Entwicklungslinien der Sozialgeographie: Von Hans Bobek bis Benno Werlen 9783515113939, 3515113932

Peter Weichhart stellt anhand zahlreicher Beispiele aus der Forschung die verschiedenen sozialgeographischen Ansätze vor

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German Pages 465 [470] Year 2018

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur zweiten Auflage
Vorwort
1. Sozialgeographie zwischen Anspruch und Wirklichkeit – ein erster Befund
2. Die Begründung der Sozialgeographie durch Hans Bobek
3. Die „Wien-Münchener Schule der Sozialgeographie“
3.1. Die Bobek-Otremba-Kontroverse
3.2. Ein „Siegeszug ins Abseits“
4. Sozialgeographie – eine „Neuerfindung“ der Soziologie durch Geographen?
5. Raum, Räumlichkeit, die „drei Welten“ und der Zusammenhang zwischen Sinn und Materie
5.1. Raumexorzismus
5.2. „Räume“ – eine Bestandsaufnahme
6. Der Aufbruch der Sozialgeographie im englischen Sprachraum
7. Perspektiven und Entwicklungslinien der Sozialgeographie – eine erste Übersicht
8. Die klassische Sozialraumanalyse
9. Mikroanalytische Ansätze I: Wahrnehmungsgeographie
9.1. Grundkonzepte
9.1.1. Exkurs: Die drei Dimensionen von ego
9.1.2. Verhaltenswissenschaftliche Sozialgeographie
9.2. Modelle, Fragestellungen und Forschungsergebnisse
9.2.1. Vorläufer der Wahrnehmungsgeographie
9.2.2. Ein einfaches Modell der Umweltwahrnehmung
9.2.3. Mental Maps
9.2.4. Einige empirische Beispiele der Mental-Map-Forschung
9.3. Die „Verhaltensrelevanz“ raumbezogener Kognition
10. Mikroanalytische Ansätze II: handlungsorientierte Sozialgeographie
10.1 Grundkonzepte der handlungsorientierten Sozialgeographie
10.2. Handlungsorientierte Sozialgeographie: Stärken und offene Fragen
10.2.1. Die Strukturationstheorie von Anthony Giddens
10.2.2. „Symbolic Action Theory“ (SAT) von E. E. Boesch
10.2.3. Einige empirische Beispiele der handlungszentrierten Sozialgeographie
10.2.4. Raum – der sozial konstituierte und konstruierte Raum
10.2.5. Offene Fragen und Kritikpunkte
11. Der Poststrukturalismus und die „Neue Kulturgeographie“
11.1. Die Rezeption des Poststrukturalismus in der Geographie
11.2. Cultural Turns als Grundlage der „Neuen Kulturgeographie“
12. Sozialgeographie – quo vadis?
13. Sozialgeographie heute – eine Patchworkdisziplin?
14. Literaturverzeichnis
Verzeichnis der Abbildungen
Sachindex
Personenindex
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Entwicklungslinien der Sozialgeographie: Von Hans Bobek bis Benno Werlen
 9783515113939, 3515113932

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Peter Weichhart

2., vollständig überarbeitete und

Entwicklungslinien der Sozialgeographie

erweiterte Auflage

Von Hans Bobek bis Benno Werlen

Geographie

Sozialgeographie kompakt

Franz Steiner Verlag

Peter Weichhart Entwicklungslinien der Sozialgeographie

Sozialgeographie kompakt Herausgeber: Werner Gamerith Wissenschaftlicher Beirat: Ulrike Gerhard Julia Lossau Ute Wardenga Peter Weichhart Band 1 (Doppelband)

Peter Weichhart

Entwicklungslinien der Sozialgeographie Von Hans Bobek bis Benno Werlen

2., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-11393-9 (Print) ISBN 978-3-515-11394-6 (Ebook) Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2018 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany

Inhaltsverzeichnis

1. 2. 3. 3.1. 3.2. 4. 5. 5.1. 5.2. 6. 7. 8. 9. 9.1. 9.1.1. 9.1.2. 9.2. 9.2.1. 9.2.2. 9.2.3. 9.2.4. 9.3. 10. 10.1. 10.2. 10.2.1. 10.2.2.

Vorwort zur zweiten Auflage ...................................................... 7 Vorwort ................................................................................... 11 Sozialgeographie zwischen Anspruch und Wirklichkeit – ein erster Befund ..................................................................... 17 Die Begründung der Sozialgeographie durch Hans Bobek ............................................................................. 22 Die „Wien-Münchener Schule der Sozialgeographie“.............. 32 Die Bobek-Otremba-Kontroverse ............................................ 32 Ein „Siegeszug ins Abseits“ ...................................................... 40 Sozialgeographie – eine „Neuerfindung“ der Soziologie durch Geographen? ................................................................. 59 Raum, Räumlichkeit, die „drei Welten“ und der Zusammenhang zwischen Sinn und Materie ............................ 65 Raumexorzismus ..................................................................... 70 „Räume“ – eine Bestandsaufnahme ......................................... 79 Der Aufbruch der Sozialgeographie im englischen Sprachraum ............................................................................ 98 Perspektiven und Entwicklungslinien der Sozialgeographie – eine erste Übersicht .......................................... 111 Die klassische Sozialraumanalyse ............................................ 118 Mikroanalytische Ansätze I: Wahrnehmungsgeographie ........... 141 Grundkonzepte ..................................................................... 141 Exkurs: Die drei Dimensionen von ego ................................141 Verhaltenswissenschaftliche Sozialgeographie .......................... 144 Modelle, Fragestellungen und Forschungsergebnisse ............... 158 Vorläufer der Wahrnehmungsgeographie ................................ 158 Ein einfaches Modell der Umweltwahrnehmung ................... 166 Mental Maps ......................................................................... 174 Einige empirische Beispiele der Mental-Map-Forschung ....... 187 Die „Verhaltensrelevanz“ raumbezogener Kognition .............. 216 Mikroanalytische Ansätze II: handlungsorientierte Sozialgeographie .................................................................... 244 Grundkonzepte der handlungsorientierten Sozialgeographie .................................................................... 246 Handlungsorientierte Sozialgeographie: Stärken und offene Fragen ................................................................. 271 Die Strukturationstheorie von Anthony Giddens .................... 277 „Symbolic Action Theory“ (SAT) von E. E. Boesch ............... 285

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INHALT

10.2.3. Einige empirische Beispiele der handlungszentrierten Sozialgeographie .................................................................... 302 10.2.4. Raum6S – der sozial konstituierte und konstruierte Raum ..... 323 10.2.5. Offene Fragen und Kritikpunkte ........................................... 338 11. Der Poststrukturalismus und die „Neue Kulturgeographie“ .... 345 11.1. Die Rezeption des Poststrukturalismus in der Geographie ...... 348 11.2. Cultural Turns als Grundlage der „Neuen Kulturgeographie“ .................................................... 362 12. Sozialgeographie – quo vadis? ................................................ 393 13. Sozialgeographie heute – eine Patchworkdisziplin? ................. 410 14. Literaturverzeichnis ................................................................ 427 Verzeichnis der Abbildungen .................................................. 443 Sachindex .............................................................................. 446 Personenindex ....................................................................... 462

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Vorwort zur zweiten Auflage Im Herbst des Jahres 2015, sieben Jahre nach dem Erscheinen dieses Lehrbuches, ist der Verlag mit dem Ersuchen an mich herangetreten, eine zweite Auflage des Bandes in Angriff zu nehmen. Der Text sei ein „Longseller“, der bereits mehrfach nachgedruckt werden musste. Ich war, offen gestanden, zunächst gar nicht besonders begeistert von dieser Idee. Die zentrale Metapher, welche die Argumentationsstruktur und den Aufbau des Buches bestimmt, das Konzept der „Entwicklungslinien“, lässt sich nämlich vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Situation der Sozialgeographie nur mehr bedingt vertreten (vergl. dazu das neue Kapitel 13). Das gesamte Fach wirkt derzeit auf mich eher zerfasert und reichlich chaotisch. Es ist in den letzten Jahren so etwas wie eine „Patchwork-Struktur“ mit zum Teil fließenden Übergängen, aber auch heftigen Verwerfungen zwischen den einzelnen Arbeitsrichtungen entstanden. Ich hatte im letzten Abschnitt der ersten Auflage ja schon vermutet, dass die Entwicklung in diese Richtung gehen würde. Von klar differenzierbaren „Entwicklungslinien“, die trennscharf voneinander abgegrenzt werden können und jeweils einen einigermaßen konsistenten Aufbau und eine innere Logik besitzen, kann gegenwärtig eigentlich keine Rede sein. Die Binnendifferenzierung der Disziplin wird immer detailreicher ausgearbeitet, die vielfältigen Vernetzungen mit benachbarten oder gar weit entfernten Forschungsansätzen werden immer unübersichtlicher. Die dabei entstandene geradezu rhizomartige Struktur lässt eine glaubhafte systematische Darstellung nach eigenständigen Arbeitsbereichen derzeit einfach nicht zu. Ich hatte dem Verlag und den Herausgebern der Reihe deshalb eine Art „Fortsetzungsroman“ vorgeschlagen. Die „Entwicklungslinien“ könnten mit einem ausführlichen Vorwort zu einer „durchgesehenen zweiten Auflage“ mit geringen Änderungen adaptiert werden. Und dann könnte man einen zweiten Band mit etwa 150 Seiten und dem Titel „Sozialgeographie heute – eine Patchwork-Disziplin“ ausarbeiten, der inhaltlich auf den „Entwicklungslinien“ aufbaut und in dem die neue Struktur der Präsentation begründet wird. Dabei dachte ich an einen Sammelband mit mehreren Autoren, die den Gesamtbereich der aktuellen Sozialgeographie natürlich besser abdecken könnten als ein Einzelner. Diese Idee wurde von den Entscheidungsträgern – nicht zuletzt aus finanziellen Überlegungen – zwar nicht völlig verworfen, aber doch in die weitere Zukunft verschoben. Deshalb haben wir uns auf einen Kompromiss geeinigt.

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VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Die nun ausgearbeitete zweite Auflage enthält eine Reihe von Änderungen und Ergänzungen sowie ein „Update“ durch neuere Literaturhinweise. Um diese Erweiterungen einfügen zu können, mussten allerdings einige Streichungen – vor allem in Abschnitt 9 – vorgenommen werden. Dieses Kapitel war in der ersten Auflage ohnehin etwas zu umfangreich geraten. Meine Motivation für die sehr ausführliche Darstellung des verhaltenswissenschaftlichen Paradigmas ist aber auch heute noch darin begründet, dass diese Entwicklungslinie in der Geographie des deutschen Sprachraumes nur in geringem Maße rezipiert worden ist und deutschsprachige Übersichtsdarstellungen fehlen. In einem neuen (letzten) Kapitel wird versucht, den gegenwärtigen Status der Sozialgeographie knapp zu skizzieren und aus der Sicht des Autors zu bewerten. Die erste Auflage dieses Lehrbuches wurde von der Scientific Community sehr wohlwollend aufgenommen. Aus vielen Rückmeldungen konnte ich die Vermutung ableiten, dass die Studierenden den Text überwiegend positiv bewerten. Sprache, Aufbau, Layout und die didaktische Aufbereitung des Stoffes sowie die verwendeten Graphiken werden von Studenten und Studentinnen ausdrücklich gelobt. Aber auch viele Fachkollegen scheinen den Band durchaus zu schätzen. Das lässt sich nicht nur aus den überwiegend durchaus positiven Besprechungen, sondern auch aus der Tatsache ableiten, dass das Buch in den letzten Jahren wesentlich häufiger zitiert wurde, als man das bei einem bloßen „Lehrbuch“ erwarten würde. (Der Band ist laut Google Scholar gegenwärtig die am zweithäufigsten zitierte Publikation des Autors.) Es hätte eine Reihe von Möglichkeiten gegeben, den Text der ersten Auflage stärker zu kürzen und zu straffen. Dafür hätten sich manche Redundanzen bei der Interpretation von Beispielartikeln oder die oft sehr ausführliche Darstellung der dort verwendeten Erhebungsmethodik angeboten. Ich habe derartige Kürzungsoptionen aber aus didaktischen Gründen nur sehr zurückhaltend wahrgenommen. Nach meiner Erfahrung sind solche Redundanzen für Studierende ein wichtiger Hinweis auf die Bedeutsamkeit von Aussagen und eine wirksame Lernhilfe. Ausführlichere Hinweise auf Erhebungs- und Analysemethodik erscheinen mir deshalb relevant, weil dieses Thema in unseren Curricula häufig isoliert und mit wenig Bezug zu konkreten Forschungsfragen behandelt wird und in der Sozialgeographie durchaus einige „exotisch“ erscheinende Methoden zum Einsatz kommen. Auch für die Neuauflage habe ich einer Reihe von Personen zu danken, die mich bei meiner Arbeit sehr tatkräftig unterstützt haben. Hier sind all jene Mitarbeiter des Steiner Verlages anzuführen, die mit der Produktion des Bandes zu tun hatten. An erster Stelle ist hier wieder Frau Susanne Henkel zu nennen, die unter großem Zeitdruck und wie immer hochprofessionell tätig war. Ute Wardenga hat mich dankenswerterweise in ihrer Funktion als „Patin“ für diese zweite Auflage beraten und unterstützt. Aus8

VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE

drücklich erwähnen möchte ich Frau Ursula Leitner und Frau Mag. Alexandra Gappmayr, die mir rasch und effizient bei Literaturrecherchen geholfen haben. Bei Herrn Mag. Walter Lang, MSc, bedanke ich mich für die Erstellung der Druckvorlagen neuer Abbildungen. Eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen waren bereit, das neue Kapitel 13 durchzusehen und kritisch zu kommentieren. Für diese wertvollen Hinweise danke ich folgenden Personen: Kirsten von Elverfeldt, Tim Freytag, Hans Gebhardt, Rainer Kazig, Caroline Kramer, Peter Meusburger, Malte Steinbrink und Benno Werlen, Schließlich möchte ich noch meiner lieben Frau Angelika danken, die (wie bei allen meinen Veröffentlichungen) als Lektorin tätig war. Peter Weichhart Deutsch-Hörschlag, Sommer 2017

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Vorwort Wie viele andere Druckwerke auch war dieser Band ursprünglich eigentlich gar nicht als konkretes Buchprojekt geplant. Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit Sozialgeographie und hielt zwischen 1988 und 1999 am Institut für Geographie und Angewandte Geoinformatik der Universität Salzburg regelmäßig eine Vorlesung zu diesem Thema. Nach meinem Wechsel an das Institut für Geographie und Regionalforschung der Universität Wien wurde mir dort die Aufgabe übertragen, eine dreistündige Lehrveranstaltung „Sozialgeographie“ abzuhalten, die im Curriculum des (damals gerade neu entwickelten) Wiener Studienplans am Ende des ersten Studienabschnittes positioniert war. Ich hatte diese Vorlesung im Verlaufe der Jahre immer wieder umgearbeitet, aktualisiert und mich bemüht, eine für die Studierenden anregende, verständliche und eingängige inhaltliche Struktur zu entwerfen. In den ersten Sitzungen des wissenschaftlichen Beirates der Reihe „Sozialgeographie kompakt“, bei denen verschiedene Grundsatzentscheidungen über die inhaltliche Ausrichtung des Projekts und seine fachliche Orientierung zu treffen waren, hatte ich mich vorwitzigerweise mehrfach mit der Bemerkung zu Wort gemeldet: „Also in meiner Sozialgeographie mache ich das so …“. Meine Kolleginnen und Kollegen wollten es schließlich genauer wissen und forderten ausführlichere Belegstellen ein. Nach deren Lektüre wurde ich ersucht, das Material dieser Vorlesung so aufzubereiten, dass daraus der erste Band dieser Reihe entstehen könne. Inhaltlich geht es bei diesem Band gleichsam darum, das „Missing Link“ zwischen dem Lehrbuch „Sozialgeographie“ von J. Maier et al. (1977) in der Westermann-Reihe und dem UTB-Lehrbuch von B. Werlen (2004, erste Auflage 2000) darzustellen und aufzuzeigen, wie die Entwicklung von der „klassischen“ Wien-Münchener Schule zur aktuellen handlungstheoretischen Sozialgeographie und anderen neueren Paradigmen des Faches verlaufen ist. „Sozialgeographie kompakt“ kennzeichnet dabei ein didaktisch orientiertes Programm, das vor allem die Studierenden ansprechen soll. „Kompakt“ bedeutet konkret den ausdrücklichen Mut zur Lücke, zur exemplarischen Pointierung, zur wissenschafts- und geistesgeschichtlichen Vereinfachung und zur Beschränkung der Darstellung auf einige besonders bedeutsame „Meilensteine“ der disziplinären Entwicklung. Auf allzu ausführliche Literaturverweise wurde ebenfalls verzichtet. Besonders wichtige Schlüsseltexte wurden dagegen eher detailliert behandelt. Um die editorischen Vorgaben zum Umfang des Bandes erfüllen zu können, musste das

VORWORT

Material der Lehrveranstaltung erheblich reduziert werden. Dennoch ließ sich das Projekt nur durch einen Doppelband dieser Reihe verwirklichen. Der Text entspricht gewiss nicht dem Standardideal deutschsprachiger Lehrbücher, die in der Regel als möglichst umfassende „Handbücher“ konzipiert sind. Er richtet sich nicht an den ohnehin bestens informierten Fachkollegen, sondern ausdrücklich an die Studierenden der Geographie auch im ersten Studienabschnitt. Es wird also nicht die Absicht verfolgt, ein möglichst vollständiges Kompendium sozialgeographischen Wissens vorzulegen und „das Lehrgebäude“ der Sozialgeographie zu präsentieren. Es steht nämlich ernsthaft zu befürchten, dass es ein solches monolithisches Lehrgebäude gar nicht gibt. Es ist dem Autor vielmehr ein Anliegen, die multiparadigmatische Struktur der Sozialgeographie (und auch des Gesamtfaches Geographie) ausdrücklich zu betonen und den Lesern die „komplementaritätsidealistische“ Vorstellung (vgl. P. Weichhart, 2001 a, S. 195/196) nahe zu bringen, dass gerade für unser Fach ein reflektierter Erkenntnispluralismus von größtem Nutzen sein muss. Allerdings kann dieser primär didaktisch motivierte Stil des Textes nicht bis zum Ende durchgehalten werden. Aus Gründen, die am Beginn von Kapitel 10 dargelegt werden, wird sich der Duktus der Darstellung in den letzten drei Abschnitten ändern. Denn ab Kapitel 10 möchte der Autor durchaus in den aktuellen Diskurs an der „Forschungsfront“ eingreifen und eigene Vorschläge zur Weiterentwicklung der Sozialgeographie einbringen. Die Humangeographie hat relativ spät damit begonnen, sich ernsthaft mit Fragen auseinander zu setzen, die sich mit der Gesellschaft und mit sozialen Systemen befassen. Die Sozialgeographie ist die jüngste Teildisziplin der Humangeographie. Sie hat sich erst in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts etabliert. Seit der Begründung als eigenständige Teildisziplin wird von ihren VertreterInnen1 behauptet, dass die Sozialgeographie eine ausdrückliche Sonderstellung einnimmt. Sie hätte eine besonders hohe Relevanz für das Gesamtfach, würde besonders ertragreiche Erklärungsmodelle bieten und sei im Stande, eine verbindende Klammer für die anderen Teildisziplinen der Humangeographie zu bieten. Die überragende Bedeutung der Sozialgeographie wird damit begründet, dass gesellschaftliche Phänomene und soziale Prozesse die eigentlich entscheidenden Bestimmungsfaktoren für die räumliche Differenzierung der physisch-materiellen Welt seien. Das, was man in der „klassischen“ Phase der Geographie als Kulturlandschaft be-

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In weiterer Folge wird von der Doppelverwendung weiblicher und männlicher Endungen aus rein sprachlichen Gründen Abstand genommen. Dies soll ausschließlich dem Lesefluss dienen. In jedem Falle sind selbstverständlich immer weibliche und männliche Formen gemeint.

