zu Carmelo Bene und Meyerhold vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Carmelo Bene – Histrione und ›non-attore‹ – auf Spurensuche im Hause Meyerhold«, in: Akteure und ihre Praktiken im Diskurs, S. 410–430. Zu Ariane Mnouchkine und Meyerhold vgl. Judith Miller, Ariane Mnouchkine, S. 19. 193 Jan Kott, »Why should I take part in the sacred dance?«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 134– 140, hier S. 134. 194 Vgl. Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 89–90. (Orig. engl.: »In this pairing Grotowski came to represent the pole of inner value and the tendency to shy away from artistic creation. Barba was the pole representing the existential and political value of the theatre, for both the actor and the spectator. […] Barba came to represent the pole of vital energy, of a call to arms, an appeal for new dignity for the school-less theatres, the theatres without a home, the theatre of the
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Von Beginn an wurden Grotowskis Theaterentwicklungen in den USA aufmerksam verfolgt, und man lud ihn und seine Gruppe dorthin ein.195 In den Staaten war man fasziniert von seiner Person und seiner (neuen) Art, Theater zu machen; seine Theaterarbeit(en) wurde(n) begeistert rezipiert. Währenddessen nahm das Interesse in Europa – nach der ersten großen Resonanz auf Książę Niezłomny 1965 (Der standhafte Prinz) und Apocalypsis cum figuris beim Festival in Edinburgh 1968 sowie dem positiven Nachhall auf seine erste Theaterphase – ab. Dies mag mit Grotowskis verstärktem Fokus auf die USA im Zusammenhang stehen oder auch damit, dass er sich aus der offiziellen Theaterszene in experimentelle Laborsituationen zurückzog. Vor allem seine erste Arbeitsphase fand Eingang in die theaterwissenschaftliche Literatur, wurde gesammelt, beforscht, aufgearbeitet und archiviert, in erster Linie im Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław. Auch in Polen war man Grotowskis späteren Phasen mit zurückgehalten(er)em Interesse begegnet – doch hier nahm man sie wenigstens noch wahr. Die an alternativem Theater interessierten Praktiker_innen allerdings begleiteten Grotowskis Arbeit durchwegs und verfolgen sie auch heute noch mit großer Aufmerksamkeit, bis hin zu seinen Ansätzen, die im zeitgenössischen Theater nach wie vor erkennbar sind. Dies trifft v. a. auf die Experimente seiner zweiten Arbeitsphase zu.196 Infolge der rapide angewachsenen Reise- und Kommunikationsmöglichkeiten des 20. Jahrhunderts war es zwar kein Problem, sich über Grotowski und seine Arbeiten zu informieren, und vor allem medial ließen sie sich zunehmend schneller verbreiten. Allerdings werden auf diesem Wege nicht immer und unbedingt qualifizierte Interessent_innen angesprochen, merkt auch Peter Brook in diesem Zusammenhang an. Deshalb gebe es um Grotowski – seine Person, sein Werk – weltweit allerlei Konfusionen und Missverständnisse, ausgelöst vor allem durch diejenigen, die in seinem Namen tätig zu sein behaupten und sich damit schmücken.197 Lediglich in Italien ist die Situation etwas anders, denn dort strebt ›nameless‹, the community theatre that focused on social issues. Grotowski was able to tune into the growing propensity towards spiritual searching and to give this movement fresh legitimacy.«) 195 Dieser Kontakt mit den USA ermöglichte letztlich nicht nur Grotowski, sondern auch Mitgliedern seiner Gruppe, aus politischen Gründen Polen zu verlassen. So kam Zbigniew Cynkutis etwa mit seiner Familie in die USA. Bevor Grotowski ins politische Exil ging, versicherte er sich, dass seine Kolleg_innen ebenfalls nicht mehr in Polen lebten. Ludwik Flaszen und einige der Schauspieler_innen des Teatr Laboratorium z. B. waren in Frankreich, Cieslak ging nach Skandinavien. Vgl. Lisa Wolford, »Introduction, Objective Drama, 1983–86«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 283–293, hier S. 283. 196 Vgl. exemplarisch das Theater Węgajty, aufgearbeitet in der Diplomarbeit von Sara Tiefenbacher, Das »Theater Węgajty« auf den Spuren Grotowskis, 2010. Einen Überblick der verschiedenen Einflüsse liefert der Artikel von Andrzej Wirth, »12.000 Zeichen für Grotowski«, in: Theater der Zeit, S. 37–39. 197 Vgl. Peter Brook, »Grotowski, art as vehicle«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 381–384, hier S. 381. (Orig. engl.: »[…] thanks to the 20th-century systems of travel and communications,
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man derzeit an, sein komplettes Werk (insbesondere seine polnischen Texte) ins Italienische zu übersetzen,198 um die Werke einem breiteren (Fach-) Publikum zugänglich zu machen. Grotowski war dem Land sehr verbunden, das ihn für die letzten 13 Jahre seiner Schaffenszeit in Pontedera in der Toskana aufnahm, wo er 1999 verstarb. Vorerst durchlief Grotowski jedoch noch weitere Phasen. So wird ab 1969 nach den ersten, bereits radikalen Theaterarbeiten als zweite eine paratheatrale Arbeitsphase ausgemacht. Das bedeutet, dass keine Aufführungen im eigentlichen Sinn mehr stattfanden. Grotowski experimentierte Tag und Nacht und sehr viel in freier Natur. Seine Gruppe, die im Kern bestehen geblieben war, nahm neue Mitglieder auf. Grotowski ließ sie barfuß und nächtens durch Wälder laufen, durchs Feuer springen, bewusstseinsverändernde Erfahrungen durch körperliche Sensationen machen.199 Richard Schechner erklärt, dass das eigentlich Erstaunliche seiner Arbeiten, die in den 1960er-Jahren in kleinen Räumen und vor winzigem Publikum so esoterisch und hermetisch erschienen, darin lag, dass sie während der paratheatralen Phase zu weit geöffneten Events geworden waren. Diese Events hätten nun eine große Zahl Interessierter angezogen, allerdings nicht um dies zu bezeugen, sondern um daran teilzunehmen.200 Grotowski lehnte sich an außereuropäische Praktiken an, die er auf seinen Reisen kennengelernt hatte. Kurz nach seiner Amerika-Tour 1969 reiste er zum zweiten Mal nach Indien. 1970 kam er kurz zurück nach Wrocław, um im Sommer desselben Jahres seine dritte Reise nach Indien und Kurdistan anzutreten.201 Diese Phase wurde wissenschaftlich und in der Theaterpraxis teilweise beforscht und ist daher teilweise bekannt. Auch kann ein amüsierter und amüsierender Unterton aus manchen Schriften (nicht aber in den nach wie vor prakti-
[…] Unfortunately, this ultra-rapid diffusion has not always gone through qualified people, and around the name of Grotowski – like a rolling stone – have come to attach themselves, to graft themselves, all kinds of confusions, excrescences and misunderstandings.«) 198 So werden derzeit Grotowskis Schriften von 1954 bis 1998 in vier Bänden, übersetzt aus dem Polnischen ins Italienische von der Fondazione Pontedera Teatro, vorbereitet. Der erste Band der Reihe Jerzy Grotowski, Testi 1954–1998 mit dem Titel La possibilità del teatro (1954–1964), traduzione di Carla Pollastrelli, ist 2014 im la casa Usher in Florenz erschienen, der zweite Band Il teatro povero (1965–1969) 2015, der dritte Band Oltre il teatro (1970–1984) sowie der vierte Band l’arte come veicolo 2016. 199 Vgl. »Paratheatre, 1969–78, and Theatre of Sources, 1976–82«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 207–280. 200 Vgl. Richard Schechner, »Introduction to part II«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 207–214, hier S. 212. (Orig. engl.: »What was astonishing is that Grotowski’s work, which in the 1960s seemed so esoteric and hermetic, offered in small rooms before tiny audiences, became during Paratheatre wide-open events attracting multitudes not to witness but to participate.«) 201 Vgl. ebenda, S. 207–214, hier S. 207. (Orig. engl.: […] extremely restless. In the summer he made his third trip to India and Kurdistan.«)
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zierten Umsetzungen) herausgelesen werden.202 Er verrät eine gewisse Art von Unverständnis, das wohl auf tieferer Unkenntnis beruht. Denn aufgrund der verstärkten Experimente und Forschungen hatte sich Grotowski mit seiner Gruppe mehr und mehr zurückgezogen. Auf der einen Seite gab es keine öffentlichen Theateraufführungen mehr, auf der anderen waren seine Experimente – trotz großen Zulaufs – nur teilweise, d. h. praktizierend, zugänglich. Die Notwendigkeit eines geschützten Raums in dieser Phase erklärt Peter Brook damit, dass sie mysteriöser und komplexer geworden sei. Grotowski hörte mit den Aufführungen auf, während er einen Weg verfolgte, der nach wie vor einfach, logisch und direkt gewesen sei, sodass der »obskure« Eindruck entstand, er vollführe eine extravagante Veränderung in der Regie. Das sei der Preis, den Grotowski für das Betreten neuen Terrains zu bezahlen habe. Dieses sei indes fragil und müsse beschützt werden, denn es könne nicht gleichzeitig profunde Suche und eine Öffnung für alle geben.203 Die Entwicklung von der Begeisterung hin zu einem Unverständnis in der Rezeption ist u. a. anhand zweier Fernsehinterviews archiviert, beide durchgeführt von Margaret Croyden im Abstand von vier Jahren. Im ersten Interview 1969 ist zu sehen, wie positiv Grotowskis Arbeiten mit dem Armen Theater aufgenommen wurden, und dass man sein Vorgehen im Theater als intellektuell und revolutionär interpretierte, obwohl noch kaum Publikum und Kritiker_innen seine Arbeiten wahrgenommen hatten. Jan Kott war als Zuschauer sowohl in Opole als auch Wrocław und kann bestätigen, dass 25 Personen als Publikum zugelassen waren.204 Grotowski selbst sprach schon in dieser Zeit von einem »theatre of
202 So schreibt Hans-Thies Lehmann in seinem für die 1990er-Jahre maßgebenden Buch Postdramatisches Theater zur Charakterisierung bestimmter Theaterkünstler über eine Zuspitzung des Esoterischen bei Grotowski und seinem Working Space in Pontedera: »Man will wieder an die Epochen des Esoterischen anschließen, die das Theater bereits erlebt hat. Symptomatisch sind die Aura und der Ruhm, die den im Januar 1999 verstorbenen Jerzy Grotowski umgaben, der mit seinen wenigen auserlesenen Adepten beim italienischen Pontedera mit intensiver, ›spiritueller‹ Körperkontrolle an der Idee eines ›Theaters‹ arbeitete, das mehr quasi-religiösen Exerzitien glich.« Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 399. 203 Vgl. Peter Brook, »Grotowski, art as vehicle«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 381–384, hier S. 382. (Orig. engl.: »The second stage of Grotowski’s work became more mysterious and more complex. Grotowski stopped giving public performances and, while following a pathway which was still simple, logical, and direct, he gave the impression of making an extraordinary change of direction. […] seen from far off, it appeared more and more obscure. This is the price new research has to pay. It is fragile, it must be protected. It cannot be both a research in-depth and yet something which is open to all. The curiosity of the idle would be its ruin.«) 204 Vgl. Jan Kott, »Why should I take part in the sacred dance?«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 134–140, hier S. 134. (Orig. engl.: »I saw Grotowski’s Laboratory Theatre for the first time in the early 1960s in Opole, a small town in Silesia. The audience was restricted to twenty-five, but that evening only four or perhaps five guests […] came to the performance.«)
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Jerzy Grotowski und Peter Brook 1975 (Foto Adam Hawałej)
witnesses« (Theater mit Zeugen anstelle von Zuschauer_innen) sowie von einer limitierten Anzahl von Personen, die seine Arbeit gesehen hätten. Vier Jahre später, während seiner zweiten Arbeitsphase, sah sich dieselbe Interviewerin einem nicht nur optisch veränderten Grotowski205 gegenüber und hatte damit offensichtlich Schwierigkeiten. Sie konnte ihm und seinen neuen Ausführungen über das Theater (und Leben) nur mit Mühe folgen. In ihrer journalistischen Hilflosigkeit nahm sie Zuflucht zu einer sich lustig machenden Haltung in ihren Fragestellungen.206 Dies brachte den neuen Grotowski jedoch keineswegs aus der Ruhe. Im Laufe seines Lebens hat er sich äußerlich wie innerlich immer wieder stark verändert, sodass ihn zeitweise auch seine engen Freund_innen, die Mitglieder des Teatr Laboratoriums, nicht wiedererkannt haben. Als sie ihn einmal am Flughafen von Shiraz (Iran) erwarteten, hätten sie ihn beinahe verfehlt, 205 Bei seinem ersten USA-Aufenthalt entsprach Grotowski dem angesagten Erscheinungsbild eines Intellektuellen aus dem Osten: schwarzer Anzug, schwarze Brille, 1960er-Jahre-Kurzhaarschnitt, in Lackschuhen, blass, rauchend und in sich hineinnuschelnd, arrogantes, abgehoben intellektuelles Literatengehabe an den Tag legend. Bei seinem zweiten Besuch hatte er nun einige Kilo abgenommen, trug einen lausigen Vollbart und schulterlanges Haar, leichte Jeans und weites Shirt. Statt der smarten Sonnenbrille lugten jetzt seine kleinen Augen hinter den dicken Brillengläsern hervor und sahen sein Gegenüber direkt an. Outfit und Habitus ließen ihn als esoterischen, eingerauchten Hippie erscheinen. 206 Vgl. Part 1: Jerzy Grotowski. Interview by Margaret Croyden; directed and produced by Merrill Brockway, filmed by Camera Three, 1973; duration 29 min. In English and French. Instytut im. Jerzego Grotowskiego DVD Nr. 8, Wrocław. Gedächtnisprotokoll d. A., vgl. Protokoll Wrocław d. A.
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so anders habe Grotowski nach so kurzer Zeit ausgesehen.207 Auch Jan Kott hat solche Erfahrungen gemacht: »Ich traf ihn [Grotowski] in all den Jahren immer wieder, manchmal war er dick, manchmal mager, als ob sich seine inneren Veränderungen in seiner körperlichen Erscheinung widerspiegeln würden.«208 Die Faszination, die Grotowski bezüglich seines sich stark ändernden äußeren Erscheinungsbildes auf andere ausübte, begleitete ihn bis ins hohe Alter. Selbst Ludwik Flaszen, der ihn von Jugend an kannte, berichtet, dass Grotowski sich Jahre später, schon im europäischen Exil, in einen alten Mann mit Poncho und über die Ohren gezogener Wollhaube verwandelt habe. Als ob er sich gegen Kälte schützen wollte, so Flaszen, jedoch ungeachtet der tatsächlichen Außentemperaturen.209 Die dritte Phase ergibt sich logisch und in aller Konsequenz aus den vorhergehenden. Sie wird eng mit der Phase des Paratheaters in Verbindung gebracht und mit den Jahren 1976 bis 1982 unter dem Titel Theatre of Sources festgeschrieben.210 »Anfang 1975 geschah das, was Grotowski schon früher angekündigt hatte: Seine Gruppe ging vom Theater ab. Das Laboratorium behielt seinen bisherigen Namen bei, tatsächlich aber wurde es zu einem Institut für Experimente auf dem Gebiet der Kultur«211, schreibt Burzynski. Grotowski arbeitete damals mit einer multinationalen Gruppe ausgewählter Personen, die sich auf die Suche nach dem Ursprung überlieferter (Schauspiel-) Techniken begaben. Er unternahm erneut Forschungsreisen nach Indien sowie nach Mexiko und Haiti. In dieser Zeit begann die Zusammenarbeit mit Maud Robart, einer der Gruppenleiter_innen
207 Tadeusz Burzynski und Zbigniew Osiński, Grotowski’s Laboratory, Warsaw: Interpress 1979, S. 95, zit. n. Richard Schechner, »Introduction to part II«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 207– 214, hier S. 207–208. (Orig. engl.: »When he later met the Theatre Laboratory company at Shiraz (Iran) airport, even his closest associates did not recognize him – so much had he changed in that short time: he looked quite different person from the one whom they had known under that name before.«) Vgl. Tadeusz Burzyński, »Über das Theater hinaus«, in: Zbigniew Osiński und Tadeusz Burzyński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 111–147, hier S. 102. 208 Jan Kott, »Grotowski oder die Grenze«, in: ders.: Das Gedächtnis des Körpers, S. 230–237, hier S. 232. 209 Vgl. Ludwik Flaszen, Grotowski & Company, S. 258. (Orig. engl.: »Many years later, already in European exile, Grotowski turned into an elderly man wearing a poncho and a woo[l]ly hat on his head, pulled down to cover his ears. The impression was as if he was protecting himself against the cold and bad weather regardless of the temperature of the surroundings.«) Auch auf Ital. erschienen: ders., Grotowski & Company, sorgenti e variazioni, a cura die Franco Perrelli con una nota di Eugenio Barba, Bari: edizioni di pagina 2014. 210 Vgl. ebenfalls »Paratheatre, 1969–78, and Theatre of Sources, 1976–82«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 207–280. 211 Tadeusz Burzyński, »Über das Theater hinaus«, in: Zbigniew Osiński und Tadeusz Burzyński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 111–147, hier S. 113.
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auf Haiti,212 die eine sehr lange, intensive und weit über Haiti hinausreichende werden sollte. Außerdem (ver-) suchte er auch seinen eigenen (biographischen) Wurzeln nachzugehen und drehte 1980 in seinem Heimatdorf den Film With Jerzy Grotowski, Nienadówka.213 Der Film widerspiegelt den Versuch, sich zwischen der Ferne (Osten, Indien und Westen, Amerika) und einer vermeintlichen Nähe (Herkunftsland, Polen) (ver-) orten zu wollen. »Er wollte das Unmögliche. Eigentlich strebte er nach einem Theater, das kein Theater war: suchte nach einem Schauspieler, der nicht spielte, nach einem Zuschauer, der nicht Zuschauer war, suchte nach einer Erziehung, die Entziehung war. Er sucht einfach nach etwas Unmöglichem«214, beschreibt Flaszen seinen Freund und Kollegen rückblickend in dem Eingangsinterview zu einem Filmporträt über Jerzy Grotowski. Aus politischen Gründen verließ Grotowski Polen 1982 und übersiedelte zunächst in die USA, die in jenen Jahren für ihn offensichtlich am attraktivsten waren. Er suchte dort um politisches Asyl an.215 Damit begann seine vierte Periode, die in die Jahre 1983 bis 1986 fällt, die Phase des sogenannten Objective Drama.216 Im Mittelpunkt der theaterpraktischen Forschungen standen theatrale Elemente wie Tänze, Gesänge, Beschwörungen, Rhythmen und die Verwendung des Raums, Studien, durch die er gänzlich aus dem europäischen Wahrnehmungsradius verschwand. Dabei könnte die Titelfindung dieser Phase auf T. S. Eliot, einen der großen Vertreter der literarischen Moderne, gebürtiger Amerikaner, der jedoch die meisten Jahre seines Lebens in London verbrachte, zurückgeführt
212 Vgl. Richard Schechner, »Introduction to part II«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 207–214, hier S. 214. (Orig. engl.: »one of the leaders in the community of San Soleil, the Haitian group«) 213 Dass auch dieser Film in größerem Rahmen rezipiert und von Grotowski selbst in größerem Kontext angelegt wurde, sowie dass er ihn in einem großen Sinne verstanden wissen will, ist eine Sache. Dass es sich dabei schlicht um eine Reise mit der Kamera in den kleinen Ort Nienadówka handelte, ist eine andere, die oft nicht beachtet wird. Diesen Hinweis verdanke ich Sylwia Fiałkiewicz, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław. 214 Jerzy Grotowski. prōba portretu / esquisse d’un portrait. Versuch eines Porträts aus dem Jahr 1999. Dokumentation. Regie Reźyseria Maria Zmarz-Kocyanowicz, Drehbuch Zbigniew Osiński, Kamera Krysztof Pakulski, Ton Malgorzata Rik, Schnitt Grazyna Gradon, 1999. Dauer 58 min. Der Film liegt im Archiv von Instytut im. Jerzego Grotowskiego DVD Nr. 36 (Polnisch mit engl. u. span. Untertiteln), Wrocław, auf. Im tfm Archiv der Videothek sowie online mit deutscher Overvoice abrufbar www.youtube.com/watch?v=JNclSg2-Y2s [21/02/2017]. 215 Lisa Wolford, »Introduction, Objective Drama, 1983–86«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 283– 293, hier S. 284. Flaszen erzählt in einem Interview, Grotowskis Emigration sei nicht politisch gewesen, der Impuls zu gehen hingegen sehr wohl. Er habe Polen verlassen, um seine Fähigkeiten zu retten. Flaszen stellt in diesem Gespräch den Vergleich mit dem Verlassen eines sinkenden Schiffes her. Vgl. Audiomaterial: »Spotkanie z Flaszenem« (Gespräch mit Flaszen) am Instytut Grotowskiego 13.01.2013. Archiv von Instytut im. Jerzego Grotowskiego CD 1, Wrocław. 216 Vgl. Lisa Wolford, Grotowski’s Objective Drama Research, 1996.
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werden, so Lisa Wolford, die sich hier auf Grotowskis von Hamlet ausgehende Überlegungen zu »objektiven Korrelativen/Korrelaten« bezieht.217 An diesen theaterpraktischen Forschungen nahmen nun Künstler_innen aus Haiti, u. a. Maud Robart, aus Kolumbien, Bali, Korea und Taiwan teil. Sie alle brachten sich im Rahmen der Anforderungen auf der Suche nach Körpertechniken, rituellen und performativen Praktiken ein, die allesamt verbunden mit verschiedenen Kulturen der Welt sein sollten. Zurückgezogen in Hütten, z. B. Jurten im freien Gelände, übten und erforschten sie sowohl diese Praktiken als auch sich selbst. Einzelne Elemente daraus wirkten bis in die letzte Phase hinein und finden noch heute Anwendung. Nach all den Spuren, die Grotowski hinterlassen hat, führt ihn sein Weg 1989 auf Einladung des Centro per la Sperimentazione e la Ricerca Teatrale in Pontedera (Italien; heute Fondazione Pontedera Teatro) wieder nach Europa zurück und hin zu seiner letzten kreativen Arbeitsphase: zur Frage und Umsetzung von art as vehicle, zu der Herausbildung von Kunst in der Vertikalität. Diese Arbeit führte er nicht mehr nur mit seiner Gruppe durch, sondern ließ diese auch allein arbeiten. Er selbst lebte zu dieser Zeit bereits sehr (in sich) zurückgezogen. In seinem letzten Lebensjahr hat er seine Wohnung nicht mehr verlassen. Die eigenen vier Wände waren ihm genug.218 Alles spielte sich in seinem Kopf ab, und seine beiden letzten Vertrauten, Thomas Richards und Mario Biagini, fungierten als Botschafter seiner Theorien zwecks Umsetzung in die Theaterpraxis. Richards und Biagini etablierten weitere Arbeitsgruppen, sodass Grotowski auf genau zwei Gruppen und an zwei Arbeitsweisen bauen konnte. In seinem neuen Laboratorium, dem Working Space in Pontedera, wurde an zwei verschiedenen Strategien von Theater gearbeitet. Die eine Gruppe forschte und suchte im ersten Stock, die andere downstairs, es entstanden somit zwei Theaterstrukturen.219 Die »Upstairs«Gruppe wurde so gut wie nie von Grotowski begleitet, selbst als er noch vor Ort 217 Vgl. Lisa Wolford zitiert hier: T.S. Eliot, »Hamlet and his problems«, in: Selected Prose of T.S. Eliot, ed. Frank Kermode, New York: Harcourt, Brace and Jovanovich 1975, S. 48. Lisa Wolford, »Introduction, Objective Drama, 1983–86«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 283–293, hier S. 285. (Orig. engl.: »Grotowski’s use of the term Objective Drama can be related to T.S. Eliot’s concept of the ›objective correlative.‹ ›The only way of expressing emotion in the form of art‹, writes Eliot, ›is by finding an ›objective correlative‹; in other words a set of objects, a situation, a chain when the external facts, which must terminate in sensory experience, are given, the emotion is immediately evoked.‹«) 218 Vgl. Carla Pollastrelli am Ende des Dokumentationsfilms Jerzy Grotowski. prōba portretu / esquisse d’un portrait. Versuch eines Porträts, 1999. [TC 00:56:09 bis 00:56:19] 219 Zum ersten Strang und seiner Entwicklung von Song action, Downstairs action, Action, The Twin – an action in creation vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Das röhrende Er und fiepsende Sie. Notate zur Auflösung des Subjekts am Beispiel des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards«, in: Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, S. 325–337, hier S. 329–330. Zum zweiten Strang und seiner Entwicklung von One breath left vgl. Thomas Richards und Mario Biagini, »One breath left – considerazioni, in: Opere e sentieri, Il
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war. Seine Aufmerksamkeit richtete sich vor allem auf die »Downstairs«-Gruppe. Dieser seiner letzten erforschten Struktur widmete er die volle Konzentration. Sie war und ist bis heute eng mit der Person Thomas Richards verbunden. Vom Theater der 13 Reihen und von seinem Laboratorium in Polen über das Paratheater in den Wäldern bei Wrocław über Theatre of Sources und Objectiv Drama in den USA bis hin zur Erforschung von art as vehicle an seinem letzten Aufenthaltsort Pontedera nahe Florenz charakterisieren und bestimmen die Vorgehensweisen Studieren, Suchen, Erforschen, Experimentieren sowie der damit einhergehende persönliche Rückzug den Menschen Grotowski und sein Schaffen. Laut Richard Schechner ist Grotowski nach der Abkehr von Theateraufführungen nie mehr zu seiner charakteristischen und beeindruckenden Vielseitigkeit zurückgekehrt. Dies trifft allerdings nur zum Teil zu. Sein Rückzug aus dem Bereich »Regie«, wie sie sich im Literaturtheater etabliert hatte, und aus den dazugehörigen »Produktionen, resp. Aufführungen für das Auge der Betrachtenden« ist über die Jahrzehnte seines Schaffens augenfällig. Und wenn Schechner meint,220 Grotowski sei nie mehr zu Theaterproduktionen zurückgekehrt, er habe keine Gastregie mehr geführt und keine weitere Formation eines Theaterlaboratoriums mehr präsentiert, so behält Schechner nur in Hinblick auf das Experimentieren mit Theaterproduktion(en) Recht. Es gab kein zweites Teatr Laboratorium mit öffentlichen Aufführungen, aber den Laborcharakter hat Grotowski immer mit auf seinen künstlerischen Weg genommen und Wert darauf gelegt. Seiner Spur in Raum und Zeit wohnt der Charakter des Experiments im Rahmen eines Labors erkennbar inne. Peter Brook beschreibt dies in seinem Vorwort zu Grotowskis Buch Für ein Armes Theater hinsichtlich des ersten Laboratoriums: Er nennt sein Theater ein Laboratorium. Das ist es. Es ist ein Forschungszentrum. Es ist vielleicht das einzige Avantgarde-Theater, dessen Armut keine Beeinträchtigung darstellt, wo Geldknappheit nicht als Entschuldigung benutzt wird für unzulängliche Mittel, die automatisch die Experimente beeinträchtigen würden. In Grotowskis Theater sind die Experimente, wie in allen wirklichen Laboratorien, wissenschaftlich gültig, weil die wesentlichen Bedingungen eingehalten werden. In seinem Theater herrscht absolute Konzentration in einer kleinen Gruppe, und es gibt keine zeitliche Begrenzung. Wer sich für seine Entdeckungen interessiert, muß nach Polen fahren.221
Peter Brook und andere Interessierte mussten nur zu Anfang noch nach Polen zum Teatr Laboratorium 13 Rzędów fahren, denn Grotowski verließ schließlich sein Land. Das Experimentieren mit unsicherem Ausgang, eingedenk des RisiWorkcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, S. 301–319; sowie vgl. Tracing Roads Across. A Project by Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, booklet Vienna 2003. 220 Vgl. Richard Schechner, »Introduction to part II«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 207–214, hier S. 214. (Orig. engl.: »one thing can be said definitively. Once Grotowski left the Theatre of Productions, he never returned. No guest directing, no formation of a second Theatre Laboratory«) 221 Peter Brook, »Vorwort«, in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 9–12, hier S. 9.
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kos zu scheitern ebenso wie der Chance, Ungeahntes zu entdecken, blieb jedoch der Kern seines Schaffens. So sieht Brook 1995 die Forschungen und Arbeiten im Working Space in Italien. Er erkennt auch dort den Laborcharakter, wo er meint, dass Grotowskis Laboratorium eines sei, in dem Experimente heranreifen würden, die ohne oder außerhalb dieses Labors unmöglich ausgeführt werden könnten. Seine eigenen Arbeiten sieht er mit Grotowskis Werk insofern verbunden, als sie beide als Künstler daran glauben, dass es die lebendige und dauerhafte Beziehung gibt zwischen der Arbeit ohne Publikum und der Bereicherung, die diese für eine öffentliche Aufführung ist.222 Grotowski arbeitete zeitlebens im Sinne eines Theaterlaboratoriums, wie es für das europäische Theater des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach dem Wesentlichen insgesamt bezeichnend ist: experimentierfreudig, risikoreich und Grenzen überschreitend. Dies sei auf gewisse Art ein Paradox, so Mirella Schino in ihrer Einleitung zu Alchemists of the Stage 223, weil Theaterlaboratorien als wesentliche Erfindung des 20. Jahrhunderts einem sehr viel älteren und entlegeneren Gebiet theatraler Kreation ein neues Gesicht gaben: und zwar jener Transitzone zwischen Leben und Kunst sowie Handwerk und Person.224 Der geschützte Raum war für Grotowski notwendig, ganz gleich in welche Richtung er beobachtete und ausprobierte. Seine Schauspieler_innen und der Schutz seiner (Ver-) Suche standen stets im Vordergrund. Ferner legte er Wert auf eine bestimmte Form der Isolation, des Abgeschieden-Seins sowie auf den Schutz des Schauspielers (sic!), was für ihn hieß: auf die Souveränität des Performers (Pontifex)225 und später des Handelnden (Doer)226. Es ging ihm dabei keinesfalls um ein Beschützen der privaten, psychisch-emotionalen, künstlerisch existierenden Person. Dies zu er222 Vgl. Peter Brook, »Grotowski, art as vehicle«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 381–384, hier S. 382–383. (Orig. engl.: »That’s why I believe that although Grotowski’s work at Pontedera [Italy] seems remote and concealist, it concerns theatre everywhere. It is a laboratory where experiments can mature that are impossible to accomplish without a laboratory. And the fact that we, as the Centre International de Creations Theatrale in Paris, feel a kinship with Grotowski’s Centre is due to the fact that we are absolutely convinced that there is a living, permanent relationship between work without a public and the nourishment that this can give to public performance.«) 223 Der Begriff »Alchemist« ist eng mit Grotowski verbunden. Der polnische Wissenschafter Leszek Kolankiewicz spricht z. B. von einem »laboratory of an alchemist«. Von ihm entlehnt Schino den Titel für das Buch Alchemists of the Stage, Theatre Laboratory in Europe, 2009. Zuerst erschienen unter Alchimisti della scena Roma / Bari: Laterza 2009. 224 Vgl. Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 7 (Orig. engl.: »Theatre laboratories were a significant innovation of twentieth century European theatre. This innovation was however merely a new face of the much older and more remote zone of theatrical creation: the space that exists between art and life, between the craft and the person. Right from the start, theatre laboratories were something of a paradox.«) 225 Vgl. Jerzy Grotowski, »Der Performer«, in: Der sprechende Körper, S. 43–47. 226 Vgl. ebenda, S. 43–47, hier S. 43; sowie ders., »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Jerzy Grotowski an physischen Handlungen, S. 179–216, hier S. 189.
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wähnen ist insofern wichtig, als es vor allem in der Phase des Paratheaters und Experimentierens mit Schauspieler_innen immer wieder (auch in der Rezeption) zu Missverständnissen kommt. Freilich schlug Grotowski selber auch Irrwege ein, etwa indem er glaubte, das Theater in ein Ritual verwandeln zu können. Umgekehrt mag es indes geglückt sein, das Ritual in Theater zu verwandeln.227 Ebenso wenig ist Theater Therapie. Grotowski versteht sich auch keineswegs als Therapeut, denn er fühlt sich nicht für das Wohlergehen der Person zuständig, sondern er forscht. (Das ist riskant – wie es auch Mnouchkine einräumt.)228 Wie sehr er hierbei auf seine Versuchspersonen im Labor achtet und sie in ihren individuellen Bedürfnissen als Menschen (be-) achtet, ist je nach Situation und Person unterschiedlich. Letztlich sind sie für ihn Anschauungsmaterial in einem konstruktiven Sinn, wie sich zunehmend deutlich herauskristallisiert. Als Pars pro Toto stehen sie für alle Menschen, für jedes Individuum, das durch das Ablegen von Masken offenbart, was sich dahinter verbirgt. Grotowski geht von einem bürgerlichen Konstrukt der Maske aus, der gängigen Variante im Literaturtheater, mit der er sich konfrontiert sieht. Er glaubt an die Authentizität hinter dieser Maske und zeigt dies schon zu Beginn seiner Arbeiten, indem er beispielsweise Hamlet »studiert«, wenn er Studium o Hamlecie (Hamlet-Studien)229 konzipiert. Ziel dieser frühen und unter Grotowskis Regie erarbeiteten, experimentellen Aufführung sei es, so Ludwik Flaszen, die spontane Schöpfung (Tätigkeit) im Theater zu erproben.230 Grotowski verstand die Aufgabe der Regie bei Studium o Hamlecie als Sprung ins Ungewisse. Die Aufgabe (Arbeit) als Regisseur galt laut Flaszen der Mobilisierung der versteckten seelischen Reserven des Schauspielers: 227 Jan Kott spricht davon, dass Grotowski »wie kein anderer […] das Ritual in Theater [verwandelte]« und schreibt: »Grotowski versuchte lange und hartnäckig, das Theater ins Ritual zurückzuverwandeln. Bis er zu der Überzeugung kam, daß die Schändung eines Heiligen für die Gläubigen ein Sakrileg und für die Ungläubigen Heuchelei ist und daß das Opfer sogar beim Auspeitschen des Schauspielers Cieslak nur Schauspieler ist.« Jan Kott, »Grotowski oder die Grenze«, in: ders., Das Gedächtnis des Körpers, S. 230–237, hier S. 232. 228 Vgl. Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 121; vgl. auch das Zitat in FN 277. 229 Zur Übersetzung des Titels vgl. FN 8 im Kapitel »Hamlet. Schauspieler-Werden«. Im Gegensatz zu Carmelo Bene beschäftigte sich Grotowski darüber hinaus nicht weiter mit Hamlet. Diese in der Rezeption vernachlässigte Arbeit Grotowskis, seine erste und einzige Auseinandersetzung mit dem »dänischen Prinzen«, ist bemerkenswert, weil sich hier bereits vieles von dem erahnen lässt, was Grotowski zeitlebens beschäftigen würde. Rückblickend schreibt er selbst darüber: »1964 hatten wir in meinem Theaterlaboratorium in Polen eine Aufführung, die auf Hamlet fußte und die von den Kritikern als ein Fiasko angesehen wurde. Für mich war es kein Fiasko. Für mich war es die Vorbereitung auf eine wesentliche Arbeit.« Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Jerzy Grotowski an physischen Handlungen, S. 179–216, hier S. 186. 230 Vgl. Ludwik Flaszen, »Hamlet w laboratorium teatralnym«, in: Notatnik teatralny, Nr. 4, 1992, S. 166–171, hier S. 168. (Orig. poln.: »[C]elem przedsięwzięcia […] [było] próba spontanicznej twórczości w teatrze.«)
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das »Ablegen der Masken«, »Barrieren durchbrechen« und der »Reinigungsakt« (ähnlich wie bei einem Ritual, ohne dass es eines war), jedenfalls bilden nie oder fast nie Requisiten die Basis für Proben und Inszenierung.231 Zunehmend rückt in den Mittelpunkt seines Interesses, das Konzept des Individuums zu verlassen, um zum mythischen Menschen vorzudringen. Die Zuschauer_innen werden damit uninteressant und, da nicht Anschauungsobjekt, aus dem Raum hinausgedrängt. Sie werden wenige, und diese Wenigen werden Zeug_innen,232 die wie zufällig an einem Fenster vorbeikommen,233 durch das sie blicken und für kurze Zeit die dahinter agierenden Personen beobachten dürfen. Wohlgemerkt kann es dabei nur um einen Ausschnitt gehen, der nicht festgesetzt und somit im Grunde zwar zufällig ist, aber nicht beliebig. Die Handelnden sind sich – so die konzeptionelle Idee dahinter – der am Fenster Vorbeigehenden nicht bewusst, nehmen keine Rücksicht auf sie und treten nicht mit ihnen in Kommunikation bzw. Interaktion.
Ein letztes Aufblühen im Working Space Pontedera
In der letzten Arbeitsphase und am letzten Arbeitsort fließen alle Bemühungen Grotowskis noch einmal zusammen, um schließlich über sich selbst hinauszuwachsen. Den Ort gibt es wie erwähnt noch heute. Er wird von Grotowskis letztem Schüler, dem von ihm persönlich auserwählten Erben Thomas Richards, genutzt. Der sogenannte Working Space befindet sich in einer ehemaligen Mühle in Vallicelle Pontedera, Italien.234 Die Mühle liegt in malerischer toskanischer Abgeschiedenheit zwischen Pisa und Florenz. Gäste werden dort nur auf persönliche Einladung hin empfangen – ein besonderes Schutzgebaren in dieser bewusst gewählten Einsamkeit. Manchmal werden Besucher_innen in dem kleinen Ort 231 Vgl. ebenda, S. 166–171, hier S. 168–169. 232 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Kein Publikum – Zeugen sind gefragt / No spectators – witnesses are wanted«, English version by Bernhard Siebert, Written version of a lecture held on the occasion of the International Symposium – Performing through: Tradition as Research at the Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, June 28th – 29th 2003. Material Gabriele C. Pfeiffer opening conference 2003 von Tracing Roads Across – in: Materiały o Tracing Roads Across ze strony Kent University im Archiv Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław. 233 Vgl. Thomas Richards in: »Auszüge aus ›Der Rand-Punkt des Schauspielens‹. Ein Interview mit Thomas Richards«, in: Über das Workcenter of Jerzy Grotowski. Flamboyant, S. 37–68, hier S. 53; vgl. auch FN 236. 234 Pontedera ist eine italienische Kleinstadt in der Toskana, Provinz Pisa, ca. 28.000 Einwohner_innen. Außerhalb des Kreises von Theaterinteressierten, denen das 1974 gegründete experimentelle Theaterzentrum Centro per la Sperimentazione e la Ricerca Teatrale (heute: Fondazione Pontedera Teatro) und das 1989 gegründete Workcenter of Jerzy Grotowski (heute: Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards) ein Begriff sind, ist die Stadt v. a. durch die Herstellung von Motorrollern (z. B. Vespa und Ape) der Firma Piaggio bekannt.
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Pontedera abgeholt und zur Mühle chauffiert. Geladen werden zehn bis maximal 15 Personen. Sie werden einzeln hereingebeten und von Mario Biagini, Richards’ kongenialem Partner, mit Handschlag und in verschiedenen Sprachen begrüßt. Er geleitet die Gäste dann zuerst in die Küche – Zentrum eines jeden Hauses und Raum der Kommunikation schlechthin.235 Hier gibt es eine Einführung in Form einer bündigen Erklärung, was zu erwarten ist und was nicht: dass es kein gewöhnliches Theater sei, keine Zuschauer_innen gebe, sondern eine Art Zeug_innenschaft, dass es wie ein Vorbeigehen an einem Fenster sei, durch das man hineinschauen kann. Gern wird in der Literatur – und fallweise sogar von Besucher_innen – kolportiert, es handele sich bei den Gästen um einen esoterischen Zirkel, um einen Kreis von Eingeweihten, die um das alles im Vorfeld wissen. Dabei kommt es nur selten vor, dass von den Anwesenden jemand schon im Bilde darüber ist, was gesagt, getan und zu erwarten sein wird. Ganz gleich, ob jemand zum ersten Mal kommt oder schon häufiger dabei war – Biagini begrüßt jedes Mal gleichermaßen freundlich, seine einführenden Worte sind immer dieselben, und alle Besucher_innen bekommen dasselbe zu sehen und zu hören, seit Jahren. Das Gerücht geht jedenfalls weder auf Richards noch auf Biagini zurück, sondern wurde wohl von Gästen in die Welt gesetzt, die nicht zum ersten Mal kamen und sich gegenüber »Neulingen« für »eingeweihter« und wissender hielten. Dieser barfüßige Mann in seinen schwarzen Anzughosen und weißem Hemd, beides gut gebügelt, […] begann zu sprechen. Er erklärte uns, was wir sehen würden: Etwas, das nicht gemacht war, um gesehen zu werden. Wir würden vorbeischauen, durch ein Fenster blicken, dabei eine Gruppe von Menschen sehen, vielleicht beobachten, die etwas machen, das sie Action nennen. Action ist kein Theater [sagte er], [es] ist keine Performance, ist keine Art von Training. Es ist präzise und genaue Arbeit und entsteht im Rahmen von Kunst als Fahrzeug.236
Nach der Küche kommt als nächste Station der eigentliche Arbeitsraum. Dort werden die Gäste erneut empfangen, diesmal von den Handelnden, und zu einem Platz geführt. Währenddessen herrscht absolutes Schweigen. Es gibt weder 235 Vgl. Die Küche: zur Geschichte eines architektonischen, sozialen und imaginativen Raums, 1999. 236 Gedächtnisprotokoll d. A., erstmals veröffentlicht: dies., »Das röhrende Er und fiepsende Sie. Notate zur Auflösung des Subjekts am Beispiel des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards«, in: Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, S. 325–337, hier S. 327–328: »Aus persönlichen Aufzeichnungen der Autorin aus ›TDA – 2000–2002, Vorangegangenes, Mischung aus Protokoll und Text‹ (Gedächtnisprotokoll Herbst 2000). In diesen Jahren als Zeugin eingeladen. (In den Jahren 2003–2006 als Mitglied des documentation team des dreijährigen EU-Projekts Tracing Roads Across des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards tätig.).« Zum Begriff des »Fensters im Kontext des Workcenter« siehe Erklärung, zit. n. ebenda, FN 11: »Der Begriff des ›Fensters‹, durch das geblickt wird, scheint ein von Anfang an bewusst gewählter zu sein, wenn Thomas Richards etwa über seine Arbeit sagt: ›In der Struktur von Action gibt es ein Fenster. Es sind mehr Elemente da, die von einem Beobachter als etwas, was einer ›Rolle‹ ähnlich ist, ausgelegt werden können.‹«
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Tickets noch Platzkarten noch Nummern, insofern müssen die Gäste sich »ihre« Plätze auch nicht suchen. Doch heißt dies nicht, dass man sich einfach hinsetzen kann, wo man will. Man wird jeweils einzeln von einer oder einem Handelnden zu einem der Sitzplätze geführt, Sessel oder Holzbank, wobei geschaut wird, dass dieser Platz für den jeweiligen Gast geeignet ist. Bei alten Menschen etwa spielt der Aspekt Bequemlichkeit eine größere Rolle als bei jungen. Allen Besucher_innen soll jedenfalls eine gute und freie Sicht ermöglicht werden, eine Option, wie sie auch Mnouchkine fordert: Alle sollen alles sehen. Dies ist insofern gewährleistet, als alle Sitzplätze nah am Geschehen sind und nirgendwo eine Person vor einer anderen sitzt. Die Stimmung indes lässt sich weder als festlich ausgelassen noch als fröhlichleicht beschreiben. Zwischen Handelnden und Gästen gibt es nichts Verbindendes, sie sind kein Kollektiv. Mögen die Handelnden später zu etwas Kollektivem werden, zu einem Organ verschmelzen, die Zuschauenden jedenfalls werden nicht Teil davon. Der gesamte Vorgang erinnert an das Betreten eines sakralen Raums, nicht im Sinne von »religiös«, sondern von »heilig«237, wie Peter Brook es beschreibt: das leise Auftreten, der behutsame Umgang mit sich und den anderen, der sich an einem Zentrum orientierende Blick. Lisa Wolford sieht dies Jahre früher noch anders, wenn sie von einem »reinen Arbeitsraum« schreibt. Es handelt sich nicht um einen konventionellen Proberaum, sondern um ein Working Space, in dem das Workcenter of Jerzy Grotowski (ab 1996 Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards; kurz: Workcenter) zunächst mit, dann nur noch manchmal mit und schließlich nicht mehr mit Grotowski am Schauspieler (sic), an Techniken, Impulsen, Körpern und Schwingungen forscht und arbeitet, ein Laboratorium, in dem experimentiert wird und in das Gäste eingeladen werden. Die Räumlichkeit, in der Action gespielt wird, ist kein Aufführungsraum im herkömmlichen Sinn des Wortes. Auch ist es kein »ritueller Raum« im Sinne einer mystischen oder erhabenen Atmosphäre. Es ist einfach ein Raum, ein Ort, wo Leute einst auf gewöhnliche Weise an ihre Arbeit gingen. Es ist eine große Fläche, etwa 12x7,5m, mit weißen Wänden und rötlichen Holzplatten, die einen Teil des Fußbodens bedecken. (Die Täfelung wurde während der Renovierung der Arbeitsfläche hinzugefügt.) Am anderen Ende des Raumes ist ein gewölbter Durchgang, der zu weiteren Zimmern führt, die wir nicht sehen können.238
Nachdem der Sitzplatz zugewiesen wurde, tauscht niemand den Platz, verrückt eine Bank oder dreht sich hin und her und um. Hier sei angemerkt, dass es sich zwar bei freier Sicht um doch eher unbequeme Sitzgelegenheiten handelt, aus Holz und ohne jedwede Ergonomie. Sie (er-) fordern und fördern ein aufrechtes Sitzen, das an katholische Kirchenbänke erinnert und wohl der erhöhten Kon237 Peter Brook, Der leere Raum, S. 59–92, insbesondere S. 86 und S. 87. 238 Lisa Wolford, »Action. Der nicht darstellbare Ursprung. Ein Bericht von Lisa Wolford«, in: Über das Workcenter of Jerzy Grotowski. Flamboyant, S. 9–31, hier S. 11.
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zentration aufs Geschehen dient. Plaudern, Tuscheln, Lachen, all das, was man üblicherweise gewohnt ist, findet hier nicht statt – weder vor noch während noch nach einer Handlung. Und Applaus gibt es in selbstverständlicher Konsequenz am Ende auch keinen. Nach der »Handlung« – zu einem bestimmten Zeitpunkt und für eine bestimmte Dauer tatsächlich mit Action (»Action«)239 betitelt – werden die Gäste in die Küche zurückgeführt, bekommen Tee angeboten und werden zum Gespräch eingeladen. Hier ist jetzt auch Thomas Richards, der Main Doer (Protagonist), der die Handlung anleitet, dabei, und manchmal auch die anderen Doers (Handelnde). Diese sprechen dann aber nicht, sondern sitzen am Rand und hören zu oder schenken Tee ein.240 Manchmal führt ein solcher Abend zu gemeinsamem Essen – gekocht wird von den Mitgliedern des Workcenters –, das bis spät in die Nacht oder den frühen Morgen hinein dauern kann. Dies ist eine Reminiszenz an die Arbeitsphase des Paratheaters von Grotowski. Allerdings muss dazugesagt werden, dass schon der Beginn der Präsentationen zu später Stunde angesetzt wird. Begrüßung und Einführung dauern eine knappe halbe Stunde, und Action selber eine Stunde. Die Gespräche danach können kürzer oder länger dauern, 239 Zu den verschiedenen Stufen und Titeln von »Action« vgl. FN 219. An das Tracing Roads AcrossProjekt anschließend, das 2006 endete, folgte unter der Leitung von Thomas Richards im Rahmen von art as vehicle das Projekt, The Letter, ab 2008 formierte sich ein Team rund um Thomas Richards das Focused Research Team in Art as Vehicle. Es wird an folgenden Strukturen gearbeitet: The Living Room, L’heure fugitive und aktuell The Underground: a Response to Dostoevsky. Nach dem EU-Projekt Tracing Roads Across, durchgeführt und organisiert vom Theater des Augenblicks unter der künstlerischen Leitung von Gül Gürses, begann das Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards ab dem Jahr 2007 in zwei voneinander getrennten Teams zu arbeiten. (Orig. engl.: »The research currently conducted at the Workcenter involves both extremities of what Jerzy Grotowski described as ›the chain‹ of performing arts: ›Art as vehicle‹ at one end, and ›Art as presentation‹ at the other. The core distinction between these two poles of performing arts is that in ›Art as vehicle‹, the work on performance structures has as its aim the artist’s work on him/herself, while in ›Art as presentation‹, as in theatre for example, the performance opuses are, by means of the way in which they are structured, oriented towards the perception of the spectator. The current Workcenter research in its totality explores the living ways in which influences can shuttle back and forth between the two extremities of ›the chain‹ of performing arts, discovering new meanings and content in performing. Since 2007 the Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards hosts two creative teams: Focused Research Team in Art as Vehicle directed by Thomas Richards, and the Open Program directed by Mario Biagini, Associate Director of the Workcenter.«) Vgl. unter »About the Workcenter | Research«, Website des Workcenter of Jerzy Grotowsk and Thomas Richards www.theworkcenter.org/about-the-workcenter/ research/ [24/10/2016]. 240 Selbst bei einem vereinbarten Besuch mit anschließendem Gespräch und Austausch mit Studierenden sprachen zunächst nur Thomas Richards und Mario Biagini in Anwesenheit der gesamten Truppe. Erst auf Nachfrage und direktes Ansprechen hin antworteten auf die von Studierenden gestellten Fragen auch die übrigen Gruppenmitglieder. Gedächtnisprotokoll d. A. nach dem gemeinsamen Besuch von Action im Theater des Augenblicks in Wien im Rahmen der von der A. geleiteten Lehrveranstaltung Theateranthropologie: Das Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards im WS 2004/05 am 30. November 2004.
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was von den jeweils daran teilnehmenden Gästen abhängt. Insofern handelt es sich per se um Open-End-Veranstaltungen. Im Grunde waren diese Abläufe, Merkmale und Charakteristika schon in Grotowskis ersten Jahren und ersten Experimenten sichtbar, auch wenn sie über die Jahrzehnte ausgefeilter und präziser mit unterschiedlichem Menschen-Material, d. h. Schauspielern (sic), herausgearbeitet und untersucht wurden. Grotowski mag selbst als miserabler Schauspieler begonnen haben,241 wurde ihm doch sofort klar, dass er aus der Position des Regisseurs Schauspieler untersuchen wollte. Er arbeitete zu Beginn mit Zbigniew Cynkutis, Zygmunt Molik und mit Ryszard Cieslak sowie Rena Mirecka, dann vorwiegend mit Maud Robart und später Thomas Richards, den er im kongenialen Tandem mit Mario Biagini, aber auch mit weiblichen Counterparts arbeiten ließ: Nitaya Singsengouvanh, Nhandan Chirco oder Ang Gey Pin. Nach Grotowskis Tod setzte sich die Tendenz durch, in Tandems zu arbeiten, jedoch begannen sich wieder zwei Optionen zu öffnen, einerseits die Arbeit an der Action mit dem Main Doer Thomas Richards, andererseits eine neue Struktur der Performance, die einen Brückenschlag zwischen Action und Performance (ver-) suchen sollte, namentlich das Projekt The Bridge: Developing Theatre Arts im Rahmen des dreijährigen EU-Projekts Tracing Roads Across 2003–2006 mit Ang Gey Pin und Mario Biagini. Rund um Biagini bildete sich eine neue Truppe, während Richards mit einer eigenen Gruppe weiter an actions mit dem Forschungsschwerpunkt art as vehicle arbeitet. Diese beiden Stränge existieren bis heute. Während man für The Bridge wieder auf den Ticketverkauf zurückgriff und einem größeren Publikum Einlass gewährte, findet Action, oder finden unter anderem Titel neu erarbeitete actions, nach wie vor im kleinsten Rahmen statt. Während Richards also von der Forschungsebene ausgehend, auf der Grotowski angelangt war, weiterarbeitet, versucht Biagini, das bislang Erforschte wieder in Inszenierungsstrukturen zu übertragen. Und auch das ist ganz im Sinne Grotowskis. Mit der Kunst als Fahrzeug sind wir genau ein äußerstes Ende der langen Kette, und dieses Ende muß – auf die eine oder andere Weise – mit dem anderen Ende, der Kunst als Vorstellung, in Ver-
241 Ähnlich wie Ariane Mnouchkine erkannte Jerzy Grotowski sehr bald, dass er als Regisseur arbeiten würde. Vgl. Dokumentationsfilm Jerzy Grotowski. prōba portretu / esquisse d’un portrait. Versuch eines Porträts, 1999. [TC 00:00:08 bis 00:00:30 sowie 00:04:30 bis 00:04:45] sowie Dokumentationsfilm Ariane Mnouchkine – l’aventure du Théâtre du Soleil von Catherine Vilpoux, Arte France Produktion, Koproduktion Agat Films & Cie 2009, [TC 00:04:15 bis 00:04:42] und im Gegensatz dazu Carmelo Bene, der v. a. Schauspieler ist – sei es als autore-attore, als non-attore oder macchina attoriale, wenngleich auch er die Regie bereits nach seinem Debüt übernimmt (vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Carmelo Benes Theaterdebüt«, in: dies., Non esisto dunque sono, S. 14–26.)
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bindung bleiben. Die beiden Enden gehören zur selben großen Familie. Es muß möglich sein, daß etwas übergeht: technische Entdeckungen, handwerkliche Gewissenhaftigkeit.242
Eine Anmerkung am Rande: das wandernde Labor, Wien und Istanbul
Die erste Präsentation von Action in Wien fand als Pilotprojekt zu einem dreijährigen EU-Projekt im November 2002 im Salvatorsaal der Mariahilferkirche im 6. Wiener Gemeindebezirk statt. Organisiert wurde sie vom Theater des Augenblicks243. Wie in Vallicelle wurden keine Tickets verkauft, und nur eine kleine Gruppe von Personen konnte mit Voranmeldung an der Veranstaltung teilnehmen. Auch der Ablauf entsprach dem »Original«: Zunächst wurden alle Gäste persönlich von Mario Biagini begrüßt, der im Anzug und ohne Schuhwerk gekommen war. Im Vorraum gab er eine kleine Einführung darüber, was die Besucher_innen nun erwarten würde bzw. was nicht. So, wie sich Lisa Wolford an ihre Zeit in Pontedera 1995 erinnerte, verhielt es sich noch über zehn Jahre später in Wien – wieder oder noch immer: Wenn Besucher kommen, um Zeuge zu sein von Action, werden sie im Obergeschoß des Workcentergebäudes in ein Zimmer geführt, das an den Arbeitsbereich angrenzt. Mario Biagini gibt eine kurze Einführung, um die Zeugen auf das vorzubereiten, was sie sehen werden. […] »Was Sie gleich sehen werden«, sagt er uns, »ist Action«. Er empfiehlt uns, besser nicht zu versuchen, aus dieser Action irgendeine Geschichte zu machen; falls wir nach einer Analogie suchen, so ist es eher, deutet er an, gleichsam Poesie denn erzählende Prosa.244
In Wien wurden die Gäste nach der Einführung, ebenfalls und erneut, einzeln in die Kapelle eingelassen und auf ihre Plätze geführt – Sitzbänke am Rand des Raums in U-Form. Der Platz, an dem Action stattfinden sollte, war unschwer zu erkennen dort, wo vormals der Altar war. Hier kamen Akustik und Licht am besten zur Geltung, was wichtig für die Doers ist. Während Wolford betont, dass sie in Vallicelle den Arbeitsplatz in seiner Qualität als Arbeits-Platz erkennen konnte bzw. wollte, war es hier zum Himmel schreiend bzw. singend deutlich, dass Richards und Biagini ganz bewusst heilige Orte auswählten. Und die Mariahilferkirche war so ein Ort. Mit dem Altarplatz im Salavatorsaal bot sie ein Zentrum für das Geschehen, das Richards’ und Biaginis Fokus (re-) präsentierte. 242 Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Jerzy Grotowski an physischen Handlungen, S. 179–216, hier S. 214–215. 243 Action, 7.–17. November 2003, in Wien, vgl. Gedächtnisprotokoll d. A. Das von Gül Gürses gemeinsam mit der Schauspielerin und Tänzerin Sigrid Seberich 1987 gegründete Theater des Augenblicks, zunächst als freie Gruppe, später als Haus in der Edelhofgasse, existiert heute nicht mehr. (vgl. www.theaterdesaugenblicks.net/de/dashaus/ [15/02/2015]). 244 Lisa Wolford, »Action. Der nicht darstellbare Ursprung. Ein Bericht von Lisa Wolford«, in: Über das Workcenter of Jerzy Grotowski. Flamboyant, S. 9–31, hier S. 10.
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In diesem Sinne hatten sie sich während des dreijährigen EU-Projekts auch an einer weiteren Station einen besonderen Ort gewählt: die Kirche Aya Irini in Istan bul. Und stets wurde auch dort versucht, die Gäste zunächst in einen Vorraum zu führen, um sie im Kreis um Biagini sitzend ins Geschehen einzuführen und mental vorzubereiten, bevor der Hauptraum einzeln betreten werden konnte. In aller Stille und häufig geneigten Hauptes traten die Gäste ein. Die Aya Irini ist wohl eines der eindrucksvollsten Gebäude in diesem Zusammenhang. Für die Zeug_innen gab es sogar die Möglichkeit, auf der Galerie Platz zu nehmen und so die Vogelperspektive einzunehmen.245 Die Apsis erinnert an den Altarplatz der Salvatorkirche und an den Working Space der alten Mühle. Denn auch in Vallicelle gibt es eine bogenförmige Rundung, von wo aus man in die nicht sichtbaren weiteren Zimmer gelangt, so Wolford.246 In der Apsis der Aya Irini fanden Höhepunkte der Action statt, wie etwa jener der einzigen weiblichen Mitwirkenden un-
Action in der Johanneskirche, Kappadokien 2005 (Foto Frits Meyst)
245 Action, 11. Juli – 12. August 2003 in Istanbul, vgl. Gedächtnisprotokoll d. A. Bei keiner anderen Gelegenheit gab es die Möglichkeit, aus einer derartigen Perspektive dem Geschehen zu folgen. Eine so große Distanz zum Ort der Handlung einzunehmen, die erstmals das Beobachten in einer Form unterstützt, wie Grotowski es sonst nur von Doers erwartet. Er spricht dies mit der Metapher des Vogels in Anspielung auf »alte Texte« in seinem Artikel »Der Performer« an: »In alten Texten kann man lesen: Wir sind zwei. Der Vogel, der aufpickt, und der Vogel, der zuschaut. Einer wird sterben, einer wird leben.« Jerzy Grotowski, »Der Performer«, in: Der sprechende Körper, S. 43–47, hier S. 45. 246 Vgl. S. 79 Wolfords Beschreibung des Raums.
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ter den Doers.247 Auch an anderen Orten wurden stets ähnliche Raumsituationen (auf-) gesucht, so zum Beispiel in dem Dorf Çavuşin in der Zentraltürkei. Hier fand Action in einer der ältesten Höhlenkirchen Kappadokiens statt, in der Johanneskirche, von der nur mehr der Apsisabschluss und Felsbänke erhalten sind. Wenn die Doers hereinwehten und der erste Ton erklang, der Main Doer auftrat, die Action durchgeführt wurde und am Ende die Doers wieder hinauswehten, eine Schwingung, eine Energie zurücklassend, so hatte man als Zusehende_r das Gefühl, aus der Zeit, der Gegenwart gefallen und ganz woanders gewesen zu sein. Applaus gab es wie in Vallicelle nicht. Man fand sich mit allen anderen im Vorraum wieder und kehrte bei einer Tasse Tee langsam ins Hier und Jetzt zurück. Die Tasse Tee wirkt wie die asketische Variante des ausgelassenen Festes, mit dem im Théâtre du Soleil Theaternachmittage und -abende ausklingen.
Die Wurzeln im Teatr 13 Rzędów (Theater der 13 Reihen) Opole
Bis zum Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards (kurz: Workcenter) hat Grotowski einen langen und forschungsintensiven Weg zurückgelegt. Er wurde von vielen Menschen unterstützt und begleitet, die seine Arbeitsweise lernten und weiterentwickelten. Es können nicht nur die verschiedenen Arbeitsphasen, sondern auch verschiedene Herangehensweisen und Vorlieben bezüglich Personen ausgemacht werden. Zunächst ist Jerzy Grotowski selbst als der Mittelpunkt und Kopf seiner Forschungen zu sehen. Dann sind, aus heutiger Perspektive, Frauen in erster Linie als Materialspenderinnen und Fundus zu betrachten, Männer hingegen, auch von heute aus gesehen, als Untersuchungsgegenstände, mit denen er – vorzugsweise konzentriert auf einen – eng zusammengearbeitet hat. Da wären zunächst die (Ausnahme-) Frauen: Rena Mirecka – Teatr Laboratorium, Maud Robart – Theatre of Sources, Nitaya Singsengouvanh – art as vehicle. Zu diesen weiblichen Counterparts gesellen sich die Protagonisten. Zu Beginn sind es Zbiegniew Cynkutis und Ryzard Cieslak, in der Zeit des Objectiv Dramas sind es unterschiedliche Personen aus international zusammengesetzten Gruppen, bis sich Thomas Richards schließlich als letzter jahrelanger Kompagnon erwies.248
247 Vgl. FN 44 im Kapitel »Tier / Mensch. Dazwischen Sein« hinsichtlich der Rolle der Frau in Action sowie bei Grotowski. 248 Zum Verhältnis Männer-Frauen siehe auch Gabriele C. Pfeiffer, »Das röhrende Er und fiepsende Sie. Notate zur Auflösung des Subjekts am Beispiel des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards«, in: Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, S. 325–337, hier S. 327–328; sowie Claudia Tatinge Nascimento, Crossing Cultural Borders. Through the Actor’s Work. Foreign Bodies of Knowledge, 2009.
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In ästhetischer Hinsicht und in Bezug auf Grotowskis Umgang mit seinen Theaterleuten sowie seinen letzten Forschungsarbeiten kann das Augenmerk auf seine frühesten Arbeiten gerichtet werden, um seine Anliegen, Ideen, Forschungen oder sogar Ziele zu erkennen. Es ist die Periode, in der er bereits das Ablegen der (Rollen-) Masken und damit der Überlagerungen forderte, sich aber (noch) vor einem Wust an zu Durchdringendem glaubte. In dem Theaterraum in Opole oder auch in Wrocław ist angelegt, was Grotowski über den Weg der Suche nach (Theatre of) Sources und Objectiv Drama im Working Space Pontedera fortgeführt und zur Spitze getrieben hat: die Idee einer art as vehicle. Die Erben haben nach seinem Tod die Erkenntnisse wieder dorthin zurückgeführt, wo es ein Publikum gibt. Aktuell beschäftigt sich eine der beiden Gruppen249 des Workcenters vorwiegend mit einem »Open Program«, das von Mario Biagini geleitet wird und in dem dreijährigen EU-Programm zwischen 2003 und 2006 im Rahmen von The Bridge – Developing Theatre Arts 250 vorbereitet wurde. Damals wussten die Doers freilich noch nicht, wohin es führen würde. Aus der Sicht, d. h. aus der Position des Beobachtens, des Bezeugens der Mitglieder des Dokumentationsteams, wurde diese Fortführung bereits 2006 erkannt.251 Das Open Program will eine Tür zur Außenwelt öffnen. Der Kontakt zwischen dem, was im Inneren (Labor) des Workcenters erforscht wird, und der Gesellschaft außerhalb soll zugelassen werden. Ziel ist, damit den »Kern von Theater« wiederzuentdecken, den Moment nämlich, in dem Menschen miteinander in Kontakt treten.252 Grotowskis Anliegen von Beginn an, Theater als Begegnung zu begreifen,253 wird damit weitergetragen. Der Kreis beginnt sich zu schließen.
249 Die beiden Gruppen oder Teams gehören zu dem Rahmenprogramm »Focused Research Team in Art as Vehicle«, geleitet von Thomas Richards, und zum »Open Program«, geführt von Mario Biagini. Zwecks näherer Informationen und aktueller Präsentationen vgl. www.theworkcenter. org/ [25/10/2016]. 250 Vgl. Tracing Roads Across. A Project by Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, booklet Vienna 2003; Opere e sentieri, Il Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, 2007; Claudia Tatinge Nascimento, Crossing Cultural Borders. Through the Actor’s Work. Foreign Bodies of Knowledge, 2009; Gabriele C. Pfeiffer, »About those carrying the light and getting raised.« summer 2003, in: »Documentation Team Texts.« Tracing Roads Across 2003–2006, 2006. 251 Vgl. die Liste der Teilnehmenden an der Abschlusskonferenz »Convegno internazionale di chiusura: Living Traces – Performing as a Shared Reality – Pontedera, Italia 1–16 aprile 2006«, in: Opere e sentieri, Il Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, S. 449–450. 252 Vgl. »About the Workcenter | Two Teams | Open Program«, www.theworkcenter.org/about-theworkcenter/two-teams/open-program/ [25/10/2016]. (Orig. engl.: »The Program functions as a doorway to the outside world, meaning that in its daily artistic practice the team facilitates a kind of shuttling between the inner aspects of the Workcenter’s research and greater society. In this sense, Open Program aims to re-discover the very nucleus of theatre: the moment of meaningful contact between human beings.«) 253 Vgl. Jerzy Grotowski, »Theater ist eine Begegnung«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 59–64.
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An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es sich nach wie vor um »Forschungen« handelt. Das zeigt, dass rund 20 Jahre nach Grotowskis Tod der »Labor«Charakter, der 1959 in Opole seinen Anfang genommen hatte, nach wie vor besteht. Das Theater in der Provinzstadt Opole, das Jerzy Grotowski gemeinsam mit Ludwik Flaszen 1959 übernahm, befand sich in der Straße Rynek 4 (Marktplatz 4) im Stadtzentrum.254 Von der Straße aus ebenerdig erreichbar, verfügte es über zwei Ankleideräume – getrennt für Männer und Frauen – und einen Probe- bzw. Aufführungsraum. Der gesamte Raum, und nicht nur ein Bühnenbereich, für damalige Verhältnisse ungewöhnlich, wurde für die Inszenierungen adaptiert. Der für die Bühnenarchitektur zuständige Jerzy Gurawski spricht darüber in dem Dokumentationsfilm Inicjały J. G. (engl. The initials J. G.)255 und sagt unter anderem, die Arbeit als Bühnenarchitekt sei nicht nur einfach eine Frage der Architektur, sondern sie sei zentral.256 Als aufmerksamer und produktiver Partner im Bühnenraum für Jerzy Grotowski zu arbeiten, macht Gurawski zum Revolutionär des Theaterraums. Er gestaltete z. B. die Bühne für Kordian nach Słowacki im Jahr 1962, indem er von der Schlüsselszene ausgeht, in der der Protagonist »Kordian, der sich für Volk und Vaterland opfert«257, ins Irrenhaus gebracht wird. Er verlegte das gesamte Geschehen in eine Psychiatrie und stattete den Bühnen- und Theaterraum als psychiatrische Anstalt aus. Die Aufführung war als gegenseitiges Durchdringen, als Spiel von Wirklichkeit und Fiktion gedacht. Sie spielt sich sozusagen auf drei Ebenen zugleich ab. Die Wirklichkeit ist das Theater im eigentlichen Sinne: der Saal, in dem die Zuschauer sitzen, um sich die Vorführung anzusehen. Auf diese Wirklichkeit wird die erste Etage der Fiktion »aufgestockt«: Nicht nur die Schauspieler, auch alle Zuschauer spielen Patienten einer psychiatrischen Klinik. Auf dieser Vision baut noch eine weitere Fiktion auf: die eigentliche Handlung des »Kordian« von Słowacki, hier interpretiert als gemeinsame Wahnvorstellung.258
254 Heute befindet sich dort ein kleines Lokal, in das man über das Nachbarhaus gelangt, da zwei Häuser zusammengelegt wurden. Der Gebäudekomplex beherbergt eine Cocktailbar, ein Restaurant und das Lokal »Maska«. Aus seinen Theaterzeiten ist nicht mehr viel zu sehen: hie und da ein Foto des alten Gebäudes von außen, Mauern und Holzbalken sind teils erhalten, Türrahmen ebenfalls. In dem Raum selbst jedoch, der als Lokal adaptiert wurde, erinnert nichts mehr an das revolutionäre Theater aus jener Zeit. An der Außenmauer befindet sich eine Gedenktafel. 255 Inicjały J.G. (engl. The initials J.G.), biographical domentary about Jerzy Gurawski; directed by Miroslawa Sikoraska; produced by TVP S.A. Katowice 1996; duration 29 min. In Polish with English voiceover (PL/EN), Archiv von Instytut im. Jerzego Grotowskiego DVD Nr. 33 (engl. overvoice 328), Wrocław. 256 Vgl. ebenda. (Orig. engl.: »Work is not just architecture but nuclear.«) 257 Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: Tadeusz Burzyński und Zbigniew Osiński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 7–110, hier S. 23. 258 Ludwik Flaszen zit. n. Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: Tadeusz Burzyński und Zbigniew Osiński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 7–110, hier S. 24.
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Das Publikum saß auf eisernen Spitalsbetten, auf diese Weise wurden die Zuschauer_innen als »Patient_innen« in das Spiel einbezogen. Gleichzeitig dienten die Betten als Podien für besondere Szenen und eröffneten damit die Möglichkeit, das Spiel selbst akrobatisch anzulegen. Die Form des Miteinbeziehens des Publikums hat Grotowski hier zum letzten Mal versucht und auf drastische Weise umgesetzt: Beim Anstimmen vom Lied des Unbekannten etwa zwang der »Arzt« sowohl Schauspielende als auch Zuschauende zum Mitsingen.259 Wer sich weigerte mitzusingen, wurde mit dem Stock unter der Nase dazu angehalten, mitzumachen oder zu gehen. Die Aufführung des Kordian war nicht nur die letzte, die das Publikum aktiv miteinbezog, sondern auch ein Vorausblick auf Akropolis, Dr. Faustus und Apocalypsis cum Figuris – die noch Inszenierungen waren, aber bereits wegweisend für das Kommende. Sie verweist – auch im Sinne des Bekannheitsgrades außerhalb Polens und dessen, was Grotowski schließlich gänzlich ohne Publikum weiterverfolgen würde – auf Erforschung und Experiment am Körper und am Schauspieler (sic). Die Raumanordnung macht deutlich, worum es Grotowski (noch) geht: um das Verhältnis zwischen Publikum und Schauspielenden. Zwar konzentrierte er sich schon verstärkt auf das Tun und das Schauspielen, doch er hatte das Publikum räumlich nach wie vor im Blick. Noch arbeitete er an Präsentationen und an der Beziehung zwischen Rezipierenden und Agierenden. Rückblickend sagt er: Unsere ganze Aufmerksamkeit und alle Formen unserer Tätigkeit galten nun vor allem der Kunst des Schauspielers. Nachdem wir die Idee eines bewußten Manipulierens mit dem Zuschauer verworfen hatten, verzichtete ich fast sofort auf das Inszenieren, und in der Konsequenz begann ich – was logisch erscheint –, die Möglichkeiten des Schauspielers als eines Schöpfers zu erforschen … Es tauchte also das Problem des Schauspielers auf.260
Nicht so sehr die Tatsache, dass er sich voll und ganz den Schauspieler_innen verschrieben hatte, ist das Besondere an dieser Erinnerung – das ist hinlänglich bekannt und zentral in der Grotowski-Rezeption –, als vielmehr, dass er sein Verhältnis zu den Zuschauer_innen beschreibt: Er habe sie nicht »manipulieren« können, was darauf schließen lässt, dass er es versucht hat oder sich bei dem Versuch ertappte. Es ging ihm damals um die Forderung nach einem autonomen Theater mit ihm als Regisseur, der mit bzw. für zwei Ensembles arbeitet:
259 Vgl. Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: ebenda. 260 Jerzy Grotowski zit. n. ebenda, S. 7–110, hier S. 23. Vgl. das Zitat in der FN 17 im Kapitel »Tier / Mensch. Dazwischen Sein«.
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Schauspielende und Zuschauende.261 Die Idee des Armen Theaters war die, den »Zuschauer als Resonanzkiste« zu verwenden.262 Als die junge Theatertruppe 1964 mit dem umbenannten und in der Intention eines »Laboratoriums« geführten Theater nach Wrocław auf den Rynek-Ratusz 27 (Marktplatz 27, Rathaus) umzog, nahm die Bedeutung der eigenen (Schauspiel-) Erforschungen zu. Grotowski verfolgte konsequent die Idee, die er bei der Namensänderung im Sinn hatte und über die er noch Jahrzehnte später mit Lisa Wolford sprach. Sie erinnert sich, dass Grotowski ein Niels-Bohr-Laboratorium wollte, wie sein älterer Bruder Kazimierz es hatte, einen Ort laufender Entdeckungen.263 Mag Grotowski auch mehrmals den Ort gewechselt haben, sein Wunsch nach permanentem Entdecken ist immer gleich geblieben. Ein Institut, das sich dieser Art Forschung verschrieben hat, [schrieb Grotowski,] sollte, wie das Bohr-Institut, ein Ort der Begegnungen, Beobachtungen und der Auswertungen von Experimenten sein, die von den in diesem Bereich produktiven Personen verschiedener Theater in jedem Land zusammengetragen werden. Auch wenn man in Betracht zieht, daß das Gebiet, auf das sich unsere Hauptaufmerksamkeit richtet, kein wissenschaftliches ist und nicht alles darin definiert werden kann (tatsächlich dürfen viele Dinge nicht definiert werden), versuchen wir dennoch, unsere Ziele mit all der Präzision und Folgerichtigkeit zu bestimmen, die der wissenschaftlichen Forschung eigen ist.264
Dieser Raum, der als »das« Laboratorium der 1960er-Jahre in die Theatergeschichte eingegangen ist,265 befand sich im zweiten Stock in einem Gebäude ne261 Vgl. Jerzy Grotowski, »Für ein Armes Theater«, in ders., Für ein Armes Theater, S. 13–26, hier S. 18–20 und ders., »Das Neue Testament des Theaters«, in: ebenda, S. 27–64, hier S. 33–34 und 42–43; sowie Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: Tadeusz Burzyński und Zbigniew Osiński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 7–110, hier S. 13; Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne, S. 750; und Gabriele C. Pfeiffer, »The idea of ensemble. Written version of the lecture held on the occasion of the Intervention in Bulgaria (Sofia)« – Open Seminar, November 14th 2004 von Tracing Roads Across – in: Materiały o Tracing Roads Across ze strony Kent University im Archiv Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław. 262 Vgl. Ludwik Flaszen, »Hamlet w laboratorium teatralnym«, in: Notatnik teatralny Nr. 4, 1992, S. 167–171, hier S. 171: »Der Schauspieler schafft (erschafft) hier alles: die Szenerie und die Atmosphäre, Zeit und Raum. Es ist die in extremis gebrachte Gestalt / Form unserer Idee des »Armen Theaters«, die als ganzes Instrument nur den Schauspieler hat – und den Zuschauer als Resonanzkörper/-kiste.« (Orig. poln.: »Aktor stwarza tu wszystko: scenerię i klimat, czas i przestrzeń. Jest to do skrajnej postaci doprowadzona nasza idea ›teatru ubogiego‹, który za cały instrument ma tylko aktora – a widza za pudło rezonansowe.«) 263 Vgl. Lisa Wolford, »Introduction to part I«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 2–27, hier S. 25. (Orig. engl.: »Grotowski told me [Lisa Wolford] in 1996 that he wanted his theatre to be like the lab of Neils [sic] Bohr that his older brother Kazimierz once worked in, a place of continuous exploration.«) 264 Jerzy Grotowski, »Methodische Erforschung«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 135–141, hier S. 138. 265 Einer der ersten Theaterwissenschafter, der über Grotowski geschrieben und seine Arbeit selbst erlebt hat, ist Zbigniew Osiński. Vgl. eine der ersten Publikationen, die auch auf Deutsch er-
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ben dem Rathaus im Zentrum von Wrocław. Er wird bis heute bespielt und ist Teil der Räumlichkeiten, in denen auch das Instytut im. Jerzego Grotowskiego untergebracht ist. Seine Existenz verdankt das Institut einem der ersten Grotowski-Schauspieler, Zbigniew Cynkutis.266 Im Gegensatz zu dem lichtdurchfluteten Raum entstanden in jener Zeit und an anderen Orten Laboratorien wie etwa in Italien unter Tage und in Kellern (cantine). Sie feierten dort ihre Debüts und nahmen ihren Weg aufwärts in Angriff, wie z. B. Carmelo Bene mit seinem Laboratorium. Oder aus Theaterkommunen wie rund um Ariane Mnouchkine erwuchsen Theaterformen, die den Charakter eines Laboratoriums hatten. Mnouchkine sieht ihr Theater auch als ein Laboratorium zur Untersuchung von Spielweisen. Dabei nimmt sie sich Zeit für Irrtümer und Umwege – oft lernen die Beteiligten gerade dort am meisten. Bei den Proben sind die Schauspieler geschminkt und kostümiert, ob sie nun »drankommen« oder nicht. Das gibt den Improvisationen eine große Freiheit – alle können jederzeit eingreifen, sie halten ihre Figuren bereit und treiben das Spiel voran. Die Regisseurin läßt sie über Stunden gewähren, beobachtend, animierend, nur selten unterbrechend. Sie spornt die Phantasie der Schauspieler an, ihre Spontaneität und Kreativität, und sie benutzt das erarbeitete Material, um Spuren zu legen für die weiteren Expeditionen.267
Jerzy Grotowskis Laboratorium in Opole war ebenerdig und bestand aus mehreren Räumen. In Wrocław fanden sich die Experimentierfreudigen im zweiten Stock in einem Raum wieder. Jerzy Grotowskis Verortung war also weder an feuchten Kellermief noch an weitläufige Hallen gebunden. Im Gegenteil: Ein sonnendurchfluteter Raum lädt ein zu experimentieren, zu forschen und zu suchen. Man spielte, forschte und probte bei Tageslicht bis zum Einbruch der Dunkelheit. In den Vorführungen dann kam Kerzenlicht zum Einsatz. Und Kerzen sind bis heute ein wesentlicher Bestandteil in den verschiedenen Strukturen der Action.
schienen ist: Zbigniew Osiński und Tadeusz Burzyński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, Deutsch von Barbara Ostrowska, Warszawa: Polska Agencja Interpress 1979. 266 Die Stadt Wrocław bat Zbiegniew Cynkutis, aus den USA, wo er mit einem guten Vertrag an einer Universität lehrte, nach Polen zurückzukommen. Der Hintergrund dürfte der Wunsch gewesen sein, Informationen über Jerzy Grotowski einzuholen. Cynkutis kam nach Polen zurück und war maßgeblich am Aufbau des Archivs, Instytut im. Jerzego Grotowskiego, beteiligt. Gedächtnisprotokoll d. A. v. Februar 2015 nach einem Gespräch zur Entstehungsgeschichte des Instytuts mit Zbigniew Jędrychowski, leitender Archivar des Instytut im. Jerzego Grotowskiego. Mit Dank für die Erzählung und die Gespräche. Vgl. die offizielle Passage über die Geschichte des Instytuts: »The Wrocław Second Studio«, www.grotowski-institute.art.pl/index.php?option=com_content &task=view&id=140&Itemid=142 [20/02/2016] (Orig. engl.: »Cynkutis’s decision to take over the management of the theatre pleased the authorities. It was important that the theatre was to be established by one of Grotowski’s principal actors, and one who considered the preservation of the theatre’s legacy to be a fundamental task. On his return to Poland in August 1984, Cynkutis began to work towards the foundation of the new theatre.«) 267 Renate Klett, »Königin und Sphinx. Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil«, in: Theaterfrauen, S. 195–209, hier S. 203.
Utopie(n) und Visionen Ein eigenes Haus. Ariane Mnouchkine
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Utopie(n) und Visionen Die Schauspielenden
Die drei Theaterschaffenden Ariane Mnouchkine, Carmelo Bene und Jerzy Grotowski sind durch viele gemeinsame Aspekte zu beschreiben: die gemeinsame aktive Zeitspanne, die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts; ihre geographische Zuordnung, Europa; ihre Beschäftigung mit Theatergrößen eines klassifizierten Kanons, allen voran Shakespeare; ihre Liebe zum Experiment und ihr Hang zu laborähnlichen Anordnungen und Situationen. Sie sind ständig auf der Suche und verfolgen »die Idee, dass die Bühne ein Ort ist, wo das Unsichtbare erscheinen kann«, d. h. sie haben eine Vision von Theater, die Brook »der Kürze halber das ›heilige Theater‹« nennt, »man könnte es auch das ›sichtbar gemachte unsichtbare Theater‹ nennen«268. Darüber hinaus ist ihr Schaffen gekennzeichnet durch die Liebe für Schauspielende, für Akteur_innen, bisweilen eine Vorliebe für sie. Sind es doch sie, die im Mittelpunkt des (Theater-) Geschehens stehen und agieren. Dieses Bekenntnis prägt ihr (Selbst-) Verständnis von Theater. »Die Frage nach dem Schauspieler« ist bei Mnouchkine auf alle Akteur_innen, bei Grotowski je nach Phase auf einen bestimmten Schauspieler oder Doer und bei Bene einfach immer auf sich selbst als den Großen Schauspieler gerichtet. Diese »Frage nach dem Schauspieler« nun, schreibt die Theaterwissenschafterin Gerda Baumbach, »ist für mich keine unter vielen anderen, sie ist die zentrale Frage. Und sie kommt aus der Praxis.«269 Aus der Praxis gesprochen ist das Wichtigste das, was Schauspieler_innen tun. Denn über »abstrakte Vorstellungen« oder auch »von schönen, lebenswerten Dingen« zu sprechen, reicht nicht für ein Theater – insbesondere nicht für das, an welches sich die drei annähern. »Wenn man nur darüber redet, existiert das Theater nicht mehr«270, sagt Ariane Mnouchkine und arbeitet mit ihren Schauspieler_innen immer augenblicklich: »So gibt es niemals, niemals die Arbeit am Tisch. […] wir spielen sofort.«271 Um dem »Teufelskreis« unzähliger Theaterdefinitionen zu entgehen, beginnt Jerzy Grotowski auf seinem Weg zu einem Armen Theater Elemente zu reduzieren und fragt sich: »Aber kann das Theater ohne Schauspieler existieren?«272 Seine Antwort ist eindeutig, er kennt kein Beispiel, die Schauspielenden bleiben zentral. Carmelo Bene überzeugte seine 268 Peter Brook, Der leere Raum, S. 59. 269 Gerda Baumbach, Schauspieler, Band 1, S. 1. 270 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 130. 271 Ariane Mnouchkine, »Man erfindet keine Schauspieltheroien mehr«, in: ebenda, S. 30–36, hier S. 34. 272 Jerzy Grotowski, »Das Neue Testament des Theaters«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 13–26, hier S. 33.
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Eltern, dass sein Leben kein anderes sein würde als das des Theaterprinzipals, Leiters, Übersetzers, Regisseurs, Bühnen- und Kostümbildners, das des ersten Schauspielers, vor allem letzteres,273 denn das Entscheidende war, dass er es getan hat, Carmelo Bene hat all dies präsentiert, und nicht repräsentiert, wie er betont. Für ihn war nichts anderes möglich als auf die Bühne zu gehen, es gab diese »Dringlichkeit«, das »Verlangen«, die »Sehnsucht«, vielleicht das Unbehagen des Schauspielers, es zu tun. Er spricht von der »Dringlichkeit des Undarstellbaren, die da an die offenen, durchbrochenen Türen klopft«274. Andernfalls wären all die Gedanken und Überlegungen zum Theater nur pseudointellektuelles Geschwafel gewesen, sagt er. Was aber meint Bene mit dieser Dringlichkeit des Undarstellbaren?275 Es geht ihm um die eine Aufgabe, die an Schauspielende gestellt wird: darzustellen, was nicht darstellbar ist. Je brennender dieses Verlangen ist, desto stärker wird das Unbehagen der Schauspielenden. Sich dieser Dringlichkeit und der Herausforderung des Undarstellbaren zu stellen, d. h. sich der Herausforderung auszusetzen, das Undarstellbare auf der Bühne umzusetzen und nicht nur davon zu sprechen. Das wiederum setzt eine eingehende Suche und ein Forschen in der Theater- oder präziser gesagt in der Schauspielpraxis voraus. Ein reizvolles Unterfangen, wenn das Theater als eines gesehen wird, das »die Kunst der Dringlichkeit und der Gegenwart« ist, wie dies Mnouchkine tut, und doch gleichzeitig weiß, dass Theater »weder in dringenden Fällen noch in der Gegenwart«276 funktioniert. Natürlich ist diese Suche mit Gefahren und Risiken verbunden, auf die sich die Schauspielenden einlassen (können) müssen. Denn »wenn man forscht«, so Mnouch kine, »setzt man immer alles auf Spiel. Die Schauspieler forschen; folglich sind sie stets in Gefahr.«277 Bene betrachtet diese Suche als etwas »Schmutziges und Heruntergekommenes«, was ihn zu dem Schluss bringt, nicht von »spettacolo« (Schauspiel / Aufführung) zu sprechen, sondern vielmehr von einem »teatro sen-
273 Vgl. Carmelo Bene, »Sono apparso alla Madonna, vie d’(H)eros(es), autobiografia«, in: ders., Opere, S. 1049–1200, hier S. 1059. (Orig. ital.: »che quella: capocomico, amministratore, traduttore, regista, scenografo, costumista, primo attore«) 274 Vgl. Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 417: »Aber all das wäre pseudointellektuelle Masturbation, hätte ich auf dies alles nicht hingewiesen – nicht be-wiesen, sondern hin-gewiesen – hätte ich es nicht präsentiert, keinesfalls repräsentiert. Diese Dringlichkeit des Undarstellbaren, die da an die offenen, die durchbrochenen Türen klopft.« (Orig. ital.: »Ma tutto sarebbe masturbazione pseudointelletuale se io tutto questo non lo avessi mostrato, non dimostrato, presentato, non rappresentato. Questa urgenza dell’irrappresentabile che bussa alle porte aperte, sfondate.«) 275 Vgl. Maurice Blanchot, »Die Literatur und das Recht auf den Tod«, in: ders., Das Neutrale, S. 47– 92. 276 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 130. 277 Ebenda, S. 120–130, hier S. 121.
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za spettacolo« (Theater ohne Aufführung) oder von der »unmöglichen Suche«.278 Als er 1989 die Direktion der Theatersektion der Biennale übernahm, schilderte er dieses Anliegen und sein Vorhaben. Seine Vorstellung war, dass das Theater – und er bezieht sich hier noch keinesfalls auf avantgardistische Formen darstellender Kunst oder einen erweiterten Theaterbegriff –, dass das bürgerliche Literaturtheater außerhalb jeder Form sein müsste und dies nur der neue Schauspieler zustande brächte: Das Theater müsste das Jenseits jeglicher Formen sein, das Hinausgehen über die Art und Weise. Von hier knüpfen viele andere Diskurse an: letztlich entdeckt man einen neuen Schauspieler, ein neues Theater, in den Jahrtausenden beispiellos und vor allem [beispiellos] im modernen, zeitgenössischen und postmodernen Theater, also [beispiellos] in den letzten fünf Jahrhunderten.279
Auch Mnouchkine bringt neue Schauspieler_innen und ein neues, beispielloses Theater hervor, verzichtet jedoch darauf, die Form zu verlassen. Ganz im Gegenteil besteht sie darauf, dass Form und Inhalt verständlich sind und dass »Gefühle und sehr Geheimes, sehr Geheimnisvolles aufgenommen werden [sollen], obwohl es vielleicht unterschwellig und unausgesprochen bleibt, dabei aber existiert«.280 Sie sieht das Größte und Geheimnisvollste in der Frage bzw. der Antwort auf die Frage nach dem Inneren und Äußeren, dem Zustand und der Form: »Wie soll man einer Leidenschaft Form geben? Wie sie äußern, ohne in die Äußerlichkeit zu verfallen?«281 Sie möchte nicht aus der Form heraus, sondern sucht mit ihren Schauspieler_innen den Weg hinein in die Form. Wenn sie sie gefunden haben, haben sie Theater gemacht. Wenn es aufgeht, dann sind sie darüber glücklich, dass ihr Theater das kann. »Wir waren glücklich zu entdecken, daß Theater so ist, daß Theater sich in dem Augenblick ereignet, wo ein Schauspieler Unbekanntes vertraut zu machen vermag und, umgekehrt, Vertrautes (nicht das Alltägliche, weil das Alltägliche gerade ›das im voraus Abgenutzte‹ ist) überblendet und tiefgreifend verändert.«282 Grotowski hingegen dachte (vermeintlich) nicht (mehr) an die Veränderung bei den Zuschauenden. Er ist der Theatermann, der mit Theaterarbeiten ohne
278 Carmelo Bene, Cos’ è il teatro?!, S. 27: »Die Suche ist etwas sehr Schmutziges, sehr Heruntergekommenes, daher sprechen wir vom ›Theater ohne Aufführung‹ oder von der ›unmöglichen Suche‹.« (Orig. ital.: »La ricerca è qualcosa di molto sputtantato, di molto degradato, perciò è detto il ›Teatro senza spettacolo‹ ovvero la ›Ricerca impossibile‹.«) 279 Ebenda, S. 24. (Orig. ital.: »Il teatro dovrebbe essere l’al di là delle forme, l’uscir dal modo. Da qui si innescano tanti altri discorsi: finalmente si scopre un nuovo attore, un nuovo teatro, inedito nei millenni e soprattutto nel teatro moderno, contemporaneo e postmoderno, cioè negli ultimi cinque secoli.«) 280 Ariane Mnouchkine, »Eine Bewusstwerdung«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 14–17, hier S. 14. 281 Ariane Mnouchkine, »Man erfindet keine Schauspieltheorien mehr«, in: ebenda, S. 30–36, S. 31. 282 Ebenda, S. 30–36, S. 31–32.
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Aufführungen und ohne Publikum in die Geschichte einging, wenn man »seine Zeug_innen« nicht »als Publikum«283 betrachtet. Und dies geschah, obwohl seinem Verständnis ein Ansatz vorangegangen war, der besagt, dass Theater u. a. »auch eine Begegnung von kreativen Menschen« sei. Und er meinte damit: »Der Kern des Theaters ist eine Begegnung.«284 Diese ist keine Geringere als diejenige zwischen den Schauspielenden und den Zuschauenden, die er zu Beginn seiner Tätigkeit noch einbezog. Das – so ließe sich zusammenfassen – ist der »Kern« seines Theaters: die Begegnung zwischen Publikum und Agierenden. Jan Kott sieht in Grotowski einen Gesprächspartner, der zuhören und sprechen und mit dem er sich austauschen kann – anders als Peter Brook, bei dem sich jedes Gespräch in einen Monolog seinerseits verwandelt. Grotowski ist indes interessiert an einer Begegnung, an einem Austausch mit seinem Gegenüber. »Und vielleicht deshalb«, vermutet Kott, »ist das, was er vom Theater bewahren möchte, die Begegnung. Die beidseitige.«285 Allerdings lag Grotowskis Aufmerksamkeit bekanntlich schließlich bei den Schauspielenden bzw. dem Schauspieler. Doch weniger eingehend wird in der Rezeption darauf reflektiert, dass gerade in dem Bekenntnis zur Begegnung zwischen Agierenden und Rezipierenden der Grund dafür versteckt liegt, weshalb er nur auf die Schauspielenden und schließlich den Schauspieler fokussierte. Er war davon überzeugt, dass […] mindestens ein Zuschauer […] vonnöten [ist], um eine Aufführung zu ergeben. So bleiben uns also der Schauspieler und der Zuschauer. Deshalb können wir Theater definieren als das, »was zwischen Zuschauer und Schauspieler stattfindet« […] Zwar können wir das Publikum nicht erziehen – zumindest nicht systematisch –, wohl aber können wir Schauspieler ausbilden.286
In seinen Arbeiten und Forschungen konzentrierte sich Grotowski daher immer mehr auf die Schauspielenden, sowohl in seinen Experimenten als auch in der von ihm eingeführten Ausbildung, seiner Schule. Der vollständige Name seiner Experimentierstätte lautete anfänglich »Theater Laboratorium der 13 Reihen, For-
283 Zur Entwicklung von Zuschauenden zu Zeug_innen bei Grotowski vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Kein Publikum – Zeugen sind gefragt / No spectators – witnesses are wanted«, english version by Bernhard Siebert. Written version of a lecture held on the occasion of the International Symposium – Performing through: Tradition as Research at the Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, June 28th–29th 2003. Material Gabriele C. Pfeiffer opening conference 2003 von Tracing Roads Across – in: Materiały o Tracing Roads Across ze strony Kent University im Archiv Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław. 284 Jerzy Grotowski, »Theater ist eine Begegnung«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 59–64, hier S. 61. 285 Jan Kott, »Grotowski oder die Grenze«, in: ders.: Das Gedächtnis des Körpers, S. 230–237, hier S. 232. 286 Jerzy Grotowski, »Das Neue Testament des Theaters«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 27–58, hier S. 33–34.
