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German Pages 11 [12] Year 1874
einer Prüfungsordnung für -re Aspiranten des
Gymnasial- und Realschul-Lehramts
mit Motive».
Als Manuskript gedruckt.
Gießen 1873.
Entwurf. 1. Die Prüfung ist verschieden nach den Aspiranten.
Hauptfächern der
Als Hauptfächer gelten :
1. classische Philologie,
2. neuere Philologie,
3. Geschichte und Deutsch, 4. Mathematik, 5. Physik oder Chemie, 6. Beschreibende
Naturwissenschaften
(Zoologie,
Botanik,
Mineralogie).
2.
Bei der Meldung hat der Aspirant eine von ihm angefer tigte wissenschaftliche Abhandlung über ein
auS dem Gebiete
seines Hauptfachs gewähltes Thema einzureichen.
3. Nachdem diese Arbeit nach Inhalt und Form für genügend erachtet worden ist, hat der Examinator deS Hauptfachs, oder
bei den Hauptabtheilungen 3, 5, 6 derjenige Examinator, der
die wissenschaftliche Abhandlung censirt hat, gemäß dem aus dieser Abhandlung, aus Seminar-Arbeiten oder sonstigen Leistun gen gewonnenen Urtheil zu bestimmen, ob und welche Clausur-
Arbeiten auS dem Gebiete des Hauptfachs noch von dem Aspi
ranten zu fertigen sind.
4
4. Die mündliche Prüfung erstreckt sich auf das Hauptfach und
— soweit dieß im Folgenden nicht anders bestimmt ist —
auf
mindestens zwei mit demselben verbundene
Als
Nebenfächer.
Nebenfächer gelten :
1. für classische Philologie: Philosophie, Geschichte, Deutsch, Sanskrit; 2. für neuere Philologie : Philosophie, classische Sprachen,
Geschichte, Deutsch; 3. für Geschichte und Deutsch : Philosophie, classische Spra chen, neuere Sprachen.
Bon den hier genannten Neben
fächern ist der Aspirant nur eines zu wählen verpflichtet; 4. für Mathematik : Physik (welches Fach obligatorisch ist), Chemie, Mineralogie, Botanik, Zoologie;
5. für Physik oder Chemie : a) für Physik sind obligatorische Nebenfächer : Mathe
matik und Chemie; b) für Chemie
außerdem
ist Physik
sind
obligatorisches
Nebenfächer
:
Nebenfach;
Zoologie,
Botanik,
Mineralogie; 6. für beschreibende Naturwissenschaften werden keine Neben
fächer verlangt.
5. Es steht dem Aspiranten frei, sich auch in solchen nicht nothwendig mit dem Hauptfach verbundenen wissenschaftlichen
Fächern, die Gegenstand des Unterrichts an Gymnasien und Realschulen sind, z. B. im Hebräischen, prüfen zu lassen.
6. Für
die mündliche Prüfung im Hauptfach sowie in den
obligatorischen fteigestellt.
’/< Stunden.
Nebenfächern ist dem
Bei
dem
Hauptfach
Examinator IV, Stunde
6 prüft jeder
Examinator
5 Ist das Hauptfach durch zwei Examinatoren vertreten, so werden Jedem derselben P/2 Stunde freigestellt, nach Bedürfniß
an verschiedenen Tagen.
Für die Prüfung in einem der Wahl des Aspiranten über lassenen Nebenfach hat der Examinator 7a Stunde zu beanspru
chen.
Für die Prüfung in den classischen und den neueren
Sprachen, sowie im Deutschen sind dem Examinator V/2 Stunde freigestellt.
Jeder Examinator kann, sobald er von der Tüchtigkeit der
Kenntnisse des Aspiranten Einsicht gewonnen hat, auch in kürzerer
Zeit seine Prüfung abschließen. 7. Wenn der Aspirant in dem Hauptfach und den beiden Neben fächern die Prüfung bestanden hat, so erhält er ein Zeugniß,
welches seine Leistungen beurtheilt, und in welchem ihm für die
einzelnen Fächer, in denen er die Prüfung bestanden hat, die Lehrfähigkeit für die oberen Classen (Prima und Secunda) oder
für die unteren Classen (Tertia und abwärts) zuerkannt wird.
8. Meldungen zur Prüfung werden im Laufe des Winter- und Sommersemesters angenommen und haben, wenn die Einreichung
der wissenschaftlichen Abhandlung bis zum 1. Februar und 1. Juli
erfolgt ist, Anspruch auf Erledigung in demselben Semester.
Der von elf Mitgliedern
der Prüfungs-Commission
am
3. August 1873 eingereichte Entwurf ist von Großherzoglichem
Ministerium der Prüfungs-Commission zur Aeußerung vorgelegt worden, damit die Meinungen der übrigen Mitglieder bekannt würden.