VORWORT

zeichnet hat, könne primär durch soziale Kräfte erklärt werden. Die Gesellschaft sei der eigentliche Motor ihrer Entwicklung und Ausgestaltung. Worin besteht das Erkenntnisobjekt der Sozialgeographie? Wenn man die einschlägige methodologische Literatur sichtet, werden hier vor allem zwei Problemfelder angeführt. Die erste Hauptfragestellung wurde eben angesprochen. Sie lautet: Wie wirken sich gesellschaftliche Gegebenheiten auf die räumliche Struktur der materiellen Welt aus? Früher hat man das ein wenig anders formuliert: „Welche Auswirkungen haben soziale Systeme auf den Raum?“ Die zweite der in der Literatur angeführten Problemstellungen lässt sich vereinfachend so formulieren: „Wie sieht die räumliche Struktur der Gesellschaft aus?“ Soziale Systeme bestehen zwar, wie wir noch sehen werden, primär aus Kommunikation, sie beinhalten aber auch physisch-materielle Komponenten – unter anderen menschliche Körper. Deshalb haben sie immer auch eine räumliche Struktur und bedienen sich der Räumlichkeit der materiellen Welt. Durch diese spezifische Sichtweise kommt der Sozialgeographie eine besondere Stellung im Gefüge der Sozialwissenschaften zu. Welche Themen sollen im vorliegenden Text behandelt werden, was ist die Zielsetzung dieses Bandes? Auf eine Kurzformel gebracht: Es sollen einige der wichtigsten Entwicklungslinien und Konzeptionen der Sozialgeographie in knapper Form besprochen werden. Es geht dabei nicht um wissenschaftsgeschichtliche Details und Feinheiten. Der Autor möchte vielmehr die Meilensteine und die grundlegenden Eckpunkte der disziplinären Entwicklung ansprechen und den Lesern behilflich sein, die Leitlinien der geistesgeschichtlichen Zusammenhänge wahrzunehmen. Der entscheidende Punkt ist dabei aber nicht die geschichtliche Entwicklung – das ist nur das Ordnungsprinzip, nach dem wir vorgehen werden und das uns helfen soll, die Zusammenhänge zu verstehen. Primär geht es darum, den Lesern die wichtigsten Grundkonzepte, Ideen, Begriffe, Fragestellungen und Lösungsansätze der Sozialgeographie zur Kenntnis zu bringen. Besonders wichtig erscheint es dem Autor, die eben angesprochene besondere Position der Sozialgeographie im Gefüge der Sozialwissenschaften herauszuarbeiten. Des Weiteren möchte er die Leser für jene Perspektive sensibilisieren, die als Spezifikum unseres Faches anzusehen ist und ihm im Gesamtsystem der Sozialwissenschaften eine besondere „Nische“ verschafft: die Konzentration auf die Räumlichkeit sozialer Prozesse und Strukturen. Und schließlich ist es ihm ein besonderes Anliegen, den Lesern eine weitere Besonderheit der Humangeographie vor Augen zu führen, nämlich die Beschäftigung mit dem Problem des Zusammenhangs zwischen Sinn und Materie. Mehrfach werde ich mich im vorliegenden Text auf frühere eigene Veröffentlichungen beziehen. Ich hatte dabei keinerlei Hemmungen, auch längere Abschnitte daraus wörtlich oder nur geringfügig verändert zu über13

VORWORT

nehmen, wenn mir die Formulierungen und die jeweiligen Begründungszusammenhänge für den hier aktuellen didaktischen Zweck besonders geeignet erschienen. Über die Gewichtung der einzelnen Kapitel, ihren Umfang und deren Relationen zueinander kann man gewiss trefflich streiten. So haben einige der „Beta-Tester“ vorgeschlagen, die Darstellung der älteren Ansätze der Sozialgeographie zu straffen und dafür die letzten Abschnitte des Textes zu erweitern. Ich konnte diese Anregungen nicht im gewünschten Maße aufgreifen, weil die dafür erforderlichen Zeitresourcen einfach nicht zur Verfügung standen. Um neben der Kapitelgliederung eine zusätzliche inhaltliche Bedeutungsdifferenzierung im Text vornehmen zu können, wurden durch das Layout noch besondere Hervorhebungen und Kennzeichnungen zum Ausdruck gebracht. Besonders wichtige und für die Argumentation bedeutsame Schlüsselzitate sind mit einer umschließenden Klammer markiert.

Wichtige Aussagen, Folgerungen, Begriffsbestimmungen und Merksätze sind mit einer umschließenden Klammer markiert und zusätzlich grau unterlegt.

Für Zusammenfassungen, Zwischenresümees und abschließende Bewertungen werden Kästen mit grauer Hinterlegung verwendet.

Exkurse Exkurse stehen in grau hinterlegten Kästen.

Die Veröffentlichung des vorliegenden Textes konnte nur zu Stande kommen, weil das Projekt von vielen Personen aktiv unterstützt und gefördert wurde. Stellvertretend für alle anderen, möchte der Autor ganz besonders folgenden Personen und Organisationen danken: 14

VORWORT

– dem Franz Steiner Verlag, Stuttgart, und allen an der Produktion des Bandes beteiligten Mitarbeitern, vor allem Frau Susanne Henkel für die umsichtige verlegerische Projektleitung; – Werner Gamerith (Passau), dem Herausgeber, und den Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirates (Julia Lossau, Berlin, Wolf-Dietrich (Woody) Sahr, Curitiba, und Ute Wardenga, Leipzig) für die Aufnahme des Bandes in die Reihe „Sozialgeographie kompakt“ sowie für die sorgfältige Vorlektüre und die zahlreichen wertvollen Hinweise, Ergänzungsund Korrekturvorschläge; – Thomas Jekel, Wolfgang Maier (beide Salzburg), Karl Husa, Christian Vielhaber und Norbert Weixlbaumer (Wien) für ausführliche Kommentare und Gespräche; – den Studierenden in Salzburg und Wien, die meine Vorlesung „Sozialgeographie“ besuchten und mich durch ihre Fragen und Anmerkungen dazu angeregt haben, den Text immer wieder zu ändern und zu aktualisieren; – den studentischen „Beta-Testern“ Sandra Barthel, Roman Bauer und Elisabeth Gruber für zahlreiche wertvolle Hinweise, besonders zur didaktischen Aufbereitung des Stoffes; – meinen Studienassistenten Norbert Gelbmann, Gudrun Haindl, Bernhard Köhle, Christian Leupold, Gerfried Mandl und Martina SabinRamos für die Hilfe bei der Literaturbeschaffung und verschiedene Korrekturarbeiten; – Herrn Walter Lang für die Bearbeitung der Abbildungen; – Benno Werlen (Jena) für Hinweise auf neuere Arbeiten zur handlungstheoretischen Sozialgeographie und die Bereitstellung noch unveröffentlichter Manuskripte; – Heike Egner (Wien und Mainz), Marina Fischer-Kowalski (Wien), Anja Saretzky und Karlheinz Wöhler (Lüneburg) für überaus stimulierende Diskussionen und wertvolle Literaturhinweise; – meiner lieben Frau Angelika Weichhart für die Korrekturlesungen; – den Kollegen am Institut für Geographie und Regionalentwicklung in Wien für das angenehme und stimulierende Arbeitsklima; – Angelika, Barbara und Andreas für alles; – Bach, Mozart, Beethoven, Schubert, Verdi, Puccini, Strauss, Mahler, Stravinsky, Prokofjew, Bartok und die vielen anderen für die Musik, die mich beim Schreiben begleitet hat. Peter Weichhart Wien, Sommer 2007

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Sozialgeographie zwischen Anspruch und Wirklichkeit – ein erster Befund

Die Entwicklung der Sozialgeographie ist zweifellos eine etwas eigenartige Geschichte.Verglichen mit anderen Arbeitsfeldern oder Teildisziplinen unseres Faches, weist sie einen Verlauf auf, der durch Diskontinuitäten und Brüche und vor allem durch eine erhebliche Spannung zwischen Anspruch und Forschungspraxis gekennzeichnet ist. Um den heutigen Status der Sozialgeographie zu verstehen, müssen wir versuchen, die ein wenig komplizierte geistesgeschichtliche Entwicklung der Sozialgeographie vor allem im deutschen Sprachraum zumindest in ihren Grundzügen nachzuzeichnen. Sehen wir uns als Einstieg in das Thema eine dieser Diskontinuitäten gleichsam exemplarisch etwas genauer an. Versetzen wir uns dazu in die Situation Ende der 1950er-Jahre. In dieser Zeit erreichte die sogenannte „klassische Phase“ der Geographie den Höhepunkt ihrer Entwicklung. Es war die Geographie der Landschafts- und Länderkunde. Damals veröffentlichte der Wiener Geograph Hans Bobek (1957) einen Artikel in den Mitteilungen der Geographischen Gesellschaft Wien, der in der Folge immer wieder zitiert wurde und gleichsam den damaligen „Stand der Forschung“ darstellte. In diesem Artikel beschreibt Bobek das strukturelle disziplinäre Gefüge der Geographie und die innerfachliche Arbeitsteilung nach Teilfächern (Abb. 1). Unter den Teildisziplinen der Allgemeinen Humangeographie nimmt in diesem „logischen System“ die Sozialgeographie eine ausdrückliche Sonderstellung ein. Sie ist als übergreifende Klammer zwischen den Teilfächern konzipiert, sie hat eine hervorgehobene Position. Sie reicht sogar – als „vergleichende“ oder „synthetische Sozialgeographie“ – in den Bereich der Landschaftskunde hinein. Bobek begründet diese Sonderstellung damit, dass die sozialen oder gesellschaftlichen Kräfte den „eigentlichen Urgrund“ für alle anderen Geofaktoren wie Wirtschaft, Siedlungen oder Verkehr darstellen und daher auch als übergeordnete Erklärungsmomente aufgefasst werden müssten. Eine ähnliche Sonderstellung wird später übrigens auch der Landschaftsökologie zugeschrieben, worauf hier aber nicht näher eingegangen werden kann. Diese Auffassung von der besonders herausragenden Sonderstellung der Sozialgeographie zieht sich dann wie ein Leitmotiv durch die folgende methodologische Literatur. Ein ebenfalls sehr prominentes Beispiel ist ein Artikel von Harald Uhlig aus dem Jahr 1970, der in der Zeitschrift Geoforum erschien und in der Folge immer wieder zitiert wurde. (Der Artikel erschien in der gleichen Zeitschrift ein Jahr später sogar noch einmal in 17

Positionierung der Sozialgeographie nach Bobek und Uhlig

1. SOZIALGEOGRAPHIE ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT – EIN ERSTER BEFUND

Abbildung 1: Die Sonderstellung der Sozialgeographie im „logischen System“ der klassischen Geographie

L ä n d e r k u n d e L a n d s c h a f t s k u n d e

Politische Geographie

Wirtschaftsgeographie

Verkehrsgeographie

Siedlungsgeographie

Physische Anthropogeographie

Tiergeographie

Vegetationsgeographie

Bodengeographie

Hydrogeographie

Klimageographie

Geomorphologie

N a t u r

Bevölkerungsgeographie

Sozialgeographie

Landschaftsökologie

K u l t u r

Nach H. Bobek, 1957 Abbildung 2: „Organisationsplan“ der Geographie nach H. Uhlig

LÄNDERKUNDE Integrierte Landschaftsgeographie

Geo-Ökologie (= Landschaftsökologie)

Regionale Systeme

Kräftelehre der Sozialgeographie

Geofaktorenlehren der Physischen Geographie Anthropogeographie (= Allgemeine Geographie) Nachbarwissenschaften Nach H. Uhlig, 1970

englischer Sprache.) H. Uhlig, der Anfang der 1970er-Jahre als führender Methodologe im deutschen Sprachraum galt, entwickelte einen erheblich komplexeren „Organisationsplan“ der Geographie; in den zentralen Aussagen besteht aber große Ähnlichkeit zu den Vorstellungen von Bobek. In vereinfachter Form sieht dieser „Organisationsplan“ (Abb. 2) ebenfalls die für das „klassische“ Verständnis charakteristische Dreiteilung der Geographie in Allgemeine Geographie (Geofaktorenlehren), Landschaftskunde 18

1. SOZIALGEOGRAPHIE ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT – EIN ERSTER BEFUND

und Länderkunde vor. Im „Westermann Lexikon der Geographie“ (W. Tietze, Hrsg., 1968–1972) wird in den einschlägigen Artikeln, die überwiegend von H. Uhlig geschrieben wurden, eine vergleichbare Auffassung über diese Sonderstellung und Bedeutung der Sozialgeographie vertreten. Auch von den Vertretern der damals radikal neuen „raumwissenschaftlichen Geographie“, etwa von Dietrich Bartels (1968), wurde die Sozialgeographie ähnlich positioniert. Trotz aller grundlegender Diskrepanzen zwischen der klassischen Geographie eines Hans Bobek und Harald Uhlig und dem völlig andersartigen Geographieverständnis der revolutionären Neuerer war man sich in einem Punkt einig: Der Sozialgeographie kommt eine herausragende Sonderstellung zu. Bartels verwendet sogar die Bezeichnung „Wirtschafts- und Sozialgeographie“ als Synonym für die gesamte Humangeographie. Peter Sedlacek verweist in seinem Buch „Kultur-/Sozialgeographie“ aus dem Jahr 1982 darauf, dass der Begriff „Sozialgeographie“ im Laufe der Zeit immer mehr zur Bezeichnung der gesamten sozialwissenschaftlich orientierten Geographie des Menschen verwendet wird. Aus dieser Situation lässt sich zwingend eine klare Folgerung ableiten: Wenn die Sozialgeographie nach übereinstimmender Meinung der Fachgelehrten eine so besonders bedeutsame Stellung im organisatorischen Gefüge der Humangeographie aufweist, dann müsste man doch zwei Dinge erwarten können: 1.) Ein umfassendes und inhaltlich detailliert ausdifferenziertes „Lehrgebäude“ mit einem Fundus an bewährten Theorien und gesicherten Forschungsergebnissen und 2.) das Vorliegen einer ganzen Palette von Lehrbüchern, wie das etwa in der Wirtschaftsgeographie, der Stadtgeographie oder der Siedlungsgeographie der Fall ist. Wenn wir aber die Realität der deutschsprachigen Humangeographie betrachten, müssen wir erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass all dies nicht zutrifft. Obwohl die Sonderstellung und Bedeutung der Sozialgeographie schon in den 1950er-Jahren gleichsam beschworen wurde, erschien das erste Lehrbuch in deutscher Sprache erst etwa 20 Jahre später, nämlich 1977. Es sollten nochmals 15 Jahre vergehen, bis endlich die zweite Lehrbuchdarstellung mit dem Titel „Sozialgeographie“ veröffentlicht wurde. Das Buch von Dietrich Fliedner (1993) trägt allerdings bei genauerer Betrachtung seinen Titel zu Unrecht. Denn es handelt sich hier inhaltlich nicht um eine Sozialgeographie, sondern um eine ganz spezielle systemtheoretische Konzeption der Humangeographie. 1969 erschien in der Reihe „Wege der Forschung“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt ein Band mit dem Titel „Sozialgeographie“, herausgegeben von Werner Storkebaum. Auch hier sucht man vergebens nach einer konsistenten, theoretisch begründeten Hintergrundposition einer Sozialgeographie. Die zahlreichen empirischen Beiträge dieses Bandes würde man eher bei der klassischen Kulturlandschaftsforschung oder der Agrargeographie verorten. Und auch das erste Lehrbuch von Jörg 19

Fehlende Theoriegrundlage in der frühen Literatur

1. SOZIALGEOGRAPHIE ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT – EIN ERSTER BEFUND

Extrempositionen der Kritik

Maier und anderen aus dem Jahr 1977 bringt, wie wir noch besprechen werden, kein ausdifferenziertes, theoretisch begründetes Lehrgebäude, wie das etwa für die Geomorphologie oder die Stadtgeographie der damaligen Zeit durchaus zutraf. Wenn man all das, was im deutschen Sprachraum bis Anfang der 1980erJahre unter der Rubrik „Sozialgeographie“ publiziert wurde, genauer analysiert, fällt Folgendes auf: Sozialgeographische Arbeiten weisen eine doch etwas eigenartige Beschränkung auf periphere und marginale Sachverhalte und Themen auf. Die meisten Arbeiten beziehen sich auf ländliche Gebiete, auf agrarisch strukturierte Gesellschaftssegmente, sie befassen sich eher mit Randgruppen und gleichsam „exotischen“ Bevölkerungsteilen wie Hausierern, Hüterbuben, Freizeitlandwirten, Steinkohlebergmännern und Braunkohlearbeitern. Moderne städtische oder suburbane Lebensformen und aktuelle soziale Fragen blieben so gut wie ausgeblendet. Obwohl es eine grundsätzliche Übereinstimmung gab, dass die Sozialgeographie besonders wichtig und bedeutsam sei, wurde gerade die Sozialgeographie aus verschiedensten Richtungen immer wieder genauso grundsätzlich kritisiert und infrage gestellt. Man kann sich aus heutiger Sicht des Eindrucks nicht erwehren, dass viele Kritiker und Skeptiker dieses Fach als etwas gleichsam „Anrüchiges“ oder gar „Gefährliches“ angesehen haben. Dabei lassen sich folgende Extrempositionen der Kritik feststellen: Eine eher konservative Gruppe von Geographen meinte, dass die Sozialgeographie sich zu stark dem „Sozialen“ zuwenden würde. Das hätte mit Geographie „nichts mehr zu tun“, sei Grenzüberschreitung in Richtung Soziologie.Vor allem würde diese Hinwendung zu sozialen Fragen die Gefahr einer „Verpolitisierung“ des Faches mit sich bringen, die nicht mit der Wertfreiheit der Wissenschaften in Einklang gebracht werden könne (vgl. Kapitel 3.1). Ganz anders und völlig konträr sieht die Kritik einer eher progressiven Gruppe von Geographen aus. Gerhard Hard (1979, S. 32), bekannt und gefürchtet wegen seiner „spitzen Zunge“, formulierte es sehr pointiert: Die deutschsprachige Sozialgeographie sei die „gemütlichste Soziologie, die es je gab.“ Bei dieser Position lautet der zentrale Vorwurf: Die Sozialgeographie ließe sich viel zu wenig auf die sozialen Phänomene und Prozesse ein, man behandle soziale Probleme viel zu oberflächlich, setze sich nur mit Randphänomenen auseinander und verweigere sich der wirklichen Problematik sozialer Systeme. Nicht zuletzt beklagte diese Gruppe auch das mangelnde gesellschaftliche Engagement der Sozialgeographie. Das Fach müsse sich stärker mit der „sozialen Frage“ und aktuellen gesellschaftliche Problemlagen befassen, also etwa mit Armut oder Arbeitslosigkeit. Diese beiden Extremhaltungen wurden auch auf der Ebene methodischer Fragestellungen artikuliert. Der traditionell-konservative Standpunkt äußerte sich in der Auffassung, dass es kontraproduktiv, ja sogar gefährlich sei, auf Methoden, Konzepte und Theorien der Soziologie einzugehen. Denn 20

1. SOZIALGEOGRAPHIE ZWISCHEN ANSPRUCH UND WIRKLICHKEIT – EIN ERSTER BEFUND

hier verließe man die „landschaftliche Realität“ der Geographie und begebe sich auf ein Terrain, das die Methoden des eigenen Faches entwerte. Die eher progressiven und weltanschaulich manchmal eher „links“ stehenden Kritiker beklagten umgekehrt, dass die Rezeption sozialwissenschaftlicher Methoden und Konzepte völlig unzureichend sei. Die Sozialgeographie mache sich daher schlicht und einfach lächerlich, weil sie diese grundlegenden Standards der Sozialwissenschaften ignoriere. Wir werden im Verlaufe unserer Überlegungen sehen, dass diese beide Extrempositionen in der Beurteilung der Sozialgeographie in gewisser Weise auch heute noch wirksam sind. Aber gehen wir doch einmal zurück zum Beginn der Geschichte. Mit welchem Anspruch ist die Sozialgeographie eigentlich angetreten? Welche Probleme wollte man mit ihrer Hilfe lösen? Wie wurde damals ihr Erkenntnisobjekt formuliert?