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schungsinstitut für Schauspielerische Methode«287. Grotowski interessierte sich also sehr wohl für das, was zwischen Agierenden und Rezipierenden geschieht, er fokussierte dabei aber auf das Tun der Schauspielenden. Diese Konzentration führte in letzter Konsequenz zu Experimenten und Forschungen der und an den Schauspielenden und damit zum Ausschluss von Aufführungen, in Konsequenz auch zum Ausschluss von Publikum. Grotowskis Abwendung vom Theater bezog sich also nicht grundsätzlich auf die Zuschauer_innen, sondern ergab sich vielmehr dadurch, dass er sich auf die Ausbildung der Agierenden konzentrierte, jedoch ohne je wieder Interesse daran zu finden (oder finden zu können), zu Inszenierungen und Publikum zurückzukehren. Grotowskis Forschungen und seine Suche stellen einen allgemeinen Gültigkeitsanspruch an Schauspielende und müssen immer auch in Ausbildung und Schauspieltraining münden – etwas, worum sich auch Thomas Richards und Mario Biagini in Pontedera nach wie vor bemühen.288 Während sich Grotowski also für den einen Pol des Kontinuums Theater als Vorstellung bis Theater als art as vehicle oder Kunst als Fahrzeug 289 (für den Schauspieler – ohne jedwede Mitfahrgelegenheit für potenziell anwesende Zuschauende oder Zeug_innen), entschieden hatte, dem er von da an sein künstlerisches Schaffen widmete, verbleibt Mnouchkine in der Nähe des anderen Pols, bei art as presentation oder der Kunst als Vorstellung.290 Sie geht sogar noch darüber hinaus, wenn sie sagt: »Das Theater ist mehr als nur eine Darbietung; es muß eine
287 Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: Tadeusz Burzyński und Zbigniew Osiński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 7–110, hier S. 10. In dem ersten Dokumentarfilm aus dem Jahr 1963 werden Trainingseinheiten gezeigt: List z Opola von Michael Elster 1964. Der Film hat eine Dauer von 28 Minuten und wurde produziert von Państwowa Wyższa Szkoła Teatralna i Filmowa. Dies war das Abschlussprojekt an der Staatlichen Theater- und Filmhochschule Lódz, betreut von Prof. Stanislaw Róžewicz. Vgl. Protokoll Wrocław d. A. Der Film liegt im Archiv Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław auf, online abrufbar unter: ninateka.pl/kolekcja-teatralna/ material/list-z-opola-michael-elster [21/02/2017]. Diese Version ist auch im Archiv der Videothek des tfm der Universität Wien einsehbar. Es gibt eine englischsprachige Adaptierung von 19-minütiger Dauer unter dem Titel Teatr Laboratorium (The Laboratory Theatre), Regie Michael Elster, produziert von Contemporary Films in UK 1964. Vgl. Protokoll Wrocław d. A. 288 Vgl. Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 179–216, hier S. 213. 289 Ein Ausdruck, den ursprünglich Peter Brook fand, um Grotowskis Arbeiten in Pontedera zu beschreiben, vgl. Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 179–216, hier S. 188. Die deutsche Übersetzung, »Kunst als Fahrzeug«, die sich für art as vehicle durchgesetzt hat, ist nicht wirklich überzeugend. 290 Auf diese beiden Pole, art as vehicle und art as presentation, nimmt Grotowski ausdrücklich Bezug in seiner Selbstdefinition und der Beschreibung seiner Arbeit. Vgl. ebenda. (Engl. ders., »From the theatre company to art as vehicle«, in: Thomas Richards, At work with Grotowski on physical actions, S. 115–135, hier S. 119.)
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soziale Funktion übernehmen, die darin besteht, den Horizont zu erweitern.«291 Mnouchkine denkt dabei vorwiegend an die Zuschauer_innen. Auch sie bietet mit ihren langjährigen Ensemblemitgliedern bis heute Workshops und Ausbildungsseminare für Schauspielende und Interessierte an, stellt sich dabei als erste Zuschauerin zu Verfügung und leitet die Suche der Schauspielenden bis zur Aufführung. Wie für Grotowski ist das tägliche Training der Ensemblemitglieder für sie zwingend notwendig. Sie agiert hier als Zuschauerin aus der Position der Regieführenden, während Grotowski sich auf die Innensicht der Schauspielenden bzw. der Handelnden konzentriert. Für beide spielt der Faktor Zeit eine wesentliche Rolle: Schauspielende bleiben über Monate, über Jahre hinweg bei ihrer Truppe, auch auf die Gefahr und die potentielle Enttäuschung hin, vielleicht niemals aufzutreten.292 Bene nimmt zwischen diesen beiden Polen – art ac vehicle und art as presentation – eine Zwischenposition ein: Er beschäftigt sich mit art as vehicle, praktiziert jedoch art as presentation. Er stellt sich der Undarstellbarkeit und einem Publikum und er tut es selbst, er ist der Schauspieler, er ist ein Klassiker (un classico),293 der Große Schauspieler (il Grande attore), das Meisterwerk (il capolavoro).294 Laut Mnouchkine ist ein großer Schauspieler jemand, dem es gelingt, »ohne daß man genau verstünde, wie, persönlich nicht realistisch zu sein, auch wenn er an einem realistischen Theater ist. Es ist allerdings schwierig«295, räumt sie ein. Ob Bene dies gelungen ist? Er selber jedenfalls sieht zwischen sich und den Zusehenden eine Art von Begegnung, bezieht diese aber ausschließlich auf den Ton, den Klang, die Stimme, und ausschließlich von der Bühne herab, es gibt keinerlei persönliche Begrüßung oder gar Einführung. Im Gegensatz zu Mnouchkine geht es Bene nicht um Vermittlung oder Veränderung, sondern um das Unmittelbare: um das Transzendieren einer Person in eine andere, von dem einen Inneren in ein anderes Inneres. Derjenige, der spricht, geht auf diejenigen ein, in diejenigen hinein, die zuhören. Die Stimme geht von dem, der spricht, also von Carmelo
291 Ariane Mnouchkine, »Eine Bewußtwerdung«, in Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 14–17, hier S. 15. 292 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Spiel der Masken – Ariane Mnouchkine und das Eigenleben ihrer Figuren«, in: Erinnern – Erzählen – Erkennen, S. 354–369. 293 Vgl. Carmelo Bene während der Maurizio Costanzo Show, Uno contro tutti am 23. Oktober 1995, zit. n. Fabrizio Ponzetta, Carmelo Bene al Costanzo Show, S. 55. 294 Vgl. Carmelo Bene, »Autografia d’un ritratto«, in: ders., Opere, S.v–xxxvii, hier S. xxxvii. »Und man gibt keine Meisterwerke der Kunst. Außerhalb des Kunstwerks ist man ein Meister- und Kunstwerk.« (Anm. d. Übers.: Hier kommt ein gängiges Wortspiel zum Tragen: Capolavoro d’arte = Kunstwerk, capolavoro ist auch ein Meisterwerk.) (Orig. ital.: »E non si dà capolavoro d’arte. Fuor dell’opera, si è capolavoro.«) Vgl. auch Fabrizio Ponzetta, Carmelo Bene al Costanzo Show, S. 25 und S. 70; sowie »Parte V. Essere un capolavoro«, in: ebenda, S. 91–104. 295 Ariane Mnouchkine, »Man erfindet keine Spieltheorien mehr«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 30–36, hier S. 33.
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Bene in diejenigen, die zuhören. Und unter den Zuhörenden ist auch der, der spricht. Kurzum, Bene bezieht sich auf seine Stimme und sein Inneres. Die Stimme dringt von seinem Innen in das Innen der Zuschauenden und Zuhörenden, was aber auch bedeutet: in ihn, denn schließlich ist auch er einer, der sich sprechen hört: Bloß nicht, es braucht keine Vermittlung. […] um von einem Innen ins andere Innen zu gelangen, von dem, der spricht, zu dem, der zuhört; schon derjenige, der spricht, hört sowieso zu, einem anderen zu, der zuhört und nicht spricht, damit keine Vermittlung entsteht.296
Mnouchkine, Bene und Grotowski legen ihre Konzentration auf die Schauspielenden, auf das Tun, auf die Praxis, auf das offene Geheimnis der Beschäftigung mit lebendigem Theater, einem Theater voller Leben. Alle drei – selbstverständlich auf unterschiedliche Weise, als Regisseurin, als Schauspieler und als Meister297 – geben sich dieser (Theater-) Arbeit mit und an Schauspielenden hin: im Kollektiv, im Einzelgang, in der Forschung. Für sie alle drei ist es die Suche nach den Möglichkeiten der Schauspielenden als Schöpfende, Schauspielende als Quelle für schöpferische Kraft. Das ist das gemeinsame Drehmoment bei all ihren voneinander zu unterscheidenden Aspekten und Herangehensweisen. Denn so wie es für Ariane Mnouchkine das Ambiente ist, gebaut aus Narrationen und dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, zeigt sich der (Ab-) Grund des Seins bei Carmelo Bene durch das Verhältnis zwischen Echo und Narziss, zwischen Innen und Außen, das bei Grotowski als Verhältnis zwischen Tier und Mensch gedacht werden muss. Das Ziel bleibt die Suche, der Bau (neuer) (Theater-) Welten, die erschaffen werden durch ein bestimmtes Ambiente mit Festcharakter, durch Stimme mit Klang-Raum oder durch eine Handlungsstruktur mit Vertikalitätspotential. Wie immer diese Theaterwelten auch gebaut sind, und wie immer sie eingeordnet werden mögen: Es sind Utopien von und auch für die Schauspieler_innen, verbunden mit der Einladung an uns, die wir potenzielle Zuschauer_innen sind, an dieser un-möglichen Suche (Ricerca impossibile) teilzunehmen, an dieser Dringlichkeit des Undarstellbaren, an einer anderen Welt als eine Möglichkeit: »Jedes Mal, wenn man von Utopie spricht, ist es entweder aus der Mode gekommen oder ein unmöglicher Traum … Aber
296 Carmelo Bene, La voce mancante, S. 26. (Orig. ital.: »Per carità, non bisogna mediare. […] a andare da un dentro a un dentro, da chi dice a chi ascolta, già chi dice comunque ascolta, a un altro che ascolta e non dice, in modo che non ci sia mediazione.«) 297 Mnouchkine meint, dass die Meister heutzutage vorwiegend in Büchern und Filmen zu finden seien: »Man muß sie dort suchen, wo sie wirken. Aber ein Meister ist etwas Seltenes!« Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 122.
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diese Definition erschien mir genial: ›die Utopie ist das noch nicht realisierte Mögliche‹.«298
Utopie, Labor, Leib und Träume
Alle drei, Ariane Mnouchkine, Carmelo Bene und Jerzy Grotowski, sind Konzepten und Ideen verbunden, die Theater jenseits von Repräsentation sehen und die ihre Welten dem Theater gemäß in einen Raum und eine Zeit bauen, die gleichermaßen in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft liegen. Darüber hinaus nehmen sie das Theater selbst als eine Kunst der Gegenwart, des Augenblicks wahr. Mnouchkine glaubt, »daß das Theater für den Schauspieler die Kunst der Gegenwart ist. Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft. Es gibt die Gegenwart, den gegenwärtigen Akt«.299 Bene sagt, es gebe überhaupt keine Zeit, nur das von den Stoikern benannte Aion (Ewigkeit) existiere, das »müsste das Unmittelbare sein, aber es ist ein unmittelbares Verschwinden«.300 Grotowski erklärt, dass sein Theater das »›Heute‹ in der Perspektive des ›Gestern‹ und das ›Gestern‹ in der Perspektive des ›Heute‹«301 vorführt. Für alle drei gilt: Es sind Theaterstrukturen, die über die Befangenheit von Räumen und Zeit (-en) hinausgehen und augenblicklich Welt (-en) erschaffen, in die sie (mit oder ohne Publikum) hineingehen und die eng mit ihnen selbst als Kunstschaffenden verbunden sind. Der Raum, den sie zu eröffnen imstande sind, solange noch gesucht und versucht wird, solange noch nichts ausgereift ist, der eine experimentelle Anordnung bietet, ist nicht in ein System eingebunden, aber eng mit den jeweiligen Theatermenschen verbunden. Es ist die Logik des Experiments, des Widerstands und der Suche nach etwas Eigenwilligem und Eigenständigem. Zunächst sind die Räume, in denen sie oder ihre Schauspieler_innen sich bewegen, zwar noch (Theater-) Laboratorien, doch sie werden allmählich zu beständigen Parametern.
298 Ariane Mnouchkine, »Teatro, mondo, utopia«, in: Un teatro attraversato dal mondo, S. 7–13, hier S. 7. (Orig. ital.: »Ogni volta che si parla di utopia, o è fuori moda, o è un sogno impossibile … Ma questa definizione mi è congeniale: ›l’utopia è il possibile non ancora realizzato‹.«) 299 Ariane Mnouchkine, »Man erfindet keine Spieltheorien mehr«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 30–36, hier S. 31. 300 Carmelo Bene während der Maurizio Costanzo Show, Uno contro tutti am 23. Oktober 1995, zit. n. Fabrizio Ponzetta, Carmelo Bene al Costanzo Show, S. 71. (Orig. ital.: »il tempo non esiste. Ecco, il tempo non esiste … ma gli stoici avevano trovato un tempo che era l’aion. Cos’è l’aiòn? L’aiòn dovrebbe essere l’immediato, ma è un immediato svanire«) 301 Jerzy Grotowski, »Das Neue Testament des Theaters«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 27–60, hier S. 57.
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Jerzy Grotowski, der 1999 verstarb, hinterließ ein Testament302 und setzte auf die Fortführung des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards. Carmelo Bene hat ebenfalls Vorkehrungen getroffen, seinen Nachlass in die Fondazione L’Immemoriale di Carmelo Bene einfließen zu lassen303, insbesondere seine Stimme, die in digitalisierter Form nachhallt wie ein Echo. Auf die Frage, ob sie auch glaube, dass das Théatre du Soleil mit ihr gleichzusetzen sei und ob es ohne sie fortbestehen werde, antwortet Ariane Mnouchkine, dass sie nicht das Théâtre du Soleil ist und dass … ich mir natürlich wünsche, dass das Théâtre du Soleil weiter besteht. Natürlich sprechen Sie da ein Thema an, das beinahe aktuell ist. Vielleicht nicht ganz so schmerzhaft. Oder ein bisschen schmerzhaft, aber auf jeden Fall empfindlich. Es ist klar, dass ich irgendwann weniger Kraft haben werde, und ich meine weniger Kraft zu trösten. Es ist nicht schlimm, weniger körperliche Kraft zu haben. Am Théâtre du Soleil sind viele sehr stark, darum geht es nicht. Beim Leiten einer Truppe ist es wichtig, Kummer sehr schnell trösten zu können. Und in der Tat fühle ich, dass meine Kräfte zum Trösten schwinden, ich tröste mich nicht mehr so schnell. Darum wird es gehen.304
Das Entstehen von Parametern, Kriterien und Fixpunkten in der Theatergeschichte provoziert Theoretiker_innen und Theaterhistoriograph_innen zu einer Zuordnung, auf jeden Fall versuchen sie es. Sie setzen die Experimente von Mnouchkine, Bene und Grotowski in Beziehung zu vorangegangenen Experimenten wie etwa von Stanislawski, Wachtangow, Meyerhold oder Copeau, oder auch von Appia oder Craig und Artaud, deren Interesse und Beschäftigung mit der Idee eines Laboratoriums von den innovativen Theatern der 1960er-Jahre wiederbelebt wurde.305 Und zu diesen »1960ern«, die auch das gesellschaftspolitische Potential von Theater reflektieren, gehören die Aktivitäten Mnouchkines, Benes und Grotowskis. Sie sind einzigartig in ihren unterschiedlichen Ausführungen, aber sie sind nicht die Einzigen. Sie stehen in einer bestimmten (Theater-) Tradition. Sie formulieren und sehen dies auch selbst so: Ariane Mnouchkine findet ihre »Meister« im indischen Kathakali, im balinesischen Theater, im japanischen Nō und Kabuki, aber auch in Einzelpersonen und deren Schriften
302 Jerzy Grotowski, »Unbetitelter Text von Jerzy Grotowski, unterzeichnet am 4. Juli 1998 in Pontedera«, in: Aufbruch zu neuen Welten, S. 207–209; vgl. auch Tomasz Rodowicz in: Jerzy Grotowski. prōba portretu / esquisse d’un portrait. Versuch eines Porträts, 1999. [TC 00:55:20 bis 00:55:50] 303 Sein gesamter künstlerischer Nachlass – so hat Bene es in seinem öffentlichen Testament vom 6. Oktober 2000 (repertorio n. 204 degli Atti di Ultima Volontà) bestimmt –, sollte in die Stiftung L’Immemoriale di Carmelo Bene unter der Leitung von Sergio Fava, Bruna Filippi, Goffredo Fofi, Piergiorgio Giacchè und Elisabetta Sgarbi eingehen und dort verwaltet werden. Dazu ist es bis heute aufgrund von Erbstreitigkeiten mit Benes Familie nicht gekommen. 304 Dokumentationsfilm Ariane Mnouchkine – l’aventure du Théâtre du Soleil von Catherine Vilpoux, Arte France Produktion, Koproduktion Agat Films & cie 2009. [TC 1:08:30 bis 1:09:38] 305 Vgl. Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 8. (Orig. engl.: »interest in the laboratory question was revived by the innovative theatres of the 1960s«)
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wie z. B. Seami, Meyerhold, Copeau, Dullin, und in ihrem Lehrer Lecoq.306 Carmelo Bene schreibt sich in eine Genealogie von »Diderot-Wilde-MeyerholdArtaud-Bene«307 ein und sieht in seiner Theaterarbeit die Überwindung Artauds (»superamento d’Artaud«)308. Jerzy Grotowski führt an, dass »es [für ihn] richtig ist, mit Stanislawski zu beginnen, weil wir in gewissem Sinne verstehen, wer Stanislawski war, unabhängig von unserer ästhetischen Orientierung auf dem Gebiet des Theaters«.309 Innerhalb der Theatergeschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts herrscht also Einigkeit über eine Reihe von reformatorischen und experimentellen Ansätzen sowohl von Theaterpraktizierenden wie -theoretiker_innen wie auch über die Schlussfolgerung, dass die 1960er-Jahre als neue Bewegung gesehen werden können und dass deren Anhänger_innen die Hauptakteure der Jahrhundertwende als ihre Vorläufer betrachten.310 So bezeichnet Mirella Schino Jerzy Grotowski, Peter Brook, Eugenio Barba, aber auch Joan Littlewood’s Theatre Workshop und Ariane Mnouchkines Théâtre du Soleil als die Theaterschaffenden, die aktiv an diesem »Durchbruch«311 beteiligt waren. Die Liste könnte fortgeführt und die einzelnen Theaterschaffenden in ihrer Singularität beschrieben werden. Die Thea terschaffenden selber jedoch versuchen, derartigen Festschreibungen zu entgehen, aus Schubladisierungen auszubrechen und sich aus dem Korsett der Kategorien zu befreien. Sie wollen sich ihre Widerständigkeit bewahren, und im besten Falle gelingt es ihnen, diese Subsumierungen zu ignorieren. So etwa beschreiben sich weder Mnouchkine312 noch Grotowski313 in ihrer Selbstwahrnehmung als Teil einer Gruppe, die sich (neo-) avantgardistisch nennt, sich von anderen unterscheidet oder modern sein wollte. Bene hält sich ohnedies für einzigartig. Oft »fühlen« 306 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 123. 307 Carmelo Bene, »Due passi in casa Meyerhold«, in: ders., La voce di Narciso, S. 47–51, hier S. 51. 308 Carmelo Bene, »Autografia d’un ritratto«, in: ders., Opere, S. v–xxxvii, hier S. xiii. 309 Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 179–216, hier S. 181. 310 Vgl. Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 8–9. (Orig. engl.: »the 1960s phase may be seen as a new movement, its followers subsequently viewing the major directors of the turn of the century as their precursors«) 311 Ebenda, S. 9. (Orig. engl.: »active in this breakthrough«) 312 Mnouchkine dachte zu Beginn ihrer Theaterarbeit nicht daran, etwas Besonderes zu tun oder gar konventionelle Theaterregeln zu brechen. Sie erinnert sich daran, sie als »normalen Prozess« (normal process) wahrgenommen zu haben. Sie sagt: (Orig. engl.: »I felt normal. For me 1789 was just a fair. It was just a fair with little stages as in the markets – that was all. […] were just looking for progress, freedom and justice. […] didn’t have an ideology as such, but […] were idealists.«) Mnouchkine im Gespräch in »Ariane Mnouchkine«, in: In contact with the Gods?, S. 175–190, hier S. 184. 313 Vgl. Jerzy Grotowski in Concersation with Margaret Croyden for Camera 3. Directed and produced by Merill Brockway; filmed by Creative Arts Television, 1969; duration 54 min. In French and English. Instytut im. Jerzego Grotowskiego DVD Nr. 5, Wrocław.
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sie sich einfach nur »normal« und betrachten ihr Tun nicht als etwas Besonderes, sondern eher als etwas Logisches. Mnouchkine verfolgte keine Ideologie. Sie und ihre Truppe waren und sind Idealist_innen.314 Grotowski ging es vor allem um »Aufrichtigkeit« (sincerity)315. Dies sei das Schlüsselwort für seine Arbeit, es gehe um eine Konfrontation mit dem eigenen Leben (nicht mehr und nicht weniger), behauptet er. Es gehe darum, so Mnouchkine, als Reisende das Publikum mit auf die Reise zu nehmen. Es ist eine Entdeckungsreise in das Innere des Lebens und unserer Ähnlichkeiten.316 Auch für Carmelo Bene besteht seine Arbeit in einer Reise ins Innerste, wenngleich er entschieden anders agierte:317 Wir sind hier, um euch zu sagen, dass wir uns schließlich mit einer neuen Welt beschäftigen, in der nichts erklärbar ist, nichts erklärt wird. Man nähert sich mit ein bisschen Religiosität an dieses Unverständliche, weil niemand von euch sagen kann, er/sie habe das Leben verstanden. Das Theater ist nun genau das, es ist das Unverständnis des Lebens zur dritten Potenz erhoben.318
Die Individualität der drei nicht missachtend, auch nicht deren Wunsch, vielleicht sogar deren Bedürfnis, begrifflich nicht fassbar zu sein, fordert Theoretiker_innen zu Diskussionen rund um Termini wie Experiment und Raum heraus. Die Suche nach Definition und Deskription bleibt nicht bei den drei Theaterschaffenden hängen, sondern schließt generell die experimentellen (Theater-) Arbeiten um die 1960er-Jahre und um die als Vorläufer diagnostizierte Jahrhundertwende ein. So entstehen in diesem Zusammenhang Begriffsdiskurse wie etwa zur Dimension des Labors (»laboratory dimension«)319 oder zu unterschiedlichsten Formen von Labor, Workshop, Atelier und Werkstatt.320 In diesen Diskursen steche die angloamerikanische Rezeption hervor, da der Begriff »Labor« hier in Kombination mit Theater nicht in dem Maße eingeführt sei wie in Europa, so 314 Vgl. Mnouchkine im Gespräch in »Ariane Mnouchkine«, in: In contact with the Gods?, S. 175– 190, hier S. 184. 315 Vgl. Jerzy Grotowski in Conversation with Margaret Croyden 1969; Instytut Grotowskiego DVD Nr. 5, Wrocław. 316 Vgl. Ariane Mnouchkine, »Teatro, mondo, utopia«, in: Un teatro attraversato dal mondo, S. 7–13, hier S. 10. »Wir selbst müssen die Reisenden sein, die das Publikum auf die Reise und innere Entdeckung, ins Innere der Leben, unserer Ähnlichkeiten mitnehmen.« (Orig. ital.: »Noi stessi dobbiamo essere i viaggiatori che portano il pubblico in viaggio e in un’esplorazione interiore, all’interno delle vite, delle nostre somiglianze.«) 317 Vgl. Carmelo Bene während der Maurizio Costanzo Show, Uno contro tutti am 23. Oktober 1995, zit. n. Fabrizio Ponzetta, Carmelo Bene al Costanzo Show, S. 39; vgl. Piergiorgio Giacchè, »Vita del teatro e ›teatro della vita‹«, in ders., Carmelo Bene. Antropologia di una macchina attoriale, S. 28–33. 318 Carmelo Bene, Cos’è il teatro?!, S. 54. (Orig. ital.: »Siamo qui per dirvi che finalmente ci stiamo occupando di un mondo nuovo, dove nulla è spiegabile, nulla si spiega. Ci si accosta con un po’ di religiosità a questo incomprensibile, perché nessuno di voi potrà dire di aver capito la vita. Il teatro è questo, è l’incomprensione della vita elevata al cubo.«) 319 Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 11. 320 Vgl. ebenda, S. 7. (Orig. engl.: »laboratory, workshop, atelier, taller«)
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Räume und Visionen
Mirella Schino. Theaterlaboratorien werden also vorwiegend als Phänomen europäischer Theaterpraxis rezipiert, nicht ohne die Präzisierung, dass unter dem Begriff »Theaterlabor« ein Modell verfolgt werde, bei dem es um die Konzentration auf das »Innere« gehe, in gewissem Sinne eine mentale Orientierung, die aber auf beiden Ebenen – für sich selbst und für andere – wichtig sei.321 Auf diese Art können das Théâtre du Soleil von Ariane Mnouchkine ebenso wie das Teatro Laboratorio von Carmelo Bene oder das Teatr Laboratorium von Jerzy Grotowski zusammen und gleichzeitig divergierend gedacht werden. Laborsituationen, in denen experimentiert, gesucht und erforscht wird: Alle drei erfüllen die für diesen Terminus entscheidenden Voraussetzungen durch ihre Arbeit in Bezug auf Training, Körper und Wissenschaft322. Gemeinsam ist ihnen überdies »eine komplexe, organische und labyrinthische Aufgabe, in der Regel das Gegenteil von einem linearen Prozess«323. Aufführungen werden nicht unbedingt von vornherein ausgeschlossen, denn nach wie vor gilt, was Mnouchkine sagt: »Für das Publikum wie für den schöpferischen Künstler liegt das Wesentliche darin (und das ist so offensichtlich, daß es oft vergessen wird), daß die Aufführung gelungen ist.«324 Nur bei Jerzy Grotowski verhält sich dies über die Jahre hinweg anders. Seine Suche, Versuche und Erfahrungen konzentrieren sich mehr und bald nur noch auf eine spezielle Charakteristik des Labors, auf »das Auf einandertreffen von einem Selbst, Ethik, spiritueller Dimension und Wert«325. Bei den beiden anderen steht am Ende eine Aufführung, auch wenn es lange Probezeiten326 gibt und das Ergebnis nicht etwas Definitives zu sein vorgibt. Dennoch repräsentiert weder Grotowskis noch Mnouchkines noch Benes Theater eine bestimmte oder bestimmende Form, oder wenn, dann in einer paradoxen Forma tion: Sie stehen für ein Theater gegen die Repräsentation, ihr Streben gleicht einem Kampf gegen ein Theater, das die Ordnung repräsentiert, was konven tionelles Theater tut, wobei doch gerade im Theater die Kraft des Widerstands, der Auflösung der Form angelegt wäre. 321 Vgl. ebenda, S. 7. (Orig. eng.: »The term theatre laboratory does not designate an external point of reference or a model to be followed. Rather it points to an interiorised radar, a mental orientation, a propensity or a signal, important in equal measure for oneself and for others, but which may indicate very different paths.«) 322 Pädagogik wird in diesem Zusammenhang auch oft genannt, ist hier aber nicht relevant, selbst wenn Grotowski eine Schule einrichtet, Mnouchkine Workshops anbietet und Bene Einzeltrainings mit seinen Schauspieler_innen im Laufe des Probenprozesses durchführt. 323 Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 8. (Orig. engl.: »an intricate, organic and labyrinthine job, usually the opposite of a linear process«) 324 Ariane Mnouchkine, »Eine Bewußtwerdung«, in Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 14–17, hier S. 17. 325 Mirella Schino, Alchemists of the Stage, S. 10. (Orig. engl.: »a meeting with oneself, ethics, spiritual dimenison and value«) 326 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Durch Zeit und Ort mit Ariane Mnouchkine und Gerda Baumbach«, in: Pezzi Chiusi, S. 187–202.
Utopie(n) und Visionen Ein eigenes Haus. Ariane Mnouchkine
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[…] jedes einzelne Theater ist immer Repräsentation des Staates, ohne jemals die Form zu überschreiten. Die Geschichte der Kunst und die Kunst der Geschichte sind das Gleiche, Dekoration. Dabei hat das Theater doch seit jeher die Chance gehabt, aus der Art zu schlagen. »Sich nicht von der eigenen Art zu befreien«, hat ein großer Mystiker [San Giovanni della Croce] des 17. Jahrhunderts gesagt. Sich befreien – warum? Sich befreien, um in keiner Art zu landen, sich von allen befreien, um dort anzukommen, wo es keine Art mehr gibt. Das ist das Theater.327
Theater birgt die große Chance, den Fängen der Repräsentationslogik zu entkommen, die Selbstunterwerfung zu durchbrechen. Tun können dies nur die Schauspielenden, es genügt nicht, nur darüber zu sprechen. Die Schauspieler_innen sind es, die gegen eine Repräsentation und zugleich sich selbst in den Mittelpunkt von Mnouchkines, Benes und Grotowskis Interesse spielen. Mnouchkines Ziel ist es, die Welt in ihrer (über-) zeitlichen Gesamtheit auszudrücken. Die Welt, die sowohl »die mythologische Welt, aus der wir kommen, und die gegenwärtige Welt«328 miteinbezieht, wird auf der Bühne (auf-) gebaut und erschaffen. Es zumindest zu versuchen, darum geht es ihr. Es sei notwendig, sich von Äußerlichem zu befreien und nicht in Organisation, Betrieb, Einrichtung zu verharren, denn »allein die Arbeit am theatralen Vorgang wird als Suche nach der ›Wahrheit‹ des Theaters bestimmt«329. Darin sieht die Theaterwissenschafterin und Performance-Künstlerin Annemarie Matzke eine Möglichkeit, dass sich »die theatrale Praxis […] von ihrem Arbeitsplatz [löst] und […] eine Utopie des Theaters als Nicht-Ort«330 entwirft. Es handelt sich um den (Nicht-) Ort,331 der sich der Unterwerfung der Macht entzieht – so wie es auch Hakan Gürses beschreibt.332 Bleibt festzuschreiben, dass Laborsituationen, in denen Grotowski verweilt, die Vorbereitung für das Erschaffen jener Utopie des Theaters darstellen, an der Mnouchkine arbeitet, die sich sodann als Nicht-Ort entpuppt, in dem Carmelo Bene agiert. Dies ist keinesfalls chronologisch oder logisch zu verstehen, sondern 327 Carmelo Bene, Cos’è il teatro?!, S. 30–31. (Zu »San Giovanni della Croce« vgl. auch San Giuseppe da Copertina, auf den sich Carmelo Bene immer wieder bezieht. Vgl. Carmelo Bene, »Giuseppe Desa da Copertino a boccaperta«, in: ders., Opere, S. 421–533; sowie Paola Boioli, Bene, il cinema della dépense, S. 51, FN 9. (Orig. ital.: »[…] ogni teatro è sempre rappresentazione di Stato. Il tutto senza mai eccedere nella forma. La storia dell’arte e l’arte della storia sono la stessa cosa, decorazione. Il teatro invece ha da sempre avuto le chance di uscire dai modi. ›Non liberarsi del proprio modo‹ ha detto un grande mistico del Seicento. Liberarsi perché? Liberarsi per non approdare più a nessun modo, liberarsi di tutti i modi per arrivare dove non si dà più un modo. Questo è il teatro.«) 328 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 120. 329 Annemarie Matzke, Arbeit am Theater, S. 263. 330 Ebenda. 331 Vgl. die eingangs beschriebene Zuordnung von Nicht-Ort bei George Banu, wenn er das Gelände der Cartoucherie zum Théâtre du Soleil durchstreift; vgl. S. 20–21. 332 Hakan Gürses, »Leben, wo man will? Utopie, Migration und Kritik«, in: Viel Glück! Migration heute, S. 26–34, hier S. 33.
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Räume und Visionen
vielmehr in einer Art Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit zu sehen. Grotowskis experimentelle Anordnungen in Laborsituationen sind die Basis für Schauspiel und dienen seiner reinen Erforschung. Dies ist notwendig, um eine Utopie des Theaters zu erschaffen, was wiederum Mnouchkines kollektiver und improvisierender Schauspielkunst durch Imagination auf vielfältige Art und Weise gelingt. Letztlich ist jedem Theater eine Utopie inhärent, die Raum zu eröffnen vermag. Ein Ort, den Bene als Nicht-Ort begreift, um ihn bespielen, um in und an ihm agieren zu können. Alle drei Varianten eröffnen Räume, in denen die Schauspielenden den Mittelpunkt des theatralen Geschehens bilden und bestimmen, sofern sie die Räume mit Phantasie und Imagination gestalten, beschützt und abgeschirmt forschen, oder konsequent metatheatrale und metaphysische Experimente ausführen. Für Mnouchkine, Bene und Grotowski gilt, dass Räume in ihrer Qualität als Utopie erschaffen werden. Textvorlagen und dazugehörige psychologische wie dramaturgische Konzepte sind in diesem Kontext wenig relevant, es geht vielmehr darum, diese von einer Aufführung als Repräsentation zu trennen. »Daher geht es nicht darum, den Text zu bestellen, also die Psychologie zu säen, die Dramaturgie zu säen; so erschöpft sich jede Funktion der Kritik. Tatsächlich geht es darum, ihn von der Aufführung (spettacolo), von der Repräsentation abzuspalten.«333 Um also in der Struktur der Nicht-Repräsentation zu spielen – und zwar so Theater zu spielen, dass präsentiert, aber nicht repräsentiert wird, dass ein Text oder eine Geschichte vorhanden, aber nicht da ist, dass die Dramaturgie einen Rahmen, aber keine Vorgaben gibt, brauchten und (ge-) brauchten Mnouchkine die Imagination, Bene die Musikalität und Grotowski die Schwingungen. Imagination, Musikalität und Schwingungen werden produziert von und mit dem menschlichen Körper, dem vergänglichen Instrument, dem Material der Schauspielenden: ihrem Körper. Das sei nicht immer lustig, schön oder freundlich, merkt Mnouchkine einmal an. Doch Theater kann auch wie ein Heilmittel wirken, denn es birgt die leibliche Kraft, den Bürden des Unangenehmen zu entkommen: Aber im Grunde entflieht das Theater all diesen Risiken – das Theater und die Kunst, d. h. die Kunst des Theaters, die Schönheit des Theaters, jenes, das dir Tag für Tag diese Kraft der Körper und der Präsenz gibt, diese Kunst, die nur aus Fleisch gemacht ist.334
333 Carmelo Bene, Cos’ è il teatro?!, S. 24. (Orig. ital.: »Quindi non si tratta di seminare il testo, seminare la psicologia, seminare la drammaturgia; di conseguenza cessa ogni funzione della critica. Si tratta davvero di scinderlo dallo spettacolo, dalla rappresentazione.«) 334 Ariane Mnouchkine, »Teatro, mondo, utopia«, in: Un teatro attraversato dal mondo, S. 7–13, hier S. 7. (Orig. ital.: »Ma in fondo il teatro sfugge a tutti questi rischi – il teatro e l’arte, vale a dire l’arte del teatro, la bellezza del teatro, quello che ti dà, giorno dopo giorno, questa forza dei corpi e della presenza, quest’arte che è fatta solo di carne.«)
Utopie(n) und Visionen Ein eigenes Haus. Ariane Mnouchkine
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Mit dieser Kunst ist weit mehr möglich als Provokationen, wie sie Carmelo Bene zugeschrieben wurden, oder wie sie durchaus auch Jerzy Grotowskis zunächst ein Anliegen waren: das Theater »vor allem in seinem berührbaren, fleischlichen Aspekt – als einen Ort der Provokation, eine Herausforderung, die der Schauspieler an sich selbst und indirekt auch an andere stellt«,335 zu sehen. Das Potential der Theaterkunst liegt im Fleisch und ist in den Utopien zu sehen. Die Fleischeskunst und Fleischeslust ist imstande, in andere Welten zu gelangen, da sie sie zu schaffen imstande ist. Aus diesem Grund hat Mnouchkine gemeinsam mit anderen Menschen das Theaterensemble gegründet und dabei nicht zuletzt die Utopie verfolgt, glücklich zu sein: »Als meine Freunde und ich die Kompagnie gegründet haben, hatten wir eine Utopie [vor Augen]: wir haben das Théâtre du Soleil gegründet, um glücklich zu sein.«336 Dies gilt auch für ihr Publikum, das extra hinausfährt an den Rand von Paris und über Stunden dableibt. Es kommt, »sich Theater anzuschauen, vorausgesetzt«, so Mnouchkines Überzeugung, »man macht ihm das Leben angenehm, erlaubt ihm, zur Toilette zu gehen, gibt ihm in der Pause zu essen, und vorausgesetzt, der Ort ist … zauberhaft«337. Deshalb bietet Carmelo Bene sich auf den großen Bühnen dar, er flieht das Theater und bleibt dann doch (als Einziger) auf seinem Platz als Schauspieler.338 Grotowski sieht den Ausweg in der Vertikalität. Seine Arbeit »zielt bewußt und wohlüberlegt darauf ab«, schreibt er, »über die horizontale Ebene mit ihren Lebenskräften senkrecht hinauszugehen, und dieser Übergang wurde der Ausweg: die ›Vertikalität‹«339. Wie unterschiedlich die drei dabei den Anspruch des Publikums sehen, ist eine Sache, doch wie entschieden ihre Anforderungen dabei an das Potential von Theater und der darin agierenden Person sind, ist eine andere, wiederum eine gemeinsame. Es geht um ein Theater von Akteur_innen, die in der Lage sind, Theater als Utopie in Zeit und Raum zu (er-) schaffen. Theater ist im hic et nunc in einer Weise, in der Vergangenheit und Zukunft präsent sind:
335 Grotowski, »Aufstellungen der Grundprinzipien«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 285–295, hier S. 287. 336 Ariane Mnouchkine, »Teatro, mondo, utopia«, in: Un teatro attraversato dal mondo, S. 7–13, hier S. 7. (Orig. ital.: »Quando i miei amici e io abbiamo fondato la compagnia avevamo un’utopia: abbiamo fondato il Théâtre du Soleil per essere felici.«) 337 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 129. 338 Vgl. Piergiorgio Giacchè, »da Linea d’ ombra«, zit. in: Carmelo Bene, Opere, S. 1533–1538, hier S. 1537. »Carmelo Bene ist der einzige, der dem Theater entflohen ist und an seinem Platz als Schauspieler verweilte.«(Orig. ital.: »Carmelo Bene è il solo che sia sfuggito al teatro rimanendo al suo posto di attore.«) 339 Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 179–216, hier S. 192.
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Räume und Visionen
Als Gegenwart bezeichnen wir einen Punkt, den Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft, aber die Gegenwart existiert nicht, so wie die Zukunft schon in der Zukunft ist. Kronos ist jener, der einen überleben lässt, anstelle sich fröhlich selbst zu töten.340
Licht, Darüberhinaus (oltre) und Vertikalität
Die Utopie, der diese drei Theatermenschen folgen und die sie verfolgen, wird aus Wärme, Ton oder Energie geschaffen. Ariane Mnouchkine baut ein Theater des Lichts, Carmelo Bene ein Theater als Klangraum, Jerzy Grotowski ein Theater als Schwingungsraum. In diesen jeweiligen Rahmen schaffen sie ihre (Theater-) Welten und bewegen sich, sie verausgaben sich, verschwenden sich – sich als Schauspieler bzw. ihre Schauspielenden. So pur und auf die Schauspielenden reduziert es bei Jerzy Grotowski angelegt ist, so verspielt, detailverliebt und lebendig ist es bei Ariane Mnouchkine, und ähnlich vielseitig und aufwendig, aber stilistisch statischer und ruhiger verfährt Carmelo Bene. Das Théâtre du Soleil, auf Deutsch »Theater der Sonne«341, ein Name, der »dem Leben am nächsten war, dem Licht, der Wärme und der Schönheit«, so Ariane Mnouchkine,342 setzt beim Erstreben und Bauen einer Utopie auf seinen Festcharakter. Die herumschwirrenden, bewegten und bewegenden Geister, die dies erschaffen, sind die Schauspieler_innen, Ariane Mnouchkine und alle am Thea340 Carmelo Bene, Cos’ è il teatro?!, S. 31. (Orig. ital.: »come presente noi indichiamo un punto, l’incontro tra passato e futuro, ma non esiste il presente, così come il futuro è già nel futuro. Il Kronos è quello che ci fa sopravvivere, invece di suicidarsi allegramente.«) 341 Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 42: »Den Namen ›Théâtre du Soleil‹ wählt die Gruppe in bewußter Abgrenzung zu den in Mode stehenden Abkürzungen. Das Attribut ›Sonne‹ steht stellvertretend für das, was ihnen Theater bedeutet. Es umschließt sowohl den Aspekt der Lebensfreude als auch die Absicht, Sachverhalte zu ›erhellen‹.« Vielleicht mag hier auch der »Sonnenkönig« Ludwig xiv assoziiert werden, obwohl es in Mnouchkines Theater keinesfalls um Repräsentation von Staatsmacht geht, vielmehr wird diese ständig entlarvt. Doch gibt es bei ihr diesen feierlichen Charakter. 342 Ariane Mnouchkine wird oft auf die Namensgebung angesprochen. In den 1960er-Jahren wurden etliche Theater (-gruppen) ins Leben gerufen, die meistens den Namen der Gründerin, des Gründers oder der Regisseurin, des Regisseurs bekamen. Vgl. »Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, 13. Dezember 2002 mit Silke Greulich für das ARTE-TV Magazin, www.arte.tv/de/gespraech-mit-ariane-mnouchkine [19/09/2015] Aus der »sonnigen« Namensgebung entstehen in der Rezeption viele verspielte Metaphern, Anlehnungen und Wortspiele; vgl. z. B. Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 18–29, hier S. 20: »Die Truppe funktioniert gut und organisiert sich nach dem kopernikanischen Modell, bei dem die Planeten mit verschiedener Geschwindigkeit um die Sonne Ariane Mnouchkine kreisen.« Bei der Übersetzung ins Deutsche ist hier die Präposition »du« zu beachten: Théâtre du Soleil, Theater der Sonne, nicht zu verwechseln mit »de«, Théâtre de Soleil, was »Sonnentheater« bedeuten würde und irrtümlicherweise häufig in der Presse zu lesen ist. (Merci mille fois à Laurette Burgholzer de m’avoir communiqué cette explication!)
Utopie(n) und Visionen Ein eigenes Haus. Ariane Mnouchkine
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ter Mitwirkenden. Es herrscht ein Ambiente der Ausgelassenheit, Menschen, die sich frei bewegen, die Leib und Geist stärken, bevor sie den Theaterraum betreten. Es eröffnet einen Raum (Zeit), der frei gestaltbar ist, zeigt frei bewegliche Elemente und lädt mit einem Willkommensgruß ins theatrale Geschehen ein. Es gibt einen unbekümmerten Umgang unter- und miteinander, es gibt keine Scheu vor Kontakt, weder vor noch während eines Aufführungsabends. Das Theater ist geprägt von menschlicher Wärme und Nähe. Für Mnouchkine ist es »die Kunst des Lichts, es ist das Ans-Licht-Bringen«343 Und sie geht dabei so weit, alles auszuleuchten, alles zu beleuchten, sie »möchte den Schauspielern gern tief in die Augen sehen. Beleuchtungen, bei denen man nichts sieht, finde ich schrecklich«,344 gesteht sie. Dabei geht es immer um Sinnlichkeit und Vielseitigkeit sowie um einen verspielten Umgang mit Raum (und Zeit). Mnouchkine glaubt »an das Licht. Ich glaube an das Leuchtende. Ich glaube an die Anregung durch Licht, durch Hoffnung, Freude, durch Lachen, Tränen, durch Schönheit. Ich glaube an das Gefühl. Es sind Träger des Denkens, Träger des Lebens. Es sind Träger der Intelligenz.«345 Die Überlegung, die Bernard Dort angesichts der Aufführung des »leuchtenden« Goldenen Zeitalters (L’Âge d’Or) anstellt, kommt auch allgemein in Reflexionen über Mnouchkines Theater vor: »Jenseits des intensiven Vergnügens, das uns L’Âge d’Or vermittelt, stellt sich also die sowohl poetische als politische Frage des Theaters als Utopie – oder eventuell erneut die Frage des Theaters als Fest.«346 Georges Banu reiht die Cartoucherie »in die Liste der utopischen Orte des 20. Jahrhunderts« ein. »[Das Théâtre du Soleil] ist eine Insel, deren Herrin Ariane Mnouchkine ist, ein unerschütterlicher Prospero.«347 Mnouchkine weiß Stürme zu beherrschen und Wärme zu erzeugen für alle, die am Theater beteiligt sind, Rezipient_innen wie Agierende. Im Theater von Carmelo Bene, oder vielmehr in seinem Non-Teatro (NichtTheater), oder im teatro senza spettacolo (Theater ohne Aufführung), das einen Raum oder vielmehr den Nicht-Raum des Theaters (»non luogo del teatro«) öffnet, findet eine »endgültige Abrechnung mit der ptolemäischen Darstellung«348 statt. Es wird keine Rücksicht auf ein Publikum genommen, es wird ihm keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Es handelt sich um eine spezielle Form
343 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 129. 344 Ebenda, S. 120–130, hier S. 128. 345 Ebenda, S. 120–130, hier S. 121–122. 346 Bernard Dort, »Zwischen Vergangenheit und Zukunft«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 193–198, hier S. 198. 347 Georges Banu, »Ariane Mnouchkine und das Vertrauen ins Theater«, in: ebenda, S. 18–29, hier S. 19. 348 Carmelo Bene, »Autografia d’un ritratto«, in: ders., Opere, S. v–xxxvii, hier S. xiii, hier S. xv. (Orig. ital.: »liquidazione definitiva della rappresentazione tolemaica«)
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des Theaters ohne Zuschauende. Carmelo Bene spielte zwar für alle, und doch ist es nicht für alle gedacht. Er ist Schauspieler, aber auch Nicht-Schauspieler (non-attore), eine Schauspielermaschine (macchina attoriale), ein Künstler, nicht mehr, aber auch nicht weniger: »Ich bin Künstler«, sagt er, »ich bringe die Phonè, ich bringe die Stimme, und diese Stimme bringe ich auch Millionen von Personen gemeinsam, wenn es sein muss. Das kann nicht jeder.«349 Der direkte Kontakt wird vermieden, nur über die Akustik, d. h. mittels seiner Stimme gibt es eine Einladung v. a. dazu, zuzuhören. Es ist ein Angebot. Carmelo Bene bietet die Möglichkeit an, in jemand anders hineinzugehen.350 Er traut seinem Publikum das zu, doch hilft er ihm nicht. Er reicht ihm im Wortsinn nicht die Hand. Die Konzentration liegt auf dem Instrument des Beherrschbaren, der Stimme, und auf der Feierlichkeit in der Stimme des Schauspielers Bene selbst. Er geht dabei weit über sich hinaus und noch weiter (oltre). Er ist den Zuschauenden bzw. Zuhörenden voraus. Sie können wenn möglich folgen: »In all jenen andren und hohen Malen«, so Giacchè, »wird das Publikum den Ton sehen und die Vision von einem Schauspieler-Poeten hören, der es sich angeeignet hatte, zu verschwinden und aufzusteigen, ohne dabei Mauern, Stiegen und Mauerzinnen eines Turms zu benötigen.«351 Carmelo Bene sprengte in seinen Theaterarbeiten die Grenzen, die gesprochener Text setzt. Er führte und verführte das Publikum mit seiner Stimme in andere Welten. Bei Jerzy Grotowskis Vorschlag von art as vehicle oder der »Kunst als Fahr zeug«352 werden neue Dimensionen höherer Sphären durch Handlung (action) erfahrbar. Sein Publikum, d. h. seine Zeug_innen sind keineswegs frei in ihren Bewegungen, der Erstkontakt wird über eine Willkommensgeste gesetzt. Es herrscht Distanz vor, anders als mit den Handelnden, wie Grotowski die Schauspielenden nun denkt, »weil ihr Bezugspunkt nicht der Zuschauer ist, sondern der Weg in die Vertikalität«.353 Hier handelt es sich nämlich um ein distanzloses Eindringen ins (eigene / fremde) Innerste, um die Utopie des Außerleiblichen physisch und psychisch zu erleben. Das Streben nach Vertikalität steht also im Mittelpunkt der Handlung. Die Schwingungs- und Stimmungsqualitäten steigern sich und tragen die Handelnden hinauf in ferne und unbekannte Höhen. Jetzt
349 Carmelo Bene, La voce mancante, S. 18. (Orig. ital.: »Io sono artista, e porto la phoné, porto la voce, e questa voce la porto anche a milioni di persone insieme, se è il caso. Non è da tutti.«) 350 Vgl. ebenda, S. 26. Vgl. S. 101 zu Benes Ausführungen. 351 Piergiorgio Giacchè, »Apparire alla Madonna, Postfazione«, in: Carmelo Bene, Sono apparso alla Madonna, vie d’(h)eros(es), autobiografia, S. 157–159, hier S. 158. (Orig. ital.: »In tutte quelle altre e alte volte, il pubblico vedrà il suono e ascolterà la visione di un attore poeta, che ha appreso a scomparire e a salire senza più bisogno delle mura e delle scale e dei merli di una torre.«) 352 Vgl. FN 289 hinsichtlich der Herkunft des Ausdrucks. 353 Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 179–216, hier S. 214.
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gilt es aufzusteigen in reinere, feinstofflichere Energie, wahrnehmbar und spürbar für die Handelnden, vielleicht auch für die Zeug_innen bzw. das Publikum. Grotowskis Traum von Theater bot ihm den Schlüssel zu seiner Kreativität, er war zeitlebens die Basis für seine Arbeit. »Kreativität heißt vielmehr entdecken, was unbekannt ist.«354 Und nun Kollegen, junge Künstler, erwarten wir eure Zusammenarbeit und brauchbare Kritik. Wenn das Theater unserer Träume euch nicht anspricht, stellt unseren Träumen eure entgegen. Denn der Künstler, der keine Vision von seiner eigenen Kunst hat, keine neuen und ungewöhnlichen Begegnungen versucht, ist wie ein Schiff ohne Kompass. […] Ein schöner Traum ist der Schlüssel zur kreativen Arbeit. Die Erfahrung ist seine Bedingung. […] Von unserer Seite erwarten wir Mut, Zielstrebigkeit und Einsatz.355
Um diese erste Annäherung an die drei Theaterschaffenden zu konkretisieren, darf bei Ariane Mnouchkine von einem Theater gesprochen werden, das für und mit dem Publikum gemacht wird; bei Carmelo Bene von einem Theater, das zwar mit Publikum stattfindet, aber nicht unbedingt für Publikum gemacht wurde; bei Jerzy Grotowski von einem Theater ohne Publikum, d. h. ohne Zuschauende, aber mit Zeug_innen. In Bezug auf die Schauspieler_innen werden die verschiedenen Visionen erkennbar. Die von Mnouchkine angeleiteten Schauspieler_innen lassen Wesen erstehen, indem sie mit dem Publikum, den anderen Wesen und untereinander kommunizieren. Sie spielen miteinander, und sie zeigen sowohl das Spiel als auch sich selbst. Bene, Schauspieler und Histrione, verabschiedet sich ins Anderswo (oblio) und philosophiert im Theater über Theater, über sich selbst als Schauspieler und über das Leben an sich. Grotowskis Schauspieler ist zunächst Performer im Sinne eines Pontifex (Brückenbauer), der beforscht wird, der die Maske ablegt, dessen Innerstes nach außen gestülpt wird. Danach wird er zum Handelnden, zu einem Doer, der am Ende Thomas Richards heißt. »In ›Craigs Legende‹«, so Jan Kott, »gäbe es die Vision des absoluten Theaters.« Sowohl Mnouchkine als auch Bene als auch Grotowski verfolgen jeweils Formen eines solch absoluten Theaters. Doch klar ist auch, dass dieses »ein unmögliches Theater [ist], denn seine Essenz ist nicht das Wort, nicht der Schauspieler, nicht das Bühnenbild und nicht die Musik. Vielleicht nur die Bewegung und das
354 Ebenda, S. 179–216, hier S. 183. 355 Jerzy Grotowski, »Il teatro che sogniamo«, in: ders., Testi 1954–1998. Volume I. La possibilità del teatro (1954–1964), S. 42–46, hier S. 45. (Orig. ital.: »E adesso colleghi, giovani artisti, ci aspettiamo da voi collaborazione e critiche utile. Se il teatro di nostri sogni non vi si addice, ai nostri sogni contrapponente i vostri. Perché, se non tenta confronti nuovi e inusuali, l’artista che non abbia una visione della propria arte è come una nave senza bussola. […] Un bel sogno è la chiave del lavoro creativo, l’esperienza è la sua condizione. […] E da parte nostra, ci aspettiamo coraggio, tenacia, lavoro.«)
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Räume und Visionen
Licht.«356 Während sich bei Mnouchkine eine universelle bzw. weltzugewandte Komponente zeigt, konzentriert sich Bene auf ein narzistisches Individuum mit metaphysischem Begehr. Grotowski wiederum lässt sich von Handelnden in eine Vertikalität (ver-) führen. Es sind unterschiedliche Herangehensweisen an die Auffassung von Sein, Werden und (Ge-) Wesensein, letztlich beruhend auf Denkmodellen, die sich im Europa des 20. Jahrhunderts entwickelt haben. Ein Jahrhundert, in dem Revolutionen die verkrusteten autoritären Strukturen sprengten, in dem Demokratisierung und Liberalismus sich Bahn brechen konnten, aber auch ein Jahrhundert der Kriege, des Faschismus und der systematischen Vernichtung von Menschen. Geprägt durch die Geschichte und vor diesem kulturellen Hintergrund entwickeln Künstler_innen wie Mnouchkine, Bene und Grotowski unterschiedliche Sichtweisen auf die Welt und Menschen, die das Fundament ihrer Arbeiten bilden. Mnouchkine bringt mit dem Theater ihre philanthropische Grundhaltung zum Ausdruck. Sie möchte Geschichte durch das Erzählen von Geschichten (neu) erzählen, denn sie glaubt an das Potential im Menschen, Visionen nicht nur zu entwickeln, sondern auch umzusetzen bzw. auszuführen. Diese Offenheit spiegelt sich in dem gesamten »Setting« ihrer Idee von Theater, das zu Gemeinsamkeit animiert, involvieren will und somit zu einer Art lebendiger (gelebter) Utopie wird. Bene hingegen misstraut dem Menschen und seiner Fähigkeit zu denken, womit er an Schopenhauers System eines Pessimismus anknüpft. Insofern entwickelt er ein ausgesprochen individuelles Theater, das von seiner Person allein lebt und vor allem auf der Kraft seiner Stimme beruht. Er sieht sein Konzept als optional an: Man kann sich darauf beziehen – oder es bleiben lassen. Von seinen Ideen angezogen fühlten sich Künstler_innen und Intellektuelle, aufgegriffen wurde es insbesondere von den postmodernen französischen Denkern (sic). Grotowski schließlich verfolgt gewissermaßen die Mission, Menschen zu bekehren, die bereit sind, sich auf sein Theater einzulassen, d. h. sie von ihrer Bodenhaftung zu befreien und sie in feinstoffliche Sphären zu ent- bzw. zu überführen – als Handelnde oder als anwesende Zeug_innen. Es sind verschiedene Theaterideen, die hier entwickelt und umgesetzt worden sind. Was jedoch alle drei Künstler_innen verbindet, ist das explizite Besinnen auf die physische Existenz des Menschen, auf den Körper, der sowohl Ausgangspunkt als auch Werkzeug für Schauspieler_innen ist, wenn sie sich in (Ver-) Wandlungsprozesse begeben.
356 Jan Kott, »Grotowski oder die Grenze«, in: ders., Das Gedächtnis des Körpers, S. 230–237, hier S. 236–237.
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Alle großen Texte stellen für uns eine Art tiefen Abgrund dar. Nehmen Sie Hamlet: Zahllose Bücher sind dieser Figur gewidmet worden. Professoren wollen uns erzählen, daß sie, jeder für sich, einen objektiven Hamlet entdeckt haben. Sie setzen uns revolutionäre Hamlets vor, rebellische und impotente Hamlets, Hamlet, den Außenseiter usw. Es gibt aber keinen objektiven Hamlet. Dazu ist das Werk zu großartig. Die Stärke großer Werke liegt in Wirklichkeit in ihrer Katalysatorwirkung: Sie öffnen uns Türen, setzen die Maschinerie unserer Selbst-Bewußtwerdung in Gang.1 Jerzy Grotowski
Carmelo Bene sagt, wenn wir über Hamlet »als Mann des Theaters«2 sprechen, dann deshalb, weil dieser fern jeglicher Theorie über Aufführung spreche. Hamlet treffe durchdachte Aussagen über das Schauspielen und bestimme über dieses, indem er erkläre, wie er es sich vorstelle oder nicht. Denn er habe eine präzise Vorstellung davon, wie Schauspieler agieren sollten. Er gibt den Fahrenden, die an den königlichen Hof kommen, vor, was zu tun ist. Er weiß, wie man auf der Bühne agieren muss, um sein Ziel zu erreichen und eine für die vorgegebene Zeit adäquate Schauspielleistung zu erbringen. Innerhalb der theater- und literaturwissenschaftlichen Forschung wechseln die Ansichten, ob Hamlets Rede als Anleitung oder als Kritik gelesen werden sollte. »Das zentrale Moment von Shakespeares Drama ist eine Theateraufführung«, schreibt Sascha Förster im Hamlet Handbuch: »Seit den 1960er-Jahren wird dieses Spiel im Spiel, motiviert durch postmoderne Ästhetiken, verstärkt als Kommentar auf das Theaterspiel verstanden.«3 Bene liest die Textstelle in diesem Zusammenhang derart, dass die Schauspieler aus Shakespeares Zeit Hamlet nicht (oder nicht mehr) als Experiment durchgeführt haben, »sie waren bereits auf der Höhe des Theaters«4 ange1 Jerzy Grotowski, »Theater ist eine Begegnung«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 59-64, hier S. 61. 2 Carmelo Bene, »Proposte per il teatro«, in: ders., Opere, S. 627–647, hier S. 629: »Lassen Sie uns zunächst über Hamlet als Mann des Theaters sprechen. Seine Rede an die Schauspieler will jenseits aller Theorie eine besondere Ansprache für die gegenständliche Aufführung sein. Die Schauspieler von Shakespeare, seine Bühnenkollegen waren – Hamlet war kein Experiment – bereits auf der Höhe ihres Theaters.« (Orig. ital.: »Parliamo prima di Amleto come uomo di teatro. Il suo discorso agli attori, lungi dalla teoria, vuole essere un discorso particolare per lo spettacolo in questione. Gli attori di Shakespeare, i suoi compagni di scena – Amleto non fu un esperimento – erano ormai all’altezza del teatro che frequentavano.«) 3 Sascha Förster, »Dramaturgie und Besetzung«, in: Hamlet Handbuch, S. 115–125, hier S. 117. 4 Carmelo Bene, »Proposte per il teatro«, in: ders., Opere, S. 627–647, hier S. 629. (Orig. ital.: vgl. FN 2.)
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langt, sie hätten von einer erfahrenen Perspektive aus Schau gespielt. Bei Bene setzt sich also jene Lesart von Shakespeare durch, die er aufgrund seines praktischen Theaterwissens Hamlet zuschreibt. Was aber verlangt dieser Shakespeare-Hamlet von den Schauspielern im Stück Hamlet? Hamlet. Haltet die Rede, ich bitte Euch, wie ich sie Euch vorgesprochen habe, leicht von der Zunge weg. Denn wenn Ihr sie so übertrieben deklamiert, wie viele unserer Schauspieler [es] tun, könnte ich meine Verse ebensogut von einem Stadtausrufer sprechen lassen. Und durchsägt auch nicht die Luft zu sehr mit Eurer Hand, so, sondern gebraucht alles maßvoll […].5 (Herv. d. A.)
Mehr noch als er weiß, wie zu spielen sei, weiß er, was das Spiel bewirken soll. Dieser Hamlet hat nicht nur genaue Vorstellungen von dem Schauspiel, sondern er weiß auch um seine Wirkkraft. Er verfolgt eine bestimmte Absicht mit seiner Darstellung: Erkennen und Erhellen, Wiedererkennen und Vorführen. Hamlet. Paßt die Gebärde dem Wort, das Wort der Gebärde an, [und] beachtet dies im besonderen, [nämlich] daß Ihr das Maßvolle der Natur nicht überschreitet. Denn alles, was so übertrieben wird, ist dem Zweck des Schauspiels abträglich, der darin bestand und [noch immer] besteht, seit jeher und bis heute, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der Tugend ihre eigenen Züge, dem Hohn sein eigenes Abbild und diesem [unserem] Zeitalter der Gestalt [unserer] Zeit ihre Form und Ausprägung zu zeigen.6 (Herv. d. .A.)
Hamlet zeigt der Schauspieltruppe, wie er sich die Darstellung vorstellt, nicht nur bezüglich der Theateraufführung selbst, des Spiels im Spiel –, sondern auch bezüglich Hamlets Angaben, wie dies im Einzelnen zu geschehen habe. Die oben zitierten sind entscheidende Textstellen, denn Shakespeare-Hamlet geht schließlich davon aus, dass das Vorspielen, Vorspiegeln, das Spiegeln von Vorkommnissen und Ereignissen gerade diese entlarven. Sie könnten dabei allerdings auch 5 William Shakespeare, Hamlet, Übersetzung mit Anmerkungen von Norbert Greiner, S. 244 (3. Akt, 2. Szene) (Orig. engl.: »Hamlet. Speak the speech, I pray you, as I pronounced it to you, trippingly on the tongue. But if you mouth it, as many of our players do, I had as lief the town crier spoke my lines. Nor do not saw the air too much with your hand, thus, but use all gently; for in the very torrent, tempest, and, as I may say, whirlwind of your passion, you must acquire and beget a temperance that may give it smoothness. O, it offends me to the soul to hear a robustious periwig-pated fellow tear a passion to tatters, to very rags, to split the ears of the groundlings, who for the most part are capable of nothing but inexplicable dumb shows and noise. I would have such a fellow whipped for o’erdoing Termagant. It out-herods Herod. Pray you avoid it.« (Herv. d. A.)), ebenda, S. 245 (3. Akt, 2. Szene). 6 Ebenda, S. 244 und 246 (3. Akt, 2. Szene) (Orig. engl.: »Hamlet. […] Suit the action to the word, the word to the action, with this special observance, that you o’erstep not the modesty of nature. For anything so overdone is from the purpose of playing, whose end, both at the first and now, was and is, to hold, as ’twere, the mirror up to nature, to show virtue her own feature, scorn her own image, and the very age and body of the time his form and pressure.« (Herv. d. A.)), ebenda, S. 245 und 247 (3. Akt, 2. Szene).
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ent- oder verzerrt werden. Es könnte etwas gänzlich anderes hervorgebracht werden als erwartet, oder es könnte ein Sich-selbst-Spiegeln an ihre Stelle treten. In der oben zitierten Szene stecken direkt und indirekt drei Aspekte, die knapp 400 Jahre später bei Grotowski, Mnouchkine und Bene wieder auftauchen, wenngleich die jeweilige Schwerpunktsetzung differiert. In Grotowskis (politischem) Hamlet sind der erreichte Höhepunkt und der noch nicht erreichte Höhepunkt des Theaterschaffens von Relevanz. Mnouchkines Verhältnis zu Shakespeare, zu einem (Post-) Hamlet, offenbart den Aspekt des dem Schauspiel inhärenten Charakters, Gegebenheiten bzw. menschliche Bedingungen zu erzählen und sie dadurch zugleich zu enttarnen. Benes (reduzierter) Hamlet weist den Aspekt des präzisen Akzentuierens, Betonens und Intonierens bei zugleich exakten Regievorgaben auf.
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Ein politischer Hamlet oder Hamlet studieren. Grotowski und »Studium o Hamlecie« Jerzy Grotowski befand sich zur Zeit seines Hamlets 1964 noch im Teatr Laboratorium 13 Rzędów in Opole, »im kleinsten und wahrscheinlich künstlerisch wagemutigsten Theater Polens, im Theaterlaboratorium der 13 Reihen«7, so der Kommentator Falowski in einem Dokumentationsfilm über Hamlet-Proben. Grotowski stand am Anfang seiner Forschungen, mitten in der zweiten Arbeitsphase mit beginnender Konzentration auf den Schauspieler (sic), und am Anfang seiner Studien über den Schauspieler (sic). Entsprechend betitelt er die Ausführungen über seinen Zugang zu Shakespeares Stück. Grotowskis Auseinandersetzung mit der Figur Hamlet ist ein Experiment, nicht der Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens, und heißt folgerichtig: Studium o Hamlecie (HamletStudien)8. Diese Studien sind laut Flaszen9 nicht nur eine Variante von »Hamlet« oder Hamlet-Themen, sondern vor allem Reflexionen über »Hamlet«, für Keler10 eine eigene Version, ein Studium des Hamlet-Motivs. Grotowskis Studien wur7 Dokumentationsfilm Próba, amatorski zapis filmowy z próby do przedstawienia Jerzego Grotowskiego Studium o Hamlecie; Autor: praca zbiorowa. 1964. (Amateurfilm aufgenommen bei den Proben zu Studium o Hamlecie von Jerzy Grotowski, Autor: kollektive Theaterarbeit) [TC 00:01:00 bis 00:01:10] (Orig. poln.: »Jesteśmy bowiem w najmnieszym i najśmielszym chyba artystycznej teatrzy polskim, w Teatrze Laboratorium 13 Rzędów.«) 8 Manfred Brauneck spricht von »Studien über Hamlet« (Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne, S. 750), ähnlich wie Zbigniew Osińskis und Tadeusz Burzyńskis Übersetzung, bei denen es »Studie über Hamlet« lautet (Zbigniew Osiński und Tadeusz Burzyński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 35–36) und Krystyna Kujawińska Courtney und Katarzyna Kwapisz Williams schreiben »Study of Hamlet« (Krystyna Kujawińska Courtney und Katarzyna Kwapisz Williams, »Central Eastern Europe«, in: Hamlet Handbuch, S. 304–312, hier S. 308). In Eugenio Barbas Erinnerungen an diese Zeit in seinem Buch Das Land von Asche und Diamant steht in der deutschen Ausgabe einmal übersetzt »Studie über Hamlet«, ansonsten der Originaltitel »Studium o Hamlecie« (Eugenio Barba, Das Land von Asche und Diamant, S. 87 und S. 88). Die beiden Übersetzungen ins Deutsche, die sich nur durch Singular- und Pluralverwendung unterscheiden, sind unbefriedigende Lösungen, weil im Kontext einer schauspiel-anthropologischen Untersuchung sichtbar wird, dass Grotowskis Fokus bei seiner Beschäftigung mit »Hamlet« vorwiegend auf dem Schauspieler (sic), den Schauspielenden und den Untersuchungen der Figur liegt. Daher wird hier die Übersetzung »Hamlet-Studien« für das Deutsche eingeführt und im Folgenden verwendet. (Alternativen mit unterschiedlichen Nuancierungen wären: Studien zu Hamlet, Studien über Hamlet, Hamlet-Studien, Hamlets Studien, Hamlet: Studien, Hamlet – Studien.) Für die gewissenhafte sprachliche Auseinandersetzung und Diskussion in diesem Zusammenhang danke ich Sara Tiefenbacher und Andreas Volk. Vgl. Archiv d. A. (sowie E-Mail-Korrespondenz v. 24.12.2016). 9 Vgl. Ludwik Flaszen, »Hamlet w laboratorium teatralnym«, in: Notatnik teatralny, Nr. 4 / 1992, S. 166–171, hier S. 168. 10 Vgl. Józef Keler, »Hamlet i inni« (Hamlet und die anderen), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), hrsg. v. Janusz Degler, Grzegorz Ziolkowski, Wrocław: Instytut im. J. Grotowskiego, 2006, S. 174–177, hier S. 174.
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den nur zwei Monate aufgeführt,11 kaum wahrgenommen und kaum rezipiert.12 Immerhin geht aus Statistiken hervor, dass die Anzahl der Zuschauer_innen an einem Abend 44 nicht überstiegen habe13, die Uraufführung am 17. März 196414 mit 26 Zuschauer_innen stattfand, die letzte Aufführung mit 30. Mai 1964 datiert ist, und dass es insgesamt 20 Aufführungen gab. Einziger Aufführungsort war Opole, weil über die Gruppe damals ein generelles Aufführungsverbot außerhalb dieser Stadt verhängt worden war.15 Die »Studien« markieren einen Wendepunkt von Grotowskis Arbeiten in zweierlei Hinsicht. Es gibt bereits einen Hinweis auf die bevorstehende Übersiedlung nach Wrocław16 und das Ende seiner sogenannten und als solche anerkannten politischen Aufführungen, die sich mit einer klaren Aussage direkt ans Publikum richteten. Ryszard Cieślak war bei Studium o Hamlecie Regieassistent und hat zudem die Rollen Rosenkranz, erster Totengräber17 sowie Geist des toten Vaters übernommen. Rena Mirecka spielte Ophelia und die Königin, Zygmunt Molik war als Hamlet zu sehen. Molik bestätigt die Rezeption, dass der Inszenierung eine eindeutige politische Aussage eingeschrieben gewesen sei. Begründet sieht er dies darin, dass die Figur Hamlet als Jude angelegt war. Dies sei in dem anti-jüdisch bzw. antisemitisch geprägten gesellschaftlichen Klima18 im Polen der 1960er-und -70er-Jahre als staatskritische Aussage gewertet worden und habe der Zensur19 deshalb nicht standgehalten. Zu Recht lässt sich 11 Vgl. die Begründung dafür: Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 362. 12 In den Theatergeschichtslexika sind sie der vollständigen Chronologie halber meist als Titel angeführt, aber nicht weiter ausgeführt. Dies bestätigt auch der leitende Archivar des Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław Zbigniew Jędrychowski. Vgl. zum Beispiel Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne, S. 748. 13 Vgl. Zbigniew Osinski, Teatr ›13 Rzedow‹ i Teatr laboratorium ›13 Rzedow‹. Opole 1959–1964. Kronika-Bibliografia. (Theater der ›13 Reihen‹ und das Theater Laboratorium der ›13 Reihen‹. Opole 1959–1964. Chronik-Bibliografie), S. 138–155. 14 Keler spricht vom 15. März und verweist auf eine zeitgleiche Aufführung Peter Brooks »König Lear« von Shakespeare in Warschau, der von 12. bis 18. März 1964 auf der Bühne des Nationaltheaters zu sehen war. Vgl. Józef Keler, »Hamlet i inni« (Hamlet und die anderen), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 174–177, S. 174. 15 Vgl. Zbigniew Osiński, »Komentarz do artykułu Ludwika Flaszena« (Kommentar zum Artikel von Ludwik Flaszen), in: Notatnik teatralny. Nr. 4 / 1992, S. 171–173, hier S. 171–172. Dieser Kommentar wurde 30 Jahre nach Flaszens Artikel verfasst. 16 Barba berichtet beispielsweise bereits von der Drohung einer Schließung, die aber noch einmal abgewendet werden konnte, vgl. Eugenio Barba, Das Land von Asche und Diamant, S. 94–95. 17 Zur Rollenverteilung vgl. FN 55. 18 Anm. d. Übers. S.T.: vgl. etwa Jan Tomascz Gross, Angst, Antisemitismus nach Auschwitz in Polen, 1. Aufl., Berlin: Suhrkamp 2012; Beate Kosmala, Die Vertreibung der Juden aus Polen 1968: Antisemitismus und politisches Kalkül. Berlin: Metropol 2000. 19 Vgl. Originalaussage von Molik, in: Teresa Wilniewczyc: »Cale moje zycie. Rozmowa z Zygmuntem Molikiem« (Mein ganzes Leben. Ein Gespräch mit Zygmunt Molik), Notatnik teatralny 2001,
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vermuten, dass die Bühnenfiktion des Grotowski-Hamlets der gesellschaftlichen Realität zu nahe gerückt ist.
Stanisław Wyspiański. Hamlet als Jude
Grotowski hatte Shakespeares Text als Grundlage verwendet und ihn mit einer anderen Hamlet-Version, dem Essay des Malers und Theaterschriftstellers Stanisław Wyspiański – der in der Bewegung »Młoda Polska« (»Junges Polen«) aktiv war – versatzstückartig ineinandermontiert.20 Wyspiańskis Hamlet, betitelt mit Studium o Hamlecie,21 also namensgebend für Grotowskis Auseinandersetzung,22 ist das Bedeutendste »die Kunst des Denkens […]«23, so Keler. Grotowskis Hamlet hatte revolutionäre Sprengkraft, er rüttelte an den Normen des polnischen Sozialismus, so erlebte es auch Eugenio Barba, der erst gegen Ende der Proben dazukam: Überbordend von den Exzessen der Schauspieler und den Geniestreichen des Regisseurs, von existentieller Revolte und politischer Ablehnung, schien mir Studium o Hamlecie die Keime der verschiedenen Facetten des zukünftigen europäischen Theaters zu enthalten.24
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Nr. 22–23, S. 115, hier zit. n. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 358. Das Szenenbuch zum Stück, das in kollektiver Arbeit während der Proben entstand, wurde trotz Anfrage einer Londoner Zeitschrift und unter der Schirmherrschaft von Peter Brook nicht publiziert. Die Zensur des Stücks und die Unterbindung weiterer Aufführungen wurden befürchtet. Vgl. Zbigniew Osiński, »Komentarz do artykułu Ludwika Flaszena« (Kommentar zum Artikel von Ludwik Flaszen), in: Notatnik teatralny. Nr. 4 / 1992, S. 171–173, hier S. 172. Hier wurde ein Exemplar des Schauspielers Andrzej Bielski herangezogen, das im Archiv von Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław aufliegt: A. Bielski Inventar Nr. IG/R/318, 318/4 The Tragicall Historie of Hamlet. Prince of Denmarke by William Shakespeare według tekstu polskiego Józefa Paszkowskiego, świeżo przeczytana i przemyślana przez Stanisława Wyspiańskiego, egzemplarz aktorski Andrzeja Bielskiego, k. 132, przebitka maszynopisu, liczne dopiski, skreślenia, rysunki na str. recto i verso, br. s. 2, 7, 8, 9, 10, 52, 54, 60, 61, 109, 112 + kserokopia. Stanislaw Wyspiański stellt direkte Bezüge zu Polen her, indem er z. B. vorschlägt, die Geschichte im Wawelschloss Krakau anzusiedeln. Sein Essay gilt als Höhepunkt der Auseinandersetzung mit Shakespeares Hamlet in Polen, und seine Hamlet-Figur wurde zum polnischen Prinzen. Vgl. Krystyna Kujawiński Courtney, Katarzyna Kwapis Williams, »54. Central Eastern Europe«, in: Hamlet Handbuch, S. 304–312, hier S. 304–305 und 307. Vgl. Eugenio Barba, »Hamlet am Teatr-Laboratoirum 13 Rzedów (1964)«, ein Text, der im Monat der Aufführungen geschrieben, jedoch aufgrund des raschen Absetzens des Stücks nie veröffentlicht wurde. Nachzulesen in: ders., Das Land von Asche und Diamant, S. 88–93, hier S. 89. Józef Keler, »Hamlet i inni« (Hamlet und die anderen), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 174–177, hier S. 175. (Orig. poln.: »sztukę myślenia«) Eugenio Barba, Das Land von Asche und Diamant, S. 93.
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Das provozierte und irritierte natürlich die sozialistischen Machthaber.25 Agnieszka Wójtowicz zeigt anhand der Zensurakten auf, dass die Zensor_innen die Inszenierung als sehr interessant für Kenner_innen einschätzten, aber dass man von einer noch stärkeren Unverständlichkeit der Inszenierung im Vergleich zu anderen Stücken des Teatr Laboratorium 13 Rzędów auszugehen habe.26 Einig ist sich die Rezeption darüber, dass die Inszenierung als Vorbote der Ereignisse vom März 1968 in Polen zu gelten habe.27 Entscheidend für diese Kontextualisierung sind nach Wójtowicz drei Daten: der 14. März und das Erscheinen des »List 34« (Brief 34)28, der 17. März und die Premiere von Studium o Hamlecie sowie der 6. April und das Auffinden illegaler Broschüren bei dem früheren Aktivisten Michal Krajewski, auf denen z. B. das Manifest der kommunistischen Dogmen, »frakcja chinska« (chinesische Fraktion), abgedruckt war und so Verbreitung fand.29 Grotowskis Hamlet hat im Rahmen der polnischen Zeitgeschichte einen hohen Stellenwert, innerhalb der Theatergeschichte jedoch misst man ihm keine so hohe Bedeutung bei. In Studium o Hamlecie gelingt es ihm, den gesellschaftspolitischen Geist der Zeit einzufangen und einen Status quo aufzuzeigen. Wie Flaszen bestätigt, versetzt bereits Wyspiański seinen Hamlet nach Polen. Obwohl »Hamlet« ein universeller Mythos sei, so Flaszen weiter, verlange er in Polen eine Konkretisierung, die sich aus der seelisch-geistigen Situation speise.30 Brodelnde gesellschaftliche Konflikte innerhalb der Gesellschaft seien in der Auffüh-
25 Vgl. Eugenio Barba, »Hamlet ohne Freunde«, in: ders., Das Land von Asche und Diamant, S. 87– 95, hier S. 93. Original in: Eugenio Barba: Ziemia popiolu i diamentow. Moje terminowanie w Polsce, Wroclaw: 2001, S. 107–108, zit. n. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 358. 26 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 358. 27 Anm. d. Übers. S.T.: März 1968 markiert in Polen den Höhepunkt einer staatlich geförderten antisemitischen, antizionistischen und Anti-Intelligenz-Hetzkampagne. 28 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 359. Anm. d. Übers. S.T.: Es handelt sich um einen zwei Sätze langen Brief an den Ministerrat (adressiert an den Premier: Jozef Cyrankiewicz), verfasst von Antoni Slominski, in dem es um einen Protest gegen die Verschärfung der Zensur geht. Der Name des Briefes ergab sich aus der Anzahl der Unterschriften, 34 Personen, darunter auch der Shakespeare-Spezialist Jan Kott. Diese Aktion gilt als der erste gemeinsame Nachkriegsprotest seitens der Intellektuellen in Polen – Schriftsteller_innen, Publizist_innen, Übersetzer_innen, Soziolog_innen … 29 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 359. 30 Vgl. Ludwik Flaszen, »Hamlet w laboratorium teatralnym«, in: Notatnik teatralny, Nr. 4. 1992, S. 166–171, hier S. 168.
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rung ebenso enthalten wie die Spaltung zwischen der »Intelligenzija« und dem »Volk«.31 Hamlet werde zu einem Drama über die slawischen, polnischen Bauern, »vielleicht sogar über Polen als Bauernnation«.32 Im Stück und in der Inszenierung wird also im Sinne eines von Hamlet eingeforderten Spiegels der Gesellschaft die Realität der Verhältnisse in Polen reflektiert, in einem Spiel, das laut Falkowski »symbolisch, aber scharf«33 ist. Als Spiegelbild sieht dies dann folgendermaßen aus: Hamlet, ein Intellektueller, spricht Polnisch mit einem jüdischen Akzent und steht als Repräsentant des Pöbels und Bauernvolkes in Opposition zum König.34 Grotowski, in dieser Phase der Narration verpflichtet, erzählt35 über das Zusammentreffen jüdischer Bauern mit jüdischen Intellektuellen. Land: Polen. Schauplatz: eine Dorfschenke als öffentlich zugänglicher Ort. Anders als in den Textvorlagen gibt es hier nur noch 12 statt der ursprünglich 20 handelnden Figuren, und Grotowski hat auch den Text um die Hälfte gekürzt. Damit ist Studium o Hamlecie in Agnieszka Wójtowiczs Augen eine »sehr freie Interpretation« Hamlets und der beiden Originaltexte.36 Aus Shakespeares Version sind die Narration und das politische Thema geblieben, die Kontrastierung der Regierungsformen und damit jeweils verbundene unterschiedliche Wertesysteme37, was Wójtowicz in der Umsetzung für nicht geglückt erklärt.38 An diesem Urteil ändere auch wenig, dass es Grotowskis »politischste Inszenierung«39 sei. Er habe zu viel Inhalt für eine Inszenierung zu dicht gestaltet und zu viel über seine Generation, Existentialismus und Polens aktuelle Situation aussagen wollen. Daraus seien zu viele unzusammenhängende Szenen entstanden, während
31 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 360. 32 Ludwik Flaszen, »Hamlet w laboratorium teatralnym«, in: Notatnik teatralny. Nr. 4 / 1992, S. 166– 171, hier S. 169. (Orig. poln.: »Hamlet […] staje się dramatem o słowiańskich, polskich chłopach. A może o Polakach – jako narodzie chłopskim?«) 33 Dokumentationsfilm Próba, amatorski zapis filmowy z próby do przedstawienia Jerzego Grotowskiego Studium o Hamlecie; Autor: praca zbiorowa. 1964. (Amateurfilm, aufgenommen bei den Proben zu Studium o Hamlecie von Jerzy Grotowski, Autor: kollektive Theaterarbeit) [TC 00:00:40 bis 00:00:44] (Orig. poln.: »Tu gra się umownie ale ostro.«) 34 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 360. 35 Vgl. ebenda, S. 361. 36 Vgl. ebenda, S. 360. (Orig. poln.: »Studium o Hamlecie było bardzo swobodną interpretacją […]«) 37 Vgl. ebenda, S. 360. 38 Vgl. ebenda, S. 361. 39 Vgl. ebenda. (Orig. poln.: »Studium o Hamlecie było najbardziej ›politycznym‹ przedstawieniem Grotowskiego […]«.)
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das Wichtige nur skizziert geblieben sei.40 »Die Studien platzen aus allen Nähten, sichtbar (merklich) bereits zu Beginn.«41 Die Kritik ist hart und auch überzogen, wenn man bedenkt, dass es sich, wie schon im Titel klargestellt, um »Studien« handelt, die einen experimentellen Status beanspruchen. Sie bleiben für Grotowski einzigartig. Sein Hamlet verdient es, mit dem Zusatz »Studien« versehen zu werden. Erstens nimmt er sich eines klassischen Theaterstoffes an, zerlegt diesen und siedelt ihn im zeitgenössischen Polen an, was in jenen Jahren viel Mut verlangte und wie beschrieben nicht ohne Konsequenzen blieb. Zweitens blieb dies Grotowskis einzige Beschäftigung mit dem Stoff. Drittens bildeten die Studien eine Ausnahme des Teatr Laboratorium 13 Rzędów, denn sie waren das einzige »Kollektivwerk«42 des Theaters. Mag die Fülle der einfließenden Ansätze auch kritisiert worden sein, so muss das Stück doch in seiner Kühnheit gewürdigt und als Beginn der künstlerischen Laufbahn Grotowskis verstanden werden: die Suche nach dem Schauspieler, für den Hamlet in der Geschichte des Theaters als Synonym gilt.43 Immerhin findet die Tatsache Anerkennung, dass Grotowski mit Studium o Hamlecie den Weg zu Apoclypsis cum Figuris geebnet und den Nerv der Zeit getroffen hat.44 Osiński geht in seiner Beschreibung noch weiter, indem er konstatiert, dass weder Der standhafte Prinz noch Apoclypsis cum Figuris ohne das »Experiment« Studium o Hamlecie möglich gewesen wären, es sei eine »deutliche Ankündigung« darin enthalten: Studium o Hamlecie »war der erste konsequente Versuch der ganzen Gruppe, einen ›totalen Akt‹ hervorzubringen. […] Daher war er für Grotowski und seine Gruppe beinahe eine Offenbarung«45.
Der unmögliche Hamlet. »Hamlet-Studien« und »Action«
Die Aufführung von Studium o Hamlecie beginnt in einem leeren Raum, der gleichzeitig Bühne ist. Die Zuschauer_innen sitzen auf Stühlen an den Längsseiten der Wand, somit einander gegenüber. An den beiden anderen Wänden 40 Vgl. ebenda. 41 Ebenda. (Orig. poln.: »Studium pękało w szwach, widocznych od początku.«) 42 Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: Tadeusz Burzyński und Zbigniew Osiński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 7–110, hier S. 35. 43 Romana Mosse, »Hamlet als Metakommentar des Theaters«, in: Hamlet Handbuch, S. 107–114. 44 Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 361. In der theaterwissenschaftlichen Rezeption außerhalb Polens ist dies noch nicht angekommen, sodass aus der zweiten Arbeitsphase nach wie vor das am meisten zitierte Beispiel Książę Niezłomny (Der standhafte Prinz) ist. 45 Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: Tadeusz Burzyński und Zbigniew Osiński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 7–110, hier S. 36.
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Hamlet. Schauspieler-Werden
befindet sich je ein Scheinwerfer, beide leuchten den zu bespielenden Raum aus. Die Spielfläche kennzeichnet eine weiße Schnur als Trennlinie vor den Füßen der Zuschauer_innen. In der Mitte des Raumes stehen sieben Stühle.46 Diese karge Anordnung von Bühne und Zuschauer_innen wird für Grotowski eine der beliebtesten.47 Dieselbe Szenerie – nur ohne Scheinwerfer und dafür mit Kerzen beleuchtet – bestimmt auch 30 Jahre später noch das Setting von Action des Workcenters of Jerzy Grotowski and Thomas Richards in Pontedera. Beim gemeinsamen Erarbeiten – »die Schauspieler selbst suchen während der Proben nach Lösungen […] improvisieren ganze Szenen und regen wiederum die Invention [sic] des Regisseurs und ihrer Kollegen an«48 – entsteht auch der Aufführungsanfang, der Jahrzehnte später in Action wieder aufgegriffen wird: Die Schauspieler_innen – unter ihnen eine Frau – betreten nacheinander den Raum.
Rena Mirecka, eingewickelt in eine Decke, während der Proben zu Studium o Hamlecie (Still aus Próba) 46 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 362. 47 Mit dem Architekten Jerzy Gurawski erprobte und erarbeitete Grotowski einige räumliche Anordnungen im Theaterlaboratorium. Ihr Ziel war, Schauspielende und Zusehende als zwei Ensembles zu betrachten und den Raum gleichzeitig als Ort für Zuschauer_innen und als Bühne zu gestalten. Überlegungen, Skizzen und Beispiele können in Für ein Armes Theater nachgelesen oder anhand der Modelle in dem Dokumentationsfilm Inicjały J.G. (Engl. The initials J.G.) betrachtet werden; z. B. in Kordian 1962 (das Publikum sitzt mitten unter den Schauspielenden auf Spitalsbetten), vgl. FN 262 im Kapitel »Räume und Visionen«. Doktor Faustus 1963 (das Publikum sitzt mit den Schauspieler_innen zusammen am Tisch), vgl. Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, 1994, S. 167–174 sowie Inicjały J.G. (Engl. The initials J.G.), biographical documentary about Jerzy Gurawski; directed by Miroslawa Sikoraska, 1996. 48 Ludwik Flaszen zit. n. Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: Tadeusz Burzyński und Zbigniew Osiński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 7–110, hier S. 35.
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Während der Proben zu Studium o Hamlecie ist sie, Rena Mirecka, in eine dicke karierte Decke gewickelt, die in der Aufführung durch ein leichteres Tuch ersetzt wird. Sie setzt sich auf einen der sieben freien Stühle in der Mitte. Für jeden weiteren der hereinkommenden Schauspieler ist ebenfalls ein Stuhl vorhanden. Die Männer sind, bis auf einen, ähnlich gekleidet, sie tragen eher zeitlose Kleidung, Hosen, Gürtel, Hemden, einer im offenen Jackett über dem nackten Oberkörper, Baskenmützen, barfuß in Schuhen, offene Schnürsenkel. Die Ausnahme bildet der Hamlet-Darsteller Zygmunt Molik. Er ist bebrillt, altmodisch gewandet, in seinen geschnürten Schuhen besockt, und er trägt eine Kippa. Bereits in der ersten Szene vermittelt sich also die Opposition, in der Hamlet zu den anderen steht – rein optisch werden sie miteinander konfrontiert. Hamlet gehört augenscheinlich nicht zu ihnen.49 Auch hierin erkennt man eine bildliche Analogie zu späteren Versionen von Action sowie eine ähnliche Konstellation: Ein einzelner männlicher Darsteller (Main Doer Thomas Richards), der sich von den anderen (dem männlichen Chor) unterscheidet, und eine einzige Frau kommen nacheinander in den Aufführungsraum, woraufhin die »Handlung« beginnt. Die Doers sind barfuß (Variation zu den Schuhen), ein Mann in weißer Hose und weißem Hemd (das er später auszieht), alle anderen in schwarzer Hose und weißem Hemd (sie behalten die Kleidungsstücke an) und die Frau im Kleid (oder bei Downstairs Action in Rock und Bluse). Die Sonderstellung Hamlets, sein Sich-Abheben von der Gruppe bzw. vom Chor, ist optisch arrangiert und eindeutig – sowohl in Studium o Hamlecie als auch in Action. Wenn in Studium o Hamlecie der »Text« beginnt, also wenn gesprochen wird, sei zumindest anfangs – so wird berichtet – nichts zu verstehen. Er gleiche eher einem Gejammere und Gekrächze, dennoch gibt es einen solchen Text als tatsächliche Erzählung, eine für die Zuschauer_innen montierte beabsichtigte Narration. Der Abbau solcher Narrationen wird die gravierendste Veränderung, die Grotowski im Laufe der Zeit vornimmt. Eine relativ kleine Veränderung erfahren die Wachen von Schloss Kronberg in Helsingør. Bei Grotowski entdecken zwei Offiziere die geheimnisvolle Erscheinung, die sich »Geist von Hamlets Vater« nennt.50 In Studium o Hamlecie haben sich die Schauspieler_innen als Nächstes in der Mitte der Spielfläche verteilt. Sie sitzen oder hocken dort, und sie wirken erschöpft. Nur eine einzige Figur kann sich aufrecht halten. Es ist der erste Totengräber, der versucht, das Sausen des Windes nachzuahmen.51 Grotowski nennt 49 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 362. 50 Vgl. ebenda, S. 358–385, hier S. 363. 51 Vgl. ebenda. Auch das Folgende sei hier am Rande erwähnt, da es eine so hübsche Ausformung des »armen Theaters« ist: Geräusche über die Stimme der Schauspieler_innen zu produzieren,
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diese Eingangsequenz »Etüde (Studie) der Melancholie und des Schicksals.«52 Sie wird später wiederholt, hier dient sie den Schauspieler_innen vor allem zum Aufwärmen. An diese Szene schließt ein Trinkgesang an: Die Bauern gehen in die Dorfschenke, wo sie zusammen trinken und singen. Nach diesen beiden Präludien kommt der erste Dialog, und zwar zwischen Hamlet und den beiden Totengräbern, der Shakespeares Text (V, 1) entnommen ist. Grotowskis TotengräberBauern sind volltrunken, merkbar an ihren Artikulationsschwierigkeiten sowie an den banalisierten Versen selbst: Erster Totengräber: Gib mir den Spaten. – Es gibt keine früheren Würdenträger, wie die Gärtner und Totengräber, da sie geradlinig von Vater Adam abstammen. Zweiter Totengräber: War Adam ein Würdenträger? […] Erster Totengräber: Geh an die Theke (Schenke) und bring mir einen Krug [im Original alte Mengenbezeichnung] Schnaps.53
Auf diese Weise soll die Einfachheit der Bauern bzw. der Totengräber beschrieben und im Dialog ausgedrückt werden, was auch ihre Gesten und Sprecharten widerspiegeln.54 Der eine Totengräber ist gleichzeitig der Kellner oder Barmann, während der andere als eine Art Regisseur fungiert, der sich ständig einmischt und Anweisungen von sich gibt, wie gespielt werden soll. Unklar bleibt in der Überlieferung, ob diese nur in der ersten Szene vorkamen oder bis zum Ende der Aufführung durchgehalten wurden. Bemerkenswert jedenfalls ist diese Art der »Kompetenzen«-Verschiebung, da man die Rolle des »Regisseurs« wohl eher Hamlet als einem Totengräber zuschreiben würde. Hamlet selbst sitzt ein wenig abseits bei den trinkenden Bauern, ebenfalls ein Glas Wodka vor sich, an dem er nippt, doch er singt und grölt nicht mit. Er will sich offensichtlich am Gespräch der Totengräber beteiligen, was vom ersten Totengräber (Ryszard Cieslak)55 auf-
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wird von Mario Biagini nach wie vor eingesetzt, z. B. in Dies Irae Vogelzwitschern im Wald, Gewitter-Sturm-Stimmungen – sehr eindrücklich. Ebenda, S. 358–385, hier S. 364. (Orig. poln.: »etiuda smętu i doli«) Zitat von Wójtowicz aus Andrzej Bielskis Szenenbuch entnommen, das im Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław aufliegt; ebendort gem. mit Sara Tiefenbacher gesichtet. Vgl. die Angaben zum Szenenbuch FN 20. Hier zit. n. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 365. (Orig. poln.: »Pierwszy Grabarz: Podaj mi rydel. – Nie ma dawniejszych dygnitarzy, niż ogrodnicy i grabarze, bo oni idą w prostej linii od ojca Adama. | Drugi Grabarz: Czy Adam był dygnitarzem? | […] | Pierwszy Grabarz: Idź do szynkwasu, a przynieś mi półkwaterek gorzałki.«) Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 365. Abgesehen von seiner Aufgabe als Regieassistent wird Ryszard Cieslak auch als erster Totengräber, Bauer, Geist und Rosenkranz ins Spiel gebracht. Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des
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gegriffen wird. Der setzt sich auf den »Hamlet-Sessel« und spricht die Worte des Geistes aus Shakespeares Hamlet (I, 5). Damit wird er als Totengräber in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. Hamlet indes bleibt immer ein anderer, einer von »draußen«, der Dorfjude, so auch in der Schenke. Alle trinken und singen Trinklieder im Chor. Von Zeit zu Zeit machen die Bauern einen Versuch, Shakespeares Text zu rezitieren, skizzieren Szenen, um sich dann mit der Erklärung zurückzuziehen, es sei unmöglich, ihn darzustellen. Sie verfallen wieder ihrer grundlegenden Lebenshaltung: dem Trinken und der Hurerei.56
Auch wenn die Shakespeare-spielenden Bauern wieder zu Grotowskis Bauern werden, liegt hier bereits ein Spiel mit dem Spiel (-en) vor. Noch deutlicher wird dies selbstverständlich im Brechtschen oder postdramatischen Theater, wenn die Schauspielenden sich als sie selbst präsentieren, also aus ihren Rollen aussteigen, um ihrem Publikum Schauspielende zu zeigen. Grotowski deutet das Spiel mit dem Spiel (-en) nur an. Es ist sein Spiel mit dem Ausstieg des Schauspielers aus seiner Rolle. Es ist ein Versuch.