6 Die Vota der beiden dissentirenden Mitglieder behaupten zunächst, auf das
für Preußen 1867
von dem Ministerium
Mähler erlassene Prüfungsreglement sich zu stützen, indem sie die allgemeine, philosophische, pädagogische Ausbil
dung der Aspiranten empfehlen, und vor dem Eintreten in die Fachprüfungen pro facultate docendi die Ablegung eines Examen philosophicum in
Logik,
Psychologie, Pädagogik, Geschichte
der Philosophie und der Pädagogik, Religion nebst Dogmenge schichte und Dogmatik,
Geschichte und Geographie, deutscher
Grammatik für nothwendig erklären.
Das preußische Reglement enthält allerdings den sehr un bestimmten und deßhalb dehnbaren Begriff der allgemeinen
Bildung, ist aber weit entfernt, den Nachweis der allgemeinen
Bildung in einem von den Fachprüfungen des Candidaten abzu sondernden Examen zu fordern.
Die beiden dissentirenden Bota,
indem sie die Philosophie als die Grundlage aller andern Wissen schaften, als integrirenden Bestandtheil derselben, gewissermaßen
als die Platonische Idee aller Wissenschaften bezeichnen, und
das Borexamen in den
philosophischen Disciplinen als eine
Nothwendigkeit für alle Lehramtsaspiranten hinstellen, sind nicht
in Einstimmung mit dem preußischen Reglement, welches, ohne derartige Hypothesen zu machen, §. 28 von allen Candidaten Kenntniß der wichtigsten logischen Gesetze, der Hauptthat
sachen aus der empirischen Psychologie, einer wichtigeren philosophischen Schrift, einige Kenntniß der Geschichte
der
Philosophie,eine allgemeine Kenntniß derGeschichte ber neuem
Pädagogik verlangt,ausdrücklich aber etwas gesteigerteAnfordernngen nur an diejenigen stellt, welche in der philosophischen Propädeutik
unterrichten wollen. Auch die Bemerkung deS Reglement §. 24:
„Ob die bei jedem Schulamtscandidaten erforderliche all
gemeine Bildung in der deutschen Sprache bei denen, die darin nicht unterrichten wollen, vorhanden ist, hat die
Commission hinreichende Gelegenheit bei den übrigen Theilen
der schriftlichen und mündlichen Prüfung zu erkennen; wes
halb eine besondere Prüfung in dieser Hinsicht nicht stattfindet"
7 wird von den dissentirenden Boten ignorirt und dahin abgeändert,
daß eine derartige Prüfung ohne Ausnahme stattfinden solle. Zur Abweisung des von den übrigen elf Mitgliedern unter
zeichneten
Entwurfs empfehlen die beiden Vota das unfaßbare
Studium des „Allgemeinen" als Hülfe für das „Besondere", sie preisen die Philosophie
als
„integrirendes
Element
aller
Wissenschaften, als den Stolz des deutschen Volkes." — Welche Philosophie? Plato, Aristoteles und die Scholastiker; Descartes,
Spinoza, Leibnitz; Locke, Hume, Kant; Fichte, Schelling, Hegel; Herbart, Krause; Schopenhauer, Hartmann — wer mag die Meinungen der verschiedenen Philosophen in ein System und in ein Compendium vereinen und daraus diejenige Philosophie con-
struiren, welche der Examinand wissen soll? Aus dem Nachdenken sind die Wissenschaften geboren, die Töchter der Philosophie.
Aber die Mutter hat von je des wesentlichen Merkmals einer Wissenschaft entbehrt, nämlich einer Summe anerkannter Wahr
heiten, richtiger Sätze.
Die academischen Lehrstühle der Philoso
phie sind denen Vorbehalten, welche die Versuche, Wissenschaften aus einzelnen Erkenntnissen zu gründen, historisch und kritisch
zu entwickeln,
lichtvoll
und anregend darzustellen vermögen.
Aber die „allgemeine Logik" ist inhaltsleer, jede Wissenschaft hat
ihre Logik; die Metaphysik ist zum Nebelgebilde geworden gegen über der mechanischen Naturforschung, der Physik, Chemie, Phy
siologie ; die Psychologie kann nur noch auf den Beistand der Physiologie hoffen; Ethik
und Aesthetik können nur auf dem
Boden-des Thatsächlichen gedeihen;
die
Grammatik und die
Mathematik haben niemals von Seiten der Philosophie fördernde Hülfe erhalten.
Daher das Urcheil des Entwurfs, daß das
Examen in der Philosophie und ihren einzelnen Disciplinen nicht obligatorisch sein solle. In necessariis unitas, in dubiia libertas I
Die beiden Vota betonen ganz besonders die Kenntniß der Pädagogik.