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Die Begründung der Sozialgeographie durch Hans Bobek

Den Beginn einer eigenständigen Sozialgeographie im deutschsprachigen Raum kann man mit dem Bonner Geographentag von 1947 ansetzen. Bei dieser Tagung hielt der Wiener Hans Bobek einen Vortrag mit dem Titel „Stellung und Bedeutung der Sozialgeographie“, der bei den Zuhörern Aufsehen erregte. Der Vortrag erschien ein Jahr später in der Zeitschrift Erdkunde. Inhaltlich stellt er eine Art programmatische Grundlegung der Sozialgeographie als eigenständige Teildisziplin der Humangeographie dar. Bobek leitet seinen Artikel mit der Beobachtung ein, es sei doch ein wenig eigentümlich, dass der Begriff der „Gesellschaft“ in der deutschen Geographie eine sehr geringe Rolle spielte. Gesellschaftliche Phänomene würden einfach ignoriert. Soziale Gruppen etwa, wie sie bei der Untersuchung von Wirtschaft oder Siedlungen auffällig werden müssten, würden nicht näher betrachtet oder besonders untersucht. Eine zweite Beobachtung erschien ihm beachtenswert: Es sei doch eigenartig, dass sich die deutsche Geographie so wenig mit der Nachbardisziplin Soziologie auseinandersetze. Die Kollegen der englischen und französischen Geographie wären diesbezüglich viel aufgeschlossener. (Die Seitenangaben bei den folgenden Zitaten beziehen sich auf den Wiederabdruck der Texte im Band „Sozialgeographie“, herausgegeben 1969 von W. Storkebaum.) „Es ist eigentümlich, welch geringe Rolle der Begriff der ‚Gesellschaft‘ und alle die mit ihm verbundenen oder von ihm abgeleiteten Begriffe und Lehren in der deutschen Geographie bislang spielen.“ „Ernsthafte Versuche, eine Bresche und Brücke hinüber zur Gesellschaftswissenschaft, zur Soziologie zu schlagen, sind bisher kaum gemacht worden, trotzdem man sich hüben und drüben mit den Menschen und ihren Betätigungen befasst.“ H. Bobek, 1969 (1948), S. 44 „Der Weg [zur Sozialgeographie] führte über die landschaftskundliche Betrachtungsweise …“ H. Bobek, 1969 (1948), S. 47

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2. DIE BEGRÜNDUNG DER SOZIALGEOGRAPHIE DURCH HANS BOBEK

Wie bei der damaligen Grundorientierung der Geographie nicht anders zu erwarten, begründet Bobek die Sozialgeographie über die Landschaftskunde. Diese sei durch drei einander ergänzende Perspektiven gekennzeichnet: die typologisch-physiognomische, die funktionelle und die genetische. Alle drei seien notwendig, weil sie aufeinander aufbauen und sich ergänzen. Der entscheidende Aspekt für die Sozialgeographie sei aber die funktionelle Betrachtungsperspektive, wie sie (von Bobek selbst) in der Siedlungs- und Stadtgeographie entwickelt wurde. Diese funktionale Perspektive geht davon aus, dass bestimmte materielle Strukturen, wie Siedlungen oder Verkehrseinrichtungen, spezifische Aufgaben oder Funktionen für menschliche Nutzungen oder Bedürfnisse erfüllen. Städte haben etwa eine hochrangige Versorgungsfunktion für die Bevölkerung ihres Umlandes. Das zentrale Axiom für die Begründung der Sozialgeographie bei Bobek lautet nun: Jede Funktion bedarf eines Trägers. Damit sind die Akteure gemeint, welche die betreffende Funktion ausüben. Die eigentliche Kernthese besteht darin, dass Bobek diese Funktionsausübung nicht dem Einzelmenschen, sondern sozialen Aggregaten zuschreibt:

Begründung über die Landschaftskunde und die funktionale Betrachtungsperspektive

Kernthese: Funktionsträger sind soziale Aggregate

„Man erkennt allmählich, dass dieser Träger von Funktionen nicht ‚der Mensch‘ schlechthin ist, … sondern dass es sich dabei um menschliche Gruppen handelt, die sich im Raum betätigen.“ H. Bobek, 1969 (1948), S. 47 Unter „Gruppen“ versteht Bobek dabei Aggregate gleichartig handelnder Menschen, die aber nicht isoliert dastehen, sondern sich zu größeren Komplexen, den Gesellschaften, zusammenschließen. Für Bobek stellte sich nun die Frage, wie die Geographie mit diesem sozialen Erscheinungs- und Kräftefeld umgehen solle. Denn schließlich würde es von Spielregeln beherrscht, die der Geographie fremd seien und das Arbeitsfeld der Soziologie und anderer verwandter Wissenschaften darstellen. Seine Antwort lautet: Nicht anders, als dies etwa in der Physischen Geographie im Verhältnis zur Geologie, Meteorologie oder Botanik der Fall ist. Die Humangeographie solle eine Auswahl treffen, indem sie nur die landschaftsbildenden und länderkundlich belangreichen Aspekte sozialer Erscheinungen und „Kräftefelder“ herausgreift und alle anderen vernachlässigt. Dann formuliert Bobek eine Forderung, die aus heutiger Sicht sehr bedeutsam und konsequenzenreich ist. Er verlangt nämlich, dass sich die Geographie ernsthaft mit den systematischen Sozialwissenschaften auseinandersetzen müsse. Seine Begründung lautet folgendermaßen:

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Bobeks Forderung nach Auseinandersetzung mit den systematischen Sozialwissenschaften

2. DIE BEGRÜNDUNG DER SOZIALGEOGRAPHIE DURCH HANS BOBEK

„Um freilich die Untersuchung der Wirk- und Seinszusammenhänge im geographischen Raum mit einiger Aussicht auf Erfolg durchführen zu können, bedarf die Geographie eines genügend vertieften Einblicks in das Wesen der betreffenden Erscheinungen. Diesen Einblick können ihr nur die zuständigen systematischen Wissenschaften vermitteln …“ „Ihre Wesenskenntnis von den sozialen Erscheinungen muss die Geographie daher aus den systematischen Sozialwissenschaften holen, wenn anders sie auf diesem Gebiet nicht in einem unerfreulichen Dilettantismus stecken bleiben will.“ H. Bobek, 1969 (1948), S. 47 und S. 49 (Hervorhebung P. W.)

Nur Gesellschaften und Gruppen sind sozialgeographisch relevant

Konsequenterweise müsse daher auch den Sozialwissenschaften als Hilfe stellende Nachbardisziplinen eine „viel bedeutsamere Stellung angewiesen werden, als ihnen bisher gewöhnlich eingeräumt wird“ (ebd., S. 49). Diese Argumentation ist sehr wichtig und für die weitere und auch gegenwärtige methodologische Diskussion bedeutsam. Ende der 1940er-Jahre war es eine geradezu sensationelle Äußerung, die auch entsprechendes Aufsehen erregte. Denn damals war die Blütezeit des geographischen „Exzeptionalismus“ – eine Auffassung, bei der die Wissenschaft Geographie als etwas ganz Besonderes und als Disziplin mit einer völlig eigenständigen Methodologie angesehen wurde. Das hatte zur Folge, dass man sich vor allem von den human- und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen weitgehend abschotten konnte und unter Berufung auf die geographische Sondermethodologie deren Neuentwicklungen nicht zur Kenntnis nahm. Wir werden noch sehen, dass Bobeks Anregungen im Verlauf der Geographiegeschichte sehr unterschiedlich aufgenommen und umgesetzt wurden. Manche seiner Forderungen wurden gleichsam zum unwiderruflichen Dogma von absoluter Gültigkeit hochstilisiert, andere wurden eher verdrängt oder ignoriert. Leider zählt die eben zitierte Auffassung, die objektiv gesehen absolut berechtigt ist, zu den von der geographischen Scientific Community nicht akzeptierten Forderungen, die man einfach beiseite schob. Das wird bis in die Gegenwart sehr unangenehme Konsequenzen nach sich ziehen. Eine andere Forderung Bobeks wurde hingegen von den Fachkollegen nahezu begeistert und uneingeschränkt akzeptiert: die Auffassung, dass ausschließlich Gesellschaften und Gruppen sozialgeographisch relevant seien, nicht aber menschliche Individuen. Diese Anschauung hielt sich hartnäckig über viele Jahrzehnte als unwidersprochenes Dogma und beeinflusste die weitere Entwicklung der deutschsprachigen Sozialgeographie erheblich – und zwar negativ.

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2. DIE BEGRÜNDUNG DER SOZIALGEOGRAPHIE DURCH HANS BOBEK

Mit seinem Konzept einer Sozialgeographie hat Bobek die klassische Fragestellung nach den Mensch-Raum-Beziehungen spezifiziert und präzisiert. Dieses Erkenntnisobjekt wird nun umformuliert zur Frage nach Wechselbeziehungen zwischen Gesellschaft bzw. sozialen Gruppen und Raum. (Zur Problematik des damaligen Raumbegriffes vgl. Kapitel 5.) Durch diese Präzisierung und die Annäherung an den soziologischen Gruppenbegriff greift Bobek eine Konzeption auf, die als zentrale Problematik der Soziologie dort für viele Jahrzehnte die Diskussion bestimmte: das Verhältnis von sozialen Aggregaten bzw. sozialen Systemen und menschlichen Individuen oder Subjekten. Das Verhältnis zwischen dem Einzelmenschen und der Gruppe kann als eines der Grundprobleme der Sozialwissenschaften angesehen werden. Spätestens seit Max Weber wird es ausführlich erörtert, wobei zwei gegensätzliche Auffassungen aufeinanderprallen. Eine Gruppe betonte das Primat einer kollektivistischen Determiniertheit sozialer Phänomene und Prozesse. Soziale Systeme, wie Gruppen oder Gesellschaften, wiesen Eigenschaften auf, die mehr seien als die Summe der Eigenschaften der Individuen, aus denen das betreffende Aggregat besteht. Die gegensätzliche Auffassung betont die Vorrangstellung des Individuums. Nur das Individuum sei als handelndes Subjekt in der Lage, soziale Phänomene zu produzieren; soziale Aggregate könnten durch die Attribute der Individuen erklärt werden. Wir werden diese Problemstellung später noch ausführlicher behandeln, deshalb wollen wir uns an dieser Stelle damit begnügen, nur die Positionen zu benennen. Hans Bobek bezieht bei seinem Entwurf einer Sozialgeographie in dieser Frage nun eine ganz klare und eindeutige Position zugunsten des Kollektivismus. Er zieht daraus aber wesentlich schärfere Konsequenzen für die Sozialgeographie, als die Soziologen es für ihre Disziplin getan haben. Dieses Dogma der kollektivistischen Orientierung der Sozialgeographie wird schon im Aufsatz von 1948 begründet, in späteren Artikeln dann noch weiter verfestigt. Bobek meint, dass er die Relevanz individuumsbezogener Aktivitäten nicht ableugnen möchte, dass es also auch „eine Betätigung gibt, bei der die Gruppenbestimmtheit gegenüber der individuellen Bestimmtheit zurücktritt. Von dieser kann jedoch in der Geographie weitgehend abgesehen werden …“ (H. Bobek, 1969 (1948), S. 48/49; Hervorhebung P. W.). Mit anderen Worten: Die Sozialgeographie solle sich nur und ausschließlich um Gruppen und Gesellschaften kümmern, das Individuum sei völlig irrelevant. Sozialräumliche Prozesse und Funktionen würden ausschließlich von Gruppen getragen. Kommen wir zurück zur Ausgangsthese Bobeks: „Denn jede Funktion bedarf eines Trägers“.Was ist hier eigentlich mit „Funktion“ gemeint? Dieser Begriff ist für die Weiterentwicklung der klassischen deutschsprachigen Sozialgeographie besonders bedeutsam.

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Bobeks Kernfrage: Wechselbeziehungen zwischen sozialen Gruppen und Raum

Bobeks Position: kollektivistische Orientierung der Sozialgeographie

2. DIE BEGRÜNDUNG DER SOZIALGEOGRAPHIE DURCH HANS BOBEK

Bobeks Sozialfunktionen

Im Artikel von 1948 spricht Bobek von „Sozialfunktionen“, später finden sich in der sozialgeographischen Literatur die Bezeichnungen „Daseinsgrundfunktionen“ oder „Grunddaseinsfunktionen“. Bobek meint, dass der Kanon der geographisch wichtigen Sozialfunktionen seit langer Zeit bekannt und durch empirische Befunde abgesichert sei. Es handle sich um insgesamt sechs solcher Funktionsbereiche (ebd., S. 50): – biosoziale Funktionen (Fortpflanzung und Aufzucht zwecks „Erhaltung der Art“), – oikosoziale Funktionen (Wirtschafts-Bedarfsdeckung und Reichtumsbildung), – politische Funktionen (Behauptung und Durchsetzung der eigenen Geltung), – toposoziale Funktionen (Siedlungsordnung des bewohnten und genutzten Landes), – migrosoziale Funktionen (Wanderung, Standortänderung), – Kulturfunktionen (soweit landschafts- und länderkundlich belangreich).

Bobeks thematische Fokussierungswerte

Bobeks Gruppenkonzepte

Diese Funktionen bilden nach Bobek das anthropogene oder soziale „Kräftefeld“, das man für die Erklärung sozialräumlicher Phänomene benötigt. Wir werden noch sehen, dass diese Funktionen als so genannte „thematische Fokussierungswerte“ für die klassische deutsche Sozialgeographie anzusehen sind und dort in etwas anderer Formulierung als zentrale Parameter der Forschung Verwendung fanden. Unter „thematischen Fokussierungswerten“ versteht man in der neueren Wissenschaftstheorie jene Parameter, die in einem bestimmten Forschungsansatz als zentral für die Erklärung des Gegenstandsbereiches angesehen werden. Diese Sozialfunktionen werden nach Auffassung Bobeks von sozialen Gruppen „getragen“. Was genau versteht Bobek dabei unter einer „Gruppe“? Mit welchen Gruppen hat man es seiner Anschauung nach in der Geographie zu tun? Bobek weist zunächst darauf hin, dass es (bis zu seiner Zeit) nur ein Gruppenkonzept gebe, das als genuine „Erfindung“ der Geographie gelten könne, nämlich die sogenannten „Lebensformengruppen“, die bei P. Vidal de la Blache als „genres de vie“ bezeichnet werden. Zusätzlich zu den Lebensformengruppen zieht Bobek zur Vertiefung seines Konzepts noch eine Gruppentypologie des Soziologen Werner Sombart (1931) heran. Dies sei notwendig, um die „Funktionsweise“ konkreter Gruppen verstehen und analysieren zu können. Bei Sombart werden verschiedene Klassen sozialer Gruppen unterschieden. An erster Stelle nennt er die sogenannten Merkmalsgruppen oder statistischen Gruppen. Dabei handelt es sich um Menschen, die durch irgendwelche gemeinsamen Merkmale (der ethnischen Zugehörigkeit, der Sprache, der Lebensweise oder durch Blutsverwandtschaft) verbunden er26

2. DIE BEGRÜNDUNG DER SOZIALGEOGRAPHIE DURCH HANS BOBEK

scheinen, ohne dass ein Bewusstsein, ein bejahendes Wissen, davon besteht. Solche Gruppen kennen kein gemeinsames Kollektivhandeln. Dennoch kann, und das sieht Bobek aus sozialgeographischer Sicht für wichtig an, ihr Individualhandeln gleichartig sein. Diese Gleichartigkeit kann dabei durch Umweltbedingungen ausgelöst werden. Als Beispiele führt er die Bergbauern oder die Talbauern eines bestimmten Gebietes an. Davon zu unterscheiden seien jene Gruppen, deren Mitglieder sich ihrer Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge bejahend bewusst sind. Sie werden als „Verbände“ bezeichnet. Die Verbände wiederum können in drei Untertypen gegliedert werden. Bei den intentionalen Verbänden ist das Handeln der Mitglieder noch als Individualhandeln zu bezeichnen, es ist aber bereits in gewisser Weise durch das Wissen vereinheitlicht, dass man gemeinsame Interessen hat und durch gewisse gemeinsam geteilte Lebensumstände in irgendeiner Form „zusammengehört“. Als Beispiele führt Bobek die Großbauern und die Kleinbauern einer Gemeinde an.Während die Großbauern nach der Aufteilung der Allmende streben, halten die Kleinbauern hartnäckig an der Allmendenutzung fest (Allmende = Gemeinschaftsbesitz). Intentionale Verbände können sich jederzeit zu finalen Verbänden oder Zweckverbänden weiterentwickeln. Ihre Mitglieder sind in bestimmten Funktionen durch ein rational organisiertes und zweckbedingtes Kollektivhandeln bestimmt. Sie entstehen durch bewusste Gründungsakte aus intentionalen Verbänden und weisen eine definierte Organisationsstruktur auf.Typische Beispiele wären Vereine, Gewerkschaften oder Berufsverbände. Ihr Ziel ist es, bestimmte Absichten oder Interessen zu verwirklichen, und sie bedienen sich dafür bestimmter organisatorischer Strukturen der Willens- und Entscheidungsfindung sowie der Durchsetzung von Entscheidungen (Generalversammlung, Präsident,Vorsitzender,Vorstand, Geschäftsführer, Satzungen, Vereinszweck etc.). Wichtig ist dabei, dass sich das Kollektivhandeln von finalen Verbänden auf den jeweiligen Zweck und damit nur auf eine oder einige wenige Funktionen beschränkt. Anders sieht dies bei den idealen Verbänden aus. Hier erstreckt sich das Kollektivhandeln – zumindest latent – über alle Funktionsfelder. Das individuelle Handeln wird in allen Funktionsbereichen durch den Kollektivzusammenhang geprägt. Als Beispiele werden Familien, Staat oder Religionsgemeinschaften angeführt. Für Bobek ist nun die Verschneidung von Lebensformengruppen und der Gruppentypologie nach Sombart ein entscheidender Ausgangspunkt für sozialgeographische Analysen.Während in den Lebensformen gleichsam die außersoziale, „landschaftliche Prägung“ zum Ausdruck kommt, bestimme die Gruppentypologie das „Funktionieren“ innerhalb der sozialen Kräfte. Aufgabe sozialgeographischer Analyse sei es, die Gesellschaften in solche sozial und landschaftlich geprägte sozialgeographische Gruppen zu zerlegen. 27

Verbände

Zweckverbände

Ideale Verbände

2. DIE BEGRÜNDUNG DER SOZIALGEOGRAPHIE DURCH HANS BOBEK

Die besondere Bedeutung dieser sozial geprägten Lebensformen liegt nach Auffassung Bobeks in Folgendem: „Auf der einen Seite erscheinen sie als handelnde Glieder des Sozialkörpers, auf der anderen, soweit sie sich der Landnutzung im weitesten Sinne widmen, als Anpassungsformen der Gesellschaft an die Gegebenheiten des Naturraumes und gleichzeitig als Agenten von dessen Umgestaltung. Indem sie so gleichzeitig in der Natur verankert und in der Gesellschaft beheimatet sind, bilden sie das wichtigste Verbindungsglied zwischen diesen beiden Bereichen, damit zwischen Natur und Geist.“ H. Bobek, 1969 (1948), S. 53 ( Hervorhebung P. W.)