Theater im Theater. Spiel im Spiel
Wie Grotowski einige der Figuren aus Shakespeares Tragödie übernimmt, hat er sich der klassischen Theater-im-Theater-Szene angenommen, ebenfalls mit der Intention, die Wahrheit ans Licht zu bringen, nicht nur die Wahrheit des fiktionalen Weltfragments, sondern auch die der realen Welt.57 Barba spitzt diese Ansicht noch zu: Die Unmöglichkeit, Hamlet zu inszenieren, bietet die Möglichkeit, die Haltung einer Gemeinschaft zu demaskieren. Diese Unmöglichkeit jedoch liegt nicht an der vielschichtigen Interpretierbarkeit des Dramas, sondern an dem Gefühl des »Unvermögens«, das dem nationalen Charakter selbst zu eigen ist.58
Der Versuch einer Verbrüderung mit den Bauern, die unmittelbar nach der Szene mit dem Geist erfolgt, wird durch Horatio und Marcellus eingeleitet. Hier gibt es Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 366. Die Rollenverteilung ist nicht eindeutig. Auch Antoni Jaholkowski spielte einen Totengräber, laut Plan hat ihn aber Andrzej Bielski gespielt. In welchen Aufführungen nun welche Kombination der drei genannten die beiden Totengräber gespielt haben, lässt sich nicht rekonstruieren. 56 Eugenio Barba »Hamlet am Teatr-Laboratoirum 13 Rzedów (1964)«, in: ders., Das Land von Asche und Diamant, S. 88–93, hier S. 89. 57 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 366. 58 Eugenio Barba, Das Land von Asche und Diamant, S. 89.
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zum zweiten Mal eine »Etüde (Studie) der Melancholie und des Schicksals«, die Wiederholung der Sequenz vom Beginn. Dieses Mal unterbricht Hamlet sie. Während die Bauern singen und trinken, gesellt Hamlet sich dazu. Er setzt sich neben die Frau, die durch ein Kopf- und Schultertuch59 als Bäuerin zu erkennen ist. Sie singt auch, wirft dann das Tuch ab, und zum Vorschein kommt eine junge, schlanke Frau mit knielangem, weißem Unterrock. Abgesehen von einem Vergleich mit der ursprünglichen Anzahl weiblicher Figuren im Stück, gibt es durch die wenigen Sätze, die sie spricht, einen eindeutigen Hinweis auf Shakespeares Ophelia. Sie selbst fragt, wer Ophelia denn sei, ob sie die Tochter des Polonius sei.60 Dies wird sofort durch Grotowskis ersten Totengräber konterkariert, indem er antwortet, Ophelia sei eine Art Kurtisane. Durch Ophelias Annäherung an Hamlet und die grobe Abweisung seinerseits wird sie als Prostituierte sichtbar: eine Interpretation der weiblichen Figur, die der Interpretation von Hamlets Problemen mit Frauen zwar folgt, doch von Grotowski sehr eng (katholisch) gefasst ist und allenfalls noch eine psychoanalytische Interpretation einräumt.61 Grotowskis Ophelia wird später im Liebesakt, der ein Vergewaltigungsakt ist, umkommen; zuvor jedoch, bei ihrer ersten Begegnung, spuckt sie Hamlet ins Gesicht. Dieser zieht sich daraufhin in die dunkelste Ecke des Raumes zurück. Da es nicht viele dunkle Ecken in Grotowskis Aufführungsraum gibt, ist es konsequenterweise der Platz hinter einem Scheinwerfer.62 Rena Mireckas Aufgabe ist es, zwei Frauenfiguren darzustellen: Ophelia und Gertrude. Aber schon Ophelia vereint in sich das patriarchal geprägte und jahrhundertealte Bild der Frau als der Heiligen und der Hure, dieses der reinen Männerphantasie entsprungene Konstrukt, das seine langen Schatten noch bis ins
59 Die Decke aus den ersten Proben ist dem leichten Tuch gewichen. Vgl. Ausschnitt aus der Probe mit Rena Mirecka, sie ist hier noch mit Decke zu sehen: Dokumentationsfilm Próba, amatorski zapis filmowy z próby do przedstawienia Jerzego Grotowskiego Studium o Hamlecie. 1964. (Amateurfilm, aufgenommen bei den Proben zu Studium o Hamlecie von Jerzy Grotowski) [TC 00:03:55 bis 00:04:00] 60 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 367. 61 Vgl. die unterschiedlichen Beiträge zu verschiedenen Lesarten (Rachetragödie, psychologische Figurenführung, psychologische Deutungen, Metakommentar, Dramaturgie) von Hamlet in: Hamlet Handbuch, S. 77–125. 62 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 367. Ophelia und die Frauen bei Grotowski sind unbedingt extra zu untersuchen. Erste Ausführungen dazu finden sich bei Claudia Tatinge. Vgl. Claudia Tatinge Nascimento, Crossing Cultural Borders. Through the Actor’s Work. Foreign Bodies of Knowledge, 2009; sowie vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Das röhrende Er und fiepsende Sie. Notate zur Auflösung des Subjekts am Beispiel des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards«, in: Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, S. 325–337.
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dritte Jahrtausend wirft. Keler sagt, dass hier zwei Rollenzuschreibungen in einer Figur gezeigt werden: die sanftstimmige, sphärische Jungfrau-Ophelia und die Huren-Ophelia mit der derben Stimme einer polnischen Marktfrau. In welchem anderen Theater auf der Welt es so etwas wohl noch gebe,63 fragt Keler polemisch am Ende seiner Ausführungen. In diesem Reigen möglicher männlicher Phantasien fehlt eigentlich nur noch die Hexe, die selbstbestimmte Frau, vor der Hamlet sich wohl am meisten fürchten müsste. Grotowskis Heilige / Hure wird außer katholisch eindeutig psychoanalytisch konnotiert, auch wenn Keler darauf besteht, Studium o Hamlecie sei keine neue Variante einer psychologischen Interpretation, sondern stelle eine eigene soziologische Studie dar.64 Es gehe vielmehr um die menschlichen Beziehungen und Verbindungen, als um die Figur (-en) selbst.65 Sicher jedenfalls ist die Figur Hamlet anders als die anderen, er ist der Intellektuelle, der Fremde, der Dorfjude – ein »Prototyp«, so Keler, ein »Modell des Anderen«. Es gehe also nicht um die Frage, »wer Hamlet sei«, sondern darum, »wie Hamlet durch die Augen der anderen gesehen werde«,66 was einer besonders feinen Art von Spiegelung entsprechen würde. Ob psychoanalytisch oder soziologisch angelegt – es bedeutet auch, dass die Schauspielenden nicht von einer physischen Handlung ausgehen, um ihre Figuren zu entwickeln, anders als später, wenn Grotowski es schließlich von ihnen verlangen wird. Grotowski zeichnet Hamlet noch sehr deutlich als Person (Typ), Charakter und Figur, die vor allem inhaltlich geprägt ist. Hamlet führt ein Leben abseits der Gesellschaft, er gehört einer Randgruppe an. Optisch ist das erkennbar an seiner Kleidung, doch auch sein Verhalten, die distinguierte Sprechweise und seine bedächtigen Bewegungsausführungen heben ihn von den anderen ab. Soweit wären noch keine grundlegenden Abweichungen von Shakespeares Vorgaben festzustellen. Erst der Umstand, dass bei Grotowski über Hamlet, also über die Frage »wer er ist«, nur Hamlet selbst in der Inszenierung spricht, zeigt einen Unterschied an.67 Hamlet spiegelt sich hier selbst, er versucht, sich zu denken. Der Lauf der Handlung ist an Shakespeare angelehnt. Doch gleichzei63 Vgl. Józef Keler, »Hamlet i inni« (Hamlet und die anderen), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 174–177, S. 176. (Orig. poln.: »I w którymż jeszcze teatrze na świecie […] w którymż teatrze jakakolwiek aktorka odważy się, tak jak Rena Mirecka, zademonstrować […] dwa różne wcielenia Ofelii […]«) 64 Vgl. ebenda, S. 174–177, S. 175. 65 Vgl. ebenda. 66 Vgl. ebenda. (Orig. poln.: »Ów Hamlet-intelektualista wśród ›innych‹ – to prototyp i model ›obcego‹ […]. W takim ujęciu nie to jest więc istotne, kim jest Hamlet naprawdę, ale to, jaki jest Hamlet widziany oczyma ›innych‹ […].«) 67 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 368.
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tig übernimmt Grotowski die Perspektive aus Wyspiańskis Textvorlage, was ihm ermöglicht, die Frage nach der Kunst des Denkens in den Mittelpunkt zu rücken. Grotowski bewegte die Herausforderung, wie Hamlet Mitte der 1960er-Jahre gespielt werden konnte. Diese Motivation sollte im Laufe der Aufführung immer sichtbarer werden. Es gehe um die Darstellung der Entfremdung des Individuums in der Welt, so Agnieszka Wójtowicz, um den Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft, Bildungsbürgertum und sogenanntem Volk. Diese Widersprüche werden in der Inszenierung auf jeder Ebene verdeutlicht. Grotowskis Hamlet wird der Gesellschaft gegenübergestellt, er revoltiert nicht gegen sie, sondern versucht, zu sehen und zu verstehen.68 Überraschend sei, dass Hamlet am Ende überlebe, ein Aspekt, zu dem auch Carmelo Bene nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit Hamlet kommt. Nach Wójtowicz hat die Inszenierung Studium o Hamlecie Grotowski erlaubt, genau das zu zeigen, was ihn am meisten interessierte: die Beziehung zwischen der Gesellschaft und dem Individuum.69 Dies ist mit Einschränkung anzunehmen, denn Grotowskis Interesse wird sich in weiterer Folge auf das reine Tun des Schauspielers verlagern. Doch in dieser gesellschaftskritischen Phase gelangt Grotowski zu einer pessimistischen Weltsicht. Es sei »eine hässliche Welt«70 – so Wojtowicz, eine Welt ohne Freude, in der sich ein moderner Hamlet wiederfinde. Dennoch glimmt ein Funken Hoffnung in Grotowskis narrativer Botschaft: Es gibt einen Hamlet, der überlebt, anders als in der klassischen Vorlage, in der er stirbt und sein Freund Horatio bleibt. Bei Shakespeare heißt es: Horatio. Glaub das nur nicht [330] Ich bin mehr ein alter Römer als ein Däne. Hier ist noch etwas von dem Trank übrig. Hamlet. So wahr du ein Mann bist, gib mir den Kelch. Laß [ihn] los. Beim Himmel, ich will ihn haben! O Gott, Horatio, welch ein versehrter Name wird mir, so unbekannt die Dinge jetzt stehen, nachleben! [335] Wenn du mich je in deinem Herzen hieltest, so halte noch ein Weilchen Abstand von der Glückseligkeit und hole in dieser rauhen Welt mit Schmerzen Luft, um meine Geschichte zu erzählen. Entferntes Marschgeräusch. Was ist das für ein Kriegslärm?71
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Vgl. ebenda, S. 358–385, hier S. 375–76. Vgl. ebenda, S. 358–385, hier S. 384. Ebenda. (Orig. poln.: »Świat pokazany w Studium o Hamlecie był brzydki i pospolity.”) William Shakespeare, Hamlet, Übersetzung mit Anmerkungen von Norbert Greiner, S. 412 (5. Akt, 2. Szene) (Orig. engl.: »Horatio. Never believe it. | I am more an antique Roman than a Dane. | Here’s yet some liquor left. | Hamlet. As th’art a man, | Give me the cup. Let go. By heaven, I’ll ha ’t! | O God Horatio, what a wounded name, | Things standing thus unknown, shall live behind me! | If thou didst ever hold me in thy heart, | Absent thee from felicity awhile, | And in this harsh world draw thy breath in pain, | To tell my story. | A march afar off. | What warlike noise is this?«), ebenda, S. 413 (5. Akt, 2. Szene)
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Warum aber überlebt am Theater überhaupt immer irgendwer? Die Antwort darauf ist kurz, die Begründung schlicht: Es muss jemand übrig bleiben, »weil es immer jemanden geben muss, der den anderen die Geschichte erzählt!«72, sagt Ariane Mnouchkine.
72 Ariane Mnouchkines Antwort auf die Frage: »Warum überlebt der Marionettenspieler [in Tambours sur la digue (Trommeln auf dem Deich)] als Einziger am Ende des Stücks?«, in: Silke Greulich, »Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, ARTE-TV Magazin, 13. Jänner 2003.
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Ein Post-Hamlet oder poetische Masken sprechen. Mnouchkine und Shakespeare Ariane Mnouchkine ist davon überzeugt, dass im Theater Geschichten erzählt werden müssen. Sie benennt als »Berufsethos […] ein wahrhafter Zeuge zu sein, die Geschichte der Menschheit ohne Lüge zu erzählen – und obwohl die absolute Wahrheit nie zu erreichen sei, müsse versucht werden, nicht zu lügen«73. Dies versucht Mnouchkine mit ihrem Théâtre du Soleil unentwegt: Wahrheiten zu erzählen. »Das Theater ist eben auch das: eine herrliche Lüge, die die Wahrheit sagt«, sagt der langjährige Théâtre du Soleil-Schauspieler Georges Bigot. Dank der Suche nach der Wahrheit findet man die Freiheit beim Spiel. Der Reichtum des Spiels, das Vergnügen am Spielen und die Begeisterung! Natürlich mußte man von dieser Freiheit Gebrauch machen und mit den anderen gemeinsam spielen. Diese Beziehung zum anderen ist auf alle Fälle das Wichtigste; zum anderen, das heißt zur Figur, die man selbst spielt, aber auch zum Partner und zum Publikum.74
Dabei steht für Ariane Mnouchkine stets das Individuum im Verhältnis zur Gesellschaft im Mittelpunkt, anders als für Grotowski, der mit der Zeit das Individuum als solches im Zentrum sieht. Mnouchkine beleuchtet die individuellen Handlungsfähigkeiten und deren Ausschöpfungsmöglichkeiten in den jeweiligen Kontexten. Nicht immer ist die kollektive Theaterarbeit – création collective und damit einhergehende écriture collective – die alleinige Herangehensweise, die vom Théâtre du Soleil gewählt oder bevorzugt wird, um ein Stück zu erarbeiten. Nicht immer besteht die Aufgabe darin, eigene Geschichten und Texte zu finden. Für bestimmte Verfahren kann, wie zu Beginn ihrer Theaterarbeiten, zunächst auch ein »poetischer Dramentext als Partitur«75 gelten. Im Rahmen ihrer Annäherungen an die Handlungsmacht des Individuums zieht Mnouchkine auch Shakespeare heran bzw. greift auf seine Texte zurück. Ihrer Ansicht nach schlägt Shakespeare ein dramaturgisches Modell vor, um Geschichte zu präsentieren, so scheint es, als würde der Weg in die gegenwärtige Geschichte in die Renaissance zurückweisen. Mnouchkine sieht in Shakespeare, dem Autor und Theatermann, einen Experten, der das Instrumentarium kennt, das am besten geeignet ist, um von den Leidenschaften und Schicksalen der (einzelnen) Menschen schauspiele-
73 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 192. 74 Georges Bigot in: »Ich habe das Theater als Kampf gewählt. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Georges Bigot«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 74–82, hier S. 76. 75 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 6.
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risch zu erzählen.76 Aufgrund ihrer Erfahrungen mit der création collective knüpft ihre Auseinandersetzung mit Shakespeare-Texten an das kollektive Wissen der Théâtre du Soleil-Gruppe an. Ihre Vorgehensweise wird hier »als Übung zu einem neuen Texttheater«77 gesehen, wie Seym dies ausdrückt. Da Mnouchkine sich nach Mephisto von vorgegebenen Theatertexten völlig abgewandt hatte und stattdessen eine Arbeitsphase der écriture collective folgen ließ, ist die Rückkehr zum vorgegebenen Text gerade mit Shakespeare möglich. Seine Texte dienen ihr also wieder als Vor- und Grundlagen. Im Besonderen liege das daran, erläutert Seym, dass Shakespeares Dramen eine »poetische Tiefe« innewohne, »die den Schauspielern die Möglichkeit zu theatralischen Metaphern fern von plattem Realismus oder Psychologismus bereitstellt«78. In Shakespeare finde Mnouchkine, so Seym, jenen »Dichter, der tief in die Seele des Menschen und der Menschheit einzudringen versteht, bei dem Ferne und Nähe nahtlos ineinander übergehen«79. Für Mnouchkine stehen die Bilder, die durch Shakespeares Texte geschaffen werden, nicht für sich, sondern dienen als Rohmaterial für Aufführungen. Sie geben den Schauspielenden ein Werkzeug in die Hand. Das Besondere an Shakespeare sei, so Mnouchkine, dass dieser großartige Poet, Metaphysiker und großartige Historiker alle seine Bilder, seine Intuitionen, all seine Gedanken in Aufführungsinstrumentarien für Schauspielende transformierte. Des Schauspielenden Arbeit besteht nun darin, diese Bilder einzufangen und in einer decodierten Form zu präsentieren.80 Shakespeares Theaterstücke werden (abgesehen von den Komödien) grob eingeteilt in einerseits Königsdramen oder Tragödien – ausgenommen Macbeth, da es in diesem Stück um die schottische Geschichte geht, auch wenn es Überschneidungen gibt – und andererseits in Historien. In den Königsdramen widmet sich Shakespeare »schwache[n] und schuldig gewordene[n] oder schurkische[n] 76 Vgl. »From the Théâtre du Soleil’s published programme notes for the production of Richard II, 1981«, in: David Williams, Collaborative Theatre, S. 89–90, hier S. 89. (Orig. engl.: »Mnouchkine believed that Shakespeare proposed a dramaturgical model for representing history. Paradoxically, the way forward into contemporary history seemed to be to go back to the Renaissance […]« sowie »Shakespeare is an expert who knows the tools that are most apt and fitting for narratives of the passions and destinies of human beings.«) 77 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 7. 78 Ebenda, S. 7. 79 Ebenda, S. 194. 80 Jean-Michel Déprats, »Le besoin d’une forme: entretien avec Ariane Mnouchkine«, in: Théâtre Public 46/47, July–October, 1982, zit. n. »Shakespeare is not our contemporary. An interview with Ariane Mnouchkine by Jean-Michel Déprats«, in: David Williams, Collaborative Theatre, S. 93–98, hier S. 96–97 . (Orig. engl.: »The images produced by Shakespeare’s text aren’t images all by themselves, they are a raw material for performance. What’s extraordinary with Shakespeare is that this immense poet, this immense metaphysician, this immense historian transformed all his images, all his intuitions, all his thoughts into performance instruments for actors. The actor’s work should be to capture these images and convey them in a decoded form.«)
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Monarchen«, »die Herrscher, deren Bild in der damaligen Geschichtsschreibung glanzvoll gestaltet wird […] bleiben ausgespart. Diese Stoffwahl zeigt von vornherein den starken Anteil nationaler Selbstkritik.«81 Dies ist sicherlich ein Aspekt, der Shakespeares Texte für Mnouchkine attraktiv und spannend macht, versteht sich ihr Theater doch als eines, das die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse befragt. Mnouchkine selbst sagt, Shakespeare versetze sie in eine Kultur zurück, von der sie befreit oder derer sie beraubt sei. Das Theater habe die Pflicht, das Bild des anderen zu präsentieren, und zwar jenseits von Zeit und Raum.82 Es gibt zwei Varianten szenischer (Shakespeare-) Umsetzungen des Théâtre du Soleil, zwischen denen über 30 Jahre liegen: die sowohl dem körperlich-leiblichen Schauspiel der Truppe entgegenkommen als auch Geschichten erzählen. Sie greifen Shakespeares Theaterstücke auf und verbinden sie mit Mnouchkines Vorstellung von Shakespeares Instrumentarium für Schauspielende. Beide wurden vom Théâtre du Soleil-Ensemble kollektiv erarbeitet.
Mnouchkine im Foyer der ersten Halle des Théâtre du Soleil, kurz vor Beginn von Macbeth 2014 (Foto Michèle Laurent) 81 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 165. 82 Ariane Mnouchkine in Colette Godard, »Shakespeare at Vincennes: passion and fear«, in: The Guardian Weekly 125: 26, 27 December 1981, S. 14, zit. n. David Williams, Collaborative Theatre, S. 87. (Orig. engl.: »Shakespeare takes me back to a culture from which I have been freed – or of which I’m deprived […] The theatre must reflect the image of the other, far off in time and space.«)
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Die zweite der Varianten wird 2014 dargeboten, es ist die zum 50-jährigen Theaterjubiläum stattfindende Beschäftigung Mnouchkines mit Shakespeare und dem Stück Macbeth 83. Die erste Variante betrifft die Umsetzungen aus den 1980erJahren zum 20-jährigen Bestehen des Theaters, die auch unter der Zuschreibung »Mnouchkines Shakespeare-Zyklus« rezipiert werden. Mit diesem Zyklus, der sechsteilig gedacht und dreiteilig verwirklicht wurde, setzt für die Rezeption von Mnouchkines Phase des »wahren« Theaters ein, das »theatral« sein muss, wie sie es in diversen Interviews dezidiert auf den Punkt bringt.84 Für Mnouchkine kulminieren in dieser Phase zwei Interessen: Shakespeares Stücke und die asiatischen Theaterformen. Erst ihr jüngstes Stück Une Chambre en Inde (Ein Zimmer in Indien)85 von 2016 – das sie zusammen mit Hélène Cixous geschrieben hat und in dem Cixous auch selbst auftritt – amalgamiert alle Themen, die für Mnouchkine im Zentrum des Interesses standen und stehen: asiatische Formelemente ebenso wie sich selbst reflektierendes Theater bzw. Theater im Theater, Ausloten seiner Möglichkeiten und Grenzen, Verarbeitung aktueller gesellschaftlicher Realitäten, wobei nahezu alltäglich gewordene Grausamkeiten wie Terrorismus oder Klimawandel als Fragmente eines weltweiten Chaos ebenso einfließen wie das farbenfrohe mythische Maskentheater aus Indien.
Mnouchkines Liebe zum asiatischen Theater
Mnouchkines erster Kontakt mit asiatischem Theater geht auf die Zeit vor der Gründung des Théâtre du Soleil zurück. Im Zuge ihrer ersten großen (Asien-) Reise als Zwanzigjährige 1963/64 hatte sie sich vorgenommen, das chinesische Theater, die Peking-Oper kennenzulernen. Aufgrund der Einreiseverweigerung 83 Vgl. den Abschnitt »Der Einlass in die Aufführungshalle« im Kapitel »Räume und Visionen« S. 24–30. 84 Vgl. Judith G. Miller, Ariane Mnouchkine, S. 35. Miller versucht das theatrale Theater als eines zu verstehen, das auch als »wahres Theater« zu bezeichnen wäre, ein Theater, das tiefer ins Leben grabe, es hinterfrage. (Orig. engl.: »One way of understanding Mnouchkine’s quest for a ›theatrical theater‹, something we might also call ›true theater‹, is to embrace the idea that theater for her becomes a means of digging more deeply into life.«) Miller unterstreicht, dass von nun an Artauds Theaterverständnis für Mnouchkine von größerer Relevanz sei als Brechts. (Orig. engl.: »From 1980 on, we will hear her speak of a vision of theater that recalls more pointedly Artaud’s quasi-mystical aesthetic rather than a Brechtian commitment to political revolution.«) Dies mag auf ästhetischer Ebene durchaus erkennbar sein, den revolutionären Charakter von Theater lässt Mnouchkine dennoch keinesfalls außer Acht. 85 Une chambre en Inde (Ein Zimmer in Indien), 2016. Eine kollektive Theaterarbeit des Théâtre du Soleil unter der Regie von Ariane Mnouchkine, Musik Jacques Lemêtre, in Zusammenarbeit mit Hélène Cixous und unter Beteiligung von Kalaimamani Purisai Kannappa Sambandan Thambiran. Informationen unter www.theatre-du-soleil.fr/thsol/nos-spectacles-et-nos-films/ nos-spectacles/2016-une-chambre-en-inde-2016/ [07/07/2017].
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nach China bereiste sie stattdessen Indien und anschließend Japan. Sie wandte sich dabei vor allem dem indischen Kathakali, den balinesischen und kambodschanischen Theaterformen86 sowie den traditionellen Theaterformen Nô, Bunakru und Kabuki zu.87 Die ehemalige Direktorin der CNRS (Abt. Theaterwissenschaft) Béatrice Picon-Vallin nennt es eine »Initiationsreise«88, die Mnouchkine erfahren habe, und auch Weggefährtin Cixous erzählt, dass dieses Erlebnis die damals junge Mnouchkine vollkommen aufgesogen habe. Deshalb sei Asien nach wie vor präsent, auch wenn manche Inszenierungen nicht so aussehen, als wären sie durch diese Welt inspiriert. Mnouchkine selbst sagt, sie habe noch zehn Jahre lang von der Reise geträumt, es sei ihre innere Welt, Cixous nennt es Mnouchkines »Wiege«.89 Mnouchkine verwendet dasselbe Bild, wenn sie vom Ursprung des Theaters spricht und auf Artaud Bezug nimmt: Die orientalischen Theorien haben alle Theaterleute geprägt. Sie haben Artaud, Brecht und alle anderen geprägt, weil der Orient die Wiege des Theaters ist. Artaud sagte: »Das Theater ist orientalisch.« […] Diese Bemerkung geht sehr weit. Artaud behauptet nicht, es gebe orientalische Theorien, die für das Theater interessant seien, sondern er beteuert: »Das Theater ist orientalisch.« Und ich glaube, Artaud hat recht.90
Sowohl Mnouchkine als auch Artaud gehen davon aus, dass den traditionellen asiatischen Theaterformen eine poetisch-narrative Struktur innewohnt, weshalb sie Geschichten zu erzählen imstande ist: 86 Eine Kombination aus inhaltlichen, politischen und theatralen Interessen zeigt 1985 die Umsetzung des Stücks L’Histoire terrible mais inachevée de Norodom Sihanouk, roi du Cambodge (Die schreckliche, aber unvollendete Geschichte des Norodom Sihanouk, König von Kambodscha), Text Hélène Cixous, Regie Ariane Mnouchkine, Musik Jean-Jacques Lemêtre, Instrumente Lemêtre und Caroline Lee auf, Bühne Guy-Claude François, Kostüme Jean-Claude Barriera und Nathalie Thomas, Maske Erhard Stiefel. Nicht nur der epochale Titel, sondern auch einige inhaltliche und dramaturgische Anspielungen erinnern an Shakespeare. Auf Anregung einer Harvad-Studentin arbeiteten Jahre später die beiden Théâtre du Soleil-Mitglieder, Delphine Cottu und George Bigot, mit ca. 30 Darsteller_innen und Musiker_innen der Kunstschule Phare Ponleu, Sepak in Battambang (Kambodscha) an einer neuen identischen Gesamtaufführung, die sich nur in der Sprache unterschied: Es wurde Khmer gesprochen. Vgl. Marc Zitzmann, »Prinz Sihanouk als Theaterheld«, in: Neue Zürcher Zeitung, 25.10.2013. Vgl. auch Dokumentationsfilm Ariane Mnouchkine – l’aventure du Théâtre du Soleil von Catherine Vilpoux. 2009. [TC 01:01:16 bis 01:05:11] 87 Die Initialzündung für Mnouchkines Interesse an der Peking-Oper soll der Vortrag Sartres Théâtre épique et théâtre dramatique gewesen sein, zu dem Mnouchkine ihn selbst 1960 eingeladen hatte. Er war der erste prominente Gast im Rahmen der von Mnouchkine organisierten Vortragsreihe im Amphitheater der Sorbonne. Sartre beruft sich in seinen Schilderungen auf ein Gastspiel der Peking-Oper in Paris 1956. Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 11–12. 88 Béatrice Picon-Vallin im Dokumentationsfilm Ariane Mnouchkine – l’aventure du Théâtre du So leil von Catherine Vilpoux. 2009. [TC 00:48:25 bis 00:48:45] 89 Hélène Cixous und Ariane Mnouchkine in: ebenda. [TC 00:48:48 bis 00:49:45] 90 Mnouchkine, »Man erfindet keine Spieltheorien mehr. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 30–36, hier S. 35.
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Die hohe poetische Ausdruckskraft der Schauspieler, die die Dramen Shakespeares fordern, lassen für Mnouchkine die Referenz alter asiatischer Theaterformen zur Notwendigkeit werden. Denn Mnouchkine ist mit Artaud von dem morgenländischen Charakter des Theaters überzeugt – ein Theater, das Geschichten erzählt, eine fortwährende Metapher, die im Körper-Spiel der Schauspieler erzählt wird. Analog dazu wird Shakespeares Text im Spiel der Schauspieler in poetische Körpermetaphern gekleidet.91
Für Mnouchkine sind die alten Traditionen aus Japan, Indien und Bali nicht zuletzt deshalb von so großer Bedeutung, da sie allein sowohl das Maskenspiel als auch die Schauspielarbeit am und mit dem Körper weiterführen, was sie davor schützt, vom Einfluss des westlichen, »realistischen« Theaters absorbiert zu werden.92 »Transformationsindikatoren«93 für die Schauspieler_innen, so nennt Seym den Umgang und Einsatz dieser Formen wie Nô, Kabuki und Kathakali, »Inspirationsquellen«94 sind es laut Féral, Anhaltspunkte, die als Spielmodus und Spielmotor fungieren. Trotz dieser grenzenlosen Bewunderung kopiert Mnouchkine die orientalischen Praktiken nicht und versucht nicht, sie in ihren Aufführungen zu reproduzieren. Sie stellen für sie zunächst ein Arbeitsinstrument dar, nicht einen Endzweck.95
Mnouchkine maßt sich also keineswegs an, authentisch in Traditionen zu spielen, die ein Jahrzehnte langes Einüben erfordern und in einem bestimmten kulturellen Kontext stehen.96 Béatrice Picon-Vallin betont, dass es sich nicht um Kopien, sondern um das Studieren und Erforschen dieser Formen handele.97 Seym untersuchte sämtliche Bearbeitungen und Transformierungen unterschiedlichster
91 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 7. 92 Ariane Mnouchkine im Dokumentationsfilm Ariane Mnouchkine – l’aventure du Théâtre du Soleil von Catherine Vilpoux. 2009. [TC 00:48:00 bis 00:53:00] 93 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 7. 94 Josette Féral, »Der vielbesuchte Orient. Interkulturalismus im Theater«, in: dies. (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 179–192, hier S. 181. 95 Ebenda, S. 179–192, hier S. 180. 96 Kritik an Mnouchkines Einbindung dieser Traditionen bleibt nicht aus. Sie steht im Zusammenhang mit Kritik an westlichen Theaterleuten und deren Versuch, auf kolonialisierende oder imperialistische Art und Weise ihre eigenen Theatertraditionen oder zumindest Inszenierungen exotischer wirken zu lassen. Vgl. Interculturalism & Performance, 1991; Patrice Pavis, Theatre at the Crossroads of Culture, 1995; The Intercultural Performance Reader, hrsg. v. Patrice Pavis, 1996; Claudia Tatinge Nascimento, Crossing Cultural Borders, 2009; Josette Féral, »Der vielbesuchte Orient. Interkulturalismus im Theater«, in: dies. (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 179–192, im Speziellen S. 189–190. 97 Vgl. Béatrice Picon-Vallin, »Ariane Mnouchkine et la mise en scène en question«, in: Ariane Mnouchkine, S. 5–18, hier S. 8. »Die verfeinerten und strengen Künste der asiatischen Bühnen – Kathakali, Kabuki, Bunraku –, die sie [Mnouchkine] auf diesen Weg der Schauspielkunst geführt haben, wurden nicht kopiert, sondern studiert.« (Orig.frz.: »Les arts raffinés et rigoureux des scènes asiatiques – kathakali, kabuki, bunraku … – qui l’ont mise sur cette voie de l’art des acteurs n’ont pas été copiés, mais étudies.«)
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Spielweisen – ausgehend vom französischen Volkstheater über Agitproptheater, die neuen Wege des Théâtre Populaire bis zu den asiatischen Theatern –, indem sie sich auf die Frage konzentrierte, »welche Traditionslinien das Soleil auf welche Art aufnimmt, fortführt und verändert«98, dabei aber selten deren Herkunft kontextualisiert. Singleton analysiert in seinen Shakespeare-Studien zu Mnouchkine jedes theatrale Element des Théâtre du Soleil hinsichtlich seiner Funktion und Eigenschaft, um den »theatralen Orientalismus« (theatrical orientalism) aufzuspüren. Mnouchkine filtere ihn heraus und bringe ihn sodann auf die europäische Bühne.99 Der Shakespeare-Zyklus des Théâtre du Soleil beinhaltet drei Inszenierungen: zwei Tragödien (Historien) und eine Komödie. Hamlet ist nicht darunter. Wie Mnouchkine in einem Interview gesteht, sei sie noch nicht bereit dafür.100 1981 Richard ii (Richard ii.), 1982 La nuit des Rois (Die zwölfte Nacht oder Was ihr wollt) und 1984 Henry iv Première partie (Heinrich iv., Teil 1). Sie habe sich deshalb für diese beiden Dramen entschieden und (noch) nicht für Hamlet oder King Lear »aufgrund ihrer Beziehung zu Geschichte, was seit jeher schon ein beständiges Anliegen des Théâtre du Soleil gewesen ist«101. Ariane Mnouchkine, die ein Anglistikstudium absolvierte, hat die drei klassischen Vorlagen neu übersetzt102 und wie üblich unter ihrer Regie zur Aufführung gebracht. Bei allen dreien waren Guy-Claude François für das Bühnenbild sowie Jean-Claude Barriera und Na thalie Thomas für die Kostüme verantwortlich. Mit dem Zyklus beginnt zugleich die Zusammenarbeit mit Jean-Jacques Lemêtre,103 der bis heute für die Musik zuständig ist. Durch sein Mitwirken erfährt die Musik während der ShakespeareBearbeitungen einen »Paradigmenwechsel innerhalb der diesbezüglichen Musik98 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 8. 99 Vgl. Brian Robert Singleton, »Chapter Five: Mnouchkine and Orientalism«, in: ders., The Interpretation of Shakespeare by Ariane Mnouchkine and the Théâtre du Soleil, S. 235–259, hier S. 235. (Orig. engl.: »To examine the Orientalism manifest in Mnouchkine’s Shakespeare is to focus on the function and the attributes of every element of theatre outside the text, since the plays in any case are of occidental origin. The range of aural and visual equipment established during ›Les Shakespeare‹ (1981[–198]4), though never codified in an oriental sense, needs to be catalogued here to show how Mnouchkine interprets theatrical Orientalism and how she applies it to the Western stage. This equipment (being manifestations of Orientalism) constitutes an extra-textual theatrical language.«) 100 Vgl. Ariane Mnouchine in einem Interview: Jean-Michel Déprats, »Le besoin d’une forme: entretien avec Ariane Mnouchkine«, in: Théâtre Public 46/47, July–October, 1982, zit. n. »Shakespeare is not our contemporary. An interview with Ariane Mnouchkine by Jean-Michel Déprats, in: David Williams, Collaborative Theatre, S. 93–98, hier S. 98. Siehe Originalzitat in FN 101. 101 Ebenda, hier S. 98. (Orig. engl.: »Richard II and Henry IV rather than Hamlet or King Lear (neither of which I feel ready for) because of the relation to History, which has always been one of the unwavering interests of the Théâtre du Soleil.«) 102 Vgl. »Vergleich der Übersetzungspraktiken«: Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 177–186. 103 Vgl. Renate Klett, »Königin und Sphinx. Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil«, in: Theaterfrauen, S. 195–209, hier S. 205.
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tradition des Soleils«104. Natürlich entsteht auch die Musik in einem kollektiven Prozess, übernimmt jetzt aber mit Jean-Jacques Lemêtre eine »integrierende Funktion aller Komponenten der Aufführung«105, während bis dahin die Musik eher nach Brecht »in kommentierender Position zum Text Unterbrechungen evoziert und markiert«106 hatte. Bei den beiden Historien waren zudem Masken von entscheidender Bedeutung – die Verantwortung für diese oblag Erhard Stiefel. Und während für die Bereiche der Macht und der Herrschaft als Spieltradition Kabuki und Nô herangezogen wurden, stand für den Bereich Liebe und Spiel Kathakali Pate.107 Mnouchkine verlegte den Königshof »von Richard ii. an einen japanischen Ritterhof, das Illyrien der Liebes-Verwirr-Komödie nach Indien. Im letzten Stück dann vermischen sich [das] japanische und indische Element, was den zwei Ebenen von Königshaus und Kneipenleben entspricht.«108
Theater im Theater. Maskenspiel
Das Theater ist nicht tot, weil es Shakespeares Stücke gibt – so drückt Mnouchkine es 1982 programmatisch aus. Und seine Figuren seien nicht in einer Weise psychologisch ausstaffiert, so dass es für die Schauspieler_innen keine Bewegungs- und Gestaltungsfreiheit mehr gebe, sondern sie im Gegenteil viel Platz hätten.109 Das Potential, das Shakespeares Texten und Figuren innewohnt, greift auch Judith Miller auf: Mnouchkine konzentriere sich im Zuge ihrer Suche nach einem wahren Theater auf die theatralen Gesetze, die die Grundlagen bilden für die historischen und zeremoniellen Traditionen wie Commedia dell’arte (neu104 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 154. Seym bezieht sich auf drei wesentliche Theorien von Theaterautoren des 20. Jahrhunderts, die der Musik nicht lediglich einen Hintergrundeffekt mit untermalendem Charakter zuweisen: Artaud, Brecht und Grotowski. Das Théâtre du Soleil hatte sich an Brecht orientiert, bis Jean-Jacques Lemêtre kam (und blieb). So etwa wurde in dem Film Molière (1978) Molières Sterben mit der Arie »What Power Art Thou (The Cold Genius)« von Purcell begleitet (vgl. den Abschnitt »Sterben (Molière und Mnouchkine, Grotowski)« im Kapitel »Schauspielen und (finale) Transformation«. Diese Veränderung zog eine nächste, größere nach sich: Da der vielseitige Lemêtre u. a. auch Instrumentenbauer war, richtete die Gruppe in ihren Hallen ein Atelier ein, wo fortan Musikinstrumente repariert oder neu gebaut werden konnten – eine Veränderung der Raumnutzung, die sich nachhaltig auf alle auswirkte. Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 163. 105 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 155. Zum Aufbau eines »Musikfoyers« und zur Verwendung der Instrumente vgl. ebenda, S. 160–164. 106 Ebenda, S. 155. 107 Vgl. ebenda. 108 Renate Klett, »Königin und Sphinx. Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil«, in: Theaterfrauen, S. 195–209, hier S. 206. 109 Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 1.
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ere Forschung: Commedia all’improvviso), Shakespeares Theater, griechische Tragödien, das japanische Nô und Kabuki.110 Ursprünglich hat Mnouchkine Shakespeares Texte nur zu Probezwecken eingesetzt. Doch da sie sich so außerordentlich gut für die Schauspielenden eigneten, um ihrer Spielfreude Ausdruck zu verleihen, sei während dieser Arbeiten die Idee eines Shakespeare-Zyklus entstanden.111 Hier wird klar, wie eng Shakespeares Sprache und das Schauspiel bzw. die Schauspielenden mit- und ineinander verwoben sind, wie intim ihre Verbindung ist. Für Mnouchkine ist dies einer der wesentlichen Aspekte in der Auseinandersetzung mit Shakespeares Stücken, hat doch gerade sie in erster Linie die Schauspieler_innen und nicht die Texte im Fokus. Wie in Hamlet gibt es auch in Heinrich iv. ein Spiel im Spiel (II, 4),112 etwa wenn Falstaff seinen Freund Prinz Heinrich auffordert, sich auf die Rechtfertigung seines Lebenswandels gegenüber dem Vater einzustellen. Der Prinz spielt daraufhin mit Falstaff eine mögliche Szenerie durch, probt eine eventuell bevorstehende Szene mit dem Vater. Seym fällt bereits »beim ersten Durchlesen« von Mnouchkines Übersetzung auf, dass sie »den Charakter des Theaterspiels deutlich unterstreicht«. Die Stelle »Do thou stand for my father« übersetzte Mnouchkine in »Tiens le rôle de mon père (Übernimm die Rolle meines Vaters)« und verweise damit »verbal auf den doppelten Spielcharakter, nämlich einerseits auf das Spielen einer Rolle, sowie andererseits auf Grund der Situation des Spiels im Spiel, auf das Spielen einer (anderen) Rolle im Spiel mit der Rolle«113. Weiters stellt Mnouchkine die im Originaltext angedeutete Diskussion über Spielobjekte (Sessel als Thron, Dolch als Zepter, Polster als Krone) in ihrer Übersetzung noch deutlicher in einen Theaterkontext. So spricht der Prinz zum Beispiel direkt den verwendeten Dolch als »Theaterdolch« an. 110 Vgl. Judith Miller, Ariane Mnouchkine, S. 35–36. (Orig. engl.: »In looking for ›true theater,‹ Mnouchkine will concentrate on discovering what she calls the theatrical laws that underpin many of the great classical and ceremonious traditions: commedia dell’arte, Shakespearean tragedies, Greek tragedies, Japanes noh and kabuki.«) 111 Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 1. 112 Beim Stück Henry iv handelt es sich nun auch nicht um eine Historie mit zugeteiltem Komödienteil, vielmehr, betont Seym, sind »die beiden Ebenen […] aufeinander zugeordnet, die Falstaffszenen sind integraler Teil der Historie. Der Ritter und seine Freunde repräsentieren die Welt der Untertanen, die Nation als Träger und Gegenstand politischen Handelns. Sie kommentieren und spiegeln die politische Situation, spielen sie nach. Besonders beeindruckend erweist sich diese Ebene als Reflexions- und Diskussionsplattform in der vierten Szene des zweiten Aktes, die als Spiel im Spiel gestaltet ist.« Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 167. 113 Ebenda, S. 4. Da »Do thou stand for my father« im Grunde »übernimmst du die Rolle meines Vaters / repräsentierst du die Rolle meines Vaters« bedeutet – im Sinne des Bühnenjargons »to stand in for somebody (jemand springt ein, um die Rolle eines anderen zu übernehmen)« –, ist Mnouchkines Übersetzung noch keine Außergewöhnlichkeit. Seym betont lediglich, dass Mnouchkine von den vielen Möglichkeiten, dies im Französischen auszudrücken, die Variante mit tenir le rôle (die Rolle übernehmen) gewählt hat.
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Mnouchkine betont damit den fiktionalen Charakter von Theater als Kunstform und verweist, neben der Reflexion über Requisit versus Spielobjekt, über die Vorlage hinaus, auf die Unmöglichkeit einer unmittelbaren Realitätswiderspieglung. Denn ein »Theaterdolch« ist kein »echter Dolch«, und selbst ein »echter« Dolch würde auf der Bühne zum Theaterdolch, weil er im Spiel vorgeführt, aber nicht als Dolch benutzt wird – oder eben auch zu einem völlig anderen Spielobjekt »umfunktioniert« werden kann.114
Die Vorliebe des Théâtre du Soleil für den Kunstgriff »Theater im Theater«, für das Spiel im Spiel, kam bereits im Revolutionsstück 1789 zum Einsatz, in dem Schauspieler_innen einer Jahrmarktstruppe ihre Erinnerungen an die ersten Jahre der Französischen Revolution schildern. Das heißt nicht, dass ein_e Schauspieler_in des Théâtre du Soleil Louis xvi verkörpert, sondern dass Théâtre du Soleil-Schauspieler_innen die Leute einer Jahrmarktstruppe spielen, die sich an die Revolution erinnern und so Louis xvi aus verschiedenen Perspektiven zeigen. Zudem übernahmen verschiedene Théâtre du Soleil-Schauspielende (abwechselnd) die Rolle jener Schauspielenden der Jahrmarktstruppe, die ihrerseits wiederum (abwechselnd) den König darstellten.115 Dadurch wird deutlich, dass Mnouchkine »Gefühle« auf verschiedenen Ebenen unterscheidet: die der Schauspielenden von denen der Figuren (und natürlich auch der Zusehenden), ähnlich wie im indischen Theater, wie sie selbst sagt.116 Die Figuren haben für sie ein eigenständiges Seelen-Leben, das in den Proben gesucht, gefunden und erarbeitet werden muss.117 Das ist in Mnouchkines Augen der Ehrgeiz des Theaters. Es muß eine echte Situation geben; ich will nicht einmal sagen: einen Vorwand, da man weiß, daß dies in der Improvisation möglich ist, sondern es muß eine Theatersituation geben und den Ehrgeiz, eine Figur zu erschaffen. Es muß Erfindung, Entdeckung geben.118
Wie Mnouchkine in einem Interview erläutert, zieht sie ihre Lehren direkt aus Shakespeares Theaterstücken. Und was lehrt Shakespeare: Ich weiß nicht, wie ich einem Schauspieler sagen sollte, präsent zu sein. Was ich hingegen weiß, was ich mit dem Schauspieler zu machen versuche ist, daß er in seiner Handlung, in seinem Gefühl, in seinem Zustand und auch in der Unbeständigkeit des Lebens in der Gegenwart ist. Das sind Lehren, die einem Shakespeare erteilt. Man fühlt bei ihm, daß man einen Vers in einem Mordszorn beginnen, diesen Zorn einen Augenblick lang vergessen kann, um
114 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 4. 115 Vgl. ebenda, S. 72. 116 Vgl. Ariane Mnouchkine, »Man erfindet keine Spieltheorien mehr. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 30–36, hier S. 32. 117 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Spiel der Masken – Ariane Mnouchkine und das Eigenleben ihrer Figuren«, in: Erinnern – Erzählen – Erkennen, S. 354–369. 118 Ariane Mnouchkine, »Man erfindet keine Spielheorien mehr. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 30–36, hier S. 33.
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nur fröhlich zu sein über etwas, was im Text ist, um in eine schreckliche Rachgier zurückzufallen, und all das in zwei Versen, das heißt innerhalb weniger Sekunden.119
Um die entsprechende Geschwindigkeit ins Spiel zu bringen und die Wandelbarkeit der Schauspielenden zu unterstützen, schaut Mnouchkine sich die Techniken und theatralen Elemente von asiatischen Theatertraditionen ab, die Aspekte mithin, die Seym (wie schon erwähnt) als »Orientierungspunkte«120 bezeichnet. Diese Vorgangsweise stößt selbstredend nicht ausschließlich auf Wohlgefallen. Oft wird die bewusst genutzte stilisierte Form nicht (an-) erkannt, mit der Mnouchkine vom psychologischen Spiel zum »hyperrealistischen Spiel«121 gelangt.122 C.B. Sucher etwa findet wenig Anlass, »sich an diesen exotisch-fremden, plakativen, zuweilen groben, manchmal länglich-faden Aufführungen zu freuen«. Ariane Mnouchkine ist bei ihrer Suche nach neuen Theaterformen, abseits aller realistischen und psychologischen Darstellungsweisen, zwar fündig geworden, doch Shakespeare hat sie kaum entdeckt. Ihre Erklärung, dieser Dichter sei »nicht unser Zeitgenosse und sollte deshalb auch nicht so behandelt werden«, macht kaum begreiflich, warum sie die Komödie im Orient bei den Muselmanen, das Historiendrama in Japan bei den Samurai spielen läßt.123
Die angeführten Orientierungspunkte betreffen insbesondere den Umgang mit Masken und den Einsatz des Körpers. In Richard ii hält dies sogar Sucher für gelungen.124 Die Arbeit mit und an Puppen / Figuren in allen Größen, mit Schminke und mit den Masken selber zieht sich wie ein roter Faden durch das Schaffen des Théâtre du Soleil. Es geht Mnouchkine v. a. darum, dass die Masken und nicht die Schauspielenden sprechen, womit wieder das Eigenleben der Figuren zum Ausdruck kommt. Schauspielende selber erzählen, dass die Maske sich die Schauspieler_innen aussucht – und nicht umgekehrt. Auch deshalb ist die freie Rollendisposition für das Théâtre du Soleil so wichtig: Die Masken dienen der Verwandlung, sie unterstützen diese. So zitiert Seym den berühmten Nô-Spieler Kita Nagayo, der beschreibt, 119 Ebenda, S. 30–36, hier S. 32–33. 120 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 153. 121 Vgl. S. 37; sowie vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 52. 122 Die Bedeutung die Mnouchkine Proben, Training, Maske und Körpertechnik beimisst, zeugt auch von ihrer künstlerischen Herkunft und verweist auf ihren Lehrer Jacques Lecoq. Den Zusammenhang von Mnouchkine, Lecoq und Shakespeare untersucht Dareen Tunstall in seinem Artikel »Shakespeare and the Lecoq Tradition«, in: Shakespeare Bulletin, S. 469–484. 123 C. Bernd Sucher, »Keine Heimat für Viola und Richard«, in: ders., Das Theater der achtziger und neunziger Jahre, S. 28–31, hier S. 29. 124 »Doch Richard ii. hielt Mnouchkines extremes Experiment aus. Fast fünf Stunden lang wirbelt eine fremde Welt vorüber: grell, laut, faszinierend exotisch. Für Massenauftritte, für schnelle Szenenwechsel taugt diese Bühne, und Ariane Mnouchkine ist in der Verwirklichung von Bewegung auf der Bühne Meisterin. Richard ii. wird zu einem frappierenden Spektakel, zu einem großen einheitlichen Wurf, was die Form, die ritualisierte Darstellungsweise der äußerst beherrschten Schauspieler angeht.« Ebenda, S. 28–31, hier S. 30.
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[…] inwieweit mit der Maske eine Transformation des Trägers einhergeht. Wenn der Nô-Darsteller sich die Maske auf das Antlitz lege, begebe er sich gleichsam in die Einsamkeit einer Kapsel, die ihn von der Umwelt abschirme. Er habe das Gefühl, mit dem ganzen Körper in eine andere Sphäre einzutreten. So verwandele er sich in die Figur, die er darzustellen habe. Der Nô-Darsteller tritt also in dem Moment, da er eine Maske aufsetzt, aus dem Alltagsleben in den Bereich der Kunst und belebt die tote Maske, indem er sie zu einem lebendigen Teil seines Körpers werden läßt.125
Schauspielende werden zum Medium der Maske, diese wiederum dient der Verwandlung – und nicht der Überlagerung oder Abdeckung. Die Masken sind göttliche Gegenstände! Es ist vielleicht ein Aberglaube, aber auch eine poetische Strategie. Alle, die mit der Maske zu tun hatten, räumen ein: Es ist nicht der Schauspieler, der durch die Maske spricht, sondern umgekehrt. Man kann sich nicht vorstellen, daß die Maske nur Schminke oder nur ein einfacher Gegenstand ist. Wenn der Schauspieler eine Maske trägt, wird er zu einer Art Orakel. Er gebraucht seinen Körper, wie die griechischen Götter den Körper der Pythia gebrauchten oder wie die tibetischen Götter den Körper ihrer Hellseher. Der Schauspieler wird zu dem, was er sein muss: ein Medium.126
Im Vorwort zu L’Âge d’or erklärt der Maskenbildner Erhard Stiefel, dass die Gesellschaft mit einer Maske »demaskiert« und entlarvt werden kann. Und dass durch »die Schönheit und die Genauigkeit ihrer Gesten […] ein Glanz entsteht, der die Funktionsweise der Gesellschaft offenbart […] und anprangert, doch gleichzeitig die Hoffnung auf ein anderes Leben fordert.«127 Mnouchkine selbst erklärt wiederholt: »Die Maske verbirgt nicht den Schauspieler, sondern vielmehr sein Ego128. Aber eigentlich verbirgt sie überhaupt nichts, im Gegenteil: sie öffnet. Sie ist ein Vergrößerungslas zur Seele hin, eine Öffnung zur Seele.«129 Masken erleichtern Schauspielenden das Spiel, sofern sie sich auf die Entdeckungsreise mit ihnen einlassen.130 Ein Zugang, den auch der Maskenbildner Stiefel einfordert, wenn er den Schauspieler_innen seine selbst gebauten Masken überreicht: »Voilà, entdecke!«131 Er bringt als Beispiel die Figur Heinrich iv. [Wir haben] zu einer vom japanischen Theater inspirierten Maske gegriffen, um die Figur zu verwandeln, das Spiel ins Gleichgewicht zu bringen und die Figur treffender wiederzugeben. Die
125 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 35–36. 126 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 126. 127 Erhard Stiefel, »Le masque et l’univers«, in: L’Âge d’or, première ébauche (Texte-programme), S. 49–53, FN 38. 128 In einer anderen Übersetzung heißt es: »vielmehr das Ich«, vgl. Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: TheaterFrauenTheater, S. 182–196, hier S. 192. 129 Ebenda, S. 120–130, hier S. 126. 130 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Spiel der Masken – Ariane Mnouchkine und das Eigenleben ihrer Figuren«, in: Erinnern – Erzählen – Erkennen, S. 354–369. 131 Erhard Stiefel, »Überlegungen zur Regiearbeit mit Masken«, in: Masken – Eine Bestandsaufnahme, S. 304–308, hier S. 308.
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orientalischen Formen haben uns geholfen, die Shakespeare-Stücke nicht auf europäische Weise, das heißt sehr klassisch, zu gestalten. Die Schauspieler mußten ihre Rolle mit Hilfe einer fernen Kultur erfinden, vor allem des Kabuki, einer Theaterform, die auf Grund ihres spektakulären Ausdrucks von Ariane Mnouchkine sehr geschätzt wird.132
Théâtre du Soleil, Henry iv 1984 (Foto Michèle Laurent)
Shakespeare-Zyklus und Mnouchkines Verhältnis zu den Schauspieler_innen
Die Masken, wie Mnouchkine sie auf ihren Reisen kennengelernt hat, finden in den 1980er-Jahren also auf unterschiedliche Weise Eingang in das dramaturgische Konzept ihrer Arbeit an Shakespeares Theaterstücken Richard ii, La nuit des Rois und Henry iv. In Richard ii, dem finsteren Stück über den erbitterten Kampf um Macht, sind die »Jungen« weiß geschminkt, die »Alten« tragen Holzmasken balinesischer Art. Die Arbeitsbasis des Nô und Kabuki aufgreifend, skandieren
132 »Ein Verbindungsglied zwischen Tradition und heutiger Welt. Ein Gespräch mit dem Maskenbauer Erhard Stiefel«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 148–153, hier S. 150.
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die kollektiven Bewegungsabläufe die Aufführung. Die Wiederaufnahme von Tableaux vivants trägt diese Basis mit. Da in Richard ii nur drei weibliche Schauspielerinnen auftreten, die mehr oder weniger Dekorationszwecken dienen, will Mnouchkine bei der Liebeskomödie La nuit des Rois ausschließlich mit Schauspielerinnen arbeiten. Die Théâtre du Soleil-Leute müssen jedoch nach einer viermonatigen Probezeit mit und ohne Masken diese Idee verwerfen und ihr Vorhaben abbrechen. Der Versuch, Shakespeares komplizierte Verflechtungen über Geschlechtertausch, homoerotische Liebe und liebesschmachtendes Sehnen in eine Haremserzählung unter Frauen zu transponieren, erweist sich als unzureichend, weil diese Konstellation die Ambivalenzen des Stückes entscheidend verkürzt.133
Das Théâtre du Soleil wird den mehrfach gebrochenen Geschlechterzuweisungen in seiner Darbietungsweise nicht gerecht, dabei hätte dies eine Anspielung sowohl auf die Spielpraxis zu Shakespeares Zeiten als auch auf das japanische Theater sein können. Nur Viola wird beibehalten, die es freilich schon in der klassischen Vorlage in doppelt-verdrehter Version gab: ein Schauspieler, der im Stück eine Frau (Viola) spielt, die sich im Stück als Mann (Césario) ausgibt – die Mehrfachverwandlung einer Cross-Dressing-Rolle.134 Für Mnouchkines Adaption der Tragikomödie Henry iv waren schon allein wegen der körperlichen Herausforderungen an die Schauspieler_innen über Monate dauernde Proben notwendig. Um das gewünschte Tempo und den sportlich-akrobatischen Gestus zu bewältigen, mussten sie sich nicht nur eine gute Kondition antrainieren, sondern auch intensive Atem-, Sprech- und Stimmcoachings absolvieren. »In rasendem Lauf – Luftsprünge vollführend – stürmen die SchauspielerInnen der Mnouchkine-Truppe in farbenprächtigen, schwingenden Röcken auf das gold-ockerfarbene Bühnenplateau«135, schildert Sabine Perthold. Mnouchkine verlangte von ihnen regelmäßiges Laufen über eine Strecke von knapp zehn Kilometern und gab einen streng einzuhaltenden Ernährungsplan vor. Die kraftvollen Sprünge verlangen den Schauspielern eine perfekte Körperbeherrschung ab. Das Tempo der Auftritte ist atemberaubend, jede Szene ein Überfall. Eine über Monate trainierte Atemtechnik erlaubt es den Schauspielern, auch nach einem fulminanten Anlauf mit ruhiger Stimme die rhythmisierte Prosa Mnouchkines zu sprechen.136
133 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 199. 134 Viola soll als Page Césario verkleidet Orsino und Olivia verheiraten und verwickelt sich dabei immer mehr in die Welt der amourösen Verstrickungen und Verwirrungen. 135 Sabine Perthold, »Die Sonnenkönigin«, in: Stimme der Frau, Nr. 2 / Februar / 1993, S. 4–5, hier S. 4. 136 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 212.
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Auch die chorischen Einlagen und das Skandieren forderten eine lange und gründliche Vorbereitungszeit. Miller berichtet, dass die Schauspielenden Dutzende Samurai-Filme ansehen und darin vor allem die Landschaft der mongolischen Steppe studieren mussten, um ein Gefühl für die räumliche Ausdehnung zu bekommen und zu internalisieren.137 Die Aufführung selbst dauerte vier Stunden, und allen Schauspieler_innen war am Ende die Erschöpfung deutlich anzumerken. Trotzdem waren und sind sie durchwegs begeistert von Mnouchkine, ob nun die Leute der ersten Stunden des Théâtre du Soleil, die Erfahrung, Charisma und Übung einbringen konnten, oder die der neuen, jungen, athletischen Generation, die erst kurz vorher dazugekommen waren, lediglich Mnouchkines Masken-Workshops besucht hatten und bald darauf schon im Shakespeare-Zyklus mitwirkten. Seym interviewte die der älteren Generation angehörende Schauspielerin Louba Guertchikoff: […] die Erfahrungen mit der Regisseurin und Theater-Leiterin Ariane Mnouchkine beschreibt sie als wirklich fantastisch. Sie sagt es frei heraus, im Soleil habe sie erst zu lernen begonnen und unterstreicht Mnouchkines wunderbare Art, die Schauspieler als Menschen und nicht als verwertbaren Faktor zu sehen.138
George Bigot, der in allen drei Shakespeare-Inszenierungen mitwirkte, erinnert sich an den Beginn der Proben nach einem zweimonatigen Masken-Lehrgang bei Ariane Mnouchkine und Erhard Stiefel, wie erfinderisch sie alle gemeinsam waren, wenn es um neue Spieloptionen ging, und dass sie Mnouchkines Vorschlag aufnahmen, mit »orientalischen Bildern« zu arbeiten. Es war für ihn »hochinteressant, mit Shakespeare in den Orient zu reisen«.139 Sie hätten sich Filme von Kurosawa angesehen und Anschauungsmaterial durchgearbeitet, das Mnouchkine über Asien mitbrachte, zum Beispiel Kunstbände. Bigot erzählt,140 das Foto eines Kabuki-Schauspielers, das er in einem der Bücher entdeckte, habe ihn sehr inspiriert, nicht zur Nachahmung, sondern zur Gestaltung seiner Figur. Anschließend habe er gezielter nach ihr suchen können. Die Tatsache, dass das Théâtre du Soleil nicht nur Geschichten erzählt, sondern mit ihnen auch auf die aktuelle Verfasstheit der Gesellschaft verweist, sie zu spiegeln versucht und sich zugleich kritisch damit auseinandersetzt, ist als si137 Vgl. Judith Miller, Ariane Mnouchkine, S. 77. (Orig. engl.: »She [Mnouchkine] accordingly had [sic] the actors study samurai films and also the landscapes of the vast Mongolian steppes, in order to help them interiorize a sense of expansiveness. She set up a rigorous physical training schedule that included running 5 miles a day, paying close attention to nutrition, and taking lessons on projection from a vocal coach.«) 138 Ebenda, S. 188. 139 »Ich habe das Theater als Kampf gewählt. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Georges Bigot«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 74–82, hier S. 77. 140 Ebenda.
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gnifikante Facette der Annäherung Mnouchkines an Shakespeare zu verstehen. Mnouchkine selbst sagt, sie habe viel von Shakespeare gelernt: »Bei Shakespeare in die Lehre gehen auf der Suche nach Ausdrucksformen, die Geschichte unserer Zeit zu erzählen.«141 Dieser Satz bringt den Kern ihrer Theaterarbeit auf den Punkt. Der Shakespeare-Zyklus eignet sich hervorragend als Beispiel dafür, wie Mnouchkine mit den Schauspieler_innen zusammenarbeitet – nicht zuletzt deshalb, weil das Ensemble zu dieser Zeit wie erwähnt einerseits aus Mitgliedern besteht, die mit Mnouchkine seit 20 Jahren dabei sind und anderen, die neu hinzugekommen sind. Der Zyklus stellt dadurch gleichsam eine Metaebene der Geschichte des Schauspielens im Théâtre du Soleil her. So berichtet Seym über die Schauspielerin Louba Guertchikoff, die ab 1964 im Theater aktiv war, und über Andrés Pérez, der 1984 als Stipendiat zum Shakespeare-Zyklus stieß. Beide waren fasziniert von der Arbeit mit Ariane Mnouchkine und ihren Fähigkeiten als Regisseurin. So meint die eine, Mnouchkine habe die »große Begabung, das Spiel der Schauspieler zu optimieren«, und der andere bewundert »deren Gabe, die spezifischen Qualitäten eines jeden Schauspielers aufzuspüren«142. Mnouchkine agiert als »erste Zuschauerin«, die Begegnung zwischen ihr und den Schauspieler_innen ist intensiv, intim, vulnerabel und emphatisch. George Bigot, der Richard ii spielte, erzählt: Damals vertrat Ariane das Publikum: den Blick. Sie führte uns. Das Gute an Ariane war, daß sie sah, was der Schauspieler erreichen wollte, und daß sie ihn dorthin brachte. Das hatte etwas von einer Geburt an sich. Ich war ein ganz junger Schauspieler und merkte es genau, wenn sie mit den anderen arbeitete: Sie veranlaßte uns, das Spiel, die Spielmöglichkeit zu »gebären«. Sie war die Hebamme: Die Beziehung, die wir zu ihr hatten, war daher sehr stark.143
Natürlich kam es gerade in solch intensiven und innigen Arbeitssituationen auch immer wieder zu Streits und Zerwürfnissen, wie etwa zwischen Mnouchkine und dem langjährigen Ensemblemitglied Philippe Hottier, der nach der letzten Aufführung von Henry iv die Truppe verließ.144 Ihre Rolle als erste Zuschauerin, so Seym, sei nicht mehr die einer »prima inter pares. Sie gestaltet sich dominanter«145. Dies sieht sie darin begründet, dass für den Shakespeare-Zyklus viele »Neue« hinzukamen, eine Annahme, die andere teilen. Das Soleil-Ensemble ist neu; fast alle alten Schauspieler haben die Gruppe nach »L’Âge d’or« oder »Molière« verlassen. Aber es gibt auch solche, die zurückkommen: Gérard Hardy, einer der Mitbegründer, für »Mephisto«, Philippe Hottier für die Shakespeare-Trilogie (beide gehen wieder, nach-
141 Mnouchkine zit. n. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 190. 142 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 188 und S. 189. 143 »Ich habe das Theater als Kampf gewählt. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Georges Bigot«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 74–82, hier S. 76. 144 Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 189–190. 145 Ebenda, S. 189.
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dem ihre Stücke abgespielt sind, Hottier sogar noch vorher). Auch andere, wie Philippe Caubère, Jean-Claude Penchenat, Alain Salomon, Mario Gonzales oder Jonathan Sutton, verlassen das Soleil für immer. Die neuen Protagonisten heißen Georges Bigot im Shakespeare und später bei den »Atriden« Simon Abkarian.146
Zur Zeit des Shakespeare-Projektes waren also die meisten Schauspieler_innen praktisch eine Generation jünger als Mnouchkine selbst, und insofern, so Seym, habe natürlich Mnouchkine den Ton angegeben.147 Ob das vermeintlich zunehmend dominante Vorgehen Mnouchkines das Prinzip des kollektiven Arbeitens an sich in Frage stellt, ist offen. Es ist allerdings eher anzunehmen, dass sich über die Jahre bei ihr schauspielerische und generelle Theatererfahrung auf eine Weise durchzusetzen beginnen, die frühe Weggefährt_innen als dominante Stückgestaltung empfinden. Immerhin berichten Schauspieler_innen aus der Truppe auch, dass Mnouchkine im Grunde recht wenig vorgibt, vorwiegend Kleinigkeiten wie zum Beispiel, dass an dieser oder jener Stelle Samurai seien, weil sie da Samurai sehe.148 Die langjährigen Mitglieder – Mnouchkine eingeschlossen – haben eine gemeinsame Geschichte und viel Erfahrung. Darauf basierend haben sie ihr »Theatervokabular« entwickelt, das sich für die kollektive Arbeitsweise bewährt hat und fortgeführt wird. Seym kann in ihrer Analyse ein solches Vokabular ausfindig machen, das bis heute Verwendung findet: Es gehe darum, sich auf das »›Abenteuer‹ (l’aventure)« einzulassen, d. h. »in die Seele der Menschen und Menschheit eintauchen und zurückkehren« sowie das »geborgene Material« bearbeiten. Wenn beides gelingt, dann ist das »evident (évident)«, was bedeutet, dass alle Beteiligten die Darstellung als richtig (an-) erkennen. »Dieses Evidenzprizip«, so Seym, »ist freilich für diejenigen, deren Interpretationen nicht überzeugen, ebenso schmerzhaft wie bei einer festen Rollendisposition. Aber das Evidenzprinzip wird dem jeweiligen Spielstand der Schauspieler gerechter.«149 Dazu müssen die Schauspielenden immer in der Gegenwart sein, Körperarbeit leisten sowie den Muskel der Imagination trainieren. Nur so können sie Visionen und Seelenzustände, Befindlichkeiten (états) und Emotionen empfangen und – im Gegensatz zu Grotowskis und Benes Ideen – in luzide Bilder für die Zuschauenden verwandeln.150 »Bei Shakespeare etwa«, schreibt Seym, Mnouchkine zitierend,
146 Renate Klett, »Königin und Sphinx. Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil«, in: Theaterfrauen, S. 195–209, hier S. 205. 147 Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 189. 148 Vgl. Philippe Hottier in »Shakespeare is a Masked Text. From an interview with Georges Bigot and Philippe Hottier by Jean-Michel Départs«, in: David Williams, Collaborative Theatre, S. 105– 108, hier S. 105. (Orig. engl.: »Here, she simply said, ›These are samurai.‹«) 149 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 190. 150 Vgl. ebenda, S. 190.
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gebe es oft innerhalb eines halben Verses den Wechsel von grüner Wut zu blauer Euphorie. Diesem raschen Wechsel der Gemütsverfassung der Personen bei Shakespeare könne der / die SchauspielerIn nur dadurch gerecht werden, daß er / sie immer nur einen état [Befindlichkeit] spiele, und dauerte er nur den Bruchteil einer Sekunde.151
Wenn Mnouchkine also vom Spiel der Schauspielenden ausgeht und die Poesie der Figuren sucht, bleibt sie nah an der Interpretation eines Shakespeare-Hamlet, der den fahrenden Schauspielern Anweisungen gibt. Sie sieht, sie leitet an, sie tritt in Interaktion mit den Schauspieler_innen, wenn sie sich auf die Suche begeben, um Figuren zu finden, die spiegeln oder auch verzerren können. Auf diese Art entstehen Figuren, die imstande sind, in Kommunikation mit dem Publikum zu treten. Wenn sie mit der Poesie der Körper arbeitet und die Theatralik der Formen, die Spieltechniken, die Beziehung zu Körper, Raum und Zeit sucht, nähert sie sich den orientalischen Theaterstrukturen und -techniken. Die Arbeit am und mit dem Körper ist entscheidend, um die Figuren überhaupt erst zu entwickeln. Im Shakespeare-Zyklus der 1980er-Jahre werden beide Zugänge miteinander verwoben auf die Bühne gebracht. Auch wenn Seym hier das Visuelle hervorhebt, Bühne, Kostüme und Masken, und das Théâtre du Soleil explizit als »visuelles Theater«152 bezeichnet, so konstatiert sie doch auch in Bezug auf den Shakespeare-Zyklus: Die »Bilderfolgen geben die klangliche Virtuosität der Sprache wieder.«153 Auf der Bühne sichtbar sind die vorherrschende Spielfreude der Agierenden durch Dynamik und Geschwindigkeit, die »Sprünge und Flüge durch die Luft, die rasanten Auftritte und Abgänge des Hofstaates«154. Durch diese visuelle Wucht rückt das Klangliche immer wieder in den Hintergrund. Es begleitet und leitet die Schauspielenden, es kommuniziert mit ihnen, es ist eine »das Spiel ständig antreibende Musik Lemêtres«155. Das Visuelle ist daher ein bleibendes starkes Ausdruckselement, da es intensiv mit den Zuschauer_innen korrespondiert, die Musik indes gibt den Rhythmus und die Grundstimmung vor. Zum Beispiel wußte bei den Auftritten in den Shakespeare-Inszenierungen jeder genau, wo er sich den anderen gegenüber befand und welche Bilder er vorschlug. Es war eine Art Bienenschwarm, der da auf die Bühne kam. Wir genossen alle das Bild, das wir gemeinsam hervorbrachten.156
151 Ebenda, S. 190–191. 152 Ebenda, S. 153. 153 Ebenda, S. 13. 154 Renate Klett, »Königin und Sphinx. Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil«, in: Theaterfrauen., S. 195–209, hier S. 206. 155 Ebenda. 156 »Ich habe das Theater als Kampf gewählt. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Georges Bigot«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 74–82, hier S. 80.
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Die Kommunikation mit dem Publikum und das Bauen der Bilder für die Zuschauenden bleiben stets im Fokus des Théâtre du Soleil. Die Schauspielenden fragen sich, »wie man von der Welt erzählen wird, die man darstellen will«157, und erschaffen gemeinsam die Bilder zu dieser Welt.
157 Ebenda.
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Ein reduzierter Hamlet oder Hamlet streichen. Bene und »Hamlet suite« Um die Musik sowie v. a. den Klang und dessen Virtuosität hat sich im Besonderen Carmelo Bene bemüht. Nicht als treibendes, begleitendes oder anleitendes Mittel, sondern weit darüber hinaus entwickelte Bene Klänge und Klangräume, gehörte und geschaute. Über seinen Macbeth schreibt der Literaturwissenschafter und Theaterkritiker Gianfranco Bartalotta, die Aufführung sei eine pausenlose Metamorphose des Visuellen in etwas Hörbares.158 Die Entwicklung hin zum Gehörten beanspruchte eine gewisse Zeit, in der Bene sich auch verschiedenster Werke Shakespeares annahm. Daher lässt sich bei Bene ebenfalls eine Zeitspanne innerhalb seines künstlerischen Schaffens ausmachen, die vorwiegend Shakespeare gewidmet ist und in der Literatur den Beinamen »Benes ShakespeareInszenierungen«159 trägt, wobei es sich um ein »Aus-der-Szene-Nehmen« handelt, daher also um eine Phase der Shakespeare-»Ent-Inszenierungen«160. Bene selbst sagt, dass er Shakespeare nicht inszeniere oder parodiere, vielmehr »kritisiere« er ihn. Seine Arbeiten seien »ein kritischer Beitrag über Shakespeare«,161 eine »intime Lektüre von Shakespeare«162 oder ein »erneutes Schreiben«163. So habe er zum Beispiel wie Laforgue einen »Beitrag zu Hamlet«164 geliefert.
158 Gianfranco Bartalotta vergleicht Benes Otello und Macbeth und meint, die linguistische Aphasie von Otello verwandle sich bei Macbeth in unartikulierte Klangklumpen des Körpers des Schauspielers und führt das Zitat über die Metamorphosen von Artioli an. Gianfranco Bartalotta, Carmleo Bene e Shakespeare, S. 140, zitiert Umberto Artioli, »Morire di Teatro per l’Increato: Carmelo Bene tra silenzio e vocalità, in: La ricerca impossibile, Venezia: Marsilio Editori 1990, S. 27–38, hier S. 32 (Orig. ital.: »le numerose afasie linguistiche di Otello, sono qui [Macbeth] trasformate in disarticolati grumi sonori del corpo dell’attore, in una incessante ›metamorfosi del visibile in udibilie‹«.) 159 Giacchè sagt, Bene widme sich in seinen Zyklen dem Umarbeiten des Shakespeare-Repertoires. Vgl. Piergiorgio Giacchè, »Bene, Carmelo«, in: Dizionario biografico, abrufbar unter Treccani. it www.treccani.it/enciclopedia/carmelo-bene_%28Dizionario-Biografico%29. [20/11/2014]. (Orig. ital.: »stagioni dominate da riscritture del repertorio shakespeariano«.) 160 Vgl. die Übersetzung von Gaetano Biccari in dem Artikel »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 275, FN 7. 161 Carmelo Bene in einem Interview: Elena de Angeli, »Non si può morire«, in: Carmelo Bene, Panta, S. 65–69, hier S. 67. (Orig. ital.: »Io non metto in scena Shakespeare – l’ho detto tante volte – né una mia interpretazione o lettura di Shakespeare, ma un saggio critico su Shakespeare.«) Den Aspekt eines »kritischen Beitrags« hebt auch Gilles Deleuze in seiner Beschäftigung mit Carmelo Benes Arbeiten hervor, vgl. Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: Aisthesis, S. 379–405. 162 Cesare Barboli, »Mercuzio guardone«, in: Un po’ prima del piombo, S. 264–266, hier S. 265. (Orig. ital.: »lettura intima di Shakespeare«) 163 Carmelo Bene spricht über seine kritische Herangehens- und Arbeitsweise in dem Dokumentationsfilm Il principe cestinato. Colloquio satirico-filosofico con Carmelo Bene von Carlo Rafele. o. J. [TC 00:03:17 bis 00:03:26] (Orig. ital.: »riscrittura«) 164 Vgl. ebenda. [TC 00:03:38 bis 00:04:20] (Orig. ital.: »Ho fatto un saggio su Amleto«.)
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Auf den Punkt gebracht: Ich spreche nicht von den Dingen, die Shakespeare vergessen hat zu schreiben, nicht von denen, die er geschrieben hat. Ich inszeniere Shakespeare nicht, ich parodiere ihn nicht, ich analysiere ihn nicht und ich psychoanalysiere ihn auch nicht. Ich kümmere mich um seine Schnitzer und Versprecher, das Nicht-Gesagte.165
Carmelo Bene bleibt dieser Aussage treu, zudem gibt es keinen anderen Autor (sic), mit dem er sich öfter auseinandergesetzt hat als mit William Shakespeare. Er sei Benes unsichtbarer Begleiter auf der Bühne, schreibt Umberto Artioli, diese »brüderliche Figur, mit der er sich identifiziert. Mit Shakespeare, nicht dessen Figuren; mit der schmerzenden Seele des großen Dichters, verloren in den Abgründen der verbalen Partitur, nicht mit der Reihe der dramatischen Situationen, die ihn berühmt machten.«166 Bene setzt sich aus dieser speziellen Perspektive mit Romeo und Julia, Macbeth, Othello und mit Richard iii auseinander.167 Vor allem wird er laut Eigendefinition, wie bereits erwähnt, »von dem Hamlet des 20. Jahrhunderts«168 bestimmt, v. a. aber von dem Shakespeare-Hamlet, dem Stück Hamlet. Von einem »obsessive[n] Spiel mit dem Hamlet-Stoff […]« schreibt Gaetano Biccari und unterstreicht in Benes Auseinandersetzung die humoristisch-komische Seite, die sich in der »barocken« Umsetzung entblättert. Bene (ver-) sucht, »die verborgene, im Fall von Hamlet komische, Potentialität von Texten und Kontexten sowie ihrer vielfältigen Rezeption und Variation durch einen Prozess barocker Kumulation aufzudecken.«169 165 Carmelo Bene, »Notate zum Theater«, in: Theater etcetera, S. 74–79, hier S. 75; vgl. auch das Zitat der FN 127 im Kapitel »Räume und Visionen« sowie Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: Aisthesis, S. 379–405. 166 Umberto Artioli, »Morire di Teatro per l’Increato: Carmelo Bene tra silenzio e vocalità, in: La ricerca impossibile, S. 27–38, hier S. 31. (Orig. ital.: »Shakespeare è l’invisibile compagno di scena, la figura fraterna con cui identificarsi. Shakespeare, non i suoi personaggi; l’anima dolente del grande poeta, persa negli abissi della partitura verbale, non la sequela delle situazioni drammatiche che ne hanno fatto la fama.«) 167 Carmelo Bene brachte unterschiedliche Versionen auf die Bühne, kreierte verschiedene Videoteatro (an einen TV-Bildschirm angepasste Variationen) und einen Film in Bezug auf Shakespeares Werke. Er nahm Verschiedenes für das Radio und auch auf CD auf: Hamlet (Theater 1961, 1967, 1974, 1987, 1994; Film 1973; Videoteatro 1974; Radio 1974; CD 1994), Romeo und Julia (Theater 1976, Radio 1976), Richard iii (Theater 1977, Videoteatro 1977), Othello (Theater 1979; Radio 1979, Videoteatro 1984) und Macbeth (Theater 1983, 1996, Videotheater 1997). Vgl. »Elenco degli spettacoli« in: Gianfranco Bartalotta, Carmelo Bene e Shakespeare, S. 177–180; oder Anhang in Carmelo Bene, Opere, S. 1551–1560. Eine weitere Quelle mit anderen Angaben zu Benes Hamlet-Daten vgl. Donatella Orecchia, Anna Silvestrini, »Carmelo Bene. Amleto. 1962, 1964, 1967, 1975… E 1994«, in: Nuovo Teatro made in Italy dal 1963, unter: www.nuovoteatromadeinitaly. com/amleto/?lang=it [26/06/2017]. 168 Vgl. auch das Zitat der FN 105 im Kapitel »Räume und Visionen«. Carmelo Bene, Opere, S. 1351. (Orig. ital.: »mi ›definisce‹ Amleto del novecento«) 169 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 276.
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Hamlet-Variationen. Hamlet auf ewig
Bene bemüht sich immer wieder um diese Art der Aufdeckung von Klassikern, Texten, Theater und Schauspielen generell. Dieses Arbeitsprinzip entwickelt er (auch) in den unterschiedlichen Variationen und Versionen von, zu, nach und mit Hamlet.170 Er ist förmlich durchdrungen von seinen Hamlet-Darstellungen und von Hamlet selbst, über den er schreibt: »Der Hamlet wird das Basso Continuo meines gesamten Lebens sein, mich wie ein Requiem ante mortem begleiten.«171 Zu Beginn hegt Bene zwar noch die Annahme, es komme nichts mehr danach. »Dieser ist der komischste und trübsinnigste Hamlet, der jemals imaginiert worden ist. […] Jeden Abend, an dem ich ihn spiele, bin ich traurig, sehr traurig. Und nach Hamlet weiß ich wirklich nicht, was ich noch machen werde.«172 Darin allerdings irrt er,173 denn bis zu seiner letzten Hamlet-Umsetzung vergehen 20 Jahre, in denen zahlreiche weitere Versionen auf die Bühne kommen und in verschiedensten performativen Genres von ihm zu Klang gebracht werden.174
Bene-Amleto 1961, Teatro Laboratorio (Still aus Teatro avanguardia)
170 Vgl. auch FN 112 im Kapitel »Räume und Visionen« eine Auflistung sämtlicher Versionen. 171 Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 124. (Orig. ital.: »L’Amleto sarà l’accompagnato funebre di tutta la mia vita.«) 172 Carmelo Bene zit. n. Petrini S. 144, S. 155; vgl. Übersetzung von Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 282, FN 40. 173 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »›One Hamlet Less‹ & Others. Carmelo Bene’s Variations«, in: Hamlet – Transfer. Stage, Language, Politics, S. 37–43. 174 Vgl. dazu die umfassende Aufarbeitung inkl. Presseartikel von Armando Petrini, Amleto da Shakespeare a Laforgue per Carmelo Bene, 2004.
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Hamlet. Schauspieler-Werden
Sie reichen von Theateraufführungen in den römischen Kellertheatern (Teatro Laboratorio und Beat 72) über für den TV-Bildschirm geeignete Formate, das sogenannte Videoteatro und einen Film Anfang der 1970er-Jahre bis zu Hommelette for Hamlet, operetta inqualificabile da Jules Laforgue (Hommelette175 für Hamlet, unqualifizierbare Operette nach Jules Laforgue) 1987 im Teatro Piccinni in Bari und Hamlet suite (Hamlet Suite) 1994 im Teatro Romano in Verona. Hamlet suite wurde auch auf CD gebrannt, das spettacolo concerto (Schauspielkonzert) bleibt als Stimme von Bene über seinen Tod hinaus lebendig. Sein Theater ist also von Grund auf, rückblickend und zukünftig, »ein Theater des Klangs«176. Bene verfolgt in seiner gesamten Schaffenszeit das eine Ziel: den Schauspieler, den Großen Schauspieler, und damit schließlich sich selber als Schauspieler zu eliminieren und sich nur noch auf die Stimme, den Klang zu konzentrieren. »Ich hebe das Tragische auf, ich liquidiere den Schauspieler, entziehe den Körper, reduziere ihn auf Stimme und dann auf ein unsinniges [sinnentleertes] Phonem.«177 Der Große Schauspieler und sein Double. Es war so, als ob die verlorene Aura des Schauspielers nur durch sein Double wieder aufzufinden gewesen wäre; ein Double, das zugleich verhöhnend und zelebrierend war. Und hier sind die Intuition und das Bewusstsein des Künstlers glänzend: der große tragische Schauspieler ist eine Parodie des großen tragischen Schauspielers.[178] […] auf der Bühne steht der Körper eines Schauspielers, der die Techniken des Großen Schauspielers wunderbar beherrscht und verwendet; wozu aber? Um ihn und seine Anmaßung, die Repräsentation, zu verhöhnen. Er ist der Schauspieler in der Zeit der Unmöglichkeit, Hamlet, Macbeth, Othello usw. zu repräsentieren.[179] 180
175 Zu den im Titel enthaltenen Facetten vgl. das Zitat der FN 200. 176 Vgl. Umberto Artioli, »Morire di Teatro per l’Increato: Carmelo Bene tra silenzio e vocalità, in: La ricerca impossibile, Venezia: Marsilio Editori 1990, S. 27–38, hier S. 37. (Orig. ital.: »il teatro di Bene è un teatro della phonè«) 177 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 278 FN 23. Biccari zitiert und übersetzt Bene aus Carmelo Bene / Giancarlo Dotto, Vita di Carmelo Bene, S. 32. 178 Übersetzung von Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 281. (Orig.: Carlo Cecchi, »Contro la rappresentazione«, in: Per Carmelo Bene, S. 67–70, hier S. 68; Biccari zitiert Cecchi nach Armando Petrini, Amleto da Shakespeare a Laforgue per Carmelo Bene, S. 42, FN 69.) (Orig. ital.: »Il Grande Attore e il suo doppio. Era come se l’aura perduta dell’Attore non la si potesse ritrovare se non attraverso il suo doppio; un doppio derisorio e celebrativo allo stesso tempo. E qui l’intuizione e la coscienza dell’artista è folgorante: il grande attore tragico è una parodia del grande attore tragico«) 179 Ebenda; Biccari zitiert Cecchi nach Armando Petrini, Amleto da Shakespeare a Laforgue per Carmelo Bene, S. 42–43, FN 70.) (Orig. ital.: […] in scena c’è il corpo di un attore. Il quale attore conosce in maniera prodigiosa le tecniche del Grande Attore e se ne serve; ma per che cosa? per deriderlo e per deridere la sua pretesa di rappresentazione. Egli è l’attore nel tempo dell’impossibilità di rappresentare Amleto, Macbeth, Otello ecc.) 180 Gesamte Passage zit. n. und Übersetzung von Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 281.
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Gleichzeitig mit der Elimination des Großen Schauspielers muss auch der dazugehörende Held – ob Richard iii, Romeo oder Hamlet – subtrahiert, amputiert und als Mangelwesen sichtbar gemacht werden. In diesem Prozess wird Schicht um Schicht aufgeschürft und abgetragen, wobei sich die tiefer liegenden Ebenen nach und nach offenbaren. Der Prozess dauert so lange an, bis auch der tragischste Held keiner mehr ist – weder tragisch noch Held. Die (Wirk-) Kraft ihrer Macht bzw. die Machtstrukturen selbst, die die Protagonisten ausmachen, werden eliminiert: ob ein amputierter Riccardo iii mit eingegipsten Armen agiert,181 Pentesilea mit Körperteilen von (Schaufenster-) Puppen ausgestattet182 oder Macbeth komplett einbandagiert wird,183 ob Romeo aus der Szene verschwindet oder Amleto in reinen Klang übergeht. Die Amputation von Teilen des Hamlet-Corpus aktiviert die versteckten Kräfte der Textglieder. Die Subtraktion von ganzen Passagen, Situationen oder Gestalten des Werkes und die sukzessive Addition von fremdem Material revolutionieren – durch parodistische, ironische, burleske, groteske, verzerrende und karikierende Variationen – [der] Plot und die Sprache des Textes bis zu dem Punkt, an dem Hamlet aufhört, ein tragischer Held zu sein.184
Doch nicht nur, dass Bene dem Shakespeareschen Text Szenen, Teile, Figuren, Dialoge entnimmt, die Kostüme, Körper, Leiber und Sprache verstümmeln und stottern lässt, mit den übrig gebliebenen Elementen spielerisch auf und von der Bühne aus einen Umgang sucht, sondern darüber hinaus bringt er in weiteren Versionen (Text-) Fragmente anderer Autoren (sic) ein.185 Zunächst verfährt er mit ihnen auf dieselbe Weise wie mit Shakespeares Text, erst dann kommen die entlehnten Fragmente hinzu. So finden sich bei Bene schon früh Abschnitte aus Laforgues Hamlet. In der Literatur wird seit Deleuzes Essay Benes Arbeitsweise häufig als Subtraktionsverfahren beschrieben. Im Gegensatz dazu verweist Biccari auf einen Vor- und Fortgang, somit auf seine Arbeitsweise der Addition: CB’s [Carmelo Benes] »Verhalten« – hier das Addieren und Variieren mehr als das Subtrahieren – ist das Entscheidendste bei seiner »Aufhebung des Tragischen« und Entdeckung des Komischen in Hamlet, die wiederum eine ästhetische Praxis offen legt, die nicht ohne Gewalt auskommt. Bei der Beschreibung dieser Gewalt verwendet CB ein recht makabres Bilderarsenal, das sein suspendere mit verschiedenen Konnotationen auflädt.186
181 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, S. 73–78. 182 Pentesilea ist ein Beispiel für Benes Verfahren anhand anderer Klassiker – von Stazio bis Kleist, vgl. S. 184–187 im Kapitel »Schauspielen und (finale) Transformation«. 183 Vgl. das Zitat der FN 263 im Kapitel »Schauspielen und (finale) Transformation«. 184 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 277. 185 Vgl. zum Verfahren mit Hamlet Gabriele C. Pfeiffer, »Amleto«, in: dies., Non esisto dunque sono, S. 80–93. 186 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 279–280.