Alle wissen aus eigner Iugenderfahrung, daß die
tüchtigen Lehrer, welche wir zu finden das Glück hatten, vor Allem das Fach, das sie lehrten, auch wirklich studirt hatten,
daß ihr mannhafter Character der Grund erfolgreichen Unterrichts,
8 geordneten Fleißes und Betragens war.-
Je geringer der Inhalt
des Unterrichts, desto leichter lassen sich Regeln zur Ertheilung desselben geben und befolgen.
Je weiter aber der Unterricht
fortschreitet, desto weniger helfen dem Lehrer allgemeine metho
Man denke nur daran, was es heißt, Naturge
dische Regeln.
schichte in den Unterlassen lehren, Geometrie und Algebra in den Mittelllassen, Geschichte, Physik in Prima, Lesung eines Schriftstellers in den Oberklassen.
Wie mag ein Professor der
Philosophie, der nicht Philolog, Historiker, Mathematiker, Physiker, Chemiker u. s. w. ist, in seinen pädagogischen Vorlesungen fest
stellen, in welcher Weise der Unterricht in den einzelnen Wissen
Die schönen Versicherungen über die
schaften zu ertheilen ist?
Fortschritte neuester Pädagogik auf dem Gebiete deS höheren Unterrichtswesens finden bei den Kennern des Lehramts wenig
Für einen jungen Mann, der sein Fach fleißig studirt
Glauben.
hat und zu lehren beginnt, ist ein verständiger Director oder
College, der ihn beobachtet und auf die gemachten Fehler auf
merksam macht, weit förderlicher als eine Mitgift allgemeiner Regeln, die wegen ihrer Allgemeinheit wenig Anhalt darbieten und groben Mißbrauch nicht ausschließen.
Der Entwurf geht
daher von der Ansicht auS, daß für den künftigen Lehrer der Besuch pädagogischer wie allgemein philosophischer Vorlesungen empfohlen, aber nicht durch Einrichtung eines besonderen Examen
erzwungen werden soll. Maßgebend in der Prüfungsfrage ist der große Unterschied
zwischen den Gymnasialstudien und den Universitätsstudien, den der Wortlaut keineswegs anzeigt.
Die Ghmnasialstudien sind
universal, sie erstrecken sich auf die Elemente aller gelehrten Bildung : das Maturitätszeugniß befähigt einen jungen Mann, in jedes wissenschaftliche Specialstudium einzutreten.
Auf dem
Gymnasium herrscht der Studienzwang; eö wäre verkehrt
den Gymnasiasten die Wahl zu lassen unter den dargebotenen Disciplinen; Alle müssen alles lernen, was gelehrt wird. gegen
sind
(special)
bei
die
Universitätsstudien
erklärter
wesentlich
Studienfreiheit.
Da
Fachstudien Die Universität
9 bietet alles, was Wissenschaft ist oder Wissenschaft werden kann :
aber der einzelne Student soll von dem Dargebotenen dasjenige wählen und ergreifen, wozu ihn Beruf und Neigung treiben.
Demgemäß geht der Entwurf von der Ansicht aus, daß die Uni versitätsexamina Fachprüfungen sein müssen, wie auch in
der That die bei der theologischen, juristischen, medicinischen Facultät üblichen Examina Fachprüfungen sind.
Durch Bestehen
des Examen will der Candidat die facultas docendi für bestimmte Lehrfächer erhalten; in diesen Fächern soll derselbe gründlich geprüft werden, in andern-Fächern soll er nicht mehr einer oberflächlichern, sondern keiner Prüfung unterworfen werden.
Unsere bisherige Prüfungsordnung hatte den großen Fehler,
den abgeschafften Studienzwang durch den entsprechenden Examen zwang wiederherzustellen; unter unsern Studenten herrscht die
Meinung, daß sie das Examen nicht wohl bestehen können, ohne eine gewisse Reihe Vorlesungen bestimmter Examinatoren gehört
zu haben. Die Philologen klagen, daß sie zufolge der Prüfungs ordnung in eine Menge Vorlesungen über Philosophie und Pä
dagogik, Deutsch, Hebräisch und Sanskrit, sowie in Privatstudien über Mathematik hineingettieben, und von rechtzeitiger vertiefter
Beschäftigung mit
den Alterthumsstudien
abgehalten
werde«.
Lauter noch beklagen sich die Studenten der Naturwissenschaften
und der Mathemattk, daß die aufgedrungenen Studien des Latei
nischen, Deutschen, der Geschichte, der Philosophie und Pädagogik ihnen nicht Zeit lassen, sich gründlich in ihre Berufsfächer zu
vertiefen.