Bobeks Sozialgruppen sind heute nicht mehr gesellschaftsbildend

Man erkennt also, dass Bobeks Konzept einer neu zu etablierenden Teildisziplin „Sozialgeographie“ in die Grundstruktur der klassischen Landschaftsund Länderkunde eingebaut ist, dort aber eine klar definierte Eigen- und Sonderstellung besitzen sollte. Das Zitat verdeutlicht auch, dass die Sozialgeographie eingebunden bleiben sollte in die klassische Thematik Mensch – Natur. Das macht auch die auf Seite 53 gebotene Auflistung von typischen „Lebensformen“ sichtbar: Hirt, Fischer, Bergmann, Bauer – aber nicht Bauer schlechthin, sondern Fellache, Kolone, Freibauer, Erbzinsbauer, Pächter, Vollerbe, Kötter, Bündner und so weiter; Fabrikarbeiter, Heimarbeiter, Handwerksgeselle. Die Beispiele zeigen, welcher gesellschaftliche Entwicklungsstand durch eine so konzipierte Sozialgeographie erfasst werden kann: sicher nicht die moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft und schon gar nicht die gegenwärtige Entwicklungsstufe der spätund postmodernen Gesellschaft. Der geneigte Leser möge einmal überlegen, wie viele hauptberufliche Fischer, Hirten, Erbzinsbauern, Handwerksgesellen oder Pächter ihm persönlich bekannt sind. Die sozialen Strukturen, auf die Bobeks Konzept einer Sozialgeographie abzielen, sind längst nicht mehr gesellschaftsbildend und kommen bestenfalls noch als Reliktformen vor.Wir können bereits jetzt festhalten, dass die von Bobek entworfene Konzeption der klassischen Sozialgeographie auf heute (und auch schon damals) längst überwundene Stadien von Gesellschaftssystemen abzielt. Sie ist zwar für Analysen historischer Zustände und in manchen Entwicklungsländern brauchbar, für aktuelle gesellschaftliche Entwicklungsstände war ihre Einsatzmöglichkeit aber von vornherein beschränkt. Dieses Faktum stellt einen wesentlichen Erklärungshintergrund für die eigenartige Beschränkung der klassischen Sozialgeographie der Wien-Münchener Schule auf den Bereich der vormodernen, agrargesellschaftlichen Systeme dar, den wir gleich noch besprechen müssen. 28

2. DIE BEGRÜNDUNG DER SOZIALGEOGRAPHIE DURCH HANS BOBEK

Im Folgenden stellt Bobek die Frage, welche Vorteile sich aus der sozialgeographischen Betrachtungsweise und der Einbeziehung der Gesellschaft für die Geographie ergeben sollten. Sein erstes Argument lautet: Durch die sozialgeographische Perspektive werde eine systematische Einbindung und Ordnung der bisher ungeordneten und unkoordinierten anthropogenen Kräfte möglich. Damit könne die bisher wenig befriedigende Stoffanhäufung der Geographie des Menschen auf eine höhere Stufe der Wissenschaftlichkeit gehoben werden. Entscheidend sei, dass es sich dabei um eine autonome, soziologische Ordnung handelt. Bobek begründet das folgendermaßen: Die Ordnung der anthropogenen Kräfte „… wird vom autonomen menschlichen Geist bestimmt und kennt dementsprechend keine Kausalitäten, sondern nur Motivationen. In ihr gelten jene Regeln, Grundsätze und Gesetzmäßigkeiten, die die Soziologie … herausgearbeitet hat. Die Geographie des Menschen muss, wenn sie sich zur Wissenschaftlichkeit erheben will, von diesen Grundprinzipien Kenntnis nehmen und sie in das Kräftespiel der Landschaft einführen.“ H. Bobek, 1969 (1948), S. 54. Der erste Vorteil liegt für Bobek also darin begründet, dass nur durch die Berücksichtigung sozialer Gesetzlichkeiten eine sinnvolle und wissenschaftlich angemessene Erklärung sozialräumlicher Phänomene möglich ist. Den zweiten Vorteil sieht er in der Möglichkeit einer sozialökologischen Betrachtungsweise, wobei es ihm um die Analyse der Anpassung gesellschaftlicher Gegebenheiten an „landschaftliche“ Strukturen geht. Den dritten Vorteil sieht er darin, dass sich durch die Hinwendung zur Sozialgeographie neue Aufgaben für die Humangeographie ergeben. So könne die sozialgeographische Perspektive im Rahmen der Länderkunde die Aufgabe übernehmen, die Gesellschaft als regionale Erscheinung darzustellen und damit eine Art „Regionalsoziologie“ zu entwickeln. Andeutungsweise wird als neue Aufgabe die Rekonstruktion von „Sozial-Landschaften“ angesprochen. Als weiteren möglichen neuen Erkenntnisbereich nennt Bobek unter anderem die Auseinandersetzung der Gesellschaften mit dem verfügbaren „Raum“. Hier geht es beispielsweise um Fragen der Innenkolonisation, der friedlichen und kriegerischen territorialen Expansion oder um Auswanderung und internationale Migration. (Vor dem Hintergrund der „Volk-ohne-Raum-Ideologie“ des NS-Regimes erscheint dieser Hinweis im Jahr 1948 doch ein wenig makaber.) Im letzten Abschnitt des Textes wendet sich Bobek einer Frage zu, die in der Entwicklung der Geographie generell immer wieder bedeutsam zu sein 29

Vorteile der sozialgeographischen Betrachtungsweise

2. DIE BEGRÜNDUNG DER SOZIALGEOGRAPHIE DURCH HANS BOBEK

Abgrenzung der Sozialgeographie von der Soziologie

scheint, nämlich der Abgrenzung der Sozialgeographie gegenüber den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen. Dieses Problem zieht sich fast wie eine literarische Formel oder ein ständig neu artikuliertes Stereotyp durch die Geistesgeschichte der Geographie. Man kann das eigentlich nur als eine Art „Minderwertigkeitskomplex“ des Faches bewerten. Die konkrete Problemstellung lautet:Wird das Programm der Sozialgeographie nicht schon von anderen Wissenschaften erfüllt? Oder: Was ist das Besondere an der Sozialgeographie, das nicht ohnehin schon von den Soziologen behandelt wird? Bobek beantwortet die Frage zunächst etwas nebulös und kommt zum Schluss, dass „soziale Wirklichkeitsforschung“ von den verschiedensten Seiten betrieben werde. Sein Ausgangspunkt liegt dann in der Feststellung: „Zur Aufstellung einer eigenen Sozialgeographie bedarf es allerdings einer eigenen Fragestellung“ (H. Bobek, 1969 (1948), S. 60/61). Diese eigene, neue Fragestellung „… ist … keine andere, als die alte …, die abzielt auf die Erfassung von Landschaften und Ländern, auf ihre Gliederung, auf die Erkenntnis der funktionellen oder historischgenetischen Zusammenhänge ihrer Einzelelemente. Zu diesen gehört die menschliche Gesellschaft. Sie muss in den landschaftlichen Zusammenhang gestellt werden.“ H. Bobek, 1969 (1948), S. 61 (Hervorhebungen P. W.) Mit einer solchen Rhetorik meistert Bobek den schwierigen Spagat zwischen einer sehr konservativ-traditionalistischen Auffassung von Geographie und dem Versuch, sozialwissenschaftliche Innovationen einzubringen.

Zusammenfassung 1.) Hans Bobek will die Sozialgeographie als eigenständige Teildisziplin des Faches begründen, wobei er ihr eine ausdrückliche Sonderstellung zuschreibt. 2.) Er geht davon aus, dass die Träger sozialräumlicher Prozesse Gruppen sind. Menschliche Individuen seien für die Sozialgeographie ohne jede Bedeutung. Diese Forderung wurde im weiteren Entwicklungsverlauf sehr ernst genommen und von der deutschsprachigen Scientific Community voll akzeptiert. 3.) Die Sozialgeographie müsse sich intensiv mit den benachbarten Sozialwissenschaften befassen und deren Erkenntnisse, Konzepte und Methoden übernehmen. Dieser Aufruf wurde im Folgenden so gut wie nicht beachtet.

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2. DIE BEGRÜNDUNG DER SOZIALGEOGRAPHIE DURCH HANS BOBEK

4.) Bobek führt die „Daseinsgrundfunktionen“ als Schlüsselkonzept der Sozialgeographie ein. Das wird die „klassische“ Sozialgeographie der Wien-Münchener Schule und ihre Epigonen noch über Jahrzehnte beschäftigen. 5.) Bobek stellt die Bedeutung des soziologischen Gruppenbegriffes heraus und regt an, die diesbezüglichen Konzepte und Überlegungen der Soziologie nachdrücklich zu beachten. Auch diese Forderung wurde von seinen Nachfolgern schnell vergessen. 6.) Für die Sozialgeographie seien primär die sogenannten „Lebensformengruppen“ relevant, denn sie seien die landschaftlich geprägten sozialen Einheiten. Damit schreibt Bobek das zentrale Forschungsinteresse der Sozialgeographie für Bereiche fest, die sich auf vormoderne, agrarstrukturelle Gesellschaftsformen beziehen. 7.) Bobek betont, dass für die Erklärung sozialräumlicher Phänomene Gesetzlichkeiten aus dem Bereich des Sozialen herangezogen werden müssen. 8.) Als Kriterium der Abgrenzung bzw. als „Alleinstellungsmerkmal“ der Sozialgeographie gegenüber den anderen Sozialwissenschaften zieht Bobek den Schlüsselbegriff der klassischen Geographie heran, das Landschaftskonzept. Erkenntnisobjekt der Sozialgeographie sei die menschliche Gesellschaft in ihrem landschaftlichen Zusammenhang.

Wir müssen Bobeks Konzept einer neuen humangeographischen Teildisziplin „Sozialgeographie“ insgesamt also als eine sehr eigenartige Mischung zwischen einem höchst innovativen Konzept zur Neustrukturierung der Geographie und einer Rückbindung auf traditionelle Strukturen ansehen. Natürlich hatte Bobek mit seiner Vision einer Sozialgeographie auch eine ganze Reihe von Vorläufern, die ähnliche Ideen vertreten haben. Um die Leser nicht mit wissenschaftsgeschichtlichen Details zu belasten, wird auf diese Vorgänger hier nicht eingegangen. Interessierte seien auf die Dissertation von Eckehart Thomale (1972) verwiesen. Dort findet man eine sehr übersichtliche Darstellung der verschiedenen anderen „Gründerväter“, auf die sich die Sozialgeographie berufen könnte. Der nächste Abschnitt beleuchtet, wie die Geschichte weiterging, welche Resonanz Bobeks Vorschläge fanden und mit welchen Problemen die neu gegründete Teildisziplin der Humangeographie konfrontiert wurde.

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Die „Wien-Münchener Schule der Sozialgeographie“

3.1. Die Bobek-Otremba-Kontroverse Überspringen wir das nächste Jahrzehnt der Entwicklung in der deutsch­ sprachigen Sozialgeographie seit dem Bonner Geographentag von 1947 und wenden wir uns einem nächsten Ereignis zu, an dem wieder ein Ent­ wicklungsschub für diese neue Teildisziplin abgelesen werden kann. Es war abermals ein Deutscher Geographentag, in Köln 1961. Wieder hielt Hans Bobek einen Vortrag, der große Beachtung fand: „Über den Einbau der sozialgeographischen Betrachtungsweise in die Kulturgeographie“. Aber seine Ausführungen blieben diesmal nicht unwidersprochen. Denn auch der Hamburger Geograph Erich Otremba referierte bei dieser Tagung, und seine Überlegungen standen über weite Strecken in einem sehr erheblichen Gegensatz zu Bobeks Thesen. Diese Kontroverse weitete sich in der Folge aus und wurde für die Entwicklung der nächsten zwei Jahrzehnte prägend. (Beide Artikel sind ebenfalls im Sammelband von Werner Storkebaum ab­ gedruckt.) Bobek: „Über den Einbau der sozialgeographischen Betrachtungsweise in die Kulturgeographie“

Betrachten wir als Erstes einmal das Referat von Hans Bobek. Bobek weist zunächst mit Genugtuung darauf hin, dass sich die Sozialgeo­ graphie im deutschen Sprachraum in den letzten Jahren als Forschungspers­ pektive und als Disziplin erfolgreich etablieren konnte. Die jüngere Litera­ tur sei voll von dezidiert sozialgeographischen Arbeiten, die gesellschaft­ lichen Gegebenheiten seien das Thema der aktuellen Forschungsfront. Mehrere geographische Institute hätten in der Zwischenzeit das Wort „So­ zialgeographie“ in den Institutsnamen aufgenommen. Man könne eine „starke Hinwendung zur Sozialgeographie“ erkennen. Diese hohe Akzep­ tanz führt er darauf zurück, dass sich in der Humangeographie die Erkennt­ nis durchgesetzt habe, „dass das verwirrende Netz menschlicher Aktivitäten in der Landschaft am besten von den sozialwirtschaftlichen Gruppen her aufgerollt werden kann …“. Damit treten die Sozialgruppen in den Vorder­ grund des geographischen Interesses (H. Bobek, 1969 (1962 a), S. 78). Solche „Sozialgruppen“ oder „sozialwirtschaftliche Gruppen“ seien der zentrale Forschungsgegenstand der neuen Teildisziplin. Sozialgruppen wer­ den dabei aufgefasst als „Gruppen von Menschen spezifischen Verhaltens“. Bobek meint, dass die Gruppen „das Verhalten ihrer Mitglieder weitgehend ausrichten“ (ebd., S. 78). Das individuelle Tun werde also durch die Grup­ pennormen bestimmt. Bobek geht sogar so weit zu behaupten, dass man aus 32

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

dem Manifestwerden gleichartigen Verhaltens auf die Existenz einer be­ stimmten Gruppe schließen könne. Wir werden noch sehen, dass dies eine wichtige Denkfigur für die klassische deutsche Sozialgeographie wird und die von Bobek eingeführte Konzeption der „Verhaltensgruppe“ über lange Zeit das dominierende Gruppenkonzept bleibt. Im zweiten Abschnitt seines Referates wendet sich Bobek der Frage zu, was denn eigentlich das wesentliche Erkenntnisobjekt der Sozialgeographie sei. Dabei formuliert er eine Idee, die auch als Kernelement eines moder­ nen Verständnisses von Sozialgeographie gelten kann. Er sieht in den gesell­ schaftlichen Prozessen und sozialen Gruppen den eigentlichen Erklärungs­ hintergrund für die verschiedenen erdoberflächlichen Phänomene, die von der Humangeographie untersucht werden. Damit könnte die Sozialgeogra­ phie eine echte Verklammerungsfunktion für die verschiedenen traditio­ nellen Teilfächer wahrnehmen. Daraus folgt, dass die traditionellen „Schub­ ladengeographien“ als völlig unzureichend anzusehen sind und keinen akzeptablen Erklärungsgehalt bieten können. Obwohl Bobek immer wieder auf die „landschaftliche Wirkung“ der Sozialgruppen verweist und ständig bemüht erscheint, die klassische Kon­ zeption der Geographie als Landschafts­ und Länderkunde zu bestätigen und zu festigen, legt er mit dieser Auffassung von der integrierenden Kraft der Gesellschaft eine konzeptionelle Tretmine von äußerster Brisanz, die im weiteren Verlauf der Fachgeschichte auch tatsächlich zur Auslösung kam und sogar heute noch die aktuellen Kontroversen beeinflusst. In Bobeks eigenen Worten: „… die verschiedenen menschlichen Funktionen (Tätigkeiten), die innerhalb eines Gebietes festgestellt werden können, [werden] nicht mehr nach sachlich­systematischen Gruppen wie Handel, Verkehr, Industrie, Landwirtschaft, Kult, Politik usw. … getrennt für sich un­ tersucht, sondern … vielmehr jeweils den Sozialgruppen zugeord­ net, von denen sie ihren Ursprung nehmen. Hierdurch wird es erst möglich, die inneren Zusammenhänge wirklich zu erkennen.“ H. Bobek, 1969 (1962 a), S. 85 (Hervorhebung P. W.) Durch diese vertiefte Einsicht in die innere Struktur und die Gesetzmäßig­ keit des menschlichen Wirkens im Raum könne man endlich auch die früher so typische enzyklopädische Zugangsweise der Humangeographie überwinden. Im dritten Abschnitt befasst sich Bobek mit der Frage nach den „Grund­ typen der Gesellschaft“, mit denen sich die Sozialgeographie auseinander­ setzen müsse. Mit anderen Worten: „Welche sozialgeographischen Einheiten sind, unbeschadet der Tatsache, dass sie in der Wirklichkeit bereits Ergebnis 33

Erkenntnisobjekt der Sozialgeographie nach Bobek

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Typologie räumlicher Gesellschaftskörper nach Bobek

Siedlungen

Zentrierte Regionen

einer Auseinandersetzung mit den gegebenen räumlichen Unterlagen dar­ stellen, vom Gesellschaftlichen vorangelegt?“ (S. 89) Das ist nun eine spannende Frage, und Bobek meint, dass dies eine der Hauptfragestellungen einer Allgemeinen Sozialgeographie sei. Im Fol­ genden legt er eine Typologie „räumlicher Gesellschaftskörper“ vor, die einerseits nach der Größenordnung, andererseits nach strukturellen Unter­ schieden gegliedert ist. An erster Stelle nennt er die Siedlungen. Es handle sich dabei um „örtlich begrenzte Gesellschaften“ oder „Lokalgesellschaften“, die den „Gemein­ den“ der Soziologie entsprechen, wie sie etwa in der „Gemeindesoziolo­ gie“ von René König (1958) dargestellt werden. Damit sind nicht Ge­ meinden im Sinne der politischen oder administrativen Territorialgliede­ rung gemeint. Es geht vielmehr um mehr oder weniger große „… soziale Einheiten auf lokaler Basis, in der die Menschen zusammenwirken, um ihr wirtschaftliches, soziales und kulturelles Leben zu fristen“ (H. Bobek, 1962 a, S. 90). Bobek betont, dass es hier natürlich erhebliche Abstufungen hin­ sichtlich der Größe, Komplexität, Struktur und Funktionalität gebe, immer aber ein sozial greifbarer Zusammenhang einer Lebensgemeinschaft zwi­ schen Menschen bedeutsam sei. Bobek kritisiert, dass Siedlungen von der Geographie traditionellerweise primär nach der äußeren Erscheinung, der Lage und nach formalen Krite­ rien beschrieben würden. Viel wichtiger sei aber die Darstellung nach so­ zialen, wirtschaftlichen und funktionalen Kriterien der Interaktion. Sied­ lungen im sozialgeographischen Sinn (bzw. Gemeinden im Sinne der Sozi­ ologie) seien durch einen hohen Grad an interner Verflechtung hinsichtlich der sozialen Beziehungen, durch eine arbeitsteilige Wirtschaftsstruktur und durch bestimmte Macht­ und Herrschaftsverhältnisse gekennzeichnet. Es gebe in der Regel eine klare Struktur im Sinne der sozialen Rangordnung. Dabei sind Eliten, Mittelschicht und marginale soziale Gruppen erkennbar. Außerdem existiere ein gewisses Gemeinsamkeitsgefühl der Gemeindemit­ glieder und natürlich gebe es auch gemeinsame Interessen. Als zweiten Typus einer sozialräumlichen Grundstruktur führt Bobek „Zentrierte Regionen“ an. (Heute würde man von Stadt­Umland­Regi­ onen oder „Nodalregionen“ sprechen.) Darunter versteht er Zentrale Orte und ihr funktionales Umland bzw. ihren funktionalen Verflechtungsbereich. Das Umland ist mit den Zentralen Orten oder Kernstädten in Bezug auf die Versorgung mit zentralen Diensten und Gütern sowie durch Pendlerbe­ ziehungen aufs Engste verknüpft. Somit bildet die Zentrierte Region eine sozioökonomisch definierbare räumliche Einheit. Es handle sich hier um eine neue sozialräumliche Grundstruktur, die über die Lokalgesellschaft hinausgeht und in der Ausrichtung einer Bevölkerung auf ein Zentrum hin ihren Ausdruck findet. Die Bevölkerung der Region identifiziert sich mit der Kernstadt, die umso bedeutsamer ist, je höhere Ansprüche sie für das Umland erfüllen kann. 34

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Der dritte Typus sind nach Bobek die „unzentrierten Regionen“. Hier unterscheidet er „gauhafte Siedlungsgebiete“ und „Reviere“. Bei den „gauhaften Siedlungsgebieten“ (der Begriff klingt heute sehr altertümelnd) handelt es sich um freibäuerliche Siedlungsgebiete, die keinerlei Zentrali­ sierungen erkennen lassen. Es bestehen nur geringe funktionale oder ar­ beitsteilige Verflechtungen, ein loser Sozialzusammenhang wird durch ver­ wandtschaftliche Beziehungen begründet. Die Reviere entstehen auf der Grundlage besonderer standörtlicher Bedingungen. Ein typisches Beispiel wären Bergbaubezirke oder Agglomerationen von Industrie­ oder Hand­ werksbetrieben im Bereich von Bodenschätzen (z. B. die österreichischen „Eisenwurzen“). Als vierten Haupttypus einer sozialgeographischen Einheit führt Bobek Staaten (Länder) und Völker an. Obwohl Staaten und Länder seit jeher von der Geographie berücksichtigt worden seien, habe man sich zu wenig um das eigentliche, nämlich das gesellschaftliche Wesen des Staates gekümmert. Staaten hätten aufgrund ihrer hoheitlichen Befugnisse einen besonders starken Einfluss auf die Gestaltung des Lebensraums. Sie entstehen häufig auf ethnischer Grundlage. Und schließlich könne man fünftens Staaten oder Völker zu größeren Einheiten zusammenfassen, nämlich zu Kulturrei­ chen, Zivilisationen oder Sozialsystemen. Sie sind kulturell bestimmt, schwer abgrenzbar und in ihren vielfältigen Zusammenhängen nur unscharf zu bestimmen. Als Beispiele werden das „ältere Städtewesen“ und das ren­ tenkapitalistische Sozial­ und Wirtschaftssystem des Orients angeführt. Aus heutiger Sicht muss Bobeks Typologie der „räumlichen Gesell­ schaftskörper“ als höchst dürftig und unzulänglich erscheinen. Wichtig ist jedenfalls, dass in dieser Typologie für ihn (und die folgende Phase der So­ zialgeographie) eine klare Übereinstimmung zwischen sozialen Einheiten und ihren räumlichen Verbreitungsgebieten zum Ausdruck kommt. Am gleichen Tag hielt der bekannte Wirtschaftsgeograph Erich Otremba seinen ebenfalls mit Spannung erwarteten Vortrag mit dem Titel: „Die Ge­ staltungskraft der Gruppe und der Persönlichkeit in der Kulturlandschaft“. In der Einleitung nahm er kurz und grundsätzlich zustimmend auf das Referat Bobeks Bezug. Im Gegensatz zu Bobek betont er aber, dass ohne­ hin schon seit langer Zeit ein intensiver Kontakt zwischen Geographie und Soziologie bestehen würde. Dann kommt er zum Ausgangspunkt und zum Kern seiner Überlegungen: „Uns obliegt nun heute die Frage, ob diese starke Hinwendung zur Sozialgeographie … die Einheit der Geographie berührt, ob hier eine neue Bereicherung und Stärkung der Stellung oder ein Zündstoff zur Sprengung der Einheit der Kulturgeographie vorliegt …“ E. Otremba, 1969 (1962), S. 106 (Hervorhebung P. W.) 35

Unzentrierte Regionen

Staaten und Völker

Otremba: „Die Gestaltungskraft der Gruppe und der Persönlichkeit in der Kulturlandschaft“

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Übergeordnete Position der Sozialgeographie vertretbar?