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Hamlet. Schauspieler-Werden
Un Amleto di meno 1973 (Still aus dem gleichnamigen Film)
In der 1973 entstandenen Filmversion Un Amleto di meno wird die Erzählung von Jules Laforgue zu einem beinahe tragenden Teil des Geschehens. Im Mittelpunkt des bunten Treibens – im Gegensatz zur schwarz-weißen Videoteatro-Version – stehen die Truppe und ihre erste Schauspielerin Kate neben Reisetruhen voller Kostüme, die aufgrund der variativen Handlungen immer wieder herausgenommen und hineingelegt werden. Die Koffer verweisen auf die Vorbereitungen der Abreise nach Paris. Orazio, der Shakespeares Hamlet aufzuführen versucht, scheitert mit diesem Vorhaben. Biccari konzentriert sich in seiner Darlegung auf die inhaltliche Erzählung und deren Komik. CB [Carmelo Bene] collagiert das Metatheater von Shakespeares Tragödie mit dem parodistischen Spiel von Laforgues Erzählung: Hamlet ist nun ein Künstler, Autor und schlechter Komödiant zugleich, der, anstatt seinen Vater zu rächen, Stücke für die Theatergruppe von Kate und William schreibt. König Claudius übernimmt die Rolle eines Impresarios-Produzenten-Regisseurs, sodass Hamlet mehr und mehr zum Zuschauer seines eigenen Schicksals wird. In seiner politischen Passivität hegt Hamlet den Traum aus Elsinore zu flüchten, um dann in Paris zusammen mit der Primadonna Kate große Theatererfolge zu feiern.187
187 Ebenda, S. 274–287, hier S. 283.
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»Hommelette for Hamlet«. Kein Spiel mehr
Mit der Version Hommelette for Hamlet in den 1980er-Jahren mag der komische wie verspielte Ansatz bereits in dem von Carmelo Bene gewählten Titel anklingen.188 Das Besondere dieser Version jedoch ist die Entwicklung von Benes Bildästhetik, die mit der akustischen Partitur Hand in Hand geht. Die Kombination erreicht hier einen Höhepunkt, der barocker nicht gestaltet sein könnte. Auf der Bühne sind Engelsstatuen – Kopien der Engel, die Castel Sant’Angelo, die Engelsburg in Rom, schmücken – und marmorne Grabsteine verteilt, was wie ein »glänzend ausgestatteter barocker Friedhof«189 wirkt, der neben Stil und Zeit auch ein Lebensgefühl evoziert. »Der Meeres-Friedhof aus Un Amleto di meno wird in Hommelette for Hamlet der ›Engels-Friedhof‹«190, schreibt Cosetta G. Saba. Aus den Reisekoffern, bepackt mit dem bunten Gewand der Komödiant_innen-Truppe vorheriger Versionen, sind nun Gruft- und Grabstätten geworden. An einem der Grabsteine lehnt Bene-Amleto, die Szenerie ist in goldenes, weißes und weißgoldenes Licht getaucht. Bene-Amleto ist passend zum Bühnenbild in hellen, beigefarbenen Tönen gekleidet, er trägt eine Leinenhose und ein weißes Hemd. Die bunten quaderartigen Puffärmel und überdimensional großen, futuristisch anmutenden Kostüme der Theatertruppe aus Un Amleto di meno sind wieder verschwunden. Selbst Will, der Prinzipal der Schauspieltruppe, findet sich als eine der weißen Engelsstatuen mit opulenter Lockenpracht wieder. Gianfranco Bartalotta bezeichnet diesen Hommelette for Hamlet-Bene-Amleto als Dandy: In der 1987er Version […] präsentiert sich der Laforguesche »Dandy« in einem aus der Mode gekommenen Demodé-Gewand, in einem barocken Friedhof mit weißen Engeln, in Erinnerung
188 1983 schreibt Carmelo Bene »Hamlet, oder die Nicht-Geschichte der Verwertung (›Hommelette‹), die freudianische Seite, die der obszönen Stattlichkeit des äußerst schönen Mädchens anvertraut wird, die vom unbedachten-weißen Bart des Polonoius bekleidet ist.« 1987 kommt Hommelette for Hamlet auf die Bühne und 1990 gibt es eine Videoteatro-Version. (Orig. ital.: »Nell’83 Bene scrive ›Amleto, o la non storia del cascame (›hommelette‹), il côté freudiano fidato alla prestanza oscena d’assai bella ragazza travestita della barba biancosconsiderata di Polonio‹.«), Enrico Baiardo und Roberto Trovato. Un classico del rifacimento. L’Amleto di Carmelo Bene, S. 148; vgl. Carmelo Bene, »Un altro Amleto di meno«, in: ders., Opere, S. 1172–1176, hier S. 1175. (Orig. in: ders., Sono apparso alla Madonna, S. 175–181, hier S. 180.) 189 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 286. 190 Cosetta G. Saba, Carmelo Bene, S. 115. (Orig. ital.: »Il cimitero marino di Un Amleto di meno diviene in Hommelette for Hamlet il ›Cimitero degli Angeli‹«)
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Hamlet. Schauspieler-Werden
an die nächtlichen Circen mit ihren gähnenden Achselhöhlen in der Sonne [191] oder eisigen Jungfrauen, die im grauen Sonnenuntergang eines Sonntags in der Provinz verschwinden.192
Neben Shakespeare die wohl wichtigsten Referenztexte für Bene sind über viele Versionen hinweg Jules Laforgues Erzählung »Hamlet oder die Folgen der Sohnestreue«193 und das Gedicht »La signorina Felicita o la felicità«194 (Fräulein Felicita oder das Glück) von Guido Gozzano. In Hommelette for Hamlet sind die Referenztexte freilich nur noch fragmentarisch enthalten. Die Version ist dadurch eine zusammengebrochene, nur mehr kleine Oper, eine operetta inqualificabile da Jules Laforgue (unqualifizierbare Operette nach Jules Laforgue), mit ein paar Anspielungen auf melodramatische und monologische Elemente aus den Prätexten. Bevor Hommelette for Hamlet auf die Theaterbühne kommt, wird eine Videoteatro-Fassung dieser Version erstellt, woraus Biccari schließt: Die erste und grundsätzliche Variation besteht in dem setting dieser Fernsehinszenierung [Videoteatro], die in der surrealen Landschaft eines barocken Friedhofes spielt. Dadurch wird die vorwiegend melancholisch-elegische Stimmung einer Arbeit betont, in der CB’s schauspielerischer Stil
191 Vgl. Jules Laforgue, »V. Bittschrift (Pétition)«, in: ders., Letzte Verse (Derniers vers); Dt.: Jules Laforgue, Poetische Werke, S. 219–221: »[…] Jedoch laßt mich, o Nächte, | Circen mit dunkler Titusfrisur | Und traurigen Augen als man dächte! | Geht nur, | Beseligende Liebesgöttingen, die ihr fast | Wie ein Regal geordnet eure Zahnfleische enthüllen | Und zu ohrenbetäubenden Grillen | Die Achselhöhlen in die Sonne gähnen laßt! | oder recht auf dem violetten Grund aus Lotus | Häuslicher Sünden zielen | Sie mit dem Zeigefinder auf ein: motus!« (Herv. d. A.) Hinweis entnommen Gianfranco Bartalotta, Carmelo Bene e Shakespeare, Roma: Bulzoni 2000, S. 45, FN 59; Bartalotta bezieht sich auf die italienische Übersetzung: Jules Laforgue, Le poesie, a cura di Enrico Guaraldo, Milano: Rizzoli 1986, S. 307: »E tuttavia lasciatemi, o Circi delle notti | Cupamente accociate alla foggia di Tito | Con gli occhi in lutto stretto come viole del pensiero! | E passate | Beatificanti Veneri | Esposte, e che offrite le vostre gengive come un banchetto, | E con le ascelle sbadigliate al sole | Fra cicale assordanti, | o, dritte, tenendo su fondo violetto il fiore di loto | Dei sacrilegi domestici, | E fate con l’indice: motus!« Orig.frz.: »[…] Et cependant, ô des nuits, laissezmoi, Circés, | Sombrement coiffées à la Titus, | Et les yeux en grand deuil comme des pensées! | Et passez, | Béatiques Vénus | Étalées et découvrant vos gencives comme un régal, | Et bâillant des aisselles au soleil | Dans l’assourdissement des cigales! | Ou, droties, tenant sur fond violet le lotus | Des sacrilèges domestiques, | En faisant de l’index: motus!« (Herv. d. A.) Jules Laforgue, »Pétition«, in: ders., Poésies complètes II., 1979, S. 194–196, hier S. 194–195; sowie in: Jules Laforgue, Poesie complete, 1966, Bd. I, S. 207–209, hier S. 207–208; sowie in: Jules Laforgue, Œuvres poétiques, 1965, S. 240–243, hier S. 241. Im Weiteren zitiert aus Jules Laforgue, Poésies complètes II. Gallimard 1979. 192 Gianfranco Bartalotta, Carmelo Bene e Shakespeare, S. 45. (Orig. ital.: »Nell’edizione dell’87 […] il ›dandy‹ laforgueano si ripresenta, con un vestito moderno demodé, in un cimitero barocco di angeli bianchi, nel ricordo di Circi notturne con le ascelle sbadigliate al sole o diacce fanciulle svanite nel grigio tramonto di una domenica di provincia.«) 193 Jules Laforgue, Hamlet oder die Folgen der Sohnestreue, und andere legendenhafte Moralitäten, Übertragung aus dem Französischen und Nachwort von Klaus Ley, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1981. (Orig. Moralités légendaires, Paris, Librairie de la Revue indépendante 1887; der Übersetzung liegt die 1964 bei Mercure de France Paris erschienen Ausgabe zugrunde.) 194 Guido Gozzano, »La signorina Felicita ovvero la Felicità«, in: ders., Tutte le poesie, S. 168–182.
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sowie Momente einer raffinierten musikalischen Komik immer wieder auch an den konstanten parodistischen Unterton von allen Hamlet-Bearbeitungen des apulischen Künstlers erinnern.195
Diese unqualifizierbare Operette ist eine Parodie auf die szenische Form. Sie enthält Anspielungen auf das Melodrama des 19. Jahrhunderts und des Weiteren auf den dramatischen Monolog, und sie ist als Videoteatro-Fassung erhalten.196 Hinsichtlich der Referenzautoren und ihrer Relevanz für Carmelo Bene sagt Biccari, Laforgue und Gozanno spielen eine bedeutende Rolle für CB’s Erfahrung der Entzauberung der Welt, für seine Entmythisierung der Kulturgüter und Entweihung der Klassiker. Selbstverständlich reflektiert CB die abendländische Sinnkrise mit Hilfe von Philosophen wie Schopenhauer, Nietzsche und den französischen Poststrukturalisten.197
Hommelette for Hamlet 1987 (Still aus dem gleichnamigen Videoteatro)
Er ist davon überzeugt, dass neben den Philosophen den Dichtern der Großteil an der »Entweihung der Klassiker«, an den oft zitierten Massakern der Klassiker zuzuschreiben ist. Es handle sich um ein »Theater der Signifikanten«198 (»teatro dei significanti«), eine »Parodie auf die szenischen Formen«199 (»parodia delle forme sceniche«), worauf ebenfalls Biccari verweist, wenn er den Zusammenhang mit dem Titel erklärt:
195 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 285. 196 Vgl. Corsetta G. Saba, Carmelo Bene, S. 114. 197 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 276. 198 Carmelo Bene in einem Interview: Intervista a osvaldo Guerrieri, Carmelo Bene: liquiderò Amleto, »La Stampa«, 1.12.1987 zit. n. Enrico Baiardo und Roberto Trovato, Un classico del rifacimento. L’Amleto di Carmelo Bene, S. 148. 199 Cosetta G. Saba, Carmelo Bene, S. 114.
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Hamlet. Schauspieler-Werden
Die parodistische Intention des Terminus »Operette« – der auf Italienisch nicht nur die theatermusikalische Gattung definiert, sondern auch einfach »kleines Werk« bedeutet – wird durch die blasphemische Assoziation mit Hommelette verstärkt. Diese Wortschöpfung steht ihrerseits in ironischer Assonanzbeziehung zu »Omelette« und kreiert somit auf der Ebene der Bedeutungskonstitution ein höchst theatrales Spiel der Verschiebungen, Verwandlungen und Travestien.200
Schon der Titel »kündigt eine ins Extreme zugespitzte Entsakralisierung des ›schönen Stoffes‹ an«201, so Biccari, und schließt sich damit sämtlicher Literatur über Hommelette for Hamlet an. In der Einstiegsszene von Hommelette for Hamlet lehnt Bene-Amleto also dandyhaft und unbeweglich an einem monumentalen Grab. Die VideoteatroFassung202 zeigt den Friedhof in der Totalen, aber zwischen den unbeweglichen Engelsstatuen ist Bene-Amleto nirgendwo auszumachen. Nach einer halben Minute und einem harten Schnitt ohne Zoom ist Bene-Amleto in einer Head-andShoulder-Einstellung zu sehen, und im selben Moment hört man seine sonore Stimme. Amleto (fuori quadro scenico. Musica) Felicità felicità maniaca … Che ne faremo io della mia anima Lei della gioventù sua … cagionevole Lei ch’è tutto il mio cuore la mia vita Dove sarà a quest’ora Forse piange … Oh se è fuori con questo … tempaccio203 Hamlet (aus dem Off. Musik) [wird vorerst nicht übersetzt, da es um den Klang der Stimme geht]
200 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 285. Am Ende führt Biccari in FN 43 an: »In diesem ›Theater der Signifikanten‹, das mit den sekundären Dispositiven der Intertextualität und des Pastiches operiert, könnte Hommelette auch einen Verweis auf Jacques Lacan (l’homme) und Artaud (Omelette de l’éternel cadastre) enthalten. So zumindest die Vermutung von Giancarlo Bartalotta. Carmelo Bene e Shakespeare […] S. 45.« 201 Ebenda. 202 Carmelo Bene in Hommelette for Hamlet. Operetta inqualificabile (d’à Jules Laforgue) di Carmelo Bene, ausgestrahlt in RAI 3 am 25. November 1990. 203 Vgl. Giancarlo Bartalotta, Carmelo Bene e Shakespeare, S. 46, FN 60, und Enrico Baiardo und Roberto Trovato, Un classico del rifacimento. L’Amleto di Carmelo Bene, S. 150, FN 63 und S. 151, FN 64. Letztere bringen in ihren FN die genauen und vollständigen Originalangaben von Jules Laforgue, auch im weiteren Verlauf. Vgl. für genaue Angaben auch FN 191 sowie das Original von Carmelo Bene, »Hamlet suite«, in: ders., Opere, S. 1355–1378, hier S. 1360. Die genannte Stelle ist also in Benes schriftlicher Version nicht der Anfang.
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Carmelo Bene beginnt hier mit Zeilen, die er den Letzten Versen Jules Laforgues entnommen hat. So baut er aus den ersten drei Zeilen des Gedichts Solo de lune (Solo des Mondes) »Maniaques de bonheur, | Donc, que ferons-nous? Moi de mon âme, | Elle de sa faillible jeunesse?«204 (»Wir lassen uns vom Glück betören, | Was machen wir nur? Ich mit der [sic] [meiner] Seele | Und sie mit ihrer fehlbaren Jugend?«205), und dem ersten Vers des xii. Gedichts ohne Titel, »Noire bise, averse glapissante«206 (»Schwarzer Nordwind, grollender Schauer«207) seinen Beginn und stellt damit den Bezug zu Ofelia und mithin zu Shakespeare her. Laforgue wiederum stellte dem xii. Gedicht ein Zitat aus Shakespeares Hamlet voran: »Get thee to a nunnery; why wouldst thou be a breeder of sinners? […]«208 (»Mach, daß du in ein Kloster kommst. Warum wolltest du eine Gebärerin von Sündern sein? […]«209). Visualisiert wird diese Bezugnahme in Hommelette for Hamlet erst, wenn Bene-Amleto seine Verse in rhetorischem Spielstil zu Ende rezitiert hat und Orazio zwischen den marmornen Engelsstatuen herumgeht. Dabei sieht er die Gesichter der Statuen an, offensichtlich auf der Suche nach (Shakespeare-) Text und Mitspieler_innen. Dann wird sich eine der liegenden Skulpturen langsam aufrichten, wobei ihr – wie in vielen Variationen und Versionen von Benes Arbeiten – Kleidung von den Schultern rutscht, sie sich ent-kleidet und ihre Brüste ent-blößt. Orazio, vorwiegend in Schwarz gekleidet, sieht in ihr Bene-Ofelia, möglicherweise auch schon die verstorbene.210 Für den König, Re Claudio, er in goldfarbenem Gewand, wandelt sich Bene-Ofelia durch ihre Bewegungen, das Entkleiden und die Musik in Königin Gertrude. Bewegungen und Musik erinnern erneut an den Beginn vorangegangener Versionen, v. a. an Un Amleto di meno, wenn in 204 Jules Laforgue, »Solo de lune«, in: ders., Poésies complètes II., 1979, S. 200–203, hier S. 201. 205 Im Deutschen ist es der Beginn der neunten Strophe von Jules Laforgue, »VII. Solo des Mondes«, in: ders., Letzte Verse (Derniers vers), Dt.: Jules Laforgue, Poetische Werke, S. 224–227, hier S. 225. 206 Jules Laforgue, »xii«, in: ders., Poésies complètes II., 1979, S. 215–217, hier S. 215. 207 Übersetzung Laurette Burgholzer. Eine offizielle Übersetzung, die unzulänglich erschien, findet sich hier: Gedicht ohne Titel; dies ist die erste Zeile des ersten Verses. Im Deutschen ist es die dritte Strophe eines ebenfalls ohne Titel angegebenen Gedichts von Jules Laforgue, »XII. o. T.«, in: ders., Letzte Verse (Derniers vers), Dt.: Jules Laforgue, Poetische Werke, S. 236–239, hier S. 237, offizielle Übersetzung: »Schwarzer Nordost, klatschender Regenguß«. 208 Jules Laforgue, »xii«, in: ders., Poésies complètes II., 1979, S. 215–217, hier S. 215; vgl. William Shakespeare, Hamlet, Übersetzung mit Anmerkungen von Norbert Greiner, S. 239 (3. Akt, 1. Szene) 209 William Shakespeare, Hamlet, Übersetzung mit Anmerkungen von Norbert Greiner, S. 238 (3. Akt, 1. Szene) (Orig. engl.: »Get thee to a nunnery. Why wouldst thou be a breeder of sonners? […]«), ebenda, S. 239 (3. Akt, 1. Szene) 210 Vgl. Enrico Baiardo und Roberto Trovato, Un classico del rifacimento. L’Amleto di Carmelo Bene, S. 148. (Orig. ital.: »Orazio, aggirandosi tra i gruppi marmorei, scopre una statua di donna distesa: è la copia della Beata Ludovica Albertoni di Bernini. Per Orazio si tratta di Ofelia, probabilmente morta; non a caso quando la vede, si copre gli occhi affranto. Di lì a poco tuttavia la scultura inizia a muoversi e si spoglia.«)
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Hamlet. Schauspieler-Werden
Beata Ludovica Albertoni / Gertrude in Hommelette for Hamlet 1987 (Still aus dem gleichnamigen Videoteatro)
schwarz-weiß gehaltene kopulative Bewegungen analog zum Meeresrauschen ins Bild rücken. Darüber hinaus gibt es eine Anspielung auf Beata Ludovica, die Selige Lodovica Albertoni des berühmten Bildhauers Gian Lorenzo Bernini. Das Original, die Skultpur Beata Ludovica, befindet sich in der Paluzzi-AlbertoniKapelle in San Francesco a Ripa, in der Nähe von Benes erstem Theater, seinem Teatro Laboratorio im Viertel Trastevere in Rom. Wie bei Grotowski stirbt Amleto nicht. Es gibt keinen Laerte und keinen Polonio. Und mit Polonio sind auch die Aspekte freudscher Traumdeutung wieder entzogen. Die Eliminierung der dramatis personae Polonius und Laertes bewirkt auch die Abschaffung der psychoanalytischen und der politischen Dimension, die in der Fernsehversion von 1974 noch eine wichtige Rolle spielten. Es fehlen außerdem auch Gertrude und Ophelia, wobei diese Subtraktionen im traditionellen Personal des Stückes von zahlreichen Variationen und Additionen konterkariert werden.211
Dieses Verfahren des additiven Konterkarierens war beispielsweise durch die Sequenz mit Stefania De Santis als Beata Ludovica zur Anwendung gekommen, oder durch die Bene-Ofelia-Gertrude mit ihrer von den Schultern rutschenden Kleidung. Außerdem bleibt Ofelia noch auf andere Art bestehen: in der Situation Kate-Ofelia, dargestellt von Marina Polla De Luca. Es muss also von einer komplexeren und parodistischen Annäherung an die traditionelle Figur bzw. Situation der Kate-Ofelia gesprochen werden. 211 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 285.
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Mit Hommelette for Hamlet, innerhalb des »Geflechts von Signifikanten« dieses Hypertextes, welcher Benes »Hamlet« ist, überschneiden sich das Einfügen des »Klimakterischen Imperativs« und der Wille, »das arme Mädchen« zu heiraten, das unter allen Ideen, ohne Zweifel »die am meisten Hamletische« ist (eine laforguesche »Idee«, die unter anderem schon in der TV-Variante 1974 präsent war).212 Saba nimmt sich der Facette der entzogenen und verbleibenden Figuren und Situationen eingehender an und stellt fest, dass die ökonomische Beziehung zwischen dem König, Re Claudio als Impresario, und Amleto sowie die Regie des Königs für die Theater-im-Theater-Szene doch noch geblieben sind. Was genau geschieht aber mit »Hamlet« bei diesem Vorgehen? In einem ersten Schritt werden dem Shakespeareschen Hamlet Ebenen entzogen, in einem zweiten kommen Fragmente des Laforgueschen Hamlet bzw. aus Laforgues Gedichten dazu, ein komplexer Vorgang also auf allen theatralen Ebenen, die sich in »Hamlet« selbst spiegeln. Auf diese Weise entstehen seine Versionen und Variationen und damit einhergehend der Bene-Amleto. Es ist ein verwandelter Hamlet, der in seiner Eigenwilligkeit mit dem Narzissmus seines Schöpfers Carmelo Bene korrespondiert. Eigenwilligkeit und Narzissmus sind in allen mutierenden Situationen (vormals Figuren) auszumachen: Der Rest von Benes Hamlet ist weder Narration noch Figur, auch keine psychologische oder soziologische Situation, es gibt darin nicht einmal eine Beziehung zum Text, wiewohl Orazio sie aufrechtzuerhalten versucht. Bene-Amleto ist auch den Situationen entzogen. Er ist Schauspieler, der Schauspieler, der Große Schauspieler als non-attore und über die Jahre hinweg die macchina attoriale (Schauspielermaschine). Was bleibt? Reste von Shakespeares Text, die Orazio zu sprechen versucht: »[…] nach dem Shakespeareschen Fragment des unmöglichen Reueakts kommt es zwischen dem König und Bene zu einem Austausch von Wechseln[213], und Orazio, in dem er dies wahrnimmt, gelingt es, Hamlets Satz zu lesen.«214
212 Cosetta G. Saba, Carmelo Bene, S. 114. (Orig. ital.: »Con Hommelette for Hamlet, nei ›plessi del significante‹ di quell’ipertesto che è l’ ›Amleto‹ di Bene, interferiscono l’instaurazione dell’ ›Imperativo Climaterico‹ e la volontà di sposare ›una povera ragazza‹ che, fra tutte le idee, è senz’altro ›la più amletica‹ (›idea‹ laforguiana, già presente peraltro nella variante televisiva del 1974).«) 213 Orig. ital.: »scambio di cambiali«. Dies ist die italienische Übersetzung von Karl Marx, La moneta e il credito. Raccolta di scritti, Feltrinelli 1981. In der deutschen Fassung, Das Kapital, 3. Band, V. 33, wird »scambio di cambiali« übersetzt mit: der Austausch von Wechseln. Wechsel ist ein Schuldschein, es scheint hier auch ein Hinweis auf Schuld, Tausch, Austausch von Schuld zu sein.) 214 Cosetta G. Saba, Carmelo Bene, S. 115. (Orig. ital.: »Dalle ›situazioni‹ è definitivamente sottratto Amleto (i titoli di testa non riportano la ›situazione‹ Amleto): ciò che resta in scena è l’attore-macchina Bene. Ad esempio, quando dopo il frammento shakespeariano sull’impossibile
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Hamlet. Schauspieler-Werden
Eine der tatsächlich bestehenden Situationen ist damit Achille Brugnini als Orazio und mit ihm das Thema der Stille. Orazio steht nach wie vor – seit Benes erster Version – eng in Verbindung mit Shakespeares Text, er spricht ihn, auch wenn es nicht immer Horatios Sätze sind. In Hommelette for Hamlet ist Orazio zwischen den Engeln platziert, die sich räumlich ausbreiten und in ihrer Körperlichkeit präsent werden, um ihre Musikinstrumente zu spielen bzw. anzuspielen. Der akustische Raum ist eine Geräuschkulisse aus Atmen, Arien und verzerrter Musik. In diese Geräusche oder durch sie hindurch versucht Orazio zu sprechen. Im Gegensatz zu den vorherigen Bühnenfassungen gelingt es ihm diesmal bereits von Beginn an schon nicht (mehr) vollständig:215 Horaz (misstönende Musik, die abrupt unterbrochen wird) Seid gegrüßt Eure Exzellenz (Geräusche von Tellern) Seid gegrüßt Eure Exzellenz (verzerrte Musik) Seid gegrüßt Eure Exzellenz (Musik und Chöre)216
Dennoch ist Orazio nach wie vor der Einzige, der noch spricht. Er ist die Situation 217, in der gesprochen wird, indem er laut aus einem Buch von Shakespeare oder von den Papierseiten oder -schnitzeln, die er erhält, vor- bzw. abliest. Diesmal antwortet jedoch niemand und nichts. Stattdessen herrscht Stille. Und es gelingt ihm über die Versionen hinweg nicht mehr, eine gesamte Textpassage zu lesen. Es wirkt, als wollte er die Disharmonien der von den Engeln auf ihren Instrumenten produzierten »Musik« nicht hören. Er reagiert erschrocken, gespielt durch manierierte und hochstilisierte, nahezu stummfilmartige Gesten. Bene-Amleto liegt meist wie erschöpft, ähnlich Benes Körperstellung in dem Film Salomè 218, gut sichtbar auf einem Grabstein oder an einen solchen gelehnt. Er benutzt das Mikrofon als Instrument für seine Stimme und zur Erzeugung von Klang, die zu diesem Zeitpunkt bereits verfeinert entwickelte Phonè. Es entstehen pentimento, tra il Re e Bene avviene uno scambio di cambiali, è Orazio che scorgendoli riesce a leggere la battuta di Amleto.«) 215 Zur Szenenanalyse des kontinuierlichen Verlusts des Textes, in Szene gesetzt bzw. dieser entnommen, entlang der Situation des Orazio vgl. Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, S. 107– 108. 216 Aus Gianfranco Bartalotta, Carmelo Bene e Shakespeare, S. 46–47. (Orig. ital.: »Orazio (musica stonata che si interrompe in modo repentino) | Salute a vostra ALTEZZA (rumore di piatti) | Salute a vostra ALTEZZA (musica distorta) | Salute a vostra ALTEZZA (musica e cori)«) 217 Vgl. Heiner Müller, »Hamletmaschine«, in: ders., Mauser, S. 89–97. Bei Heiner Müller entsprächen die Hamlet-Konstellationen Benes Situationen, die er über andere Stücke wie Riccardo iii ebenfalls generierte. 218 Carmelo Bene widmet sich 1964 Oscar Wilde und »Salomè«; vgl. auch den Film von Carmelo Bene Salomè aus den Jahren 1971/72, vgl. Cosetta G. Sabe, Carmelo Bene, S. 67–77. Darauf weist auch Biccari ausdrücklich hin, vgl. Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 287.
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keine lauten Töne, das Timbre ist abgestimmt auf die sanfte, affektierte Grazie, mit der sich die weißen und goldenen Engelsstatuen auf einmal überraschenderweise bewegen. Die Engel tragen »›skulpturale Prothesen‹ (Flügel, Perücken, Gewänder)«219. Diese verlorene, unwiederholbare und doch unmögliche, weder tragbare noch wünschenswerte […] Grazie des Theaters ist hier das Leitmotiv, das auch die Schauspielerin Marina Polla de Luca [Kate] erklingen lässt.220
Währenddessen singt Ugo Trama als »König Claudius eine Partitur, die neue Motive und Themen zu Shakespeare und Laforgues narrativen Strängen hinzufügt«221. Eine Narration steht im Rahmen der barocken Ausstattung nicht im Mittelpunkt, und weder ist das Individuum in der Gesellschaft für Bene von Interesse, noch will er der Gesellschaft einen Spiegel vorhalten. Das Interesse am Individuum ist für Bene nur gegeben, solange es um ihn selbst als Schauspieler geht, ein Narziss / Echo in Aktion222 – immer mehr, und mehr nicht. Am Ende überwiegt Melancholie mit einem Hauch Freude. Auch ohne ästhetisch-asiatischen Einfluss hebt Bene die Konzentration auf den Großen Schauspieler selbst hervor. Nach einem Ausflug ins Filmschaffen kehrt er auf die Bühne zurück, um von dieser als Schauspieler zu verschwinden, nur seine Stimme zurücklassend. Die Verfahren des Entziehens und Verschwindens perfektioniert er mit Un Amleto di meno, seinem letzten Film, sowie durch die üppig ausgestattete Bühne für Hommelette for Hamlet, bis er sich noch mehr auf Ton und Klang konzentriert, auf sein spettacolo concerto, das »balletto vocale«223, die Hamlet suite.
»Hamlet suite«. Ein Ballett der Vokale
»Von Hamlet über Hommelette bis zu Hamlet Suite (noch auf dem Programm), ist das kleine Werk des möchtegern-künstlerischen Prinzen der Refrain meiner (v-) erlebten Leben«224, so Benes einleitende Worte zu Hamlet suite (Hamlet Suite) mit dem Untertitel »collagierte Version nach Jules Laforgue« (»versione-collage da 219 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 286. 220 Ebenda, S. 274–287, hier S. 286. 221 Ebenda. 222 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Carmelo Bene – ein Narziss auf der Bühne, einmal auch in Berlin«, in: Zibaldone, S. 33–42. 223 Enrico Baiardo und Roberto Trovato, Un classico del rifacimento. L’Amleto di Carmelo Bene, S. 168. 224 Carmelo Bene, Opere, S. 1351–1354, hier S. 1351. (Orig. ital.: »Dall’Hamlet, Hommelette, all’Hamlet suite (tutt’ora in cartellone), l’operetta del principe artistoide è il refrain delle vite che ho svissuto.«); vgl. auch FN 200.
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Hamlet. Schauspieler-Werden
Jules Laforgue«). Mit der Bezeichnung Collage trägt der Autor bzw. SchauspielerAutor Bene dem Fakt Rechnung, dass er nicht nur mit Entzug und Subtraktion arbeitet, sondern auch etwas hinzufügt – dieses Mal in einer couragiert-collagierten Form. Es ist die letzte Version von Benes Hamlet-Bearbeitungen, es ist die stimmenstärkste und szenisch am stärksten reduzierte. Beteiligt sind auf der Bühne nur mehr Bene selbst und mit ihm die hybrid eingearbeiteten Bene-Amleti (Bene-Hamlets). Bene ist aber nicht (mehr) ein Shakespearescher Hamlet als Regisseur oder ein Laforguescher Hamlet als Autor, sondern vielmehr Bene als ein »autore-attore-spettatore«225 (Autor-Schauspieler-Zuschauer), wie in Un Amleto di meno bereits sanft und bunt eingeführt. Weiters sind noch die weiblichen Stimmen, d. h. zwei Schauspielerinnen (Monica Chiarabelli und Paola Boschi) mit ihm auf der Bühne. Die Uraufführung findet im Juli 1994 beim ShakespeareFestival in Verona statt, und noch im selben Jahr erscheint diese seine fünfte Hamlet-Version auf CD.226 Fast alles, was Shakespeares Hamlet ausmacht und Benes frühere Versionen auszeichnen, ist der Hamlet suite entzogen. Was indes ist geblieben? Alles. Hamlet suite ist die Summe aller Versionen und Variationen von Carmelo Benes Beschäftigung mit Hamlet. Das buchstäbliche Schauspiel dieser Hamlet Suite ist Hauptausführung und Summe (cum laude) von jedem Hamlet weniger, ist eine eine collagierte Version aus allen Werken (Moral und Poesie) von Jules Laforgue, »das Tradieren« der rhythmischen Komposition und, bisweilen, der librettistischen hinsichtlich szenisch-musikalischer Notwendigkeit.227
Diesem summarischen Vorgehen musste (erneut) etwas hinzugefügt werden, allerdings besteht dieses Neue nur als Relikt und aus Relikten. Zum Klang von Bene-Amletos Stimme gesellen sich die weiblichen Stimmen wie Kate-Ofelia oder auch das Meeresrauschen. Der Beginn ist wie in Hommelette for Hamlet dem Klang des Meeres gewidmet und rekurriert nach wie vor auf den Film Un Amleto di meno, dessen Anfangssequenz mit blauschwarzen Wellen bildlich untermalt ist, durchbrochen durch die kopulativen Szenen in Schwarzweiß. In der Hamlet suite ist jedoch selbst das Rauschen nur noch rudimentär vorhanden und musikalisch reduziert.
225 Cosetta G. Saba, Carmelo Bene, S. 78. 226 Hamlet suite, spettacolo concerto da J. Laforgue (V edizione). Regie, Collage der Texte und Musik Carmelo Bene, mit Carmelo Bene, Monica Chiarabelli, Paula Boschi. 21. Juli 1994, Teatro Romano, Verona. 227 Carmelo Bene, Opere, S. 1351–1354, hier S. 1354. (Orig. ital.: »Lo spettacolo testuale di questa Hamlet suite è esecuzione capitale e somma d’ogni Amleto di meno; è versione-collage da tutta l’opera (moralità e poesia) di Jules Laforgue, ›tradita‹ della composizione ritmica e, a volte, librettistica della necessità scenica-musicale.«)
Ein reduzierter oder Hamlet streichen Blinddext rechtsHamlet Blindtext rechts Blindtext rechs 167
Doch wenn in Ein Hamlet weniger dieser Ton einen monotonen, mit den Forderungen des Geistes verbundenen Verlauf unterstrich, so kann es bei dieser Gelegenheit in höherem Maße passender sein, ihn an jene ewige Rückkehr zu binden, an diesen Kreislauf des Wunsches nach provinzieller Stabilität, die schon im Hommelette auf der Bühne war.228
Zu hören sind nur der Hochzeitsmarsch von Felix Mendelssohn Bartholdy229, gefolgt von Windgeräuschen und dem melodramatischen Klang der Worte des Königs: »Il mio terror … orribile vista … orrenda muori fratel … progenie …«230 Orazio ist mittlerweile, wie der Shakespeare-Text, aus der Szene verschwunden. Geblieben ist, was der Geist zu Hamlet vor dem Schloss sagt, die Antwort des Prinzen darauf und die Szene mit Yorick. In Hamlet suite wird Yorick zum leiblichen Bruder von Bene-Amleto: In dieser Theaterversion von 1994 spricht der Autor-Schauspieler Hamlet einen Monolog für den toten Yorick, den Narren der Shakespeareschen Tragödie, der in CB’s Bearbeitung nach Laforgue zu Hamlets leiblichem Bruder wird. Am Ende seines Monologs sagt CB-Hamlet: »Ich habe das Unendliche auf meinem Theaterprogramm! (In der Schublade!)«231
König Claudio, Laerte und Polonio sind ebenfalls verschwunden, aber die Bezugnahme auf Freuds Traumdeutung, die in einer vorangegangenen Version von Polonio übernommen und die in Hommelette for Hamlet eliminiert worden war, ist wieder da.232 Die poetische Szene mit Ofelia beschreibt Giancarlo Bartalotta wie folgt: Lyrisch die Szene des Ertrinkens von Ophelia auf der Bühne (wie jene von 1963 auf den weißen Schulbänken) und beleuchtet mit einem blauen Lichtstrahl inmitten der Andeutung der Brandung, welche die Worte Laforgues begleiten. Und wie die Strömung der Gezeiten das geometrische Gerippe des Seeigels verschluckt, die glatt geschliffenen Gläser, das Meereskraut und die Muscheln ans Ufer durch die Flut zurückgespült werden, so macht Carmelo Bene tabula rasa
228 Enrico Baiardo und Roberto Trovato, Un classico del rifacimento. L’Amleto di Carmelo Bene, S. 168–169. (Orig. ital.: »Ma se in Un Amleto di meno tale suono sottolineava un andamento monotono, connesso alle pretese dello Spettro, in questa occasione può essere maggiormente appropriato legarlo a quell’eterno ritorno, a quella circolarità del desiderio di stabilità provinciale già messo in scena nell’Hommelette.«) 229 Vgl. ebenda, S. 169, zudem ein Fragment aus dem Libretto Macbeth von Giuseppe Verdi, vgl. Giancarlo Bartalotta, Carmelo Bene e Shakespeare, S. 59. 230 Entnommen Enrico Baiardo und Roberto Trovato, Un classico del rifacimento. L’Amleto di Carmelo Bene, S. 169. (Da es um den Klang geht, wird hier keine Übersetzung angeboten.); vgl. Beginn von Hamlet suite in: Carmelo Bene, Opere, S. 1357–1378, hier S. 1357. (Orig. ital.: »perdóno, perdóno! Tu mi perdoni, | padre mio, non è vero? | In fondo, mi conosci …«) 231 Gaetano Biccari, »Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 282. Biccari zitiert Carmelo Bene, »Hamlet suite versione-collage da Jules Laforgue«, in: ders., Opere, S. 1355–1378, hier S. 1376. (Orig. ital.: »Ho l’infinito in cartellone! (nel cassetto!)«) 232 Vgl. Giancarlo Bartalotta, Carmelo Bene e Shakespeare, S. 59.
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Hamlet. Schauspieler-Werden
mit Hamlet von Shakespeare, indem er diesen in den trüben und melancholischen Versen von Laforgue verschwinden lässt.233
Die einzige neue Stelle, die in dieser letzten Hamlet-Version, dem vokalen Ballett (»balletto vocale«234) der Hamlet suite hinzukommt, ist wiederum eine von Shakespeare inspirierte: Sie beginnt damit, dass die Verpflichtung dem Geist gegenüber in Erinnerung gerufen wird. Allerdings wird die Empörung darin sofort abgemildert, indem es zu einer Abwägung und Relativierung kommt, mit der der zweite Akt endet. »Der Geist, den ich gesehen habe, könnte der Teufel gewesen sein …«235 Der Teufel also wäre es gewesen, den Hamlet gesehen zu haben glaubt. […] und der Teufel hat die Kraft, eine gefällige Gestalt anzunehmen, ja, auch aufgrund meiner Schwäche und meiner Melancholie, da er große Macht über solche Gemütszustände hat, täuscht er mich vielleicht, um mich zu ewiger Verdammnis zu führen. Ich werde Gründe haben, die maßgeblicher sind als dies. Das Spiel ist’s, worin ich das Gewissen des Königs fangen werde.236
Shakespeares Hamlet hat einen Geist gesehen, ebenso die anderen, die Wachen. Doch gesprochen hat dieser Geist nur mit Hamlet. Wäre es doch nur der Teufel gewesen, dann hätte Hamlet nicht sterben müssen, weder Shakespeares noch Grotowskis noch Benes …
233 Giancarlo Bartalotta, Carmelo Bene e Shakespeare, S. 59. Bartalotta weist darauf hin, dass Hamlet Suite gleich endet wie Hommelette for Hamlet. (Orig. ital.: »Lirica la scena dell’annegamento di Ofelia distesa sul palcoscenico (come quella del ’63 sui banchi scolastici) e colpita da un azzurro fascio di luce tra la suggestione della risacca che accompagna le parole di Laforgue. E come il flusso della marea inghiotte le geometriche carcasse di riccio, i vetri levigati, gli sterpi e le conchiglie sospinte a riva dal suo riflusso, così Carmelo Bene fa tabula rasa dell’Amleto di Shakespeare facendolo svanire nei fiochi e malinconici versi di Laforgue.«) 234 Enrico Baiardo und Roberto Trovato, Un classico del rifacimento. L’Amleto di Carmelo Bene, S. 168; vgl. das Zitat der FN 223. 235 Vgl. Enrico Baiardo und Roberto Trovato, Un classico del rifacimento. L’Amleto di Carmelo Bene, S. 170. (Orig. ital.: »Il passo, che costituisce l’unico inserimento di una nuova parte di testo, è ispirato a Shakespeare. Si inizia con un impegno convinto al ricordo. Ma l’indignazione viene o immediatamente mitigata dalla considerazione con la quale si conclude il secondo atto: ›Lo spettro che ho veduto potrebbe essere il diavolo …‹«) 236 William Shakespeare, Hamlet, Übersetzung mit Anmerkungen von Norbert Greiner, S. 228 (2. Akt, 2. Szene) (Orig. engl.: »The spirit that I have seen | May be a devil, and the devil hath power |T’assume a pleasing shape, yea, and perhaps | Out of my weakness and my melancholy, | As he is very potent with such spirits, | Abuses me do damn me. | The play’s the thing | Wherein I’ll catch the conscience of the king.«), ebenda, S. 229 (2. Akt, 2. Szene).
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Es gibt weder Anfang noch Ende. Das [I]nteressante ist immer die Mitte. Nicht im Sinne von Mittelmäßigkeit, sondern im Sinne von Exzeß. »Die Dinge wachsen von der Mitte aus«. Es geht nicht darum, wo auch immer anzukommen. Das Werden ist in der Mitte, dort ist die Bewegung, die Schnelligkeit.1 Carmelo Bene
Gemeinhin betrachten wir – mit mitteleuropäisch religiösen oder antireligiösen oder agnostischen Vorstellungen – Sterblichkeit als etwas Gegebenes und den Tod als das ultimative Ende unseres Lebens. Beide Aspekte, Sterblichkeit und Tod, gepaart mit dem Wissen um unsere unentrinnbar finale Existenz, sind unermesslich wichtig für unser Menschsein, da dieses wie auch immer strukturierte Wissen Voraussetzung für die Entstehung von Kultur ist. Der Kulturwissenschafter Jan Assmann schreibt zu Tod als Thema der Kulturtheorie: »Der Mensch, durch sein Zuviel an Wissen [an Erkenntnis] aus der Ordnung der Natur herausgefallen, muß sich eine künstliche Welt erschaffen, in der er leben kann. Das ist die Kultur.« Und weiter: Die Kultur entspringt dem Wissen um den Tod und die Sterblichkeit. Sie stellt den Versuch dar, einen Raum und eine Zeit zu schaffen, in der der Mensch über seinen begrenzten Lebenshorizont hinausdenken und die Linien seines Handelns, Erfahrens und Planens ausziehen kann in weitere Horizonte und Dimensionen der Erfüllung, in denen erst sein Sinnbedürfnis Befriedigung findet und das schmerzliche, ja unerträgliche Bewußtsein seiner existenziellen Begrenzung und Fragmentierung zur Ruhe kommt.2
Wenn diese schmerzlich erfasste Wahrheit Bedingung für die Erschaffung einer künstlichen Welt und somit für Kultur ist, dann ist sie auch Bedingung für die Erschaffung von Kunst, Literatur, Musik und Theater. Das Wissen um den eigenen und / oder fremden Tod sei der Grund aller Kunst, heißt es. Der österreichische Schauspieler Karl Markovics spricht in einem Interview während der Proben zu In Hora Mortis / In der Todesstunde, ein mit dem Komponisten Helmut Jasbars erarbeitetes Kunstprojekt, über die Erschütterung, die den Menschen trifft, wenn er sich seiner Endlichkeit bewusst wird. Auf einmal zähle nicht mehr Materielles, 1 2
Carmelo Bene, »Notate«, in: Theater etcetera, S. 74–77, hier S. 75. Jan Assmann, »Todesbilder und Totenriten im alten Ägypten«, in: ders., Der Tod als Thema der Kulturtheorie, S. 11–87, hier S. 13–14. Später schreibt er: »[…] habe ich die These aufgestellt, daß alle Kultur ihr Zentrum im Problem der Sterblichkeit hat und (zumindest im Kern) den Versuch darstellt, dem Menschen in seinem Ungleichgewicht zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit einen Halt zu geben.« Ebenda, S. 49.
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sondern ausschließlich Zwischenmenschliches, ganz und gar.3 Das europäische Subjekt erfährt hier seine Kränkung, denn es will nicht sterben (kann nicht sterben wollen), will nicht krank werden (kann nicht krank werden wollen) oder auch nur des Sterbens anderer gewahr werden. Es will alles andere, nur nicht dieses Andere. Diesem Nicht-Wollen (Nicht-wollen-Können) und der daraus resultierenden Verdrängung wirkt – durch ein über diesen Horizont Hinausdenken – Theater bzw. Kunst im Allgemeinen entgegen. Der Begrenzung des Lebens wird etwas entgegengehalten, oder sie wird zumindest ausgehalten. In diesem Sinne kann Theater als Katalysator fungieren, denn wie jede Kunst wird auch Theater durch ein Entgrenzen, ein Heraustreten aus sich selbst erschaffen.4 Zusätzlich vermag es, durch das mimetische Vermögen in Bildern ein Ich zu konstituieren. »Auf diese Weise [wird Theater] zu einer stimulierenden Droge«, so Brigitte Marschall, »die das Häßliche, das Grauen, den schleichenden Verfall des todgeweihten Körpers in artifizielle Paradiese führen kann.«5 Einerseits initiiert unsere Kenntnis bezüglich der Vergänglichkeit, der eigenen Sterblichkeit, die Entstehung von Theater, das diese artifiziell beschwört und auch jederzeit wiederholt. Die theatrale Wiederholung eröffnet eine Möglichkeit, mit dieser unerschütterlichen Kenntnis umzugehen. Bedingung und Lösung fallen zusammen, sie passieren gleichzeitig. Theater kann nicht nur Wiederauferstehung feiern, den Tod nicht tot sein lassen, sondern es übt vielmehr die Verschiebung von Grenzen und andere Seinszustände.6 Pointiert formuliert: Theater – nicht historisch gemeint, sondern im Sinne eines Aufkommens – entsteht, weil wir um unsere und die Vergänglichkeit an und für sich wissen, und es spielt mit dieser. Wie sichtbar oder unsichtbar, wie bewusst oder unbewusst diese Kenntnis ist, ist insofern von geringer Bedeutung, als damit lediglich verschiedene Ausprägungen, Formen und Beweggründe ein- und derselben Ursache zum Vorschein kommen. Entscheidend ist, was unterschiedlichen Erscheinungsformen gemeinsam ist bzw. was ihnen vorausgeht: die Kenntnis um unsere Endlichkeit, aus der Theater entsteht, und das Material, aus dem Theater geschaffen wird. Kurz gesagt: das Wissen um unsere Vergänglichkeit und diese selbst sind eine Basis für Theater. Das Wissen, dass wir sterblich sind, ist Voraussetzung für Theater: Wir machen Theater, weil wir wissen, dass wir sterblich sind. Wir machen Theater, weil 3 4 5 6
Vgl. Karl Markovics in der vom ORF seit 1989 produzierten wöchentlichen TV-Sendung Heimat fremde Heimat am 8. Mai 2016, Gedächtnisprotokoll d. A. Vgl. zu »Abständigkeit des Menschen« Helmut Plessner, »Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)«, in: ders., Ausdruck und menschliche Natur, S. 399–418. Brigitte Marschall, »Die Blumen des Todes. Über die Ästhetik körperlichen Verfalls«, in: Maske und Kothurn. 43. Jg. / H. 1–3, S. 127–138, hier S. 127. Zu Grenzverschiebungen vgl. die Studien von Brigitte Marschall, beispielsweise dies., Die Droge und ihr Double, Zur Theatralität anderer Bewußtseinszustände, 2000.
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wir wissen, dass wir vergehen, aber wir vergehen nicht, weil wir Theater machen. Und nur weil wir wissen, dass wir sterblich sind, müssen wir nicht unbedingt Theater machen. Es ist indes nicht überall dort, wo wir um unsere Vergänglichkeit wissen, auch zugleich Theater; aber alles, was Theater ist, ist Wissen um unsere Vergänglichkeit, ist ein Erzählen davon, ein Erinnern daran – und zudem selber vergänglich. Theater ist auf bewusstes oder unbewusstes Wissen um unsere Vergänglichkeit gebaut.7 Als besonderer Anreiz kommt hinzu, dass das Material der Theaterkunst ebenfalls vergeht, und hierin treffen sich Bedingung, Verhandlung und Unbeständigkeit. Das kann thematisiert werden oder auch nicht, gegenwärtig ist es aber stets. Thematisiert wird dies u. a. von Shakespeares Hamlet, wenn er Yoricks Schädel in den Händen hält und fragt, wo dieser denn sei – und mit ihm seine Narreteien: Hamlet. Wo sind jetzt deine Sticheleien? Deine Sprünge, deine Lieder, deine fröhlichen Geistesblitze, die jedesmal die (ganze) Tischrunde zum Brüllen brachten? Nicht einer jetzt, der sich über deinen Spott lustig macht? Ganz eingefallene Wangen?8
Theater ist als ephemere Kunst so intensiv mit dem Vergänglichen verbunden, dass es bereits im Augenblick des Entstehens wieder vergangen ist. Also nicht nur, dass die Kenntnis um die Vergänglichkeit Theater hervorbringen kann und dass Theater eine verführerische Möglichkeit bietet, dem Wissen darum zumindest für kurze Zeit zu entkommen, ist auch Theater selbst eine der vergänglichsten künstlerischen Ausdrucksformen, die Menschen kennen. Entstehen und Vergehen finden im Theater zeitgleich, unmittelbar und gegenwärtig statt und sind Voraussetzung für seine Existenz. Das Wesentliche im Theater sei, »in der Gegenwart zu sein«, sagt Ariane Mnouchkine. Sie glaubt, »daß das Theater für den Schauspieler die Kunst der Gegenwart ist. Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft. Es gibt die Gegenwart, den gegenwärtigen Akt.«9 Hélène Cixous sieht sich als Autorin in einem direkten Bezug dazu.
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Selbstverständlich speist sich weder Theater noch seine Geschichte allein daraus. Der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga erörtert eingehend den Ursprung von Kultur im Spiel (Homo Ludens, Homo Sapiens und Homo Faber). Vgl. Johan Huizinga, Homo Ludens, Orig. 1938. Er sagt jedoch auch, »Tiere spielen genauso wie Menschen« (ebenda, S. 9), deshalb stellt sich die Frage, wo das Spiel sich in eine Theaterform wandelt und wie diese Form dann aussehen mag. Dies hängt wohl vom Bewusstsein und der Annäherung an unsere Kenntnis über Sterblichkeit ab. 8 William Shakespeare, Hamlet, Übersetzung mit Anmerkungen von Norbert Greiner, S. 378 (5. Akt, 1. Szene) (Orig. engl.: Hamlet. Where be your gibes now? Your gambols, your songs, your flashes of merriment that were wont to set the table on a roar? Not one now to mock your own jeering? Quite chopfallen?), ebenda, S. 379 (5. Akt, 1. Szene). 9 Ariane Mnouchkine, »Man erfindet keine Spieltheorien mehr. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 30–36, hier S. 31. Vgl. auch das Zitat der FN 299 im Kapitel »Räume und Visionen«.
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Ich bin gern gegenwärtig; mich interessiert, was gerade-dabei-ist-zu: zu passieren – vorüberzugehen, zu geschehen. Im Nu – Ewigkeit des Im-Nu […] meine Vorliebe für die Gegenwart hat einen weiteren Grund: sie ist die Zeit des Theaters. Etwas, was ich durch die Arbeit für das Theater entdeckt habe: die Eigenart dieses Genres, das (uns) unablässig eine Zeit ohne Zeit erfindet.10
Insbesondere für Schauspiel als Kunst im Gegenwärtigen ist der Tod als sicheres Phänomen der Zukunft eine Herausforderung. Er ist nie in der Gegenwart präsent, immer nur ein in der Zukunft eintretendes Ereignis, das bestenfalls angekündigt wird. Eine besondere Form der raum-zeitlichen Chronotopie11 tut sich hier mitunter auf: Gegenwart und Zukunft treffen einander auf der Bühne und hebeln damit die Zeit aus. Da das Theater, um mit Cixous zu sprechen, »von der Unzeit agiert, d. h. unterminiert«12 wird, ist gerade der Ort oder Nicht-Ort des Theaters geeignet für den Tod und die Toten. Wie auch Carmelo Bene es ausdrückt, gibt es im Theater »weder Anfang noch Ende. Zeit existiert nicht«.13 Rückt der Tod dem Menschen näher, provoziert er laut Foucault eine Leere im Sein und damit in der Gegenwart: »Wahrscheinlich hinterlässt das Nahen des Todes, seine souveräne Geste und der mit ihm verbundene Bruch im Gedächtnis der Menschen die Leere im Sein und in der Gegenwart, von der aus und auf die hin gesprochen wird.«14 Das Theater spricht aus der Gegenwart und in sie hinein, es ist dem Tod verwandt und ihm zugewandt. Sich mit der unumgänglichen Tatsache des Todes zu konfrontieren, ist für Menschen im Alltag nicht nur unerträglich, sondern auch nicht vorstellbar. Nichtsdestotrotz ist der Tod eine Wahrheit, die dem Menschen zumutbar ist.15
10 Hélène Cixous, »Szenen des Menschlichen«, in: Über das Weibliche, S. 97–120, hier S. 97. 11 Nicht zu verwechseln mit Foucaults »Heterochronie«, die sich auf den vierten Grundsatz seiner Analyse der Heterotopie bezieht. »Die Heterotopien sind häufig an Zeitschnitte gebunden, d. h. an etwas, was man symmetrischerweise Heterochronien nennen könnte. Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen. Man sieht daran, daß der Friedhof ein eminent heterotopischer Ort ist; denn er beginnt mit der sonderbaren Heterochronie, die für das Individuum der Verlust des Lebens ist und die QuasiEwigkeit, in der es nicht aufhört, sich zu zersetzen und zu verwischen.« Michel Foucault, »Andere Räume«, in: Aisthesis, S. 34–46, hier S. 43. 12 Hélène Cixous, »Das Theater tritt auf«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 108–119, hier S. 110. 13 Carmelo Bene, »Notate«, in: Theater etcetera, S. 74–77, hier S. 76. 14 Michel Foucault, »Die Sprache, unendlich«, in: ders., Schriften zur Literatur, S. 86–99, hier S. 86. 15 »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar«, Ingeborg Bachmann, Rede anlässlich der Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden: »Denn wir wollen alle sehend werden. Und jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit. Wir sagen sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, den hellen, wehen, in dem der Schmerz fruchtbar wird: Mir sind die Augen aufgegangen. Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das sollte die Kunst zuwege bringen: dass uns, in diesem Sinne, die Augen aufgehen.« Ingeborg Bachmann, »Die Wahrheit ist dem Menschen
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Er sei »unvorstellbar«16, sagt Bene, wohl aber ist er erlebbar. Wenn der Tod und die Sterblichkeit in einem von Schauspielenden geschaffenen Moment ins Blickfeld gerückt werden, das Theater aus der und in die Gegenwart spricht und die Kraft dieses durch Theater beschworenen Augenblicks dafür sorgt, dass sie schon wieder entschwinden, können beide an unmittelbarer Bedrohlichkeit verlieren. Der reale Tod und die reale Sterblichkeit blitzen in einem gegenwärtigen Theatermoment auf und verschwinden auch schon wieder. Nach einem Theaterabend bleibt nichts als eine vage Ahnung davon. Wenn man sich später an die Aufführung erinnert, kann man sie sich frei von Angst ins Gedächtnis zurückrufen. Die Schauspieler_innen mögen immer wieder auftreten und ihre Kunst zur Schau stellen, sie können in der Wiederholung immer wieder leben (und sterben). Es sind Wiederholungsschleifen in der Gegenwart, deren Potenzialität in der dem Theatermoment innewohnenden Vergänglichkeit und der artifiziellen Überhöhung liegt. Selbst im Mikrokosmos einer einzigen Aufführung, einer einzelnen Vorstellung, ist eine Linie fortlaufender Variation tätig, wie Deleuze dies über Benes Theaterarbeiten sagt.17 »Es gibt weder Anfang noch Ende. Das [I]nteressante ist die Mitte«18, so Bene selbst. Sobald die Aufführung endet, ist der gegenwartstaugliche Theatermoment, den die Schauspieler_innen personifizieren, vergangen. Dies birgt eine weitere fatale Konsequenz. Denn sie werden ebenso sterben, und mit ihnen ihre Kunst. Grotowski spricht dies direkt an: »Schauspielen ist eine ganz besonders undankbare Kunst. Sie stirbt mit dem Schauspieler.«19 Nur solange es die Schauspielenden gibt, existieren Orte und Zeiten, in denen gleichenorts und gleichzeitig Lebendigsein, Sterben, Leben und Tod in der Gegenwart bestehen können. »Auf dem Theater sehe ich«, sagt Cixous, »die Nacht, die Toten, die Erinnyen, die Gespenster. Das ist die gleichsam göttliche Funktion des Theaterwortes«.20 Obwohl präsent, kann es gelingen, dem »Todessog« zu entkommen, sich aus dem Leben in eine »ästhetisch verfeinerte Traumwelt« zu
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zumutbar«, in: dies., Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar, Essays, Reden, Kleinere Schriften, S. 75–77, hier S. 75. Carmelo Bene in Carmelo Bene otto interventi. Programma Sushi / Canale MTV – [9.4.‒21.4.]1999; nr. 2: »La Morte« [TC 00:01:05] Transkription von Nino Marta, abrufbar unter ia801609. us.archive.org/8/items/BeneSushi/BeneSushi.pdf [13/05/2016] (Orig. ital.: »la morte è impensabile«), vgl. FN 131. Vgl. Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: Aisthesis, S. 379–405. Vgl. Motto zu Beginn dieses Kapitels: Carmelo Bene, »Notate zum Theater«, in: Theater etcetera, S. 74–77, hier S. 75. Jerzy Grotowski, »Das Neue Testament des Theaters«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 27–58, hier S. 47. Cixous beschäftigt sich mit der Arbeit und Aufgabe einer Theaterautorin, die im und fürs Theater imstande ist, »ein außerordentlich bewegliches, wendiges, vervielfachtes Sprechen zu schaffen. Wie wir es nur im Traum genießen. Ich gebe im Theater alles zu sehen, was ich nicht sehe, und all jene (die Wesen), die man nicht sieht, die man nie gesehen hat und deren Gegenwart um uns herum so stark ist und so wirkungsträchtig, daß die Griechen diesen Gegenwarten Eigennamen
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flüchten21, oder – um erneut mit Assmann zu sprechen – sich eine zu erschaffen. Durch das Theaterwort kann schließlich die immanente Bedrohlichkeit der Toten, des Todes und des Sterbens einem gekränkten Subjekt erträglich gestaltet werden. Und ist es neben Träumen und anderen fantastischen, parallelen Welten nicht vor allem die (Theater-) Bühne, der diese Möglichkeit immanent ist?
und den Status von Gottheiten gaben.«. Hélene Cixous, »Das Theater tritt auf«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 108–119, hier S. 117. 21 Vgl. Brigitte Marschall, »Elixiere des Todes«, in: Theater in Österreich 1988/89, S. 135–142, hier S. 138. Ebenda auch ihre Schlussfolgerung: »Dort, wo die Kunst zum Leben wird, und das Leben zum Kunstwerk, dort waltet der schöne Tod. Die Toten haben keinen bestimmten Platz im Kontinuum von Raum und Zeit.«
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Den Tod vor Augen Sterben (Molière und Mnouchkine, Grotowski)
Der italienische Semiotiker, Kritiker und Bene-Spezialist Maurizio Grande schreibt über das Sterben der Bühnenfiguren und auch ihres Autors Bene, dies sei nur auf der Bühne möglich, da es kein Sterben, sondern »ein Hinübergleiten in die Sehnsucht« sei: Das Pathetische also. Was ist das. Ich denke an die Art des Sterbens auf der Bühne der Figuren von Carmelo Bene. Ja sogar, an die Art des Sterbens von Carmelo Bene, möglich nur auf der Bühne, umso mehr, als es kein Sterben, sondern ein Hinübergleiten in die Sehnsucht ist: Sehnsucht nach dem Ende der Aufführung, dem Ende von irgendetwas, das nicht sein kann; vielleicht dem Wunsch nach Fiktion vermischt mit dem Wunsch des Schaffens, der Omnipotenz. Einschlafen ist eine Art, den Tod zu umgehen, dem Tod als Intrige und Schicksal, Leichen als theatrale Fundstücke. Es ist das Pathos in der Vorausschau des eigenen Verlusts, die Sehnsucht angesichts des Umstands, dass Zeit existiert; Sehnsucht nach einer Stimme, die fehlen wird; die Anpassung an eine begrenzte Zeit in der Fiktion des Sterbens; vorausgesetzt, dass der Tod von Sinn und Macht entbunden ist.« 22
Grande geht es um das Eins-Werden der sterbenden Figuren und des Schauspielers Bene. So steigert sich die Aufführung von Riccardo iii (Richard iii), ein stetes Werden der Figur zur Situation, bis hin zur Konstituierung der Figuren, die nur mehr Situationen sind: das Ensemble der Frauen rund um Riccardo iii als Varianten seines Werdens, das am Ende in den Tod mündet. Immer wieder gleitet er von Truhen und Särgen, lehnt sich an, torkelt, stottert und stolpert wie trunken einher.23 Bis das Ende da ist, das Ende der Aufführung, von Riccardo iii, Riccardo iii., und Carmelo Benes Ende, das Werden eines Schauspielers. Weibliche Stimme aus dem Off: Also ist es so, du gehst, fährst ins Ausland? … Und wann denkst du, wieder zurückzukehren? Aber das ist eine sinnlose Frage: 22 Maurizio Grande, »Come morire«, in: A CB, A Carmelo Bene, S. 137. (= Questo brano, parte di un testo più ampio, è apparso in M. Grande, La riscossa di Lucifero (Bulzoni, Roma 1985). (Orig. ital.: »Il patetico, allora. Che cos’è. Penso al modo di morire in scena di personaggi di Carmelo Bene. Anzi, al modo di morire di Carmelo Bene, possibile soltanto sulla scena, tanto è vero che non è un morire, ma un addormentarsi dentro la nostalgia: della fine dello spettacolo e della fine di un qualche cosa che non può essere; forse il desiderio di finzione confuso con il desiderio di creazione, di onnipotenza. Addormentarsi è un modo di aggirare la morte, la morte come intrigo e destino, i cadaveri come reperti teatrali. È il patetico come previsione della perdita di sé, nostalgia del fatto che il tempo esiste; nostalgia di una voce che verrà a mancare; adattamento al tempo finito nella finzione del morire; purché la morte sia destituita di senso e di potere.«) 23 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Stolpern, Stottern, Stocken – das Lachen von Carmelo Bene«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 263–273.
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kaum wirst du wissen, wann du zurückkehrst, findest du doch viele Dinge zum Lernen vor … Richard: Ein Pferd ein Pferd mein Königreich für ein Pferd … Margaretha(verschwindend und die große Schleppe der schmutzigen Bettlaken hinter sich herziehend, verschlafen und verstört) Weibliche Stimme aus dem Off: Zieht Euch zurück, mein König, ich suche Euch ein Pferd! Zieht Euch zurück … vielleicht schreibt Ihr mir … Schlafen wir! … (sie ist verschwunden) Richard (dem Nichts zugewandt): Feigling!! Ich habe mein Leben den Würfeln anvertraut und halte das Banco … Ich denke, heute seien [sic] sechs Richmonds auf dem Feld gewesen, wovon ich bereits fünf getötet habe und denjenigen nie! … … Ein Pferd Ein Pferd Mein Königreich für ein Pferd! … das ende? 24
Carmelo Bene in Riccardo iii 1977 (Still aus dem gleichnamigen Videoteatro)
24 Carmelo Bene, Riccardo iii, in: Carmelo Bene / Gilles Deleuze, Sovrapposizioni, S. 5–65, hier, S. 65. (Orig. ital.: »Voce femminile fuori scena: ›Dunque è così, te ne vai, parti per l’estero? … | E quando pensi di ritornare? | Ma è una domanda inutile: | difficilmente sai quando ritorni, | troverai molte cose da imparare …‹ | Riccardo: Un cavallo un cavallo il mio regno per un cavallo! … | Margherita (Sparendo e trascinandosi il grande strascico dei lenzuoli sporchi, assonnata e distrutta) | Voce femminile fuori scena: Ritiratevi, sire, vi cerco io un cavallo! Ritiratevi … forse potrete scrivermi … Dormiamo! … (è sparita) … | Riccardo (al nulla): Vile! Ho giocato la mia vita ai dadi e tengo saldo il banco … Penso che oggi in campo ci fossero sei Richmond, che già cinque ne ho uccisi e quello mai! … | … Un cavallo Un cavallo Il mio regno per un cavallo! … | la fine?«)
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Während Bene-Riccardo seine letzten Worte spricht, rutscht er von einer Truhe, von einem Sarg herunter, lässt Arme und Beine hängen, und schließlich kippt auch sein sich neigender Kopf auf die rechte Schulter. Die Augen fallen zu. Das Licht wird sanft gedämpft. Ende. Auf einer zunächst nur inhaltlichen und damit schwächer wirkenden existenziellen Ebene rufen Sterben und Tod auf der Bühne große, atemraubende, unvergessliche Augenblicke hervor.25 Solche, die Atem, Stimme, Zeit und jegliches Gefühl von Subjektwerdung stillstehen lassen. Klett sieht in den Aufführungen des Théâtre du Soleil neben vielen anderen »starken« Momenten etwa in dem Film Molière und dem Stück L’Âge d’or die Momente des Todes herausgearbeitet. In beiden Fällen wird das Sterben groß und tragisch gesetzt: Abdallahs Sturz vom Baugerüst und Molières Zusammenbruch auf der Bühne haben das Pathos und die emotionale Wucht eines Operntodes, nur daß sie wahrhaftiger sind.26
Thematisch wird in L’Âge d’or sowohl der Rassismus gegen nordafrikanische und arabische Gastarbeiter_innen – das Stück entstand Anfang der 1970er-Jahre – als auch die Auseinandersetzung mit dem staatlichen Machtapparat und dem Feminismus aufbereitet27, Themen, die Mnouchkine in ihren Stücken von Beginn an aufgegriffen hat und auf die sie mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen bis heute eingeht. »Das Theater war schon immer ein Ort, wo sich die Probleme einer Gesellschaft abspielen«28, das durch seine Formen und Strukturen Theatermachen als gesellschaftskritische und der sozialen Gegenwart geschuldete Stellungnahme praktiziert.29 Deshalb muss es Abdallah – gespielt von Philippe Caubère – sein, der stirbt, ein Protagonist, der in doppelter Verletzlichkeit als Schuldiger für die Pest und als Gastarbeiter gezeichnet ist. Sein Tod ist am Ende
25 Gemeint sind hier keine tragischen Koinzidenzen durch Bühnenunfälle oder während einer Aufführung tatsächlich verstorbene Personen (wie der Schauspieler Raphael Schumacher in der Sterbeszene von Frank Wedekinds Frühlings Erwachen im Teatro Lux, Pisa im Februar 2016, oder wie Brandon Lee, der während der Dreharbeiten zu The Crow – Die Krähe verstarb). Vielmehr wird hier tatsächlich der Tod einzelner Figuren, also das inhaltliche Verhandeln des Todes von Figuren angesprochen. 26 Renate Klett, »Königin und Sphinx. Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil«, in: Theaterfrauen, S. 195–209, hier S. 204. 27 Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 91–100. 28 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 120. 29 So etwa beschäftigt sich die Theatergruppe in Le Dernier Caravansérail, Odyssées (Die Letzte Karawanserei, Odysseen) aus dem Jahr 2003 mit den Kriegsfolgen und Schicksalen der Geflüchteten, baut auf Gespräche in den Flüchtlingslagern und dem zuvor geschlossenen Flüchtlingslager in Sangatte auf. Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Magari lo fosse stata – Le Dernier Caravansérail (Odyssées), creazione colletiva del Théâtre du Soleil«, in: Aspetti dell’ ulissismo intellettuale dall’Ottocento a oggi, S. 225–235.
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der Vorstellung aber nicht nur inhaltlich, sondern auch inszenatorisch spektakulär30. Der Todessturz wird quasi erhebend in Szene gesetzt. Die Geschichte Abdallahs endet damit, daß er vom Baugerüst in den Tod stürzt. Sein Tod ist nichts als ein »lapidarer Arbeitsunfall«. Auf der Baustelle ballt sich die Wut gegen diejenigen, die Abdallah mit dem Versprechen einer Sonderprämie dazu gebracht haben, bei starkem Sturm das dreißig Meter hohe Gerüst zu besteigen. Den Prototyp des Ausbeuters stellt der einstige venezianische Großkaufmann Pantalone dar. In panischer Angst flieht er als erster. Diese Flucht vor der Verantwortung übersetzt das Soleil metaphorisch, indem die Betreffenden die Mauer hinaufklettern, allen voran der Großkapitalist Marcel Pantalon. Die Wut der Arbeiter über den brutalen Tod Abdallahs verstärkt Mnouchkine mit dem Dies irae aus Verdis Requiem, das in dem Moment, als Abdallah vom Gerüst fällt, wie Fliegeralarm laut einsetzt. [Der Schauspieler] Caubère läßt sich bei seiner gestischen Transposition des Sturzes von der Musik Verdis inspirieren.31
Mit ähnlich akustischer Eindringlichkeit verfährt Mnouchkine einige Jahre später in der Sterbeszene von Molière, der ebenfalls von Philippe Caubère gespielt wird. In dem gleichnamigen Film präsentiert Mnouchkine eine mehrschichtige Schlusssequenz32, die im letzten Atemzug Molières kulminiert: das Ende des
Philipp Caubère in Molière 1978 (Still aus dem gleichnamigen Film) 30 »Sich so etwas zu trauen in unseren nüchternen Zeiten, zeugt von hohem Mut, und es auch noch zu können, von hoher Kunstfertigkeit. Das Gegenbild dazu ist jene Todesszene in ›Mephisto‹, in der ein altes jüdisches Ehepaar ins Wasser springt, um der Internierung zu entgehen, und vorher ganz kindlich und heiter auf einer Brücke sitzt und die Beine baumeln läßt.« Renate Klett, »Königin und Sphinx. Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil«, in: Theaterfrauen, S. 195–209, hier S. 204. 31 Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 99. 32 1978, Molière. Historienfilm des Thèâtre du Soleil; Drehbuch und Regie Ariane Mnouchkine; Darsteller_innen Philippe Caubère, Joséphine Derenne, Marie-Françoise Audollent, Frédéric Ladonne, Jonathan Sutton, Julien Maurel, Philippe Cointepas, Odile Cointepas, Armand Delcampe,
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großen Theaterkünstlers. Die Sequenz beginnt kurz vor seinem letzten Auftritt in der Rolle des eingebildeten Kranken. Diese Szene deutet auch den Tod des eingebildeten Kranken, der Bühnenfigur Argan an. Gleichzeitig wird mit den letzten Momenten33 im Leben Molières und der Filmfigur gespielt. Es ist eine nicht enden wollende Szene in Zeitlupe, in der, hochstilisiert, der Blut spuckende Molière nach Hause gebracht wird, untermalt mit der Arie What Power Art Thou von Henry Purcell (King Arthur, Z 628 Act III. The Frost Scene. Song of Cold Genius). Dass auch derartig brutale und hochdramatische Szenen bei Ariane Mnouchkine poetisch umgesetzt und zugleich mit Humor versponnen werden, zeigt die ausdrucksstarke Mimik Caubères in der Garderobe vor seinem letzten Auftritt mit dem tödlichen Ende. Die Szene in der Garderobe zeigt den Schauspieler Molière vor dem Spiegel sitzend. Er hat sich soeben zu Ende geschminkt und wiederholt noch einmal seinen Text. Die Kamera hält seitlich vom Spiegel auf Molières Gesicht in der Schminkmaske von Argan. Es handelt sich um einen Ausschnitt wie auf einem Porträtfoto im Stil eines Bruststücks. Nicht nur die Sprech- und Sprachakte, die die Filmfigur Molière vor dem Spiegel vollführt, auch die Mimik, die er dazu übt, spielt humorvoll mit dem Stilmittel des Überzeichnens. Das fast zahnlos erscheinende Gesicht deutet die Vergänglichkeit sowohl des darzustellenden Charakters (Argan) als auch der Figur (Molière) an. Das Sterben bzw. der nahende Beginn des Sterbeprozesses wird in der Spiegelsequenz mikrokosmisch vorweggenommen, was eine Vorahnung vom Erscheinungsbild des ganzen Leibes evoziert und das Wissen um die Vergänglichkeit des Körpers auf zwei Ebenen sichtbar macht: Zum einen übt der Schauspieler Molière kurz vor seinem Bühnenauftritt das Sterben seiner Rolle, der Figur Argan, zum anderen weist die Szene auf den Tod der historischen Molière-Figur hin, die von Philippe Caubère gespielt wird. Der Anthropologe Christoph Wulf bringt in seiner Systematisierung des Verhältnisses von Leben und Tod das Bild des Harlekinkostüms ein und bezieht sich auf das aus Flecken und Flicken bunt zusammengenähte Kleid. Aus dem skizzierten Verhältnis von Tod und Leben ergeben sich folgende Gesichtspunkte zum Verständnis des Körpers: 1. Die Diskontinuität des Körpers läßt ihn sich nach der Kontinuität in der Sexualität und im Tod sehnen. […]
Maurice Chevit, Mario Gonáles, Jean Dasté, Jean-Claude Penchenat, Brigitte Catillon, Hélène Cinque, Roger Planchon; Musik René Clemencic. 33 Obwohl dies nicht den historischen Tatsachen entspricht, steht die Aufführung des Eingebildeten Kranken mit Molières Sterben in unmittelbarem Zusammenhang – zumindest im kollektiven Gedächtnis. Vgl. »Une mort chrétienne«, in: Roger Duchêne, Molière, S. 657–664; sowie Virginia Scott, Molière, v. a. »Last act«, S. 231–261.
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2. Der zur Ekstase fähige und die Verausgabung ersehnende Körper widersetzt sich dem Zugriff von Disziplin, Kontrolle und Selbststeuerung; […] 3. Die Diskontinuität verweist auf die Zersplitterung des Körpers, dessen Teile Träger von gesellschaftlichen Machtansprüchen, aber auch von Wünschen und Hoffnungen werden. Der Körper gleicht einem Harlekinkostüm, das aus vielen verschiedenfarbigen Stoffen besteht, den Harlekin kennzeichnet, zugleich aber auch verbirgt.34
Theatergeschichtlich gesehen ist es weniger das Gewand, das auf ärmliche Verhältnisse verweist, als vielmehr Harlekins ursprüngliche Herkunft, die Hölle bzw. die Unterwelt, die diese Figur als Repräsentantin anderer Welten interessant erscheinen lässt. Diese Herkunft befähigt Harlekin, zwischen den Welten hinund herzuspringen. Der Schauspieler Caubère, der in dieser Tradition zu spielen versteht, erzählt die Geschichte des Theatermannes Molière, der die Geschichte des eingebildeten Kranken Argan spielt. Ein Mnouchkine-Schauspieler, Caubère, spielt in harlekinischer Manier seinen oder ihren, Mnouchkines, Molière. Er spielt ihn nicht mit geflicktem Kostüm, sondern als Harlekin-Nachfolger, der die Maske Molière spielt und damit imstande ist, Brücken zu anderen Welten zu bauen. »Die Vorstellung von Harlekin als dem ›Genius des Lebens überhaupt‹«, so Münz, sei uns schließlich verloren gegangen. Dennoch habe das Prinzip überlebt.
Szenenfoto aus Molière 1978 (Foto Michèle Laurent) 34 Christoph Wulf, »Körper und Tod«, in: Die Wiederkehr des Körpers, S. 259–273, hier S. 271.
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In der Theatergeschichte steht es schlechthin für ein »anderes Theater« und kann als das bestimmende dynamische Element angesehen werden. In dieser Beziehung oft in eine Alternativrolle gedrängt, bilden die geglückten Versuche seiner Symbiose mit dem »eigentlichen« Theater unzweifelhafte Höhepunkte: Shakespeare, Molière, die Commedia dell’Arte beispielsweise.35
Und Mnouchkine, so könnte man die Liste ergänzen, denn Caubère erscheint wie Harlekin als Theatermaske und »erweist sich als Genius des Lebens« in Verbindung mit der Erzählung über die Höllenreise; »die Mythen erzählen von Hellekin als einem Totengott«36. Schauspieler_innen dieser Genealogie sind es nun, sogenannte Saltimbanchi, die den Sprung auf das Podest (saltare in banco), den Harlekin-Sprung mit dem Ausruf »Eccomi!« (Hier bin ich!) vollführen. Damit bringen sie etwas aus einer anderen Welt mit – ein Gesicht, eine Figur, eine Ahnung, einen Ausdruck. Indem sie hin- und her-, vor- und zurück-, hinauf- und hinunterspringen, wird zwischen zwei oder mehreren Welten vermittelt, die sich parallel zueinander verhalten, also wertfrei nebeneinander stehen bzw. existieren. Mnouchkine führt verschiedene Gründe für ihre Bewunderung Shakespeares,37 für ihre Liebe zu Molière und ihre Affinität für die Commedia dell’arte (neuere Forschung: Commedia all’improvviso) an. Ich liebe diesen Mann, ich liebe Molière! […] Ich bin ihm treu verpflichtet, da ich denke, dass er auf eine gewisse Art der Prinzipal aller Theatergruppen ist. Du kannst einfach nicht in Frankreich ein Theater, eine Kompanie führen, ohne mindestens einmal in der Woche an Molière zu denken. Natürlich mag ich nicht alle Stücke von ihm, aber ich fühle mich vielen Stücken von ihm nah.38
Zweifellos steckt hier immer wieder auch »Harlekin« dahinter und damit das Prinzip, niemals aufzugeben, solidarisch mit den Armen zu sein, dem Totenreich entsteigen und zwischen Welten wandeln zu können. Harlekin, der dem Leben und dem dazugehörenden Tod mit einem Lachen begegnet und die Welten miteinander zu verbinden vermag. Und über den Tod auch einmal zu lachen, das zeigt Mnouchkine an anderer Stelle in ihrem Molière-Film, wenn »der Tod« auf der Jahrmarktsbühne erscheint und mit Pantalone spielt. 35 Rudolf Münz, »Das Harlekin-Prinzip. ›Genius des Lebens‹«, in: ders., Theatralität und Theater, S. 60–81, hier S. 60. 36 Gerda Baumbach, »Erinnern, Erzählen, Leibwissen«, in: Momentaufnahme Theaterwissenschaft, S. 107–120, hier S. 115. 37 Mnouchkine sagt, sie halte Shakespeare und Aisychlos für »Götter«, für »Supermänner«, während Molière für sie ein Mensch sei, und uns so nah, und dadurch gegenwartsnah: Orig. engl.: »Shakespeare’s such a mystery, but Aeschylus is too. For me both Aeschylos and Shakespeare are gods. They’re not human. When you work on their works it’s so magical. Everything is there. They invented it. […] Those two, Aeschylus and Shakespeare, are supermen. […] Molière’s just a man, and he’s so near us that he’s modern.« Mnouchkine im Gespräch in »Ariane Mnouchkine«, in: In contact with the Gods?, S. 175-190, hier S. 181. 38 Ebenda, S. 181–182. (Orig. engl.: »I have a love for the man, Molière. I love him! […] I’m faithful to him, because I think, in a way, he is like the boss of all theatre companies. You can’t live in France and do theatre and have a company, without thinking at least once a week of Molière. […] I don’t like all of Molière’s plays but it doesn’t matter. I feel close to certain of his plays.«)
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Wenngleich Grotowski sich ausdrücklich als Pontifex (Brückenbauer) versteht, der zwischen zwei Welten – einem Oben und einem Unten – vermitteln will oder muss, haben seine Schauspieler_innen bzw. Doers nicht dieselben Vor aussetzungen wie Mnouchkines. Sie verfügen über ganz andere Spielqualitäten. »Dank dem Performer«, sagt Grotowski, »der eine Brücke ist zwischen Zeugen [seinen Zusehenden] und diesem Etwas. In diesem Sinne ist der Performer ein Pontifex, ein Brückenbauer.«39 Für Grotowski ist der Schauspieler dennoch auch eine Art »Krieger«: »Der Performer mit großem P ist ein Mann der Tat. Er ist nicht jemand, der einen anderen spielt. Er ist ein Handelnder, ein Priester, ein Krieger: Er steht außerhalb ästhetischer Gattungen.«40 Grotowski sieht keinen Zusammenhang mit Harlekin, der den Tod verlacht oder aus dem Reich des Todes berichtet, sondern vielmehr den Krieger, der den Tod bringen kann. Grotowski will einen wachen Schauspieler, einen Doer, der handelt und Lösungen anbietet, der den Weg in die Vertikalität sucht und findet. Ein standhafter Prinz werde am Ende ebenso inbrünstig sterben, »ist er nackt [und] hat nichts als seine eigene menschliche Identität, um sich zu verteidigen«41, etwa wie Thomas Richards in Action den Verlauf von Tod zu Geburt, genau entgegengesetzt zur gewohnten Richtung, durchmacht. Die Voraussetzung für die wachen Doers ist das beständige Streben nach dem Werden, der Geburt, das Suchen nach dem körperlichen Impuls des Entstehens. Hierin liegt für Grotowski der Kern schauspielerischen Arbeitens, den er seit den Teatr Laboratoriums- Zeiten umkreist und weiterentwickelt hat. Ein oft von Grotowski verwendeter Begriff – sowohl in bezug auf sein eigenes Schaffen als auch auf das Schaffen des Theater Laboratorium – lautet: in statu nascendi. Die gesamte schöpferische Tätigkeit Grotowskis und des gegenwärtigen Institut Laboratorium war immer und ist auch heute noch ein bewußtes Streben nach diesem in statu nascendi, dem Zustand fortwährender Geburt. Alles entsteht hier in ständiger Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst der vorhergehenden Etappe, aus dem entschiedenen Nein zu Routine und Ausruhen auf dem, was bereits erkannt und erreicht wurde, aus ungestilltem Hunger nach der Entdeckung und dem Erkennen immer neuer Bereiche sowohl in der Kunst als auch im Leben.42
Ein unstillbarer Hunger, immer wieder Neues zu entdecken, ist auch der Motor für Ariane Mnouchkine und die Schauspieler_innen des Théâtre du Soleil. Besonders gern beginnt Mnouchkine mit ihren Schauspiel-»Veteran_innen«, denen sie seit Jahrzehnten eng verbunden ist, immer wieder von vorn an zu arbeiten.
39 Jerzy Grotowski, »Der Performer«, in: Der sprechende Körper, S. 43–45, hier S. 44. 40 Ebenda, hier S. 43. 41 Ludwik Flaszen, »Der standhafte Prinz«, eine Einführung im polnischen Programmheft, in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 104–106, hier S. 105. 42 Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: Tadeusz Burzyński und Zbigniew Osiński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 7–110, hier S. 10.
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Und am liebsten fange ich mit den Alten von vorne an, mit denen, die das Théâtre du Soleil seit manchmal mehr als zwanzig Jahren tragen. Ich befinde mich mit ihnen so lange in der gleichen Verzauberung, wie sie in der Haltung der fortwährenden Wiederentdeckung bleiben.43
Gemeinsam finden sie die Form (-en), das (Wieder-) Entdeckte auszudrücken, auch wenn es um das Sterben und den Tod geht. »Der Schauspieler ist wie ein Schwamm, der alles empfängt, alles aufnimmt. Ein Schwamm, der übersetzt, ohne etwas hinzuzufügen, und zwar so, daß er den Dingen eine Form verleiht.«44 Töten (Kane, Kleist, Bene, Mnouchkine)
Wenn es keine Figur aus einer anderen Welt ist, die durch Schauspieler_innen, Akteur_innen im Hier und jetzt in Erscheinung tritt und Geschichten erzählt (Mnouchkine), wenn es keine archetypisch Schauspielenden sind, die als Brücke zwischen einem Oben und einem Unten fungieren und dabei jegliche Geschichte obsolet werden lassen (Grotowski), dann kommt Carmelo Bene ins Spiel. Bei ihm bleibt ein Verfahren mit dem literarischen Text noch im Mittelpunkt, der Inhalt indes wird subtrahiert. Er nimmt alle Macht stabilisierenden Elemente eines Theaters, von der Narration bis zu sich selbst in der Qualität als Schauspieler, aus der Szene heraus (togliere di scena) und tötet sich als Schauspieler auf der Bühne. Ein Beispiel aus dem Kanon von Benes Umsetzungen, in dem schon von Beginn an das Macht destabilisierende Element Frau bedeutend ist, ist beispielsweise Penthesilea, eine Figur aus der griechischen Mythologie, die der Reihe großer Frauenfiguren angehört, die in ihrer ursprünglichen Geschichte dem Tod ins Auge sehen, ihm entgegentreten und auch mal selbst Hand anlegen.45 Sie ist eine der antiken Heldinnen, die selbst ermächtigt töten: Antigone, Iphigenie, Klytäm nestra, Medea oder auch beispielsweise Phaidra, die da in kühnen weiblichen Worten einer Sarah Kane des 20. Jahrhunderts spricht: Strophe Mutter. Phaidra Geh weg verpiss dich fass mich nicht an sprich nicht mit mir bleib bei mir. Strophe Was fehlt dir? Phaidra Nichts gar nichts. Strophe Ich seh’s dir doch an. Phaidra Hast du jemals gemeint, gemeint, dir würde das Herz brechen? 43 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 124. 44 Ebenda, hier S. 125. Vgl. das Zitat der FN 150: Juliana Carneiro da Cunha, die dies aus der Sicht einer Schauspielerin bestätigt. 45 Zu Todesarten von Frauen in der griechischen Tragödie und was sie bedeuten siehe Nicole Loraux, Tragische Weisen, eine Frau zu töten, 1993.
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Strophe Phaidra Strophe Phaidra Strophe
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Nein. Dir gewünscht du könntest deine Brust aufschlitzen es herausreißen damit der Schmerz aufhört? Das würde dich umbringen. Das hier bringt mich um. Nein. Scheint nur so.46
In allen Versionen tötet Phaidra sich am Ende,47 von Euripides48 über Seneca, Racine und D’Annunzio bis Sarah Kane49. Die »Ur-Phaidra« aus der griechischen Mythologie50 dient ihnen als Folie, an der sie sich orientieren. Auch Hippolytos, das Objekt der Begierde, entkommt seinem Schicksal nicht. Er wird schlussendlich gerichtet und findet den Tod. Ähnlich wird in der Bearbeitung der mythologischen Figur Penthesilea verfahren, auch von Kleist und Bene. Sowohl Kleists Penthesilea im 19. Jahrhundert als auch Benes Penthesilea im 20. Jahrhundert, die sich dezidiert auf Kleist bezieht, sind dem Morden hingegeben, ihm ausgesetzt. Sie sind besessen, töten nahezu bestialisch – wie die antike Penthesilea – den Mann, den sie lieben. Sie zog dem Jüngling, den sie liebt, entgegen, Sie, die fortan kein Name nennt – In der Verwirrung ihrer jungen Sinne, Den Wunsch, den glühenden, ihn zu besitzen 46 Sarah Kane, »Phaidras Liebe«, Dritte Szene, in: dies., Sämtliche Stücke, S. 76–116, hier S. 83. 47 Bei Kane überbringt Strophe die Nachricht: »Sie ist tot, du beschissenes Dreckschwein. […] Hippolytos – Was ist passiert? Strophe – Erhängt.« Sarah Kane, »Phaidras Liebe«, Dritte Szene, in: dies., Sämtliche Stücke, S. 76–116, hier S. 102–103. Bei Euripides berichtet die Amme: »Wehe! Wehe! | Zu Hilfe! Freunde, Nachbarn, eilt herbei! | Die Fürstin, Theseus’ Weib, hat sich erhängt.« Euripides, »Hippolytos«, in: ders., Die Bakchen. Hippolytos. Zwei Tragödien, S. 67–127, hier S. 100. Sich zu erhängen, war für Frauen nur eine der möglichen Weisen, sich umzubringen. Nicole Loraux unterscheidet in ihrer Studie über die verschiedenen Tötungsarten in der griechischen Tragödie mit Fokus auf die Frauen zwischen blutigen und und unblutigen, schönen und ehrenvollen, abscheulichen und unreinen sowie zwischen »männlichen« und »weiblichen« Todesarten. Sie berücksichtigt dabei Mord, Opfertod und Selbstmord. Phaidra gehört zu den Selbstmörderinnen, deren Tod unblutig – nicht durch das Schwert, sondern – durch einen Strick herbeigeführt wird. Loraux kommt zu dem Schluss, dass z. B. Gattinnen sich eher erhängen, während Mütter eher mit dem Schwert Hand an sich legen. Vgl. Vgl. Nicole Loraux, Tragische Weisen, eine Frau zu töten, S. 26–51. 48 Euripides gewinnt im Jahr 428 a. C. bei den Dionysien den 1. Preis mit seinem Werk Der bekränzte Hippolytos. Das zuvor verfasste Werk Der verhüllte Hippolytos ging verloren. 49 Sarah Kane (1971–1999) schreibt zwischen 1995 und 1999 fünf Theaterstücke, darunter Phaidras Liebe. 50 Vgl. Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, 1988. Dem Mythos nach versucht Phaidra ihren Stiefsohn Hippolytos zu verführen. Als dieser ihr im Dienste der jungfräulichen Göttin Artemis widersteht, verleumdet Phaidra ihn bei seinem Vater, ihrem Gatten Theseus. Dieser wiederum bittet seinen Vater Poseidon um Hilfe. Poseidon lässt Hippolytos Pferde durch einen aus dem Meer kommenden Stier aufschrecken, sodass Hippolytos zu Tode geschleift wird.
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Mit allen Schrecknissen der Waffen rüstend Von Hunden rings umheult und Elefanten, Kam sie daher, den Bogen in der Hand […] Stutzt er, und dreht den schlanken Hals, und horcht, Und eilt entsetzt und stutzt, und eilet wieder: Gleich einem jungen Reh, das im Geklüft Fern das Gebrüll des grimmen Leun [Löwe] vernimmt. […] Ha! sein Geweih verrät den Hirsch, ruft sie, Und spannt mit Kraft der Rasenden, sogleich Den Bogen an, daß sich die Enden küssen, Und hebt den Bogen auf und zielt und schießt, […] Sich über ihn, und reißt – reißt ihm beim Helmbusch, Gleich einer Hündin, Hunden beigesellt, Der greift die Brust ihm, dieser greift den Nacken, Daß von dem Fall der Boden bebt, ihn nieder! Er, in dem Purpur seines Bluts sich wälzend, Rührt ihre sanfte Wange an, und ruft: Penthesilea! meine Braut! was tust du? Ist dies das Rosenfest, das du versprachst? […] Merore (Kleist, Penthesilea, 23. Auftritt) (Herv. d. A.)51
Carmelo Bene vollzieht seine Subtraktion (sottrazione) konkret, konsequent und extrem. Ausgehend von der Vorlage Kleists gibt es in seiner Pentesilea la macchina attoriale – Attorialità della macchina 52 (Penthesilea die Schauspielmaschine – Das Schauspielerische der Maschine) weder Akte noch Szenen – im Gegensatz zu Kleists Drama von 1808, das in 24 Szenen bzw. Auftritte gegliedert ist. Benes personaggi bestehen aus Situation und Schauspiel, Carmelo Bene agiert als eine voce solista (Solo-Stimme). Übrig bleibt ein Gedicht. Bene selbst ist der Einzige auf der Bühne, und er ist vor allem seine Stimme,53 die auch im PlaybackVerfahren eingesetzt wird, was technisch ein äußerst präzises Arbeiten voraussetzt. Dieses Vorgehen erweitert die Intimität des Gehörten. Bene spricht nicht, sondern er wird gesprochen, er wird das Gehörte, er flüstert. Die Geste wird leer, d. h. sinnentleert, auf der Bühne umgesetzt durch die Playback-Wiederholung (-en). 51 Heinrich von Kleist, Penthesilea, S. 88–89. 52 Hier findet sich bereits im Titel der Hinweis auf die Schauspielermaschine, die Bene im Laufe seines Theaterschaffens entwickelt. Pentesilea la macchina attoriale – Attorialità della macchina momento n. 1 del progetto-ricerca Achilleide, da Stazio, Kleist, omero e post-omerica, der Untertitel weist wieder auf Versionen hin, 1989 Nr. 1, 1990 lautet er »Nr. 2«; jeweils ist die voce solista Carmelo Bene. 53 Vgl. Antonio Zoretti, Carmelo Bene il fenomeno e la voce, 2012.