Die Berechtigung dieser Klagen und die Nothwendig
keit einer baldigen Abänderung der
Prüfungsordnung ist nicht
nur schon seit längerer Zeit von den Directoren der betreffenden
Seminarien, sondern auch von der Prüfungs-Commission in ihrem Bericht vom 10. Juni 1873 einstimmig anerkannt worden. Der vorgelegte Entwurf, indem er sich aus die Ansicht gründet,
daß die Prüfung der Candidaten des höheren Lehramts wesentlich
eine Fachprüfung sein solle, ist weit entfernt, die Universitäts
studien auf einzelne Fächer beschränken zu wollen.
Wir freuen
uns, wenn wir Juristen, Theologen, Philologen, Mathematiker **
10 gelegentlich an zoologischer, botanischer, mineralogischer, physiolo gischer Detailforschung sich betheiligen sehn, wenn sie den Gang
philosophischer Speculation bis in seine feinern Windungen mit Hingebung verfolgen. Aber wir mißbilligen einen -gesetzlich orga-
nisirten Prüfungszwang, der ursprünglich wider banausische Be schränkung und gedankenlose Einseitigkeit fauler und engherziger Studenten gerichtet, um so treffender und empfindlicher gegen
die rechtschaffenen und gewissenhaften Studenten sich kehrt, welche durch die Vielheit ungleichartiger Examenforderungen verhindert werden, in ihre wesentlichen Studien sich zu vertiefen.
Wenn
das philosophische Examen für die Lehramtscandidaten eine Noth
wendigkeit wäre, wie käme man dazu, den Theologen, den Juri sten, den Medicinern die gleiche Wohlthat vorzuenthalten?
Der
Entwurf ist nach wiederholten Ueberlegungen seiner
Verfasser noch einen Schritt weiter gegangen, indem er den in
dem preußischen Reglement von 1867 geforderten Aufsatz über ein philosophisches oder pädagogisches Thema, welchen die bei uns geltende Prüfungsordnung nicht kennt und welchen das frühere
preußische Reglement nicht unbedingt fordert, übergangen hat.
Der Entwurf verlangt wie in Preußen eine nach Form und
Inhalt genügende wissenschaftliche Abhandlung des Examinanden über ein Thema
aus
dem Bereich seiner Fachstudien.
Wir
wollten den Candidaten nicht veranlassen, über ein außerhalb seiner speciellen Studien gelegenes Thema eine mehr auf zierliche Form als auf exacte Forschung zielende deutsche Arbeit anzu
fertigen.
Der Spruch „Non omnia possumus omnes“ gilt
allerdings nicht für Gymnasiasten : ein Primaner muß deutsch (und lateinisch) über
alle mögliche Themata schreiben können.
Der Student wie der Gelehrte soll dies nicht thun, er soll von einem mit dem Schild allgemeiner Bildung sich deckenden Dilet
tantismus fern bleiben, und nur über Dinge die Feder ergreifen, die er reiflich studirt hat.
Eine Reform unserer Prüfungsordnung war schon vor der
DresdnerConferenz von vielenMitgliedern derPrüfungS-Commission für nöthig erachtet und in Ueberlegung genommen worden. Da zu
11 der durch die Dresdner Conferenz erstrebten Einigung der deutschen Staaten auf dem Gebiet des höhern Schulwesens die vollständige
Annahme aller Bestimmungen des preußischen Reglements nicht unbedingt vorausgesetzt wird, so hat der ausgearbeitete Entwurf
das unbestritten Gute, welches das Reglement auszeichnet, aus genommen und nur einiges ausgeschieden, was bei strenger Praxis,
wie sie bei unsern vor einer Corona von Zuhörern öffentlich
gehaltenen Prüfungen herrscht, auf das
academische Studium
zersplitternd und verflachend wirkt, und bei milderer Ausführung
— wie sie bei Nicht-Absonderung
eines Vorexamens und auf
größern Universitäten mit größerer Auswahl der Examinatoren leichter sich einstellt — erträglich, im Ganzen aber entbehrlich
schien.
Wir fürchten nicht, daß die Anforderungen der vorge-
geschlagenen Prüfungsordnung weniger streng und weniger zweck mäßig erscheinen, als die des preußischen Reglements.
Daß von
vielen preußischen und nichtpreußischen Universitätslehrern das preußische Reglement in manchen Stücken der bessernden Verein
fachung bedürftig erachtet wird, darüber liegen bestimmte Aeuße
rungen aus Berlin, Breslau, Marburg, Wiirzburg vor.
Wir
geben uns daher der Hoffnung hin, daß die Principien unsres
Entwurfs
auch in weitern Kreisen richtig befunden, den Aus
gangspunct zu einer einheitlichen Reform des Prüfungswesens
im gesammten deutschen Vaterland bilden werden.
Druck von Wilhelm Keller in Gießen.