Er fühle sich verpflichtet, dem nachzugehen, und wolle sich eingehend mit der Frage nach einer zweckmäßigen Arbeitsteilung der Wissenschaften be­ schäftigen. Die Formulierung „Zündstoff zur Sprengung der Einheit“ deu­ tet bereits klar auf eine ernsthafte Kontroverse hin, vor allem, wenn man bedenkt, dass Bobeks Entwurf ja auf eine stärkere Verklammerung und Integration der humangeographischen Einzeldisziplinen abzielte. Die Geographie, so argumentiert Otremba weiter, solle sich durchaus soziologischen Tatbeständen zuwenden. Andererseits seien die Soziologen selbst schon auf dem Wege, sich mit der räumlichen Differenzierung ihrer Forschungssubstanz auseinanderzusetzen. In dieser Situation ergebe sich die „dringende Mahnung“ zur vorsichtigen Zusammenarbeit, „damit nicht der Vorwurf des Schmückens mit fremden Federn, der billigen Übernahme und Einmischung“ erhoben werden kann (E. Otremba, 1969 (1962), S. 107). Trotz aller Sympathie­ und Zusammenarbeitsrhetorik wird in der­ artigen Formulierungen doch eine deutliche Skepsis gegenüber der Sozio­ logie (und dem Bobek’schen Konzept einer Sozialgeographie) erkennbar. Im Folgenden verwendet Otremba ein Argument, das gerne herangezo­ gen wird, um allzu heftige Innovationen abzublocken. Es lässt sich mit der Kurzformel umschreiben: „Das haben wir ja ohnehin schon immer so ge­ macht.“ Er zählt eine ganze Reihe von Arbeiten und Forschungsergebnissen auf, die belegen sollen, dass gesellschaftliche und soziale Phänomene in der Geographie schon immer berücksichtigt worden seien. „Alles was wir heute theoretisch durchdenken,“ – und mit „wir“ meint er natürlich Bobek – „wird seit 150 Jahren in vielen Arbeiten schon praktisch getan“ (S. 110). Die Geographie befinde sich demnach, so folgert er weiter, nicht erst im Neuaufbau einer Disziplin „Sozialgeographie“, sondern längst mitten in der Arbeit. Es würde sich jetzt in Wahrheit lediglich darum drehen, „… ob wir mit der Betonung sozialgeographischer Sachverhalte richtig liegen“ und ob man tatsächlich so etwas wie eine „Allgemeine Sozialgeographie“ brau­ che. Und dann müsse man diskutieren, ob die Sozialgeographie eine so herausragende und übergeordnete Position im Rahmen der Humangeo­ graphie haben solle, wie Bobek dies fordert, oder ob sie nicht besser neben beziehungsweise gar in der Bevölkerungsgeographie aufgehoben wäre. Seiner Ansicht nach solle die Entscheidung derartiger Fragen über einen Sachdiskurs ablaufen: „Von der Sache her gesehen, lautet die Frage so: Wie steht die Gesellschaftsgruppe im Verhältnis zum Individuum und zur Bevölkerung bzw. in deren herkömmlicher Gliederung in ihrer Raumwirksam­ keit? Von der Beantwortung dieser Frage hängt die Entscheidung für oder wider die Eigenständigkeit der Sozialgeographie ab.“ E. Otremba, 1969 (1962), S. 112 (Hervorhebung P. W.) 36

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Damit haben wir einen sehr entscheidenden Punkt in der Diskussion um die Sozialgeographie erreicht. Die Formulierung ist zwar eigen und stellen­ weise kryptisch, die dahinterstehende These aber ist klar und eindeutig: Wenn das menschliche Individuum oder die Bevölkerung in ihrer „Raum­ wirksamkeit“ wichtiger ist als die sozialen Gruppen, dann brauchen wir sie gar nicht, die Sozialgeographie, und schon gar nicht in der von Bobek ge­ forderten herausragenden Sonderstellung. Im Folgenden argumentiert Otremba stärker aus der Perspektive seines engeren Arbeitsgebietes, der Wirtschaftsgeographie.Wenn man den Text ge­ nauer ansieht, dann drängt sich der Eindruck auf, dass es weniger um wirk­ lich sachliche Fragen, sondern vielmehr um disziplinpolitische Macht­ kämpfe oder so etwas wie disziplinäre Eifersüchteleien geht: „Wer ist wich­ tiger, die Wirtschaftsgeographie oder die Sozialgeographie, meine Disziplin oder deine?“ Sehen wir uns das in den wörtlichen Formulierungen Otrembas an:

Gefährliche Aufgliederung der ganzen Geographie?

„Die Wirtschaft ist Leistung im Raum und sie gestaltet den Raum; sie wird von Menschen ausgeübt und dient der Menschheit. … Es ist nun die entscheidende Frage für uns, ob wir diese Korrelation zwischen Mensch und Wirtschaft sorgfältig hüten wollen … oder ob wir durch den Aufbau einer Sozialgeographie neben der Wirtschafts­ geographie den ersten Riss zu einer gefährlichen Aufgliederung der ganzen Geographie des Menschen begünstigen wollen.“ E. Otremba, 1969 (1962), S. 113 (Hervorhebung P. W.) Und dann geht es im Text gleich unmittelbar weiter: „Ich meine, dass der Begriff ‚Wirtschaftsgeographie‘ keiner Ergän­ zung und Betonung durch den Zusatz ‚und Sozialgeographie‘ be­ darf, weil die Wirtschaft Menschenwerk schlechthin ist und selbst­ verständlich die Betrachtung des Menschen einschließt.“ E. Otremba, 1969 (1962), S. 113 Warum die Einführung einer Sozialgeographie den ersten Riss zu einer gar gefährlichen Aufgliederung der ganzen Geographie des Menschen begüns­ tigen soll, wird durch diese Aussagen nicht wirklich plausibel, und vor allem nicht durch ein Sachargument begründet. Man hat hier den Eindruck, dass Otremba die Intentionen Bobeks missversteht oder gar missverstehen will. Im Folgenden lässt Otremba kein gutes Haar an der Sozialgeographie. Schon die Bezeichnung „Sozialgeographie“ sei unklar und für den gemein­ 37

Otrembas Kritik an Bobek

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Otrembas Forderung nach einer „Geographie des Individuums“

Bobeks Reaktion auf Otremba

ten Gegenstand „falsch“. Der Begriff „sozial“ sei eigentlich nur in der Verbindung mit Sozialpolitik, Fürsorge, Sozialstatistik, Sozialgerichtsbarkeit „richtig“. Offensichtlich gibt es hier also auch ein semantisches Problem, ein Problem der sprachlichen Verständigung und der Divergenzen bei der lexikalischen Deutung von Begriffen. Konsequenterweise lehnt Otremba in diesem Zusammenhang auch gängige Bezeichnungen wie „Sozialge­ schichte“ oder „Sozialwissenschaft“ ab, womit er sich langsam doch der Grenze zur Lächerlichkeit nähert. In seiner semantischen Interpretation geht Otremba so weit, dass er meint, „Sozialgeographie“ bedeute streng genommen so viel wie „Geogra­ phie der Wohngegenden der armen Leute“ (S. 114). Dies und sein Hinweis, es wäre wünschenswert, den Begriff „sozial“ sparsam zu verwenden, „um nicht in den Verdacht der gefälligen Aktualität zu kommen“, lässt schließlich den Verdacht aufkommen, dass bei dieser Kontroverse möglicherweise auch weltanschaulich­politische Hintergrundpositionen eine Rolle gespielt ha­ ben. Im weiteren Verlauf seiner Argumentation stellt Otremba nun – nicht wirklich begründet oder plausibel abgeleitet – eine wichtige These auf. Er behauptet, dass die Menschheit „im Raum“ in drei Formen wirksam werde: als Bevölkerung, als Menschengruppe und als Einzelpersönlichkeit. Nun gebe es für die geographische Analyse dieser Wirksamkeit die Bevölke­ rungsgeographie und die Sozialgeographie, es fehle aber noch eine „Geo­ graphie des Individuums“. Am Schluss seines Referates fügt Otremba die „abschließende Bemer­ kung“ an, dass seine eben gemachten Darlegungen „in keiner Weise dem Vortrag von Herrn Kollegen Bobek entgegenstehen“ – was nur als rheto­ rische Floskel anzusehen ist. Hans Bobek musste auf diesen Vortrag natürlich reagieren. Er tat dies in einem Aufsatz mit dem Titel „Kann die Sozialgeographie in der Wirt­ schaftsgeographie aufgehen?“, der 1962 in der Zeitschrift Erdkunde er­ schien (vgl. H. Bobek, 1962 b). In dieser Entgegnung verschärfte Bobek unter anderem sein bereits bekanntes Dogma vom „Tabuthema Indivi­ duum“, was als Reaktion auf Otrembas Vorwürfe durchaus verständlich erscheint, für die weitere Entwicklung der deutschsprachigen Geographie aber einige unangenehme Folgen haben sollte. Zunächst stellt Bobek die Ausgangsthese Otrembas infrage und führt Belege an, dass seine 1947 gemachten Vorschläge damals doch nicht so bekannt und selbstverständlich gewesen waren, wie Otremba behauptet. Ein erster zentraler Punkt der Entgegnung ist die Auseinandersetzung mit der Behauptung, eine Sozialgeographie würde die „Einheit“ des Faches sprengen. Tatsächlich, so Bobek, sei die Humangeographie in eine große Zahl von Einzeldisziplinen zersplittert. Damit sei diese Einheit längst ge­ sprengt, und eine weitere Teildisziplin Sozialgeographie könne daher keine Rolle mehr spielen. In Wahrheit würde eine Sozialgeographie aber genau 38

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

das Gegenteil bewirken: Durch die Analyse der gesellschaftlichen Hinter­ gründe würden die Einzelbereiche von Siedlung, Wirtschaft und Bevölke­ rung etc. miteinander verknüpft. Die Sozialgeographie müsse daher eine integrative Wirkung auf das Fach haben. Als eher „eigenartig“ und unver­ ständlich wird die Argumentation zum Wort „sozial“ gesehen. Otremba würde hier das gängige Verständnis des Begriffes völlig verdrehen. Der zweite zentrale Punkt bezieht sich auf jene angebliche „Sachfrage“, die Otremba in den Mittelpunkt gestellt hatte, nämlich die Frage, wer denn „wichtiger“ sei, die Gruppe oder das Individuum. Bobek antwortet darauf sehr klar und eindeutig und ganz im Sinne seiner schon früher geäußerten Auffassung. Jetzt wird diese Auffassung aber „einzementiert“ und dogmati­ siert: Eine „Geographie des Individuums“ sei ein Unding.

Bobek: Eine „Geographie des Individuums“ sei ein Unding

„Die Geographie beschäftigt sich grundsätzlich weder mit einzelnen Pflanzen noch mit Einzelmenschen und ihren Problemen. Gele­ gentlich wird in der Länderkunde von einzelnen bedeutenden Menschen und ihren Werken die Rede sein müssen, sofern sie in Landschaft und Lebensraum bestimmend eingegriffen haben; daraus kann man aber noch keine Geographie des Individuums machen.“ H. Bobek, 1969 (1962 b), S. 134/135 Diese Aussage Bobeks wurde in der Folge immer wieder zitiert und als Begründung für die Ablehnung aller individuumszentrierten Forschungs­ ansätze herangezogen. Das Erstaunliche an dieser Kontroverse ist die völlige Vernachlässigung der Frage, wie denn die anderen Sozialwissenschaften mit dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft umgehen. Keiner der beiden Kontra­ henten unternahm auch nur den Versuch, dem nachzugehen. Dann hätte sich nämlich herausgestellt, dass diese Relation Subjekt – gesellschaftliche Struktur eines der zentralen Hauptprobleme der Sozialwissenschaften ist, zu dem bereits damals ein riesiger Fundus an einschlägiger Literatur existierte. Damit müssen wir für die Gründungsphase der Sozialgeographie und ihre erste Entwicklungsphase in der deutschsprachigen Geographie eine sehr eigenartige Situation feststellen. Obwohl gerade Bobek ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, dass die benachbarten Sozialwissenschaften für die Geographie wichtig seien und man ihre Forschungskonzepte und Er­ gebnisse berücksichtigen solle, fand eine Auseinandersetzung mit dem ak­ tuellen sozialwissenschaftlichen Diskurs und eine weitergehende Rezeption der dort entwickelten Konzepte und Theorien praktisch nicht statt. Dies sollte bis weit in die 1970er­Jahre auch so bleiben. Erst mit der „quantita­ tiven Revolution“ im Anschluss an den Kieler Geographentag fanden auch 39

Diskurs über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft wurde nicht rezipiert

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

die Problemstellungen der Sozialwissenschaften und deren Denkmodelle und Konzepte Eingang in die sozialgeographische Diskussion. Hier haben besonders Dietrich Bartels und Gerhard Hard wesentliche Beiträge ge­ leistet. Es dauerte aber bis in die 1990er­Jahre, ehe diese Anregungen ernst­ haft in die empirische Forschungspraxis umgesetzt wurden und eine stär­ kere Annäherung an den Mainstream der Sozialwissenschaften erfolgte. 3.2. Ein „Siegeszug ins Abseits“ „Wien-Münchener Schule“

Zentrale Punkte im Lehrbuch von J. Maier et al.

Die sogenannte „Wien­Münchener Schule“, die etwa drei Jahrzehnte lang die deutschsprachige Humangeographie dominierte, baute im Wesentlichen auf den beschriebenen Konzepten Bobeks auf, die von ihm und dem später an der TU München tätigen Sozialgeographen Wolfgang Hartke und ihren Schülern weiterentwickelt wurden. Diese klassische Variante der Sozialgeo­ graphie war durch einige Besonderheiten gekennzeichnet, die aus heutiger Sicht verantwortlich dafür waren, dass sie gleichsam von vorneherein keine wirkliche Anschlussfähigkeit an die Sozialwissenschaften aufweisen konn­ ten. Die eigentliche Ursache dafür lag in der ausdrücklichen Orientierung am klassischen Landschaftskonzept und dem Versuch, das „Soziale“ aus­ schließlich über landschaftsbezogene Variablen zu erschließen. Im Fol­ genden soll versucht werden, diese Besonderheiten kurz darzustellen. Man kann die Konzeption der Wien­Münchener Schule relativ einfach und aus wenigen Quellen rekonstruieren. Hier ist zunächst der Einleitungs­ artikel des Herausgebers Werner Storkebaum (1969) im Band Sozialgeo­ graphie in der Reihe „Wege der Forschung“ zu nennen. Als Primärquelle ist die Selbstdarstellung der Wien­Münchener Schule in Form des ersten und lange Zeit einzigen deutschsprachigen Lehrbuches der Sozialgeogra­ phie anzusehen, das 1977 in der Reihe „Das Geographische Seminar“ er­ schien. Die Autoren sind Jörg Maier, Reinhard Paesler, Karl Ruppert und Franz Schaffer – sie waren zum Zeitpunkt des Erscheinens alle in Mün­ chen tätig, und zwar am Wirtschaftsgeographischen Institut. Wir werden später noch sehen, dass Bobek und Hartke in der Zwischenzeit etwas an­ dere Wege gegangen waren. Böse Zungen, zu denen der Autor natürlich nicht gehört, behaupten, dass das Lehrbuch epigonenhafte Züge aufweise und die große Leistung der beiden Gründerväter eher verwässert werde. Als dritte Quelle sei auf einen Artikel des Erlanger Geographen Eugen Wirth verwiesen, der ebenfalls 1977, und zwar in der Geographischen Zeitschrift, erschienen war. Er hat den Titel: „Die deutsche Sozialgeogra­ phie in ihrer theoretischen Konzeption und in ihrem Verhältnis zur Sozio­ logie und Geographie des Menschen.“ Dieser Text stellt eine sehr massive Kritik des gesamten Ansatzes der Wien­Münchener Schule dar. Weil das Lehrbuch von Maier et al. über lange Zeit die einzige zusam­ menfassende Darstellung blieb, sind ganze Generationen von Geogra­ 40

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

phie­Studenten mit dem dort entworfenen Bild einer Sozialgeographie konfrontiert und von ihm geprägt worden. Besonders auch die Schulgeo­ graphie hat über Jahrzehnte diese Art der Sozialgeographie reproduziert. Sehen wir uns die Botschaften und Inhalte dieses Buches einmal etwas genauer an. Im ersten Abschnitt des Textes geben die Autoren einen kurzen Über­ blick über die Entwicklung der Humangeographie. Dabei knüpfen sie an den Aufsatz Bobeks aus dem Jahr 1948 und die funktionale Phase der Hu­ mangeographie an. Als wesentlichen Entwicklungsimpuls und als zentrales Schlüsselkonzept der Sozialgeographie sehen sie die von Bobek diskutier­ ten „Funktionskreise menschlicher Daseinsäußerungen“ an, die wir bereits besprochen haben und die nach Meinung Bobeks das anthropogene Kräf­ tefeld bilden: biosoziale Funktion, ökosoziale Funktion etc. Diese Termino­ logie wurde in der wissenschaftlichen Literatur nicht aufgegriffen, obwohl sie inhaltlich gerechtfertigt sei. Hingegen habe sich in der Raumordnungs­ diskussion ein inhaltlich praktisch identischer Funktionskatalog in sprach­ lich etwas modernisierter Form nachhaltig durchgesetzt. Er stammt von D. Partzsch (1964) und lautet folgendermaßen: – – – – – – –

Wohnen Arbeiten Sich­Versorgen Sich­Bilden Sich­Erholen Verkehrsteilnahme in Gemeinschaft leben

Dieser Katalog wurde von Karl Ruppert und seinem Doktoranden Franz Schaffer in einem Artikel aus dem Jahr 1969 übernommen und als zen­ trales Konzept der Sozialgeographie etabliert. Sie postulieren, dass diese Grundfunktionen als „komplexes Wirkungsgefüge“ das „anthropogene Kräftefeld“ bilden und die Grundlagen für die räumliche Lebensentfaltung darstellen. All diese menschlichen Daseinsfunktionen besitzen spezifische Flächen­ und Raumansprüche sowie „verortete“ Einrichtungen, deren regional dif­ ferenziertes Muster die Geographie zu erfassen und zu erklären hat. Die Kulturlandschaft sei letztlich „ein komplexes Gefügebild räumlicher Struk­ turmuster der erwähnten Daseinsfunktionen der Gesellschaft eines Ge­ bietes“ (J. Maier et al., 1977, S. 18). Die Grundidee hinter diesem Konzept ist einfach und auf den ersten Blick durchaus einleuchtend: Jede Funktion benötigt zu ihrer Realisierung materielle Einrichtungen, die mit Notwendigkeit einen definierten räum­ lichen Standort besitzen. Für das Wohnen benötigt man ein Wohngebäude, für das Arbeiten einen Arbeitsplatz, für das Sich­Versorgen ein Kaufhaus 41

Menschliche Daseinsfunktionen

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Anthropozentrierung

Soziale Organisation des Menschen

oder ein Geschäft des Einzelhandels etc. Damit können die verschiedenen Funktionsstandorte, die sich in der „Landschaft“ kartieren lassen, den da­ hinter stehenden „Kräften“ zugeordnet und in ihrer räumlichen Konfigu­ ration erklärt werden. Die Kulturlandschaft sei letztlich als das komplexe Gefüge der räumlichen Strukturmuster von Grunddaseinsfunktionen der Gesellschaft eines Gebietes anzusehen. Aus dieser funktionalen Perspektive heraus könne nun der eigentliche Schritt zur Sozialgeographie vollzogen werden. Er liege in der Einsicht, dass die Träger der Funktionen und damit die Schöpfer räumlicher Strukturen letztlich menschliche Gruppen sind. Aus heutiger Sicht können wir in dieser Denkperspektive der Sozialge­ ographie, wie sie von Bobek, Hartke und ihren Schülern entwickelt wurde, einen sehr bedeutsamen Innovationsschub für die Entwicklung der Human­ geographie erkennen. Er besteht besonders in zwei entscheidenden Neue­ rungen. Erstens bedeutet die Konzeption der Sozialgeographie einen wich­ tigen Impuls für die Anthropozentrierung der Humangeographie, also die verstärkte Hinwendung zum Menschen selbst. Die Humangeographie war vorher durch das dominant an der Landschaftsidee ausgerichtete Vorgehen primär auf die physisch­materielle Struktur der Kulturlandschaft ausgerich­ tet. Deshalb überwiegt in der älteren Humangeographie eine Orientierung an den visuell erfassbaren Aspekten der „erdoberflächlichen Realität“ und die methodische Betonung des sogenannten „physiognomischen Prinzips“. In der funktionalen Phase der Geographie, die mit der Dissertation von Hans Bobek über die Stadt Innsbruck und ihr Umland begründet wurde, entdeckte man gleichsam die „Physiologie“ der Kulturlandschaft, was dann besonders für die Wirtschaftsgeographie bedeutsam wurde. Mit dem Kon­ zept der Sozialgeographie änderte sich nun die Blickrichtung fundamental. Nicht mehr die Phänomene, die sichtbaren Elemente der Kulturlandschaft, stehen jetzt im Vordergrund, sondern die Menschen als Akteure, die hinter den Phänomenen stecken und diese bewirken. Der zweite höchst innovative Aspekt liegt in der Wahrnehmung der so­ zialen Organisiertheit des Menschen. Mit der Auffassung, dass die „Träger“ der Grunddaseinsfunktionen soziale Gruppen seien, wurde gleichzeitig be­ wusst, dass Menschen „niemals voneinander isoliert, gleichsam als Summe unabhängiger Individuen, werten, agieren und reagieren, sondern dass sie eingebunden sind in einen bestimmten Sozialzusammenhang des Miteinan­ derlebens …“ (J. Maier et al., 1977, S. 20). Mit diesen Gedanken wurde der entscheidende Impuls für eine tatsäch­ lich grundlegende Erneuerung der Humangeographie gegeben. Die Wahr­ nehmung des Menschen als soziales Wesen, das in seiner individuellen Exis­ tenz überhaupt nur denkbar ist als Bestandteil eines sozialen Gefüges, war eine entscheidende Voraussetzung für die weitere Entwicklung der Human­ geographie.