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Bühne mit Torsi und Schaufensterpuppen von Carmelo Benes Pentesilea la macchina attoriale – Attorialità della macchina (Still aus dem Videoteatro In-vulnerabilitá d’Achille (tra Sciro e Ilio) 1997)
Er wird zur Schauspielermaschine. Damit ist »die endgültige Einführung einer ›Schauspielermaschine‹, verstanden als eine Transformation bzw. Verwandlung eines Schauspielers vom Organischen in ein Anorganisches, vom Menschlichen in eine Maschine«54 geschafft. Bene bedient sich hier also eines speziellen Instrumentariums. Ähnlich den Verfahrensweisen im postdramatischen Theater – wobei man bezüglich Bene von einem prädramatischen Theater sprechen müsste – zeigt er, dass er einem Künstler ante litteram ent-spricht. Die Bühne ist durchgehend weiß. Sie wirkt trotz der barocken Atmosphäre sonderbar geisterhaft und ist mit Schaufensterpuppen und viel Stoff ausgestattet. Maurizio Grande schreibt im Zuge seiner Beschäftigung mit Carmelo Benes Pentesilea über jene von Kleist: Kleist / Penthesilea, oder der Wunsch als Geheimnis, das den Sinn und den Willen umstürzt. Der Wunsch lässt Penthesilea sich selbst nicht begreifen, unfähig die Raserei zu verstehen, die sie zerstört […] Jenseits von Lust und Ekel, stolz von Grauen berauscht schlemmt Penthesilea regelrecht mit dem Jenseits des Todes, veranstaltet ein Gemetzel mit menschlicher Mahlzeit, das den Tod überschreitet und beleidigt […] Und so als ob Kleist die klassische Geschichte umgekehrt hätte, indem er den Mythos des Blicks umdrehte, ist es nicht Achill, der sich in die von ihm tödlich verletzte Königin verliebt, sondern Penthesilea verliebt sich in ihren Widersacher, wählt ihn als captus est in oculis und »saugt« ihn in das Reich einer ursprünglich schonungslosen, unaufhaltsamen Gewalt auf.55 54 Piergiorgio Giacchè zit. n. Carmelo Bene, Cos’è il teatro?!, S. 22. (Orig. ital.: »la definitiva costituzione di una ›macchina attoriale‹ intesa come trasformazione o meglio trasferimento di un attore dall’organico all’inorganico, dall’umano dall’automatico«) 55 Maurizio Grande, Dodici donne. Figure del destino nella letteratura drammatica, Roma 2009, S. 179 und 186, zit. n. Alessandro Cappabianca, Carmelo Bene, Il cinema oltre se stesso, S. 171–
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Carmelo Benes Gedicht, er nennt es »momento n. 1« (Moment Nr. 1) und im Jahr darauf »momento n. 2«56 (Moment Nr. 2) mit dem Titel Pentesilea ovvero della vulnerabile In-vulnerabilità e necrofilia in Achille, poesia orale su scritto incidentato versioni da Stazio Omero Kleist (Penthesilea oder Über die verwundbare UnVerwundbarkeit und Nekrophilie in Achill, mündliches Gedicht nach zusammengekrachten Versionen von Stazio Homer Kleist) entspricht Kleists Version, zeigt aber selbstverständlich Bene als Schauspieler bzw. Schauspielermaschine57 im Rampenlicht. Der Held hat es mit einem Stapel an Torsi, Armen, Beinen, Köpfen (mit und ohne Augen) zu tun. Zwischen den Schaufensterpuppen bleibt das Trugbild Penthesileas unerkennbar. Zwischen den glatzköpfigen Puppen gibt es nur eine mit Haaren, mit weißen Bändern geschmückt, die ihn besonders zu beeindrucken scheint. Es sind nicht nur die Puppen, die hier wie Leichen wirken, auch das Licht wird zunehmend weißer und heller. Bene trägt im Kontrast dazu eine dunkle Jacke mit einer weißen Nelke im Knopfloch. Er liest, trinkt, legt sich einen Schal um und nimmt ihn wieder ab. All dies sind Gesten, die Deleuze bereits hinsichtlich Riccardo iii hervorgehoben hat. In diesem Zusammenhang beschreibt er Benes Stil anhand der Begrifflichkeiten Wiederholung, Variation, Entzug.58 Bene-Achill legt die Jacke ab, spielt mit einem der Köpfe, er lacht, weint. Er blättert in einem Buch, wie in Hamlet beim Zusammenspiel zwischen Amleto und Orazio59, die Seiten sind weiß, das Geräusch des Papiers wird durch das Umblättern amplifiziert. Die Geschichte
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172. (Orig. ital.: »Kleist/Pentesilea, ovvero il desiderio come enigma che sovverte i sensi e il volere. Il desiderio rende Pentesilea inafferrabile a se stessa, incapace di comprendere la furia che la devasta […] Oltre la brama e la nausea, fiera ebbra di orrore, Pentesilea banchetta con l’aldilà della morte, fa scempio del pasto umano che eccede e oltraggia la morte […] È come se Kleist avesse rovesciato la favola classica, capovolgendo il mito dello sguardo: non Achille si innamora della Regina da lui ferita a morte, ma Pentesilea si innamora del suo avversario, lo sceglie come preda degli occhi e lo ›aspira‹ nel regno di una violenza originaria implacabile, inarrestabile.«) Carmelo Bene, Opere, S. 1560. Vgl. Piergiorgio Giacchè, Carmelo Bene. Antropologia di una macchina attoriale. 1997. Vgl. Gilles Deleuze, Ein Manifest weniger, in: Aisthesis, S. 379–405; sowie Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, v. a. Kapitel »Das, was bleibt, ist Theater«, S. 66–110. Diese Sequenz erfährt durch Variationsschleifen eine Steigerung: Die bei Shakespeare noch von Hamlet gesprochenen Textstellen werden hier von Orazio übernommen, der durch Subtraktion im Laufe des Bene-Stücks immer weniger Shakespeare-Text zur Verfügung hat. Zunächst kann er die Zeilen sprechen, dann liest er sie vom Papier (Shakespeare-Text) ab, bis er sich schließlich das letzte Ecklein einverleibt, d. h. es verspeist. Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, S. 107–109. Biccari interpretiert diese Stellen folgendermaßen: »So überlässt CB-Hamlet seinem skeptischen Kompagnon Horatio die berühmtesten Textstellen, die er vom Corpus der Shakespeareschen Tragödie amputiert. Er reißt Blätter aus dem Buch mit dem ›schönen Stoff‹ heraus und wirft sie als Papierbällchen Horatio hin, der dann verärgert und lustlos die Sätze der Hamlet-Monologe vorliest. Auf diese Weise wird der programmatische Verzicht von CB-Hamlet auf die ›Rolle‹, auf die Verantwortung im Leben und im Theater signalisiert.« Gaetano Biccari,
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ist suspendiert, und die Worte werden ohne inhaltlichen Bezug auf der Bühne gesprochen: »Prinzessin Meine Braut Prinzessin Das war nicht der Tag der Rosen« Er trinkt. Er entledigt sich auch des Hemdes, darunter aber trägt er eine andere Jacke Unverständliche Worte. Negierte Stimme. Nur das Geräusch der umblätternden weißen Seiten Dunkel.60
Da stehen und agieren sie auf der Bühne der Gleichzeitigkeit und sind doch so verschieden: die eine klar bei Verstand, die andere rasend vor Wahnsinn, sehen sie sich einem Tod gegenüber, der ihre Existenz auszulöschen scheint. Geschehen die Todesarten und zu vermutenden Gräueltaten noch, wie in der griechischen Tragödie, fernab der einsehbaren Bühne, nicht sichtbar, d. h. unsichtbar,61 werden sie im ausgehenden 20. Jahrhundert, wie etwa bei der britischen Dramatikerin und Regisseurin Sarah Kane oder auch in Kleist-Bearbeitungen zur schrecklich sichtbaren, szenischen Wahrheit.62 Im antiken Griechenland spricht der Chor die rühmende Rede, eine Rede gegen den Tod. Er wendet ihn ab und verspricht den Menschen Unsterblichkeit.63 »Wenn die heiligen Redner sprechen, um den Tod zu verkünden, um den Menschen mit dem Ende zu drohen, das jeden Ruhm vergehen lässt, wenden sie immer noch den Tod ab und verheißen dem Menschen
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»Ein Komiker mehr. Über Carmelo Benes Hamlet-Variationen«, in: Komik. Ästhetik. Theorien. Strategien, S. 274–287, hier S. 283. Alessandro Cappabianca beschreibt die Szene mit einem Zitat von Carmelo Benes Pentesilea: ders., Carmelo Bene, Il cinema oltre se stesso, S. 174. Er zitiert Carmelo Bene, »Pentesilea ovvero della vulnerabile In-vulnerabilità e necrofilia in Achille, poesia orale su scritto incidentato versioni da Stazio Omero Kleist«, in: ders., Opere, S. 1319–1347, hier S. 1347. Anm. zu den »Rosen«: Amazonen feiern das Rosenfest, indem sie die Krieger, die sie besiegt und gefangengenommen haben und für die Zeugung ihrer Nachkommen brauchen, mit Rosen schmücken. (Orig. ital.: »›Principessa Mia sposa Principessa | Non era questo il giorno delle rose‹ [Bene, Pentesilea] | Beve. Si sfila anche la camicia, ma sotto ha un’altra giacca | Parole inaudibili. Voce negata. Solo il rumore di pagine bianche sfogliate | Buio. [Cappabianca]«) Vgl. den Botenbericht: »[…] Plötzlich sprang aus der Brandung Wogenschwall | Ein Stier hervor, ein wildes Ungetüm. | […] | Ein Wirrwarr war’s. Es flogen durch die Lüfte | Der Räder Naben und der Achsen Pflöcke. | Der arme Herr, verstrickt in seine Zügel, | Kann sich nicht mehr befrein, er wird geschleift; | Geschmettert an die Felsen wird sein Haupt, | Zerrissen wird sein Fleisch. […] | […] | Zu Boden fiel der kaum noch Atmende. | Das Roßgespann zusamt dem Ungetüm | Versank in unterird’sche Felsentiefe | […].« Euripides, »Hippolytos«, in: ders. Die Bakchen. Hippolytos. Zwei Tragödien, S. 67–127, hier S. 117–118. Zu Aufführungsbeispielen der Gegenwart vgl. z. B. Inszenierungen von Societas Raffaello Sanzio, vgl. FN 115. Ulrike Haß verwies darauf in ihrem Vortrag »Keiner, eine oder alle. Der Chor der Perser« am 26. Juni 2014 am tfm | Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Vgl. Michel Foucault, »Die Sprache, unendlich«, in: ders., Schriften zur Literatur, S. 86–99. Vgl. auch das Vorwort von Nicole Loraux, in: dies., Tragische Weisen, eine Frau zu töten, S. 7–11.
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eine Unsterblichkeit«,64 so Foucault. Im zeitgenössischen europäischen Theater wird das Subjekt als Objekt des Begehrens stranguliert, getreten, gesteinigt, seiner Genitalien beschnitten und von der Leiste bis zum Brustkorb aufgeschlitzt. Wie können Redner_innen heute dem Subjekt den Tod verkünden und ihn abwenden? Möglicherweise wie in Benes Inszenierung in Form der rühmenden Rede »aus dem Off«: Sprache und Klänge ohne Gesang. Auch hier ist auf der Bühne nichts zu sehen, nur Benes Stimme trägt das Geschehen und macht es sichtbar – ein Geschehen, das ohne Geschichte zur reinen Poesie und zur Phonè, zum Klang gerinnt. Unerbittlich brutale und trostlose Darstellungen zwischenmenschlicher Beziehungen, geprägt von Gewalt und Liebe, Einsamkeit und Sehnsucht nach Nähe rahmen die Werke von Sarah Kane. Sie gilt als eine der radikalsten Theaterschaffenden des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa. Alle die von Kane zur Schau gestellten Gefühle und Gefüge auf der Bühne scheinen von einem Hauch Todessehnsucht umweht zu werden, von der unversöhnlichen Sehnsucht nach dem unvermeidlichen Abgrund. Der Anklang, den ihre Stücke und Inszenierungen beim Publikum gefunden haben, ist beachtlich, steht doch die Realität, die die Entstehung der Stücke begleitet oder womöglich bedingt hat, der Theaterwirklichkeit um nichts nach.65 Der Tod präsentiert sich als (Er-) Lösung von dem Hier und Jetzt, das Sterben als Transformation des Hier in ein Dort und des Jetzt in ein Dann. Bene sieht im Tod eine gesteigerte weil reinigende Art von Befreiung: »Der Tod wäre die Katharsis, die Befreiung, und daher die Möglichkeit, wiedergeboren zu werden.«66 Es gibt Situationen, in denen wir häufiger an den Tod und das Sterben denken als sonst. Obwohl der Tod allerorts allgegenwärtig ist, ist er nicht immer gleichermaßen bedrohlich für uns. Bei Bene wird er philosophisch erhöht, und es gibt durchaus die Sehnsucht danach. Bei Mnouchkine ist er eine zu akzeptierende Tatsache, wobei die Art und Weise des Sterbens, des Ums-Leben-Kommens nicht unwidersprochen hingenommen wird. Dies drücken vor allem ihre Revolutionsstücke 1789 und 1793 auf inhaltlicher Ebene aus, doch auch in den späteren Inszenierungen wie Le Dernier Caravansérail, Odyssées wird sie noch thematisiert.67 64 Michel Foucault, »Die Sprache, unendlich«, in: ders., Schriften zur Literatur, S. 86–99, hier S. 91. 65 1999 nimmt sich Sarah Kane 28-jährig das Leben. Vgl. Literatur zu und über Sarah Kanes Arbeit z. B. Graham Saunders, »Love me or kill me«. Sarah Kane and the theatre of extremes, 2002, sowie Roswitha Piribauer, »Cruel Britannia«: In-Yer-Face Theatre in 1990s Britain, 2004. 66 Carmelo Bene in einem Interview: Elena de Angeli, »Non si può morire«, in: Carmelo Bene, Panta, S. 65–69, hier S. 65–66. (Orig. ital.: »la morte sarebbe la catarsi, la liberazione, e dunque la possibilità di rinascere …«) 67 Ariane Mnouchkines differenziertes Verhältnis zum Tod, ihn zwar als unausweichlich zu akzeptieren, ihn aber nicht unwidersprochen hinzunehmen, korrespondiert mit Foucaults Ansatz in
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Wenn das gesprochene Wort versagt, gibt es nach wie vor Körpersprache. Das »Gleichgewicht« zwischen Körper und Text sei »wesentlich«, so Mnouchkine, »weil im Theater vor allem der Leib spricht. Das Wort ist wie ein Körpersaft. Der Text muß gleichsam eine Absonderung des Körpers sein«.68 Für Bene ist der Text ein Grab für das lebende Wort, und das geschriebene Wort ist ein totes Wort. »Das geschriebene gemeint als totes gesprochenes [Wort]. Die Schrift ist die Beerdigung des Gesprochenen, und sie ist die kontinuierliche Verdrängung des Inneren.«69 Insbesondere unwidersprochen deutlich zeigt sich das Ende der gesprochenen Sprache, aber das Überleben der Körper im Bereich des Tanzes.70 Im Tanz dringt jenseits der gesprochenen Sprache nach außen, was sonst tief verborgen als Ambivalenz zwischen »lebendig« und »tot« empfunden, (aus-) gehalten und verhandelt wird. Meg Stuart choreografiert in dem Stück Do Animals Cry 71 mit einer ebensolchen Rohheit wie Zärtlichkeit Elemente zwischenmenschlicher Beziehungen: Zuneigung und Liebe, Hass und Gewalt, Verzweiflung und Freude, Ausgelassenheit und Resignation. Kurz nach Beginn der Inszenierung wird nicht nur gefragt, ob Tiere weinen, sondern auch: »Why do people have to die?«72. Wie die spontane emotionale Reaktion auf eine Todesnachricht, wie in einem Moment, in dem man der eigenen Endlichkeit gewahr wird, zuckt die Sinnfrage auf, stellen sich die Fragen nach dem Warum und nach dem Wie.73
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seinem Text »Was ist Kritik?«, in dem er in Bezug auf den Widerstand des Subjekts gegen die Unterwerfung formuliert: »Nicht regiert werden wollen, nicht dermaßen regiert werden wollen.« Michel Foucault, Was ist Kritik?, S. 13. Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 128. Carmelo Bene, »Autografia d’un ritratto«, in: ders. Opere, S. v-xxxvii, hier S. v. (Orig. ital.: »lo scritto inteso come morto orale. Lo scritto è il funerale dell’orale, è la rimozione continua dell’interno«) Dies drückte Pina Bausch mit dem Zitat eines Roma-Mädchens in ihrer Dankesrede aus, als sie 2007 den Kyoto Prize überreicht bekam: »Dance, dance. Otherwise we are lost.« Wim Wenders verwendet es als Untertitel für seinen Film Pina: Dance, dance, otherwise we are lost, a film for Pina Bausch. 2011. Vgl. Christine Bell, Visible Women, S. 107. Meg Stuart, Damaged Goods, Do Animals Cry, eine Tanz-Performance, aufgeführt im Rahmen der Wiener Festwochen 2010, Halle G im MuseumsQuartier Wien. Produktion Damaged Goods, Brüssel; Dramaturgie Bart Van den Eiynde, Bühne Doris Dziersk; Mitarbeit Bühne Rita Hausmann; Kostüme Nina Gundlach; Musik Hahn Rowe; Licht Jan Maertens, mit Joris Camelin, Alexander Jenkins, Adam Linder, Anja Müller, Kotomi Nishiwaki, Rank Willens; Choreographie Meg Stuart. Ebenda, Gedächtnisprotokoll der Aufführung vom 21. Mai 2010. Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Anthropologisches Wissen – mit Jerzy Grotowski, Ariane Mnouchkine und Carmelo Bene«, in: Episteme des Theaters, S. 529–538. Hier wird nicht nach dem Warum, sondern nach dem Wie des Seins gefragt.
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Betroffenheit und Stellvertretung (Schlingensief, Bene, Grotowski)
Warum wir sterben müssen, warum ich sterben muss, fragte ganz im Sinne katholischer Tradition auch der empfindlich getroffene Theatermacher Christoph Schlingensief nach seiner Krebsdiagnose mit der ihm eigenen künstlerischen Konsequenz und ästhetischen Vehemenz. Im Rahmen des Theaters tat er dies zunächst mit dem Projekt Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir und ein Jahr darauf mit Mea Culpa 74; und er schrieb parallel dazu Krebstagebücher.75 Sonntag, 27. Januar Wenn ich mir meinen Tod als Bild vorstelle, sehe ich mich eigentlich immer auf der Bühne, während ich den eigenen Tod als Stück inszeniere: Einer sitzt in seinem Stuhl, die Sterne sind zum Greifen nah, es zirpt, es ist heiß, und er stirbt. Das ist alles, kein religiöses Brimborium, es dauert eine Stunde oder zwei, das Publikum weiß nicht, was das soll, viele machen sich schon vor dem Ende auf den Weg nach Hause, und trotzdem: Das ist im Moment für mich das schönste Bild überhaupt.76
Im Theater kann eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Tod stattfinden. Ob dabei der eigene bevorstehende oder ein literarischer Tod inszeniert wird, ist nur ein gradueller Unterschied. So jedenfalls sieht es der mit Schlingensief befreundete Dramaturg Carl Hegemann. Er sagt, im Theater werde ohnedies stets mit dem Tod (um-) gegangen. Die Konfrontation mit einer lebensbedrohlichen Diagnose und dem höchstwahrscheinlich baldigen Lebensende jedoch, wie im Falle Schlingensiefs, ändert für die betroffene Person alles. Als wären die Karten zum letzten Mal neu gemischt worden, hat ein endlos tief greifender Paradigmenwechsel stattgefunden, und die unsagbare Herausforderung, die dieser bedeutet, könnte existenzieller nicht sein. Eins ist allerdings klar: Man kann nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, auch wenn Carl [Hegemann] vorhin meinte, wir hätten in unserer Arbeit ja immer schon mit dem Tod zu tun gehabt. Er sagte wunderbar lakonisch: Wir bringen uns auf der Bühne um und gehen nachher Pizza essen. Im besten Fall war das auch so. Aber genau da setzt der Wechsel ein. Jetzt ist etwas passiert, da kann ich im Anschluss an die Probe nicht einfach Pizza essen gehen und so tun, als sei nichts. Ich kann auch nicht auf der Bühne rumtoben und Tod spielen. Das geht nicht mehr, zumindest nicht so, wie ich das bis jetzt gemacht habe.77
74 Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir, Uraufführung 21. September 2008; Mea Culpa – eine ReadyMadeOper, 20. März 2009, beide Burgtheater Wien. 75 Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein! 2009 und ders., Ich weiß, ich war’s posthum 2012. 76 Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!, S. 73. 77 Ebenda, S. 145–146.
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Theater kann ohne unmittelbare Betroffenheit und ohne thematischen Reigentanz mit dem Tod78 von ihm gezeichnet sein, d. h. von einer »unendlichen Einsamkeit« und »einer Aura des Todes«79. Beides sind Charakteristika, die auf Carmelo Benes Theaterschaffen insgesamt zutreffen. Bene selber will diese Aspekte allerdings nicht als Idee oder Programm verstanden wissen. Die Traurigkeit ist in mir, existiert von Beginn an, ist eine Notwendigkeit: Sie repräsentiert mehr als ein bloß individuell oder existentiell Gegebenes … sie ist kosmisch, ewig. Sicher, es gibt auch viel Pessimismus: Heute im Theater, nicht nur in Italien, sondern in Europa, auf der Welt, gibt es nichts anderes als ein Durcheinander, ein großes Durcheinander aus dem wir – so glaube ich – nie mehr herauskommen werden. So stirbt Mercutio nicht, er kann nicht sterben, so wie auch die anderen nicht sterben […].80
Für Christoph Schlingensief folgte der Diagnose und damit der von außen gesetzten Gewissheit eine von innen ausgehende persönliche und künstlerische Schlussfolgerung. Er verblieb trotz aller Ängste und Be-Fremdung vor allem bei seinen Gedanken, die ihm wichtig waren und die er kontinuierlich niederschrieb. Oft war das Einzige, was er tun konnte, auf dem Sofa zu liegen und »Gedanken zu denken«.81 So drehte sich bei ihm alles um eine profunde inhaltliche Auseinandersetzung mit und eine damit einhergehende theatrale Umsetzung mit der Entropie, der Vergänglichkeit jedes Seins, ihrer Verarbeitung, ihrer Integration in Leben und Kunst, von dem Tod und verschiedenen Seinsweisen, ausgehend von seiner persönlichen Situation. Dies geschah auch dann, wenn er versuchte, im Positiven zu begreifen, wie sehr sich mein Blick auf die Welt geändert hat seit ein paar Wochen, wie viel mehr ich schon jetzt über mich und die Welt weiß. Die ist nun für mich vielleicht in drei Jahren zu Ende, vielleicht auch schon in einem Jahr, vielleicht auch erst in fünf – das weiß ich ja nicht. Aber ich weiß, dass ich, solange ich noch lebe, diese Welt etwas anders anschauen werde, vielleicht auch wie das Kind auf der Intensivstation etwas mehr auf Zehenspitzen über die Erde laufen werde.«82
Wenngleich christlich erzogen, konnte Schlingensief nichts von seinem Kummer abgeben, er ging bis zuletzt seine Schritte nicht nur eigenständig, sondern auch 78 Vgl. zu Darstellungen des Todes im Mittelalter die Bilderfolge »Totentanz« (Imagines mortis) von Hans Holbein d. J., Totentanz, 2003; sowie vgl. Der tanzende Tod, Mittelalterliche Totentänze, 1983. 79 Diese beiden Ausdrücke verwendet Elena de Angeli während des Interviews mit Carmelo Bene, vgl. dies., »Non si può morire«, in: Carmelo Bene, Panta, S. 65–69, hier S. 65. (Orig. ital.: »infinita solitudine«) (Orig. ital.: »un’aura di morte«) 80 Ebenda, S. 65–66. (Orig. ital.: »La tristezza è in me, esiste a priori, è una necessità: rappresentata molto più di un dato individuale o esistenziale … è cosmica, immanente. Certo, c’è anche molto pessimismo: oggi in teatro, non solo in Italia, ma in Europa, nel mondo, non c’è che confusione, una gran confusione dalla quale non credo che si uscirà mai. Così Mercuzio non muore, non può morire, come non muoiono gli altri […].«) 81 Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!, S. 61. 82 Ebenda, S. 102.
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eigenwillig – künstlerisch ebenso wie im Leben. Dabei hätte die katholische Kirche ein Angebot, eine erlösende Idee: einen Gottessohn, der für die Menschheit gestorben und wieder auferstanden ist. Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir als Reenactment von Golgatha, ein Fluxus-Oratorium: Schlingensief errichtet eine Kirche und dekonstruiert damit das Wesenhafte bzw. das Gestaltungsprinzip jeder Kirche, insbesondere der christlichen. Die innere Architektur der Kirche, die Angst vor dem Fremden und dem Abgrund bieten Zuflucht, Schutz, Trost. Mehrdeutig ist die Auseinandersetzung von Schlingensief mit der Kirche, und die Welten verkehren sich: Unbekanntes manifestiert sich. Es ist der Versuch einer Selbsterrettung des von der (das Subjekt unterwerfenden) Kirche zugerichteten jungen Christoph. Eine ähnliche Auseinandersetzung, jedoch auf einer sexuellen Ebene, findet sich bei dem österreichischen Künstlers und Kultmoderators Hermes Phettberg. Immer ist der sterbende Christus das erlösende Symbol. Eine eindrucksvolle Sequenz, die den sterbenden Stellvertreter namens Christus in einer etwas anderen theatralen Situation zeigt, ist im Klangraum Action des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards zu sehen und zu hören. Die Sterbeszene wird über die ganze Länge einer Aufführungsstruktur vorbereitet, bis Mario Biagini sich in eine Christus-Figur verwandelt – was überrascht, weil er gar nicht der Main Doer ist.83 Dieser Part wird indes von Thomas Richards übernommen. Er beginnt als am Stock gehender alter Mann84 mit dem Greisengesang und schließt als Säugling mit einer Rassel und dem Kindergesang:85 vom Ende zum Anfang eines Menschenlebens. Der am Stock gehende Greis trat schon im Laboratorium in Polen in Erscheinung, damals mit Ryszard Cieślak als Simpleton in Apocalypsis cum figuris, und er begleitete Grotowski nach Italien und in Action, ausgeführt von Thomas Richards. Das Ende der Handlung, d. h. der erarbeiteten Struktur von Action, wird mit dem Tod und der Entstehung durch den zweiten Doer, den Partner des Main Doers angezeigt. Die beiden verschmelzen symbolisch zu einer Figur. Es ist ein besonderer Tod, ein besonderes Sterben, das hier vorgeführt wird. Der Körper des Partners (Mario Biagini) verfällt und verwest rasant, was im Zeitraffer sichtbar gemacht wird. Dem Sterben des Fleischlichen 83 »Was die Personen anbelangt, die in die Kunst als Fahrzeug direkt mit einbezogen sind, so denke ich an sie nicht als ›Schauspieler‹, sondern als ›Handelnde‹ (die, die handeln), weil ihr Bezugspunkt nicht der Zuschauer ist, sondern der Weg in die Vertikalität.« Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 115–135, hier S. 214. 84 Lisa Wolford beschreibt dies folgendermaßen: »[…] wird Richards als ein alter Mann, verkrüppelt und gebrechlich, geboren. In dem Augenblick nach der Geburt steht er mit dem Stock in der Hand schweigend da.« Lisa Wolford, »Action. Der nicht darstellbare Ursprung«, in: Über das Workcenter of Jerzy Grotowski. Flamboyant, Heft 5 / Herbst 1996, S. 9–31, hier S. 15. 85 Vgl. Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 115–135, hier S. 202.
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Mario Biagini (vorne) und Thomas Richards als Main Doer (hinten) in Action 1995 (Foto Alain Volut)
folgt die Auferstehung des gekreuzigten Leibes auf der Bühne: Biagini wirft sich am Rande des zentralen Geschehens rücklings auf den Boden, zieht die Beine an, Knie leicht angewinkelt. Die Hände drückt er mit dem Rücken nacheinander auf den Boden. Wenn der Handrücken den Boden berührt, ist ein Schlag zu hören, gleich dem Einschlagen eines Nagels in die Hand. Biagini dreht den Kopf leicht nach rechts. Er vollzieht seine Bewegungen im Rhythmus des Sprechens. Auf dem Höhepunkt dieser Szene hebt sich der ans Kreuz genagelte Biagini langsam vom Boden. Sein Kopf und die Schulterblätter berühren zu diesem Zeitpunkt also den Boden nicht mehr. Er gleicht dem ans Kreuz genagelten Christus. Er spricht mit gepresster, aber fester Stimme rasch, aber bestimmt, die Worte aus dem Thomas-Evangelium, die die Jünger und Jesus miteinander wechseln: »›Sage uns, wie wird unser Ende sein?‹ | ›Habt ihr denn schon den Anfang entdeckt, daß ihr jetzt nach dem Ende fragt? | Denn wo der Anfang ist, dort wird auch das Ende sein.‹«86
86 Vgl. Logion 18 (36, 9–17) | (1) Die Jünger sprachen zu Jesus: »Sage uns, wie wird unser Ende sein?« | (2) Jesus sprach: »Habt ihr denn schon den Anfang entdeckt, daß ihr jetzt nach dem Ende fragt? Denn wo der Anfang ist, dort wird auch das Ende sein. | (3) Selig ist der, der im Anfang stehen wird. Da wird er das Ende erkennen, und er wird den Tod nicht schmecken.« Jens Schröter / Hans-Gebhard Bethge, »Das Evangelium nach Thomas (NHC II, 2)«, in: Nag Hammadi, S. 151–181, hier S. 167.
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Maja Komorowska und Ryszard Cieślak in Książę Niezłomny (Der standhafte Prinz) 1965 (© Teatr Laboratorium / Archiwum Instytutu Grotowskiego)
Erst im Augenblick des Sprechens, im Akt des Wortes wird er eindeutig zum Gekreuzigten. Erst jetzt wird Jesus zitiert. Biagini evoziert damit ein Bild, das weltweit bekannt und entsprechend interpretierbar ist. Lisa Wolford, die 1995 Action als Zeugin gesehen hat, beschreibt die Schlussszene in ihrem Bericht Action. Der nicht darstellbare Ursprung so genau wie möglich und nennt sie »Epilog«. 1995 wurde der Part, den später Biagini übernommen hat, noch von Jérôme Bidaux ausgeführt. Epilog: Bidaux steht auf, geht hinüber zu Richards, um die herausfordernde, halb spöttische Frage vorzubringen: wie das Leben wohl enden werde. Als Richards nicht antwortet, geht Bidaux hinüber zu den Zeugen, gleichsam um die Frage selbst zu beantworten. Die Köpfe der Zeugen musternd, spielt er eine Szene, die das Alter und das Vergehen des Körpers andeutet; von seinen Handlungen distanziert er sich etwas, als wenn er über die Rolle / Situation, die er darstellt, sich kritisch äußerte. Die Worte des Textes, in welchem Anfang und Ende verbunden sind, werden durch diese Vorführung eines beschleunigten Verfallsprozesses unterminiert. Der Schauspieler liegt auf dem rotgetäfelten Boden, jedes seiner Gliedmaßen wird dabei der Reihe nach abrupt hervorgezogen, bis er die Stellung des gekreuzigten Christus annimmt, wobei sein Körper zusammenzuckt, während die Nägel zuerst eine Hand durchbohren und dann die andere, dann seine Füße. Während die Szene sich entwickelt, fährt er mit einem Text fort, der von Segnung spricht, davon, dem Tod zu entgehen. Die Gegenüberstellung von Text und Handlungen macht das Ganze ambivalent, fragwürdig. Die Worte, die er spricht, werden Jesus zugeschrieben, und dennoch scheint der Schauspieler zu fragen: »Falls sein Leben auf diese Weise endet, was nutzte ihm dann solche Weisheit?« Bidaux setzt sich, blickt nach vorn, schaut auf seine »verwundeten« Hände. Sein Gesicht ist zu einem ironischen Lächeln verzerrt – ein kleines Lachen, gefolgt von einer einzigen
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Silbe der Ablehnung: »Nein.« Ablehnung dieses Weges, dieses Schicksals, Ablehnung all dessen, was vorangegangen ist (selbst der gesamten Action).87
Da das Workcenter of Jerzy Grotowski (später Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards) unter Richards die 1995 bereits fixierte Aufführungsstruktur von Action zehn Jahre mit teils wechselnder Besetzung durchgehend praktiziert hatte, also auch noch Jahre nach Grotowskis Tod, kann Antonio Attisani diese Sequenz erneut in den Jahren 2003–2006 als Zeuge verfolgen und schriftlich festhalten. Dabei stellt er fest, dass weder Prolog noch Epilog gesungen werden.88 Beide Teile, jeweils von Mario Biagini ausgeführt, sind gesprochene Texte. Dies bildet einen starken Kontrapunkt zum Hauptteil von Action, der durchgängig bestimmt ist durch alte, rituelle Lieder mit körperlich-sinnlich-leibhaftiger Wirkung, die »im Organischen verwurzelt«89 sind. Die Lieder choreografieren und strukturieren Action. Attisani sieht in dem Epilog eine Verbindung zum Anfang. »Im fünften Teil oder Epilog nimmt Biagini den Faden des Beginns wieder auf.«90 Er bezieht auch eine inhaltliche Referenz mit ein: »Zuerst gab es die Fragen nach dem Ursprung und dem Sinn, jetzt ist es die Frage nach dem Ende, was ist es, was mag kommen? Was werden die Konsequenzen sein?«91 Biagini spricht den Text in einem Wort für Wort übersetzten Englisch. Dies lässt sich als charakteristisch für den Umgang mit Text und Sprache des Workcenters nach Grotowskis Anleitung bezeichnen. Tell us, but our end will be how? Have you uncovered out, then, the beginning, that you look for the end? But in the place which is the beginning, there the end will be, there! Blessed one is he who will stand at the beginning and he will know the end and he will not get the taste of death.92
Die Begründung für diese Vorgehensweise, erklärt Biagini in der kurzen Einführung zu Beginn, liege nur im Klang der einzelnen Worte,93 den Sinn stifte der Klang. Die Materialität der Sprache, des gesprochenen Wortes steht hier im 87 Lisa Wolford, »Action. Der nicht darstellbare Ursprung«, in: Über das Workcenter of Jerzy Grotowski. Flamboyant, Heft 5 / Herbst 1996, S. 9–31, hier S. 22. 88 Vgl. »Nel Prologo, Biagini non canta, come non canterà nell’Epilogo«, aus Antonio Attisani, »Action in sè «, in: Opere e sentieri. Il Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, S. 131– 170, hier S. 141. 89 Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 115–135, hier S. 204. 90 Antonio Attisani, »Action in sè «, in: Opere e sentieri. Il Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, S. 131–170, hier S. 147. (Orig. ital.: »La quinta parte o Epilogo vede Biagini riprendere il filo dell’inizio.«) 91 Ebenda. (Orig. ital.: »Allora ci si era chiesti dell’origine e del senso, ora è questione della fine: cos’è come avverrà? quali le sue conseguenze?«) 92 Zit. n. ebenda. 93 Darum wird hier keine Übersetzung angeboten.
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Raum, einzeln und un-intoniert, anders also als Benes Phonè (Klang). Das Wort (Signifikat) bezeichnet für Grotowski kein »Etwas« (Signifikant), sondern Worte spielen als Phonè, als Klang insofern eine Rolle, als sie körperliche Impulse setzen. Sie produzieren Innerkörperlichkeit. Bene geht es ums Hören, wobei das eigene Hören den Umweg, die eigene Stimme von außen zu hören, braucht. Grotowski bezieht sich auf die vormoderne, archaische Sprache. Er will den menschlichen Körper durchdringen und die Spaltung in Tier und Mensch aufheben. Also bedarf es weder einer stilistisch bzw. linguistisch einwandfreien inhaltlichen Übersetzung in die jeweilige Zielsprache, noch handelt es sich um ein Verfahren der Verfremdung. Für das Workcenter und Grotowski ist dieser Übersetzungsvorgang seriös und ausreichend. Attisani konnte während des dreijährigen EU-Projekts94 Action mehrmals und an verschiedenen Orten sehen. Er blieb seinen Berichten zufolge nicht »unberührt« davon. Über den oben erwähnten Epilog schreibt er unmittelbar danach, man wohne hier etwas Grauenvollem bei.95 Biagini ist ein Mann, der am Kreuz getötet wird, überwältigt von Angst und Schrecken, der seinen letzten Atem aushaucht und dann, in einem gegenteiligen Rhythmus, der jeglichen Raum der Urteilskraft entzieht, wacht er wieder auf, betrachtet seine unversehrten Hände und lacht. Sein erstauntes »Nein!« kann vieles bedeuten, vom Nicht-Wissen, was denn passiert ist, ob es ein Traum war, bis hin zum Verstehen des im Text verborgenen Sinns. Seine Kolleg_innen, Zeug_innen dieses Enigmas, verlassen schnell die Szene von hinten, nachdem sie alle gemeinsam diese letzten Verse wiederholt haben.96
Attisani widerspricht in diesem Punkt Wolfords Interpretation des »No« (Nein) im Sinne einer Ablehnung all dessen, was vorangegangen ist, einschließlich Action. Wofür oder wogegen auch immer Biaginis »Nein« stehen mag – es bleibt eine Verneinung. Hier wird auf eindrückliche Weise deutlich, dass nicht immer mit Worten operiert oder auf Bilder referiert wird, die eindeutig zuordenbar sind oder gar für alle Anwesenden nachvollziehbar sein müssen. Somit rückt das Konzept einer schlüssigen (Bild-Lied-) Montage, das für die Zusehenden und für eine oder deren Vorstellung gedacht ist, immer mehr in den Hintergrund zugunsten eines offenen Konzepts des art as vehicle, das nur noch für die Doers gedacht und gebaut ist. 94 Vgl. FN 251 im Kapitel »Räume und Visionen«. 95 Antonio Attisani, »Action in sè «, in: Opere e sentieri. Il Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, S. 131–170, hier S. 147. (Orig. ital.: »Si assiste ora a qualcosa di agghiacciante.«) 96 Ebenda, S. 147–148. (Orig. ital.: »Biagini è un uomo messo a morte in croce, sopraffatto dalla paura e dall’orrore, che esala il suo ultimo respiro e poi, in un controtempo che toglie ogni spazio al giudizio, si risveglia, si guarda le mani non più trafitte, sorridente. Il suo ›No!‹ stupito può significare molte cose, dal non sapere se ciò che è accaduto è stato un sogno alla comprensione del senso riposto del testo. I suoi compagni, testimoni di questo enigma, dopo avere ripetuto tutti assieme questi ultimi versi, escono velocemente dal fondo.«)
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Schauspielen und (finale) Transformation
Dem Laboranten Grotowski war es ein großes Anliegen, Herkunft und Sinn aus Texten, Handlungen, Stimmen und Bewegungen zu entfernen, um ihre unmittelbare, essenzielle Wirkung zu entdecken und zu erforschen. »Das Wesen interessiert mich«, sagt er, »weil es nichts Soziologisches hat. Es ist etwas, was man nicht von anderen erhielt, was nicht von außen kam, was nicht erlernt ist.« Er präzisiert sein Ziel: »Im reiferen Alter ist es allerdings möglich, vom Körper-und-Wesen überzugehen zum Körper des Wesens. Und dies als Ergebnis einer schwierigen Entwicklung, einer persönlichen Umwandlung, die gewissermaßen Aufgabe eines jeden ist.«97 Er geht davon aus, dass »die Essenz« auch bzw. gerade dann anwesend ist, wenn Bedeutung und Sinn sich als Abwesende präsentieren, also nicht irreführen, sondern der Entwicklung zum Wesen förderlich sind. Daher muss angenommen werden, dass das Christus-Szenenbild vorab aus dem Korsett seiner möglichen Bedeutungsstrukturen befreit wurde, auch wenn das vielleicht nicht vollständig gelungen ist. Das letzte Bild, als Epilog gesetzt, zeigt – mindestens und im besten Fall höchstens – den Tod, den Leib und die Wiederauferstehung durch das Einverleiben der Gottheit, durch den Leib Christi. […] im Christentum läßt sich der enge Zusammenhang zwischen Tod, Körper und Kannibalismus nachweisen. Im Ritual des Abendmahls wird der Leib Christi gegessen. Er stellt das Opfer Christi für eine durch den Glauben an diese Opfer konstituierte Gemeinschaft dar.98
An einer Erprobung eines Dortseins, während die Doers im Hier sind, wird gearbeitet. Die Bilder, die nach außen entstehen, können nach wie vor von Zusehenden (bzw. Zeug_innen) wahrgenommen und erkannt werden. Grotowski geht es jedoch vor allem um die innere Schwingung des Ausführenden, der sich in diesem Fall mit den Füßen und Händen an den Boden genagelt zu erheben versucht. Je mehr innerhalb der Aufführungsstruktur gehandelt wird, der »Performer mit großem P« oder der »Mann der Tat«99 am Werke ist, desto mehr wandelt sich hic et nunc in ibi et postea. Weniger metaphysisch bleibt Carmelo Bene als jugendlicher Rebell in seiner Auseinandersetzung mit Christus im hic et nunc. Abgesehen von dem Zwischenfall, der wie ein Happening gewirkt und zu ein paar Zeilen in den Tageszeitungen über den Anti-Christen und zu einem Eintrag in den Polizeiakt geführt hatte, ist sie wohl als Ant-i-Wort, ähnlich Grotowskis »Nein«, auf das (süd-) italienische omnipräsente Abbild des Gottessohnes zu verstehen. Bene bleibt also sehr weltlich, leiblich, nicht abgehoben, (noch) nicht transzendent, dafür aber intellek tuell provozierend. Noch interessiert ihn das Verschwinden von der Bühne nicht. 97 Jerzy Grotowski, »Der Performer«, in: Der sprechende Körper, S. 43–45, hier S. 44. 98 Christoph Wulf, »Körper und Tod«, in: Die Wiederkehr des Körpers, S. 259–273, hier S. 262. Wulf verweist an dieser Stelle auf Georges Bataille, Der heilige Eros, Darmstadt bei Neuwied 1963 und ders., Das theoretische Werk, Band 1, Die Aufhebung der Ökonomie, München 1975. 99 Grotowski, »Der Performer«, in: Der sprechende Körper, S. 43–45, hier S. 43.
Den Tod vor Augen 199
Sein Christus in Cristo 63 liegt ebenfalls auf dem Boden: rücklings, mit Kopf zum Publikum, blasphemisch, leiblich, lüstern, trinkend und rauchend. In den 1960er-Jahren war es durchaus üblich, dass in Theateraufführungen geraucht und Alkohol getrunken wurde.
Alberto Greco und Carmelo Bene (am Kreuz) in Cristo 63 (Foto Claudio Abate)
Auch Ariane Mnouchkine zitiert den toten Jesus Christus in einer ihrer Shakespeare-Inszenierungen. Dieses Bild bleibt jedoch angesichts der spektakulären Gesamtinszenierung eher schlicht, eine kleine szenische Einstellung am Ende von Richard ii, dennoch einprägsam und »überzeugend«, wie C.B. Sucher sagt: »Der überzeugendste dieser wenigen Augenblicke: Bolingbroke hält den ermordeten Richard in den Armen wie Maria den Leichnam Christi.«100 100 C. Bernd Sucher, »Keine Heimat für Viola und Richard«, in: ders., Das Theater der achtziger und neunziger Jahre, S. 28–31, hier S. 31.
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Schauspielen und (finale) Transformation
Théâtre du Soleil: George Bigot, John Arnold und Cyrille Bosc in Richard ii 1981 (Foto Michèle Laurent)
Das Wie, nicht das Warum des Sterbens (Verhandlung, Inszenierung)
Mnouchkine inszeniert Sterbeszenen als große Theatermomente. Kane beschreibt die Unumstößlichkeit des Todes mit bizarren, grausamen Bildern. Bene oder auch Kleist nähern sich dem Thema Tod auf intellektuelle Weise, sie verhandeln, (be-) sprechen, (be-) fragen. Für Schlingensief stellt sich die Frage akut existenziell, und er agiert sie inszenatorisch aus. Grotowski sieht sich als ein zwischen zwei Welten vermittelnder Brückenbauer. Sie alle eint jedoch eine fundamentale Unklarheit in der Auseinandersetzung mit der Endlichkeit des Lebens schlechthin. Der Motor für ihr Schaffen ist nicht Keinwissen um den Tod, sondern ein Nichtwissen darum. Bekannt ist nur der prinzipielle Umstand der eigenen Sterblichkeit. Die jahrhundertealte Frage nach dem Warum ist bis heute virulent, der Sinn gleichermaßen unerschlossen. Die Ausgangsparameter ruhen trotz unterschiedlicher Perspektiven und Zugänge auf demselben Untergrund: Von einer Transformation des menschlichen Körpers (sowie der Körper aller Lebewesen) kann mit Gewissheit ausgegangen werden. Und dieser Körper – d. h. der (noch) nicht vermessene, (noch) nicht tote, der auf der Bühne einen Leib erstehen lässt – ist es, aus dem Theater gemacht
Den Tod vor Augen 201
wird. Mit diesem Körper101 gilt es umzugehen, während er der Transformation unterliegt, sich transformiert, d. h. verfällt. Mnouchkine, Bene und Grotowski stellen mit ihrer Herangehensweise nicht die philosophisch-metaphysische Frage nach dem Warum vorrangig, sondern wagen experimentierfreudig-kreativ, nach dem Wie zu forschen, ohne in Anbetracht der generell verbreiteten Sinnfrage ins Fatalistische zu kippen.
101 Vgl. zur Thematik wie Begriffsbestimmung in den unterschiedlichen Fachrichtungen von »Körper und Leib« Gerda Baumbach, »Leib und Körper, Körper und Seele«, in: dies., Schauspieler, S. 175–187; Thomas J. Csordás, »Embodiment as a Paradigm for Anthropology«, in: Ethos, Vol.18, No. 1, 1990, S. 5–47; und ders., »The Body’s Career in Anthropology«, in: Anthropological Theory Today, S. 172–205; Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 1966; Rudolf von Lippe, Vom Leib zum Körper, 1988; Die Wiederkehr des Körpers, 1982; Erika-Fischer Lichte, »Verkörperung / Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen in eine neue kulturwissenschaftliche Kategorie«, in: Verkörperung, S. 11–25; und dies., »Verkörperung«, in: Metzler Lexikon Theatertheorie, S. 379–382; Julia Stenzel, »Embodiment. Von der Produktivität interdisziplinärer Missverständnisse«, in: Theater / Wissenschaft im 20. Jahrhundert, S. 347– 358; und vgl. auch Bernhard Waldenfels, Das leibliche Selbst, 2000; sowie Jean-Luc Nancy, Corpus, 2007 (Orig. Corpus, Éditions Métailié, Paris 2000) – vgl. FN 215.
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Schauspielen und (finale) Transformation
Souverän sterben Sterben und Tod (Prozess und Unbehagen)
Der Prozess des Sterbens ist die letzte aller bekannten und sichtbaren Transformationen des menschlichen Körpers, des Lebens generell. Oft wird Sterben mit Tod gleichgesetzt, denn »die anthropologische Universalisierung des Todes setzt gewöhnlich eine Operation voraus, deren Legitimität zweifelhaft bleibt: Sie identifiziert den Begriff des Todes mit dem Begriff der Sterblichkeit.«102 Sterben steht jedoch für einen Übergang vom Leben zum Tod und mündet in den Verwesungsprozess des Körpers, der auch einmal Leib gewesen ist.103 Die Sichtbarkeit des Sterbens, einst »öffentlicher Vorgang im Leben des Einzelnen«, wurde seit »der Neuzeit aus der Merkwelt der Lebenden immer weiter herausgedrängt«104. Auf diese Art und Weise kam es zu einer »Verwilderung des Todes«105. Doch auch Prozesse wie Altern,106 Erkranken, Genesen, Gebären oder Wachsen sind transformatorische Vorgänge des Körpers und des Werdens, die laut Ariès zunehmend verwildern. Allerdings bleibt hierbei der Körper erhalten, und je nach Prozessverlauf geht er gestärkt oder versehrt daraus hervor.107 Die zivilisatorischen Gesellschaften des ausgehenden 20. Jahrhunderts in Europa und anderen Teilen der Welt nehmen diese Prozesse kaum bis gar nicht mehr wahr. Obwohl im Zuge von Kolonialisierung, industrieller Revolution, zerstörerischer Weltkriege und vor allem der NS-Diktatur mit ihrer grauenhaft-brutalen, menschenvernichtenden Logik allgegenwärtig, sind sie aus dem individuellen und kollektiven Bewusstsein nahezu verbannt bzw. verdrängt worden.108 Transformatorische körperliche Prozesse, sofern sie nicht der Verbesserung entlang gängiger Schönheitsparameter dienen bzw. einer kommerziellen Verwertungs logik folgen, werden im Alltag heute weitgehend vergeblich gesucht.109 Wenn 102 Thomas Macho, »Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich«, in: Jan Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, S. 89–120, hier S. 93. 103 Vgl. Rudolf zur Lippe, Vom Leib zum Körper, 1988. 104 Thomas Macho, »Tod«, in: Vom Menschen, S. 939–953, hier S. 940. 105 Vgl. Philippe Ariès, Geschichte des Todes, 2009; sowie vgl. Thomas Macho, »Tod«, in: Vom Menschen, S. 939–954, S. 951. 106 Vgl. z. B. Silvia Bovenschen, Älter werden, Notizen, 2006. Dank an Nicole Kandioler für diesen Literaturtipp. 107 Marschall verwendet in diesem Zusammenhang die Termini leidender und versehrter Mensch, Gedächtnisprotokoll d. A. 12. März 2014. 108 Vgl. »[…] nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«, Theodor W. Adorno, »Kulturkritik und Gesellschaft«, in: ders., Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, S. 7–31, hier S. 31. 109 Und dennoch werden »Totenkulte just im 20. Jahrhundert neu etabliert.« Thomas Macho, »Tod«, in: Vom Menschen, S. 939–954, hier S. 952. Er nimmt in diesem Zusammenhang Bezug auf G. L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben. Stuttgart 1993
Souverän sterben 203
Norbert Elias »Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen« (Herv. d. A.) nachdenkt, widmet er sich der »Verdrängung des Todes«: Wenn man heute von der »Verdrängung« des Todes spricht, so gebraucht man diesen Begriff, wie mir scheint, in einem doppelten Sinn. Man kann dabei eine »Verdrängung« auf der individuellen und auf der sozialen Ebene im Auge haben.110
Er zählt Varianten des Umgangs mit dem Tod auf: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, daß jedes Leben, also auch das der Menschen, die man liebt, und das eigene Leben, ein Ende hat. Man kann das Ende des menschlichen Lebens, das wir Tod nennen, durch die Vorstellung eines gemeinsamen Weiterlebens der Toten im Hades, in Wallhalla [sic], in der Hölle oder im Paradies mythologisieren. Das ist die älteste und häufigste Form des menschlichen Bemühens, mit der Endlichkeit des Lebens fertigzuwerden. Man kann versuchen, dem Gedanken an den Tod dadurch aus dem Wege zu gehen, daß man das Unerwünschte so weit als möglich von sich weist – es verdeckt und verdrängt; oder vielleicht auch durch den festen Glauben an die eigene persönliche Unsterblichkeit […]111
Baudrillard verweist in diesem Zusammenhang auf Foucault, der in seiner Analyse der »wirklichen Geschichte der Kultur und Genealogie der Diskriminierung in der Arbeit und Produktion seit dem 19. Jahrhundert selber eine entscheidende Stellung«112 einnehme. Deshalb rangiere diese Analyse als herausragendes »Meisterstück«113. Baudrillard weiter dazu: Dennoch gibt es eine Ausschließung, die allen anderen vorhergeht, radikaler ist als die der Wahnsinnigen, der Kinder und der niederen Rassen, eine Ausschließung, die ihnen allen vorhergeht und ihnen als Modell dient, und die an der Basis selbst der »Rationalität« unserer Kultur steht: das ist die Ausschließung der Toten und des Todes.114
Verbannt aus dem öffentlichen Leben und dem philosophischen Diskurs, erscheinen Tod und Tote bzw. Sterbende dennoch kontinuierlich auf den Theaterbühnen und sind dort vermutlich gerade durch ihre Verdrängung aus dem Alltag imstande zu schockieren, wie dies beispielsweise die italienische Gruppe
und R. Koselleck / M. Jeissmann (Hrsg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1995. Macho schreibt weiter, »die Formen der funeralen Kultur hätten sich zwar in den modernen Subkulturen geändert, ohne doch jemals abgeschafft werden zu können«. Thomas Macho, »Tod«, in: Vom Menschen, S. 939–954, hier S. 952, mit Bezug auf B. Richard, Todesbilder. Kunst, Subkultur, Medien, München 1995. 110 Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, S. 16. 111 Von Norbert Elias eingangs gestellte Fragen zu seinen Überlegungen Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen, S. 9. 112 Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 197. 113 Ebenda. 114 Ebenda.
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Schauspielen und (finale) Transformation
Socìetas Raffaello Sanzio aufzuzeigen versteht.115 Fakt ist, dass der Tod, die Toten und das Sterben auch jenseits der Theaterwelten bewegen. Die äußerste Form leiblicher Veränderung muss akzeptiert werden, denn die Transformation vom Leib zum Leichnam, von Lebenden zu Toten ist ein nicht zu leugnender, (bio-) logischer Vorgang. Unbekannt ist lediglich, wann dieser einsetzt. »Wie ist es möglich«, fragt sich Jean-Luc Nancy, nachdem er sich einer Herztransplantation hat unterziehen lassen, »daß es für uns, die ›Entwickelten‹ des Jahres 2000, keine ›rechte Zeit‹ zum Sterben mehr gibt (zumindest dann nicht, wenn man jünger ist als achtzig Jahre, ein Alter, das sich weiterhin erhöhen wird)?«116
Gezähmter Tod (Von der Antizipation des Sterbens zur Emanzipation mit Hilfe der unsterblichen / untoten Maske)
Kulturgeschichtlich lässt sich der Umgang mit Sterben und Tod, das Verhältnis zwischen Lebenden und Verstorbenen in den unterschiedlichsten Anordnungen beobachten. In Europa wurde der Tod sukzessive »gezähmt«.117 Doch auch wenn in mannigfaltigen Facetten allgegenwärtig und dem Menschen inhärent, darf »ein kulturelles Verhältnis zum Tod – zum Bevorstehen des eigenen Todes wie auch des Todes anderer Menschen – nicht als ›anthropologische Konstante‹ definiert werden[,] denn erst in neuzeitlicher Aufbruchstimmung hat sich dieses antizipatorische Verhältnis zum Tod allgemein durchgesetzt«.118 In diese neue Zeit fällt auch der Beginn des Versteckens von Sterben, Tod und Verstorbenen, – mit dem Resultat, dass der Prozess zwar unsichtbarer wurde, der Tod jedoch in Gestalt seiner Protagonist_innen, der Verstorbenen und Ahn_innen, präsent
115 Vgl. z. B. die Inszenierung Sul concetto di volto nel figlio di Dio (Übers. laut Wiener Festwochen: Über das Konzept des Angesichts von Gottes Sohn) von Socìetas Raffaello Sanzio 2010 im Rahmen des Zyklus Il velo nero del pastore (Der schwarze Schleier des Hirten). Die Inszenierung der Geschichte eines Greises, der von seinem Sohn gepflegt wird, war in Wien 2013 im Rahmen der Wiener Festwochen im Burgtheater zu sehen. Ein Jahr später eröffnete dasselbe Theaterkollektiv mit der Oper Orfeo ed Euridice (Orpheus und Eurydike) von Christoph Willibald Gluck die Wiener Festwochen. Im Zentrum des Stücks steht eine sterbenskranke (Privat-) Person, die je nach Stadt und Bereitschaft ausgewählt wird. Sowohl der Weg zur ihr sowie sie selbst werden per Live-Streaming in die Aufführung einbezogen. In Wien war es eine Wachkomapatientin aus einem Wiener Geriatriezentrum, deren Gesicht man dem Publikum nicht präsentierte. »Sie lebt […] in jener Zwischenwelt, die wir nicht begreifen können, und soll den Zuschauer an die eigene Verletzlichkeit gemahnen.« (tv.orf.at) Vgl. dazu The Theatre of Socìetas Raffaello Sanzio, 2007. 116 Jean-Luc Nancy, Der Eindringling, S. 23. 117 Vgl. Philippe Ariès, Geschichte des Todes, 2009. Macho bezieht sich ebenfalls an verschiedenen Stellen auf Ariès. Vgl. auch Thomas Macho, »Tod«, in: Vom Menschen, S. 939–954, hier S. 951. 118 Thomas Macho, »Tod«, in: Vom Menschen, S. 939–954, hier S. 939.
Souverän sterben 205
geblieben ist.119 Diese sind und bleiben allen Widerständen zum Trotz anwesend, sie leben auf gewisse, d. h. auf ihre Art weiter. Zu den bekannten Ausdrucksvarianten dieses Präsentseins gehören Totenmasken.120 »Masken bezeugen die älteste Anschauung, welche die Menschheit vom Gesicht besaß«, schreibt Belting. Es ist ein von uns nach dem Tode angefertigter Abdruck unseres Gesichts, der uns als Abwesende zeigt und uns zu Anwesenden macht. Was frühe Kulturen, jenseits der Schriftlichkeit, über das Gesicht dachten, drückten sie in zeremoniellen Masken aus, mit denen sie Geistern und Ahnen ein Gesicht verliehen, um sie im Kult auftreten zu lassen. […] Masken dienten der Verkörperung von Geistern oder von Toten, die ihren Körper verloren hatten, durch ein offizielles Leihgesicht.121
Die (Toten-) Maske ist eine Verbindung zwischen Hier und Dort, dem Diesseits und Jenseits, und auch jenseits der Theaterbühne vermag sie Brücken von der einen in die andere Welt zu schlagen. Erst die Totenmaske, die zuerst am Schädel selbst, bald danach auch ohne Kopf-»Gerüst« produziert wurde, bildete das unsterbliche, dauerhaft »gültige« Gesicht, mit dessen Hilfe die Toten bei passender Gelegenheit »wiederkehren« konnten: sie wurden »verkörpert« und »bedeutet«, nicht bloß »gespielt«. Nicht umsonst galt Dionysos als Gott der Toten und als Gott der Masken.122
Die Idee, dass die Toten durch (Gesichts-) Masken und durch das Anlegen von Masken wiederum in den Lebenden weiterleben – im Gegensatz zu den Masken, die Toten zur Repräsentation ihres Abbilds aufgesetzt werden –,123 ist für Wulf »eine der unheimlichsten Vorstellungen, die jemals entwickelt worden sind«. Denn ihre Ausdrucksform ist nicht fassbar. Sie ist für Wulf allerdings »kein neues, sondern ein uraltes Schrecknis, besser bekannt unter seinem traditionellen Titel: Besessenheit.«124 Mnouchkine sagt, Masken würden durch die Schauspieler_innen sprechen, was im Grunde bedeutet, dass die Masken sich der Schauspieler_innen bemächtigen, sich zumindest über Gesichter oder reine Gesichtsmasken hinaus wirkmächtig entfalten. Im Theaterkontext geht es stets um Masken, die den ganzen Körper und nicht nur das Gesicht als Antlitz betreffen.125 119 Harmlose und verharmlosende Darstellungen zunächst in Romanen und später auch in Filmen und TV-Serien lassen Untote effektvoll auftreten. So gibt es im 20. / 21. Jahrhundert nach wie vor den oversexed and underfucked begehrten Vampir. Vgl. hierzu u. a. die Forschungen von Rainer M. Köppl, Der Vampir sind wir. Der unsterbliche Mythos von Dracula biss Twilight, 2010. 120 Vgl. Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, 2013. 121 Ebenda, S. 44. 122 Thomas Macho, »Tod«, in: Vom Menschen, S. 939–954, hier S. 950. 123 Vgl. Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, S. 46. 124 Thomas Macho, »Tod«, in: Vom Menschen, S. 939–954, hier S. 952. 125 Zum Diskurs über Maske, Gesamtkörpermaske und Ganzkörpermaske vgl. Gerda Baumbach, Seiltänzer und Betrüger, S. 158; dies., »›Seid gegrüßt, Maske!‹ Zur Maskenproblematik in der
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Schauspielen und (finale) Transformation
Die Beziehung zwischen Masken und (Bühnen-) Akteur_in ist entscheidend für die Präsenz der Maske auf der Bühne. Masken sind imstande, auf die Schauspielenden einzuwirken, auch wenn diese wechseln, sie bestimmen deren Transformationsprozesse. »Die Präsenz der Maske bedarf der Absenz ihres wechselnden Trägers. Masken übernehmen am Körper noch entschiedener die Führung, als es das Gesicht vermag, und regieren über den Körper, der sie trägt.«126 In diesem Sinne kann Mnouchkine auch behaupten, es seien die Masken, die durch die Schauspielenden sprechen, nicht umgekehrt. »Die Masken sind göttliche Gegenstände! Es ist vielleicht ein Aberglaube[127], aber auch eine poetische Strategie. Alle, die mit der Maske zu tun hatten, räumen ein: Es ist nicht der Schauspieler, der durch die Maske spricht, sondern umgekehrt.«128 (Herv. d. A.) Wer oder was betritt die Bühne und handelt, wer oder was erzählt wessen Geschichte, und wer oder was spricht? Wie nahe kommen die Schauspielenden expressis verbis der Welt der Masken, der anderen Welt, und auf welche Weise? Betreten sie sie, und verlassen sie sie wieder?129 Wenn Grotowski Masken ablegen lässt, damit sie nicht auf Schauspielende wirken können, meint er damit gewohntalltägliche, soziale wie bürgerliche Masken, keine unheimlichen, mythischen, die, aus einer anderen Welt kommend, Schauspielende vereinnahmen. Theater – durch die Technik des Schauspielers, seine Kunst, in der der lebende Organismus nach höheren Zielen strebt – liefert eine Gelegenheit für etwas, das man Integration nennen könnte, das Ablegen von Masken, das Offenbaren der wirklichen Substanz.130 (Herv. d. A.)
Aber was liegt darunter, was ist die »wirkliche Substanz«? Womit sehen sich die Schauspielenden bei Grotowski konfrontiert, wenn es v. a. um die Integration geht? Legen sie die Masken während der Handlungen (actions) sukzessive ab bzw. lassen sie sukzessive erkennen, was sich dahinter verbirgt? Geht es um den Abbau der Masken, so beugen die Schauspieler_innen vielleicht einer Besessenheit vor, doch letztlich nur, um sie gegen die andere einzutauschen, die Grotowskis Forschungen am Schauspielenden id est am Menschen innewohnt. Es sei dahingeNeuzeit«, in: Corps du Théâtre. organicité, contemporanéité, interculturalité / Il Corpo del Teatro. organicità, contemporaneità, interculturalità, S. 105–137; Richard Weihe, Die Paradoxie der Maske. Geschichte einer Form, 2004. 126 Hans Belting, Faces. Eine Geschichte des Gesichts, S. 45. Vgl. hierzu auch Masken und Maskierungen, hrsg. v. Alfred Schäfer und Michael Wimmer, 2000. 127 Zum Begriff »Aberglaube« vgl. Robert Pfaller, Die Illusionen der anderen, S. 47–91. 128 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouch kine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 126. (Orig. frz.: »La seconde peau de l’acteur, entretien avec Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Trajectoires du Soleil autour d’Ariane Mnouchkine, S. 15–39, hier S. 29.) 129 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Spiel der Masken – Ariane Mnouchkine und das Eigenleben ihrer Figuren«, in: Erinnern – Erzählen – Erkennen, S. 354–369. 130 Jerzy Grotowski, »Aufstellung der Grundprinzipien«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 285–295, hier S. 285.
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stellt, ob auch hier (Toten-) Masken im Spiel sind und aus welcher der möglichen Welten die Stimmen kommen. Ein wesentlich eindeutigeres Verhältnis zum Sterben und zum Tod, mit dem einerseits umzugehen und der andererseits zu umgehen ist, offenbart sich bei Carmelo Bene auf eigenwillige und sehr direkte Weise. Er spielt nicht nur auf der Bühne mit dem Übergang vom Leben zum Tod und transformiert den Schauspieler (also sich) in laufenden Variationsschleifen, sondern spricht auch immer wieder darüber. Grundsätzlich ist der Tod oder ist das Totsein für ihn weder denk- noch vorstellbar. Der Tod ist das Leben […] das Leben ist ein Koma […] ein Koma, das im mütterlichen Fruchtwasser beginnt und bis zum Tod des Todes andauert, denn das Sterben ist ein Sterben des Todes, [es] ist der Tod, der stirbt […] wir sterben nicht, man stirbt nicht mehr […] der Tod ist undenkbar […]131
Lässt sich dieser undenkbare Tod – der »am Ende nichts anderes [ist] als die gesellschaftliche Abgrenzungslinie, welche die ›Toten‹ von den ›Lebenden‹ trennt, sie berührt also gleichermaßen die einen und die anderen«132, wie Baudrillard es ausdrückt – vielleicht zwar nicht denken, doch zumindest erahnen, erfühlen, körperlich-leiblich spüren und v. a. ausagieren? Baudrillard sagt, »[…] entgegen der verrückten Illusion der Lebenden, sich durch den Ausschluß der Toten für lebendig zu halten, entgegen der Illusion, das Leben durch die Unterdrückung des Todes auf einen absoluten Mehrwert zu reduzieren, [dann] setzt die unzerstörbare Logik des symbolischen Tausches […] die Äquivalenz von Leben und Tod wieder ein.«133 Wie wäre es also mit Theater zum Tausch, mit einer Prise Schauspiel?
Souveränes Sterben (Unter schauspielpraktischer Anleitung)
Die Positionierungen in der Schauspielkunst in Bezug auf Tod, Sterben, bevorstehenden Tod und das Wissen um den Tod bringen unterschiedliche Spielweisen
131 Carmelo Bene in Carmelo Bene otto interventi. Programma Sushi / Canale MTV – [9.4.‒21.4.]1999; nr. 2: »La Morte« [TC 00:01:05] Transkription von Nino Marta, abrufbar unter ia801609. us.archive.org/8/items/BeneSushi/BeneSushi.pdf [13/05/2016] (Orig. ital.: »la morte è la vita […] la vita è un coma […] un coma che inizia nelle acque maternali e poi segue fino alla morte della morte perché il morir è il morire della morte è la morte che muore noi non si muore non si muore più la morte è impensabile […]«) Da es sich an dieser Stelle um ein gedankliches Konstrukt, um ein (Nach-) Denken über den Tod handelt, wurde »la morte è impensabile« (Herv. v. A.) mit »der Tod ist undenkbar« übersetzt, während zuvor »unvorstellbar« in der Übersetzung bevorzugt wurde. 132 Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 200. 133 Ebenda, S. 200.
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hervor. So zeigt sich laut Elias im absurden Theater eine ähnliche Haltung wie im existenzialistischen Theater, wo man »mit Hilfe von Begriffen wie ›Geheimnis‹ oder ›Nichts‹« operiert und dadurch »zuweilen die Projektion eines quasisolipsistischen Menschenbildes auf den Tod«134 impliziert. Schauspielen nutzt das Wissen um des Menschen Sterblichkeit, erlöst Menschen von diesem Wissen temporär oder richtet humorvoll den Blick auf den Tod. Die dazu erforderliche Ambition geht indes nur dann kreativ auf, wenn sie in Bahnen gelenkt wird. Dafür ist jene Kraft notwendig, die Artaud fehlte, weshalb er auch scheiterte, wie Mnouchkine meint.135 Antonin Artaud, dessen Theorien für die europäische Theaterneoavantgarde der 1960er-Jahre von großer Bedeutung waren, scheint schwer aus dem psychischen Gleichgewicht geraten zu sein, wie seine Klinikaufenthalte zeigen.136 Um solche Destabilisierungen zu vermeiden, ist es für die Annäherung an den Zustand der Besessen- wie Ergriffenheit durch (Toten-) Masken sehr wichtig, den Prozess dorthin (auch handwerklich) zu üben. Nur so können solche Zustände und Prozesse gelenkt werden und mutieren nicht selbst zur treibenden, verzehrenden Kraft. Nur dann können gar fehlerhafte Überschreitungen von Grenzen zwischen Toten und Lebenden vermieden werden. Auf der Theaterbühne bedeutet dies außerdem, das Handwerk Schauspiel zu meistern und nicht mit in die Irre führenden Improvisationen zu arbeiten – jedenfalls nicht während der Aufführung. Im Zuge der Suche nach einer Struktur und deren Erprobung ist Improvisation als Methode wiederum nicht zwangsläufig auszuschließen. Improvisieren kann ein starkes Hilfsmittel sein, um den Rahmen zu finden, der schließlich bei Aufführungen Bestand hat und Halt gibt. Mnouchkine lässt ihre Schauspieler_innen stets so lange improvisieren, bis eine Figur gefunden ist bzw. bis eine Figur ihre Schauspielerin, ihren Schauspieler gefunden hat (freie Rollendisposition)137. Schauspielende sind zeitweilig die Gastgeber_innen ihrer Figuren. Genaues Zuhören und Hinschauen sind schließlich notwendige Voraussetzungen für das Erzählen generell und die Kernaspekte der Arbeit des Théâtre du Soleil. Hélène Cixous versteht ihr Schreiben für das Theater, d. h. ihr Erzählen, als eine Art, den
134 Norbert Elias, Über die Einsamkeit der Sterbenden, S. 57. 135 Vgl. Ariane Mnouchkine, »Man erfindet keine Spieltheorien mehr. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 30–36, hier S. 30. 136 Bernd Mattheus, Antonin Artaud, Leben und Werk des Schauspielers, Dichters und Regisseurs 2002 (1977). 137 »Die freie Rollendisposition bedeutet für das Soleil, daß grundsätzlich allen Schauspielern jede Rolle zur Verfügung steht; entscheidend sind allein die darstellerischen Vorschläge der Schauspieler, die nach dem Evidenzprinzip beurteilt werden.« Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 81.
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anderen zuzuhören.138 Im Programmheft zu Le Dernier Caravansérail (2003) notiert sie, dass mitunter jede Person, die zuhört, eine gastgebende Rolle einnimmt, sodass die Schauspieler_innen, die ihren Figuren zuhören, ihre Gastgeber_innen sind. Der langjährige Théâtre du Soleil-Schauspieler Simon Abkarian schildert, warum es wichtig ist hinzusehen: Ich bin einer, der gut hinschaut. Einem Schauspieler oder einer Schauspielerin, die im Theater einen Bären spielen soll, empfehle ich, sich einen Bären anzuschauen. Der Bär kann sich auf der Bühne sehr schnell in einen Affen, einen Löwen, in ein Zwitterwesen verwandeln. Nun ist aber ein Bär etwas ganz Bestimmtes. Und dieses ganz Bestimmte ist etwas Besonderes. Mich faszinieren diese Kleinigkeiten. Natürlich geht es nicht darum, einen Bären nachzuahmen, sondern sich selbst mit einem Fell vorzustellen und den inneren Rhythmus eines Bären zu verstehen. Ich will keine Gesetze verkünden, will nicht verkünden, was man tun muß oder nicht tun darf. Aber ich glaube, es ist wichtig, gut hinzuschauen.139
Mnouchkine gibt den Schauspieler_innen Hilfestellung auf dem Weg ins Leben der Figuren, beim Betreten der Bühne.140 Mit spielerischer, lustvoller Improvisation tasten sich die Schauspieler_innen an die Figuren heran. Mnouchkine begleitet ihre Suche mit unterstützenden Worten: Überlege nicht! Höre zu! Empfange! Reagiere auf das, was er [le personnage] sagt, nicht auf deine Vorstellung! Höre auf ihn! Leg dir die Antwort nicht zurecht, ehe du die Frage gehört hast. Du darfst nicht recht haben. Auf der Bühne hast du nicht recht oder unrecht. Du mußt dasein. Um dazusein, mußt du den anderen wirklich empfangen.141
Zuzuhören, zu empfangen, dazusein – dies wird in den mehrmonatigen Proben so lange geübt, bis sie schließlich alle da sind: die Schauspieler_innen, die Figuren und die Geschichte (-n). Sie sind deutlich vorhanden, reagieren aufeinander und spielen miteinander. Während Mnouchkine wiederum ihren Schauspieler_innen intensiv zusieht und zuhört, kann es geschehen, »daß sie eine Improvisation nach wenigen Sekunden abrupt abbricht, die Schauspieler zum Verlassen des Spiel bodens auffordert, einem Schauspieler sogar verbietet aufzutreten«, berichtet Josette Féral. »Wegen eines Kostüms, das von mangelndem Respekt gegenüber einer Figur zeugt. Diese Augenblicke, die schließlich jedermann akzeptiert, weil sie niemals willkürlich sind, werden kompensiert durch bemerkenswerte Momente,
138 Cixous beschreibt ihre Haltung an verschiedenen Stellen und in diversen Interviews. Vgl. z. B. Susan Sellers, Hélène Cixous. Authorship, Autobiography and Love, S. 137, FN 10. 139 »Einer, der gut hinschaut. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Simon Abkarian«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 83–89, hier S. 86–87. 140 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Spiel der Masken – Ariane Mnouchkine und das Eigenleben ihrer Figuren«, in: Erinnern – Erzählen – Erkennen, S. 354–369. 141 Mnouchkine zit. n. »Einer, der gut hinschaut. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Simon Abkarian«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 83–89, hier S. 87.
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in denen unvermittelt vor aller Augen ein Dialog entsteht zwischen Mnouchkine und einer Figur.«142 Dieser wird dann fixiert und bildet den Rahmen, aus dem die Schauspieler_innen nicht mehr herausfallen. Er gibt ihnen Halt, lässt die Figuren lebendig werden und die Akteur_innen Möglichkeiten und Grenzen ihrer Figuren spüren. Damit erreichen sie sie und gleichzeitig ihre eigenen Grenzen, sie machen Platz für jemand anders. Es geht darum, den Rhythmus der Figur zu finden. Sucht nach eurer kleinen inneren Musik, welche die Handlungen rhythmisch gliedert. Laßt die Phantasie [Imagination!] zu euch kommen. Die Schwierigkeit dabei ist, im Tun alles geschehen zu lassen. Ihr befindet euch entweder in einem Tun, das euch hemmt, oder einem Geschehenlassen, wo ihr nichts tut. Benützt eure Phantasie [Imagination]. Die Phantasie [Imagination] ist ein Muskel.143
Behilflich ist auch der Musiker Jean-Jacques Lemêtre, der von außen mit Percussion- und Saiteninstrumenten in ein Gespräch mit den erst noch Schauspielenden auf der Suche und dann mit den Figuren tritt. Davon erzählt die Schauspielerin Juliana Carneiro da Cunha in einem Interview. Etwas, was Ariane die innere Musik nennt. Diese Musik kann man, meiner Ansicht nach, nicht auf gewollte intellektuelle Weise finden. Vorhin sprach ich von der Empfindung des Schauspielers, wenn er einen Text hat und ihn aufzunehmen vermag. Er hat den Eindruck, die Dichte der Luft würde sich verändern. Das ist genau dieser Rhythmus und diese Musik. […] Man empfängt sie durch Vorstellung, Idee und Empfindung. Man muß hinzufügen, daß wir Jean-Jacques Lemêtre haben, der von der ersten Probe an bei uns ist. Er führt uns und läßt sich von uns führen. Er spielt unsere Atmung.144
Durch die kollektive Arbeitsweise hat sich auch die Rolle der Regisseurin Ariane Mnouchkine über die Zeit hinweg verändert. Sie sieht in sich weniger die Regisseurin als vielmehr die »Hebamme«145 und verfolgt die Suche nach den Figuren der Schauspieler_innen genau. Sie kommentiert, lockt, fordert, und sie unterstützt den gesamten Entstehungsprozess. Sie ist die erste Zuseherin, eine »privilegierte Zuseherin«146 oder mit Grotowskis Worten, die einzige Zuschauerin,
142 Josette Féral, »Ein Lehrgang im Soleil: Ein ungewöhnlicher Theaterunterricht«, in: dies. (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 37–43, hier S. 39. 143 Vgl. »Einige Grundregeln für Schauspieler«, Mnouchkines Anweisungen zit. n. ebenda, S. 40–42. 144 »Eine festliche Stimmung. Ein Gespräch mit Juliana Carneiro da Cunha«, in: ebenda, S. 98–103, hier S. 103. 145 Vgl. Mnouchkine im Gespräch »Ariane Mnouchkine«, in: In contact with the Gods?, S. 175–190, hier S. 187; sowie vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Spiel der Masken – Ariane Mnouchkine und das Eigenleben ihrer Figuren«, in: Erinnern – Erzählen – Erkennen, S. 354–369, S. 354; Vgl. das Zitat der FN 143 im Kapitel »Hamlet. Schauspieler-Werden«. 146 Einleitung von Mercedes Echerer in der vom ORF in »kunst-stücke« ausgestrahlten Arte-Doku über 1789 am 18. Jänner 1993. (Archiv der Videothek des tfm)
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die Regisseurin als professionelle Zuschauerin.147 Der schöpferische Anteil der Schauspielenden wird zunehmend größer und bedeutender, sie sind das Herzstück des Theaters.148 Hinter dem Konzept dieses Theaters steht die »Überzeugung einer Zeit, die den Schauspieler wieder ins Zentrum der Bühne stellt«149. Mehr noch: Die Schauspielenden selber bilden und bauen dieses Zentrum. Damit einhergehend wächst auch die schöpferische Kraft der Regisseurin. Gemeinsam haben sie die Kraft, durch Imagination eine Transformation vom Tragischen und Tödlichen zu einem großen Fest, zum Verlachen von Tod und Sterben zu vollbringen. Es genügt, Ariane Mnouchkine beim Arbeiten zu beobachten, wenn wir [die Schauspielenden] nicht auf der Bühne sind, um zu verstehen, wie sehr sie zur gleichen Zeit spielt wie wir. Man sieht ihren Körper sich bewegen, man sieht die Erwartung in ihren Augen. Sie lacht, ängstigt sich, weint. Sie ist da, wie eine Art Schwamm. Sie ist da bei dem Schauspieler auf der Bühne. Sie entdeckt mit uns. […] Ariane sieht das Unsichtbare früher als wir. […] Ich will damit sagen, daß sie den Schauspieler auf den richtigen Weg führt. Danach »emulgiert« sie uns, weil sie uns sieht, sogar bevor wir uns gesehen haben. […] Wir sind manchmal sehr müde […] aber am Ende der Aufführung, wenn das Publikum da ist, ist es doch ein großes Fest. Ich finde, wir sind sehr verwöhnt, weil diese festliche Stimmung im Alltag weiterbesteht. Alle Tage Feste zu haben[,] ist nicht alltäglich.150
Auch Grotowski erarbeitet einen harten Rahmen, eine starre Aufführungsstruktur, die Halt bietet. Sie speist sich aus einer Art innerer Musik. Auch er lässt über Monate, mitunter Jahre an dieser Struktur feilen, sie erarbeiten, indem den (inneren) Impulsen zu folgen ist. Es gibt keinen Dialog zwischen äußerer und innerer Musik, zwischen Außen und Innen. Es sind körperliche Regungen aus dem Inneren, was bedeutet, »daß die Klangfülle und die Impulse der Sinn sind: unmittelbar, eindeutig«151, die hier den Ton angeben. Obwohl über die Jahrzehnte hinweg die Stimme zum Kernelement wurde, das die Schauspielenden und später die Handelnden in Grotowskis Forschungen zu den entscheidenden Schwingungsqualitäten führt, liegt der Schwerpunkt zunächst auf dem Trainieren des Körpers, denn der Körper muss die Schwingungen aufzunehmen lernen. Aus ihm kommen Stimme und Schwingungen. Bereits in den Anfangsjahren stellt Grotowski eine »Regel seiner Technik« auf: »Prägt euch ein: Der Körper muß zuerst arbeiten. Danach kommt die Stimme.« Seine Anweisungen lauten: »Du mußt dich hundertprozentig hingeben, deinen ganzen Körper, deinen ganzen Geist und alle 147 Vgl. Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 115–135, hier S. 188. 148 Vgl. Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 8. 149 Ebenda. 150 »Eine festliche Stimmung. Ein Gespräch mit Juliana Carneiro da Cunha«, in: ebenda, S. 98–103, hier S. 103. S. auch Zitat in FN 44. 151 Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 115–135, hier S. 201.
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individuellen, intimsten Assoziationen, die ihm möglich sind.«152 So kann ein_e Schauspieler_in zur Kulmination seiner bzw. ihrer Möglichkeiten gelangen. An diesem Punkt muss er oder sie weiterarbeiten, wenngleich er oder sie ihn auch niemals wieder erreichen wird. »Die Spitze eines Höhepunkts kann niemals geprobt werden«, so Grotowski. Doch den Weg dorthin können Schauspieler_innen trainieren und üben. Diese Haltung, ein Ergebnis aus seinem ersten Labor, dem Teatr Laboratorium, behält Grotowski bei, sie hat auch in seinen letzten Jahren im Workcenter in Pontedera noch Gültigkeit. »Du mußt bei allem, was du tust, im Kopf behalten, daß es keine festgelegten Regeln gibt, keine Stereotypen. Das Wesentliche ist, daß alles vom Körper, durch den Körper kommen muß.« Er entwickelt für sein Schauspieltraining Physical Trainings 153, denn es geht ihm um physische Handlungen154 und Impulse. Dies gilt auch noch in seiner letzten Arbeitsphase mit Action, über die er zwar kurz vor seinem Tod sagt: »Was Action anbelangt, so ist Thomas Richards dessen alleiniger Autor.«155 Da jedoch diese aus ihrer engen Zusammenarbeit heraus wächst und nur durch Grotowskis Vorerfahrung und Anleitung (und durch seine schlichte Präsenz) entsteht, ist sie doch mehr als Abschlussarbeit von Grotowski denn als Einstiegsprojekt von Richards zu sehen. Diese Aufführungsstruktur wurde über Jahrzehnte erprobt, unter verschiedenen Namen weiterentwickelt und über den Tod Grotowskis hinaus praktiziert. Die Entstehungsgeschichte der Aufführungsstruktur von Action beginnt schon in Irvine, Kalifornien, im Jahr 1985, als Thomas Richards zwischen Oktober 1985 und Juni 1986 bei einem Forschungsprogramm von Jerzy Grotowski in Kalifornien teilnahm, bei dem eine »Action, d. h. eine genaue Aufführungsstruktur, ein Werk, das Main Action genannt,« geschaffen wurde (siehe Wolford 1996b: 39). In Italien begann er dann zunächst allein mit Grotowski an zwei Actions zu arbeiten (Pool Action und Song Action), um schließlich mit einer Gruppe weiterzuarbeiten, mit der Downstairs Action (1989) kreiert wurde, um dann anschließend an der aktuellen Version Action zu arbeiten.156
152 Eugenio Barba, »Das Training des Schauspielers«, in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 142–234, hier S. 225. 153 Vgl. Dokumentationsfilm Training at the »Teatr Laboratorium« in Wroclaw: Plastic and Physical Training (1972). (Archiv der Videothek des tfm) 154 Der Titel des Buches von Thomas Richards 1993 verweist darauf: At Work with Grotowski on Physical Actions – Dt.: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen, 1996. 155 Jerzy Grotowski, »Unbetitelter Text von Jerzy Grotowski, unterzeichnet am 4. Juli 1998 in Pontedera«, in: Aufbruch zu neuen Welten, S. 207–209, hier S. 208. 156 Gabriele C. Pfeiffer, »Das röhrende Er und fiepsende Sie. Notate zur Auflösung des Subjekts am Beispiel des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards«, in: Theater und Subjektkonstitution., S. 325–337 hier S. 329–330, FN 20. Zitiert wird hier Lisa Wolford, »Auszüge aus ›Der Rand-Punkt des Schauspielens‹. Ein Interview mit Thomas Richards«, in: Über das Workcenter of Jerzy Grotowski. Flamboyant, Heft 5 / Herbst 1996, S. 37–68; ad Main Action S. 39, ad Pool Action
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In seinen Laborsituationen erforscht Grotowski die Schauspielenden und erkennt drei voneinander divergierende Typen. Er unterscheidet zwischen erstens Schauspielenden des bürgerlichen Theaters (elementary actor; d. h. Darsteller_innen), zweitens kunstfertigen Schauspielenden (artificial actor; d. h. Schauspieler_innen / Komödiant_innen), die eine Struktur aus vokalen und physischen Bühneneffekten kreieren, und drittens archetypischen Schauspielenden (archetypal actor; d. h. Nicht-Theater-Schauspieler_innen), deren Basis die Kunstfertigkeit ist, die sich jedoch durch die archetypischen Bilder und Vorstellungen aus dem kollektiven Unbewussten von den anderen Akteur_innen abheben. Auf diesen dritten Typus konzentriert Grotowski sich.157 Angelehnt an seine frühen Erfahrungen mit Improvisation im Teatr Laboratorium fordert er Thomas Richards und Mario Biagini in Pontedera auf, an einer Struktur zu arbeiten, die Bestand hat, sich über Gesänge herstellt und einen Kontakt zu den kollektiven unbewussten Bildern knüpft. Über Gesänge und rituelle Tänze folgen Richards und Biagini gemeinsam in einer Arbeitsgruppe Impulsen in alle möglichen – vorwiegend zunächst alle räumlichen – Richtungen, bis eine Struktur erarbeitet ist, die in die Vertikalität führt und entlang der Schwingungen unabänderlich wirkt. Die Bildelemente bewegen sich von einer Wasserschüssel über Kerze, Stock und Rassel und fordern Reaktionen heraus, die mit Jagd, Geburt und Sterben zu tun haben. Der Ton, der Klang, die Schwingung produziert also nicht nur Bilder, sondern fungiert zugleich als Stütze für art as vehicle. Die rituellen Gesänge der alten Überlieferung bieten eine Stütze beim Bau der Sprossen dieser senkrechten Leiter [Vertikalität]. […] Vor allem aber geht es um etwas wie die richtige Klangfülle: um derart fühlbare Schwingungsqualitäten, daß sie in gewisser Weise zum Sinn des Gesangs werden. Das heißt, der Gesang wird durch die Schwingungsqualitäten zum Sinn selber; auch wenn man die Worte nicht versteht, es genügt, daß es zur Aufnahme der Schwingungsqualitäten kommt. Wenn ich von diesem »Sinn« spreche, spreche ich auch von den Körperimpulsen; dies bedeutet, daß die Klangfülle und die Impulse der Sinn sind: unmittelbar, eindeutig.158
In einer erarbeiteten Struktur wie in Action können jederzeit andere Schauspieler_ innen, d. h. Doers einsteigen und mittun, da der Impuls vorgibt, was getan werden soll. Üblicherweise wird einige Jahre innerhalb der Struktur trainiert. Der
S. 51. Ad Song Action vgl. Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski an physischen Handlungen, S. 151. 157 »According to Grotowski, there are three kinds of actor. First, there is the ›elementary actor,‹ as in the academic theatre. Then there is the ›artificial actor‹ – one who composes and builds a structure of vocal and physical stage effects. Thirdly, there is the ›archetypal actor‹ – that is an artificial actor who can enlarge on the images taken from the collective unconscious. Grotowski trains this third type of actor.« Eugenio Barba, »Theatre Laboratory 13 Rzedow«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 73–82, hier S. 77. 158 Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 115–135, hier S. 201.
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Main Doer Richards und sein kongenialer Partner Biagini sind seit der ersten Stunde dabei, andere wechseln früher oder später. Ein Wechsel des weiblichen Parts allerdings ist im Laufe der Jahre überschaubar.159 Von nicht geringerer Bedeutung ist dabei auch ein weibliches Element, stets beschränkt auf eine Person – von Anfang an: bei Downstairs Action, jener Variante nach Song Action, war es Nitaya Singsengouvanh, danach Nhandan Chirco, und während des EU-Projekts Marie de Clerck [danach Cécile Berthe].160
Der männliche Chor, der in Action die Reise Richards als alter Mann am Stock durch Leben, Raum und Zeit und bis zur Geburt sowie in den Kreislauf des Todes begleitet, wechselt am häufigsten. Er findet sich also per se in die vorgegebene Struktur ein. Richards und Biagini üben die Lieder mit den Workcenter-Mitgliedern täglich viele Stunden und achten darauf, dass alle den körperlichen Impulsen folgen. In der Regel wird als Einstieg, so auch in Action, der Yanvalou-Schritt eingeübt, auch in nur zweitägigen Workshops ist es eine der ersten Übungen. Das sanfte Berühren des Bodens und der spezielle Schritt, barfuß ausgeführt, kann für ungeübte Teilnehmer_innen zu einer quälenden Herausforderung werden. Die Konzentration auf die Füße und darauf mit angewinkelten Beinen im
Yanvalou-Schritt bei Action 2005 (Foto Frits Meyst) 159 Gabriele C. Pfeiffer, »Das röhrende Er und fiepsende Sie. Notate zur Auflösung des Subjekts am Beispiel des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards«, in: Theater und Subjektkonstitution, S. 325–337, hier S. 330. 160 Ebenda.
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schwingenen Schritt den anderen zu folgen, fokussiert Körper und Stimme.161 Es handelt sich beim Yanvalou um einen sehr alten Tanzschritt, dessen Abfolge mit dem Reptiliengehirn verbunden sein soll. In Haiti wird mit diesem Tanz eine Urahnin der Menschheit assoziiert, die Schlange Dhamballa.162 Lisa Wolford erinnert sich, »gehört zu haben, das Schreiten des Yanvalou sei eine Weise, mit dem Fuß zu schauen oder zu empfinden, wobei man den Fuß zunächst den Boden untersuchen und abfühlen läßt, ehe er mit dem ganzen Gewicht auftritt«.163 Der Schritt sieht so aus, dass die Person leicht in die Knie geht, den Fuß von der Ferse über den Ballen mit gespreizten Zehen abrollt, Schritt für Schritt, die Handflächen werden auf die Knie gelegt, Frauen heben in Kniehöhe ihren Rock ein wenig an164, und der Oberkörper wird leicht nach vorne gebeugt. Die Doers bilden eine Schlange, jeweils mit dem Rücken zur nächsten Person, die erste gibt die Richtung an. Die Schritte werden von allen gleichzeitig ausgeführt, es entsteht eine wellenartige Bewegung der Gruppe, des organischen Korpus. Einzelne Lieder evozieren neue Impulse, die zu Handlungen führen. Wie Ruhepole (safety patterns) wirkt das Zusammenkommen des Chors im Yanvalou, während der Main Doer Richards und sein Partner Biagini eigenen Impulsen folgen. Manchmal kommen auch alle gemeinsam zum Yanvalou zusammen. Nicht nur die Aufführungsstruktur, d. h. eine bestimmte Abfolge von Gesängen und dazu komponierten Bewegungen, gewähren den Doers Rahmen und Halt, sondern auch die Gruppe der langfristig Beteiligten. Dies hat auch, aber nicht nur etwas mit dem Herausbilden des Ensemble (-geistes) zu tun.165 Grotowski steckt den zeitlichen Rahmen, der bei Mnouchkine schon vergleichsweise großzügig ist, noch weiter. Dies gestattet ihm der Nicht-Anspruch einer Aufführung (art as presentation) und stattdessen die Konzentration auf art as vehicle. Er verweilt mit seinen Doers im Labor und kann die Übung hier bis ins nahezu Unendliche ausdehnen. Die Wiederholung der Wiederholung einer Wiederholung ist das Wesentliche, darin liegt die Antwort auf den Prozess des Sterbens, der am Ende jedoch nicht aufhaltbar ist. So verlangt Grotowski schon in seiner Anfangszeit 161 Gedächtnisprotokoll d. A. während der Arbeit im Dokumentationsteam von Tracing Roads Across 2003–2006 bei Intervention, Bulgarien, 11. November 2004 bis 17. November 2004 in Sofia. 162 Vgl. Zbigniew Osiński, »Grotowski blazes the trails. From Objective Drama to Art as vehicle«, in: The Grotowski Sourcebook, S. 385–400, hier S. 391. 163 Lisa Wolford, »Action, der nicht darstellbare Ursprung«, in: Über das Workcenter of Jerzy Grotowski. Flamboyant, Heft 5 / Herbst 1996, S. 9–36, hier S. 19. 164 Zu den Unterschieden von »Mann und Frau« in Action vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Das röhrende Er und fiepsende Sie. Notate zur Auflösung des Subjekts am Beispiel des Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards«, in: Theater und Subjektkonstitution, S. 325–337. 165 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, Beitrag »The idea of ensemble (Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards)«, zu Intervention – Open seminar of Tracing Roads Across, 11. bis 17. November 2004, Red House – Centre for Culture and Debate, Sofia / Bulgarien, Archiv d. A.
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»Ordnung und Harmonie in der Arbeit jedes Schauspielers«, denn ohne diese beiden Aspekte kann »ein kreativer Akt nicht stattfinden«166: Hier verlangen wir Beständigkeit. Wir fordern sie von den Schauspielern, die bewußt zum Theater kommen, um sich einer extremen Situation auszusetzen, einer Art Herausforderung, die eine totale Antwort von jedem von uns verlangt. Sie kommen, um sich in etwas ganz Bestimmtem zu testen, das über »Theater« in allgemeiner Bedeutung hinausreicht und mehr ein Akt des Lebens und eine Art Existenz ist.167
Struktureller Halt auf der Bühne kann auch ohne Background durch die oben beschriebenen Trainingsphasen funktionieren, ohne spielerische Improvisation durch den Muskel der Imagination, ohne inneren Impuls oder physical ActionÜbungen (physische Handlungen). Dies setzt eine eher konzeptionelle Herangehensweise voraus, die das (Bühnen-) Leben nicht minder im Griff hat, sich ebenso mit Sterben und Tod konfrontiert und dabei, wie Gilles Deleuze sagen würde, unzeitgemäß168 ist. Wenn Carmelo Bene in die Proben geht, scheint nichts fixiert zu sein. Bunte Tücher etwa hängen als Hintergrund für die Proben von Macbeth auf der Bühne169, und erst über Wochen hinweg verwandeln sie sich in ein Bühnenbild mit Bestand. Und doch existiert mehr als nur eine Idee. Bene weiß genau, was er wann wie wo haben will, das Konzept ist intellektuell erfasst, er selbst als NichtSchauspieler (non-attore) steht im Zentrum. Der italienische Theaterwissenschafter Guido di Palma meint: »Carmelo Bene legitimiert sich selbst. Er nutzt Philosophie wie Poesie. Carmelo Bene betreibt Philosophie in der Praxis.«170 In Benes Kopf existiert bereits die fertig entwickelte Struktur der Aufführung in allen Einzelheiten. Als wäre es eine am Schreibtisch konzipierte Partitur, nutzt er die Proben, um Schauspieler_innen und Licht- und Tontechniker en détail einzuweisen. Silvia Pasello, Partnerin seiner letzten Macbeth-Variation Macbeth horror
166 Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 291. 167 Ebenda. 168 Vgl. die Bedeutung »des kleinen Autors« in Deleuzes Studien über Carmelo Benes Theaterarbeit: Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: Aisthesis, S. 379–405. 169 1982 in Rom. Sämtliche Aufzeichnungen der Proben befinden sich im Archiv CTA, Centro Teatro Ateneo in Rom, Università Sapienza. Sie werden unter der Leitung von Maria Grazia Berlangieri digitalisiert. 170 Guido di Palma im Gespräch m. d. A. am 14. April 2014 in Rom. Protokoll d. A., aufgezeichnet im April–Mai 2014 (»Carmelo Bene legittima se stesso, usa la filosofia come poesia, Carmelo Bene fa soltanto filosofia per la pratica.«). Vgl. Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater, 2015. (Orig. Rhapsodie pour le théâtre. Court traité philosophique, 2014). Badiou konzentriert sich auf die Form eines théâtre populaire und dessen revolutionäre Kraft innerhalb eines Staates und seiner Gesellschaft gegenüber. Bene hingegen konzentriert sich auf die Arbeit des Schauspielers mit den Mitteln des Theaters und auf die Revolte innerhalb der Theaterstruktur.
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suite 1996 (gewidmet Antonin Artaud), erinnert sich, dass ständig »geprobt, gelernt, gearbeitet wurde«, egal wo und wann.171 Für mich ist ein Theatermensch eine Person, die authentisch einer Aufgabe nachkommt, eine, die sich von früh bis spät und von spät bis früh ausschließlich diesem [dem Theater] widmet.172
Dies sagt Bene selber bereits 1968 im Brustton der Überzeugung in einer TVDokumentation über avantgardistisches Theater. Silvia Pasello schreibt über ihre Arbeit mit Bene: Es ist für mich schwierig, den persönlichen vom professionellen Aspekt zu trennen. Auch deshalb, da man ständig mit ihm [Bene] lernte, während der Theaterproben genauso wie in seinem Arbeitszimmer, im Wohnzimmer, im Restaurant oder im Taxi. Eines Tages setzte er mich an einen Tisch, mit einem Blatt Papier und Stift, während er mir die Regeln und Aufgaben diktierte, die mich auf die Arbeit mit ihm vorbereiten würden. Absolutes Verbot von Körperübungen und Literatur- wie Philosophie-Studien für eine beträchtliche Anzahl an Stunden pro Tag; nur die Metrik als »Theaterfach« war erlaubt. Er ließ mich dort in seinem dunklen Haus, um über meine Unzulänglichkeit nachzudenken.173
Im Archiv des Centro Teatro Ateneo in Rom gibt es Aufzeichnungen der Proben für die vorangegangene Version von Macbeth: Macbeth da Shakespeare, due tempi di C. B. (Macbeth nach William Shakespeare, zwei Takte von C. B.), hier mit Susanna Javicoli, die einige Jahre mit Bene zusammengearbeitet hat. Schon 171 Vgl. Silvia Pasello, »Cara Gioa«, in: A CB, A Carmelo Bene, S. 35–38, hier S. 37. 172 Vgl. vollständig zitierte Passage in FN 140 im Kapitel »Räume und Visionen«. Carmelo Bene O-Ton in einer Dokumentation. Teatro avanguardia von Rai Teche [1968]. Ausschnitt von CTADoku [TC 00:02:25 bis 00:03:02’37] (Orig. ital.: »Io considero uomo di teatro che assolva un compito autentico colui, che dalla mattina alla sera e dalla sera alla mattina si dedichi esclusivamente a questo. Questo è il problema.«) 173 Silvia Pasello, »Cara Gioa«, in: A CB, A Carmelo Bene, S. 35–38, hier S. 37. (Orig. ital.: »Mi è difficile separare l’aspetto personale da quello professionale, anche perché si imparava da lui [Bene] durante le prove in teatro come nel suo studio, in salotto, al ristorante, in taxi. Un giorno mi fece sedere a un tavolo con carta e penna dettandomi le regole e i compiti che mi avrebbero preparata al lavoro con lui. Proibizione assoluta dell’esercizio fisico e studio della letteratura e della filosofia per un consistente numero di ore al giorno; solo la metrica era concessa come ›materia teatrale‹. Mi lasciò lí, in quella sua casa oscura a meditare sulla mia inadeguatezza.«) Luigi Mezzanotte beschreibt in Kult & Cult eine ähnliche Situation. Er habe von Bene nicht nur das für Schauspieler_innen immens wichtige Ausatmen und den Gebrauch der Stimme gelernt, sondern Bene habe ihn »alles gelehrt. Das Ausatmen … lehrt die Stimme, sie einzusetzen.« (Orig. ital.: »A me ha insegnato tutto. L’espirazione… insegna la voce, a usarla.«) [TC parte prima 00:22:24 bis 00:23:12]. Er musste nicht etwa den Hamlet von einem Probentag auf den nächsten auswendig lernen, sondern Musik hören, um eingestimmt zu sein, oder ein Buch von Antonio Pizzuto lesen. (Orig. ital.: »Lui mi faceva ascoltare la musica … per intonarmi … [… Carmelo mi diceva] no no studi qua domani con me … intanto leggi questo … e mi dà un libro di Antonio Pizzuto«) [TC parte seconda 00:10:22 bis 00:11:20]. Benes Begründung lautete, dass sie den Text am nächsten Tag bei der Probe ohnehin gemeinsam auswendig lernen würden. Ihm sei es wichtiger, dass Mezzanotte Pizzuto lese. Kult & Cult – Omaggio a Carmelo Bene, Luigi Mezzanotte e Umberto Cantone, ausgestrahlt von Rai Premium zu Benes zehnjährigem Todestag 2012.
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der Titel verrät eine starke bzw. kritische174 Bearbeitung der klassischen Vorlage. Wie in allen seinen Macbeth-Versionen verfährt Bene auch in dieser v. a. über die Subtraktion. Bei ihm bleiben nur Macbeth und Lady Macbeth auf der Bühne übrig, weiters ein (Ehe-) Bett auf einem Podest, Teile einer Rüstung, mittelalterliche Waffen, ein weißer, altmodischer Nachttopf, zwei Kästen und ein Tisch, der mit diversem Geschirr gedeckt ist. Diese Subtraktion oder Reduktion auf Elementares betrifft sowohl Macbeth 1982 als auch Macbeth horror suite 1996, in dem Bene noch radikaler reduziert. Es wird subtrahiert, bis nur mehr eine »ganz bestimmte Situation, der nichts mehr hinzuzufügen bleibt«175, bleibt. So verfährt Bene mit allen Bestandteilen des Stücks,176 die Zeit eingeschlossen: »Von Shakespeare bleiben nur jene Elemente bewahrt, die die Zeit in fortwährende Negation zwingen: eine imaginäre, eine unmögliche Zeit, die nichts Zukünftiges kennt und Gesten einfordert, die die Ordnung der Dinge verkehren; eine Zeit schließlich, die nur gegenläufig zu sich selbst entstehen zu können scheint.«177 Die jeweilige Bühnenausstattung ist vor den (konventionellen) Bühnenproben von Bene beschlossen worden. Dennoch beginnt die sogenannte Probe mit einer zunächst nur angedeuteten Ausstattung, in der alle Gegenstände rudimentär bereits vorhanden sind. Hier ist keine Improvisation im Sinne eines Suchens und Findens möglich. Rudimentär ist auch die Kleidung des Schauspielers Carmelo Bene (Trainingshose) und der Schauspielerin Susanna Javicoli (Korsett, und zeitweise ein längeres Nachthemd oder ein Mantel), die erst nach Tagen bei den Proben aktiv wird.178 Nur Benes Frisur ist bereits wie für die Aufführung vorgesehen: kurzer Rundschnitt, wasserstoffblond gefärbt. Zu Beginn erklärt Bene den Anwesenden die Bühnenregel (regola di scena), dann beginnt er, im Hintergrund der Bühne von einer langen Kleiderstange, an der bunte Tücher und Gewand hängen, Kleidungsstücke herunterzunehmen. Währenddessen erklärt er, wo genau welches Teil zu hängen hat, und ordert Garderobenständer für beide Seiten der Bühne. Die Kleiderstange bestückt mit den farbenfrohen Gewändern gibt es allerdings nur während der Probenzeit, denn wie sich in der Aufführung zeigt, ist der Hintergrund ein glatter Bühnenabschluss, helle Farben dominieren den Gesamteindruck. Von Beginn an vorhanden sind drei Handmikrofone auf dem Bett. Die Probe beginnt mit einer Toneinspielung über Lautsprecher (der früh174 Vgl. Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: Aisthesis, S. 379–405. 175 Jean-Paul Manganaro, »Verdichtungen / Condensations / Condensaties / Condensations«, in: Theaterschrift, No 12, December 1997, S. 150–157, hier S. 150. 176 Vgl. Gilles Deleuze, »Ein Manifest weniger«, in: Aisthesis, S. 379–405. 177 Jean-Paul Manganaro, »Verdichtungen / Condensations / Condensaties / Condensations«, in: Theaterschrift, No 12, December 1997, S. 150–157, hier S. 152. 178 Laut Archivaufnahmen der Proben im Archiv CTA, Centro Teatro Ateneo in Rom, Università Sapienza, wurde am 22. Oktober 2010 mit den Proben begonnen, Susanna Javicoli stieß am 2. November 2010 hinzu. Davor handelte es sich ausschließlich um Technik- und Mikrofon-Proben.
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morgendliche Hahnenschrei als Rudiment aus Shakespeares Macbeth), und Bene spricht durchs Mikrofon. Hier zeigt sich bereits die Bedeutung von Mikrofon und Audiotechnik, deren Einstellungen, Einspielungen und Handhabe einen Großteil der Proben in Anspruch nehmen. Nach Erläuterung der Bühnenregeln legt Bene sich einen Nierenschutz (später ist es eine Brustrüstung) um und spricht über Bandagen. Die Einstiegsphase der ersten Probe dient nur dem Bühnenaufbau in akustischer und ansatzweise visueller Hinsicht.179 Die Elemente der Ausstattung sind von Beginn an dabei, das Bühnenbild entwickelt sich über die Wochen, die Akustik wird von vornherein mit eingeübt. Bene beginnt am 22. Oktober 1982, dem ersten Probentag, mit dem Handmikrofon auf dem Bett liegend, Text zu sprechen und sich selbst zuzuhören. »Wenn ich weggehe«180 (»se me ne vado«) und »Mörder« (»assassino«) wiederholt er regelmäßig. Er probiert (wortwörtlich) aus, wie weit die Amplifikation der Stimme und die Einstellung des Mikrofons reichen. Dieser Soundcheck ist eine Geduldsprobe für die Tontechniker und lässt erahnen, was sie die nächsten Wochen noch erwartet. »Wenn der Schauspieler Fehler begeht, setzt er etwas Klangliches« (»se l’attore sbaglia, mette qualcosa di timbrica«), erläutert er den Tontechnikern am Mischpult. Immer wieder fordert er: »Beginnen wir von vorne« (»andiamo da capo«), weil er sich nicht hört. Bei Macbeth hört man anfangs wie gesagt den Hahn, dann Hundegebell, den Wind, auf- und zuschlagende (Kasten-) Türen sowie Geräusche, die Bene durchs Mikrofon schickt. All das wird aufgenommen und anschließend eingespielt. Nach jeder Aufnahme lässt sich Bene den Mitschnitt vorspielen. Manchmal verlässt er die Bühne und geht zu den Tontechnikern ans Mischpult. Immer wieder interveniert und korrigiert er: »Nein, es ist nicht zu hoch […] nein, ich weiß das nicht, ich bin hier [auf der Bühne], und nicht dort […] ich höre den Atem.« (»No, non sia troppo alto […] no, non so niente io sto qui [auf der Bühne], ma non sto li […] io sento lo spiro.«) Während einer Podiumsdiskussion mit Edoardo de Filippo beschwert Bene sich darüber, dass es kaum musikalische Techniker gebe, wobei es doch um den »technischen Teil« (»parte tecnica«)181 gehe, und wie wichtig der sei. Heute ist die Technologie eine andere, klarerweise … wenn man mixt, arbeitet man mit vier Aufnahmegeräten, oder? Man schickt die Musik auf die eine, das Gesprochene auf die andere Seite, tritt ein … auch live! Es ist auch notwendig, dies zu entzerren, es gibt also einen Equalizer, okay? Der spielt mit den Frequenzen, dies ist zu sehen, während des Mischens ist es zu sehen, jeden 179 Vgl. Protokoll d. A., aufgezeichnet im CTA im April und Mai 2014. CTA-Signatur CB E 08000. 180 Vgl. »Technikprobe«: Protokoll d. A., aufgezeichnet im CTA im April und Mai 2014. CTA-Signatur CB E 08001. 181 Carmelo Bene bei: Incontro dibattito con Carmelo Bene e Eduardo de Filippo. Registrato al Teatro Ateneo, 29/5/1982, trascrizione di Sergio Ponzio e Stefania Marinelli, mit Dank zu Verfügung gestellt von Desirée Sabatini. Vgl. Protokoll d. A., aufgezeichnet im CTA April und Mai 2014. CTA-Signatur CB E 08035.
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Abend … in Hinblick auf Theater, die akustische Entsprechung, hinsichtlich des Publikums, da … Mehr oder weniger kann das auch die Frequenz bestimmen, bin ich verständlich? Also der listening shot [Gegenschuss]. Also … ja, man entzerrt eine Bühne auf so und so viel … In diesem Moment erhöhen wir auf so und so viel, man spielt; und du … Es ist eine technische Live-Übung, eine hochtechnische.182
Von immenser Bedeutung für Bene ist die präzise Amplifikation, d. h. die Bearbeitung der und Arbeit an der Stimme. Im Wesentlichen geht es um eine (ton-) technische Probe und die Montage der ersten Sequenzen. Bene muss den Ablauf der Aufführung nur mit den Technikern koordinieren. Bei aller Egomanie, auf der seine Theaterarbeit fußt, ist es verwunderlich, dass er sich von der ersten Probe an auch der Akustik dessen annimmt, was das Publikum hören wird. Er geht in den (Zuschauer_innen-) Raum hinein, um zu prüfen, ob Ton und Lautstärke passen. Wenn nicht, dann heißt es wieder »da capo«. Er möchte, dass der Klang ankommt, er spricht von einem »Null-Effekt« (»effetto zero«). Benes persönliche Vergnügungseinheiten – z. B. mit Rückkoppelungen zwischen Verstärker, Lautsprechern und Mikrofon, einem Schwert, das gegen das Mikrofon kracht oder mit eigenen Einlagen, wenn er sich etwa vom Bett rollen lässt und dabei geräuschvoll hüstelt – gewähren den Technikern nur vorübergehende kurze Pausen. Denn im Handumdrehen kippt Benes Stimmung, und er verlangt ihnen wieder die volle Konzentration ab. »Ich höre nichts, null … die maximale Lautstärke, das hab ich nicht verstanden […] Wir müssen unsere Methode ändern …. Wenn ich nicht höre, was ich sage …« (»Non sento zero nullo […] non ho capito volume massimo […] dobbiamo cambiare metodologia […] se non sento cosa dico …«) Vor der letzten Wiederholung des Beginns beendet Bene abrupt die Probe. Mit aller Vehemenz instruiert er die Techniker, damit im Rahmen der für die Institution Theater gängigen Zeitvorgabe von 20 Tagen das Setting einwandfrei realisierbar ist. Oh Gott. Gute Nacht. Ich gehe. Du hast einen Dreck von der Regie verstanden, du hast nicht kapiert, was Theater ist. Energie. Vor allem Energie. Man schläft nicht im Theater. Es braucht jeden einzelnen Moment der Probe.183
182 Ebenda. (Orig. ital.: »Ora, la tecnologia è un fatto diverso, chiaramente se … si missa, si lavora su quattro registratori, va bene? E si manda musica da una parte, parlato dall’altra, entra il … dal vivo, anche! E bisogna anche quello equalizzarlo, poi c’è un equalizzatore, va bene? che gioca sulle frequenze, per cui a vista si, si, mentre si fa il missage a vista ogni sera … Ogni sera, a seconda anche dei teatri, della rispondenza acustica, del pubblico, perché … più o meno può determinare anche le frequenze, mi spiego? Il piano d’ascolto, cioè. Ecco … si, si equalizza una, una scena a … a tanto, ecco, in questo momento … saliamo a tanto, si gioca; e tu … è un esercizio dal vivo da parte … tecnico, squisitamente tecnico.«) 183 Protokoll d. A., aufgezeichnet im CTA April und Mai 2014. CTA-Signatur CB E 08002. (Orig. ital.: »Dio. Buona notte. Vado via. Non hai capito un cazzo di regia, non hai capito niente di che
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Am nächsten Tag poltert er weiter: »Hier kann ich nicht arbeiten, bei all dem Chaos« (»Qui non posso lavorare con questo caos«). Da es ihm vor allem um den Klang, den Ton, die Phonè geht, besteht er darauf: »Alles muss Klang sein« (»Deve essere tutto fono«). Benes Heftigkeit, seine Strenge, Genauigkeit, Ausdauer und die hohen Anforderungen betreffen nicht nur die Techniker, sondern auch seine Partnerin, (die Stimme der) Lady Macbeth. Der ersten Stellprobe der Schauspielerin Susanna Javicoli wohnen lediglich die Techniker bei. Javicoli spricht in Abstimmung mit den vom Band kommenden Einspielungen und wird dabei aufgenommen. Bene beobachtet später vom Publikumsraum aus, wie sie vom Tisch zum Kasten und in den Kasten hineingeht, und er ruft ihr jeweils zu, was sie tun soll, wie sie sprechen, intonieren muss. Denn darauf kommt es ihm an. Benes Anweisungen, seine Zurufe, die Beobachtung und Begleitung bei der Arbeit mit den Schauspieler_innen sind ebenso intensiv wie Grotowskis und Mnouchkines (Inter-) Aktionen. Doch anders als sie geht Bene nie von den Schauspieler_innen aus, er motiviert sie nicht zu – und sucht nicht mit ihnen nach – der optimalen Ausdrucksform. Nur er allein als Schauspieler-Regisseur weiß, wie es sein soll, und er übt es mit ihnen ein. Es ist kein Dialog zwischen einer Hebammen-Regie (Mnouchkine) und Schauspieler_innen oder zwischen einem Meister (Grotowski) und Schüler_innen. Carmelo Bene bestimmt die Komposition, wie sie ihm vorschwebt. Er gibt klare Kommandos bezüglich Tonhöhe, Metrik, Rhythmik und Klangfarbe, auf eine so dominante Weise, dass Susanna Javicoli den hinzugekommenen Regieassistent_innen im Verlauf der Probe »leid tut«184. Bene spricht fast eine Stunde mit ihr darüber, dass ihr Haar zu lang sei. Für die »weibliche Maske«185 (»maschera femmina«) brauche es kürzeres Haar. Erst zwei Wochen später stehen beide erstmals gemeinsam zur Probe auf der Bühne. Erst jetzt ist Bene mit dem Ton zufrieden: »Der Ton ist sehr brillant«186 (»suono molto brillante«), groben Durchläufen steht vorerst nichts im Weg. Doch schon am nächsten Tag beginnt die harte Arbeit am Ton für Javicoli wieder von vorne. Bene zeichnet ihr sogar auf, wie und was sie zu tun hat und lässt sie einzelne Sätze, Worte oder Laute permanent wiederholen: »Gib mir einen reinen Ton […] nein, nicht so.« (»Dammelo pulito […] non in quel modo.«) Es wird in Segmenten geübt. Bene spricht ihr jeden einzelnen Ton vor, als ob sie ein Musikstück ein-
cosa sia il teatro. Energia. Sopratutto energia. Non si dorma al teatro. Ci vuole ogni momento delle prove.«) 184 Vgl. Orig. ital.: »che poveretta!« (Die Ärmste!) war ein Ausruf, an den sich Guido di Palma Jahrzehnte nach seiner Teilnahme an den Macbeth-Proben 1982 in Rom erinnert. Gedächtnisprotokoll d. A. 185 Protokoll d. A., aufgezeichnet im CTA April und Mai 2014. CTA-Signatur CB E 08006. 186 Protokoll d. A., aufgezeichnet im CTA April und Mai 2014. CTA-Signatur CB E 08007.
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studieren müssten, und er kritisiert sie scharf, es sei »alles zu schwach«187 (»tutto molto stanco«). Als er ungeduldig wird, greift eine Assistentin ein und versucht, zwischen Bene und Javicoli zu vermitteln. Bene will einen akustischen Raum schaffen, ohne dabei unfreiwillig komisch zu werden (»senza diventare comico«). Er bezeichnet seine Vorgehensweise als »sonores Band [klangliche Umhüllung])« (»fascia sonora«), und die Ausstrahlung der Klangkomposition (»l’emissione«) ist für ihn das zentrale Element. Der Ton muss stabil sein, er darf von der festgesetzten Tonhöhe nicht abweichen, also weder darüber noch darunter liegen (»ne sopra ne sotto uscire«). Wie erwähnt ist er ein pedantisch genauer Beobachter und Zuhörer. Er verfolgt Javicolis Ton bis in den Resonanzraum ihres Körpers und erkennt dann ihr Problem: Sie erzeuge den Ton zu weit vorne im Hals (»davanti in gola«), doch ein Ton, der im Hals erzeugt wird, davon ist Bene überzeugt, funktioniert nicht (»voce che si produce nella gola, non funziona«). Es wird geübt und trainiert, Silbe für Silbe, Wort für Wort und vor allem auch Pause für Pause, denn Intervalle sind wichtig. Immer wenn der Ton dann endlich aufgezeichnet werden soll, ist er wieder »nicht rein« genug (»non è pulito«). Das ist der Moment, in dem auch die Techniker zu verzweifeln beginnen. Bene fordert Javicoli dennoch immer wieder auf: »Versuch es!« (»Prova un po!«), um ihr anschließend zu erklären, warum es ihm nach wie vor nicht passt. Der Satz sei weniger [inhaltlich] übereinstimmend als vielmehr musikalisch zu verstehen (»La frase non è più contestuale ma musicale«). Er setzt das Mikrofon wie ein Instrument ein. Ist das Ziel erreicht, steht die Aufführung, präzise intoniert, bis ins kleinste Detail durchkomponiert, auf die Sekunde genau mit den Technikern abgestimmt. Es ist das Gerüst, die klangliche Umhüllung für die Aufführung – und für die Schauspieler_innen Bene und Javicoli. Damit werden sie oltre gehen können: woandershin. Sie werden gehen, das Hier und Jetzt, die Eckpfeiler von Theater und Leben verlassen.
Wiederholtes Sterben (Ein außeralltägliches Verfahren)
Eine bestehende, beständige und belastbare Aufführungsstruktur steht bei allen beschriebenen Annäherungen als Ziel im (Bühnen-) Raum. Es sind Strukturen für das Außeralltägliche, nicht starr, aber konstant. Sie stiften Sicherheit, wenn das Spiel um die Kenntnis von Leben und Tod ständig aufs Neue aufgenommen wird. Die Struktur bietet den Rahmen und gibt Anhaltspunkte, wenn das Sterben und der undenkbare Tod als ein bedrohliches Szenarium wahrgenommen werden sollen. Eine andere Art strukturierter Anhaltspunkte für diese Bewältigung findet sich auch jenseits der Bühne wieder. Die dafür vorgesehenen Ver187 Protokoll d. A., aufgezeichnet im CTA April und Mai 2014. CTA-Signatur CB E 08009.
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fahrensweisen, die exakte Verhaltenskodizes zur Verfügung stellen und in einer nicht zu leugnenden Verbindung mit anderen Welten stehen, sind im Alltag z. B. Totenkulte und Begräbnisrituale, in denen ebenfalls Schauspielen angelegt ist, wenn auch verdeckt.188 Es sind miteinander verwandte Bereiche, denn, so Brigitte Marschall, »wie alles mit dem Tod Zusammenhängende Schauspiel ist, ist umgekehrt Schauspiel, obgleich Ablenkung vom Tödlichen der Existenz, immer Totenritual.«189 Schauspielen steht also für eine Form, um einen prinzipiell undenkbaren Übergang vom Leben zum Tod erahnen zu lassen. Dass Schauspiel nicht zwingend als »Ablenkung« interpretiert werden muss, sondern vielmehr als eine Möglichkeit, um die (Un-) Kenntnis des Sterbens auszuhalten oder sogar eine de facto lebendige Annäherung an den Tod bedeuten kann, ist eine Option. Sie wird mit den drei hier erörterten Schauspielpraktiken und Spielweisen von Mnouchkine, Bene und Grotowski vorgeschlagen. Die Attraktivität des Theaters besteht vor allem darin, dass man hier, anders als im Alltag, gefahrlos in andere Welten eintauchen kann, auch in die des Todes. Man bewegt sich auf sicherem Terrain, denn die Schauspieler_innen bleiben unversehrt. Es handelt sich um eine Spielstruktur, in der die Spielenden zu Grenzgänger_innen zwischen verschiedenen Welten werden. Bekannt sind Reisen in die Unterwelt mit unterschiedlichsten Variationen des Zurückkehrens: das grenzgängerische Vermengen verschiedener Welten. Baumbach etwa weist da rauf hin, dass wenn die venezianischen Spitzen-Buffoni Zuan Polo und Domenico Taiacalze bei ihrem Aufenthalt in der Hölle tanzen […] ihnen, den Teufeln, die Arschbacken ganz nackt zeigen […], verblüffen sie alle Bewohner der Unterwelt. Es habe nie stärkere Anzeichen von Leben in jenen düsteren Grotten gegeben, um die toten Körper zu erwecken.190
Theater bietet uns die Chance, mit dem Wissen um unsere Sterblichkeit umzugehen – als Zuschauer_innen, die dem Schauspiel beiwohnen, und als Schauspieler_innen, die es aufführen. Die Annäherung an unsere Endlichkeit findet hier in 188 Ein Beispiel für ein verdecktes Schauspiel ist die an Klageweiber delegierte Trauer (gegen Entgelt / Honorar), bei der alle Beteiligten wissen, dass deren Trauer nichts mit unmittelbarer Betroffenheit zu tun hat, sondern reines Spektakel ist. »Rein« bedeutet hier, dass die geschauspielerte Trauer der Klageweiber vor dem »Publikum«, den trauernden Angehörigen, nur dann »funktioniert«, wenn sie ihre Klage auf das Wesentliche reduzieren: auf die Trauer um den verblichenen Leib. Nicole Loraux weist in diesem Kontext auf die klagenden und trauernden Frauen der griechischen Tragödien hin, die etwa ihre Brüste entblößen, sich selber schlagen oder sich die Wangen zerkratzen. Vgl. Nicole Loraux, Tragische Weisen, eine Frau zu töten, S. 81, einschl. FN 166. 189 Brigitte Marschall, »Elixiere des Todes«, in: Theater in Österreich 1988/89, S. 135–142, hier S. 136. 190 Baumbach, »Erinnern, Erzählen, Leibwissen«, in: Momentaufnahme Theaterwissenschaft, S. 107– 120, hier S. 110: Die hier wiedergegebene Erzählung »Il Sogno dil Caravia« erscheint bereits 1541, also mehr als 40 Jahre vor der Erzählung »Histoire Plaisante des Faicts et Gestes de Harlequin commedien Italian«, »die von der Reise des Harlequin ins Totenreich erzählt«, wie Baumbach hier anmerkt.
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Schauspielen und (finale) Transformation
einem überschaubaren Rahmen statt, der vorher absichtlich gesucht, gefunden und erprobt wurde und konstant ist. Dieser Rahmen bietet Schutz bei der Suche nach Vertikalität (wie Grotowskis Theater-Laboratorien), Raum für Imagination (wie Mnouchkines Theater-Utopie) und die Option, der Szene zu entkommen (wie Benes oltre bzw. »Woandershin«). Er öffnet sich durch schauspielerische Direktheit im Augenblick selbst. Die Bühne als ephemere Möglichkeit von Raum und Zeit bietet mit ihrer Gegenwart, in der Vergangenheit und Zukunft zusammenfallen, eine Potentialität von Ewigkeit, die in der Transformation weder Anfang noch Ende kennt. Transformation ist Werden, ist ein Dazwischensein, was den Prozess des Sterbens in der Gegenwart erfahr- und aushaltbar macht, auch wenn der Tod an sich undenkbar ist und in der Zukunft liegt. Dieses reizvolle und gleichsam attraktive Angebot des Schauspielens als eine Antwort auf die aus dem Alltag verdrängte Frage bezüglich unserer Endlichkeit ergibt sich aus der existenziellen Gegebenheit, dass »alle Kultur ihr Zentrum im Problem der Sterblichkeit hat und (zumindest im innersten Kern) den Versuch darstellt, dem Menschen in seinem Ungleichgewicht zwischen [erahnter] Sterblichkeit und [erhoffter] Unsterblichkeit einen Halt zu geben«191, so Jan Assmann. Der Halt beim Schauspiel (-en) ist die Bühne. Sie erlaubt neben der Struktur ebenfalls einen physischen und zeitlichen Rahmen, der nie verlassen wird, selbst wenn dieser probeweise, provokanterweise, notwendigerweise überschritten wird. Der schützende und ins Undenkbare wie Jenseitige sich öffnende Rahmen bleibt sogar dann bestehen, wenn Schauspielende es anstreben, sich als Schauspielende aufzulösen: »Der Schauspieler müßte verschwinden«, sagt Carmelo Bene, »während er da bleibt, sich im Handeln auflösen, in der Unmittelbarkeit, nicht aber in der Handlung oder der Geschichte«.192 Das Schauspielen bietet als Besonderheit vor allem eine Alternative zur alltäglichen Begegnung, profanen Beschäftigung und theoretisch diskursiven Auseinandersetzung mit unserer Endlichkeit, da es gerade der sich verändernde Körper ist – Instrumentarium und Material dieser prozesshaften Vorgänge und jener transformatorischen Bewegungen –, der einen Leib hervorbringt: Schauspielende setzen in ihrer Kunst den Körper ein, ihm sind sie aber auch ausgesetzt. Denn sind es nicht die aus ihnen und durch sie erschaffenen Leiber, die für das Spiel, für das Hervorbringen von Figuren, Wesen und Wesenhaftem sowie ebenfalls für deren Vergehen genutzt werden? Sie trainieren und schulen diese Körper einschließlich der hervorgebrachten Leiber auf unterschiedlichen Ebenen (kulturell,
191 Jan Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, S. 49. 192 Carmelo Bene, »Notate zum Theater«, in: Theater etcetera, S. 74–77, hier S. 77.
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professionell und individuell)193 und führen auf der Bühne damit ihre Transformationsprozesse durch. Mit jedem einzelnen Mal, indem und insofern sie sich auf eine der Transformationen einlassen, üben Schauspielende souverän den Prozess des Sterbens und stellen einen Kontakt zu anderen Welten her. Weiters besteht eine Besonderheit von Schauspielen darin, dass dem Tod als »widerspenstiges Thema«, bei dem sich eine »wissenschaftliche Theoretisierung und Diskussion […] aus verschiedenen Gründen erschwert«194, körperlich wie leiblich begegnet wird. Im Theater bietet sich die Betrachtung und praktische wie theoretische Beschäftigung mit diesem undenkbaren, unfassbaren, nichtsdestotrotz zu erwartenden Thema in Aktion durch Schauspielende und ihr Leibwissen an, wobei wir »auf Praktiken verschiedener Art, auch auf jene mit tatsächlich physiologisch-organischer Grundlage jenseits des Allegorischen«195 treffen. In diesem Zusammenhang macht es Sinn, sich auf die Schauspieler_innen zu konzentrieren, denn sie sind es, die nahe am Leben und am Tod sind.196 Sie erzählen es uns, ohne einfach nur so zu tun als ob, mit ihren Körpern und Leibern und »im Verein mit Figuren, die in Gestalt von Leibmasken erscheinen. Hinter diesen ihren Kunstfiguren steht die uralte Autorität mythischer Figuren in Art des Tricksters. Jene bilden das Hinterland der lebenslang beibehaltenen Figuren der Akteure.«197 Manchmal sind sie ganz direkt zu sehen. Mit Stock und Zylinder springen sie in die Mitte des Platzes und beginnen eine Geschichte zu erzählen – wie beispielsweise Mario Biagini in Dies Irae, einer Folgeversion von One breath left.198 Dies bedeutet auch, dass (wieder) Bilder für das Auge der Zuschauenden geschaffen werden. Bezeichnenderweise erzählt One breath left vom letzten Atemzug einer
193 Vgl. Eugenio Barba, »Kulturelle Identität und professionelle Identität«, in: Das Lernen zu lernen. ISTA Internationale Schule für Theateranthropologie. Flamboyant, Heft 3 / Frühjahr 1996, S. 8–14. 194 Thomas Macho, »Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich«, in: Jan Asmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, S. 89–120, hier S. 91. 195 Gerda Baumbach, »Erinnern, Erzählen, Leibwissen«, in: Momentaufnahme Theaterwissenschaft, S. 107–120, hier S. 108. 196 Vgl. im Gegensatz dazu die mehrfach untersuchte Anwesenheit des Leibes der Zusehenden. »In seiner Naturgeschichte des Theaters war der Leib vorgekommen – der Leib des Zuschauers.« Ebenda, S. 107–120, hier S. 114. 197 Ebenda, S. 116–117. 198 Bereits One breath left ist der Versuch, Kunst als Vorstellung und art as vehicle miteinander zu verbinden. Man versucht, zur Aufführungsstruktur zurückzufinden, die einen direkteren Kontakt zum Publikum aufbaut. Nach Grotowskis Tod ist dies ein erster Schritt wieder in Richtung Kunst als Vorstellung. Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Kein Publikum – Zeugen sind gefragt / No spectators – witnesses are wanted«, english version by Bernhard Siebert, written version of a lecture held on the occasion of the International Symposium – Performing through: Tradition as Research at the Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards, June 28th–29th 2003. Material Gabriele C. Pfeiffer opening conference 2003 von Tracing Roads Across, in: Materiały o Tracing Roads Across ze strony Kent University im Archiv Instytut im. Jerzego Grotowskiego in Wrocław.
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Schauspielen und (finale) Transformation
alten Frau. Eine darauf aufbauende Aufführungsstruktur mit dem Titel Dies Irae erhält in einer späteren Phase den Untertitel: My Preposterous Theatrum Interioris Show.
Dies Irae 2003, Aya Irini Istanbul, auf dem Tisch Gey Pin Ang (Foto Cem Ardik)
Die Anatomie des Dr. Tulp, Rembrandt 1632 (Mauritshuis, Den Haag)
In der Anfangsszene liegt eine sterbende Frau auf einem Tisch. Sie ist das »Überbleibsel« aus One breath left. Um sie herum gruppiert sich eine Menschentraube, die von dem »Magier« Biagini angeführt wird. Sie stimmen nach und nach in den Gesang Dies irae dies illa ein.199 Die für die Zuschauer_innen montierte Sequenz lässt einen Anatomie-Hörsaal assoziieren und ist zugleich eine interszenische Anspielung auf Rembrandts Bild Die Anatomie des Dr. Tulp von 1632, ein Spiel in und mit (Medizin-) Geschichte und Tod.200 Der Leib der Schauspieler_innen wird zigmal dem Sterben ausgesetzt. Durch diese permanente Wiederholung der Ephemerität werden mögliche Strategien angeboten, um auf das Wissen ob unserer finalen physischen Existenz, unserer leiblichen Transformation zu reagieren. Zeit, Raum und die Option, dem Tod zu begegnen, ohne selber sterben zu müssen, vorerst jedenfalls nicht, wird im Schauspiel (-en) versprochen. Souverän gestorben wird auf der Bühne.
199 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »The Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards’ way (back) to storytelling«, in: formes du narratif dans le theatre. hier, aujourd’hui, demain. tiyatroda anlati biçimleri. dün, bugün yarın. Istanbul 2007, S. 59–69; idem 2008, S. 81–95. 200 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Ein Theater, das einlädt. Das ›Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards‹ in Wien – ein Bericht«, in: STIMME von und für Minderheiten., S. 26–27. Ludwik Flaszen erwähnt bereits Mitte der 1960er-Jahre in einem Beitrag zu Der standhafte Prinz das Bild einer chirurgischen Operation und Rembrandts Gemälde, wenn er über die der Gestaltung von Bühne und Raum für Zuschauende spricht. Vgl. Ludwik Flaszen, »Der standhafte Prinz«, eine Einführung im polnischen Programmheft, in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 104– 106, hier S. 105.
Mit Leib und Leben 227
Mit Leib und Leben Theater ist Fleisch
Für Mnouchkine wird Theater definitiv aus »Fleisch und Knochen« gemacht. Offensichtlich ist dies aber nicht hinreichend bekannt, denn sie fragt sich: »Warum soll man nicht zugeben, dass das Theater eine außerordentlich biologische Kunst ist, denn es wird aus Körper und Fleisch gemacht?« Aus ihrer Sicht ist es eindeutig: Theater »wird aus Fleisch gemacht, und dies unterscheidet es zum Beispiel von der Malerei. Man könnte das [G]leiche von der Musik sagen. Sie wird aus dem Atem aus dem Körper gemacht«.201 Mnouchkine bezieht sich hier auf das Material (Körper der Schauspielenden, die Farbe der Maler_innen) und nicht auf das Instrument (Körper der Schauspielenden, Pinsel in der Verlängerung des Körpers der Maler_innen), aus dem Theater gemacht wird. Bei Schauspieler_innen fällt dies zusammen. Die Betonung muss auf »wird aus Fleisch gemacht« liegen, denn die Urheber_innen aller Kunst sind Menschen. Mit anderen Worten: Der Urheber aller Kunst ist der künstlerisch schöpfende Mensch, der lebt und amtet. Urheber aller Kunst ist also der menschliche Atem. Mnouchkine spinnt den Gedanken weiter: »Der Text ist fürs Fleisch gemacht, um Fleisch hervorzubringen und sich seiner zu bemächtigen.«202 Der letzte Halbsatz lässt sich in die Debatte um die Vorherrschaft eines im 18. Jahrhundert etablierten Literaturtheaters einschreiben, wobei die Diskussion über die Bedeutung von Dichten und Schauspielen eindeutig zugunsten des Schauspiels ausfällt, selbst dann, wenn mit Anton Čechov argumentiert wird, der 1887 pointiert formuliert, dass es ihm bei der Theaterkunst nach wie vor um den Theaterdichter gehe. 1) Der Autor ist der Herr des Stückes, nicht die Schauspieler; 2) überall gehört die Besetzung zur Verpflichtung des Autors, wenn eine solche nicht fehlt; 3) bis jetzt haben alle meine Hinweise zum Nutzen gereicht und sind befolgt worden; 4) die Schauspieler bitten von sich aus um Hinweise […]203
Auch wenn Čechov und andere Theatermacher (sic) davon überzeugt sind, dass der Autor »Herr des Stückes« ist, funktioniert Schauspiel, um das es auch in einem von Literatur bestimmten Theater geht, nicht ohne Schauspieler_innen. Ähnlich sieht Grotowski das Verhältnis von Schauspieler_in und Text, denn die eigentliche Bedeutung liegt ihm zufolge immer bei den Schauspielenden:
201 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers, Ariane Mnouchkine im Gespräch mit Josette Féral«, in: TheaterFrauenTheater, S. 182–196, hier S. 194. 202 Ebenda. 203 Anton Čechov, Über Theater, S. 140.
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Schauspielen und (finale) Transformation
Angesichts dieser [er meint dramatische] Literatur können wir zwei Positionen einnehmen: Entweder können wir den Text mit der Interpretation der Schauspieler illustrieren, durch die »miseen-scène«, das Bühnenbild, die Spielsituation … In dem Fall ist das Ergebnis kein Theater, und das einzige lebendige Element in einer solchen Aufführung ist die Literatur. Oder wir können den Text buchstäblich ignorieren, ihn nur als Vorwand behandeln, Interpolationen und Änderungen durchführen, ihn auf ein Nichts reduzieren. Ich habe das Gefühl, daß beide Lösungen falsch sind.204
Ohne an dieser Stelle in eine Definitionsdebatte einzusteigen, was Theater sei und welche Rolle Literatur dabei spiele,205 ist in erster Linie festzuhalten, dass Text von Schauspielenden im bürgerlichen Literaturtheater entweder illustriert oder ignoriert wird. Da für Grotowski beide Vorgehensweisen unattraktiv sind und er sich sowohl mit Text, was Autor_innen inkludiert, als auch mit Schauspielenden beschäftigt, muss er ein neues Verhältnis zwischen ihnen etablieren. Für ihn bleiben beide vorhanden, allerdings werden sie ins Klanglich-Materielle (Text, Wort, Gesang) und ins Agierende (Schauspielen, Singen, Handeln) transferiert. Dies dient einem höheren Zweck: Nicht die Vermittlung von Inhalten oder das Etablieren von Strukturen ist wichtig für Zusehende, vielmehr steht die Montage für die Handelnden (Schauspielenden) im Mittelpunkt, damit diese ihre Leitern bauen und von einer Welt in die andere steigen können. Es soll eine Transformation von dieser Welt in eine andere vollzogen werden. Dem Tod vorzubauen lautet die Devise. Bene indes treibt die Frage nach Literatur dem Schauspieler auf der Bühne entgegen, er konfrontiert toten Text mit lebendem Theater. Auf den ersten Blick arbeitet er nah am Text, doch er geht noch einen Schritt weiter, indem er zugleich davon ausgeht, dass es unmöglich ist (im Sinne von »falsch«, »verkehrt«), klassische Texte wie Shakespeare zu inszenieren. Die Idee, die alle – Intellektuelle, Kritiker_innen, Schauspieler_innen – von Theater haben, ist vorwiegend literarisch geprägt. Während, vor allem in Italien, Kulturmenschen das Theater mit »lächelndem Wohlwollen« betrachten, quasi als Nebensächlichkeit, als »Zerstreuung« … Sie lesen Texte, sie analysieren sie und alles hört genau da auf. […] Sie verstehen nicht, ich wiederhole, dass das Theater ein labiles Phänomen ist, das auf der Bühne lebt, in dem Moment, in dem es ist [Anm. stattfindet]. […] Ich habe vor kurzem ein Buch veröffentlicht, ein Sammelwerk von drei Stücken von mir, aber auch dieses Mal konnte es niemand lesen. Die Rezensionen haben mir bestätigt, was ich früher schon einmal gesagt habe: die Unfähigkeit, die Unmöglichkeit vielleicht, über die geschriebenen Seiten hinauszugehen … Daher bin ich überzeugt, dass es nicht möglich ist, dass es nicht legitim ist, Klassiker zu inszenieren: Shakespeare, Marlowe (der nicht zufällig nie aufgeführt wird) waren große Dichter, und bleiben solche als größte Vertreter der englischen Literatur.
204 Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 60. 205 Noch Ende des 20. Jahrhunderts wird dem Text eine mehr als mächtige Zuschreibung im Theater gegeben, vgl. Alain Badiou, Rhapsodie für das Theater, 2015. (Orig. Rhapsodie pour le théâtre. Court traité philosophique, 2014)
Mit Leib und Leben 229
Aber ihr Theater heute auf die Bühne zu bringen, wie auch immer »neu interpretiert« oder »neu geschrieben«, bedeutet, einem Missverständnis aufzusitzen.206
Grotowskis und Benes Perspektiven schließen die oben zitierte Aussage Mnouchkines über das Theater ein, das aus Fleisch und Knochen gemacht sei. Sie zielen außerdem verstärkt auf ein Verständnis, das sich als allgemein gültiges Fundament erklären lässt.207 Die Konkurrenz zwischen Dichtkunst und Schauspielkunst wird die Jahrhunderte hindurch über ihre Protagonist_innen ausgetragen, um schließlich jeglichen Verkörperungs-Diskurs rund um das Sprechtheater im 18. Jahrhundert sowie damit einhergehenden Erklärungen von Ent-Körperlichung der Schauspielenden obsolet werden zu lassen. Schauspielende sind nicht mehr länger Dienende zweier Herren, sind also weder dem Dichter noch dem Regisseur untertan. Und sie suchen nicht zu sechst einen Autor, werden also nicht mehr mit ihren Figuren verwechselt.208 Ab dem Moment kann wieder ein Ende der »Verkörperung einer Figur / Rolle« konstatiert werden, auch in solchen von der Literatur vorgegebenen Theaterformaten.209 Selbst im Théâtre du Soleil, das Geschichten mit Anleihen aus der Literatur erzählt und ein Theater des Geschichtenerzählens par excellence ist, werden Figuren nicht einfach verkörpert. Vielmehr sind es Masken, die durch die Schauspielenden sprechen.210 Merleau-Ponty entwickelte in seinem Spätwerk die »Philosophie des Fleisches« (chair), die nicht nur für die Philosophie, sondern ebenso für die Theaterwis206 Carmelo Bene in einem Interview: Elena de Angeli, »Non si può morire«, in: Carmelo Bene, Panta, S. 65–69, hier S. 66–67. (Orig. ital.: »L’idea che tutti – intellettuali, critici, attori – hanno del teatro è eminentemente letteraria. Intanto, sopratutto in Italia, gli uomini di cultura guardano al teatro con ›sorridente benevolenza‹, come a una manifestazione del tutto collaterale, a una ›distrazione‹ … Leggono i testi, li analizzano, e tutto finisce li. […] non capiscono, ripeto, che il teatro è un fenomeno labile, che vive sulla scena, nel momento in cui è. […] Io ho pubblicato un libro di recente, ho raccolto tre cose mie, ma anche questa volta nessuno ha saputo leggere, le recensioni mi hanno confermato quello che dicevo prima, l’incapacità, l’impossibilità forse di andare al di là della pagina scritta … Per questo sono convinto che non sia possibile, che non sia legittimo mettere in scena i classici: Shakespeare, Marlowe (che non a caso non viene mai rappresentato) erano grandi poeti, e rimangono in quanto tali i massimi esponenti della letteratura inglese. Ma mettere in scena oggi il loro teatro, comunque lo si ›rivisiti‹ o lo si ›riscriva‹, significa cadere nell’equivoco.«) 207 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 1966. 208 Im 21. Jahrhundert begeben sich die Schauspielenden wieder unter der Hand von Regisseur_innen auf die Suche. Nicht mehr ein_e Autor_in wird vermisst, sondern andere Elemente, die dem Theater eigen sind … oder genau nicht: z. B. die Bedeutung. In einem der Beispiele suchen sie das verschwundene Bühnenbild. Vgl. René Pollesch, Carol Reed, Uraufführung am 29. April 2017 im Akademietheater Wien. 209 Ganz zu schweigen von der im Jahrmarktstheater praktizierten Schauspielkunst, der niemals die Bedeutung des Schauspielers abhanden gekommen ist. Vgl. z. B. Vsevolod E. Meyerhold, »Balagan«, in: ders., Schriften, Aufsätze, Briefe, Reden, Gespräche. 1. Bd., S. 196–220. 210 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Spiel der Masken – Ariane Mnouchkine und das Eigenleben ihrer Figuren«, in: Erinnern – Erzählen – Erkennen, S. 354–369.
230
Schauspielen und (finale) Transformation
senschaft bedeutsam wurde, weil sie dieser Disziplin zum Verständnis verhalf, dass es das Fleisch ist, »durch das der Körper immer schon mit der Welt verbunden ist. Jeglicher menschliche Zugriff auf die Welt erfolgt mit dem Körper, kann nur als verkörperte[r] erfolgen«211. Der Begriff »Verkörperung«, wie er von Fischer-Lichte im Rahmen theaterwissenschaftlicher Studien vorgestellt wird, die wiederum auf literaturwissenschaftlichen und wirkungsästhetischen Erkenntnissen beruhen, ist im Hinblick auf die Schauspielenden ausgearbeitet und zielt darauf ab, dass der Körper in seiner Fleischlichkeit instrumentelle und semiotische Funktionen übersteigt. Dies impliziert eine Vorstellung vom Körper, die Merleau-Pontys Konzept212 des Fleisches inkludiert, weil »der Leib (corps) zur Ordnung der Dinge gehört, so wie die Welt universelles Fleisch (chair) ist […]«. Wo sollen wir die Grenze zwischen Leib und Welt ansetzen, wenn die Welt Fleisch ist? […] Mein Leib als sichtbares Ding ist im großen Schauspiel mitenthalten. Aber mein sehender Leib unterhält diesen sichtbaren Leib und mit diesem alles Sichtbare. Es gibt ein wechselseitiges Eingelassensein und Verflochtensein des einen ins andere.213
Nancy erweitert die Vorstellung der Verflochtenheit und der res extensa,214 denn für ihn gibt es nicht »den« Körper, es gibt nicht »das« Berühren, es gibt nicht »die« res extensa. Tatsache ist, daß es gibt: Erschaffung der Welt, techné der Körper, Wägen ohne Grenzen des Sinns, topographischer Corpus, Geographie der vervielfältigten Ektopien – und keine U-topie.215
Dies ist ein vielsagender Ansatz für den Kontext Theater, das aus Fleisch und Knochen gemacht wird, eines, das Welten erbaut, und zwar mittels verschiedener techné von Körpern. Die intensivsten Momente des Erbauens und Schaffens von (Theater-) Welten mit dem zu Fleisch gewordenen Körper (hoc est enim corpus meum: das ist mein Leib)216 werden über Sterben, Tod oder Krankheit erreicht. Es wird eine Maschine des Bewusstseins für Sterben und Tod auf der Bühne kreiert. Sowohl Mnouchkine als auch Grotowski als auch Bene sind in ihren Biografi211 Erika Fischer-Lichte, »Verkörperung / Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen Kategorie«, in: Verkörperung, S. 11–25, hier S. 17. Vgl. die Literaturangaben in der FN 101. 212 Vgl. »Was Merleau-Ponty für die Philosophie, hat durchaus vergleichbar Grotowski für das Theater geleistet.« Erika Fischer-Lichte, »Körperlichkeit«, in: dies., Ästhetik des Performativen, S. 129–160, hier S. 142. 213 Maurice Merleau-Ponty, »Die Verflechtung – Der Chiasmus«, in: ders., Das Sichtbare und das Unsichtbare, S. 172–203, hier S. 181–182. 214 Nach Descartes’ dualistischer Ontologie bestehen die Erscheinungsweisen alles Seienden aus res extensa (ausgedehnte Substanz: Materie, Leib) und res cogitans (denkende Substanz: Bewusstsein, Geist, Seele). 215 Jean-Luc Nancy, Corpus, S. 103. Dank an Elisabeth Büttner (†) für diesen Literaturtipp, den sie mir speziell ans Herz gelegt hat. 216 Vgl. ebenda, S. 9–11.
Mit Leib und Leben 231
en mit dem je eigenen Tod konfrontiert (Alter, Krankheit, Lebensweise). Doch keine_r der drei verwandelt die Bühne in eine Reflexionsfläche bzw. versucht eine Verhandlungsbühne des imaginierten eigenen Sterbeprozesses oder des eigenen nahenden Todes zu konstruieren. Eines der herausragendsten und wütendsten Beispiele dafür ist hingegen Christoph Schlingensief. In seiner inhaltlich theatralen und existenziell bedrohten Beschäftigung mit (seinem) zum fleischlichen Körper werdenden Leib, der vergehen wird, kommt Schlingensief durch eine schwere Krankheit und vor allem die damit einhergehende zerstörerische »Behandlung« zu der Erkenntnis: Eins ist mir klar geworden: Hier die Seele, da der Körper – das ist ein falsches Denken. Der Körper ist Seele, und die Seele ist Körper. Sie ist das Zentrum des Verbundsystems, das einen von der Geburt bis zum Tod begleitet. Sie ist die Tatsache, dass alles zusammengehört und miteinander verbunden ist.217
So wie der Leib auf der Bühne werden Körper und Seele zu einem Teil der sichtbaren Welt. Diese Welt ist durch den Leib erfahrbar, weil Körper, Leib, Seele miteinander verbunden sind. Wenn man davon ausgeht, dass der Körper eine Ausdehnung ist, wie es u. a. Nancy sagt, so repräsentiert die Seele in »unserer Tradition […] den Körper außerhalb seiner selbst oder das Andere, das der Körper für sich selbst und in sich selbst aufgrund seiner Struktur ist«.218 Die von Helmuth Plessner vorgestellte Dialektik des Körper-Habens und Körper-Seins entspricht diesem Denkmodell.219 Der Körper wird nicht nur als Objekt, Ursprungsort und / oder Medium von Symbol-Bildungsprozessen betrachtet, nicht nur als Oberfläche und Produkt kultureller Einschreibungen, sondern auch und vor allem als ein leibliches In-der-Welt-Sein.220 Der Leib, der – lebendig auf der Bühne oder starr nach dem Gestorbensein bzw. vor dem Schrecken namens Tod – vermessen und seziert wird, somit Leib gewesen und Körper geworden ist, ist für Schauspielende und weiter gefasst für Akteur_innen seit jeher existenziell und rückt im Rahmen der Theaterwissenschaft zunehmend in den Fokus.221 Der Körper, der schlussendlich verwest, ist stets Hauptakteur – in welchen Theaterstrukturen auch immer er sich bewegt(e). Er wird von Schauspielenden und Theaterwissenschafter_innen, die ihn auf diese Weise im Blickfeld haben, ebenfalls 217 Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!, S. 226–227. 218 Jean-Luc Nancy, Corpus, S. 111. 219 Helmut Plessner, »Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)«, in: ders., Ausdruck und menschliche Natur, S. 399–418. 220 Vgl. Erika Fischer-Lichte, »Verkörperung / Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen Kategorie«, in: Verkörperung, S. 11–25, hier S. 18. 221 »Die Entdeckung des Körpers« gilt nicht nur für theaterwissenschaftliche Studien, sondern ist gleichsam für alle humanwissenschaftlichen Forschungen ins Blickfeld gerückt, vgl. Die Wiederkehr des Körpers, 1982.
232
Schauspielen und (finale) Transformation
als existenziell erachtet und verhandelt: »Schauspielkunst, einschließlich Puppenspiel, Oper, Operette, Tanz – das unterscheidet sie von anderen Künsten –, ist unmittelbar an den lebendigen Menschen gebunden.«222
Empfinden oder nicht empfinden …
Die Problematik, der sich Schauspielende gegenüber sehen, umfasst sehr viel mehr als das Paradox des Schauspielers.223 Denn es geht nicht nur um die seit zwei Jahrhunderten zitierte und rezipierte Dualität von »empfindsam sein« und »empfinden«224, um Verstellung als Voraussetzung für Wahrheit,225 also nicht nur um die Diskussion über »Gefühls-Schauspielen« und »Verstandes-Schauspielen«. Auch geht es nicht nur um die Debatte über das verhängnisvolle Instrument bzw. Material der Schauspielenden, weil, wie Craig sagt, »zur erschaffung eines kunstwerks nur mit den materialien gearbeitet werden darf, über die man planend verfügen kann. Der mensch [aber nun] gehört nicht zu diesen materialien«226. Die größte Schwierigkeit jedoch liegt im Material der Schauspielkunst selbst. Mit jeder Bühnentätigkeit zerschleißen, zerstören sich Schauspieler_innen, zerrt die Arbeit an ihren Körpern und Leibern, nähern sie sich ihrer Vergänglichkeit, verweisen auf ihr ephemeres Sein. Kunst und Kunstschaffende sind diesem Prozess gleichermaßen ausgesetzt: Ihr vergänglicher Leib, für sie selbst spürbar, für die Zusehenden zumindest im Ansatz sichtbar, überträgt sich geradewegs auf ihr Instrument und ihr Material, auf ihre Körper. Der Prozess des Sterbens, der nahe (-nde) Tod ist omnipräsent. Wenn sich »die Geschichte des Menschen als die Geschichte seiner Auseinandersetzung mit dem Tod begreifen«227 lässt, dann spiegelt sich die Geschichte des Menschen als seine Auseinandersetzung mit dem Tod in seinen schauspielerischen Handlungen unmittelbar wider. Darüber hinaus »studiert der Schauspieler Menschsein und legt praktische Proben dieses seines Studiums in praxi vor«228. Derart können das Verhältnis zwischen Leben und Tod sowie die Transformation von einem zum anderen am Schauspiel (-en) studiert werden. Das Werden der Schauspieler_innen auf der Bühne ist gleichsam das Werden von Leben und Tod, was das Sterben inkludiert. Natürlich darf 222 Gerda Baumbach, Schauspieler, Band 1, S. 127. 223 Denis Diderot, »Das Paradox über den Schauspieler (1770–1773)«, in ders., Ästhetische Schriften. Bd. 2, S. 481–538. 224 Ebenda, S. 530. 225 Vgl. Galili Shahar, Verkleidungen der Aufklärung, S. 62. 226 Edward Gordon Craig, »Der Schauspieler und die Übermarionette«, in: ders., Die Kunst des Theaters, S. 51–73, hier S. 52. 227 Christoph Wulf, »Körper und Tod«, in: Die Wiederkehr des Körpers, S. 259–273, hier S. 259. 228 Gerda Baumbach, Schauspieler, Band 1, S. 136.
Mit Leib und Leben 233
man nicht vergessen, dass dies der Blickwinkel ist aus einer Gegenwart, in der Leben und Sterben und die Transformation zum Tod voneinander getrennt sind, was nur schwer verkraftbar zu sein scheint. Die Irreversibilität des biologischen Todes, sein objektiver und punktueller Charakter ist ein Produkt der modernen Wissenschaft. Er ist eine Besonderheit unserer Kultur. Alle anderen gehen davon aus, daß der Tod vor dem Tode beginnt, daß das Leben nach dem Leben fortwährt und daß es unmöglich ist, Leben und Tod zu trennen.229
Das Sterben als Teil des Lebens und Teil des Todes, als das gleichzeitige Dazwischen, das Sterben also ein ewiger Prozess, wie auch Bene es sieht. Für ihn »ist der Tod das Sterben für immer und ewig und er ist nicht das Vorzimmer des Sterbens des Todes«230. Die Transformation selbst bewegt sich im Mittelpunkt des Lebens, ist nicht das eine und nicht das andere, sondern beides. Montaigne sagt unter Berufung auf Cicero, »Philosophieren sei nichts anderes, als sich auf den Tod vor[zu]bereiten«. Zumal das Sinnen und Betrachten unsere Seele gleichsam von uns abwendet und ihr eine Tätigkeit jenseits unseres Körpers anweist, was gewissermaßen eine Vorübung und Abbild des Todes ist, oder weil alle Weisheit und alle Vernunft dieser Welt endlich in das eine Ziel ausmündet, uns den Tod nicht fürchten zu lehren.231
Gegenwärtig bleibt – auch nach Avantgarde und Neoavantgarde mit den theoretischen und künstlerischen Versuchen, Leben und Kunst zu vereinen – der Tod im Leben außen vor. Der Übergang vom Leben zum Tod wird als vom Leben abgekoppelt wahrgenommen und entsprechend behandelt. Nichtsdestotrotz ist der Tod deshalb nicht weniger präsent. Auf der Bühne jedenfalls ist er keineswegs ausgeschlossen. Er schwebt zwar nicht mehr als Botenbericht herein wie in der Antike, tritt nicht mehr auf als Allegorie in Gestalt eines pseudomittelalterlichen Sensenmannes und zeigt sich auch nicht in seiner Doppelseitigkeit (wie Frau Tod in Mein Kampf von George Tabori).232 Tod und Sterben werden nicht mehr als visuelle Spektakel präsentiert wie im 18. Jahrhundert,233 und auch nicht wie bei Hofmannsthal als »des 229 Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 251. 230 Carmelo Bene in Carmelo Bene otto interventi. Programma Sushi / Canale MTV – [9.4.‒21.4.]1999; nr. 2: »La Morte« [TC 00:02:33] Transkription von Nino Marta, abrufbar unter ia801609. us.archive.org/8/items/BeneSushi/BeneSushi.pdf [13/05/2016] (Orig. ital.: »ecco la morte è questo morir per sempre e non quest’ anticamera del morir la morte«) 231 Michel de Montaigne, »Philosophieren heißt sterben lernen«, in: ders., Von der Freundschaft, S. 49–73, hier S. 49. 232 George Tabori, Mein Kampf, Farce. Deutsch von Ursula Tabori-Grützmacher. Musik Stanley Walden. Hrsg. v. Burgtheater Wien, Programmheft 17, 30. April 1987. Regie: George Tabori, Frau Tod wurde gespielt von Sonja Sutter. Für diesen Hinweis danke ich Brigitte Marschall. 233 Vgl. Inge Baxmann, »Der Tod als Schauspiel des Körpers und Szenario des Blicks«, in: Das Laokoon-Paradigma: Zeichenregime im 18. Jahrhundert, S. 511–524.
234
Schauspielen und (finale) Transformation
ionysos, der Venus Sippe« entsprungene Erscheinung.234 Und es gibt keine D Höllen mehr auf der Bühne, die sich Menschen gegenseitig liefern wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.235 Selbst Performance-Künstler_innen der 1960er-Jahre kehren der Theaterbühne den Rücken, um dem Tod nicht ins Auge zu blicken, wenngleich der Prozess des Sterbens beansprucht, verhandelt, thematisiert und zum Ausdruck gebracht wird. Grenzen werden erspürt. Sie werden gesucht, verschoben und aufgehoben, um andere Zustände des Lebendigseins zu erreichen. Die letztgültige Grenze der Transformation allerdings, das Versterben, wird nicht überschritten.236 Immerhin kommt es zu einer Form der Sensibilisierung, herbeigeführt durch Atemtechniken237, ein letztes Ausatmen wird umgangen, dem Hauch des Todes ausgewichen. Obwohl das Sterben auf der Bühne willentlich umgangen wird, kann es unzweideutig erahnt werden. Wenn der Wiener Aktionist Günter Brus sich 1970 entscheidet, der Zerreißprobe 238 zu widerstehen, dann nicht (nur) aus ästhetischen Gründen.239 Seine »Körperanalysen« sind Grenzerfahrungen der Psyche und der Physis, aber keine dauerhafte Grenzüberschreitung. Die Betroffenheit seines Leibes lässt ihn in seinen späteren Jahren zum Zeichner werden.240 Sein Material besteht von nun an aus Papier und
234 »Der Tod | Steh auf! Wirf dies ererbte Graun von dir! | Ich bin nicht schauerlich, bin kein Gerippe! | Aus des Dionysos, der Venus Sippe, | Ein großer Gott der Seele steht vor dir, | Wenn in der lauen Sommerabendfeier | Durch goldne Luft ein Blatt herabgeschwebt, | Hat dich mein Wehen angeschauert, | Das traumhaft um die reifen Dinge webt. | Wenn Überschwellen der Gefühle | Mit warmer Flut die Seele zitternd füllte, | Wenn sich im plötzlichen Durchzucken | Das Ungeheure als verwandt enthüllte, | Und du, hingebend dich im großen Reigen, | Die Welt empfingest als dein eigen: | In jeder wahrhaft großen Stunde, | Die schauern deine Erdenform gemacht, | Hab ich dich angerührt im Seelengrunde | Mit heiliger, geheimnisvoller Macht.« Hugo von Hofmannsthal, Der Tor und der Tod, Leipzig: Insel o. J., S. 18–19 (erste Auflage 1912; verfasst 1893, veröffentlicht 1894, UA 1898). 235 »L’enfer, c’est les autres.« (Die Hölle, das sind die anderen) Jean-Paul Sartre, Geschlossene Gesellschaft, 1988. (Orig. Huis clos, erschienen 1944 in der Zeitschrift L’Arbalète, UA 1944) 236 In diesem Zusammenhang wird meist von anderen Bewusstseinszuständen gesprochen, und Beispiele der frühen Aktionen von Marina Abramovic, Bruce Naumann oder Rudolf Schwarzkogler werden angeführt. Vgl. auch Brigitte Marschall, Die Droge und ihr Double: zur Theatralität anderer Bewusstseinszustände, 2000. 237 Vgl. z. B.: »Schwarzkogler bezog seinen Leib in seinen Erfahrungsraum ein, unterzog sich ritualisierten Lebensregeln mit Fasten, Schlafentzug und bestimmten Atemübungen.« Brigitte Marschall, Politisches Theater nach 1950, S. 431. 238 Vgl. z. B. Rosemarie Brucher, »Günter Brus’ ›Zerreißprobe‹ und die Tradition christlicher Selbst opfer«, in: Studia Austriaca, 01. Mai 2013 / Vol. 21(0), S. 155–174. 239 Günter Brus erzählt bei einer Podiumsdiskussion über die berechtigten Ängste seiner Frau, die zum damaligen Zeitpunkt v. a. auch an das gemeinsame Kind gedacht habe. Diskussionsveranstaltung im Rahmen des Symposiums (24.–25. April 2015) im Museumsquartier am 25. April 2015 anlässlich der Ausstellung »Mein Körper ist das Ereignis. Wiener Aktionismus und internationale Performance«, kuratiert von Eva Badura-Triska, mumok, 6.3.2015 bis 23.8.2015. 240 Vgl. Bruseum. Ein Museum für Günter Brus, 2011, insbesondere die Zeichnungen und Bild-Dichtungen S. 277–413.
Mit Leib und Leben 235
Bleistift, und seine Werke, die »Bild-Dichtungen«241, mögen bisweilen grausam anmuten, haben jedoch nichts mit Selbstverstümmelung und Selbstentleibung zu tun.
Eine Einfügung: Körper Schmerz Frau
Augenfällig ist, dass das Antesten des Sterbens und das Austesten von Grenzen des eigenen Körpers stärker in der Performance- als in der Schauspielkunst der 1960er-Jahre zu beobachten sind, obwohl auch auf der Sprechtheaterbühne mit körperlichen Rauschzuständen experimentiert wird, sei es durch Zuführung von Rauschmitteln, sei es durch Askese (Bene, Grotowski). Das Sprechtheater reagiert zeitversetzt auf die Ausreizung des Physischen. Es eignet sich erst in den 1990er-Jahren (Postdramatisches Theater) leibliche Ausdehnung, Andersartigkeit, Grenzüberschreitungen und Absonderlichkeiten oder auch Ausstellungsverfahren an, wie die Gruppe Socìetas Raffaello Sanzio, für die Carmelo Benes Theater zum Vorbild wird.242 Romeo Castellucci erinnert sich an sein erstes Theatererlebnis mit Carmelo Bene, das ihn fundamental und nachhaltig beeindruckt hat. Er war damals 15 Jahre alt. Ich erinnere mich an eine gutturale Stimme, die aus dem tiefsten Inneren des Halses kam. Und von dort rückte sie nicht weg, außer für den Effekt einer kontinuierlichen Sturzwelle strömend von einer gebieterischen Amplifikation. […] Mein erster Eindruck war – ganz ohne Zweifel, dies sei die Arbeit eines Verrückten. Und all das machte mir Angst.243
Nicht minder auffällig ist, dass Schauspielerinnen, d. h. Akteurinnen des Sprechtheaters, zögerlicher in der Aneignung ihrer eigenen Körperlichkeit agieren als Akteurinnen der Performancekunst. Oft genug legen Frauen in der Aneignung ihres Selbst zunächst Hand an sich244, bevor sie auf andere übergreifen, wie z. B. 241 Vgl. Günter Brus, Irrwisch, Frankfurt am Main 1971; Günter Brus, Irrwisch, Faksimilierter Reprint der Erstauflage, Klagenfurt 2000; E. Znaymer (Text), Günter Brus (Illustration), Archiv (Fotografie), »Das Denken ist ein Unfall«, in: Datum, Seiten der Zeit, Juni 2005, S. 48–53. 242 Auf den Zusammenhang der beiden italienischen Theaterschaffenden wird auch in der Literatur Bezug genommen: vgl. z. B. Audronė Žukauskaitė, »The Post-subjective Body, or Deleuze and Guattari Meet Romeo Castellucci«, in: Performance, Identity, and the Neo-Political Subject, S. 101–116. 243 Romeo Castellucci, »Altoparlanti, per Carmelo Bene«, in: A CB, A Carmelo Bene, S. 27–29, hier S. 27. (Orig. ital.: »Ricordo una voce gutturale che veniva dall’interno più nascosto della gola e che da lí non si spostava se non per l’effetto di continue ondate promanate da un’imperiosa amplificazione. […] La prima impressione che ebbi era che senza dubbio quello era il lavoro di un folle e che tutto ciò mi faceva paura.«) 244 Diese Thematik wird in regelmäßigen Abständen kommuniziert und retrospektiv vermittelt, vgl. Kunst mit Eigen-Sinn. Aktuelle Kunst von Frauen, 1985, erschien anlässlich der gleichnamigen
236
Schauspielen und (finale) Transformation
in den feministischen Performances der 1960-Jahre und in antiken Stoffen wie z. B. Phaidra. Über diesen Umweg wird das Sein der Frau samt seiner körperlichen Grenzen im Sprechtheater thematisch behandelt und ästhetisch mit Masken umgesetzt. Im Théâtre du Soleil treten noch in den 1990er-Jahren im dritten Teil des Orestie-Zyklus’ Die Eumeniden von Aischylos die Erinyen mit wilden Tiermasken auf. Hélène Cixous beschreibt einmal das Ende des Stücks: Am Ende der Euménides ist alles unerträglich, die Mutter erhält keine Gerechtigkeit, der muttermörderische Sohn kommt auf seine Kosten, und die alten Göttinnen, die nach Rache riefen, lassen sich wie alte Lämmer unter die Erde verdrängen. Beklommenen Herzens verläßt man das Theater. Aber immerhin sind die alten Verschwundenen unsterblich. Während wir dagegen sterblich sind.245
Schon vor Einsetzen der Dritten Frauenbewegung im feministischen Kontext der 1990er-Jahre wird der nahende Tod, die Grenze des Übergangs (des Sterbens) von einem Hier zu einem Dort gesucht und versucht. Rezipiert werden vorzugsweise Kunstaktionen wie z. B. artifizielle Künstlerinnenkörper von Marina Abramović und Gina Pane.246 So sehr der Tod bzw. der Begriff des Todes mit dem Begriff der Sterblichkeit identifiziert wird,247 so marginalisiert und ausgesperrt ist er, und damit auch das Sterben und schließlich das Wissen248 um die eigene Sterblichkeit. Mikroskopisch betrachtet erscheint es naheliegend, diese Marginalisierung noch ein Stück weiter zu treiben und nicht nur die Sterblichkeit des Menschen schlechthin zu fokussieren, sondern explizit die der Frau. Vor dem Prospekt dieser radikal gedachten Transformation gelangt man konsequenterweise zum Sterben der Frau oder vielmehr zum Tod des konkreten weiblichen Körpers. Elisabeth Bronfen geht in ihren Studien zu Tod, Weiblichkeit und Ästhetik von folgender Überlegung aus: Literarische und bildliche Darstellungen des Todes, die ihr Material aus einem allgemeinen Fundus kultureller Symbole schöpfen, lassen sich als Symptome unserer patriarchalischen Kultur deuten. Ausstellung im Museum moderner Kunst / Museum des 20. Jahrhunderts, Wien (Schweizergarten), von 29. März bis 12. Mai 1985; oder: Feministische Avantgarde, Kunst der 1970er-Jahre, 2016; erschien als eine erweiterte Ausgabe zur gleichnamigen Ausstellungstour, die 2010 in Rom, Galleria Nazionale d’Arte Morderna begann, über Madrid, Brüssel, Hamburg und London auch nach Wien kam und im Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien vom 4. Mai bis 10. September 2017 zu sehen war. 245 Hélène Cixous, »Das Theater tritt auf«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 108–119, hier S. 119. 246 Vgl. Christoph Wulf, »Der mimetische Körper. Handlung und Material im künstlerischen Prozess«, in: Das Interesse am Körper: Strategien und Inszenierungen in Bildung, Kunst und Medien, S. 98–104. 247 Vgl. Thomas Macho, »Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich«, in: Jan Assmann, Der Tod als Thema der Kulturtheorie, S. 89–120, hier S. 93. 248 Vgl. Arnold Toynbee zit. n. ebenda, S. 92–93.
Mit Leib und Leben 237
Und weil dieser Kultur der weibliche Körper als Inbegriff des Andersseins, als Synonym für Störung und Spaltung gilt, benutzt sie die Kunst, um den Tod der schönen Frau zu träumen. Sie kann damit (nur) über ihre Leiche das Wissen um den Tod verdrängen und zugleich artikulieren, sie kann »Ordnung schaffen« und sich dennoch ganz der Faszination des Beunruhigenden hingeben.249
Der Beginn dieser leiblichen Aus-einander-Setzung und körperlichen Selbst- und Eigenbestimmung ist getragen von Aufbruchsstimmung, und seine Proponentinnen treten selbstbewusst und reflektiert an die nach wie vor männerdominierte Kunst-Welt-Öffentlichkeit. Eine der Protagonistinnen ist die in Helsinki (davor Wien) lebende, brasilianische Performancekünstlerin Roberta Lima250, über deren Arbeit es etwa heißt: Im Gegensatz zum Machismo, der weite Teile der BodyModification-Szene bestimmt, zum dort stets hervorgehobenen Aspekt des »Ertragen-Könnens« und der daraus abgeleiteten Auszeichnung als »starker Mann«, erscheinen Roberta Limas Experimente mit dem eigenen Körper als klärende Rituale, als in aller Vorsicht, Behutsamkeit, Selbstliebe und Schönheit vollzogene Häutungsakte.251
Die Künstlerinnen, Performerinnen beginnen ihre Leiber selbstständig zu gestalten, sich zu häuten, das Darunterliegende zu sehen und zu zeigen, scheinbar notgedrungen, bis zum Schmerz, bis zur Todesnähe, aber ohne die Überschreitung der Grenze zum Tod anzugehen. Die Rückeroberung des eigenen Körpers, die Gestaltung von eigener Hand, in Limas Fall teilweise vernäht mit Nadel und Zwirn, wird über die Haut und den Schmerz vollzogen. Seit den [19]70er Jahren haben sich viele Künstler, insbesondere Künstlerinnen mit der Haut beschäftigt. In diesen Werken und Performances geht es ganz konkret um die eigene Haut als Moment der Auseinandersetzung. Es handelt sich demnach um eine Ausweitung des Genres des Selbstporträts auf den eigenen Leib, der zudem nicht mehr nur abbildhaft repräsentiert wird, sondern dessen Oberfläche selbst zur Leinwand wird.252 (Herv. d. A.)
Bald darauf ist die Haut, die Ich-Grenze, nicht mehr nur Projektionsfläche, Ort der Produktion und Präsentation, »Ort von Wunden und Stigmatisierungen, […] individuelles Kleid oder zu modifizierende Hülle. Insbesondere die Zurschaustellung der weiblichen Haut ist oft mit Gewalt und Selbstzufügung von Wunden,
249 Elisabeth Bronfen, Nur über ihre Leiche, S. 9–10. 250 Roberta Lima, geboren 1974 in Brasilien, schloss ihr Architekturstudium 2002 ab und übersiedelte nach Europa. Sie lebt und arbeitet derzeit in Helsinki, nachdem sie zuvor einige Jahre in Wien verbracht hat. Siehe www.robertalima.com/ [letzter Zugriff 2010/11/21]. 251 Markus Mittringer, »Behutsame Häutungen: ›Lights Out!‹ im Kunstraum Niederösterreich«, in: Der Standard, 6.9.2007, www.derstandard.at/story/3023609/behutsame-haeutungen-lights-outim-kunstraum-niederoesterreich?ref=article [12/06/2010]. 252 Claudia Benthien, Haut, S. 8. In der Literatur der 1970er-Jahre ist die Autobiographie von Verena Stefan, Häutungen (1975), im feministischen Kontext und darüber hinaus zum Kultbuch avanciert.
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Schauspielen und (finale) Transformation
Schnitten, Verbrennungen verbunden«.253 Bald ist sie auch als Übergang markiert, um das Dahinterliegende erfahrbar zu machen, zum Vorschein zu bringen und ins Jenseits zu verweisen, ohne in dieses einzutreten.254 Das ostentative Spiel mit dem Haut-Ich255, das über subjektive Schmerzerfahrung verhandelt wird, bietet sich dabei nur als eine Form auf der Bühne an. Es ist ein Erforschen des eigenen wie fremden Körpers als Material. Der Körper bleibt Körper, während er bei Schauspieler_innen in einen Leib transformiert wird. Die Erfahrung der Materialität und Endlichkeit ist hier ins Licht gerückt. Eine ganz andere, jedoch um nichts weniger schmerzhafte Ich-Erfahrung mit einhergehender Todesahnung und Bewusstwerdung des Sterbeprozesses erleben Tänzerinnen ungewollt (Ballett) oder gewollt (Choreograph_innen Forsythe und Stuart) bei ihrer Arbeit des Ausagierens unüblicher Körperbewegungen. Sie bzw. ihre Tänzer_innen bewerkstelligen eine Sichtbarmachung der Vergänglichkeit durch unideale Körper-Bilder. Tänzerinnen bestätigen oftmals in Interviews, dass ein Leben ohne Schmerzen nicht mehr vorstellbar sei, im Sinne dessen allerdings, dass sie sich an ein Leben mit Schmerzen wohl schon gewöhnt haben und diese ihre Grenze nicht als Thema, jedoch als Methode immer wieder ausreizen (müssen).256 Dies wird auch in der bereits erwähnten Performance von Meg Stuart, Do Animals Cry 257, deutlich: Das Freudsche Körper-Ich258 wird hier erneut über Schmerz erfahrbar und Plessners Körper-Haben259 über die unmit253 Ebenda, S. 10. 254 Vgl. Thomas Dreher, Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia, 2001. 255 Vgl. Didier Anzieu, Das Haut-Ich, 1992. 256 Aussage einer Tänzerin im Tanzdokumentarfilm Passion: Endstation Kinshasa siehe www.youtube.com/watch?v=P7BFOMNopsc; [05/06/2010] (Jörg Jeshel, Brigitte Kramer; Koproduktion der Nachtaktivfilm GbR und Unitel Classica mit Les Ballets C. de la B.; im Auftrag des ZDF in Zusammenarbeit mit Arte, Credit: Produktionsleitung Kongo, 2009) über das Stück Pitié! Erbarme Dich! Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion. Les Ballets C. de la B., Alain Platel und Fabriczio Cassol. Konzept und Regie Alain Platel / mit Quan Bui Ngoc, Louis-Clément Da Costa, Mathieu Desseigne Ravel, Lisi Estaràs, Emile Josse, Juliana Neves, Hyo Seugn Ye, Romeu Runa, Elie Tass, Rosalba Torres Guerrero / Musik Fabrizio Cassol nach der Matthäuspassion von Johann Sebastian Bach / Bühne Peter De Blieck / Kostüme Claudine Grinwis, Plaat Stultjes / Licht Carlo Bourguignon. 257 Do Animals Cry. Tanz-Performance. Meg Stuart / Damaged Goods. Choreographie Meg Stuart / von und mit Joris Camelin, Alexander Jenkins, Adam Linder, Anja Müller, Kotomi Nishiwaki, Frank Willens / Dramaturgie Bart Van den Eynde / Musik Hahn Rowe / Bühne Doris Dziersk / Mitarbeit Bühne Rita Hausmann / Kostüme Nina Gundlach / Licht Jan Maertens. Produktion Damaged Goods, Brüssel. Gastspiel bei den Wiener Festwochen 19.–22. Mai 2010. 258 »Das Ich ist vor allem ein körperliches, es ist nicht nur ein Oberflächenwesen, sondern selbst die Projektion einer Oberfläche. Wenn man eine anatomische Analogie für dasselbe sucht, kann man es am ehesten mit dem ›Gehirnmännchen‹ der Anatomen identifizieren, das in der Hirnrinde auf dem Kopf steht, die Fersen nach oben streckt, nach hinten schaut und, wie bekannt, links die Sprachzone trägt.« Sigmund Freud, Das Ich und das Es, S. 28. 259 Vgl. Helmuth Plessner, »Zur Anthropologie des Schauspielers (1948)«, in ders., Ausdruck und menschliche Natur, S. 399–418.
Mit Leib und Leben 239
telbare Erfahrung ein Ich mit Todesahnung, -angst und -sehnsucht sichtbar. Signifikant ist, dass seit dem postdramatischen Theater zunehmend mehr anorexe Künstlerinnen über die Bühne schweben (Hey Girl! 2006 von Sociètas Raffaello Sanzio), Dramatikerinnen Massenmorde in Szene setzen (Rechnitz (Der Würgeengel), UA 2008 von Elfriede Jelinek) oder todkranke Regisseure ihr Ende inszenieren (Sterben lernen! 2009 von Christoph Schlingensief). Sie alle stellen einen direkten Bezug zum eigenen Sterben her und verhandeln es auch inhaltlich. Hélène Cixous lässt in ihrem Stück La Ville parjure ou Le réveil des Erinyes (Die meineidige Stadt oder das Erwachen der Erinyen) für das Théâtre du Soleil, das mit einer furchtbaren Szene hätte enden sollen (alle sind tot), ihr eigenes Unbehagen darüber entscheiden, ob die Toten auferstehen oder nicht. Als die Gruppe diese Szene während einer Probe zum ersten Mal liest, »blieb die Kompanie starr vor Schrecken und Schmerz«, erinnert sich Cixous und beschließt daraufhin, noch eine letzte Szene dranzuhängen. Angesichts des Leides, das dieses Ende brachte, habe ich, als Autorin, mich autorisiert, eine Szene danach hinzuzufügen. Denn ich, H.C., ich glaube nicht, daß das Ende vollendet und schließt. Die Schauspieler und die Leute vom Theater glauben übrigens auch nicht an ein Ende, das abschlösse: Sie sind per Definition auf der Seite der Wiederauferstehung.260
Carmelo Bene in Macbeth 1983 (Still aus Concerto per attore solo) 260 Hélène Cixous, »Das Theater tritt auf«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 108–119, hier S. 119.
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Der Schmerz, der hier von den Théâtre du Soleil-Schauspieler_innen empfunden wird, grenzt an den Schmerz ihrer Figuren. Die Körper der Schauspieler_innen haben die Leiber der Figuren getroffen. Doch die Physis der Schauspieler_innen bleibt davon unberührt, anders als in einer Performance. Die unmittelbare Erfahrung des Seins, die über den Schmerz ausgelöst wird, wie Hannah Arendt analysiert,261 ist hier vielleicht leiblich, aber nicht körperlich impliziert. Wenn bei Grotowski schmerzliche Körpererfahrungen auftauchen, so geschieht dies am Rande und wird nicht weiter beachtet bzw. verarbeitet. Mario Biagini führt seine Aufgaben als Partner des Main Doers in Action durch, egal in welcher physischen Verfassung er ist, selbst dann, wenn er schon zwischen den Beinen blutet.262 Im Gegensatz zu Bene, dessen weißer Verband sich in ästhetischer Stilisierung rötlich verfärbt und intellektuell thematisiert wird, wie etwa in Macbeth: »Verletzt war der Verband, nicht der Arm.«263 Bei Grotowski-Biagini wird dies im besten Fall hingenommen, ignoriert oder übergangen. Die physische Versehrtheit hat keine Auswirkungen auf das Geschehen, auf die action bzw. Handlung von Biagini. Der Saft des Fleisches, das Blut und die Grenzüberschreitung werden nicht thematisiert – die Doers sind auf dem besten Weg, die Jakobsleiter hinaufzusteigen und den irdischen Schmerz hinter sich zu lassen, die Schauspielermaschine (macchina attoriale) Carmelo Bene ist unterwegs ins Woandershin, ins Jenseitige (oltre). Beide sind im Begriff, eine Grenze des Seins zu überschreiten, sich dem Prozess des Sterbens hinzugeben, intensiv, und ohne ihren Körpern Beachtung zu schenken. Der Körper bleibt reines Instrument, das sie zu spielen wissen, während der Tod tanzt. Der Tod tanzt auf der Bühne heute also wieder partiell. Er ist nicht als rein inhaltliche Beschäftigung zu sehen, auch wenn er als eine Reminiszenz an Allegorien und Symbole z. B. in Spectacular von der postdramatischen britischen Künstler_innengruppe Forced Entertainment als Skelett auftritt.264 Die Besinnung auf eine Zeit vor der 261 Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 63–64 und S. 132. Zur Thematik Körper, Schmerz und Ästhetik vgl. Anne-Rose Meyer, Homo dolorosus, Körper – Schmerz – Ästhetik, 2011. 262 Gedächtnisprotokoll d. A. während der Arbeit im Dokumentationsteam von Tracing Roads Across 2003–2006 bei bei Focal Point: Crossroads in Istanbul, 11. Juli 2003 bis 31. August 2003 in Aya Irini, Topkapı Sarayı, I. Avlu, Sultanahmet. 263 Vgl. die Dokumentationsvideos Carmelo Bene. Le techniche dell’assenza. Videosintesi delle prove del Macbeth secondo Carmelo Bene [1982] (1/2), un video di Ferruccio Marotti, dir. Centro Teatro Ateneo, a cura di Maurizio Grande, Sapienza – Università di Roma, 1984. [TC 00:08:34 bis 00:11:34] sowie Carmelo Bene. Concerto per attore solo. Videosintesi delle prove del Macbeth secondo Carmelo Bene [1982] (2/2), un video die Ferruccio Marotti, dir. Centro Teatro Ateneo, a cura di Maurizio Grande, Sapienza – Università di Roma, 1984. [TC 00:47:47] (Orig. ital.: »ferita era la benda non il braccio«) 264 Vgl. Spectacular der Gruppe Forced Entertainment von 2008. Conceived and devised by the company; performers Robin Arthur and Claire Marshall; direction Tim Etchells; design Richard Lowdon; lighting design Nigel Edwards. »Spectacular is about the now of the performance moment,
Mit Leib und Leben 241
Trennung von Leib und Körper bzw. Geist und Körper bildet die Grundlage der Auseinandersetzung, selbst wenn diese Trennung nicht erst mit der res cogitans und res extensa – dem Descartschen Cogito ergo sum – vollzogen wird, sondern sich vielmehr über die Nancyische Ausdehnung definiert. Baumbach weist schon in ihrem ersten Band der Historischen Anthropologie des Akteurs im Zusammenhang mit dem europäisch-christlichen Kontext darauf hin, dass der Schauspieler, der Akteur sich von (seinem) Leib distanziere, sobald er sich als Seele zu begreifen beginne. Denn der Mensch, insofern er sich als Seele verstehe, distanziere sich mehr oder weniger von sich als Leib. Diesen verstehe er dann als Fahrzeug der Seele, als ihre Hülle, als Maschine. Bis heute sei die Art, wie Descartes diese Differenz formulierte – als Differenz zwischen einer denkenden Substanz (Geist, Seele) und einer ausgedehnten Substanz (Materie) – maßgeblich. Descartes aber ist nicht Urheber der Differenz von Leib und Seele, ihre Geschichte führt über die christliche Leibfeindschaft bis auf Platon und Zoroaster zurück.265
the trembling edge of laughter, possibility and invention. It’s about death and playing dead, about the strange contact between two performers on-stage and an audience caught between what they are watching and what they’re being told.« www.forcedentertainment.com/page/144/Spectacular/101 [11/12/2010]. 265 Gerda Baumbach, Schauspieler, Band 1, S. 175. Baumbach bezieht sich an dieser Stelle auf Gernot Böhme, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Darmstädter Vorlesungen, Frankfurt am Main, Suhrkamp 1985.
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Schauspielen und (finale) Transformation
Die An- und Abwesenden Weshalb für den Menschen in Europa der Tod und die Transformation dorthin sowie sein Verhältnis zum Sterben ein so außergewöhnliches, nicht alltägliches Erleben ist, bleibt unbeantwortet. Der sensible Künstler Christoph Schlingensief, dessen Alltag von der Krankheit und dem baldigen Sterben immens beeinflusst wurde, stellt die zentrale Frage: Aber die Menschen haben doch jahrtausendelang und in allen Kulturen und Religionen an solche Verbindungen zwischen den Toten und den Lebenden geglaubt und den Kontakt mit den Toten in ihr Leben integriert. Wieso können wir das nicht mehr? Wieso schließen wir die Toten so radikal aus, dass sie unauffindbar werden?266
Christoph Wulf widmet sich der Frage, warum der Tod diesen prominenten Platz einnimmt, ob er nun geleugnet wird oder nicht. Er sieht die Entwicklung des menschlichen Gehirns dafür verantwortlich und zieht in seiner Argumentation diesbezüglich den Vergleich mit dem Tier heran. Eine Voraussetzung für dieses besondere Verhältnis des Menschen zum Tod ist die im Vergleich zu anderen Lebewesen entstandene Hyperkomplexität des Gehirns, das gleichsam das Zentrum der menschlichen Entwicklung ist. In dieser Zerebralisierung liegt die Uneindeutigkeit der Beziehung zwischen dem Menschen und der Umwelt begründet. Hier ist der Ursprung vom »Versuch und Irrtum«, von »Subjektivität« und »Objektivität«. Die Hyperkomplexität des Gehirns ermöglicht den Einbruch des Phantastischen in die Welt des Menschen und die »Verdoppelung« der Welt in eine Innen- und Außenwelt; sie hebt die Eindeutigkeit auf, die für das Tier besteht [wie vermutet wird]; sie macht den Menschen ungeschützt und weltoffen; sie setzt ihn dem Tod, der Ekstase, dem Wahnsinn aus. Aufgrund dieser Situation sieht sich der Mensch gezwungen, »Ordnung« in seinem Universum zu schaffen. Im Hinblick auf den Tod und die Todesfurcht geschieht dies dadurch, daß der Tod mit Hilfe von Mythen und Deutungen in die Ordnung [(-en)] des Menschen integriert wird.267
Schauspielen kann, wie es diese Beispiele veranschaulichen, den Körper mit seinen fleischlichen Grenzen und den Leib mit seiner Sterblichkeit ins unmittelbare Blickfeld rücken: auf der Bühne. Sei es a) durch aktive Reflexion des eigenen, bevorstehenden Sterbens (wissentlich Schlingensief, erahnend Kane) sowie des eigenen, möglichen Sterbens, analog der aggressiven Gratwanderung bezüglich des eigenen Körpers in der Performancekunst (Brus, Export, Lima); sei es b) durch eine bewusste Abkehr vom idealen Körper, wodurch die Zerbrechlichkeit des leiblichen In-der-Welt-Seins ähnlich wie in zeitgenössischen Tanzpraktiken (Forsy-
266 Christoph Schlingensief, So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!, S. 245–246. 267 Christoph Wulf, »Körper und Tod«, in: Die Wiederkehr des Körpers, S. 259–273, hier S. 260–261. Wulf bezieht sich an dieser Stelle auf Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt am Main 1979.
Die An- und Abwesenden 243
the, Stuart) evident wird268; sei es c) durch Techniken des Ausstellungsverfahrens, wobei der physische Körper auf der postdramatischen Bühne auftritt, indem er zum ostentativen Einsatz kommt (Socìetas Raffaello Sanzio).269 Pulsierend, omnipräsent und unvermittelt also rückt der sterbliche Leib ins Zentrum des Bühnengeschehens mittels Theaterarbeiten, in denen selbst der mittlerweile vermessene Leib, der Körper in artistischer Weise (Biomechanik W. Meyerhold) bis hin zur Groteske bühnenwirksam wird. Selbst d) der spielerische Umgang mit dem Unabwendbaren, trainiert mit dem Muskel der Imagination der Schauspieler_innen (Mnouchkine), e) das stilisierte Sterben, evoziert durch die stilisierte Stimme, die Phonè, den Klang der Schauspielermaschine (Bene) und f) das Training anhand physischen Einsatzes in Richtung Vertikalität durch die Handelnden (Grotowski) sind nichts anderes als ein Verhandeln unseres Lebens und seines unmöglichen unabwendbaren Endes. Das Theater bietet par excellence die Bühne für Reflexion und Leibliches, für das nicht intellektuell gesteuerte Abwenden und Annehmen der rätselumwobenen Konfrontation mit dem Tod. Hier und jetzt, im gegenwärtigen Moment, wird der Transformationsprozess des Sterbens geübt und trainiert. Warum ausgerechnet das Theater dieses Forum zu bieten vermag, liegt nicht nur in seinem ihm immanenten Double begründet, wie Artaud anführt.270 Das Ausreizen von Grenzerfahrungen bis zum Tod, das Antizipieren des Sterbeprozesses wird im Verhältnis zu dem gleichzeitig An- und Abwesenden gesucht, besucht und erprobt. Schauspieler_innen sind zugleich an- und abwesend und haben insofern etwas mit den Toten gemeinsam. Im Zuge der Futurisierung des Todes wurde gleichsam die traditionelle Erfahrung prämoderner Kulturen ausgeklammert: daß nicht der Tod, sondern der Tote in Schrecken versetzt, weil er zugleich anwesend und abwesend ist.271
Die Schauspieler_innen, die im Moment der Gegenwart die Zukunft beschwören, versetzen weder sich noch das Publikum dadurch in Schrecken und verschaffen so gesehen eine Erleichterung. Die mythischen, religiös-mythischen und religiösen Angebote, in Ordnungen zu integrieren, sind zahlreich und reichen von der Imagination des Paradieses über das Nirwana bis hin zu Wallhall.272 Kraft der menschlichen Phantasie, des 268 Vgl. u. a. Hans-Thies Lehmann, Postdramatisches Theater, S. 372. 269 Vgl. The Theatre of Socìetas Raffaello Sanzio, 2007. 270 Vgl. Antonin Artaud, »Das Theater und sein Double«, in: ders., Das Theater und sein Double, S. 7–154. 271 Thomas Macho, »Tod«, in: Vom Menschen, S. 939–953, hier S. 940. 272 Eugenio Barba entscheidet sich bei der Gründung seines Theaters »Odin Teatret« 1964 für einen Totengott als Namenspatron: »Der Name unseres Theaters ist kein Zufall. Es scheint für uns ganz natürlich zu sein, den Namen der Kraft anzunehmen, die ihren Stempel auf unser Jahrhundert gedrückt hat: Odin, der Gott des Krieges, der große ›Berserker‹. Auf die gleiche Weise, in der
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Schauspielen und (finale) Transformation
Verdoppelns, Verwandelns und des Spielens im Zeit-Raum-Kontinuum ermöglichen es im Schauspielen, geordnete und wiederholbare Szenarien im Umgang mit dem Tod und der Furcht davor anbieten zu können. Je nachdem, in welcher der verschiedenen Traditionen von Schauspielkunst es anzusiedeln ist, entstehen dabei die unterschiedlichen Modelle und Spielweisen. Sie bleiben nicht in einer inhaltlichen oder individuellen Verarbeitung verhaftet. Theater ist unter Berücksichtigung dieser Perspektive immer der Ort, an dem sich die Lebenden und die Toten treffen (können), und die Schauspieler_innen sind die Schlüssel zu den Toren in die andere Welt. Für Hélène Cixous ist das Theater […] per Definition der Schauplatz, auf dem sich die Lebendigen und die Toten wiederfinden und aufeinanderstoßen, die Vergessenen und die Vergesser, die Vergrabenen und die Wiedergänger, das Gegenwärtige, das Vorübergehende, die gegenwärtige Vergangenheit und die vergangene Vergangenheit. Nichts ist mehr Theater als eine große Totenstadt. Das ist eine Bühne, auf der alle Figuren einer Geschichte erscheinen, von den ältesten her, den durch die Jahrhunderte entferntesten bis zu den zeitgenössischsten, von den vorgestellten, den erfundenen, den verlorenen wiedergefundenen, bis zu den reellen Bekannten. Die Toten sind nicht immer so tot, wie man glaubt, noch die Lebenden so lebendig, wie sie sich glauben. Ein Theater, ein wahres, ist immer eine Art Außenterritorium, von einer Exteriorität, die mehr oder weniger in der Stadt eingeschlossen ist oder an sie grenzt, ein vom Herrschenden [sic] Innen getrenntes Innen, es ist vor der Tür gelegen und, da es subversiv ist, vor die Tür geschickt, verbannt.273
Baudrillard sagt, dass »der Tod [sogar] ein Verbrechen, eine unheilbare Verirrung [sei]. Den Toten ist weder ein Ort noch ein Zeit / Raum zugewiesen, ihr Aufenthalt ist unauffindbar, sie sind in die radikale Utopie verstoßen – sie werden sogar noch mehr zusammengedrückt, so daß sie sich in Luft auflösen«274. Eine Replik darauf könnte lauten, dass Theater der (un-) mögliche Ort ist, der ihnen eingeräumt wird. »Theater eignet eine prinzipielle Doppelstruktur, auf räumliche Dimensionen bezogen ein prinzipiell doppelter Ort. Dieser doppelte Ort kann
unsere Vorfahren Dämonen heraufbeschworen, ihnen in kollektiven Zeremonien freie Zügel gaben, sind wir alle – Schauspieler und Zuschauer – hier versammelt, um den ›Odin‹, der in unserer Dunkelheit im Hinterhalt liegt, ans Licht zu bringen und ihn zu bekämpfen.« Aus dem Programm für Ornitofilene, der ersten Produktion des Odin Teatrets, Oslo 1965, zit. n. »Odin Teatret«, in: Vom Entstehen einer Tradition. Dreißig Jahre Odin Teatret. Flamboyant, Heft 1 / Sommer 1995, S. 32–36, hier S. 35. 273 Hélène Cixous, »Das Theater tritt auf«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 108–119, hier S. 112–113. 274 Obwohl Baudrillard weder Ort noch Zeit / Raum für den Tod konstatiert, kommt er mit seinen Überlegungen konsequent und logisch zu dem Schluss, dass die derzeitige Kultur eine Kultur des Todes ist: »Wenn der Friedhof nicht mehr existiert, so deshalb, weil die modernen Städte als Ganze diese Funktion übernommen haben: sie sind tote Städte und Städte des Todes. Und wenn die große, operationale Metropole die vollendete Form einer ganzen Kultur ist, so ist die unsere ganz einfach eine Kultur des Todes.« Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 198.