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3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Zur gleichen Zeit wie Bobek hatte übrigens der französische Geograph A. Demangeon (1942) verblüffend ähnliche Überlegungen zur Diskussion gestellt. Er sprach zwar nicht von „Sozialgeographie“, sondern von „géo­ graphie humaine“, also von Humangeographie generell. Im Lehrbuch „So­ zialgeographie“ ist folgendes Zitat aus seinem Text angeführt: „… die ‚géographie humaine‘ ist das Studium menschlicher Grup­ pen in ihren Beziehungen zum geographischen Milieu.Wir verzich­ ten darauf, die Menschen als Individuen zu betrachten. Durch das Studium des Individuums können Anthropologie und Medizin zu wissenschaftlichen Ergebnissen gelangen, nicht die Humangeogra­ phie. Ihr Forschungsgegenstand sind die Menschen als Kollektiv, als Gruppe: es sind die Aktionen der Menschen ebenso wie die der Gesellschaften. Wir müssen also bei unseren Untersuchungen nicht vom Individuum, sondern von der Gruppe ausgehen. So weit wir auch in die Geschichte zurückblicken, wir stellen immer wieder fest, dass das Leben in Gruppen, mit Menschen gleicher Lebensart, ein unabdingbarer Bestandteil menschlicher Natur ist.“ A. Demangeon, 1942, zitiert nach J. Maier et al., 1977, S. 21 Wir können aus dieser zeitgleichen Äußerung zu jenen von Bobek die Vermutung ableiten, dass diese Ansicht über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft damals generell dem Zeitgeist entsprach. Ehe wir nun den „neuesten“ Entwicklungsstand der Sozialgeographie, wie er in dem Lehrbuch von J. Maier und anderen dokumentiert ist, weiter verfolgen, soll noch ein Originaltext des zweiten „Gründervaters“ der klas­ sischen Sozialgeographie vorgestellt werden. Wolfgang Hartke veröffentlichte 1959 in der Zeitschrift „Erdkunde“ einen viel zitierten Aufsatz mit dem Titel „Gedanken über die Bestimmung von Räumen gleichen sozialgeographischen Verhaltens“. Auch dieser Text ist im Sammelband von Werner Storkebaum abgedruckt. „Die Landschaft als Bezugsfläche aller geographischen Wissenschaft ist in ihren sich verändernden Teilen genetisch weitgehend das Nebenergebnis menschlichen Lebens und Handelns auf der Erde. Sie ist zwar nicht Selbstzweck oder gar Ziel des menschlichen Lebens. Sie ist auch nicht einfach nur Grundlage der Existenz des Menschen. Sie ist aber nicht ohne den Menschen als Gestalter und Betrachter denkbar. Sie ist in jedem Fall … Ergebnis menschlicher Wertung.“ W. Hartke, 1969 (1959), S. 162 (Hervorhebung P. W.) 43

Hartke: „Gedanken über die Bestimmung von Räumen gleichen sozialgeographischen Verhaltens“

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Landschaft als Produkt menschlichen Lebens und Handelns

Hartkes sozialgeographische Räume

In diesem Einleitungsabsatz kommt eine ganze Reihe von konstitutiven Elementen der neuen sozialgeographischen Perspektive sehr markant zum Ausdruck. Zunächst wird klar: Es ist noch immer die Landschaft, die als zentrale Bezugsgröße der Forschung wirksam bleibt und als zentrale Meta­ pher des geographischen Erkenntnisobjektes zu gelten hat. Die Entstehung dieser Landschaft wird jetzt aber völlig neu gesehen. War es vor der Wende zur Sozialgeographie weit überwiegend eine kausale Deutung, die von den physisch-materiellen Grundlagen der Natur ausging und die „natürlichen“ Bestandteile gleichsam als Causa prima ansah, wird die Erklärungsrichtung nun gleichsam umgekehrt. Genetisch, von den Entstehungsursachen her gesehen, wird die Landschaft jetzt als Produkt menschlichen Lebens und Handelns gedeutet. Sie wird als ein Phänomen gesehen, das gleichsam als Nebenergebnis menschlichen Han­ delns „passiert“. Mit dieser grundlegenden Wende im Kausalitätsverständnis ging die neu entstehende Sozialgeographie einen ersten und entschei­ denden Schritt weg vom Geodeterminismus in der Geographie. Ein dritter Gedanke ist der Rückbezug menschlichen Handelns auf den Hintergrund von Wertungen.Weil das Handeln von Werten und Werturtei­ len bestimmt wird, ist all das, was nach den Handlungsvollzügen später landschaftlich sichtbar wird, immer auch Ergebnis menschlicher Wertung. Diese Wahrnehmung der Wertungsprozesse eröffnet Hartke zwei wei­ tere, entscheidende Erkenntnisse.Wertungen könnten sich, so formuliert er, nicht nur auf die „wirklichen“, naturwissenschaftlich nachweisbaren Eigen­ schaften des Lebensraumes beziehen, sondern auch auf nur vorgestellte, vermutete oder behauptete Eigenschaften. Damit spricht Hartke ein Problem an, das erst viel später in der verhaltenswissenschaftlichen oder „wahrneh­ mungsgeographischen“ Variante der mikroanalytischen Sozialgeographie (vgl. Kapitel 9) weiterverfolgt wird. Ein weiterer Aspekt seiner Überlegungen bezieht sich auf gruppenpsy­ chologische Zusammenhänge. Hartke verweist darauf, dass individuelles menschliches Handeln aus Gruppenzwängen resultieren kann. Damit deu­ tet er zumindest an, auf welchem Weg und in welcher Weise das Gesell­ schaftliche als normierende und handlungsleitende Kraft wirksam wird. Er führt diesen Punkt nicht genauer aus, es ist aber klar, dass Hartke hier die gemeinsam geteilten Werte sozialer Gruppierungen und die gleichsam dis­ ziplinierenden Wirkungen der Sozialisation meint. Jeder landschaftliche Prägungsprozess ist durch die Bindung der Akteure an bestimmte Sozialgruppen regional begrenzt. Deshalb, so folgert Hartke, werden die Spuren, die Mitglieder einer Gruppe in der Landschaft hinter­ lassen, auf jenes Gebiet beschränkt sein, in dem diese bestimmte Gruppe über eine gewisse Zeit wirksam ist. Solche Spuren können Indizes (also „Hinweise“, „Anzeiger“) sein für die Existenz, Reichweite und Begren­ zung von Räumen im Prinzip gleichen menschlichen Verhaltens. Hartke spricht von „sozialgeographischen Räumen“. Die Suche und Abgrenzung solcher Raumeinheiten gleichen sozialen Verhaltens sei eine zentrale Auf­ 44

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

gabe der Sozialgeographie. Denn in ihnen kommt die angesprochene grup­ penspezifische Wertung und Nutzung zum Ausdruck. Hartke macht nun einen methodischen Vorschlag, wie man solche Räume gleichen sozialen Verhaltens abgrenzen oder erfassen könne. Man möge sich doch der „Spuren“ oder „Indices“ bedienen, die eine Sozial­ gruppe als Ausdruck gleichartiger Wertungen in der Landschaft hinterlässt. Damit entwarf Hartke ein Schlüsselkonzept für die typische Sichtweise und deren empirische Umsetzung oder Operationalisierungsweise in der klassischen Sozialgeographie. „In derartigen Räumen gleichen sozialen Verhaltens gilt es deswe­ gen, hierfür typische Merkmale im Landschaftsbild zu finden, zu kartie­ ren und zu analysieren, um eine der geographischen Hauptaufgaben, beschreibende und erklärende Gliederung der Welt, zu erfüllen.“ W. Hartke, 1959 (1969), S. 167/168 (Hervorhebung P. W.) Diese auf bestimmte soziale Verhaltensweisen und Wertungen „hinwei­ senden“ oder „anzeigenden“ typischen Merkmale nennt er „Indices“. In der späteren Literatur ist gleichbedeutend auch von „Indikatoren“ die Rede. In der späteren methodologischen Literatur wird dieses Konzept gelegent­ lich als Metapher von der „Landschaft als Palimpsest“ bezeichnet. (Unter einem Palimpsest versteht man im Altertum und im Mittelalter eine Hand­ schrift, in welcher der ursprüngliche Text aus Sparsamkeitsgründen getilgt oder ausradiert wurde, um das Material für einen neuen Text nutzen zu können. Man kann den getilgten Text wieder sichtbar machen und somit „Spuren lesen“). Hartke selbst verwendet zur Erläuterung eine andere Me­ tapher, die aber Ähnliches zum Ausdruck bringt. Er sieht die Landschaft gleichsam als „Registrierplatte“ sozialer Prozesse an. „Mit Benutzung derartiger Indices ist es in der Landschaft möglich, wie auf einer photographischen Platte Aktionen und Reaktionen zu registrieren, die sonst oft erst viel später … erfassbar werden …“ W. Hartke, 1959 (1969), S. 168 (Hervorhebung P. W.) Aus solchen Überlegungen heraus haben Hartke und seine Schüler in Frankfurt und später an der TU München Untersuchungen durchgeführt, in denen derartige Indikatoren gesucht und erprobt wurden. Diese Indika­ toren sollten für typische Prozesse des „heutigen sozialen Lebens“ und der aktuellen „räumlichen Kammerung“ stehen, die sich aus der sozialgeogra­ phischen Determinierung für die Gesellschaft Mitteleuropas ergibt. 45

„Indices“ und „Indikatoren“

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Beispiele für Indikatoren

Hartke gibt einige Beispiele für solche Indikatoren: – Ausmärker: Dieser Begriff kommt vom Wort „Gemarkung“. Darunter versteht man die Gesamtfläche eines Siedlungsverbandes bzw. im heu­ tigen Sinne einer Gemeinde. Ein „Ausmärker“ ist jemand, der in einem solchen Siedlungsverband ein Grundstück besitzt, ohne selbst dort zu leben. – Sozialbrache: Darunter versteht man das Brachfallen bisher landwirt­ schaftlich genutzter Flächen infolge einer sozialen Differenzierung, die durch den Übertritt des früheren Landwirtes in einen anderen Beruf verursacht wird. – Aufforstungen: Ursprünglich anderweitig genutztes Agrarland wird im Zuge einer betrieblichen Extensivierung in Wald übergeführt. – Blightphänomene: Darunter versteht man flächenhafte Verfallserschei­ nungen, die zur Entwertung ganzer Stadtviertel führen. Es gibt noch eine Reihe anderer derartiger Indikatoren, wir beschränken uns jetzt auf die im zitierten Aufsatz erwähnten Beispiele. Dieser „indikatorische Ansatz“ verdeutlicht das zentrale Denkmuster der klassischen Wien­Münchener Schule: Aus landschaftlich fassbaren, im Land­ schaftsbild sichtbaren „Spuren“ wird auf dahinterstehende soziale Prozesse geschlossen. Der entscheidende Prozess, der auf diesem Wege erfasst wird, ist jene grundlegende Umstrukturierung der Landwirtschaft, die im Über­ gang von der Agrargesellschaft zur Industrie­ und Dienstleistungsgesell­ schaft ablief. Dies erklärt auch, warum der überwiegende Teil der Indika­ toren direkt oder indirekt mit der Landwirtschaft verbunden ist und warum die soziale Gruppe, welche die klassische Sozialgeographie anscheinend am meisten interessiert, die Bauern sind. Der besprochene Artikel von Wolfgang Hartke stammt aus dem Jahr 1959. Gemeinsam mit den Konzeptionen Bobeks war dies der respektable Beginn einer neuen Disziplin „Sozialgeographie“. Sehen wir uns nun ein­ mal an, welche Weiterentwicklung wir in den nächsten zwei Jahrzehnten bis zum Lehrbuch von Maier et al. 1977 beobachten können. Das Lehrbuch „definiert“ die Sozialgeographie folgendermaßen: „Die Sozialgeographie ist die Wissenschaft von den räumlichen Organisationsformen und raumbildenden Prozessen der Daseinsgrundfunktionen menschlicher Gruppen und Gesellschaften (nach Schaffer, 1968, S. 16).“

„Definition“ der Sozialgeographie nach Maier et al.

J. Maier et al., 1977, S. 21

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3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Diese Formulierung klingt auf den ersten Blick sehr beeindruckend und plausibel. Sie wird im Folgenden nun weiter spezifiziert und erläutert. Das Hauptinteresse der Sozialgeographie „… zielt auf die Raum­ wirksamkeit der Sozialgruppen bzw. die Gesellschaften in ihren räumlichen Aktivitäten mit ihren raumgebundenen Verhaltenswei­ sen und den von ihnen ausgehenden raumbildenden Prozessen und Funktionen.“

Eine „schwierige“ Definition

J. Maier et al., 1977, S. 22 Auch diese Aussage hört sich beeindruckend an, ist aber nicht einfach zu verstehen. Was genau kann damit gemeint sein? Was haben wir unter der „Raumwirksamkeit der Sozialgruppen in ihren räumlichen Aktivitäten mit ihren raumgebundenen Verhaltensweisen“ zu verstehen, von denen dann gar noch „raumbildende Prozesse“ ausgehen? Der Satz erscheint bei ge­ nauerer Betrachtung überbestimmt und unklar. In diesem Satz ist „Raum“ einmal etwas, das von Sozialgruppen beeinflusst wird (Raumwirksamkeit), gleichzeitig die Verhaltensweisen der Sozialgruppen bindet und damit be­ einflusst (raumgebunden) und überdies durch Prozesse und Funktionen der Sozialgruppen erst entsteht (raumbildend) – eine sehr kryptische und nicht leicht durchschaubare Angelegenheit, der „Raum“ der klassischen Sozial­ geographie. Der Satz macht eigentlich nur Sinn, wenn man akzeptiert, dass das Wort „Raum“ hier gleichzeitig in mindestens zwei verschiedenen Be­ deutungen verwendet wird. Im ersten Teil des Satzes kann nur der Contai­ nerraum gemeint sein (Raum als „Behälter“), im zweiten Teil wird ange­ nommen, dass der Raum ein soziales Konstrukt ist, das erst durch gesell­ schaftliche Aktivitäten entsteht (vgl. dazu Kapitel 5). Auch die vorhin zitierte „Definition“ der Sozialgeographie muss bei nä­ herer Betrachtung verwirren. Schon die Formulierung gibt zu erheblichen Missverständnissen Anlass. Die Form der Definition, die hier gewählt wurde, entspricht der sogenann­ ten „Realdefinition“. Es wird durch die Formulierung der Anschein er­ weckt, als würde es sich um eine Aussage über die Realität handeln, um ein Faktum, das unbestreitbar ist. Die „Sozialgeographie ist …“. In Wahrheit handelt es sich um eine programmatische Aussage: „Wir, die Autoren dieses Lehrbuches, sind der Meinung, dass die Sozialgeographie als Wissenschaft konzipiert werden sollte, die sich mit den räumlichen Organisationsformen etc. … beschäftigt.“ Zweitens fällt in dieser „Definition“ wiederum die Zweideutigkeit des Raumverständnisses auf: einmal Raum als Container, dann Raum als Er­ gebnis eines sozialen Gestaltungsprozesses.

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Problemstellungen der klassischen Sozialgeographie

Träger der Grunddaseinsfunktionen?

Drittens sind es nun doch nicht die sozialen Gruppen und Gesellschaften, die räumliche Organisationsformen und raumbildende Prozesse bewirken. Nein, es sind die Grunddaseinsfunktionen der Gruppen und Gesellschaften, die als eigentliche Ursachen angesehen werden. Fassen wir nun zusammen, welche konkreten Aufgabenstellungen oder Problemstellungen der klassischen Sozialgeographie nach ihrem eigenen Verständnis zukommen. Drei wichtige Fragenkreise übernehmen die Au­ toren des Lehrbuches von Hans Bobek. Erstens solle die Sozialgeographie eine Bestimmung der räumlichen Sozialstrukturen vornehmen. Dazu müsse man die raumwirksamen Gruppen erfassen und ihre räumliche Verteilung darstellen. Dies wird mit Bobek als „Bestimmung der geographischen So­ zialstruktur“ bezeichnet. Die zweite Aufgabe besteht in der Darstellung des räumlichen Systems der Funktionen und Prozesse eben jener Gruppen („geographisches Sozialsystem“). Und schließlich geht es um die Erfassung der Raumstrukturen, also der „funktionierenden Stätten“, die den Ablauf des Lebens ermöglichen. Besonders einfach nachvollziehbar ist diese Auflistung sozialgeogra­ phischer Problemstellungen nicht. So ist nicht eindeutig, worin denn der Unterschied zwischen den Punkten 2 und 3 besteht. Wie kann man die Funktionen und Prozesse ohne Bezug auf die „funktionierenden Stätten“ erfassen? Die Differenzen zwischen den Begriffen „Sozialstruktur“, „Sozi­ alsystem“ und „Raumstruktur“ erscheinen nicht besonders einleuchtend und verständlich. Wir haben gesehen, dass die Aufgabenstellungen der Sozialgeographie primär durch die 7 Grunddaseinsfunktionen bestimmt werden. Nun müs­ sen wir überlegen, welche Gruppen als „Träger“ der einzelnen Daseins­ grundfunktionen infrage kommen. Welche Gruppen „tragen“ eigentlich die verschiedenen Grunddaseinsfunktionen? Für die Funktion „Sich­Versorgen“ ist unter den Rahmenbedingungen der Industrie­ und Dienstleistungsgesellschaft zweifelsfrei der Haushalt als „Träger“ dieser Funktion anzusehen. Haushalte sind durch gemeinsames Wirtschaften und gemeinsame Lebensführung definiert. Heute besteht aber ein erheblicher Teil der Haushalte aus nur einer Person (zumindest in den Städten beträgt der Anteil der Einpersonenhaushalte meist über 50 %). Gruppenhaftes Sich­Versorgen finden wir nur bei Naturvölkern, etwa bei Jägern und Sammlern oder bei Formen der älteren Agrargesellschaft. Der Haushalt ist auch „Träger“ der Wohnfunktion. Die Verkehrsteil­ nahme als Aktivität der Distanzüberwindung wird in der Regel von Einzel­ individuen durchgeführt. Die Funktion „Arbeiten“ findet zwar meist in größeren arbeitsteiligen sozialen Aggregaten statt, es handelt sich hier aber um ganz spezielle soziale Interaktionsformen, die durch den arbeitsteiligen Produktionsprozess determiniert werden. Arbeitsteams sind natürlich eine spezifische Form von Gruppen, die auch außerhalb des Arbeitsprozesses als soziale Interaktionsstruktur weiter existieren können. 48

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Bei der Funktion „Sich­Bilden“ wird besonders deutlich erkennbar, dass im Regelfall das Einzelindividuum als eigentlicher Träger und Akteur auf­ tritt. Man kann zwar in Gruppen lernen, und man kann den Bildungspro­ zess als soziale Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden interpre­ tieren, aber der entscheidende Aspekt des Lernens, die Aufnahme eines vormals unbekannten Lernstoffes in das Bewusstsein, ist zweifellos ein Pro­ zess, der ausschließlich von der lernenden Person vollzogen wird. Die Grunddaseinsfunktionen sind menschliche Tätigkeiten, die für jedes Einzelindividuum gleichermaßen von Bedeutung sind und bestenfalls von den sozialen Aggregaten der Haushalte „vergesellschaftet“ durchgeführt werden. Besonders skurril wird die Geschichte, wenn man überlegt, welche „Gruppe“ eigentlich die Funktion „in Gemeinschaft leben“ trägt. Hier wird die Grenze zu einer zirkulären Bestimmung deutlich überschritten. Es ist das konstituierende Prinzip von Gruppen, dass ihre Mitglieder „in Gemeinschaft leben“. Eben diese Gemeinschaftlichkeit ist es, die eine Menge von Einzelindividuen zur übergeordneten Gesamtheit einer Gruppe zusammenbindet.Wörtlich genommen, bedeutet also die Aussage, dass eine sozialgeographische Gruppe die Funktion „in Gemeinschaft leben“ trägt, nichts anderes, als dass das „In­Gemeinschaft­Leben“ das „In­Gemein­ schaft­Leben“ „trägt“. Wenn man die in der klassischen Sozialgeographie der Wien­Münchener Schule verwendete Begrifflichkeit etwas genauer unter die Lupe nimmt, muss man ein wenig an der Sinnhaftigkeit dieser Konzeption zweifeln. Unsere Überlegungen zur Frage der Träger von Daseinsgrundfunktionen bringen uns dazu, etwas genauer zu überprüfen, wie das Gruppenverständ­ nis der klassischen Sozialgeographie aussieht. Ausgangsbasis der Argumentation im Lehrbuch zum Thema „Gruppen“ ist folgende Aussage: „In seiner räumlichen Aktivität wird der Mensch als Mitglied von Gruppen, sozialen Gebilden, gesehen, die sein Handeln be­ einflussen oder lenken …“ (S. 44). Damit ergibt sich für die Geographie ein neues Problem, nämlich die Frage, wie man Gruppen erfassen und vonein­ ander abgrenzen kann. Zur Veranschaulichung bringen die Autoren ein konkretes Beispiel, das sie auf die Otremba­Bobek­Kontroverse beziehen. Sie definieren dazu den von ihnen sogenannten „Schumpeter­Unterneh­ mer“:

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Problematisches Gruppenverständnis der klassischen Sozialgeographie

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

„Dieser … Unternehmer ist gewissermaßen als Pionier als erster mit einem Produkt auf dem Markt, macht also einen besonderen Ge­ winn, bis seine Konkurrenten nachziehen. Dieses Verhalten könnte geradezu charakteristisch individuell erscheinen. Da aber im glei­ chen Augenblick in vielen Branchen und auf vielen Gebieten der­ artige Pionierleistungen zu beobachten sind, haben wir es mit einem typischen Gruppenverhalten zu tun“. J. Maier et. al., 1977, S. 44

Gruppe oder Handlungstyp?