Die An- und Abwesenden 245
ausgeschöpft, teilweise genutzt oder ausgeblendet werden.«275 Einerseits ist hier der Ort der Realitätsebene, andererseits die Fiktionsebene gemeint. Ganz gleich in welchen Dimensionen und in welchem Verhältnis sie genutzt werden – präsent sind beide Orte. Wo auch immer nun das Reich der Toten ist, in dem einen oder in dem anderen oder im Dazwischen – sie sind, ob sichtbar oder unsichtbar, im Theater immer anwesend. Schauspieler_innen, selbst auch doppelt, Repräsentant_innen des Hier und Dort, mindestens zweier, meistens mehrerer Welten springen zwischen diesen hin und her und halten sich bisweilen im Zwischenreich auf. Beispiele für (Schau-) Spielweisen solcher Verbindungen, die vor dem Hintergrund eines bürgerlich-europäischen Theaterprospektes meisterhaft vollzogen werden, sind Ariane Mnouchkine, die Hebamme als Regisseurin mit ihrem Théâtre du Soleil in der Tradition der Commedia dell’arte (Commedia all’improvviso), Jerzy Grotowski, der Lehrer mit seiner Theaterarbeit in unterschiedlichen laborativen Schaffensphasen, und Carmelo Bene, der attore-autore (Schauspieler-Autor), die macchia attoriale (Schauspielermaschine) in der Tradition eines »Diderot-Wilde-Meyerhold-Artaud-Bene«276. Die Schauspieler_innen des Théâtre du Soleil spielen, springen und suchen mithilfe ihres Muskels der Imagination. Sie bieten sich als Transformationskörper für ihre Figuren an. Sie geben keine Antwort auf den unabwendbaren Prozess des Sterbens, erzählen von Begegnungen mit Sterben und Tod, und sie arrangieren sich damit. Grotowskis Schüler (sic) vertrauen seiner Anleitung und den physischen Impulsen, um über die Schwingungen alter Gesänge die Transformation in andere, höhere Energiequalitäten zu schaffen. Grotowski hat einen Auftrag, und er bietet eine Lösung an: das Sein im Zwischensein auf einer feinstofflicheren, subtileren Ebene. Bene bevorzugt das metaphysische Spiel, um seine Transformationen konsequent zu vollziehen und dabei der Madonna277 zu erscheinen. Er bleibt sich treu, transformiert sich in eine Stimmenmaschine, in die Stimme, von der am Ende nur ein Echo bleibt.
275 Gerda Baumbach, Schauspieler, Band 1, S. 200. 276 Carmelo Bene, La voce di Narciso, S. 51. 277 Vgl. Carmelo Bene, Sono apparso alla Madonna, vie d’(h)eros(es), autobiografia, Postfazione di Piergiorgio Giacchè, 2005.
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Blinddext rechts Blindtext rechts Blindtext rechs 247
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Der Mensch war in unserer Kultur […] stets das Resultat einer Teilung und zugleich einer Gliederung des Animalischen und Humanen, wobei einer der beiden Begriffe jeweils auf dem Spiel stand.1 Giorgio Agamben
Schauspieler_innen als Transformationskörper zu verstehen, heißt nicht nur, einem abstrakten und theoretisch verhandelbaren Vorgang nachzugehen, sondern diesen auch als einen praktischen auf der Bühne zu begreifen. So wie »die Frage nach dem Schauspieler […] eine zentrale« ist »und aus der Praxis«2 kommt, verhält es sich mit der Frage nach der Transformation. Sie ist ein Vorgang, d. h. ein Vorgehen der Schauspielenden, das tatsächlich durchgeführt, auf der Bühne vollzogen und ebendort auch erlebbar wird. Schauspieler_innen, die mit Carmelo Bene, Ariane Mnouchkine oder Jerzy Grotowski arbeiten, gleich welcher Schauspieler_innen-Identität und schauspielerischen Praxis (dieser drei Theaterschaffenden) sie zugehörig sind, brauchen – wie bei allen Tätigkeiten, die ein mit Leidenschaft geführtes künstlerisches Leben ausmachen und aus der Praxis he raus entwickelt werden – mehrstündiges tägliches Training. Nur um diesen Preis und auf diese Weise erreichen sie die für ihre Profession notwendige Perfektion zur Transformation. Dieses intensive Training fordern die drei bis zum Exzess ein, ebenso wie von sich selbst und von allen, die sich ihren Theaterstrukturen intellektuell verschreiben – und sei es nur für eine bestimmte Zeit. Dabei gilt bei Grotowski als oberste Regel »strikte Pünktlichkeit«3, und auch Mnouchkine besteht darauf, »die erste Regel des Schauspielers sei Pünktlichkeit«.4 In gleichem Maße sind ein langes körperliches und mentales Durchhaltevermögen bei Proben und Training notwendig, auch bis drei Uhr früh, was Bene
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Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, S. 100. Gerda Baumbach, Schauspieler, Band 1, S. 7. Jerzy Grotowski, »Aufstellung der Grundprinzipien«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 285–295, hier S. 292. Josette Féral, »Ein Lehrgang im Soleil: Ein ungewöhnlicher Theaterunterricht«, in: dies. (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 37–43, hier S. 38, sowie »Ein zweiter Blick. Ein Gespräch mit der Mitarbeiterin Sophie Moscoso«, in: ebenda, S. 131–138, hier S. 133. Eine Anekdote am Rande: Eugenio Barba, durch die Zusammenarbeit mit Jerzy Grotowski gewohnt, stets pünktlich zu erscheinen, verweigerte einer jungen französischen Regisseurin – es handelte sich um Ariane Mnouchkine – den Eintritt zu einem Seminar mit Grotowski im Odin Teatret. Sie war zu spät gekommen. Vgl. Eugenio Barba, Das Land von Asche und Diamant, S. 108–109.
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Tier / Mensch. Dazwischen Sein
durchaus fordert,5 und generell nächtliches Arbeiten verlangt auch Grotowski. Über diese täglichen und nächtlichen Anstrengungen hinaus müssen die Schauspieler_innen jedenfalls monatelang arbeiten. Im Grunde geht es darum, dass für Mnouchkine, Bene und Grotowski das Theater das Leben selbst ist, insofern bedeutet es nicht »Arbeit« im herkömmlichen Sinne (Mnouchkine)6, es bleibt so ein ganzes Schauspieler_innenleben lang (Grotowski)7 oder »zwölf, vierzehn Stunden am Tag« (Bene)8. Es geht um das stetig wiederkehrende, unabgeschlossene und eigenständige Studium von Fertigkeiten, von sich selbst und der eigenen sowie der Mitspieler_innen Grenzen. Bene trainiert derart intensiv, dass seine Proben und schon die Vorbereitung auf diese sich mitunter in eine psychisch-physische Tortur für seine Partner_innen entwickeln.9 Mnouchkine und das Théâtre du Soleil beginnen im leeren Probensaal und arbeiten täglich von neun Uhr morgens bis abends. Je länger sie an einem Stück arbeiten, je mehr sich der Raum und sich mit ihm die Schauspielenden wandeln, desto länger in die Nacht hinein proben sie.10 Grotowski nutzt seine Laboratorien zum Herantasten an physische wie psychische Grenzen aller Beteiligten. Exzessivität ist das verbindende Moment zwischen den drei Proponent_ innen, ihre Ziele indes differieren. Mnouchkine lässt ihre Schauspieler_innen vor Beginn der Proben bereits körperlich extensiv und je nach Stück vorwiegend akrobatisch trainieren,11 um die Physis auf die Strapazen während einer Auffüh-
Vgl. Luigi Mezzanotte in Kult & Cult – Omaggio a Carmelo Bene, Luigi Mezzanotte e Umberto Cantone, Dalla fine all’inizio, Omaggio a Carmelo Bene, [TC parte prima 00:21:50 bis 00:25:06] ([Carmelo Bene] [arbeitete sehr viel […] bis zum Umfallen […] er entdeckte mit den Instrumenten, die er zu Verfügung hatte […] die Stimme zu nutzen […] als er die Proben mit mir aufnahm, probten wir bis drei Uhr früh […] während der Experimente […] um mir die Stimme näher zu bringen.« Orig. ital.: »[Carmelo Bene] lavorava tantissimo […] è morto di lavoro […] lui scopriva con gli strumenti che aveva […] insegnava a portare la voce, a usarla […] quando riprendeva le prove, con me, fino … alle tre di notte […] nella sperimentazione […] per farmi capire […] la voce.«) 6 Ariane Mnouchkine zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 54. 7 Vgl. im Besonderen Grotowskis Zeit der paratheatralen Phase, Part II in: The Grotowski Sourcebook, S. 207–280. 8 Carmelo Bene zit. n. Sonia Bergamasco, »Otranto. via Scupoli«, in: A CB. A Carmelo Bene, S. 69– 70, hier S. 69. (»Du musst lernen, lernen und nochmal lernen. Zwölf, vierzehn Stunden am Tag!« Orig. ital.: »Devi studiare, studiare. Dodici, quattordici ore al giorno!«) 9 Vgl. Deskription der Proben zu Macbeth im Kapitel »Schauspielen und (finale) Transformation«, S. 218–222, sowie Videodokumentation von CTA Roma 1982. 10 Ariane Mnouchkine zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 59. 11 Vgl. Proben zu Tartuffe, im Dokumentationsfilm Au Soleil même la nuit von Éric Darmon & Catherine Vilpoux 1995. 5
Tier / Mensch. Dazwischen Blinddext rechts Blindtext Sein rechts Blindtext rechs 249
rung hin zu modulieren und um in den anschließenden Proben das Spiel der Figuren in den Vordergrund rücken zu können. Benes Bestreben gilt schon im Training einer perfekten Aufführung, in der er als Schauspielermaschine (macchina attoriale) fungieren kann und wird. Hierin besteht für ihn die eigentliche Aufgabe von Schauspielenden, denn wer gäbe denn den Schauspieler, wenn der Schauspieler eine Rolle spiele. Dies hat er sich schon als Kind gefragt.12 Grotowski arbeitet seine Vorstellung von Training über die Jahre hinweg so intensiv aus und beobachtet die Prozesse derartig mikroskopisch genau, dass er am Ende in dieser Arbeitsphase zu verharren droht.13 Bei ihm gibt es weder Proben noch eine Aufführung wie bei Mnouchkine und Bene. Experimente und Suche finden folglich innerhalb des (Physical) Trainings statt. Mnouchkine hingegen unterscheidet sehr wohl die Schritte vom Training über Proben bis zur Aufführung für das Publikum. Für Bene ist das Training selbst ein Einüben des Schauspielens, das ebenfalls in die Aufführung vor Publikum münden soll. Wenngleich er in einer Art Probe Sequenzen mit Partner_innen einstudiert, probt er nicht im eigentlichen Sinne. Bei Mnouchkine und Bene kulminieren die Strapazen des Trainings in dem Auftritt auf der Bühne. Ihr Training hat eine teleologische Funktion, die in Grotowskis Ansatz nicht vorkommt. Die Gemeinsamkeit der exzessiven Trainings- und Probeeinheiten liegt – je länger desto intensiver und abgründiger – darin, die Grenzen des Menschseins auszuloten. Das Spiel mit dem Abgründigen kann einen durchaus animalischen Impetus annehmen. So unterschiedlich die Ansprüche an die Übungen und Proben sind, so zeigt sich in allen drei praktizierten Varianten von Schauspieltraining das Verhältnis des »Animalischen und Humanen«, über das Giorgio Agamben sagt, eines der beiden sei in unserer Kultur immer auf dem Spiel gestanden.14
12 Vgl. Sonia Bergamasco, »Otranto. Via Scupoli«, in: A CB. A Carmelo Bene, S. 69–70, hier S. 70. (»Als Kind fragte ich mich, Wenn der Schauspieler die Figur gibt, wer gibt dann den Schauspieler?« Orig. ital.: »Bambino, mi chiedevo: se l’attore fa il personaggio, che fa l’attore?«) 13 Gedächtnisprotokoll der A. während der Arbeit im Dokumentationsteam von Tracing Roads Across 2003–2006. 14 Vgl. Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, S. 100.
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Tier / Mensch. Dazwischen Sein
Innen und Außen. Die Suche nach dem Tier. Das Training Katze und Tiger
Während Mnouchkine sich im Trainingsstadium, wenn es um tierisches Verhalten geht, nur ansatzweise für körperliche Fitness – in Form von Improvisationsübungen aus der Schule Lecoqs – interessiert sowie auf traditionelle wie fernöstliche Körpertechniken setzt, ist Bene beiden Zugängen gegenüber gleichermaßen abgeneigt. Sein Training besteht vorwiegend aus Lektüre und Intonation. Grotowski findet eine gewisse attraktive Handlungsanleitung im Zerlegen von Trainingseinheiten anhand von »Tierübungen«. Im Armen Theater wird die Übung »Tiger« deutlich beschrieben, wie aus Aufzeichnungen Franz Marijnens hervorgeht, der 1966 an einem Kurs von Grotowski teilnahm. Aus den frühen Jahren gibt es ebenfalls präzise verschriftlichte Berichte über das Training der Schauspieler_innen von Eugenio Barba. Diese beiden Anleitungen, über lange Zeit erprobt und ausgearbeitet, weisen deutliche Differenzierungen und Entwicklungen auf. Der »Tiger« indes begleitet das Training und die Aufführungssituationen von Anfang an, um schlussendlich in die Performancestruktur von Action einzufließen, die »Handlung« in Grotowskis letzter Arbeitsphase. 1966 nahm Grotowski selbst an den Übungen teil, was für spätere Phasen nicht mehr belegt ist. Marijnen schreibt, die Übung ziele offensichtlich darauf ab, sich einerseits gehen zu lassen und andererseits den Kehlkopfresonator in Bewegung zu setzen. Grotowski nimmt selbst an der Übung teil. Er spielt den Tiger, der seine Beute angreift. Der Schüler [Anm. d. A.: Schauspielende des Kurses] (die Beute) reagiert, indem er wie ein Tiger brüllt (vergleiche Armstrongs Stimmimprovisationen). Es ist nicht nur eine Frage des Brüllens. Die Laute müssen sich auf den Text stützen, und dessen Kontinuität ist in dieser Art Übung sehr wichtig.15
Weil die Kursteilnehmer_innen von der Übung derartig »mitgerissen« werden und ihre anfängliche »Schüchternheit verflogen« zu sein scheint, lässt Grotowski schließlich zur Entspannung der auf ungewohnte Weise beanspruchten Stimmen ein Lied anstimmen. Dass die Teilnehmer_innen »kaum zurückzuhalten sind«, zeige Grotowskis pädagogische Stärke, so Marijnen. Auch wenn in jenen frühen Jahren ihre Arbeit noch auf eine Aufführung vor Publikum zusteuerte, galt die gebündelte Aufmerksamkeit der Schauspieler_innen in diesen intensiven Test- und Erarbeitungstrainings ausschließlich sich selber, ihren Körpern, dem Hineinspüren … Wohl keine_r von ihnen dachte währenddessen an die Wirkung nach außen. Schon hier – im Teatr Laboratorium der 15 Jerzy Grotowski, »Das Training des Schauspielers« [Aufzeichnungen von Franz Marijnen] (1966), in: ders., Für ein Armes Theater, S. 189–234, hier S. 192.
Innen undrechts Außen. Die Suche nachBlindtext dem Tier.rechs 251 Das Training Blinddext Blindtext rechts
ersten und besonders zweiten Arbeitsphase16 – zeige sich, so Zbigniew Osiński, das »Problem Schauspieler«. Damit spielt er direkt auf deren Potential imSinne Grotowskis an, für den das Schauspielen ein kreativer Akt, eine Form der Schöpfung ist. Über den Zeitraum 1962–1968 sagte Jerzy Grotowski später: »Unsere ganze Aufmerksamkeit und alle Formen unserer Tätigkeit galten nun vor allem der Kunst des Schauspielers. Nachdem wir die Idee eines bewußten Manipulierens mit dem Zuschauer verworfen hatten, verzichtete ich fast sofort auf das Inszenieren, und in der Konsequenz begann ich – was logisch erscheint –, die Möglichkeiten des Schauspielers als eines Schöpfers zu erforschen … Es tauchte also das Problem des Schauspielers auf.«17
Schauspieler_innen als Schöpfer_innen zu begreifen, die an ihre physischen Körper gebunden sind, bedeutet zugleich, anzuerkennen, dass sie aus ihren Körpern heraus »schöpfen« und mit diesen Körpern gestalten. Punkt eins trifft auf alle Kunstschaffenden zu18, Punkt zwei auf Schauspieler_innen im Besonderen, denn »keiner der Ideen-Anhänger, sei es die Idee von der ›Natur‹, die Idee von der ›reinen Objektivität‹ oder die vom ›Prinzip der Subjektivität‹, streitet ab, dass der Schauspieler mit seinem Körper produziere«19. Aus-dem-Körper-Schöpfen und Mit-dem-Körper-Gestalten in Kombination bezieht sich also auf »darstellende Kunst«. Da »das Materiell-Physische in Bewegung das ›Element‹ des Schauspielers ist«, wie Baumbach konstatiert, »ist es eigentlich naheliegend: für die Beschreibung von Schauspieler und Schauspielen kann idealistische Philosophie kaum zielführend sein. Am Schauspieler prallen, so darf man zuspitzen, idealistische Weltdeutung und physisches Weltverständnis aufeinander.«20 Der physische Körper ist schöpferische Basis, Instrument und Werkzeug zugleich. Auch Mnouchkine und Bene verstehen Schauspieler_innen als künstlerisch Schöpfende, für Mnouchkine ist es eine spielerische Form, für Bene eine philosophisch-intellektuelle. Grotowski schöpft aus dem tiefsten und dunkelsten Inneren, dem Bereich des Animalischen. Er bemüht sich bei seiner Suche, direkt an eine universelle Komponente anzuknüpfen und dabei den individuellen Körper hinter sich zu lassen. Beinahe darwinistisch tastet er sich an die Körper der Schauspielenden heran, ihm kommt es auf archetypische Aspekte an.21 Gerade16 Osiński teilt Grotowskis Arbeit aus der Zeit des Teatr Laboratorium, die im Allgemeinen als erste Phase gilt, in drei Abschnitte ein; vgl. Zbigniew Osiński, »Im Theater«, in: Tadeusz Burzyński und Zbigniew Osiński, Das Theater Laboratorium Grotowskis, S. 7–110, hier S. 23. 17 Ebenda. 18 Es mag ein strittiger Punkt sein und wohl auch eine Frage der Perspektive, die sogenannte Vergeistigung des Lebens, d. h. die Trennung von Körper und Geist, in die Künste einzuführen. Dem gegenüber vgl. Die Wiederkehr des Körpers, hrsg. v. Dietmar Kamper und Christoph Wulf, 1982. 19 Gerda Baumbach, Schauspieler, Band 1, S. 109. 20 Ebenda. 21 Vgl. Anu Allas, Spiel der Unsicherheit / Unsicherheit des Spiels, S. 86.
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Tier / Mensch. Dazwischen Sein
wegs und in Aktion geschieht dies mittels der »Tiger-Übung«, die für Grotowski unverzichtbare Trainingseinheit. Eugenio Barba, der Grotowskis Arbeiten zwischen 1959 und 1962 dokumentierte, berichtet diesbezüglich über eine etwas sanftere Form: Diese Übung basiert auf der Beobachtung einer Katze, die aufwacht und sich streckt. Die betreffende Person liegt ausgestreckt mit dem Gesicht nach unten, völlig entspannt. Die Beine sind geöffnet, und die Arme liegen im rechten Winkel zum Körper, die Handflächen zeigen zum Boden. Die »Katze« erwacht und zieht die Hände nach innen zur Brust, wobei die Ellbogen nach oben gehalten werden, so daß die Handflächen eine Stützgrundlage bilden können. Die Hüften werden angehoben, während die Beine auf Zehenspitzen […]22
Barbas minutiöse Beschreibung des Bewegungsablaufes über mehrere Seiten ist als Praxisleitfaden für Schauspieler_innen gedacht. Die Übung, die seit Grotow skis Anfängen einen fixen Platz im Repertoire einnimmt, ist wohl die bekannteste Übung aus der Zeit des Teatr Laboratorium, und vor allem eine viel praktizierte. Bis heute ist sie im Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards im toskanischen Pontedera ein Kernbestandteil der Trainingseinheiten, Grotowskis Erbe gewissermaßen, das ein wesentliches Ergebnis seiner Forschungen an den
Mario Biagini in Action 1995, Vallicelle (Foto Alain Volut)
22 Eugenio Barba und Jerzy Grotowski, »Das Training des Schauspielers (1959–1962), in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 142–188, hier S. 144.
Innen undrechts Außen. Die Suche nachBlindtext dem Tier.rechs 253 Das Training Blinddext Blindtext rechts
Schauspieler_innen demonstriert: das Tier im Menschen. Es ist nicht nur physisch im menschlichen Körperbau verankert, sondern »hockt« im tiefsten Inneren, jederzeit bereit für den Ausbruch. Die »Ebene des Organischen«, die Grotowski für »grundlegend« erachtet, reicht ihm allerdings längst nicht aus. Auf der Ebene des Körpers stehen zu bleiben, bedeute »zu verfallen, sich aufzulösen oder, um es – mit Meister Eckhard [den Grotowski zu diesem Zwecke gern zitierte] – noch brutaler auszudrücken, ›mit dem Körper zu verfaulen‹.«23 Diese Vorstellung motiviert Grotowski, er sucht, forscht und entdeckt schließlich, wie dieses Verfaulen zu umgehen sei: »Und was bedeutet das, zu entdecken? Es bedeutet, daß man tun muß. Unaufhörlich taucht die Frage nach dem Tun auf.«24 Im Zuge seiner Forschungen des schauspielerischen Handelns gelangt er über die Vielfalt des stimmlichen Ausdrucks, d. h. »vom verwirrten Lallen des Kleinkindes bis hin zu ausgesuchtesten rednerischen Vorträgen [vom] unartikulierten Grunzen, Tiergebrüll, sanften [Liedern], liturgische[n] Gesänge[n]« u. a. zu einer aus Klängen gewebten Partitur, die »flüchtig die Erinnerung an alle Formen der Sprache zurückbringt [und] die sich kurz vor ihrer Vernichtung begegnen«.25
Das Tier im Körper und in der Stimme
Grotowski sagt, alles müsse vom Körper kommen: zuerst Körper, dann Stimme. Bevor mit der Stimme reagiert werde, müsse mit dem Körper reagiert werden: Wenn du denkst, mußt du mit dem Körper denken. Es ist aber besser, gar nicht zu denken, sondern zu handeln, Risiken einzugehen. […] Natürlich müsst ihr denken, aber mit dem Körper, logisch, präzise und verantwortungsvoll. Du mußt mit dem ganzen Körper denken, durch Aktionen.26
Grotowski hat durch seine frühe Konzentration auf den menschlichen Stimmapparat und über die unterschiedlichen kulturellen Wege traditioneller und alter Gesänge, die Produktion von Stimmlagen, Intonationen und vor allem die durch die Stimme hervorgebrachten Schwingungen aufmerksam studiert und ihre Wirkung auf den Körper beobachtet. Seine Schauspieler_innen und späteren Doers (Handelnden) selbst haben sie freigelegt und in eine strukturierte Form bzw. Par23 Jerzy Grotowski, »Er war eine Art Vulkan«, in: Peter Brook / Jean-Claude Carrière / Jerzy Grotowski, Georg Iwanowitsch Gurdjieff, S. 52–111, hier S. 67. 24 Ebenda. 25 Ludwik Flaszen, »Akropolis: Umgang mit dem Text« (1964), in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 65–84, hier S. 83. 26 Eugenio Barba und Jerzy Grotowski, »Das Training des Schauspielers« (1966), in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 189–234, hier S. 226.
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Pei Hwee Tan in Dies Irae 2003, Aya Irini Istanbul (Foto Cem Ardik)
titur gebracht. Die Form ist somit ausschließlich im Tun, in der Praxis entstanden und weitergegeben worden.27 Deshalb kann im Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards Jahrzehnte später die zierliche Pei Hwee Tan z. B., sich breitbeinig in der Hocke befindend, fast unmenschliche, in jedem Fall für ihre Statur tiefe, nahezu unheimliche Laute aus sich herausproduzieren.28 Sie weiß, wo und wie weit sie in ihren Körper mit Hilfe des Bildes der Jakobsleiter29 und der Schwingungen alter Gesänge aus der Zeit des »Objective Drama« vordringen muss, um ihr tief verschüttetes Inneres hervorzulocken. In diesen Experimenten der inneren Bilder der Doers ist die Vorstellung von einem Tier im menschlichen Körper von entscheidender Bedeutung. »Unser Körper ist ein Tier, das darf man nicht vergessen. Ich [Grotowski] sage nicht: Wir sind Tiere, ich sage: Unser Körper ist ein Tier.«30 Francesc Torrent Gironella oder Souphiène Amiar etwa werden – unterstützt und angeleitet von Thomas Richards – in einer Sequenz herangelockt und verführt durch ein Lied, das sie in sich zusammensacken lässt. Sie verfallen. Doch in Wirklichkeit verfallen ihre 27 Jerzy Grotowski, »Der Schauspielkünstler und sein Lehrer«, in: Theater des Zorns und der Zärtlichkeit, S. 48–52. 28 Gedächtnisprotokoll der A. während der Arbeit im Dokumentationsteam von Tracing Roads Across 2003–2006. 29 Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 179–216, hier S. 199. 30 Jerzy Grotowski, »Er war eine Art Vulkan«, in: Peter Brook / Jean-Claude Carrière / Jerzy Grotowski, Georg Iwanowitsch Gurdjieff, S. 52–111, hier S. 64.
Innen undrechts Außen. Die Suche nachBlindtext dem Tier.rechs 255 Das Training Blinddext Blindtext rechts
Körper, in diesem Beispiel als Affen, in die Gironella und Amiar übergegangen zu sein scheinen – so sehr haben sie Körperhaltung, Gangart und »Sprache« (Laute) eines Affen angenommen.31 Die Nähe des Menschen zu seinen Urahnen wird für die Zeug_innen evident, und Grotowskis Doers erfahren und erspüren die Verwandtschaft mit dem Affen am eigenen Leib. Dies ist Theater als anthropologische Vision in Reinform,32 basierend auf philosophisch-anthropologischen Ansätzen, die sich der Differenz zwischen Tier und Mensch widmen. In Grotowskis erster Arbeitsphase werden Tiere auch auf narrativer Ebene mit bestimmten Zeichen versehen. Hier sind nicht das Tier als Tier, als Katze oder Affe, für sich Teil des menschlichen Körpers, auch wenn sie ansatzweise aus seinen Tiefen heraufgeholt werden. In der Zeit der Aufführungen (art as presentation), der Zeit einer Ausrichtung der horizontalen Ebene und der Bild-Montage für Zuschauende versieht Grotowski es – das Tier – mit Symbolik und reichert es mit Bedeutung an. Beispielsweise haben die Bauern in Studium o Hamlecie (HamletStudien) die Attitüde, wie Tiere zu essen33, oder finden Menschen nach der »Po-
Pei Hwee Tan und Francesc Torrent Gironella in The Letters 2008 (Foto Magda Złotowska) 31 Gedächtnisprotokoll der A. während der Arbeit im Dokumentationsteam von Tracing Roads Across 2003–2006. 32 Vgl. Gedächtnisprotokoll der A. nach einem Telefonat mit Gerda Baumbach am 13.12.2017. 33 Auch in Grotowskis Bearbeitung des »Faust« unter dem Titel Tragiczne dzieje doktora Fausta 1963 (Doktor Faustus), eine auf dem Originaltext von Christopher Marlowe beruhende Textmontage, wird Faust am Ende als Opfertier von Mephistopheles auf dem Rücken, Kopf nach unten hängend, Hände über den Boden schleifend, davongeschleppt. Hintendrein die weibliche
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Tier / Mensch. Dazwischen Sein
lonius-Szene« aus dem tierischen Verhalten zurück in sogenanntes menschliches: u. a. jammern sie, ein Ausdruck des Leidens, der Menschen zugeordnet wird. Die Leiche des Polonius wird gefunden, und Ophelia stirbt im Verlauf eines Liebesspiels. Befremden und Schrecken bei den Bauern angesichts des Todesmysteriums; ihre Nacktheit wird zum Symbol für die conditio humana und die Qual des an äußerste Grenzen getriebenen Menschen. Die gleichen Personen, die sich wie brünstige Tiere verhalten haben, finden eine Form der Menschlichkeit wieder, die aus Gebeten und Wehklagen, Anrufungen und religiöser Inbrunst besteht.34
Das (Er-) Schrecken und Entsetzen der Bauern und die Art ihrer Gesten beschreibt Agnieszka Wójtowicz als eine physische Entblößung, als naturalistische Ausdrucksweise physiologischer Bedürfnisse. Fast alle Handlungen der Schauspieler_innen, so Wótjtowicz, bauen in dieser Inszenierung auf die Biologie des Menschen, wobei die physiologische Seite des Menschen durch starkes Übertreiben in den Vordergrund rückt. So werden vor allem extreme Körperzustände wie sexuelle Klimax, Tortur oder Gewalt vorgeführt. Grotowski charakterisiert die Bauern durch das Aufzeigen einer tierischen Seite in ihrer »Natur« (der Natur des Menschen) pointiert. Doch man möge, so Wójtowicz, diese Szene nicht als eine Vorstellung menschlicher bzw. menschenmöglicher Bestialität verstehen.35
Das Tier und die Stimme
Insgesamt erscheint Schloss Helsingör bei Grotowski als eine Mischung aus bäuerlichem und militärischem Charakter, innerhalb dessen sich nur die Figur Hamlet abhebt, so dass seine beiden Freunde – als Grenzgänger – einer tierischen Inszenierung unterworfen sind: Wenn Rosenkranz und Güldenstern Hamlet aus dem dunklen Eck hervorholen, knurrt Güldenstern wie ein Hund und läuft auf allen Vieren. Ob dies nur als betrunkener Scherz zu verstehen sei, fragt Wójtowicz.36 Ob Scherz oder angedeutete bestialische Qualität – für Grotowski zeigt sich in diesen Studien das Tierische äußerlich noch im Spiel. In seinen späteren Studien an und mit den Schauspielenden bzw. Handelnden (Doers) überMephistopheles, die einen Trauermarsch summt. Faust stößt Schreie aus, »unartikulierte Laute«, die von Grotowski als »nicht menschlich« beschrieben werden. »Faust ist kein Mensch mehr, sondern ein keuchendes Tier, ein unbrauchbares, einst menschliches Wrack, das ohne Würde stöhnt.« Eugenio Barba, »Doktor Faustus: Eine Text-Montage«, in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 93–103, hier S. 103. 34 Eugenio Barba, Das Land von Asche und Diamant, S. 90. 35 Vgl. Agnieszka Wójtowicz, »I Hamlet został Żydem« (Und Hamlet wurde zum Juden), in: Misterium zgrozy i urzeczenia. (Mysterium des Gruselns und der Verzauberung), S. 358–385, hier S. 378. 36 Vgl. ebenda, S. 358–385, hier S. 368.
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wiegt sukzessive das Tierische im Menschen. Um die tief im Inneren wurzelnden Blockaden (via negativa)37 der Schauspielenden zu lösen, richtet Grotowski den Fokus immer mehr auf die Stimmen aus den Tiefen des Seins. Dies gelingt »durch die Technik des Schauspielers, seine Kunst, in der der lebende Organismus nach höheren Zielen strebt.«38 Hier muss Grotowski zu graben beginnen, bis der Punkt erreicht ist, an dem er das Tierische aus den menschlichen Körpern hervorholt. Enttarnt er die sozialen Masken der Schauspielenden durch alle physischen Schichten hindurch bis zu dem perfekt versteckt lauernden Tier, indem er sie vertikal in die Höhe steigen lässt? Wie weit zurück Grotowski auf seiner theatralen Suche in die Menschheitsgeschichte und wie tief er in die Schauspielenden eindringt, lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Letztendlich ist für ihn jedenfalls – sowohl in den Anfängen des Teatr Laboratorium als auch später – die Stimme im Gesang alter Lieder und im Chor entscheidend. Die Kombination aus Liedern und Chor ist ausschlaggebend für das Schwingungsniveau und stets eng mit der Physis verbunden. Diese Anbindung an den Körper bildet das Fundament für die zu erreichenden Stimmlagen der einzelnen, aber nie allein agierenden Schauspieler_innen bzw. Doers. Der Gesang beinhaltet immer eine konkrete Aufforderung an den jeweils involvierten Körper. Ich habe es stets als sehr sonderbar angesehen, wenn man an der Stimme oder am Gesang oder sogar an gesprochenen Worten arbeiten wollte, indem man sie von den körperlichen Reaktionen trennte. Beide Aspekte sind stark miteinander verbunden, sie gehen ineinander über.39
Zuerst erklingt der Ton, dann folgt die körperliche Reaktion – ein Pawlowscher Effekt. In diesem Reiz-Reaktions-Schema sucht Grotowski den Moment vor jeder noch so kleinen physischen Handlung und stößt auf Impulse, die allerdings nicht unbedingt körperlich sein müssen. Hierin liegt das Geheimnis von etwas sehr schwer Erfaßbarem, weil der Impuls eine Reaktion ist, die unter der Haut beginnt und nur dann sichtbar ist, wenn sie bereits zu einer kleinen Handlung wurde. Der Impuls [wiederum] ist derart vielschichtig, daß man nicht sagen kann, er gehöre allein zum körperlichen Bereich.40
So lässt er die Handelnden (Schauspieler_innen) an den Impulsen und physischen Handlungen ebenso arbeiten wie an Gesängen und Schwingungsqualitä37 Vgl. Jerzy Grotowski, »Für ein Armes Theater« (1965), in: ders., Für ein Armes Theater, S. 13–26, hier S. 15. 38 Dies »liefert« laut Grotowski »eine Gelegenheit für etwas, das man Integration nennen könnte, das Ablegen von Masken, das Offenbaren der wirklichen Substanz: eine Totalität der physischen und geistigen Reaktionen«. Jerzy Grotowski, »Aufstellung der Grundprinzipien«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 285–295, hier S. 285–286. 39 Jerzy Grotowski, »Er war eine Art Vulkan«, in: Peter Brook / Jean-Claude Carrière / Jerzy Grotowski, Georg Iwanowitsch Gurdjieff, S. 52–111, hier S. 54. 40 Ebenda.
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ten, und zwischendrin tauchen nach wie vor erzählerische Motive auf. Die sich daraus ergebende Struktur bildet eine Action, die keine Aufführung ist, sondern in den Bereich art as vehicle gehört und laut Grotowski »die Objektivität des Rituals«41 birgt. Grotowski verweist auf eine Art Objektivität, auf Elemente aus Action, die unmittelbar auf die Körper der Handelnden und auf ihr Arbeitsinstrument (Stimme) wirken. Gearbeitet wird insbesondere an »Körper, Herz und Kopf«42. Grotowskis (Mikro- und Makro-) Kosmos ist also von einem dreigeteilten Menschen bestimmt,43 wobei der Körper das Animalische beherbergt. Alle drei Anteile fließen in Action zu einem zusammen, während sie in früheren Phasen noch separiert erforscht wurden. Unreflektiert bleibt, dass diese praktischen Experimente in einem männlich dominierten Kontext stattfinden.44 Ist diese Tatsache Grotowskis mehr der persönlichen Aufmerksamkeit geschuldet, die er den männlichen Teilnehmern widmet, oder liegt ihr ein viel umfassenderer Biologismus zugrunde, fest verankert in einem zementierten patriarchalen wie hierarchischen Weltbild? In Action mit dem Main Doer Thomas Richards und seinem kongenialen Partner Mario Biagini gibt es nur einen einzigen Moment für »die Frau« mit einer hellen durchdringenden Stimme.45 Mit jedem Ton scheint sie höher zu steigen, losgelöst von der Gruppe, von dem sie begleitenden und tragenden Chor. Auch von dem Main Doer Richards und von Biagini ist sie in diesem Moment scheinbar frei. Die beiden stehen am anderen Ende des Raumes am Rand und unterstützen sie in ihrer losgelösten Vertikalität. Zwar tritt sie in dieser Partitur häufiger aus dem Gesamtkonzept hervor, allerdings vorwiegend in archaisch weiblicher, körperlicher Pose, gebärend oder versorgend-bedienend. Sie trägt z. B. eine Wasserschüssel, die Richards für einen Reinigungsprozess benötigt.46 41 Ebenda, S. 52–111, hier S. 55. 42 Grotowski unterscheidet diese drei Bereiche. Vgl. ebenda, S. 52–111, hier S. 55. 43 In der Literatur wird in diesem Zusammenhang gern auf Gurdjieff als mögliche Quelle für die Dreigeteiltheit des Menschen verwiesen. Vgl. ebenda, S. 52–111. 44 Es gibt nur wenige Studien, die sich konkret den Frauen oder der weiblichen Rolle in den Arbeiten Jerzy Grotowskis widmen, darunter etwa über Maud Robart und Ang Gey Pin wie La ricerca di Maud Robart. L’orizzonte e atemporale del canto integrato, 2006; Claudia Tatinge Nascimento, Crossing Cultural Borders, Through the Actor’s Work, Foreign Bodies of Knowledge, 2009; Cornelia Adam, Ang Gey Pin – Theater nach Grotowski und Richards?, Diplomarbeit 2010; Virginie Magnat, Grotowski, Women, and Contemporary Performance, 2014. 45 Vgl. Gedächtnisprotokoll der A. während der Arbeit im Dokumentationsteam von Tracing Roads Across 2003–2006, im Besonderen Action in Aya Irini, Istanbul, im Sommer 2003. Vgl. die Dokumentation Action in Aya Irini, gefilmt in der Kirche St. Irene (Istanbul) im Juli und August 2003, im Rahmen von Crossroads, produziert von accaan – Atelier Cinéma de Normandie, realisiert vom Filmteam unter der Leitung von Jacques Vetter. 46 Der Vorgang des Reinigungsprozesses erfährt über die Jahre von Downstairs Action bis Action einen Wandel insofern, als verschiedene Körperteile – vom Oberkörper bis zur den Fersen – gewaschen werden. Die Trägerin der Schüssel ist immer die Frau …
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Marie de Clerck in Action in der Johanneskirche, Kappadokien 2005 (Foto Frits Meyst)
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Im Ausdruck des Animalischen, das Grotowski in den verborgenen Tiefen des menschlichen Körpers erkennt und aus dem er die Visualisierung physischer Handlungen entwickelt, spiegelt sich seine Verhaftung in einer patriarchalen Zugangsweise und die heteronormative, geschlechterrollenstereotype Aufteilung von Arbeit. Denn er orientiert sich an Säugetieren und an Liedern, denen er jeweils weibliche bzw. männliche (und kindliche) Attribute zuschreibt. Man muß bloß entdecken, daß der Gesang der Überlieferung samt den Impulsen, die damit zusammenhängen, »eine Person« ist. Und wie soll man dies entdecken? Allein in der Praxis; […] Es gibt alte Gesänge, bei denen man leicht erkennt, daß sie Frauen sind, und es gibt andere, die männlich sind; es finden sich Gesänge, an denen es leicht erkennbar ist, daß es Jugendliche oder sogar Kinder sind, daß es ein Kind-Gesang ist; und es gibt andere, die Greise sind – es ist ein Greis-Gesang. […] Und überdies: Ein Gesang der Überlieferung ist ein Lebewesen, ja, allerdings ist nicht jeder Gesang ein Mensch, es gibt auch einen Tier-Gesang, einen Kraft-Gesang.«47
Die Entdeckung des Tierischen (nicht zu verwechseln mit dem Tier) im Menschen findet ihren Ausdruck in der Stimme, in biologisierten Stimm-Masken. Es sind keine klaren, hellen Töne, sondern aus der Tiefe kommende, körperliche Laute wie »Urlaute«: Knurren, Glucksen, Grölen, Krächzen (…) Solche Urlaute gehören in Carmelo Benes Arbeitsweise zu wesentlichen Elementen der Macbeth horror suite (Macbeth Horror Suite).48 Bene jedoch geht es nicht um vergrabene, archetypische, verschüttete Klänge aus den Untiefen des menschlichen Körpers, sondern um die Dekonstruktion des körperhaften Lautes, der Phonè selbst. Im Mittelpunkt seiner Forschungen steht nicht die Suche nach dem wie auch immer geteilten Menschen, seinem Innen oder Außen. Ihm geht es auch hier einzig um das Erforschen »des Schauspielers«, »des Histrionen« und seiner Mittel, die er im Eigenstudium in actu sucht.49 Es ist also kein nach innen gerichtetes Suchen, sondern eine artifizielle Überführung ins Außen, jenseits jedweder Einfühlung. Es ist »der verteufelte Histrione, der vom Sein erzählt, indem er seinen Körper zum symbolischen Leib macht« und der dann als »genuin unzivilisiert«50 gilt, wenn der »zum Instrument verwendete Körper der Herrschaft des Geistes« unterworfen wird, wie Baumbach schreibt. Der Kunstkörper 47 Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 179–216, hier S. 202–203; Vgl. auch Lisa Wolford, Grotowski’s Objective Drama Research, S. 122. 48 Vgl. Abschnitt »Ein reduzierter Hamlet oder Hamlet streichen. Bene und ›Hamlet suite‹« im Kapitel »Hamlet. Schauspieler-Werden«, S. 151–168. 49 Die gängigen Schauspielausbildungen hat Carmelo Bene abgelehnt: In seinem ersten Jahr in Rom besuchte er für ein Jahr die private Schauspielschule L’Accademia d’arte Drammatica Pietro Sharoff. Danach erwarb er sich durch ein Sit-in Zugang zur staatlichen Schauspielschule Accademia nazionale d’arte Drammatica ›Silvio d’Amico‹. Doch auch diese hielt ihn nicht lange, und er übte sich fortan als Autodidakt. Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Carmelo Bene – Histrione und ›non-attore‹. Auf Spurensuche im Hause Meyerhold«, in: Akteure und ihre Praktiken im Diskurs, S. 410–430. 50 Gerda Baumbach, Schauspieler, Band 1, S. 109.
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»Schauspieler« bzw. der Nicht-Schauspieler (non-attore), die Schauspielermaschine (macchina attoriale) ist das Ziel. Der Mensch – geteilt oder nicht – ist irrelevant. Bene arbeitet an den Lauten und Tönen. Das Sprechen selbst ist der Protagonist, den Bene dekonstruiert und neu zusammensetzt. »Der Schauspieler« wird also zerlegt, zerstört, zugrundegerichtet, um dann als eine funktionierende »Maschine der Rhetorik« quasi »wiederaufzuerstehen«. 1961, »im ersten Lebensjahr seines Teatro Laboratorio«51, erscheint in Carmelo Benes Bühnenkosmos zum ersten Mal die Holzpuppe Pinocchio, die ihn fortan und ebenso wie Hamlet bis zum Schluss seiner künstlerischen Schaffenszeit begleitet. Die literarische Figur Pinocchio, eine Marionette, die Mensch werden will, animiert Bene zunächst noch zum Spiel mit der Stimme als Trägerin einer Geschichte aus Worten mit Sinn. Er erprobt in erster Linie die Klaviatur seiner eigenen Stimme an bzw. mit ihr, variationsreich und auf mehreren, ineinander verschachtelten Ebenen. Viermal bringt Bene im Laufe der Jahre den Pinocchio in verschiedenen Variationen auf die Bühne, darüber hinaus gibt es Übertragungen im Radio, Schallplattenaufnahmen und später CDs.52 In der letzten Version, Pinocchio, ovvero lo spettacolo della Provvidenza (Pinocchio oder das Schauspiel der göttlichen Vorsehung), spricht er alle Stimmen selber mit Ausnahme der Fee. Auch hier treten Tiere auf, Grille, Kater und Fuchs, Rabe, Eule, Menschen-Esel … (u. a. wie der Tischler Ciliegia oder Geppetto),
Die Grille in Pinocchio von Carmelo Bene 1982 (Foto Cristina Ghergo) 51 Piergiorgio Giacchè, »Un Pinocchio letto per Bene«, in: Carmelo Bene, Pinocchio, adattamento scenico da Collodi, S. 5–10, hier S. 5 (Orig. ital.: »cioè nel primo anno di vita del suo Teatro Laboratorio«). 52 Zudem erscheint Benes Text in seinem allerersten Buch: Carmelo Bene, Pinocchio Manon e Proposte per il teatro, Roma 1964. Vgl. Piergiorgio Giacchè, »Un Pinocchio letto per Bene«, in: Carmelo Bene, Pinocchio, adattamento scenico da Collodi, S. 5–10; und vgl. auch das Zitat der FN 157 im Kapitel »Räume und Visionen«.
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aber nicht als das Animalische im Schauspieler, das sich aus einem tiefsten Inneren Bahn bricht. Bene trainiert hier weniger die Befindlichkeiten des physischen Körpers als vielmehr die Bandbreite seiner höchstpersönlichen Stimme: Intonation, Rhythmus und Takt sowie das Zusammenspiel mit den technischen Hilfsmitteln Mikrofon und Verstärker. Amplifikation und Playback nehmen über die Jahre an Bedeutung für das Spiel auf der Bühne zu, was sich auch auf die Variationen des Pinocchio niederschlägt. In diesen dramaturgischen Mitteln sieht Fabrizio Parrini einen Hinweis auf Benes Verständnis von Schauspiel. Die Stimme der Marionette ist im Playback und zu einem guten Teil in der Aufführung nicht synchron gesprochen. Pinocchio erzählt sich selbst, weil er nicht lesen kann. Bene nennt dies ein Schauspiel über das weiße Blatt Papier.53
Bei den Proben für die letzte Bühnenfassung des Pinocchio war Bene konsequenterweise die Arbeit an der Stimme am wichtigsten, an ihrem Klang und ihrer Musikalität. Sonia Bergamasco, die die Blaue Fee darstellte, schreibt rückblickend, die Gemeinsamkeit zwischen Bene und ihr habe im Verständnis des »Musikalischen« gelegen, was die Basis für ihre Zusammenarbeit gewesen sei. Das »Musikalische« sei seine (Theater-) Welt gewesen. Das Spielfeld, auf dem ich mich in »Harmonie« befand, war zweifelsohne das des »Musikalischen«. Meine Gewohnheit mit der Sprache der »Noten« und mein Wissen der »Oper« erlaubten mir, in Beziehung zu treten mit einer Welt – jener von CB, die versunken ist in das Mysterium des Klangs, des »Musikalischen«.54
Benes Bewunderung für Maria Callas55 zeugt vom Stellenwert seiner eigenen Arbeit an und mit der Stimme und steht nicht zuletzt auch im Zusammenhang
53 Fabrizio Parrini, »Il teatro del nulla«, in: ders. (Hrsg.), Carmelo Bene. Il teatro del nulla, S. 17–63, hier S. 30. (Orig. ital.: »La voce del burattino è in playback e perfino non in sincrono per buona parte dell’evento. Pinocchio si racconta perché non sa leggere tanto che Bene lo definisce uno spettacolo sulla pagina bianca.«) 54 Sonia Bergamasco, »Otranto. Via Scupoli«, in: A CB. A Carmelo Bene, S. 69–70, hier S. 70. (Orig. ital.: »Il terreno di gioco su cui mi sono trovata in ›armonia‹ è stato senz’altro quello del ›musicale‹. La mia consuetudine con il linguaggio delle ›note‹ e la conoscenza delle ›opere‹ mi permetteva di entrare in rapporto con un mondo – quello di CB – immerso nel mistero del suono, del ›musicale‹.«) 55 Ein häufig zitierter Aphorismus Benes lautet: »Die Stimme der Oper endete mit der Callas, eine Perfektionistin, die ihre Defekte perfektionierte so wie alle Genies. Finden und wegwerfen. Da rum geht es.« Er erschien erstmals in Espresso, Band 45, 1–4, S. 85. (Orig ital.: »La voce dell’opera si è fermata con la Callas, una perfezionista, nel senso che perfezionava i suoi difetti, come tutti i geni. Trovare e cestinare. Di questo si tratta.«). Auch erwähnt Bene die Callas in seiner Autobiografie gleich zu Beginn des Abschnitts »›Romeo e Giulietta‹ a Parigi«: »Im Zeichen von Maria Callas führten sie die Höhepunkte wieder auf in der Opéra-Comique. Gegenüber des Bühneneingangs [befand sich] die Kaffebar Bel Canto. Hier feierten ich und der polytheistische Saint-Pierre Klossowski in den frühen Abendstunden, während wir darauf warteten, die kultivierten Gallier zu erobern. [Es gab eine] religiöse Mélange aus Wodka und Kir [Anm. d. A.: Weißwein gemischt
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mit seiner Aufführung des dramatischen Gedichtes Manfred (Lord Byron)56, einem teatro senza spettacolo (Theater ohne Schauspiel) par excellence, das er mit dem Orchester der Mailänder Scala gemeinsam umsetzte. Dass Benes Stimme durch die Zerlegung des Klangs und die daraus resultierende Phonè immens zur Geltung kommt, wird nicht nur in der Literatur hervorgehoben, sondern auch Kolleg_innen und Wegbegleiter_innen schwärmen nachgerade von seiner eindrucksvollen und ausdrucksstarken Stimme. Der Schauspieler Sandro Lombardi erinnert sich an Pinocchio: »Jetzt, unter all den Fragmenten, die mir das Gedächtnis an ihn hervorholt, kehrt am nachdrücklichsten von allen seine Stimme an mein Ohr, wie sie in Pinocchio die Blaue Fee anflehte: kleine Fee, kleine Fee, kleine Fee …«57 Pinocchio steht jedoch nicht nur für einen ebenso verspielten wie präzisen Einsatz seiner Stimme und der Stimmvariationen, sondern ist auch die letzte szenische Schrift des Künstlers Bene, [die] vielleicht einzige, szenische Schrift, die noch vom Lesenden zum Lesenden, vom Hören des Schauspielers zum Hören des Zuschauers geht, indem er auf das Wort einwirkt und schließlich die Gabe des Wortes. Jede Aufführung oder Schallplatte oder jedes Video der Pinocchios von Bene hat, jenseits des Verdienstes von Schönheit auch eine Methode des Wissens: keine Figur kommt an ein Wort heran, das lebendig und voll ist.58
Eine szenische Niederschrift kann man wie eine Partitur lesen, der Ton aber muss von und mit Bene einstudiert werden. Es ist ein Theater des Gehörten, auch für die agierenden Schauspieler_innen, was Benes Theater so einzigartig macht.59
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mit Crème de Cassis].« Carmelo Bene, Sono apparso alla Madonna, Milano: Longasi 1983, S. 157. (Orig. ital. »All’insegna di Maria Callas si replicavano i trionfi all’Opéra-Comique. Bel Canto, il bar-caffè dirimpettaio l’entrata degli artisti. Qui, in sulle prime luci della sera, nell’attesa di conquistar quei Galli raffinati, celebravamo io e Saint-Pierre Klossowski politeista. Religioso mélange di vodka e kir.«) Vgl. auch Salvatore Vendittelli, Carmelo Bene fra teatro e spettacolo, S. 127. Wie wichtig die Callas für ihn war, zeigt sich auch darin, dass sie ein wesentlicher Bestandteil seiner Proben mit Sonia Bergamasco wurde, die dazu schreibt: »[…] natürlich Callas (die berühmten ›Briefe‹)«. Sonia Bergamasco, »Otranto. Via Scupoli«, in: A CB. A Carmelo Bene, S. 69–70, hier S. 69. (Orig. ital.: »[…] naturalmente Callas (le famose ›lettere‹)«) Vgl. Abschnitt »Eine Anmerkung am Ende« im Kapitel »Räume und Visionen« S. 65–68. Sandro Lombardi, »Fatina, fatina, fatina …«, in: A CB. A Carmelo Bene, S. 23–25, hier S. 25. (Orig. ital.: »Adesso, fra i tanti frammenti che la memoria mi riporta di lui, più insistente di tutti mi torna nell’orecchio la sua voce che, in Pinocchio, implorava la Fata Turchina: fatina, fatina, fatina …«) Piergiorgio Giacchè, »Un Pinocchio letto per Bene«, in: Carmelo Bene, Pinocchio, adattamento scenico da Collodi, S. 5–10, hier S. 7. (Orig. ital.: »Il Pinocchio di Bene è l’ultima e forse l’unica scrittura scenica che può invece passare da lettore a lettore, dall’ascolto dell’attore all’ascolto dello spettatore, facendo leva sulla parola e infine dono della parola. Ogni spettacolo o disco o video dei Pinocchi di Bene, oltre al merito della bellezza ha anche un metodo di sapienza: non c’è figura che tenga davanti a una parola che è viva e piena.«) Vgl. das Zitat in FN 296 im Kapitel »Räume und Visionen«.
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Auf diesem Weg führt schließlich eine emotionale Anbindung, denn als Schauspieler ist Carmelo Bene ein »erbarmungsloses Tier«, das alle(s) frisst.60 Aber Bene ist nicht das Tier auf der Bühne, das er darstellt oder das aus ihm herauskommt. Die Metapher betrifft die Art Schauspieler, die alles frisst, ihre Umgebung verschlingt und alles in sich aufnimmt, mit dem einzigen Ziel zu verschwinden, möglicherweise in den Seinszustand eines Tieres, »Leben im reinen und einfachen Zustand«61, bei dem die Frage nach der Zeit noch ungeklärt ist.62 Der Mensch ist nicht interessiert an res extensa und res cogitans, sondern an res animalis im Sinne eines »Non esisto dunque sono«63. Carmelo Bene existiert nicht, daher ist er. Keine Anbindung an das Animalische, das Tier weder im Innen noch im Außen, vielmehr die animalische Qualität eines zeitlosen Seins bestimmt das schauspielerische Handeln; maximal eine verspielte, histrionische, und dabei poetisch-ästhetische Umsetzung des tierischen Seins, dem Zeitferne zuzuschreiben und das mit einem Kind im Spiel vergleichbar ist.
Das spielerische Moment
Dieses kindhafte spielerische Moment in Verbindung mit der Kraft der Masken ist es, auf das Ariane Mnouchkine und das Ensemble des Théâtre du Soleil setzen. Während der monatelangen Proben wird nicht intellektuell erfasst, gelesen oder diskutiert, sondern auf eine kindliche, spielerische Weise ausprobiert. Auch das Tier ist im Spiel zu suchen und zu erproben. Das Spiel beginnt sofort, denn die Schauspieler_innen haben »sehr schnell Lust aufzustehen und zu spielen. Sie möchten spielen«.64 Bereits das Entdecken der Figuren ist ein Spiel, »denn spielen heißt sich verwandeln. Das Kostüm [Anm. d. A.: noch nicht die Maske] ist also schon der Beginn der Reise«, sagt die Schauspielerin Sophie Moscoso, und ihr Kollege Georges Bigot drückt es so aus: Lust zu spielen, sowie sich und anderen Geschichten zu erzählen. All das hängt mit der Kindheit zusammen. Der größte Anspruch an einen Schauspieler liegt darin, diese Verbindung mit der 60 Fabrizio Parrini, »Il teatro del nulla«, in: ders. (Hrsg.), Carmelo Bene. Il teatro del nulla, S. 17–63, hier S. 37. (»Es gibt nur das Gehörte und die emotionale Teilhabe. Der Schauspieler im Monolog ist ein erbarmungsloses Tier, gnadenlos, und alles fressend.« Orig. ital.: »C’è solo l’ascolto e la partecipazione emotiva. L’attore in monologo è un animale spietato e onnivoro.«) 61 Jacques Derrida, »Das Tier, das ich also bin (weiterzuverfolgen)«, in: ders., Das Tier, das ich also bin, S. 17–84, hier S. 46. 62 Vgl. ebenda, S. 17–84, hier S. 45. 63 Vgl. Carmelo Bene, »Non esisto dunque sono«, in: ders., La voce di Narciso, S. 11–17, Gabriele C. Pfeiffer, Non esisto dunque sono, 2002. 64 Ariane Mnouchkine zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 47.
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Kindheit aufrechtzuerhalten. Mit der Zeit und der Reife erfaßt ihn eine Art Begeisterung für die Entschlüsselung des Menschlichen, in der seine Aufgabe besteht.65
Diese Lust am Spiel öffnet Türen in andere Welten, auch in die der Tiere, die eine große Rolle bei der Figurenentstehung spielen. Die Figuren sind kein Instrument, um zu spielen, sondern sie sind das Spiel selbst. Sie tauchen auf und manifestieren sich im Spiel der Akteur_innen und schließlich auf der Bühne: ein Nandu in Les Naufragés du Fol Espoir (Schiffbruch mit verrückter Hoffnung), ein Reiter auf dem Pferd sowie ein Yak in Et soudain, des nuits d’éveil (Und plötzlich, durchwachte Nächte), Fische in Le génie du mont Tan Vien (Der Geist vom Berg Tan Vien), ein Esel in Le Dernier Caravansérail (Odyssées) (Die letzte Karawanserei (Odysseen)), Wolfshunde in Les Euménides (Die Eumeniden), Pferde in Macbeth, ein Bär in L’Indiade ou l’Inde de leurs rêves (Die Indias oder das Indien ihrer Träume)66. Der Probenvorgang und die Erarbeitung der Figuren haben sich laut Brian Robert Singleton67 vor allem durch Mnouchkines Auseinandersetzung mit Sta-
Pferd in Macbeth 2014 (Foto Michèle Laurent)
65 »Ich habe das Theater als Kampf gewählt. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Georges Bigot«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 74–82, hier S. 82. 66 Vgl. »Les animaux«, in: Béatrice Picon-Vallin, Le Théâtre du Soleil, Les cinquante premières années, S. 294–295. 67 Vgl. Brian Robert Singleton, The Interpretation of Shakespeare by Ariane Mnouchkine and the Théâtre du Soleil, S. 56.
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nislawski ergeben und weniger durch ihre Asien-Reisen. Diese Aussage ist insofern interessant, als Mnouchkine gerade von diesen Reisen das Spiel mit dem Einsatz der Masken mitgebracht hat, sowie ihre Vorstellung von Theater: »Das Theater ist orientalisch.«68 Dort sei ihre Wiege, in die sie auch im Alter zurückkehre.69 Doch, so Singleton, sei zunächst nichts Ungewöhnliches an Ablauf und Arbeitsweise gewesen. Nach Informationen über die Zeit, in der das jeweilige Stück spielen solle, seien Rollen verteilt und Charaktere analysiert worden. Man habe an den physischen Fähigkeiten der Schauspieler_innen gearbeitet und erst dann mit der Improvisation begonnen. Diese psychologische Annäherung sei für die klassisch geschulten Schauspieler_innen in Frankreich Ende der 1960er-Jahre allerdings neu gewesen.70 Zwar habe Mnouchkine damals schon ihre Aufgabe darin gesehen, den Schauspieler_innen nicht vorzugeben, wie zu spielen oder was zu tun sei, sondern zu leiten und Improvisationen zu initiieren. Sie habe auf diese Weise ihren unverwechselbaren, kreativen Aufführungsstil entwickelt. Die Betonung des Psychologischen bei Singleton sticht irritierend heraus, weil das Théâtre du Soleil und Ariane Mnouchkine gegen naturalistisches Spiel (-en) vorgehen und entschieden nicht über Einfühlung arbeiten.71 Die Akteur_innen finden ihre Figuren durch Improvisation und den Austausch mit der Regisseurin Mnouch kine72, was in Tierimprovisationen besonders deutlich wird. Hier spielt wiederum der Einfluss Lecoqs, bei dem Mnouchkine eine Ausbildung absolviert hat, eine
68 Ariane Mnouchkine zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 49. 69 Vgl. Mnouchkines Begründung für ihr Fernbleiben von der Verleihung des Goethepreises der Stadt Frankfurt am Main im August 2017: bsc/dpa »Theaterlegende Ariane Mnouchkine erhält den Goethepreis 2017« in: Spiegel online 28.8.2017, www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/theatredu-soleil-chefin-ariane-mnouchkine-erhaelt-goethepreis-2017 [09/10/2017] sowie Eva-Maria Magel, »Ariane Mnouchkine: Keine Zeit für den Goethe-Preis«, in: Frankfurter Allgemeine 19.8.2017, www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt/ariane-mnouchkine-keine-zeit-fuer-dengoethe-preis [09/10/2017]. 70 Vgl. Brian Robert Singleton, The Interpretation of Shakespeare by Ariane Mnouchkine and the Théâtre du Soleil, S. 56; (Orig. engl. »What marked her change of attitude to direction was not her experience of Far Eastern theatres but her discovery of the methods advocated by Stanislavsky. Beginning with lectures on the period of the play, roles were assigned, characters were analysed, lessons were followed to develop the actors’ physical capabilities and only after all this did they begin to improvise. This attempt at psychological realism was something new to the classically trained actors in France at the beginning of the nineteen-sixties and caused much resentment among those unable to come to terms with the method.«); vgl. auch die Diplomarbeit von Magdalena Wabitsch, Ariane Mnouchkine und das Théâtre du Soleil, S. 16. 71 Zur Haltung und zum Spiel gegen einen naturalistisch-psychologischen Ansatz vgl. Anne Neuschäfer, Das Théâtre du Soleil: Commedia dell’arte und création collective, S. 166. 72 Zum Auf- und Vorfinden der Figuren vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Spiel der Masken – Ariane Mnouchkine und das Eigenleben ihrer Figuren«, in: Erinnern – Erzählen – Erkennen. Vom Wissen kultureller Praktiken, S. 354–369.
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wesentliche Rolle. Lecoq ließ seine Schüler_innen in der Improvisation »Widerspiel des alltäglichen Lebens« die Dynamik der Natur so erfassen, wie sie ist, und nicht, wie man sie gerne hätte.73 Er arbeitet mit Mitteln wie Stoffen, Farben, Licht, Pflanzen und Tieren, um Charakteren und Situationen nachzuspüren.74 Lecoqs Ansicht über das Studium der Tiere kommt in folgender Passage zum Ausdruck: Die Analyse der Bewegungen der Tiere führt uns auf viel direkterem Weg zum menschlichen Körper. Das kommt der Entwicklung einer Figur zugute. Tiere haben in bezug auf Körperbau, Pfoten oder Kopf in der Regel Ähnlichkeit mit uns. Darum fällt es leichter, sich mit ihnen zu befassen als mit den Elementen oder Materie.75
Diese Grundidee hat Mnouchkine übernommen und nutzt sie bei dem Erarbeiten in der freien Rollendisposition.76 In den Proben kommen verschiedenste Tiere zum Vorschein, die sich nach einiger Zeit wieder verflüchtigen. Oder sie bleiben, setzen sich in einer der spielenden Personen fest, begleiten sie auf der Suche nach Figuren oder werden zu einer Figur. Denn einmal auf der Bühne angekommen, entwickeln sie meistens ein Eigenleben als (Tier-) Figuren.
73 Vgl. Roland Matthies, Wege zu einer neuen Schauspielausbildung – Wege zu einem neuen Theater?, S. 87–88. 74 Vgl. Jacques Lecoq, Der poetische Körper, S. 66–68. 75 Ebenda, S. 125–126. Lecoq beschreibt en détail, welche Tiere für das Training bestimmter menschlicher Partien des Körpers geeignet sind. Auch hier tritt wieder die Katze auf, denn sie eignet sich für die Beweglichkeit des Rückens. Raubtiere ganz allgemein sind gut für die Schulterblätter, mit dem Bild des Erdmännchens wird Dehnen der Wirbelsäule trainiert, Hals- und Kopfbewegungen werden anhand des Hundes studiert usw.. Lecoq entwickelte eine »gymnastique animalière« (Anm. d. Übers. LB.: Übersetzungen wie »Tiergymnastik« oder »tierische Gymnastik« sind unzulänglich, dann hieße es »gymnastique animale«. »Animalière« assoziiert man mit »animalier« (maskulinum), bildender Künstler, der spezialisiert auf Tiergemälde und -skulpturen ist. In Lecoqs Wortschöpfung ist also ein Bezug zur Tierdarstellung inkludiert. Schon der Schauspieler, Regisseur und Theaterleiter Charles Dullin (1885–1949) entwickelte Übungen mit Gegenständen, »plastische Improvisation« (»improvisation plastique«) genannt, in denen auch Tiere durchexerziert wurden. 76 »Ich mache die Rollenverteilung niemals im vorhinein. Niemals, niemals. Das würde nicht funktionieren. Seit sehr langer Zeit, wirklich seit sehr langer Zeit probieren alle Schauspieler alle Rollen aus, und das lange Zeit hindurch.« Ariane Mnouchkine zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 55.
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Tier / Mensch. Dazwischen Sein
Erscheinungen. Das Auftauchen von (Tier-) Masken auf der Bühne Ein totaler, ein kommunikativer und ein gedoppelter Akt
Erst wenn Grotowskis Schauspieler_innen sich über die via negativa sämtlicher Blockaden entledigen, sich befreien und (ihre sozialen) Rollen wie Masken ablegen können, haben sie die Möglichkeit, sich durch intensives Muskeltraining selber Masken (Gesichts- bzw. »organische Masken«77) zu bauen. Diese brauchen sie, solange Grotowski noch an zwei »Ensembles«,78 d. h. Publikum und Schauspielende denkt und mit Gesichtsmasken und Körperhaltungen Bilder für das Publikum schaffen will. Je weniger er Zuschauende adressiert, desto mehr gehen beim Ablegen der sozialen auch die organischen Masken verloren. Stattdessen soll das tief in den Schauspieler_innen Schlummernde zum Vorschein kommen. Zunächst geht es darum, die »Technik der psychischen Durchdringung«79 zu erlernen. Dazu nehmen die Schauspieler_innen eine Rolle ein, die wie ein Skalpell bis zum »Kern« ihrer Persönlichkeit vordringen und ihn freilegen soll. In dieser Phase haben sie bereits ihre Schutzschichten abgetragen und alle Masken abgelegt, und es ist an der Zeit für den Prozess der Verwandlung. Jede teilnehmende Person kann das ihr inhärente, archetypische Tier zutage treten lassen.
Thomas Richards in Action 1995, Vallicelle (Foto Alain Volut) 77 Ludwik Flaszen, »Akropolis: Umgang mit dem Text«, in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 65–84, hier S. 83. 78 Vgl. Manfred Brauneck, Die Welt als Bühne, 5. Band, S. 750. 79 Jerzy Grotowski »Das neue Testament des Theaters. Ein Interview mit Jerzy Grotowski von Eugenio Barba« (1964), in: ders., Für ein Armes Theater, S. 27–58, hier S. 38.
Erscheinungen. Auftauchen (Tier-)rechs 269 Masken auf der Bühne Blinddext rechtsDas Blindtext rechts von Blindtext
In diesem Stadium entstehen, hervorgerufen durch Impulse, ganz bestimmte Körperpositionen und -haltungen; die Handelnden sind hier ausschließlich bei sich. In Action z. B. sieht man in einer Sequenz Thomas Richards mit einem verklärten Gesichtsausdruck auf dem Rücken liegen, die angewinkelten Beine in der Luft wie ein Käfer, oder wie ein Baby. Er wirkt in dieser Position entrückt, der Wirklichkeit entzogen, sein Innerstes aufspürend. Schon Jahrzehnte früher gab Ryszard Cieślak sich in Książę Niezłomny (Der standhafte Prinz) bereits einer solchen Körperhaltung hin. Die Essenz seiner Berufung erreicht [der Schauspieler], immer wenn er einen Akt der Aufrichtigkeit vollzieht, wenn er sich bloßlegt, sich in einer äußersten feierlichen Geste öffnet und hingibt und sich von keinem durch Sitten und Gebräuche errichteten Hindernis aufhalten läßt.80
Wenn eine Innen-Außen-Komponente einschließlich eines Zwischenraums des Schauspiels wie bei Ariane Mnouchkine mitspielt, dehnt sich einerseits dieser Zwischenraum als entscheidender dynamisierender Moment im Spiel aus, und es zeigt sich andererseits der Vorgang eines Sichtbarwerdens von (beispielsweise) Tieren oder Figuren. Dieser Zwischenraum lässt eine Spannung zwischen innen und außen entstehen, und er zeugt von einem lebendigen Spiel der Protagonist_innen miteinander, reale wie imaginierte. Ihr Instrument ist die Bewegung des Anlegens der Maske(n). Dies dient der Unterscheidung zwischen innen und außen. Es schafft eine Art Schnittstelle, die den Leerraum und damit den not-
Ryszard Cieślak in Książę Niezłomny (Der standhafte Prinz) 1965 (© Teatr Laboratorium / Archiwum Instytutu Grotowskiego) 80 Jerzy Grotowski, »Er war nicht ganz er selbst«, in: ders., Für ein Armes Theater, S. 123–134, hier S. 132.
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Tier / Mensch. Dazwischen Sein
wendigen Platz ermöglicht: Eine (Tier-) Maske wird angelegt, das Tier kommt als Figur zum Vorschein, die Kommunikation zwischen Akteur_innen und Figur, Akteur_innen und Mnouchkine sowie dem Publikum beginnt. Das Spannungsmoment erwächst nicht aus den Schauspielenden oder den Tierfiguren, sondern aus ihrem Wechselspiel. Das sich wiederholende Ab- und Anlegen der Masken ist ein kommunikativer Akt (eine Handlung), der (die) das Spiel vorantreibt. Im Vergleich dazu fördert das reduzierende Ablegen, wie Grotowski es einfordert, weder die Kommunikation, noch wird bei ihm eine Figur als Tier lebendig. Hier wird vielmehr das Animalische im menschlichen Körper sichtbar und sein Innerstes tritt zutage. Wenn wie in Mnouchkines Ansatz das Eigenleben einer Maske sichtbar (gemacht) wird, so, dass die Maske auf der Bühne zu leben beginnt, dann erscheint auch die Figur bzw. das Tier und beginnt mit dem Schauspielenden kommunikativ zu interagieren. Der Raum zwischen innen und außen und die Zeit zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – Zwischenraum und Zwischenzeit – lassen diese Form der Kommunikation zu. Wie hilfreich sich das Arbeiten mit materiellen Masken81 auswirkt, spiegelt sich darüber hinaus in der Arbeitsweise der Hausautorin Hélène Cixous wider. Sie schildert aus eigener Erfahrung einen Prozess, der analog zu dem der Schauspieler_innen zu sehen ist. Eine Maske zu haben, ist eine ideale Ausgangsposition für das Schreiben. Ich war es, ohne ich zu sein. […] Die Maske erlaubt, das Innere nach außen zu kehren und das Dahinterliegende in den Vordergrund zu rücken. […] Das Theater ist die Maske.82
Masken helfen, etwas Neues zu entdecken, das bis dahin verborgen war. Das Theater wirkt in diesem Zusammenhang als Maske, die ein verborgenes Ich zum Vorschein bringt, ohne selber das Ich zu sein. Dies ist aus der Sicht der Schreibenden verständlich: Theater kann eine Maske für die vorerst außenstehende Autorin sein, die sich jedoch fragen muss, wie es ist, für und mit einem Theaterensemble zu schreiben,83 das sich der kollektiven Arbeitsweise verschrieben hat. Sie wird
81 Gerda Baumbach, »›Seid gegrüßt, Maske!‹ Zur Maskenproblematik in der Neuzeit«, in: Corps du Théâtre. organicità, contemporanéité, interculturalità / Il Corpo del Teatro. organicità, contemporaneità, interculturalità, S. 105–137. 82 »Le théâtre, c’est le masque. Entretien avec Hélène Cixous«, in: Guy Freixe, Les utopies du masques, S. 316–320, hier S. 318–S. 320. (Orig. frz.: »Avoir le masque est une position idéale pour écrire. C’était moi, sans être moi. […] Le masque permet de mettre dehors ce qui est à l’intérieur; devant ce qui est derrière. […] Le théâtre, c’est le masque.«) 83 Hélène Cixous reflektiert ihre Arbeitsweise fürs Theater in verschiedenen Schriften: »Le lieu du Crime, le lieu du Pardon« (The Place of Crime, The Place of Forgiveness), »L’Ours, la Tombe, les Etoiles« (The Bear, the Tomb, the Stars), »Qui es-tu« (Who Are You), »L’Incarnation« (Incarnation). Die englische Version wurde übersetzt von Catherine MacGillivray: »Le lieu du Crime, le lieu du Pardon« (The Place of Crime, The Place of Forgiveness) in: The Hélène Cixous Reader, S. 149–156.
Erscheinungen. Auftauchen (Tier-)rechs 271 Masken auf der Bühne Blinddext rechtsDas Blindtext rechts von Blindtext
unweigerlich von der création collective zur écriture collective gelangen84, was zu einer Verschiebung im Verhältnis zwischen Autor_innenschaft und Autorität und im Selbstverständnis der Autorin führt. Susan Sellers beschreibt diese Konsequenz – eine consecutio ex machina – als Wechsel vom Schreiben des Selbst zum Schreiben der Anderen. Die Autorin kann nicht länger auf sich selbst konzentriert bleiben, stattdessen ist es ihre Aufgabe, die Anderen zu hören, ihnen zuzuhören.85 Für die Schauspieler_innen indes bedeutet es: »Im Theater ist der ganze Körper eine Maske«86, wie Mnouchkine selbst es in einem Interview auf den Punkt brachte. Die Betonung liegt auf »Körper«, und das ist eine andere Situation als die der Schriftstellerin. Auf einem Verständnis von Theater als biologischer Kunst basiert auch die Erklärung Erhard Stiefels, des hier bereits vorgestellten langjährigen Maskenbildners vom Théâtre du Soleil, der sagt, er habe einen Blick dafür entwickelt, »Masken aus Fleisch zu schnitzen«: »Man glaubt in der Tat, das Fleisch und somit das Gesicht zu schnitzen.«87 Mnouchkine bezeichnet die Arbeit mit der Maske als Kerndisziplin, da die (materielle) Maske eine Form (vor-) gebe und die Form zu Disziplin zwinge.88 Das Material der Masken von Erhard Stiefel besteht seit Richard ii aus Holz, denn »paradoxerweise« sei Holz dem Fleisch ähnlicher als Leder.89 Doch auch mit Leder arbeitet Stiefel gern.90 Von Schminke allerdings 84 Vgl. Gabriele C. Pfeiffer, »Negotiating and Introducing Identities: The ›Écriture Collective‹ of Ariane Mnouchkine, Hélène Cixous and the Théâtre du Soleil«, in: Exploring Identity in Literature and Life Stories, S. 215–227. 85 Vgl. Susan Sellers, Hélène Cixous, Authorship, Autobiography and Love, S. 77. 86 Ariane Mnouchkine, »The entire body is a mask«, from an interview with Ariane Mnouchkine by Odette Aslan, in: Collaborative Theatre. The Théâtre du Soleil Sourcebook, S. 109–111, hier S. 110. (Orig. engl.: »In theatre, the entire body is a mask.«) Vgl. Gerda Baumbach, »›Seid gegrüßt, Maske!‹ Zur Maskenproblematik in der Neuzeit«, in: Corps du Théâtre. organicità, contemporanéité, interculturalità / Il Corpo del Teatro. organicità, contemporaneità, interculturalità, S. 105–137 und dies., »Erinnern, Erzählen, Leibwissen«, in: Momentaufnahme Theaterwissenschaft, S. 107–120. 87 »Ein Verbindungsglied zwischen Tradition und heutiger Welt. Ein Gespräch mit dem Maskenbauer Erhard Stiefel«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 148–153, hier S. 152. 88 Ariane Mnouchkine, »The entire body is a mask«, from an interview with Ariane Mnouchkine by Odette Aslan, in: Collaborative Theatre. The Théâtre du Soleil Sourcebook, S. 109–111, hier S. 109. (Orig. engl.: »I said that the mask is our core discipline, because it’s a form, and all forms constrain one to a discipline. An actor produces a kind of writing in the air, he writes with his body, he is a writer in space.«) 89 Vgl. »Ein Verbindungsglied zwischen Tradition und heutiger Welt. Ein Gespräch mit dem Maskenbauer Erhard Stiefel, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 148–153, hier S. 152. 90 Vgl. Ariane Mnouchkine, »The entire body is a mask«, from an interview with Ariane Mnouchkine by Odette Aslan, in: Collaborative Theatre. The Théâtre du Soleil sourcebook, S. 109–111, hier S. 110.
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nimmt er dezidiert Abstand.91 »Für mich ist die Schminke keine Maske. Ich mache Holzmasken, also richtige Skulpturen. Ich glaube nicht, daß man eine ›Schminke spielen‹ kann. Mit einer Maske zu spielen heißt, mit einem Instrument, einem Werkzeug spielen.«92 Die Maske ist ein Werkzeug. Schminke wäre vergleichsweise nur ein nach außen auf das Publikum gerichtetes Zeichen. Doch Masken sind Instrumente, die Schauspielende zu spielen lernen, so wie sie mit ihren Körpern zu spielen lernen. Sie stehen für Schwellen. Mit ihnen können Zwischenräume erfasst und bespielt werden. Die Schauspielenden stehen in ihren Diensten. Was die Schminke betrifft, sind Mnouchkine und Stiefel sich allerdings nicht einig. In den Inszenierungen, die mit japanischer Schminke oder mit der Schminkästhetik der Stummfilme arbeiten, entstehen ebenfalls Figuren. So tragen in Richard ii nur die »Alten« balinesische Holzmasken mit einem roten Stirnband, alle anderen Schauspieler_innen tragen weiße Schminkmasken.93 In Les Atrides
Eine der drei Erinyen (vorne, am Boden liegend) in Les Eumenides 1992 (Foto Michèle Laurent) 91 Eine Ausnahme ist für Stiefel der Atriden-Zyklus, bei dem mit Schminkmasken gespielt wurde. »Wir haben die Atriden gemacht (Théâtre du Soleil, 1992), aber da haben die Schauspieler mit Schminkmasken gespielt. Das waren keine richtigen Masken, das war die Übertragung von Masken.« Erhard Stiefel, »Überlegungen zur Regiearbeit mit Masken«, in: Masken – Eine Bestandsaufnahme mit Beiträgen aus Pädagogik, Geschichte, Religion, Theater, Therapie, S. 304–308, hier S. 306. 92 »Ein Verbindungsglied zwischen Tradition und heutiger Welt. Ein Gespräch mit dem Maskenbauer Erhard Stiefel«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 148–153, hier S. 151. 93 Vgl. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 195.
Erscheinungen. Ein totaler,rechts ein kommunikativer Das Auftauchen von (Tier-) ein gedoppelter Masken auf Akt der Bühne Blinddext Blindtext rechtsund Blindtext rechs 273
(Die Atriden) wird auch mit Schminkmasken gearbeitet, »um die Mimik zu betonen, jedes ›Zucken der Augenbraue‹ zu verstärken«94, in Les Euménides (Die Eumeniden) tragen wieder die »Alten«, die Erinyen, aschgraue Schminkmasken. Ein narzisstischer Schauspieler wie Carmelo Bene lässt sich auch von einer materiellen Maske nicht verführen. Er bleibt selbst im Vordergrund, auch wenn seine materiellen Masken sehr eindrucksvoll sind und sich in die Ästhetik des Bühnenbildes einfügen. Der Bühnenbildner Salvatore Venditelli erzählt, er habe die Bühne für Pinocchio ohne Skizzen und Entwürfe gebaut. Das war in den Anfängen, als sie noch kaum Geld hatten und in Venditellis Atelier auch die Tiermasken gebaut wurden: der Kater und der Fuchs, die Esel, die Hasen, die Grille …95 Diese Masken waren optisch raumgreifend und wurden von Version zu Version weiter ausgestaltet. Erst später wurden vorab Entwürfe für Bühnenbilder und Masken angefertigt. Während die Bühne immer stärker ausgestattet und die Masken immer raumeinnehmender wurden, reduzierte Bene sukzessive die Schauspieler_innen, bis schließlich nur noch er selbst und eine Partnerin zurückblieben. […] dritte Fassung von Pinocchio, Geschichte einer Holzpuppe[96], verwundert darüber, keine anderen Schauspieler_innen als Carmelo Pinocchio und Lydia Mancinelli (seine zeitlose »Blaue Fee«)
Der Fuchs und der Kater in Pinocchio von Carmelo Bene 1982 (Fotos Cristina Ghergo)
94 Hajo Kurzenberger, »Chor-Körper«, in: Kollektive in den Künsten, S. 17–38, hier S. 29. 95 Vgl. Salvatore Vendittelli, Carmelo Bene fra teatro e spettacolo, S. 35. (Orig. ital.: »Non c’era una lira, così nel mio atelier di scenotecnica realizzai le maschere degli animali: il Gatto e la Volpe, gli Asini, i Conigli e il Grillo.«) 96 Die Geschichte von Carlo Collodi Le avventure di Pinocchio. Storia di un burattino aus dem Jahr 1881 wurde mit unterschiedlichen Titeln ins Deutsche übersetzt: Pinocchio, der hölzerne Hampelmann (1900), Hippeltitsch’s Abenteuer (1905), Pinocchio – die Geschichte vom hölzernen Bengele (1913), Pinocchio oder Zäpfel Kerns Abenteuer (1977), Pinocchio, der hölzerne Hampelmann
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Tier / Mensch. Dazwischen Sein
auf der Bühne zu finden, obschon von den zwei Gebrüdern Mascherra assistiert, die eben Masken [Gesichtsmasken] von all den anderen Figuren trugen, synchronisiert, vielleicht sogar besser gesagt »multipliziert«, von Bene.«97
Auf der Bühne befinden sich großartige Masken, die jedoch nicht zum Leben erweckt, deren Zwischenräume nicht ausgespielt werden. Bene (und seiner Partnerin) geht es nicht darum, diese Zwischenbereiche aufzuspüren. Sie leihen den Masken lediglich ihre Stimmen. Dies könnte man als subtile Form des Belebens oder Animierens interpretieren, als einen durch Klang visualisierten Atem. Bene findet nicht in sich die anderen Figuren. Er gräbt nicht in sich hinein und lässt Tiere auferstehen. Er lässt weder sich noch Tiere wie Kater und Fuchs, Esel, Grille im Spiel mit den Masken erscheinen. Die Schauspielermaschine Carmelo Bene synchronisiert, d. h. er verdoppelt die Fabelwesen mittels seiner Stimme oder, wie Giacchè pointiert schreibt, er multipliziert sie. Spielerisch leiht er ihnen nur seine Stimme, er bespricht die Maske. In der späteren Version, Pinocchio, ovvero lo spettacolo della Provvidenza (Pinocchio oder das Schauspiel der göttlichen Fügung) 1998, sind es in letzter Konsequenz nur Carmelo Bene und eine Schauspielerin, Sonia Bergamasco, die auftreten. Bergamasco leiht sich nun sogar die (Tonband-) Stimme der früheren Blauen Fee, Lydia Mancinelli, und manövriert alle übrigen Masken. Carmelo und Pinocchio blieben gleichsam in Einsamkeit und Selbstgespräch zurück, während eine großzügige, tadellose Sonia Bergamasco die Stimme der Lydia-Fee unterstützte und das Gewicht und den Wechsel der Masken stemmte.98
Auf Benes Bühne bleiben schöne, ästhetisch arrangierte Masken als Hüllen liegen, ein Verweis auf ehemals lebendige Figuren, die es nicht mehr gibt. Sie wurden der Szene entzogen. Geblieben ist ein fast unbeweglicher Bene-Pinocchio, gekettet an eine Schulbank.
– Geschichte von einer zum Leben erwachten Holzpuppe, ihren Streichen und Erlebnissen (o. J.), Pinocchios Abenteuer – Die Geschichte einer Holzpuppe (2009), usw. Für Benes Versionen ist die Übersetzung mit »Holzpuppe« angebracht, weil er seine Pinocchios auf der Bühne optisch, gestisch und akustisch als Holzpuppen (an-) deutet. 97 Piergiorgio Giacchè, »Un Pinocchio letto per Bene«, in: Carmelo Bene, Pinocchio, adattamento scenico da Collodi, S. 5–10, hier S. 6. (Orig. ital.: »[…] terza edizione di Pinocchio, storia di un burattino, meravigliato di non trovare in scena altri attori che Carmelo Pinocchio e Lydia Mancinelli (la sua eterna ›fata turchina‹), sia pure assistiti da due Fratelli Mascherra, che appunto portavano le maschere di tutti gli altri personaggi ›doppiati‹, ma forse è meglio dire ›moltiplicati‹ da Bene.«) 98 Ebenda. (Orig. ital.: »Carmelo e Pinocchio restarono in quasi solitudine e quasi soliloquio, mentre una generosa impeccabile Sonia Bergamasco supportava la voce della fata Lydia e sopportava il peso e il cambio delle maschere.«)
Erscheinungen. Auftauchen (Tier-)rechs 275 Masken auf der Bühne Blinddext rechtsDas Blindtext rechts von Blindtext
Integrierte, erspielte und erbaute Tier (-Masken)
Die Tiermasken der Akteur_innen des Théâtre du Soleil sind lebendige, bunte, impulsive und auf verschiedene Eigenschaften abgestimmte »Viecher«. Sie werden in das Bühnenbild integriert (Nandu), mit dem Körper der Schauspieler_innen verbunden (Reiter), sind aufgeschreckte Pferde in Stallungen (Macbeth) oder gewaltige Erscheinungen (Yak). Tierfiguren tauchen plötzlich aus dem Unsichtbaren auf wie der Bär und vor allem die Wolfshunde, Chor der Erinyen. Sie sind beeindruckende Bühnenerscheinungen, die dabei recht unbeweglich und ohne drohende Gesten auskommen. Sie sind etwas noch nie Gesehenes auf der Bühne. Cixous, die das Stück Les Euménides (Die Eumeniden) bearbeitete, schreibt: Niemand hatte die Erinyen je gesehen, weder die Götter noch die Menschen noch Aischylos noch Ariane Mnouchkine noch wir. Die Erste war Pythia [weissagende Priesterin des Orakels von Delphi]. Sie hat sie »gesehen« und ist deshalb aus dem Gleichgewicht geraten. Aber hat sie sie »gesehen«? Und genau das ist Aischylos’ Geniestreich, denn weiter heißt es: Ihr werdet die Ersten sein, die etwas sehen, was noch nie zuvor jemand gesehen hat. Was im Übrigen unsere Fähigkeit zu sehen und zu beschreiben übersteigt. Und im Übrigen gibt es in diesen »Eumeniden« nur erste Male. Zum ersten Mal, seit wir ins legendäre Reich der Atriden entführt wurden, werden wir also die Götter persönlich erblicken. Es ist alles neu, unbekannt, unerhört, noch nie dagewesen. Es wird alles erst kommen.99
Chor in Les Eumenides 1992 (Foto Michèle Laurent) 99 Hélène Cixous, »No Response or the Call of Death«, in: Politics, Ethics and Performance. Hélène Cixous and the Théâtre du Soleil, S. 124–141, hier S. 132. (Orig. engl.: »No-one had ever seen them, the Erinyes, neither the gods, nor the humans, nor Aeschylus, nor Ariane Mnouchkine, nor us. The first to have ›seen‹ them, is Pythia. And she lost balance. Did she ›see‹ them? This is the stroke of genius by Aeschylus, who continues: you are going to see for the first time what no-one
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Auf der Bühne des Théâtre du Soleil sind sie leibhaftig, der Chor der Erinyen, »Affenlöwenhunde«, wie Hellmut Flashar sie nennt. »In den Eumeniden schließlich sind es alte aschgraue Nomadinnen, die mehr taumeln als tanzen, Begleiterinnen der Erinyen, welche als schnaubende fabeltierartige Affenlöwenhunde meist müde am Boden liegen.«100 Die Masken sind zottelige, haarige Gesichter mit Wolfs- oder Hundeschnauzen, die Tatzen mit großen, klobigen Krallen versehen. Sie liegen auf dem Boden: schwere Körper mit müden Gesichtsausdrücken. Zu Beginn des Maskenbaus unterbreitet Erhard Stiefel der Regie lieber erst einmal seine Vorschläge, statt sie im Kollektiv zu erarbeiten. »Ich mache nicht gerne Vorarbeiten mit den Schauspielern«101, sagt er. Doch natürlich gilt auch für ihn die kollektive Vorgehensweise, mit der er sich arrangiert hat. »Beim Théâ tre du Soleil fängt man tatsächlich so an. Man holt ein paar Masken und macht ein paar Auftritte und bringt so einiges ›in die richtige Reihenfolge‹ – wie man sagt.«102 Er sagt, nicht alle Schauspieler_innen würden Masken brauchen, doch sollten Masken nicht zur Dekoration verkommen, sondern genutzt werden. Wenn die Maske nicht wirklich notwendig ist, wenn sie nicht wirklich logisch ist, dann läuft man in die Irre. Wenn Masken nur eingesetzt werden, um eine Illusion zu bewirken, wenn eine Inszenierung auf diese Illusion aufbaut, um Faszination zu erreichen, dann ist das schlecht. Ich habe beispielsweise die Maske für Heinrich iv. gebaut […], da war der Schauspieler 20 Jahre alt und hat den alten König gespielt. Die Regisseurin (Ariane Mnouchkine) wollte nicht, dass er nur mit einem Bart und falschen Falten zurechtgemacht wird, denn das wäre falsch gewesen. Sie wollte eine Maske für ihn, und ich war sehr einverstanden. Und das hat sehr gut gewirkt. Damit war ich sehr zufrieden. Ich bin immer der Meinung, dass eine Maske absolut notwendig sein muss, sonst ist sie wertlos.103
Beim Schnitzen und Modellieren der Masken taucht Stiefel selbst in den kreativen Prozess ein und lässt sie entstehen, ähnlich wie die Schauspieler_innen sich erst im kreativen Spiel von Masken ansprechen lassen. Zu allererst muss man sich in eine Stimmung versetzen, in einen kreativen Zustand. Man kann nicht einfach nur sagen: ich will jetzt eine Maske schnitzen. Das führt zu nichts. Also nehme ich zuerst Ton und fange an zu modellieren. Ich nehme manchmal sogar den Abdruck vom Gesicht des Schauspielers und modelliere mit Ton darauf. Die Maske soll ja für ihn ganz persönlich sein – und selbstverständlich für die Vorstellung. Oft mach’ ich zwei oder sogar drei solche M odelle. Als
ever saw. Furthermore, it surpasses our abilities, to see, and to describe. Elsewhere, in this play ›The Eumenides‹ it only happens the first times. It’s the first time that we are going to see gods in person, since we were carried away in the legend of the Atreides. Everything is new, unknown, unprecedented, to come.«) 100 Hellmut Flashar, Inszenierung der Antike, zweite überarbeitete und erweiterte Auflage S. 290. 101 Erhard Stiefel, »Überlegungen zur Regiearbeit mit Masken«, in: Masken – Eine Bestandsaufnahme mit Beiträgen aus Pädagogik, Geschichte, Religion, Theater, Therapie, S. 304–308, hier S. 304. 102 Ebenda, S. 304–308, hier S. 305. 103 Ebenda.
Erscheinungen. Auftauchen (Tier-)rechs 277 Masken auf der Bühne Blinddext rechtsDas Blindtext rechts von Blindtext
vor kurzem der Regisseur kam, zeigte ich sie ihm und er konnte gleich sagen, dies oder das entspricht meiner Idee. Ich konnte also gleich mehrere Möglichkeiten anbieten. Die meisten Regisseure haben aber keinen Blick dafür. Mir ist klar geworden, dass beispielsweise Ariane Mnouchkine keinen Blick dafür hat. Ich konnte ihr die Modelle zeigen und erklären, aber sie kann erst auf der Bühne die Wirkung erkennen.104
Ariane Mnouchkine braucht die Schauspieler_innen, die die Masken tragen und sie damit leben lassen – auf der Bühne lebendig werden lassen. Sie muss die Masken im Spiel, in Aktion und Interaktion sehen. Die in Leiber verwandelten Körper borgen sich selbst die Tier- und anderen Figuren aus. In diesen Mehrfachexistenzen treten sie auf: Sichtbar werden alle Tiere, die sich während der spieltriebigen und lustvollen Improvisationen manifestiert haben. Auch für den Maskenbildner steht die Lust der Akteur_innen am Spiel im Vordergrund. »Ich denke […] an die Gestalt auf der Bühne, an die Persönlichkeit, an die Arbeit und die Freude des Schauspielers, mit der Maske zu arbeiten«, sagt Stiefel.105 Wenn die Maske fertig sei, gebe er sie aus der Hand, denn ab dem Moment sei der / die Schauspieler_in am Zuge. Dann sage ich: entdeckt sie! Ich will nicht sagen: macht dies oder das. Ich passe mich ihnen auch nicht an. […] Wenn ich sagen würde, dies oder das zu tun, dann wäre das nicht mehr für das Spiel mit der Maske gerechtfertigt. Der Schauspieler hat Lust, seine Erfahrungen zu machen.106
Die Masken dienen später der Erarbeitung von neuen Inszenierungen. Seit L’Âge d’or (Das goldene Zeitalter) gebe es ungefähr 40 Masken, so Stiefel, beeinflusst von der Commedia all’improvviso und »vom Orient inspiriert«. Sie werden den Schauspielenden zur Verfügung gestellt und »erscheinen in jedem Stück, um uns zu sagen: ›Es gilt, das Theater wieder ganz von vorne zu beginnen.‹«107
104 Ebenda, S. 304–308, hier S. 306–307. 105 Ebenda, S. 304–308, hier S. 307. 106 Ebenda, S. 304–308, hier S. 307–308. 107 »Ein Verbindungsglied zwischen Tradition und heutiger Welt. Ein Gespräch mit dem Maskenbauer Erhard Stiefel«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 148–153, hier S. 149–150.