Abweichung vom Gruppenverständnis der Soziologie

Zu Beginn geht es also wieder um die Abgrenzung individuellen Verhaltens gegenüber der normierenden Kraft einer Gruppe. Im nächsten Satz erfolgt nun die Umdeutung zum Gruppenverhalten. Wir erkennen an diesem Beispiel, dass die klassische deutsche Sozial­ geographie offensichtlich von einem sehr spezifischen Gruppenverständnis ausgeht. Als „Gruppe“ werden Menschen verstanden, die ähnliche oder gleichartige Handlungen setzen. Wenn also Herr Müller in Wien und Herr Maier in Berlin den gleichen Typus von Handlung vollziehen, dann bilden sie im Verständnis der Sozialgeographie bereits eine Gruppe. Es ist nicht erforderlich, dass zwischen Müller und Maier irgendwelche soziale Interak­ tionen oder kommunikative Beziehungen bestehen, sie brauchen einander gar nicht zu kennen. All das wäre aber (mindestens) erforderlich, damit ein Soziologe hier von einer „Gruppe“ sprechen könnte. Was im Beispiel dar­ gestellt wird, wäre aus der Sicht der Sozialwissenschaften eher als Exempel für eine Handlungstypologie anzusehen. Weil die klassische Sozialgeographie aber unter „Gruppe“ Menschen gleichen Verhaltens versteht, reduziert sie ihr Gruppenverständnis auf die spezifische Variante der sogenannten „Merkmalsgruppe“. Eine Merkmalsgruppe wäre etwa auch die Gruppe der über 30­jährigen Blondinen oder die Gruppe der Hundebesitzer. Man kann eine solche Gruppenkonzeption natürlich verwenden, es ist aber festzuhalten, dass dieses Verständnis nicht der Standardauffassung in den anderen Sozialwissenschaften entspricht. Diese Standardauffassung wird von den Autoren des Lehrbuches aber kaum zur Kenntnis genommen. Auf nur knapp zwei Seiten gehen sie – sehr oberflächlich – auf den „soziolo­ gischen Gruppenbegriff“ ein. Dabei stützen sie sich (wie Bobek) überwie­ gend auf die in der Zwischenzeit über 40 Jahre alte Arbeit von Sombart (1931). Die für die Soziologie so bedeutsame Interaktionsgruppe wird da­ bei nicht erwähnt. Die Autoren begründen ihre offensichtliche Distanz zum sozialwissenschaftlichen Gruppenverständnis damit, dass wegen der Vielzahl und Komplexität der dort verwendeten Gruppenkonzepte eine Über­ nahme des soziologischen Gruppenbegriffes „kompliziert“ sei. Überdies wären für die Sozialgeographie nur jene Gruppen relevant, die auch räum­ lich wirksam seien. 50

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Bobeks Warnung vor einem Dilettantismus, der zu befürchten sei, wenn die Sozialgeographie sich nicht ernsthaft mit der Soziologie auseinander­ setzt, wurde von den Autoren des Lehrbuches „Sozialgeographie“ offen­ sichtlich nicht ernst genommen. Nach diesem knappen Blick auf die Soziologie führen die Autoren „Bei­ spiele für die Bildung sozialgeographischer Gruppen“ an. An erster Stelle werden die uns bereits bekannten „Lebensformengruppen“ genannt, die für die Sozialgeographie anscheinend von besonderer Bedeutung sind. Diese Bedeutung liege nach Auffassung Bobeks darin, dass sie sowohl in der Gesellschaft als auch in der Landschaft „sichtbar hervortreten“. Die Autoren schränken diesen Aspekt der „landschaftlichen Prägekraft“ aber ein: „Die Forderung nach der landschaftlichen Prägekraft engt jedoch ihre Verwend­ barkeit ein, nicht zuletzt deshalb, weil die sichtbaren Gegensätze der Le­ bensführung in der modernen Gesellschaft deutlich abnehmen“ (S. 47). Wenn man auf diese Forderung nach unmittelbarer landschaftlicher Präge­ kraft verzichtet, wäre dieses Konzept aber auch auf moderne Lebensformen anwendbar. Die angeführten Beispiele (Hausierer, Gastarbeiter, Palästi­ naflüchtlinge, Seldner oder Bauern­ und Wanderhirten in Kaschmir) kön­ nen dies aber nicht wirklich überzeugend belegen. Als nächster Typus sozialgeographischer Gruppen werden die „Verhal­ tensgruppen“ besprochen. Sie werden folgendermaßen definiert:

Beispiele sozialgeographischer Gruppen nach Maier et al.

„Lebensformengruppen“

„Verhaltensgruppen“

„Befinden sich Menschen in einer vergleichbaren sozialen Lage und entwickeln sie infolgedessen Verhaltensweisen, die vergleichbare Einflüsse auf räumliche Strukturen und Prozesse ausüben, dann kann man diese Menschen derselben ‚sozialgeographischen Verhal­ tensgruppe‘ zurechnen.“ J. Maier et al., 1977, S. 50 Als konkretes Beispiel wird hier auf eine Untersuchung über Wiesenbewäs­ serung und Sozialbrache im Spessart von Hartke verwiesen. „Gleichartige Raumbeeinflussung“ wird also über bestimmte Indikatoren erfasst. Der Rückgang der Wiesenbewässerung und das Auftreten der Sozialbrache wer­ den als Hinweise auf soziale Entmischungsprozesse interpretiert, die durch die Ansiedlung kleinerer Industriebetriebe ermöglicht wurden. Auf dem Weg – man könnte boshafterweise auch sagen: auf dem Umweg – über die Kartierung der Sozialbrache wird gezeigt, dass Bauern, die in einer ver­ gleichbaren betriebswirtschaftlichen Situation waren, ihre Landwirtschaft aufgaben und zum Beruf des Industriearbeiters wechselten. Die vergleich­ bare Situation bestand darin, dass die Betriebe eine unzureichende Größe aufwiesen und der Kapitalbesatz unzulänglich war. „Sie gaben die Land­ wirtschaft auf und entwickelten Verhaltensweisen, die zu gleichartigen Aus­ 51

Der „Umweg“ der Sozialbrache

3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

„Aktionsräumliche Gruppe“

wirkungen auf die Bodennutzung führten (Aufgabe der Wiesenbewässe­ rung, Sozialbrache), d. h., sie handelten als gleiche sozialgeographische Ver­ haltensgruppe“ (S. 50). Auch dieses Beispiel zeigt: Es ist hier nicht wirklich von „Gruppen“ im Sinne der Soziologie die Rede. Was hier beschrieben wird, lässt sich sozial­ wissenschaftlich in der Diktion der damaligen Forschung als Übergang von der Agrar­ zur Industriegesellschaft darstellen. Die Soziologie beschrieb den gleichen Vorgang ohne den Umweg über Landnutzungskartierungen, und sie benötigte dazu auch keine eigene „Verhaltensgruppe“. Als dritte Form einer sozialgeographischen Gruppe wird die „aktions­ räumliche Gruppe“ angeführt. Hinter diesem Konzept steht folgende Idee: „Bei der Entfaltung ihrer Existenz sind die Menschen, entsprechend ihrer sozialen bzw. wirtschaftlichen Situation, auf charakteristisch zugeordnete Standorte im Bereich ihrer Grunddaseinsfunktionen angewiesen. Wohn­ und Arbeitsstandort, Versorgungs­, Bildungs­, Freizeitstandorte gehören zu den wichtigsten Positionen eines ‚Funktions­Standort­Systems‘, auf das sich im Laufe eines Tages, ei­ ner Woche, eines Monats und zeitlich darüber hinaus die räumlichen Handlungen der Menschen beziehen …“ J. Maier et al., 1977, S. 52/53 Daraus wird nun die Bestimmung der „aktionsräumlichen Gruppe“ als Spezialform einer sozialgeographischen Gruppe abgeleitet: „Personen und Haushalte bilden dann eine sozialgeographische Gruppe, wenn sie gleich­ artige ‚Funktions­Standort­Systeme‘ entwickeln und/oder sich darin annä­ hernd gleichartig verhalten“ (S. 52/53). Es ist klar, dass es sich hier um eine spezielle Form der „Verhaltens­ gruppe“ bzw. der Merkmalsgruppe handelt. Mit diesem Konzept lässt sich durchaus etwas anfangen, man wird es allerdings (wie den „Schumpeter­ Unternehmer“) besser nicht als Gruppenkonzept, sondern im Sinne einer Handlungstypologie interpretieren und eher mit Lebensstilen in Zusam­ menhang bringen. Das ist alles, was man dem Lehrbuch über sozialgeographische Gruppen entnehmen kann. Wenn man die postulierte Bedeutung der Gruppe als „Träger der Funktionen“ bedenkt, ist das eigentlich an Substanz relativ wenig. Im Folgenden wird dann noch von der „sozialräumlichen Gliederung“ gesprochen. Hier werden in knappster Form Fragen des Sozialstatus und das räumliche Verteilungsmuster von Statusgruppen diskutiert. Ein Bezug zur einschlägigen soziologischen Forschung ist nicht gegeben. 52

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In verschiedenen Arbeiten der klassischen Sozialgeographie taucht im­ mer wieder der Begriff „Persistenz“ auf, der auch im Lehrbuch ausdrück­ lich thematisiert wird. Gelegentlich ist auch vom „Persistenzprinzip“ oder – etwas missverständlich – von „Konsistenz“ die Rede. Der Begriff wird oft in Zusammenhang mit Überlegungen zum Verhältnis von Strukturen und Prozessen verwendet. Hinter diesem Begriff steht das Faktum, dass sich Strukturen oder Gegebenheiten der materiellen Kultur meist nicht so schnell verändern wie die dahinterstehenden sozialen Prozesse. Durch Technik und Zivilisation überformt der Mensch das physische Milieu der Naturgrundlagen zu einer Umwelt, die überwiegend aus „Ar­ tefakten“ besteht, also aus Dingen, die durch menschliche Tätigkeit herge­ stellt werden. Es handelt sich gleichsam um „räumlich­materielle Investiti­ onen“, wie Wohnungen, Arbeitsstätten, Versorgungs­, Bildungs­, Freizeit­, Gemeinschafts­, Kommunikations­ und Verkehrseinrichtungen. Diese Funktionsstätten haben eine zum Teil erhebliche Lebensdauer, und in ihnen ist meist sehr viel Kapital und Arbeitsleistung gebunden. Die Autoren der „Sozialgeographie“ argumentieren: „Mit der Errichtung ‚funktionierender Stätten‘ … schränkt die Ge­ sellschaft ihre eigene Handlungsfreiheit in erheblicher Weise selbst ein. Den Freiheiten menschlicher Zielvorstellungen stehen damit konkrete, häufig recht stabile Raumsituationen gegenüber … Oft sind die bisherigen Investitionsleistungen so hoch, dass man sie ohne Überwindung großer Widerstände kaum rückgängig machen kann.“ Diese Persistenz, dieses „Beharrungsvermögen“ der Infrastruktur, „… bedeutet gleichsam eine stabilisierende Gegenkraft gegen Ver­ änderungstendenzen, die aus der gesellschaftlichen Entwicklung er­ wachsen.“ J. Maier et al., 1977, S. 79 Man achte zunächst einmal auf die im Zitat erkennbare Gleichsetzung von materiellen „Gegenständen“ (wie Gebäuden oder Straßen) und „Raumsi­ tuationen“. Hier steht „Raum“ also gleichsam als Metapher für die Konfi­ guration materieller Strukturen. Das wollen wir uns merken, wir müssen diesen Gedanken, der von den Autoren allerdings nicht näher reflektiert wird, später noch genauer analysieren. Mit „Investitionsleistungen“ sind hier nicht nur finanzielle Aufwen­ dungen gemeint, sondern jede Form von Mitteleinsatz, wie Arbeit, Know­ how oder der Einsatz von Zeit. Mit der Errichtung einer Straße, einer Bahnlinie oder eines Gebäudekomplexes wird gleichsam die zukünftige Entwicklung im entsprechenden Versorgungsbereich zumindest für eine gewisse Zeit vorbestimmt. Die Veränderungen von physisch­materiellen 53

Persistenz nach Maier et al.

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Indikator nach Maier et al.

Gegebenheiten verlaufen also in der Regel wesentlich langsamer als die ursächlich dahinterstehenden sozialen Werte, Motive oder Prozesse. Durch die damit gleichsam gegebene „Materialisierung“ sozialer Werte wird auch eine gewisse Stabilisierung gesellschaftlicher Gegebenheiten produziert, die damit zur Wahrnehmungs­ und Deutungssicherheit individueller Akteure führt. Unter anderem führt die Persistenz zu einem Auseinanderklaffen zwischen Physiognomie und Funktion. Das äußere Erscheinungsbild von Funktionen bleibt noch lange Zeit gleich, obwohl sich die dahinterstehen­ den Prozesse bereits erheblich gewandelt haben. Ein weiteres Grundkonzept der klassischen Sozialgeographie, das manch­ mal etwas geheimnisvoll und hintergründig gebraucht wird, sind die bereits besprochenen „Indikatoren“. Sie werden zur „Kennzeichnung räumlicher Prozesse“ benützt. Man spricht auch von „Index“ oder einem „landschaft­ lichen Indikator“. „Der Begriff des Indikators wird … als entweder in der Landschaft sichtbares oder mit Methoden der empirischen Sozialforschung er­ mitteltes Merkmal … verstanden, mit dessen Hilfe man auf indi­ rektem Wege nicht unmittelbar erfassbare Aspekte der Raumstruk­ tur und raumprägende ‚typische Prozesse unseres heutigen sozialen Lebens‘ ermitteln, analysieren und interpretieren kann.“ J. Maier et al., 1977, S. 81

Indikatoren als „landschaftlich sichtbare“ Hinweise

Dieser Begriff wird auch in anderen Wissenschaften verwendet. Man ver­ steht darunter generell ein gut operationalisierbares Messdatum, das als „Hinweis“ oder „Zeiger“ für ein komplexeres Phänomen gedeutet werden kann. Es entspricht etwa dem medizinischen Begriff des „Symptoms“. Das Bruttosozialprodukt, die Arbeitslosenrate, die Zahl der Ärzte pro Kopf der Bevölkerung stehen dann gleichsam als „stellvertretende“ Maßzahlen zur Charakterisierung komplexer gesellschaftlicher Phänomene. Wir haben bei der Besprechung des Artikels von W. Hartke aber bereits gesehen, dass in der Sozialgeographie meist eine charakteristische Sonder­ interpretation dieses Begriffes vorgenommen wird. Indikatoren seien näm­ lich vor allem landschaftlich sichtbare Hinweise auf solche sozioökonomischen Sachverhalte und Veränderungen, die zwar raumbeeinflussend und raumge­ staltend wirken, selbst aber nicht direkt sichtbar in der Landschaft auftreten (S. 81). Nach Hartke ist es mithilfe dieser Indikatoren eben möglich, in der Landschaft wie auf einer photographischen Platte Prozesse zu registrieren, die sonst gar nicht oder erst viel später durch statistische Erhebungen erfasst werden könnten. Die spezifische Sonderinterpretation des Begriffes „Indikator“ liegt of­ fensichtlich in der „landschaftlichen Sichtbarkeit“. Ein besonders häufig 54

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verwendeter Indikator – wir haben es schon erwähnt – war die „Sozialbra­ che“. „Brache“ ist ein Begriff, den wir aus der Agrargeographie kennen und bezeichnet eine nicht genutzte Agrarfläche. Wenn auf einem Feld im Fruchtfolgezyklus in einer Vegetationsperiode nichts angebaut wird, um die Regeneration des Bodens zu fördern, dann nennt man das „Brache“. Damit ist die Brache Bestandteil des agrarischen Nutzungssystems. Unter „Sozi­ albrache“ versteht man hingegen „… das Brachfallen bisher landwirtschaft­ lich genutzter Flächen aufgrund sozialer Veränderungen bei den Gruppen, die über den Boden bzw. seine Nutzung verfügen“ (J. Maier et al., 1977, S. 84). Die Sozialbrache werde immer begleitet von einer wirklichen oder vermeintlichen Hebung des Lebensstandards, einer Hebung der sozialen Sicherheit und meist auch von einer Zunahme der Bevölkerungszahl. Da­ durch unterscheidet sich die Sozialbrache von der Flurwüstung, die zwar ähnlich aussieht, aber durch die Aufgabe des Hofes und die Abwanderung der Agrarbevölkerung verursacht wird. Sozialbrache tritt vor allem dort auf, wo eine starke Industrialisierung in einem Gebiet einsetzt, das vorher einen hohen Anteil arbeiterbäuerlicher Bevölkerung, also Neben­ und Zuerwerbslandwirte, aufwies. Diese klein­ bäuerliche Bevölkerungsschicht wendet sich mit dem Übertritt in die In­ dustriearbeit von der agrarischen Lebensweise ab und verzichtet auf die Landwirtschaft als zweite Stütze der Einkommensbeschaffung. Für die klassische Sozialgeographie scheint das Konzept des Indikators auch deshalb sehr bedeutsam zu sein, weil es besonders gut in der Land­ schaft sichtbar und in Karten darstellbar ist. Man hat aus heutiger Sicht den Eindruck, dass damit ein Rechtfertigungsgrund gegenüber der traditio­ nellen Landschafts­ und Länderkunde präsentiert werden konnte, der gleichsam die „Harmlosigkeit“ der ungeliebten Sozialgeographie demons­ trieren sollte. Damit wollen wir unsere knappe Analyse dieses Lehrbuches abbrechen. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass dieses Lehrbuch der Standard­ text für die Ausbildung von ganzen Generationen von Geographiestu­ denten war und dass die hier vertretenen Konzeptionen bis in die 1990er­ Jahre hinein den Status der deutschsprachigen Sozialgeographie bestimm­ ten. Dabei gab es schon frühzeitig, nämlich 1977, im Jahr des Erscheinens, einen kritischen Artikel, der von einem prominenten Vertreter der Human­ geographie, Eugen Wirth (Erlangen), verfasst wurde. Sein Artikel erschien in der Geographischen Zeitschrift unter dem Titel: „Die deutsche Sozial­ geographie in ihrer theoretischen Konzeption und in ihrem Verhältnis zu Soziologie und Geographie des Menschen.“ Wirth beginnt seine Kritik mit dem Hinweis, dass vor allem die grund­ sätzlichen und theoretischen Passagen des Bandes nicht besonders originär oder neu seien. Bei einer genauen Überprüfung des Textes stellt er fest, dass gerade die zentralen methodisch­konzeptionellen Aussagen des Lehrbuches 55

Beispiel Indikator: Sozialbrache

Wirth: „Die deutsche Sozialgeographie in ihrer theoretischen Konzeption …“

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Wirths Kritik am Gruppenbegriff bei Maier et al.