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Tier / Mensch. Dazwischen Sein
Verschwinden. Die Anrufung des Tiers oder des Kindes Aufgelöste Grenzen
Die Schauspieler_innen lösen durch die von Mnouchkine, Bene und Grotow ski erforschten Spielstrukturen in ihrem praktischen Tun das dualistische Prinzip von Innen und Außen auf, so dass es kein Innen und Außen mehr gibt. Die Grenze zwischen Körper und Geist hat sich aufgelöst, sind nicht mehr getrennt zu begreifen. Der Vorgang der Auflösung zeigt sich im Spiel mit dem Tier (Mnouchkine), in seinem Erwachen (Grotowski) und in seiner Ästhetisierung (Bene). Ob erspielt, erwacht oder ästhetisiert – das Tier ist aus dem Unsichtbaren ins Sichtbare gerückt. Doch der ephemere Charakter des Theaters führt dazu, dass es bald wieder ins Unsichtbare entlassen wird. Das bipolare Verhältnis zwischen dem Unsichtbaren und dem Sichtbaren wird im schauspielerischen Tun monopolar. Schauspielen unterbricht die Unsichtbarkeit, ähnlich wie Jean-Luc Nancy mit seinem Ansatz das dualistische Denken von Körper-Geist, Leib-Seele und InnenAußen im abendländischen Denken durchbricht. In seinen Ausführungen zieht er zur besseren Veranschaulichung eine Episode aus dem Johannesevangelium heran und bezeichnet sie als »Musterbeispiel […], in dem sich ein Verschwinden vollzieht«108. Bekannt ist diese Szene als Noli me tangere, in der Jesus nach seiner Auferstehung der Maria Magdalena erscheint, um ihr zu sagen, er sei dort, also nicht hier, sondern woanders. Er spricht, um mitzuteilen, dass er da ist und dass er gleich gehen wird. Er spricht, um dem anderen zu sagen, dass er nicht dort ist, wo man ihn wähnt, dass er bereits anderswo ist, aber dennoch sehr wohl gegenwärtig; hier, doch nicht hier selbst [sic]. Dem anderen bleibt, zu verstehen. Zu sehen und zu hören.109
Im Theater ist »der andere« das Publikum, und das »Er« entspricht den Schauspieler_innen. Sie sind hier, doch sie sprechen aus dem Woanders, sie sind hier und doch woanders. Wenn sie spielen, verlieren sie sich ins Woanders, wenn sie erwachen, verlieren sie sich im Hier, und wenn sie in den Höhenflug der Ästhetik aufgehen, verlieren sie sich im Verschwinden. Schauspielende befinden sich im Hier, doch sie üben zu vergessen und nicht da zu sein, ähnlich wie Kinder es tun.110 Evident ist, dass sowohl Mnouchkine als auch Bene als auch Grotowski das Bild des (spielenden) Kindes heranziehen, um sich verständlich zu machen, wenn es darum geht zu vermitteln, was auf der Bühne passiert. Gern werden auch eigene Kindheitserinnerungen bemüht. 108 Jean-Luc Nancy, Noli me tangere, S. 17. 109 Ebenda. 110 Vgl. Jorge Luis Borges, »Averroes auf der Suche«, in: ders., Die zwei Labyrinthe, S. 102–111.
Verschwinden. Anrufung des Blindtext Tiers oderrechs 279 des Kindes Blinddext rechtsDie Blindtext rechts
Juliana Carneiro da Cunha erzählt: »Ariane hat gesagt, daß wir unsere Kindheit mit uns führen. Da wir viel über die Kindheit arbeiten, haben wir die Kindheit mehrerer Länder. Das ist sehr erfrischend.«111 Carmelo Bene spricht konkret vom Bild des Kindes, wenn er seine ästhetisierte Theaterarbeit in Interviews zu erklären versucht, beispielsweise in Bezug auf die Pinocchio-Versionen. Von diesem Bild aus gelangt er auf die philosophische Metaebene. Das »Kind« bzw. im folgenden Zitat das »Mädchen« ist für ihn eine abstrakte Größe. Pinocchio ist eine sehr komplexe Sache, es ist ein Diskurs über kleine Mädchen […]. Man muss nur hinschauen, [es ist ein Diskurs] über die göttliche Vorsehung als Mädchen, was ganz was anderes ist, über die Allmacht der göttlichen Vorsehung als Mädchen, über das Motiv der göttlichen Vorsehung als Mädchen, unbedacht und wundervoll.112
Das Unbedachte ist das eigentliche Moment. In ihm ruhen Phantasiebegabung und die Stärke, Unsichtbares zu schaffen und wahrzunehmen. Die kindliche Macht der Phantasie, die Unsichtbares sichtbar macht, unbedacht, vorbewusst. Dies spricht Bene dem Schauspielen zu und vergleicht es mit Kindern, die sich in Schrecken versetzen und Geschmack daran finden. Wirklichkeit und Phantasie fallen zusammen. »[…] Das Kind ist die Lust am Schrecken […] um sich selbst zu terrorisieren […] Kinder wissen und schaffen es wirklich, sich zu erschrecken.«113 Lisa Wolford, die ausführlich über Grotowskis Arbeitsphase des Objective Drama Research in den USA geforscht hat, schreibt, er habe häufig auf die Arbeit mit dem inneren Kind hingewiesen. Hier zeigen sich Parallelen zu Mnouchkines Aspekt der Kindheitsvergegenwärtigung.
111 Juliana Carneiro da Cunha zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 55. 112 La voce mancante. Dialogo con Carmelo Bene, S. 27. (Orig. ital.: »Pinocchio è una cosa molto complessa, è un discorso sulle bambine, Pinocchio. Basta vederlo, sulla Provvidenza bambina, è tutto un altro fatto, sull’onnipotenza della Provvidenza bambina, sul soggetto della Provvidenza bambina, incauta e stupenda.«) 113 Carmelo Bene in einem Interview zum Erscheinen seiner dritten Version (CD) des Pinocchio bei Mister Fantasy, Rai Sat Album 1982. (Orig. ital.: »[3:43] il bambino ha il gusto dello spavento […] per autoterrorizzarsi […] i bambini sanno spaventarsi e riescono davvero a terrorizzarsi […] [4:56]) Ausschnitt 8 min 36 sec, hier [TC 00:03:43 bis 00:04:56] Vgl. die Erinnerungen des Journalisten Antonio Pascale: »Er sprach von Pinocchio und lobte das musikalische Ohr der Kinder, das einzige, das fähig war, den Schrecken wahrzunehmen, die unheilbare Angst vor dem vorzeitigen Sarg, oder so ähnlich sagte er es.« (Orig. ital.: »Parlava di Pinocchio ed elogiava l’orecchio musicale dei bambini, il solo capace di percepire lo spavento, l’irrimediabile spavento della bara precoce, diceva una cosa così.« Antonio Pascale, »La mia vita con Carmelo Bene«, in seinem Blog am 19. März 2012, www.ilpost.it/antoniopascale/2012/03/19/la-mia-vita-con-carmelo-bene/ [23/12/2017])
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Wolford beobachtete dies während einer Arbeitssequenz. Grotowski wies die Schauspieler_innen mehrmals an, die implizite Identität des Erzählers und die Beziehung des Erzählers zur Geschichte zu berücksichtigen, die er erzählt. Der Konsens, der sich herausbildete, war, dass der implizierte Erzähler höchstwahrscheinlich ein Mann war, der sich an ein Ereignis erinnerte, das er als Kind gesehen hatte.114
Doch im Kontext der Schauspielpraxis ist weder das biografische (Mnouchkine) noch das innere (Grotowski) noch das philosophisch-äußere (Bene) »Kind« als Bild wirklich schlüssig. Mögen Schauspieler_innen im Spiel selbstvergessen sein und Flow-Erlebnisse115 haben, so doch nur dann, wenn es ihnen gelingt, zuerst zu vergessen, dass sie Kenntnis über ihre Sterblichkeit erlangt haben. Kinder jedoch sind ähnlich bewusst-los wie Tiere, sie sind da, und sie sind gleichzeitig selbstvergessen, ohne sich oder etwas vergessen zu müssen. Die Schauspielenden können sich diesem Zustand im Schau-spiel (maximal) annähern. Methodisch erreichen sie ihn laut Grotowski durch die konzentrierte (theatrale) Hingabe, die in eine Form der Selbsthingabe übergehen kann. Grotowski beschreibt in Für ein Armes Theater über die »Essenz der Berufung eines Schauspielers«, das Freilegen der verschiedenen Schichten einer Persönlichkeit, »von der biologischinstinktiven Quelle durch den Kanal von Bewußtsein und Denken bis hin zu jenem Höhepunkt, der so schwer zu definieren ist, in dem alles zu einer Einheit verschmilzt«116. Diesen Akt bezeichnet Grotowski als »totalen Akt«. In ihm sieht er die Chance oder die Erfüllung der Schauspielenden, die einhergeht mit der Fähigkeit, Konflikte zwischen »Körper und Seele, Intellekt und Gefühl, physiologischen Genüssen und geistigem Streben«117 zu transzendieren. Die Voraussetzung dafür ist ein sowohl differenziertes als auch integriertes Selbst (-bewusstsein), das durch Flow-Erlebnisse weder in Panik noch in Langeweile verfällt.118 Die Hingabe ermöglicht es Schauspielenden, in tranceähnliche Zustände zu gelangen. Ich verstehe unter Trance die Fähigkeit, sich auf eine bestimmte theatralische Weise konzentrieren zu können; sie kann mit einem Minimum an gutem Willen erlangt werden. Wenn ich all dies in einen Satz fassen sollte, würde ich sagen, daß alles eine Frage der Selbsthingabe ist. Man muß sich
114 Lisa Wolford, Grotowski’s Objective Drama Research, S. 85. (Orig. engl.: »Grotowski repeatedly instructed the actors to consider the implied identity of the narrator and the relation of the narrator to the story that he tells. The consensus that emerged was that the implied narrator was most likely a man recalling an event he had witnessed as a child.«) 115 Vgl. Mihály Csíkszentmihályi, Flow. Das Geheimnis des Glücks, 1. Auflage 1992 und ders., Das flow-Erlebnis, Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen, 1. Auflage 1985. (Orig. Beyond Boredom und [sic] Anxiety – The Experience of Play in Work and Games, San Francisco/Washington/London 1975.) 116 Jerzy Grotowski, »Methodische Erforschungen« (1967), in: ders., Für ein Armes Theater, S. 135– 141, hier S. 140. 117 Ebenda. 118 Mihály Csíkszentmihályi, Flow. Das Geheimnis des Glücks, S. 63–65.
Verschwinden. Anrufung des Blindtext Tiers oderrechs 281 des Kindes Blinddext rechtsDie Blindtext rechts
völlig hingeben, in tiefster Intimität, voller Vertrauen, wie man sich in der Liebe hingibt. Hier liegt der Schlüssel zu allem.119
Neben der Hingabe wird eine besondere Form der Aufmerksamkeit geschult, »awareness«120 nennt Grotowski sie. Sie ist für ihn eng mit dem Intellekt verbunden, den er, bei aller Betonung des Körperlichen, immer mit im Blick hat. Und auch wenn er vom »heiligen Theater« und einer damit einhergehenden Selbstaufopferung spricht, ist dies nicht religiös zu verstehen, sondern als ein Bild, auf dem jemand »auf den Scheiterhaufen steigt und einen Akt der Selbstaufopferung vollzieht«121. Das Schauspielen schafft Theaterwelten, wie Kinder sich Phantasiewelten erspielen. »Wie in den Spielen der Kinder und in Improvisationen werden mit sehr gewöhnlichen Gegenständen Welten erschaffen.«122 Kinder spielen selbstvergessen ohne Flow-Erlebnisse und ohne zu transzendieren. Sie müssen im Moment des Spielens nicht zwischen Realität und Fiktion bzw. Phantasiewelt unterscheiden, deshalb bewerten sie weder die eine noch die andere. Beide, Kinder und Schauspieler_innen, sind woanders, ohne physisch abwesend zu sein. Sie ruhen tief in sich selbst. Man könnte durchaus denken, daß man das körperliche Dasein verlassen müsse, um in etwas anderem zu verweilen, doch das ist nicht der Fall. »Gleichsam verlassen« ist dann akzeptabel, wenn der Körper in jenem Augenblick nicht auf seine Fähigkeiten verzichtet, wenn er die eigene Art und Weise, seine Pflichten weiter zu erfüllen, bewahrt.123
Den Aspekt des Tief-in-sich-Ruhens und dabei gleichzeitig seinen Körper zu beherrschen, hat Csíkszentmihályi u. a. in fernöstlichen Kampfsportarten und im Yoga erforscht. Dabei hat er festgestellt, dass etwa die vom Taoismus und ZenBuddhismus beeinflussten Sportarten die bewusstseinskontrollierenden Fähigkeiten betonen. Man konzentriert sich nicht nur auf die Verfeinerung der körperlichen, sondern auch der mentalen Leistung, wie z. B. gesteigerte Aufmerksamkeit (ähnlich Grotowskis awareness). Sportler_innen streben auf einen Punkt zu, an dem sie »mit blitzartiger Geschwindigkeit« das Gegenüber schlagen oder treffen können, »ohne zu denken oder zu überlegen, welches der beste defensive oder offensive Zug sei«124. Csíkszentmihályi sieht darin eine »erfreuliche künstlerische Leistung«, bei der »die alltägliche Dualität zwischen Geist und Körper zu einem 119 »Das Neue Testament«, in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 27–57, hier S. 39–40. 120 Jerzy Grotowski, »Er war eine Art Vulkan«, in: Peter Brook / Jean-Claude Carrière / Jerzy Grotowski, Georg Iwanowitsch Gurdjieff, S. 52–111, hier S. 61. 121 »Das Neue Testament«, in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 27–57, hier S. 46. 122 Ludwik Flaszen, »Akropolis: Umgang mit dem Text« (1964), in: Jerzy Grotowski, Für ein Armes Theater, S. 65–84, hier S. 82. 123 Jerzy Grotowski, »Er war eine Art Vulkan«, in: Peter Brook / Jean-Claude Carrière / Jerzy Grotowski, Georg Iwanowitsch Gurdjieff, S. 52–111, hier S. 69–70. 124 Mihály Csíkszentmihályi, Flow. Das Geheimnis des Glücks, S. 146.
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harmonischen Einssein des Geistes verwandelt wird«125. Dies sei die Voraussetzung dafür, Kampfsportarten als besondere Form von Flow-Erlebnissen zu erachten. Diese Konzentration ist laut Csíkszentmihályi eine der unbedingten Voraussetzungen für Flow, die »Abgeschiedenheit von den Belangen des Alltags«126. Bei Mnouchkine können Schauspieler_innen die »alltägliche Dualität« und mithin ihre Sterblichkeit vergessen, und – wie Kinder – im Spiel aufgehen, wenn der Muskel der Imagination stark genug ist, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Dann gelingt es ihnen, Welten entstehen zu lassen, Dinge zu sehen, die gerade entstehen und dabei die Sterblichkeit zu vergessen. Im Zwischenraum
Schauspieler_innen können also neue Welten schaffen, indem sie sich selbst vergessen; ob in einem Comœdienstil (Mnouchkine), einem die Rhetorik bedienenden (Bene) oder einem selbstbezogenen psychologisierten Stil, der ohne Masken Resonanzen (physical action) zu finden versucht (Grotowski). Sie vergessen sich in der einen Welt und gehen in der anderen auf. Bewegen können sie sich in beiden Welten, denn sie sind Grenzgänger_innen, für die das RaumZeit-Kontinuum keine unüberwindbare Hürde darstellt. Sie begeben sich in den Raum zwischen hier und dort, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Von dieser Position aus können sie dem Schrecken eines Hier standhalten und zugleich ein Woanders wahrnehmen, ohne im pathologischen Sinne verrückt zu werden.127 Diese Verrücktheit wiederum wahrzunehmen und nicht zu kippen, führt die drei Theaterschaffenden auf unterschiedliche Pfade. Grotowski reflektiert seine praktischen Forschungen und rezipiert dabei auch Gurdjieffs Arbeit. Von dem Zeitpunkt an, wo ich anfing, über Gurdjieffs Arbeit zu lesen, sollten die praktischen Vergleiche und die Schlußfolgerungen nicht nur zu einer Bestätigung führen, sondern sie sollten mich auch berühren, das ist ganz klar. […] Freilich gibt es bei Gurdjieff bestimmte Schlüsselbegriffe wie etwa »Krepieren wie ein Hund«, »Der ehrenhafte Tod«, Ausdrücke, denen man nicht ausweichen kann. Sie werfen ein sehr spezielles Licht auf die Sache, wie sie sich nicht auf etwas verschwommene Kategorien wie »das Leben nach dem Tode« beziehen, sie wagen sich direkt an die Möglichkeiten heran.128 125 Ebenda. 126 Mihály Csíkszentmihályi, Das flow-Erlebnis, S. 119. Die anderen Voraussetzungen, die er nennt, lauten: Enge des Handlungsrahmens, innere Aufmerksamkeitskonzentration und Verschmelzen von Handeln und Bewusstsein. 127 Es handelt sich um Gefühle ähnlich denen der Extremsportler_innen oder Kletterbegeisterten, die Csíkszentmihályi beschreibt: mit »Adjektiven wie transzendent, religiös, visionär oder ekstatisch«. Mihály Csíkszentmihályi, Das flow-Erlebnis, S. 120. 128 Jerzy Grotowski, »Er war eine Art Vulkan«, in: Peter Brook / Jean-Claude Carrière / Jerzy Grotowski, Georg Iwanowitsch Gurdjieff, S. 52–111, hier S. 73–74.
Verschwinden. Anrufung des Blindtext Tiers oderrechs 283 des Kindes Blinddext rechtsDie Blindtext rechts
Geht es bei Grotowski um Hingabe, so steht bei Mnouchkine die Freude im Mittelpunkt: Freude am Schauspielen, an der Kommunikation zwischen Regisseurin und Schauspieler_innen, den Theaterfiguren und Schauspieler_innen, den Schauspieler_innen untereinander und nicht zuletzt zwischen Schauspieler_innen und Publikum. Mnouchkine nennt »als einen der ganz wichtigen Parameter […] das ›Spielen wie die Kinder‹ (jouer comme des enfants)«129. An das, was gespielt werde, sei zu glauben, und das Aufgehen im Spiel, die Spielfreude, die Freude an der Transformation übertrage sich auch auf das Verhältnis zum Publikum.130 Imagination und Phantasie sind für Mnouchkine die Basis für ein funktionierendes Zusammenspiel, diese Fähigkeiten gelte es zu trainieren, um ihnen zum Ausdruck zu verhelfen. In dem »Muskel der Imagination«, der seine Wurzeln in der Kindheit habe, seien sie gebündelt.131 Es geht darum, »den Muskel« der Phantasie [Anm. d. A.: Imagination] zu stärken, unseren Schatz, das heißt die Kindheit, die magische Kraft, die sie gewährt, wiederzufinden, sie wachrufen, sie nach Belieben heranziehen, herbeirufen zu können.132
Nicht nur Produktion und Erschaffen von Theaterwelten beruhen auf dem trainierten Muskel, er ist auch eine Voraussetzung für die Freude am Spiel. Die Improvisationen trainieren und stärken ihn. Darüber hinaus, so Mnouchkine, könne erst die Maske als »göttlicher Gegenstand«133 den Zauber, die Magie des Abhebens und Verschwindens zustande bringen. Die Magie der Maske muss zunächst gesucht und ausprobiert werden. Und so tasten die Schauspieler_innen sich langsam an die Maske und ihre Kraft heran. Neben dem gestärkten Muskel braucht es unbedingt auch Geduld. Simon Abkarian beschreibt seine Eindrücke folgendermaßen: Die Schauspieler verkleiden[134] sich – ich getraue mir nicht, Ihnen [sic] zu sagen, daß sie sich ankleiden, weil es noch nicht soweit ist. Sie verkleiden sich also, sie schminken sich, sie sehen aus wie Steckrüben oder Porree … Und wir fangen an zu proben.135 129 Zit. n. Simone Seym, Das Théâtre du Soleil, S. 191. 130 Vgl. ebenda. 131 Vgl. »Man erfindet keine Spieltheorien mehr. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 30–36, hier S. 33. 132 Ariane Mnouchkine, »Die zweite Haut des Schauspielers. Ein Gespräch mit Ariane Mnouchkine«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 120–130, hier S. 122. 133 Vgl. ebenda, S. 120–130, hier S. 126; vgl. auch das Zitat der FN 128 im Kapitel »Schauspielen und (finale) Transformation«. 134 Zum Thema »Ankleiden« versus »Kostümierung« und zur Kraft der Maske vgl. Gerda Baumbach, »›Seid gegrüßt, Maske!‹ Zur Maskenproblematik in der Neuzeit«, in: Corps du Théâtre. organicità, contemporanéité, interculturalità / Il Corpo del Teatro. organicità, contemporaneità, interculturalità, S. 105–137. 135 Simon Abkarian zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 60.
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Sobald die Masken ein Eigenleben entwickeln, beginnen die Schauspieler_innen langsam in ihrer Maske aufzugehen, woanders hinzugehen. Sie beginnen zu reisen, wie es der Schauspieler Bigot nach einem Maskenlehrgang bei Erhard Stiefel erzählt: Dann mußte Ariane fort und Erhard Stiefel, der Maskenbauer, übernahm die Leitung des Kurses. Sobald die große Ariane Mnouchkine den Kurs nicht mehr leitete, hörten natürlich fast alle Teilnehmer auf, und wir waren nur mehr an die dreißig. Somit war es schon leichter, auf den Teppich, auf dem die Improvisationen stattfanden, zu gehen. Die Masken waren da, man konnte sie berühren, man konnte Risiken eingehen: So begann ich zu improvisieren, mich zu verwandeln, anderswohin zu gehen, zu reisen.136
Als Voraussetzung für eine solche Reise gilt: »Man muss […] ganz und gar bereit sein können, jemand anders zu sein.«137 Dies kommt dem psychologisierenden Schauspielstil schon sehr nahe, ebenso wie die sogenannte Verkörperung138, bei der die Schauspielenden in die Figuren übergehen. Doch Mnouchkine geht es nicht um das naturalistische Spiel, bei dem die Figuren die Schauspieler_innen verdecken. Bei Mnouchkine grenzt das Schauspielen an den rhetorischen Schauspielstil, ähnlich Benes Stimmeinsatz, für den wiederum die Aspekte Freude und zwischenfigürliche Kommunikation keinen Auftrag mehr haben. Artioli beschreibt dies wie folgt: Wenn das Theater der Repräsentation vom Schauspieler verlangt, in der Figur aufzugehen, und mehr Fleisch und Substanz dem zufügt, was nach musikalischer Liquidität ruft, möchte Carmelo Bene im Melos [griech. Melodie] verschwinden.139
Das Theater der Repräsentation ist mit dem naturalistischen Schauspielstil verzahnt. Durch den Einsatz der theatralen Mittel Carmelo Benes kann es sich aus dieser Klammer befreien: Ihm gelingt die Abkehr vom Naturalismus, indem er sich als Schauspieler in den minoritären Raum des Kindes zurückzieht, in dem noch grenzenlose Machtfülle herrscht. Dies wird deutlich am Spiel der Blauen
136 »Ich habe das Theater als Kampf gewählt. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Georges Bigot«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 74–82, hier S. 76. 137 Nirupama Nityanandan zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 61. 138 Vgl. Gerda Baumbach, Schauspieler, Band 1, S. 23; Anne Fleig, »Körper-Inszenierungen: Begriff, Geschichte, kulturelle Praxis«, in: Körper-Inszenierungen: Präsenz und kultureller Wandel, S. 7–17; Erika Fischer-Lichte, »Verkörperung / Embodiment. Zum Wandel einer alten theaterwissenschaftlichen Kategorie,« in: Verkörperung, S. 11–25; Erika Fischer-Lichte, »Körperlichkeit«, in: dies., Ästhetik des Performativen, S. 129–160. 139 Umberto Artioli, »Morire di Teatro per l’Increato: Carmelo Bene tra silenzio e vocalità, in: La ricerca impossibile, S. 27–38, hier S. 31. (Orig. ital.: »Se il teatro di rappresentazione chiede all’attore di cancellarsi nel personaggio, fornendo un di più di carne e sostanza a ciò che invoca liquidità musicale, Carmelo Bene vuol sparire nel melos.«)
Verschwinden. Anrufung des Blindtext Tiers oderrechs 285 des Kindes Blinddext rechtsDie Blindtext rechts
Fee in Pinocchio und ebenso in den Theaterwelten Mnouchkines und ihrer kindlichen Freude am Schauspiel. Bene zufolge gibt es noch einen kleinen Raum, subtil und verzweifelt für den, der sich entscheidet, in der Welt der Allmacht des Kindes zu bleiben, für den, der sich weigert zu wachsen oder für den, der – wie er es tut – sich aufmacht, nach dem zu suchen, was zwischen den Falten der Sprache versteckt bleibt. Es ist sein Theater, das man mit dem Leben bezahlt, mit dem Sich-aus-der-Szeneentziehen, mit der Gleichgültigkeit, mit der Einsamkeit.140
In Mnouchkines Théâtre du Soleil zahlt man nicht mit dem Preis der Einsamkeit. Aufgrund der Kommunikation, die auf lustvoll-spielerischer Auseinandersetzung mit Kindheit und Erinnerungen basiert, gibt es eine permanente Interaktion. Mnouchkine erläutert dies anhand eines Stoffstückchens, das sie als Pars pro Toto für Phantasie und Theater deklariert. Man denke nur an all die Flüsse, Meere, Berge und Landschaften, die aus Stoff entstehen können. Aber wenn das Kostüm mittels alter Stoffstücke entstanden ist, wie wenn sich ein Kind nach und nach mit scheußlichen Sachen verkleidet, dann wird es innerlich. […] In Wirklichkeit ist das Kostüm weder psychologisch noch äußerlich. Was Juliana [Carneiro da Cunha] sagte, stimmt völlig. Es ist gleichsam eine Anrufung. Es ist eine Anrufung, um zu versuchen, alles so einzurichten, daß die Figur kommt, verweilt, eindringt.141
Die große Herausforderung besteht nun darin, diese Anrufungen zu erlernen. Denn sie alle drei, Grotowski, Bene und Mnouchkine, rufen ihre jeweiligen (Theater-) Geister herbei, rufen sie ins Hier und Jetzt, geben ihnen den Platz auf der Bühne, den sie benötigen. Angerufen wird mit unterschiedlichen Mitteln ähnlich jenen, die Baumbach in ihren Ausführungen anführt: »Tänze, Melo dien, Gestikulationen, Laute, (Zauber) Sprüche, Dialekte, Farben, Beziehungen zu bestimmten Tieren, auch der Name […], ein bestimmtes Kleid […], Kopfbe deckungen (oft mit tierischen oder pflanzlichen Attributen) und unter Umständen auch Überkleidung des Gesichts.«142 140 Fabrizio Parrini, »Il teatro del nulla«, in: ders. (Hrsg.), Carmelo Bene. Il teatro del nulla, S. 17–63, hier S. 30. (Orig. ital.: »Secondo Bene c’è ancora qualche piccolo spazio sottile e disperato per chi decide di restare nel mondo dell’onnipotenza bambina, per chi si rifiuta di crescere o per chi, come lui, va alla ricerca di ciò che sta nascosto tra le pieghe del linguaggio. È il suo teatro che si paga con la vita, con il togliersi di scena, con l’indifferenza, con l’isolamento.«) 141 Ariane Mnouchkine zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 48. 142 Gerda Baumbach, »›Seid gegrüßt, Maske!‹ Zur Maskenproblematik in der Neuzeit«, in: Corps du Théâtre. organicità, contemporanéité, interculturalità / Il Corpo del Teatro. organicità, contemporaneità, interculturalità, S. 105–137, hier S. 105–106. Baumbach führt an dieser Stelle eine Erläuterung der Fest-Maske an, die durch regionale und Natur-Kultur-Komponenten verschiedene Variationen und Filiationen zusammenfasst. Über das »Kleid« schreibt sie: »Da es sich bei der Maske um die Überkleidung mit Mächten, Kräften, auch ganzen Landstrichen handelt, spricht man nicht von Kostüm, das nur die Kleidung einer sozialen Rolle meint.«
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Tier / Mensch. Dazwischen Sein
Schrecken, Freude, Melancholie
Alle drei Theaterschaffenden arbeiten vom Ausgangspunkt »Schauspieler_innen« und von den genannten Mitteln der Bewegung, Stimme und Laut der Maske und der Kleider aus. In ihrer Vorgehensweise indes divergieren sie: ob An- oder Auskleiden, ob An- oder Ablegen, ob Singen oder Sprechen, lachen, träumen oder delirieren. Hinter allen Mitteln jedoch stehen der Schrecken und Trost der Kenntnis ob unserer Sterblichkeit und zeitgleich die kindliche Lust an diesem Schrecken, die als Motor wirkt, ohne dass sie ihre Proponent_innen im pathologischen Sinne in den Wahnsinn treibt. Hélène Cixous bringt dies im Zuge ihrer Beschäftigung mit den Eumeniden auf den Punkt. Einerseits sind dies Ereignisse, die vor Tausenden von Jahren geschehen sind, vor der Zeit unserer Kultur und unserer Geschichte. Anderseits tragen wir diese Schrecken auch in uns. Sie sind immer noch in uns und sie sind uns nah, diese gewaltigen Zustände der Seele, die uns erschüttern, die uns aus der Balance bringen, sie sind stärker als wir, sie treiben uns in die Verbannung unseres selbst, panische Menschen, besessene Menschen, es sind diese schrecklichen Unbekannten, die wir in unserer Verstörtheit Trauer, Melancholie, Hass, Rachsucht nennen, so als ob wir durch das Benennen mit Worten hoffen, ihre unvorstellbaren Ausbrüche im Zaum zu halten.143
So fand man Namen wie »Erinyen« (für Rasende, Rachegöttinnen) in den Eumeniden, die auf der Bühne personifiziert werden. Cixous’ Hinweis darauf, dass es zu allen Zeiten den Schrecken gab, der die Menschheit voranbrachte oder spaltete, produktiv oder destruktiv wirkte, kann gleichsam als Metapher für das Schauspielen gelesen werden. Die Freude am Spiel und an der zwischenfigürlichen Kommunikation kann Schrecken und andere destruktive oder autodestruktive Emotionen verwandeln, verbannen oder vertreiben, trösten. Ebenso kann auch z. B. die Melancholie als »schöne Schwester der Trauer« ihre große Wirkung auf der Bühne entfalten. Benes Achill-Versionen vermitteln eine melancholische Grundstimmung bzw. -haltung: »[Achill] ist eine Hommage an die Sehnsucht nach den Dingen, die nie waren. […] Genau. Und das ist der Sinn von allem, was ich im Theater gemacht habe. Und dann in den Gedichten, im Film, fürs Radio und Fernsehen.«144 143 Hélène Cixous, »No Response or the Call of Death«, in: Politics, Ethics and Performance. Hélène Cixous and the Théâtre du Soleil, S. 124–141, hier S. 124. (Orig. engl.: »On the one hand, these are events that took place thousands of years ago, before our culture, before our history. On the other hand, these terrors have similarities in us. They are still in us and close to us, these violent states of the soul, that shatter us, throw us into disorder, are stronger than us, make exiles of us from our own selves, terrified people, obsessed people, these are those awful unknowns that, in our distraction, we call mourning, melancholy, hate, vengeful thirst, as if, with words to name them, we hope to restrain their unthinkable outbursts.«) 144 Carmelo Bene in La Repubblica, 20 novembre 2000, zit. n. Curzio Maltese, »Il mio testamento dalla tomba del teatro«, in: Panta, Carmleo Bene, S. 221–224, hier S. 223. (Orig. ital.: »[Achille]
Verschwinden. Anrufung des Blindtext Tiers oderrechs 287 des Kindes Blinddext rechtsDie Blindtext rechts
Deutlicher wird diese melancholische Sehnsucht in Pinocchio, der Welt der Allmacht des Kindes, in der auch die Sehnsucht nach allem, was nicht da ist und nie da war, gestillt werden will, die Sehnsucht des Nicht-Da-Gewesenen.«145 Roberto Tessari spricht mit Bene über diese melancholische Sehnsucht und die Technik, mit der sie auf der Bühne zu Vollendung gelangt. Es ist eigentlich ein ganz und gar musikalischer Diskurs, gemacht nur aus Abwesenheiten, totale Aphasie. Die Technik des Nicht-Atmens zum Beispiel […], atmen nur innerhalb des Wortes und nicht zwischen einem und dem nächsten Wort […]. Die Betonung, die Verschiebung […]. Es gibt nicht eine einzige Pause […]. Man fand es so spontan […] so melancholisch […] sehr schön. Und verhinderte so einen Diskurs, der klarerweise die Wurzeln jeglichen Versuchs […] von Repräsentation […] und Logik […] unterminiert. Mir dienen Worte nicht, um Bedeutung zu generieren, sondern um das Konzept aufzuspalten […] und das fand man ganz natürlich! Die Kinder, die können es sich erlauben, dies natürlich zu finden.146
Das Ende der Abwesenheit, des Schreckens und der Auseinandersetzung mit dem Theater und seinen Mitteln geht im Bild des Kindes auf. Denn nur Kindern in ihrer phantastischen und anarchistischen Welt ist es vorbehalten, alles zu liquidieren und dabei freudvoll zu spielen.
Verzückung
Nicht nur kraft kindlicher Phantasie ist es möglich, etwas zu sehen, das noch nie gesehen wurde, sondern auch durch extensive Spielfreude, wie sie von Ariane Mnouchkine und ihrer Truppe des Théâtre du Soleil nicht nur trainiert und È un omaggio alla nostalgia per le cose che non furono. […] Esatto. E questo è il senso di tutto quanto ho fatto in teatro. E poi in poesia, al cinema, in radio, in televisione … «) Bene schuf drei Versionen des »Achill«: Pentesilea la macchina attoriale – Attorialità della macchina (momento n. 1 1989; momento n. 2 1990) (Penthesilea die Schauspielermaschine – Das Schauspielerische der Maschine (Moment Nr. 1 1989; Moment Nr. 2 1990) und In-vulnerabilità d’Achille, impossibile suite tra Ilio e Sciro 2000 (Die Un-Verwundbarkeit des Achill, eine unmögliche Suite zwischen Ilios und Sciro). 145 Carmelo Bene in La Stampa 22 novembre 1998, zit. n. Alain Elkann, »Che penso essere un genio«, in: Panta, Carmleo Bene, S. 359–363, hier S. 360. (Orig. ital.: »È un discorso sull’onnipotenza bambina. È lo spettacolo della provvidenza. In Pinocchio c’è la nostalgia di quanto non è mai stato.«) 146 Zit. n. Francesca Rachele Oppedisano, »Pinocchio ’66«, in: Benedetto foto! Carmelo Bene visto da Claudia Abate, S. 54–59, hier S. 54. (Orig. ital.: »È proprio un discorso tutto musicale, fatto solo di mancanze, afasia totale. La tecnica del non respirare mai, per esempio […]. Respirare solo all’interno di un parola, e non tra una parola e l’altra […]. La tonica, la dominante spostata […]. Non c’è mai una sola cesura […]. L’han trovato così spontaneo […] così malinconico […] molto bello. Liquidando così un discorso che chiaramente mina alle radici qualunque tentativo […] di rappresentazione […] e di logica […]. Io non mi servo della parola per significare, ma per sfaldare il concetto […] e l’han trovato naturale! I bambini, possono permetterselo di trovarlo naturale.«)
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unterstützt, sondern auch kultiviert wird. Ein Beispiel dafür sind die Erinyen in Les Euménides, die Wolfshundewesen, die, wie an anderer Stelle bereits unter Bezugnahme auf Hellmut Flashar beschrieben, von alten Frauen begleitet werden. Anton Bierl, der Hellmut Flashars Interpretation der Eumeniden kritisch gegenübersteht und insbesondere darauf rekurriert, wie politisch Mnouchkines Inszenierung (1992) nach dem Mauerfall zu sehen sei, sieht in den alten Frauen keine Begleiterinnen der Erinyen, sondern begreift sie als Abspaltung von ihnen. Die Erinyen sind demzufolge zweigeteilt in Wolfshundewesen und alte Frauen. Die Utopie der athenischen Lösung wird schließlich doch noch überraschend in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit gezeigt. Mnouchkine greift dabei zu einem theatralischen Trick, die Rachegeister in menschliche und tierische Wesen aufzuspalten. Nach jeder Tragödie hörte man das schreckliche Gebell der wütenden Hunde. Am Ende des Atriden-Zyklus bleibt Athene mit dem Rücken zum Publikum auf der Bühne. Wieder ertönt das unheimliche Bellen, das jetzt in einem fabelhaften, fast an die Alte Komödie gemahnenden Tierchor seine visuelle Materialisierung erfährt. Aus dem Hintergrund rücken die Rachegeister Klytaimnestras, die »schwarzzotteligen Vierbeiner, mit rotbraunen Rüsselschnauzen und glühenden Augen, Affeneber, Höllenwölfe, mit Löwenmähne« an Athene und die Zuschauer bedrohlich heran.147
Die Erinyen, ob geteilte Wesen oder eigenständige tierische Figuren, stehen in Mnouchkines Inszenierung in einem kommunikativen Verhältnis zueinander und zu den anderen Figuren. Und auch sie entrücken schließlich in dionysischer Verzückung. Die Erinyen sind so in zwei Chöre aufgespalten, in menschliche und tierische Wesen. Die Versöhnung vollzieht sich wiederum in Bewegung und Körpersprache. Die Frauen tanzen in magischer Verzückung und dionysischer Verjüngung; sie berühren sich im Jubelruf »Soyez heureux« [»Seid glücklich«].148
Die magische Verzückung, von der Flashar schreibt, ist das Spiel mit einer besessenen Figur und nicht eine besessene Schauspielerin, auch wenn diese nahe dran zu sein scheint. Es ist die Figur, die in dionysischer Obsession aufgeht, aber es sind die Schauspieler_innen, die von der Maske bestimmt und geführt werden. Die Grenze zur Besessenheit ist dünn. Im Théâtre du Soleil haben wir exzessiv mit expressiven Masken gearbeitet; für uns macht die Arbeit mit den Masken das wesentliche Training des Schauspielers aus. Sobald ein Schauspieler seine Maske »findet«, ist er nahe an der Besessenheit, er kann es zulassen, von der Figur besessen zu sein, wie Orakel. Einige von ihnen sind buchstäblich erstickt, sind ohne Stimme, ohne Augen, ohne Körper, von der Maske vernichtet.149
147 Anton Bierl, Die Orestie des Aischylos auf der modernen Bühne, S. 62–63. Bierl zitiert hier Peter von Becker, Theater heute 12/1992. 148 Hellmut Flashar, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne, S. 290. 149 Ariane Mnouchkine, »The entire body is a mask«, from an interview with Ariane Mnouchkine by Odette Aslan, in: Collaborative Theatre. The Théâtre du Soleil sourcebook, S. 109–111, hier S. 109.
Verschwinden. Anrufung des Blindtext Tiers oderrechs 289 des Kindes Blinddext rechtsDie Blindtext rechts
Der Grenzgang ist gefährlich, denn die Maske kann Oberhand gewinnen und die Schauspielenden stürzen oder, wie Stiefel sagt, sie »kopflos« werden lassen. Wenn die Schauspieler_innen – wie oben beschrieben – die Maske akzeptiert haben, müssen sie »auf sie zugehen und versuchen, sie zu entdecken. Was oft ein sehr schmerzhafter Weg ist«150, dann kommt nicht nur Freude am Spiel der Schauspielenden auf, sondern die Figuren werden eigenständig. Wieder sind es die materiellen Masken, die den Rhythmus der Handlung bestimmen: »Es ist die maskierte Figur, die sich ihren inneren Rhythmus aneignet, welcher je nach Zustand oder Emotion durchaus variieren kann.«151 Bei Grotowskis Doers aber sind es nicht die Kraft der Maske und die Freude am Spiel, die einen der Besessenheit ähnlichen Zustand hervorrufen können. Grotowski geht davon aus, dass das Innerste einen Schock oder Schrecken oder (positiv formuliert) ungeheure Freude erfahren muss, um sich dieser Ausnahmesituation nähern zu können. In einem Augenblick des psychischen Schocks, des Schreckens, der Todesgefahr oder der ungeheuren Freude benimmt sich ein Mensch nicht »natürlich«. Ein Mensch, in einem gesteigerten geistigen Zustand befindlich, verwendet rhythmisch artikulierte Zeichen, beginnt zu tanzen, zu singen. Ein Zeichen, keine gewöhnliche Bewegung, stellt für uns die elementare Größe des Ausdrucks dar.152
(Orig. engl.: »At the Théatre du Soleil, we have worked extensively with expressive masks; for us, mask work constitutes the essential training of the actor. As soon as an actor ›finds‹ his mask, he is close to possession, he can let himself be possessed by the character, like oracles. Some of them are literally stifled by it, are without voice, without eyes, without body, annihilated by the mask.«) Die Qualität dieser Masken ist nicht zu verwechseln mit denen, die z. B. im Film Molière zum Einsatz kamen: »Die Karnevalsmasken, die wir bei dem Film Molière verwendeten, waren komplett anders. Karneval ist eine Überschreitung, trägt einen Keim der Provokation in sich, aber man muss ein Minimum an Ritual und Ordnung bewahren.« Ebenda, S. 109–111, hier S. 110. (Orig. engl.: »The carnival masks we used in the film Molière were completely different. Carnival is a transgression, it carries a germ of provocation, but it must conserve a minimum of ritual and order.«) 150 »Ein Verbindungsglied zwischen Tradition und heutiger Welt. Ein Gespräch mit dem Maskenbauer Erhard Stiefel«, in: Josette Féral (Hrsg.), Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 148–153, hier S. 152. 151 Ariane Mnouchkine, »The entire body is a mask«, from an interview with Ariane Mnouchkine by Odette Aslan, in: Collaborative Theatre. The Théâtre du Soleil sourcebook, S. 109–111, hier S. 110. (Orig. engl. »It is the masked character who acquires his own internal rhythm, which is susceptible to variations according to the state or emotion.«) Die Herausgeber beziehen sich auf ein Interview mit Ariane Mnouchkine, »Le masque: une discipline de base au Théâtre du Soleil« in: Le masque. Du rite au théâtre, réunis et présentés par Odette Aslan et Denis Bablet, Paris: Éditions du centre national de la recherche scientifique 1991, S. 231–234, hier S. 234. (Orig.frz.: »C’est le personnage masqué qui acquiert son rythme intérieur, susceptible de varier selon l’état ou l’émotion.«) 152 Jerzy Grotowski, »Für ein Armes Theater« (1965), in: ders., Für ein Armes Theater, S. 13–26, hier S. 16.
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Derartige Krisensituationen im geschützten Raum zu provozieren, heraufzubeschwören, zu erfahren und zu nutzen, zu diesem Zweck arbeitet Grotowski mit den alten Gesängen, die tranceähnliche Wirkungen zeitigen können. Gesang ist für ihn »eine Person«. Er betont hier das Verhaftetsein im fleischlichen Körper und die Impulse, denen nachzugehen und nachzugeben sei. Im Rahmen seiner Forschungen am Schauspieler (sic) wird ihm klar: »Im Endeffekt geht es uns um die Unmöglichkeit, Geistiges und Körperliches voneinander zu trennen.«153 Von sogenannten tranceähnlichen Zuständen jedoch, die er (vermutlich) als dilettantisch erachtet, grenzt Grotowski sich ab. Der Gesang der Überlieferung ist eine Person. Wenn die Leute an einem sogenannten Ritual zu arbeiten anfangen, suchen sie in Folge grobschlächtiger Gedanken und Assoziationen zunächst nach einem Zustand des Besessenseins oder nach einer angeblichen Trance, was auf ein Chaos hinausläuft und auf Improvisationen, in denen man etwas Beliebiges macht. All diese Exotika gilt es zu vergessen. Man muß bloß entdecken, daß der Gesang der Überlieferung samt den Impulsen, die damit zusammenhängen, »eine Person« ist.«154
Die schauspielerische Praxis ist das Entscheidende beim Suchen, Forschen und Erfahren, hier und woanders zu sein. Nicht nur Grotowski vollführt eine Art Theater der Unmöglichkeit (die Unmöglichkeit der Gleichzeitigkeit), auch Bene mit seinem ästhetisierten Spiel und den Stimmgewalten und Mnouchkine mit den Schauspieler_innen, die vergessen, sich aufschwingen und von woandersher besessen werden, wenn die Maske von ihnen Besitz ergreift. Doch haben sie gelernt, neben dem Muskel der Imagination auch den der Kommunikation einzusetzen, deshalb vermögen sie ihr Umfeld mitzureißen. Ich [Mnouchkine] schlage ihnen [den Schauspielenden] Welten vor. Und wenn das nicht geht, nichts bringt, so schlage ich andere vor. Und dann gibt mir manchmal ein Schauspieler etwas, und ich schwinge mich da hinauf. Dann versuchen wir alle beide zu galoppieren.155
Ähnliche Erfahrungen hat etwa der Schauspieler Georges Bigot mit Mnouchkine gemacht, die stets eine »empathische, das heißt eine sympathische Beziehung« mit ihren Schauspieler_innen pflege. Sie ist von dieser Arbeit vollkommen besessen, es ist wirklich Besessenheit! Sie folgt dem Schauspieler, sie folgt allen Mäandern, die er durchmacht. Darin besteht ihre Arbeit der Schauspielfüh-
153 Jerzy Grotowski, »Er war nicht ganz er selbst« (1967), in: ders., Für ein Armes Theater, S. 123–134, hier S. 130. 154 Jerzy Grotowski, »Von der Theatertruppe zur Kunst als Fahrzeug«, in: Thomas Richards, Theaterarbeit mit Grotowski, S. 179–216, hier S. 202. 155 Ariane Mnouchkine zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 45.
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rung und darin liegt, wie ich sagen würde, auch ihr Glück, ihr Vergnügen und ihre Kunst, ihre Kunst als Regisseurin und Leiterin der Schauspieler.156
Doch das Glück und die Freude allein sind es nicht, die das Tempo und den Takt angeben. Es scheint mehr als Empathie und Sympathie zu sein, womit hier agiert wird. Simon Abkarian erkennt Mnouchkines »animalischen Instinkt. Es entsteht ein heimliches Einverständnis. Es gibt Augenblicke, wo wir uns mit einem Blick verstehen. Das geht schnell, weil man zusammen in Aktion ist. Wir sind bei unserer Arbeit mit Ariane ständig im Einsatz, es herrscht gegenseitiges Vertrauen, was auch Gefahren birgt, da sich ja jeder dem anderen öffnet«.157 Die Herausforderung besteht also darin, die Gefahren zu überwinden und über sich hinauszuwachsen, wie Csíkszentmihályi es über das Klettern sagt.158 Der »Berg« ist eine häufige und fast schon zum Klischee geronnene Metapher für Anstrengungen wie Möglichkeiten des »Über-sich-Hinauswachsens«, auch im Schauspielkontext. Einen Berg besteigt ein Schauspieler oder eine Schauspielerin nur, wenn sie ein Bedürfnis nach Poesie haben, nach Größe, nach einem Hinauswachsen über sich selbst, letzten Endes nach dem Menschlichen. Denn was den Menschen auszeichnet, ist vielleicht das Bedürfnis, über sich selbst hinauszuwachsen.159
156 »Ich habe das Theater als Kampf gewählt. Ein Gespräch mit dem Schauspieler Georges Bigot«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 74–82, hier S. 76. 157 Nirupama Nityanandan zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 61. 158 Csíkszentmihályi beschreibt, dass Kletter_innen die Gefahren des Kletterns im Vergleich zum Alltag verhältnismäßig gering einschätzen. Ihre Begründung liegt in der »Kontrolle über Situation und Angstgefühle«, die durch Erfahrung und Training erworben werde und Voraussetzung für ein Flow-Erlebnis sei. Mihály Csíkszentmihályi, Das flow-Erlebnis, S. 103–135. 159 Ariane Mnouchkine zit. in »Eine Truppe beginnt mit einem Traum. Öffentliches Zusammentreffen des Soleil mit kanadischen Theaterschulen«, in: Josette Féral, Ariane Mnouchkine & Das Théâtre du Soleil, S. 44–73, hier S. 44.
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Gleichzeitig und woanders. (Schauspielerisches) Sein und Werden Erspielt, erwacht und ästhetisiert
Gleich welche der drei hier vorgestellten Schauspielpraktiken ausgeübt wird – sei es das Spielerische der Akteur_innen Ariane Mnouchkines, sei es die geführte Anleitung in die Vertikalität Jerzy Grotowskis oder die dichte, stimmlich-musikalische Zusammenarbeit mit Carmelo Bene –, jede wird auf der Bühne mit äußerster Präzision ausgeführt, taucht aus dem Unsichtbaren auf ins Sichtbare und zeichnet sich durch eine jeweils konsequente Ausführung aus. Allen dreien wohnt das Menschliche inne, insbesondere das menschliche Bedürfnis, über sich hinauszuwachsen. Ob mittels dieser Praktiken gespielt wird und Figuren in der Interaktion zu leben beginnen (Mnouchkine), ob die physischen Praktiken trainiert und geübt und dadurch die Schauspielenden belebt werden (Grotow ski) oder ob die Praktiken angewendet werden und der Schauspieler sowie seine Partner_innen selbst zu Transformationskörpern mutieren (Bene) – es sind Variationen ein- und derselben Grundannahme: Die Schauspieler_innen sind es, die aus dem Unsichtbaren schöpfen. Unterschiedliche Vorgehensweisen, Schauspielpraktiken und Methoden werden verfolgt. Ausschlaggebend ist die bewusst durchgeführte Transformation in einem geschützten theatralen Rahmen. Mögen die Räume des Dazwischen auch divergieren, so gibt es doch erkennbar gemeinsame Ausgangs- und Endpunkte sowie das Einverständnis, sich vor allem um die Schwellen und das Dazwischen zu bemühen: um den menschlichen Körper, der vergehen wird; die Kunst, die als ephemer gilt; den Menschen, der im Mittelpunkt steht; die Schauspieler_innen im Zentrum; die Theatertradition, in die sich alle drei einschreiben. Bei allen dreien übernehmen die Schauspielenden den schöpferischen Part und konzentrieren sich auf (theater-) anthropologische Gemeinsamkeiten. Wenn sie beispielsweise die Verwandlung und das Verhältnis von Mensch und Tier beschäftigt, werden die historisch-anthropologischen Hintergründe und schauspielerischen Grundpositionen deutlich: die Anerkennung des Tiers im Menschen, das Hervorholen des Tieres aus dem physischen menschlichen Körper, das Spielen mit dem Tier und der Figur im Schauspielenden, die Stimmvariationen des menschlichen Körpers, die dem Tier geborgt werden. Auf diese Weise findet weder eine Negation noch ein Machtkampf noch gar ein Vernichtungskampf zwischen Tier und Mensch statt. Der Mensch, versöhnlich mit sich selbst und dem Tier in sich, sucht seine eigene Geschichte und die Geschichten der anderen und jene des Zusammenspielens. Der Mensch als Schau-spielende Person kann sich an der Melancholie in sich erfreuen, ob als erspieltes (Mnouchkine), erwachtes (Grotowski) oder ästhetisiertes Tier (Bene).
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»Der Mensch«, schreibt Giorgio Agamben, »kann nur insofern menschlich sein, als er das ›antropophore‹ Tier, das ihn trägt, transzendiert und verwandelt, nur, weil er gerade durch die negierende Tätigkeit fähig ist, seine eigene Animalität zu beherrschen und – eventuell – zu vernichten.«160 Agamben bezieht sich hier auf den russisch-französischen Philosophen Alexandre Kojève, der in seinen Überlegungen zum Verhältnis zwischen Mensch und Tier auf die unterschiedlichen Aspekte der Negation und des Todes abhebt.161 Denn v. a. in der philosophischen Anthropologie wird auf die Möglichkeit des Menschen verwiesen, »nein sagen zu können«, was ihn im Kern vom Tier abgrenze. Tiere hätten kein Urteilsvermögen und könnten daher nicht zwischen wahr und falsch unterscheiden. Selbst Adorno und Horkheimer halten in ihrem Kapitel »Mensch und Tier« fest, die Definition des Menschen zeichne sich durch eine Differenzierung zum bzw. vom Tier aus.162 Laut Agamben beachte Kojève diese »althergebetete Unterscheidung« zwar, doch den Aspekt, der besage, dass der Mensch sich in der Moderne um sein eigenes animalisches Leben zu kümmern beginne und dabei das natürliche Leben sein Einsatz im Spiel um Anerkennung werde, berücksichtige Kojève nicht. Dies sei indes nur Menschen eigen, so Agamben, und führe gedanklich fortgesetzt zu Michel Foucault und der Kritik der Bioethik bzw. »Biomacht«. Ausgehend davon, dass der Tod die Negation des Lebens ist und, wie ausgeführt, sich das Theater als einer der geeignetsten Räume für das Verhandeln der dem Menschen eigenen Erkenntnis der Sterblichkeit anbietet, lässt sich schlussfolgern, dass dies auch für die Tier-und-Mensch-Thematik gilt. Im Tun auf der Bühne, in der praktischen Ausführung des Schau-spiels (in actu) kann zwischen Tier und Mensch unterschieden werden. Diese Annahme kann insofern bekräftigt werden, als (Kojèves Idee mit Agamben gelesen) die Menschen ohnedies am Ende ihrer Geschichte angelangt sind und der angestrebte (und vom Tier zu unterscheidende) Kampf um Anerkennung nur noch über die Kunst, das Spiel und die Liebe erreichbar ist. Auf die Frage nach dem Tier im Menschen oder nach dem vom Menschen unterschiedenen Tier findet sich im Theater also ein guter oder zumindest brauchbarer weil sinnlicher Verhandlungsort.
160 Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, S. 21–22. (Orig.: L’aperto. L’uomo e l’animale, S. 19.) 161 Giorgio Agamben bezieht sich auf Alexandre Kojève, Le Collège de Sociologie (1937–1939), Paris: Gallimard 1979. 162 Vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, »Mensch und Tier«, in: dies., Dialektik der Aufklärung, S. 283–292, hier S. 283: »Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und die Neuzeit hergebetet worden, daß er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. Auch heute ist er anerkannt.«
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Schauspiel kann darüber hinaus, vor allem nach den beiden Weltkriegen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als eine Möglichkeit begriffen werden, die dieses Verhältnis immer wieder aufs Neue zu verhandeln imstande ist. Mehr noch: als eine, die dieses Verhältnis sinnlich erfahrbar macht und es veranschaulichen kann und obendrein das Tier und den Menschen zu transferieren und transformieren vermag. Denn das Hauptaugenmerk schauspielerischen Seins ist auf ein Werden im Jetzt gerichtet. Somit steht Transformation im Vordergrund, nicht der Status des Endes, nicht die Vernichtung.
Kollektive, gemeinschaftliche und narzisstische Kommunikation
Für Ariane Mnouchkine steht der spielerische Zugang für Kommunikation (auch mit dem Publikum). Diese Kommunikation, die gesucht und erprobt werden muss, beginnt zwischen den Schauspieler_innen und wird – von Mnouchkine unterstützt – mit den Figuren fortgesetzt, sofern diese auf die Bühne kommen (wollen). Den Figuren wird ein Eigenleben zugesprochen, sie werden gelockt, auf die Bühne verführt, was ebenso für Tiergestalten gilt. Auf der Bühne angekommen, spielen sie miteinander, untereinander und mit dem Publikum, treten in eine kollektive Kommunikation, beginnend bei den Proben bis hin zum festlichen Abschluss einer Aufführung. Grotowski hat im Zuge seiner Forschungen am Schauspieler (sic) jedwede Kommunikation nach außen eingestellt: sehr eindeutig und in eine Richtung, nämlich in die Körper der Schauspielenden bzw. Doers hinein und von dort in direkter Vertikalität in feinstoffliches Sein. Um überhaupt ins Spiel hineinzufinden, wird das Reptilien- oder Stammhirn beansprucht. Grotowskis Suche nach einer Essenz ist beeinflusst und inspiriert worden von dem russischen Mystiker Georges I. Gurdjieff, der davon ausgeht, dass der Mensch das Wesentliche von Beginn an in sich trägt. Gurdjieff unterscheidet die Aspekte des sozial Erlernten, der Persönlichkeit und der Essenz als Wahrheit. Ausgehend davon, dass Theater der Ort der Wahrheit sei, entwickelt Grotowski sein Konzept auf Basis dieser drei Pfeiler. Mit der Methode der via negativa, die er in Für ein Armes Theater beschreibt, legen Schauspieler_innen ihre sozialen und schauspielschul-erlernten Gewohnheiten ab, überwinden psycho-physische Hindernisse und dringen zur Essenz vor.163 Dabei stehen die körperlichen Prozesse im Mittelpunkt seines Interesses, insofern gilt seine Aufmerksamkeit auch den körperlichen Voraussetzungen. In ihnen wird gewühlt, um das Tier zum Vorschein zu bringen, abhängig
163 Vgl. die Erkenntnisse des Neurobiologen und Psychiaters Paul D. MacLean in: Cornelia Adam, Ang Gey Pin – Theater nach Grotowski und Richards?, S. 28.
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von und fokussiert auf die einzelnen Schauspielenden und später Handelnden. Diese Herangehensweise bringt allerdings eine Einschränkung mit sich: Sie bleibt biologisch verortet. Affen, Katzen Tiger, Vögel und Schlangen bedienen sich des menschlichen Skeletts, um ihre jeweilige Gestalt anzunehmen. Grotowski widmet sich dem Tier seit den Anfängen im Teatr Laboratorium. Zunächst konzentriert er sich auf die Katze, später auf die Schlange. Die Übungen führen so weit, dass in Action nicht nur u. a. ein katzenähnliches Tier zum Leben erweckt, sondern dass der Yanvalou-Schritt zum Bestandteil der Trainingseinheiten wird. Bisweilen werden die ungewöhnlichsten Laute aus dem Körperinneren der Handelnden vernehmbar. Den Körper in Schwingung zu versetzen, die Resonanzbalancen herzustellen, um auf der Jakobsleiter hinauf- und hinuntersteigen zu können, beginnt mit Experimenten und kulminiert im Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards in Pontedera. Jerzy Grotowski sucht das Innerste, das durch Lieder und Schwingungen im Körper (wieder-) entdeckt wird. Die Kundalini-Schlange versetzt die Wirbelsäule in Bewegung. Archetypische Zusammenhänge werden hergestellt. Die Basis dafür ist ein biologisch zentriertes Weltbild, das die Metaphysik streift, aber doch sehr am Fleischlichen haften bleibt. Grotowski geht es darum, das Universelle zu hören. Bei Carmelo Bene verschwindet das Tier aus dem Menschen und damit zunächst (auch) von der Bühne. Es wird weder angedeutet noch transferiert und schon gar nicht zum Leben erweckt. Da in Benes Non-Teatro, einem Theater, das sich gegen Repräsentation stellt, auch nichts repräsentiert wird, kann es nur ein an der Oberfläche Verharrendes, ein im Ästhetischen Verhaftetes geben. Allein als Fabelwesen erscheint das Tier auf der Bühne: als Kater und Fuchs, Grille, Eule … Wenn Bene fabuliert, wenn er Fabeln erzählt, dann tauchen sie auf – ästhetisch als Hülle vorgestellt und durch seine vielfältige Stimme beatmet. Da Rollen und Figuren Situationen gewichen sind und es keine Narration mehr gibt, treten auch keine Tierfiguren auf. Tiere indes sind zwar auf der Bühne präsent, doch sie werden mit visueller Vehemenz und einer lautlichen Negation der Tierlaute übergeführt in menschliches Stimmvermögen, in die Phonè (den Klang). Diese verhilft Bene dazu, nicht in sich hineinzuhören, sondern sich auf narzisstische Weise zuzuhören. Hingabe bei Grotowski, Freude bei Mnouchkine oder Selbstvergessen (oblio) bei Bene – das kollektive Aufgehen in Schwingungsqualitäten, sich in Interaktion mit anderen befinden oder sich in der eigenen Stimme verlieren – fördern und befördern die Schauspielenden bei ihrem Abheben und Eingehen in einen Flow. Die Haltungen und damit einhergehenden Techniken helfen zu transzendieren und das Dazwischen auszuhalten. Es geht darum, die Grenzen der menschlichen Existenz auf kindliche Weise wieder vergessen zu können, um sie dadurch zu erweitern. Der Rahmen bleibt ein theatraler, während die Techniken divergieren. Das Ziel besteht darin, das ei-
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gene Subjekt-Sein aufzulösen, das unerträgliche Wissen um die finale menschliche Existenz in ein erträgliches zu verwandeln und im Schauspielen aufzugehen. Dazu gehört es, auf der Bühne lebendig zu werden und sich der Intensität des Lebendigen auszuliefern. Das Theater bietet sich als Raum für den Zwischen-Raum an, und Schau-spielen als Methode für das Werden. Was aber geschieht, wenn Schauspieler_innen in ihrer Mehrdimensionalität erscheinen? Sie sind immer tot und lebendig, außen und innen, kalt und warm. Sie sind das immer gleichzeitig und zugleich nichts davon, sie sind immer zwischen allem. Weder tot noch lebendig gibt es einfach nur einen Präsenten, ein Präsens. Jedoch immer als Präsentation von einem zum anderen, hin zum anderen oder im anderen: die Präsentation eines Fortgehens.«164
Schauspieler_innen präsentieren das Fortgehen aus dem Hier und aus dem Jetzt, aus dem Woanders-Sein, aus dem Vergangenen und dem Zukünftigen. Sie sind es, die sich im Sein des ephemeren, theatralen hic et nunc transformieren und damit stets im Werden begriffen sind.
164 Jean-Luc Nancy, Noli me tangere, S. 17.
Abschließende Worte
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Abschließende Worte
Reste dessen, was jemals gewesen ist. Carmelo Bene, ’l mal de’ fiori
Wenn jedes Ende auch ein Anfang ist, kann die hier vorgelegte Arbeit schwerlich als abgeschlossen betrachtet werden. Aber sie ist ein vorläufiges Ergebnis, auf das zurückgeblickt werden kann. Der Ausgangspunkt liegt in der Tatsache, dass wir um unsere Sterblichkeit wissen, dass uns dies gemäß der philosophischen Anthropologie vom Tier unterscheidet und das europäische Subjekt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gekränkt und mit unterschiedlichen Maßnahmen darauf reagiert. Von Menschen entwickelte Techniken und Strategien bauen darauf, an der Kenntnis um unsere unausweichliche Ephemerität nicht zugrunde zu gehen. Im Theater als dem Ort der prinzipiellen Doppelstruktur präsentiert sich unser ephemeres Sein in anschaulicher Weise durch ein stetes Werden und Vergehen, ob es explizit thematisiert wird oder nicht. Allein dass Theater aus Fleisch und Knochen gemacht ist, führt uns die Vergänglichkeit unmittelbar vor Augen. Das Subjekt, sich seiner Sterblichkeit bewusst, entgeht ihr zwar nicht, es geht aber in den Schauspieler_innen im gegenwärtigen Moment einer Aufführung auf. Es kann Vergänglichkeit im Gegenwärtigen schauen, wohnt einem Werden auf der Bühne bei, darf den finalen Prozess des Werdens, d. h. das Sterben, üben. Die Schauspielenden können stellvertretend für das Subjekt mit dem vergänglichen Material, das auch ihr Instrument ist, umgehen (lernen). Ephemerität schleicht sich bei jedem Atemzug in sie ein, sie stehen am Abgrund und fallen dennoch nicht hinein. Die Grausamkeit aushalten, für die Artaud laut Mnouchkine nicht stark genug war. Jener Artaud – der Grotowski Visionen und Metaphern, jedoch keine Techniken hinterließ – hatte also keine verständliche Antwort parat. Was Artaud entworfen, doch nicht umgesetzt hat, wird von Bene aufgegriffen und verwirklicht. Auf die »Magie des Theaters«, die Artaud heraufbeschwor, beziehen sich sowohl Mnouchkine als auch Grotowski als auch Bene. Sie rufen dabei das Licht des Zwischenmenschlichen an, das innere Schwingen oder den von außen gehörten eigenen Klang. Ohne es wirklich zu begreifen, geht es laut Grotowski darum, zu erkennen, dass Theater imstande ist, die Grenzen des diskursiven Verstandes und der Psychologie zu überschreiten. Auch das ist ein Punkt, der die drei vereint: den
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Abschließende Worte
Intellekt beiseite lassen, Spielen wie ein Kind, Sein wie ein Tier, kurzum: Schauspieler-Werden, abheben und sich selbst vergessen. »Ich weiß, die glücklichste Art zu leben ist die durch das Theater selbst«, sagte Ariane Mnouchkine 2015 in einem Interview für das Institut français India, was auch bedeutet, das Theater zu denken als ein Anderswo in der Ungleichzeitigkeit. Schon die Räume, in denen die Schauspieler_innen spielen, wo sie Theater machen und agieren, sind ein außeralltägliches Anderswo und streichen das Erschaffen und Bauen, das schöpferische Element der Schauspielenden heraus. Sie werden in ein festliches, wärmendes, viele Menschen einladendes Ambiente getaucht. Das gesamte Theater leuchtet im Théâtre du Soleil mit Ariane Mnouch kine: das eigene Haus an der Peripherie, offen für Neues und Neue. Die Zerstörung des toten Theaters kann auch von innen heraus in Angriff genommen, der Weg ins Zentrum des Geschehens gesucht werden und durch Installieren alter Vorbilder, wie das des Histrionen, das Theater (re-) revolutionieren. Seine Stimme wird zur einzigen Leuchtkraft auf der Bühne durch die Phonè Carmelo B enes. Oder es werden Laborsituationen arrangiert, von Jerzy Grotowski geschützte Räume, wo die Schauspieler_innen im Zuge der Suche nach ihrem inneren Leuchten bis in ihr Innerstes forschen und erforscht werden können. Alle diese (Such-) Bewegungen lassen sich nach der jahrzehntelangen Arbeit von Mnouchkine, Bene und Grotowski darlegen und in ihrer Beharrlichkeit verfolgen. Ihre Visionen sind retrospektiv schon in ihren Anfängen erkennbar. Ihre Materialisierung beruht auf der Konzentration, Kompromisslosigkeit und Konsequenz der Theaterschaffenden, der Fokus auf die Schauspieler_innen bleibt dabei beständig. Im Rahmen der (Theater-) Anthropologie liegt das forschende Interesse stets bei den Schauspieler_innen. Sie stehen im Zentrum allen Tuns. Aus ihnen sprechen die Praxis und der Mensch. »Der Schauspieler interessiert mich, weil er ein menschliches Wesen ist,« schreibt Grotowski in Für ein Armes Theater, und er erforscht ihn, um den leuchtenden Menschen zu finden. Mnouchkine, deren politische wie künstlerische Großherzigkeit und Liebe zum Detail Schauspielende zu kindlichem Spiel leitet, ist interessiert an deren menschlichen Beziehungen, die ganze Welten zu erschaffen imstande sind. Bene wiederum beschäftigt sich in narzisstischer Persistenz mit sich selber und seinem Selbstvergessen im Bühnenakt. Sie alle wollen auf Reisen gehen, abheben und fliegen. Im Zuge meiner Arbeit bin ich den künstlerischen Spuren der drei Theaterschaffenden Mnouchkine, Bene und Grotowski gefolgt und habe versucht, ihre Erkundungen der Schauspielpraxis theaterwissenschaftlich zu erfassen. Mein Interesse galt dem Entschlüsseln ihrer schauspielpraktischen Verfahren, um diese aufzeigen und sie – als drei grundlegende (Re-) Aktionen – auf die Endlichkeit allen menschlichen Lebens hin befragen zu können.
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Die Wahrnehmung einer physischen Endlichkeit obliegt dem Subjekt. Es muss damit umgehen (können), darauf reagieren und handeln. Das neuzeitliche, denkende Subjekt auf der Bühne – Hamlet – ist eines, das ein Nicht-Handeln verhandeln will und verhandelt. Hamlet steht in der Rezeption für vieles, und jedenfalls auch für den Schauspieler (Laforgue). Oder aber er wird als Regisseur interpretiert – meistens in der Theater-Szene. Diese prominente Szene aus Shakespeares Hamlet birgt drei zentrale Aspekte, die im 20. Jahrhundert von Mnouchkine, Bene und Grotowski in unterschiedlichen Facetten wieder aufgegriffen werden: Grotowskis Studien enttarnen einen politischen Hamlet auf dem Höhepunkt des Theaterschaffens und zugleich das Gegenteil davon, den Noch-nicht-Höhepunkt eines Theaterschaffens. Bene präsentiert einen reduzierten Hamlet nach den exakten Vorgaben des Regisseurs in Bezug auf das Prononcieren und Intonieren der Worte. Mnouchkines Post-Hamlet gibt Aufschluss über die dem Schauspiel innewohnende Fähigkeit, als Spiegelung zu dienen und dadurch aufzudecken, zu verzerren oder zu vergrößern. Jenseits der Dramatisierung von Tod und Sterben offenbart sich das Wissen um unsere Sterblichkeit als Projektionsfläche im Theater schlechthin. Die Thea terbühne ist dabei nicht nur als Ort der Toten zu verstehen, sondern als ein Raum für die Kenntnis um unser ephemeres Sein und somit als ein Raum, in dem wir den undenkbaren Tod leibhaftig denken können. Schauspieler_innen, die mit ihren vergänglichen Körpern Leiber erschaffen und durch Transformationsprozesse auf der Bühne laufend neue Welten und Figuren entstehen lassen, sind in einem ständigen Werden begriffen. Sie treten stellvertretend für uns in Aktion. Theater ist so gesehen dazu prädestiniert, über unseren nicht vorstellbaren Tod nachzudenken. Es denkt, ohne zu sprechen, kann erfassen, ohne zu begreifen, mit allen Sinnen und ohne uns ob der Unausweichlichkeit der finalen Transformation in den Wahnsinn zu treiben. Spielerisch und in Kommunikation mit anderen Menschen, singend in Konzentration auf die Schwingungen im Innersten, sprechend im Klang und kontemplativ auf das vergessene Selbst gerichtet, lässt es uns unsere Ephemerität ertragen. Die drei unterschiedlichen Herangehensweisen von Mnouchkine, Bene und Grotowski präsentieren sich in jedem Moment des Schauspielens. Sie zeigen sich anhand des Verhältnisses zwischen Tier und Mensch, zwischen dem unwissenden und wissenden Part ums Sterben. Denn allen dreien gemeinsam ist die Anerkennung des Tiers im Menschen: entweder durch das Hervorholen des Tieres aus dem physischen menschlichen Körper, oder durch das Spielen mit dem Tier und der Figur in den Schauspieler_innen, oder durch die Stimmvariationen des menschlichen Körpers, die dem Tier geliehen werden. Der Mensch, versöhnlich mit sich und seinem Tier in sich, kann sich als schauspielernde Person über die Melancholie ob der eigenen Vergänglichkeit doch erfreuen: als erspieltes
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Abschließende Worte
Tier (Mnouchkine), als erwachtes Tier (Grotowski) oder als ästhetisiertes Tier (Bene). Das Ziel dieser Arbeit besteht darin, einerseits eine erweiterte Diskursivierung von Schauspielkunst vorzulegen und damit Theorien abseits bekannter Interpretationsmethoden und Deutungsmuster herauszulesen. Andererseits erhebt sie den ehrgeizigen Anspruch, nach der Lektüre einen Theaterabend, eine Aufführung, ein theatrales Ereignis aufgrund eines (re-) aktualisierten Wahrnehmungsdispositivs für Schauspiel und Theater anders erleben zu lassen als gewohnt. Die dem Schauspielen immanente Intensität des Lebens und des Sterbens kann deutlicher in den Vordergrund treten, weil die sich auf der Bühne in Krisensituationen befindenden Schauspieler_innen ihre vergänglichen Körper und mit ihnen ihre Leiber aufs Spiel setzen. Gleich welcher Schauspielpraxis sie sich verschrieben haben, ob sie den Tod tanzen lassen oder das Sterben thematisieren, ihre Intensitäten sind im Moment der Aufführung allgegenwärtig. Und in dem selben Moment ist der gegenwärtige Prozess des Sterbens auch schon wieder vorbei. Mit dem Verweis auf andere Welten sowie mit der Gegenwärtigkeit des Vergangenen und des Zukünftigen fällt im Schauspielen das Ephemere und das Leibhaftige des (Theater-) Lebens in eins.
Literatur 301
Literatur
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Literatur 323
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Exzerpte, Notizen und Aufzeichnungen zu den in den Fußnoten dieser Publikation angegebenen Archivmaterialien sowie die Gedächtnisprotokolle d. A. befinden sich im Privatarchiv d. A.
324 Literatur
Film, Video, Audio
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Film, Video, Audio
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Carmelo Bene Carmelo Bene à propos de sa conception du théâtre par INA Institut National de l’Audiovisuel. Entretien vidéo entre Carmelo Bene et Laure Adler. Paris, Odéon – Théâtre de l’Europe 1996. (www.ina.fr/video/I10083358)
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Film, Video, Audio
Carmelo Bene legge Dante per l’anniversario della strage di Bologna. A cura di Rino Maenza. Il DVD contiene il filmato originale, tratto da riprese amatoriali realizzate da un gruppo di studenti del corso audiovisivi della Regione Emilia Romagna, della performance-evento del 31 luglio 1981 della Lectura Dantis di Carmelo Bene dalla Torre degli Asinelli di Bologna. Medianova 2007. 44 min. 1 DVD. Carmelo Bene otto interventi. Programma Sushi / Canale MTV – [nr. 2 / 9.4.‒21.4.]1999. (drive. google.com/drive/folders/0B_PM6kUDBW1gckVhd1JOeWRPMjQ) Carmelo Bene. Concerto per attore solo. Videosintesi delle prove del Macbeth secondo Carmelo Bene [1982] (2/2), un video di Ferruccio Marotti, a cura di Maurizio Grande, Sapienza – Università di Roma 1984. (CTA) Carmelo Bene. Le tecniche dell’assenza. Videosintesi delle prove del Macbeth secondo Carmelo Bene [1982] (1/2), un video di Ferruccio Marotti, a cura di Maurizio Grande, Sapienza – Università di Roma 1984. (CTA) Hamlet suite. Spettacolo-concerto di e con Carmelo Bene. Produzione a cura di M. Bavera; registrato al Teatro Morlacchi di Perugia il 25 novembre 1994, Nostra Signora S.r.l. Giungla Records. 46 min. 1 CD. Hommelette for Hamlet. Operetta inqualificabile da Jules Laforgue di e con Carmelo Bene 1987. Produzione Nostra Signora S. R.l. – Rai; trasmesso il 25/11/1990, Rai 3. 62 min. (CTA) Il principe cestinato (colloquio satirico-filosofico con Carmelo Bene) da Carlo Rafele, prodotto dalla Televisione Svizzera italiana per la rubrica »Ritratti«. Il filmato fu girato durante le prove dello spettacolo teatrale Un Amleto di meno. 1976. 26 min. (www.youtube.com/watch?v=wumygcRWHnE) In-vulnerabilità d’Achille (tra Sciro e Ilio) di Carmelo Bene. Produzione Nostra Signora S.r.l., Rai Radiotelevisione Italiana S.PA., Eye Division 1997. 51 min. 1 DVD. Incontro dibattito con Carmelo Bene e Eduardo de Filippo. Registrato al Teatro Ateneo, 29/05/1982. (CTA) Kult & Cult – Omaggio a Carmelo Bene. Luigi Mezzanotte e Umberto Cantone. Produzione Panastudio Production 2012. (CTA) Pinocchio di Carmelo Bene. Warner Music Italia 1981. luca sosella editore srl 2005. 2 CDs. Riccardo iii di Carmelo Bene 1977. Rai Radiotelevisione Italiana S.PA., Eye Division 1977. 76 min. Rai 2 trasmesso il 07/12/1981 e il 05/01/1984. 1 DVD. Teatro avanguardia. Rai Teche [1968]. (CTA) Un Amleto di meno. Un film di Carmelo Bene 1973. Donatello Cinematografica, Ministero del Turismo e dello Spettacolo. DVD General Video Recording 2014. 67 min. 1 DVD.
Jerzy Grotowski A film documentation of Action by deux temps/trois movement; production Atelier Cinéma de Normandie – A.C.C.A.A.N. and Centre Dramatique National de Normandie 2000. (Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards) Action in Aya Irini by a film team led by Jacques Vetter; production Atelier Cinéma de Normandie – A.C.C.A.A.N. Istanbul, July and August 2003. (Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards) Action in Vallicelle by a film team led by Jacques Vetter; production Tarmak. Pontedera, 2006. (Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards)
Film, Video, Audio
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Art as Vehicle. The first opus of the Workcenter in the domain of »Art as vehicle«, entitled Downstairs Action (1988 to 1992) by Mercedes Gregory, Pontedera, July 1989. (Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards) Inicjały J.G. (Engl. The initials J.G.), biographical documentary about Jerzy Gurawski; directed by Miroslawa Sikoraska; produced by TVP S.A. Katowice 1996. 29 min. (Archiwum Instytutu Grotowskiego) Jerzy Grotowski in Conversation with Margaret Croyden for Camera 3, directed and produced by Merill Brockway; filmed by Creative Arts Television 1969. 54 min. (Archiwum Instytutu Grotowskiego) Jerzy Grotowski. Interview by Margaret Croyden for Camera 3, directed and produced by Merrill Brockway; filmed by Camera Theatre 1973. 29 min. (Archiwum Instytutu Grotowskiego) Jerzy Grotowski, prōba portretu / esquisse d’un portrait. (Versuch eines Porträts) Reżyseria Maria Zmarz-Kocyanowicz. Produkcja TVP S.A./ARTE 1999. 58 min. (Archiwum Instytutu Grotowskiego) List z Opola. Reżyseria Michael Elster. Produkcja Państwowa Wyższa Szkoła Teatralna i Filmowa, 1963. (Abschlussprojekt an der Staatlichen Theater und Filmhochschule Lódz; Eng lischsprachige Adaptierung von 19-minütiger Dauer unter dem Titel Teatr Laboratorium (The Laboratory Theatre), produziert von Contemporary Films in UK 1964.) 28 min. (Archiwum Instytutu Grotowskiego) Próba, amatorski zapis filmowy z próby do przedstawienia Jerzego Grotowskiego Studium o Hamlecie; Autor praca zbiorowa, produkcja Akademicki Klub Filmowy Kręciołek Opole 1964. (Amateurfilm, aufgenommen bei den Proben zu Studium o Hamlecie von Jerzy Grotowski, Autor: kollektive Theaterarbeit; Kommentar von Jerzy Falkowski, Akademicki Klub Filmowy ›Kręciołek‹). 9 min. (Archiwum Instytutu Grotowskiego) Spotkanie z Flaszenem (Gespräch mit Flaszen) am Instytut im. Jerzego Grotowskiego 13.01.2013. Wrocław. (Archiwum Instytutu Grotowskiego, Audiomaterial) Training at the »Teatr Laboratorium« in Wroclaw: Plastic and Physical Training (1972) by Torgeir Wethal. Dänemark: Odin Teatret Film 1972. 91 min. (Videothek tfm)
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Bildnachweis 329
Bildnachweis
Cover: Zigotographie von Laurette Burgholzer, die eigens für die Autorin angefertigt wurde. © Laurette Burgholzer S. 19: Ariane Mnouchkine 1971 (Foto Gérard Taubman) © Gérard Taubman, Archives Théâtre du Soleil S. 23: Einlass ins Théâtre du Soleil, über dem Tor die Parole der Französischen Revolution (Foto gcp) © Privatarchiv d. A. S. 25: Mnouchkine beim Einlass zu Macbeth 2015. Sie reißt die Tickets persönlich ab. (Foto gcp) © Privatarchiv d. A. S. 34: Die Aufführungshalle des Théâtre du Soleil im Jahr 1970 (Foto Michel Maingois) © Michel Maingois, Archives Théâtre du Soleil S. 44: Carmelo Bene 1983 (Foto Vittorio La Verde) Carmelo Bene al trucco nel suo camerino, Roma, Teatro Quirino 1983 © MGMC / Vittorio La Verde S. 46: Carmelo Bene im Odéon in Paris 1996, Interview zu Macbeth horror suite (Still aus Carmelo Bene á propos de sa conception du théâtre) Quelle: Still aus Carmelo Bene á propos de sa conception du théâtre, entretien vidéo entre Carmelo Bene et Laure Adler, 1996; par INA Institut National de l‘Audiovisuel. S. 56: Eingang zu Carmelo Benes Teatro Laboratorio in Rom (Foto Giuliana Rossi) Quelle: Giuliana Rossi, I miei anni con Carmelo Bene, introduzione di Sylvano Bussotti, contributi di Anna Maria Papi, Luigia Mennonna Rossi, Titti Giuliani Foti. Firenze, Edizione della Meridiana 2005, S. 105 rechts oben. S. 60: Carmelo Bene in Pinocchio 1966 (Foto Claudio Abate) © Archivio Claudio Abate S. 69: Jerzy Grotowski 1968 (Foto Eugeniusz Wołoszczuk) © PAP / Eugeniusz Wołoszczuk S. 75: Jerzy Grotowski und Peter Brook 1975 (Foto Adam Hawałej) © PAP / Adam Hawałej S. 88: Action in der Johanneskirche, Kappadokien 2005 (Foto Frits Meyst)
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Pere Sais Martinez, Jørn Riegels Wimpel, Francesc Torrent Gironella, Thomas Richards, Marie De Clerck, Mario Biagini © Archive Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards / Frits Meyst S. 124: Rena Mirecka, eingewickelt in eine Decke, während der Proben zu Studium o Hamlecie (Still aus Próba) Quelle: Still aus Próba, amatorski zapis filmowy z próby do przedstawienia Jerzego Grotowskiego Studium o Hamlecie; Autor: praca zbiorowa. 1964. (Amateurfilm aufgenommen bei den Proben zu Studium o Hamlecie von Jerzy Grotowski, Autor: kollektive Theaterarbeit). S. 134: Mnouchkine im Foyer der ersten Halle des Théâtre du Soleil, kurz vor Beginn von Macbeth 2014 (Foto Michèle Laurent) Macbeth, Shakespeare, Inszenierung Ariane Mnouchkine, Théâtre du Soleil, Cartoucherie, 2014 © Michèle Laurent, Archives Théâtre du Soleil S. 144: Théâtre du Soleil, Henry iv 1984 (Foto Michèle Laurent) Henry iv, Shakespeare, Inszenierung Ariane Mnouchkine, Henri iv (John Arnold), sein Sohn Prinz Henry (Georges Bigot), Théâtre du Soleil, Cartoucherie, 1984 © Michèle Laurent, Archives Théâtre du Soleil S. 153: Bene-Amleto 1961, Teatro Laboratorio (Still aus Teatro avanguardia) Quelle: Still aus Dokumentationsfilm Teatro avanguardia; prod. Rai Teche [1968]. S. 156: Un Amleto di meno 1973 (Still aus dem gleichnamigen Film) Quelle: Still aus Carmelo Bene, Un Amleto di meno 1973; prod. Nostra Signora S.r.l. – Rai. S. 159: Hommelette for Hamlet 1987 (Still aus dem gleichnamigen Videoteatro) Quelle: Still aus Carmelo Bene, Hommelette for Hamlet 1987; prod. Nostra Signora S.r.l. – Rai. S. 162: Beata Ludovica Albertoni / Gertrude in Hommelette for Hamlet 1987 (Still aus dem gleichnamigen Videoteatro) Quelle: Still aus Carmelo Bene, Hommelette for Hamlet 1987; prod. Nostra Signora S.r.l. – Rai. S. 176: Carmelo Bene in Riccardo iii 1977 (Still aus dem gleichnamigen Videoteatro) Quelle: Still aus Carmelo Bene Riccardo iii 1977; prod. Rai. S. 178: Philipp Caubère in Molière 1978 (Still aus dem gleichnamigen Film) Quelle: Still aus Théâtre du Soleil, Molière ou la vie d’un honnête homme 1978; prod. Films 13 / Films du soleil et de la nuit / Antenne 2. S. 180: Szenenfoto aus Molière 1978 (Foto Michèle Laurent) Foto von den Dreharbeiten zum Film Molière 1978 des Théâtre du Soleil, die sich über zwei Jahre erstreckten (1976–1978). © Michèle Laurent, Archives Théâtre du Soleil S. 186: Bühne mit Torsi und Schaufensterpuppen von Carmelo Benes Pentesilea la macchina attoriale – Attorialità della macchina (Still aus dem Videoteatro In-vulnerabilitá d’Achille (tra Sciro e Ilio) 1997) Quelle: Still aus Carmelo Benes In-vulnerabilitá d’Achille (tra Sciro e Ilio), libera versione poetica di Carmelo Bene da Stazio, Kleist, Omero 1997; prod Nostra Signora S.r.l., Rai.
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S. 194: Mario Biagini (vorne) und Thomas Richards als Main Doer (hinten) in Action 1995 (Foto Alain Volut) © Archive Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards / Alain Volut S. 195: Maja Komorowska und Ryszard Cieślak in Książę Niezłomny (Der standhafte Prinz) 1965 Książę Niezłomny, Teatr Laboratorium 13 Rzędów, Text nach Pedro Calderón de la Bar ca und Juliusz Słowacki, Inszenierung und Regie Jerzy Grotowski, Bühne Jerzy Gurawski, Premiere Wrocław, 20. April 1965 (Vorpremiere), 25. April 1965 (Premiere) © Teatr Laboratorium / Archiwum Instytutu Grotowskiego S. 199: Alberto Greco und Carmelo Bene (am Kreuz) in Cristo 63 (Foto Claudio Abate) Cristo 63, Teatro Laboratorio, Rom 1963 © Archivio Claudio Abate S. 200: Théâtre du Soleil: George Bigot, John Arnold und Cyrille Bosc in Richard ii 1981 (Foto Michèle Laurent) Richard ii, Shakespeare, Inszenierung Ariane Mnouchkine, Théâtre du Soleil, Cartoucherie, 1981 © Michèle Laurent, Archives Théâtre du Soleil S. 214: Yanvalou-Schritt bei Action 2005 (Foto Frits Meyst) Marie De Clerck, Francesc Torrent Gironella, Mario Biagini, Jørn Riegels Wimpel, Pere Sais Martinez, Thomas Richards © Archive Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards / Frits Meyst S. 226 l: Dies Irae 2003, Aya Irini Istanbul, auf dem Tisch Gey Pin Ang (Foto Cem Ardik) Elisa Poggelli, Genevieve Meera Lavigne, Gey Pin Ang, Cécile Berthe, Pei Hwee Tan, Johanna Porkola © Archive Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards / Cem Ardik S. 226 r: Die Anatomie des Dr. Tulp, Rembrandt 1632 (Mauritshuis, Den Haag) Quelle: commons.wikimedia.org/wiki/File:Anatomie_Nicolaes_Tulp.jpg [31/03/2018] S. 239: Carmelo Bene in Macbeth 1983 (Still aus Concerto per attore solo) Quelle: Still aus Carmelo Bene Concerto per attore solo, 1983; prod. Università di Sapienza. S. 252: Mario Biagini in Action 1995, Vallicelle (Foto Alain Volut) © Archive Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards / Alain Volut S. 254: Pei Hwee Tan in Dies Irae 2003, Aya Irini Istanbul (Foto Cem Ardik) Pei Hwee Tan, Mario Biagini (liegend) © Archive Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards / Cem Ardik S. 255: Pei Hwee Tan und Francesc Torrent Gironella in The Letters 2008 (Foto Magda Złotowska) © Archive Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards / Magda Złotowska S. 259: Marie de Clerck in Action in der Johanneskirche, Kappadokien 2005 (Foto Frits Meyst) © Archive Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards / Frits Meyst S. 261: Die Grille in Pinocchio von Carmelo Bene 1982 (Foto Cristina Ghergo) © Archivio Ghergo / Cristina Ghergo S. 265: Pferd in Macbeth 2014 (Foto Michèle Laurent) Macbeth, Shakespeare, Inszenierung Ariane Mnouchkine, Théâtre du Soleil, Cartoucherie, 2014 © Michèle Laurent, Archives Théâtre du Soleil
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Thomas Richards in Action 1995, Vallicelle (Foto Alain Volut) © Archive Workcenter of Jerzy Grotowski and Thomas Richards / Alain Volut Ryszard Cieślak in Książę Niezłomny (Der standhafte Prinz) 1965 Książę Niezłomny, Teatr Laboratorium 13 Rzędów, Text nach Pedro Calderón de la Barca und Juliusz Słowacki, Inszenierung und Regie Jerzy Grotowski, Bühne Jerzy Gurawski, Premiere Wrocław, 20. April 1965 (Vorpremiere), 25. April 1965 (Premiere) © Teatr Laboratorium / Archiwum Instytutu Grotowskiego S. 272: Eine der drei Erinyen (vorne, am Boden liegend) in Les Eumenides 1992 (Foto Michèle Laurent) Catherine Schaub in Les Eumenides, Ayschylos, Inszenierung Ariane Mnouchkine, Théâtre du Soleil, Cartoucherie 1992 © Michèle Laurent, Archives Théâtre du Soleil S. 273: Der Fuchs und der Kater in Pinocchio von Carmelo Bene 1982 (Fotos Cristina Ghergo) © Archivio Ghergo / Cristina Ghergo S. 275: Chor in Les Eumenides 1992 (Foto Michèle Laurent) »Le Chœur des chiens« in Les Eumenides, Ayschylos, Inszenierung Ariane Mnouch kine, Théâtre du Soleil, Cartoucherie 1992 © Michèle Laurent, Archives Théâtre du Soleil S. 268: S. 269:
Die Bilder dienen hier zum eidetischen Nachweis von Argumenten, sie haben wissenschaftlichen Zweck und werden als wissenschaftliche Zitate aufgefasst. Die Bildrechte der verwendeten Abbildungen verbleiben bei ihren Eigentümer_innen.
DANK
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Dank
Das Forschungsprojekt, aus dem diese Publikation und die vorangestellte Habilitationsschrift hervorgehen, steht unter dem Stern von Elise Richter, geboren in Wien 1865, umgekommen in Theresienstadt 1943. Dieser Stern leuchtete zunächst pekuniär, denn mein Projekt war dankenswerterweise finanziert aus dem Topf des ihr zu Ehren benannten Förderprogramms des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung in Österreich (FWF). Es ist aber auch ein symbolisches Leuchten. Nachdem durch einen Ministerialerlass im Jahr 1896 Frauen die Ablegung der Matura (Reifeprüfung) ermöglicht wurde und sie ein Jahr später erstmals an der Universität Wien als ordentliche Hörerinnen zugelassen waren, immatrikulierten sich im ersten Semester drei Frauen. Eine von ihnen war Elise Richter. Sie ging schließlich als erste habilitierte Frau in die Geschichte der Universität Wien ein. Ihr tragischer Tod im KZ Theresienstadt ist Zeugnis der mörderischen NS-Diktatur. In diesem Sinne möchte ich mich bei allen bedanken, die für Frauen (nicht nur) an der Universität gekämpft haben. In Frankreich ist eine der herausragenden Persönlichkeiten mit Kampfgeist Hélène Cixous, die gemeinsam mit Kolleg_innen eine alternative Universität in Vincennes und später das Zentrum Études Féminines gründete. Sie reflektiert immer wieder auch ihre Schreibprozesse und fragt sich im Zuge dessen, wie unendlich viel Zeit sie braucht, bis sie als Autorin mit dem »eigentlichen Schreiben« beginnen kann. Aber sobald das endlich geschehe, gehe es schnell, sagt sie. Ähnliches gilt meines Erachtens für Forschungsprojekte jeglicher Art. Unvorstellbar viel Zeit steckt man in Vorarbeiten, Überlegungen, Diskussionen, Recherche und Lektüre, bis der Moment des Schreibens einsetzt, während Diskussionen, Recherche und Lektüre freilich fortgesetzt werden. Auf diesem (jahre-) langen Weg bin ich vielen Menschen begegnet, und einige haben mich kontinuierlich begleitet. Ihnen allen gilt mein Dank: Stefan Hulfeld, Gerda Baumbach und Peter R. Horn sowie Giulia und Riccardo Abate, Karin Ballauff, Franz Beraus, Maria Grazia
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Dank
Berlangeri, Jessica Bernardini, Mario Biagini, Laurette Burgholzer, Ferdinando di Camillo, Anke Charton, Lorenza Castellan, Bruno Chojak, Martina Cuba, Sylwia Fiałkiewicz, Judith Fuchs, Anton Fuxjäger, Thomas Gasser, Cristina Ghergo, Andrea Ghoneim, Barbara Gronau, Ulrike Hass, Beate Hochholdinger-Reiterer, Sabine Hogl, Zbigniew Jędrychowski, Agnieszka Kazimierska, Reinhard Kraxner, Friedemann Kreuder, Johannes A. Löcker-Herschkowitz, Brigitte Marschall, David Murobi (†), Guido di Palma, Tobiasz Papuczys, Frank Pendino, Birgit Peter, Sara Tiefenbacher, Christian Wagner, Małgorzata Welo, Susanne Woytacek, Marzena Zapaśnik, Barbara Zimmermann und meiner gesamten Familie.