fast wörtlich aus dem bereits erwähnten Aufsatz von Ruppert und Schaffer aus dem Jahr 1969 stammen, der in der Geographischen Rundschau erschienen war. Die Prüfung ergab, dass von den etwa 810 Zeilen dieses fast zehn Jahre älteren Artikels mindestens 560 Zeilen (also etwa 70 %) wörtlich oder fast wörtlich im Lehrbuch wieder auftauchen. Und davon sei bereits vieles wörtlich in der Dissertation von Franz Schaffer (1968) vorgekom­ men. Dies würde nicht eben für die Originalität des Lehrbuches sprechen. Im Übrigen müsse es schon verwundern, dass in den zehn Jahren zwischen diesen Texten keinerlei methodisch­konzeptionelle Weiterentwicklung stattgefunden habe und man problemlos die alten Anschauungen überneh­ men könne. Besonders kritikbedürftig erscheint Wirth, dass das Lehrbuch die aktu­ ellen Grundkonzepte der modernen Sozialwissenschaften weitgehend ignoriere. Dies stehe im Gegensatz zur Forderung von Hans Bobek, sich mit den systematischen Sozialwissenschaften ernsthaft auseinanderzusetzen. Durch diese Abkoppelung vom Mainstream der Sozialwissenschaften er­ schienen die von Maier et al. verwendeten Konzepte und Begriffe „ein wenig selbst gebastelt“. Es sehe so aus, als wäre die klassische Sozialgeogra­ phie weitgehend immun gegenüber einem Eindringen soziologischer Er­ kenntnisse. Auffällig sei dieses Defizit beim Konzept der „sozialgeographischen Gruppe“. Wirth kritisiert massiv, dass im Lehrbuch „Sozialgeographie“ zwar in knapper Form auf das Gruppenverständnis der Soziologie einge­ gangen werde, dies aber „sehr unglücklich“, „bunt“ und „verwirrend“ dar­ gestellt werde. Dadurch ginge das für die Soziologie wesentlichste Merkmal aller Gruppen fast verloren. Gleichsam als Konstitutionsprinzip der Gruppe wird in den Sozialwissenschaften ja die Interaktion zwischen den Gruppen­ mitgliedern angesehen, die in fast allen Begriffsbestimmungen der Soziolo­ gie eine zentrale Stellung einnimmt. Der Gruppenbegriff der Soziologie sei in erster Linie an der Kleingruppe orientiert, sehr klar und eindeutig defi­ niert und stellt die Wechselbeziehung zwischen den Gruppenmitgliedern in den Vordergrund. Demgegenüber sei die „sozialgeographische Gruppe“ der Wien­Münchener Schule ein Gemenge aus sehr heterogenen Ele­ menten. Die „Lebensformengruppe“ ist eine sehr spezifische Variante echter so­ ziologischer Interaktionsgruppen. Die „Verhaltensgruppen“ sind fast belie­ bige Mengen von Menschen, die nur deshalb zu einer „Gruppe“ zusam­ mengefasst werden, weil sie sich gleichartig verhalten. Und die aktions­ räumlichen Gruppen sind davon nur ein Sonderfall, der sich auf die Gleich­ artigkeit der Distanzüberwindung bezieht. Überwiegend handle es sich bei den „sozialgeographischen Gruppen“ schlicht um sozialstatistische Merk­ malsgruppen, die keine besondere Relevanz in Hinblick auf sozialwissen­ schaftliche Erklärungszusammenhänge haben.

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3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Was die „Lebensformengruppen“ betrifft, sei es für die Geographie nun „misslich“, dass „Lebensform“ als Inbegriff einer einheitlichen und starken Prägung in der modernen Gesellschaft immer stärker aufgelöst wird. In diesem Zusammenhang verweist Wirth darauf, dass Menschen heute einer Vielzahl sehr unterschiedlicher sozialer Gebilde angehören, innerhalb derer sie oft verschiedene Ränge und sehr unterschiedliche Rollen einnehmen. Je größer aber die Zahl der sozialen Gebilde ist, denen das Individuum angehört, desto geringer ist auch der Einfluss der Einzelgruppierung. Damit seien auch die in vormodernen Gesellschaftssystemen noch brauchbaren Lebensformengruppen für die Problemstellungen der Gegenwart nicht mehr zu verwenden. Die Ähnlichkeit im Verhalten von Nebenerwerbslandwirten oder ähn­ lichen sozialstatistischen Gruppen könne man auf keinen Fall daraus erklä­ ren, dass sie der gleichen „sozialgeographischen Gruppe“ angehören. Die Verhaltenshomogenität ist vielmehr auf die spezifischen Rollenkombinati­ onen zurückzuführen, die sich auf der Makroebene aus der jeweiligen öko­ nomischen und gesellschaftlichen Kombination ergeben. Hintergrund der Verhaltenshomogenität sind einfach die gleichen wirtschaftlichen Erwä­ gungen im Rahmen einer gegebenen gesamtgesellschaftlichen Situation. Mit den sogenannten „Grunddaseinsfunktionen“ habe sich die Sozial­ geographie ein zweites vermeintlich tragendes Orientierungsschema ge­ schaffen, das sie jedoch noch weiter von den modernen Sozialwissenschaf­ ten entfernt. So beurteilt Wirth die zweite Säule des Grundkonzepts der klassischen Sozialgeographie in ziemlich vernichtender Weise. Er verweist darauf, dass man in den soziologischen Lehrbüchern und Nachschlagewer­ ken diesen Begriff vergebens sucht. In der aktuellen soziologischen Theorie sei für irgendwelche „Grunddaseinsfunktionen“ kein Platz. Wirth argu­ mentiert ähnlich, wie wir es weiter oben schon getan haben, und verwirft das Konzept der Grunddaseinsfunktionen. Besonders kritisiert wird von Wirth auch, dass die Autoren des Lehrbuchs zwar sich selbst immer wieder zitieren, im Literaturverzeichnis aber die wichtigsten Soziologen der Ge­ genwart nicht einmal erwähnt würden. Wirth beschließt seine Kritik mit sechs Folgerungen und Forderungen zu einer Neukonzeption der Sozial­ geographie, auf die wir jetzt aber nicht näher eingehen wollen.

„Lebensformengruppe“ für moderne Gesellschaften nicht mehr brauchbar

Wirths Kritik an Grunddaseinsfunktionen

Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich die „Wien­Münchener Schule“ wohl doch genau so charakterisieren, wie es Günter Heinritz (1999) im Titel eines Artikels in der Geographischen Rundschau sehr pointiert formuliert hat – ein Siegeszug ins Abseits.

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3. DIE „WIEN-MÜNCHENER SCHULE DER SOZIALGEOGRAPHIE“

Trotz der Forderungen Bobeks nach einer Orientierung der Sozialgeogra­ phie am Mainstream der Sozialwissenschaften scheint sich die deutsche Sozialgeographie Ende der 1970er­Jahre von den einschlägigen Nachbar­ disziplinen also weitgehend isoliert zu haben. Diese evidente Isolierung könnte aber auch bedeuten, dass in der Geographie einfach nicht zur Kenntnis genommen wurde, dass all jene Probleme, welche die Sozialgeo­ graphie lösen möchte, in Wahrheit bereits von den benachbarten Sozialwis­ senschaften bearbeitet werden. Im nächsten Abschnitt müssen wir uns des­ halb mit der Gretchenfrage beschäftigen, ob aus heutiger Sicht eine eigen­ ständige Sozialgeographie überhaupt erforderlich ist.Werden die Probleme, die eine Sozialgeographie lösen möchte, nicht schon längst von den Sozio­ logen bearbeitet – und dies womöglich viel professioneller?

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Sozialgeographie – eine „Neuerfindung“ der Soziologie durch Geographen?

Im letzten Abschnitt haben wir in aller Kürze die Entwicklung der klassischen deutschsprachigen Sozialgeographie erörtert, die wichtigsten Konzepte und Grundbegriffe dieses Ansatzes kennen gelernt und einige Kritikpunkte besprochen, die schon in der zeitgenössischen Literatur erkennbar waren. Unter anderem haben wir als nahezu unverständliches Defizit eine ganz eigenartige Abschottung der Sozialgeographie von den benachbarten Sozialwissenschaften feststellen müssen. Dies stand auch im Zentrum der Kritik von Eugen Wirth. Damit stellt sich natürlich die Frage, ob so etwas wie eine eigenständige Sozialgeographie überhaupt notwendig ist. Wäre es nicht einfacher, die Frage nach der räumlichen Struktur gesellschaftlicher Gegebenheiten gleich von den zuständigen Fachleuten, nämlich den Soziologen, bearbeiten zu lassen? Können die das nicht besser? Man kann es aber auch anders sehen: Ist die Sozialgeographie, wenn man sie wirklich professionell macht, denn nicht bloß eine Neuerfindung der Soziologie durch die Geographen? Kann eine Sozialgeographie Probleme lösen, die von den anderen Sozialwissenschaften nicht bearbeitet werden? Ist es im Sinne einer vernünftigen Arbeitsteilung zwischen den Wissenschaften überhaupt erforderlich, das Thema „Gesellschaft und Raum“ von einer erst zu entwickelnden Sozialgeographie behandeln zu lassen? Um zu dieser Frage Stellung beziehen zu können, müssen wir uns zunächst einmal ansehen, wie denn die Sozialwissenschaften mit diesem Thema umgehen. Konkret gefragt: Wie sieht die Raumtheorie der Soziologie aus? Jeder von uns hat wohl genügend Evidenzerlebnisse vorzuweisen, die aus alltagsweltlicher Sicht zweifelsfrei darauf hindeuten, dass soziale Phänomene sehr häufig eine räumliche Differenzierung aufweisen. Wir kennen die Wohngebiete der Reichen mit der hohen Mercedes- und BMW-Dichte, wir wissen, dass es in jeder Stadt „Glasscherbenviertel“, Rotlichtgebiete und räumliche Konzentrationsgebiete des Drogenmilieus gibt. Wir wissen, dass es typische Arbeiterviertel und Unterschichtquartiere gibt, und wir kennen viele andere räumliche Differenzierungen nach dem Gradienten von arm zu reich. Allein daraus kann abgeleitet werden, dass gesellschaftliche Strukturen und soziale Phänomene nicht an jedem Punkt der Erdoberfläche gleich aussehen. Wenn uns dies schon im Alltagsleben auffällt, dann werden das die Sozialwissenschaftler wohl auch bemerkt und mit entsprechenden Forschungen darauf reagiert haben. 59

4. EINE „NEUERFINDUNG“ DER SOZIOLOGIE DURCH GEOGRAPHEN?

Vernachlässigung des Themas „Raum“ in der Soziologie

Konau: „Raum und soziales Handeln“

Wenn wir uns nun aber hoffnungsfroh und wissbegierig der sozialwissenschaftlichen Literatur zuwenden, müssen wir einigermaßen erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass das Thema „Raum“ in der Soziologie über viele Jahrzehnte schlichtweg nicht vorkam. Im Jahr 1977 erschien in der Reihe „Göttinger Abhandlungen zur Soziologie“ ein Text von Elisabeth Konau mit dem Titel: „Raum und soziales Handeln. Studien zu einer vernachlässigten Dimension soziologischer Theoriebildung“. Wir finden in diesem Band ein Argumentationsmuster, das in der sozialwissenschaftlichen Literatur von Anfang der 1970er-Jahre bis Ende der 1990er-Jahre immer wieder und nahezu gebetsmühlenartig auftaucht. Dieses Argumentationsmuster lautet: „Ist es nicht eigenartig, dass wir Soziologen uns so wenig um den Raum und die räumliche Strukturiertheit sozialer Phänomene und Prozesse kümmern, wo doch sonnenklar ist, dass alles Gesellschaftliche auch eine räumliche Dimension besitzt?“ Dies sei durch einige Zitate belegt. „Dass Gesellschaften ein räumliches Substrat haben und dass soziales Handeln sich immer auch im Raum und ,raumbezogen‘ ereignet, scheint für die Perspektive der soziologischen Theorie ein Tatbestand zu sein, den man vernachlässigen kann. Begriffe, die räumliche Substrate (Untergrund, Grundlage) sozialer Sachverhalte bezeichnen, wie: Territorium, Grenze, Region, Lage, Ort, Gebiet, und erst recht Erscheinungen wie: Natur, Landschaft, Klima, Himmelsrichtungen etc., gelten nicht als von konstitutiver Bedeutung für die Soziologie. Räumliche Verhältnisse sind kontingente (zufällige) Faktoren des Vergesellschaftungsprozesses. Sie spielen zweifellos eine Rolle …, aber sie sind nicht konstitutiv für soziales Handeln; sie scheinen nicht zentral zu sein für das Problembewusstsein der Soziologie. Die raumferne Konzeption des sozialen Handelns, der gemäß Gesellschaften ,gewissermaßen in der Luft schweben, ohne die Erdoberfläche zu berühren‘ (R. König, 1972), führt dazu, dass aktuelle praktische Fragen raumbezogenen Handelns und des räumlichen Substrats der Gesellschaft von der Soziologie nur oberflächlich behandelt werden können. Es gelingt ihr nur bedingt, Spezifisches und für die Praxis Relevantes beizutragen. Ihre ‚Erkenntnisse‘ bleiben, wie immer wieder vermerkt wird, weitgehend abstrakt und z. B. für Zwecke der Stadt- und Regionalplanung schwer übersetzbar.“ E. Konau, 1977, S. 4

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4. EINE „NEUERFINDUNG“ DER SOZIOLOGIE DURCH GEOGRAPHEN?

Besonders kritisiert Konau die unreflektierte Bezugnahme der Soziologen auf räumliche Aspekte sozialen Tuns, das mangelnde Problembewusstsein und das Fehlen analytischer Zugänge zur Räumlichkeit sozialer Phänomene: „Die soziologische Forschung beschäftigt sich in der Regel mit Formen manifest raumbezogenen Handelns, ohne die Raumbezogenheit des sozialen Handelns überhaupt als solche zum Thema zu machen. Die Grundlagentheorie, in deren Kompetenz dieses Thema fällt, stellt sich, statt es in Angriff zu nehmen, die Logik sozialen Handelns als unabhängig vom Raum vor … Latente Strukturen der konstitutiven, physischen und symbolischen räumlichen Bezogenheit des sozialen Handelns und der sozialen Ordnung bleiben unanalysiert.“ E. Konau, 1977, S. 5 Das Interesse der Soziologen am Thema „Raum“ entzündete sich unter anderem an der sogenannten „sozialen Frage“. Dabei geht es um Fragen der Armut, der Deprivation, der Marginalisierung, der sozialen Ausgrenzung, um Fürsorge oder Sozialhilfe. Der Soziologe Laszlo A. Vascovics publizierte 1982 einen Tagungsband mit dem Titel „Raumbezogenheit sozialer Probleme“. In der Einleitung finden sich folgende Formulierungen: „Desto erstaunlicher mag auf den ersten Blick die Feststellung erscheinen, dass Theoretiker sozialer Probleme in ihrem Bemühen um die Erklärung von Entstehung und Daseinsformen sozialer Probleme den Raumbezug weitgehend außer Acht lassen. Es ist uns keine neue Theorie sozialer Probleme bekannt, die den Faktor ‚Raum‘ – sei es als beschreibende, geschweige denn als verursachende Variable – gebührend … berücksichtigen würde. Diese Tatsache ist kaum damit zu rechtfertigen, dass Theoretiker sozialer Probleme die Bedeutung des geographischen und sozialen Raumes für soziale Probleme nach Prüfung dieses Faktors übereinstimmend als gering einschätzen würden. Denn eine theoretische Diskussion über die Bedeutsamkeit des Raumes … fand bisher zumindest im deutschen Sprachraum gar nicht statt“. L. A. Vascovics, 1982, S. 2/3

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Die „Wiederentdeckung“ des Raumes über die „soziale Frage“

4. EINE „NEUERFINDUNG“ DER SOZIOLOGIE DURCH GEOGRAPHEN?

Thema „Raum“ in der Psychologie

In den Artikeln dieses Bandes finden sich eine ganze Reihe von Forschungsergebnissen und theoretischen Überlegungen, bei denen räumlich definierbare Verhältnisse als Bedingungskonstellationen für soziale Probleme thematisiert werden. Aber auch in der Psychologie beginnt man, den „Raum“ zu entdecken. Der prominente Umweltpsychologe H.M. Proshansky bemerkte in einer Veröffentlichung von 1978 Folgendes: “What is most striking by its conspicuous absence … is the utter disregard for the influence of physical settings generally, and in particular for the places and spaces …” H.M. Proshansky, 1978, S. 155 (Hervorhebung P. W.)

„Raumblindheit“ der Sozialwissenschaften

Auch in anderen Teildisziplinen der Psychologie, etwa in der Entwicklungspsychologie, finden sich klare Hinweise auf eine „Entdeckung“ der physisch-materiellen Außenwelt und des Raumes. Der Berner Psychologe Alfred Lang sprach in einem sehr prominenten Artikel aus dem Jahr 1988 davon, dass in der Psychologie die kopernikanische Wende noch ausstehe. Damit meint er eine grundlegende Neuorientierung der psychologischen Forschung. Das übliche Menschenbild der aktuellen Psychologie klassifiziert er als „vor-kopernikanisch“. Es sei durch eine restriktive Subjekt-Objekt-Dichotomie gekennzeichnet. Die Psychologie würde sich ausschließlich auf das Bewusstsein oder den „Geist“ des Menschen konzentrieren und dabei übersehen, dass es auch so etwas wie „extentions“ der Psyche gebe, durch die Elemente der materiellen Umwelt gleichsam als Bestandteile des „Ich“ erlebt würden. Sein Konzept des „concrete mind“ führt mit Notwendigkeit dazu, dass er auch Räume und Orte und deren Beziehung zur Ich-Identität als psychologisch relevante Gegenstände klassifiziert. Vierzehn Jahre nach Konau, im Jahr 1991, veröffentlichte der an der Universität Hamburg tätige Stadt- und Regionalökonom Dieter Läpple einen später viel zitierten „Essay über den Raum“. Er kommt zur Schlussfolgerung, dass die Sozialwissenschaften von einer offensichtlichen „Raumblindheit“ geprägt seien. (Diese Formulierung von der „Raumblindheit“ der Sozialwissenschaften hatte die Geographin Doreen Massey bereits in einem Artikel von 1985 verwendet.) Im Jahr 2000 erschien im Berliner Journal für Soziologie ein Aufsatz des Frankfurter Soziologen Peter Noller mit dem Titel „Globalisierung, Raum und Gesellschaft: Elemente einer modernen Soziologie des Raumes“. Auch er verwendet noch das eingangs angesprochene Argumentationsmuster von der erstaunten Kenntnisnahme der Raumignoranz. Aber er kann schon einen leichten Fortschritt erkennen: 62

4. EINE „NEUERFINDUNG“ DER SOZIOLOGIE DURCH GEOGRAPHEN?

„In den vergangenen Jahren sind verstärkt Anstrengungen unternommen worden, die sprichwörtlich gewordene Raumblindheit der Sozialwissenschaften zu überwinden. Gleichwohl ist eine soziologische Theorie des Raumes allenfalls in Ansätzen verwirklicht.“ P. Noller, 2000, S. 21 (Hervorhebung P. W.) Das neue Interesse am Raum hätte sich dabei am Globalisierungsdiskurs entzündet. Denn obwohl dort immer wieder vom „Verschwinden des Raumes“ oder vom „Ende der Geographie“ die Rede sei, zeige die empirische Evidenz, dass gerade mit der Globalisierung neue Strukturen einer räumlichen Differenzierung sozioökonomischer Gegebenheiten entstehen. Eine neuere Monographie zum Thema ist Martina Löws „Raumsoziologie“, erschienen 2001. Bei ihr fällt die Beurteilung der Situation noch positiver aus. Sie beobachtet in jüngster Zeit eine immer intensivere Beschäftigung der Soziologie mit Fragen des Raumes. Sie möchte verdeutlichen, dass „die Soziologie nicht auf den Begriff des Raumes verzichten kann“ (S. 12). Aber auch sie gesteht ein, dass das Thema „Raum“ in den Sozialwissenschaften bislang sträflich vernachlässigt worden sei, obwohl einige Klassiker wie Georg Simmel schon im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sehr „moderne“ Ansätze für eine Raumtheorie diskutiert hätten. Wenn also die Soziologen ausdrücklich bekräftigen, dass Fragen der Raumstruktur gesellschaftlicher Phänomene zwar besonders bedeutsam seien, die Soziologie selbst dieses Thema aber gut ein Jahrhundert lang „sträflich vernachlässigt“ habe, dann muss es als legitim und sinnvoll angesehen werden, seitens der Geographie in diese offensichtliche „Marktlücke“ der Forschung vorzustoßen. Man möge diese Argumentation nicht falsch verstehen. Es geht dem Autor nicht darum, einen „Territorialkampf“ zwischen Sozialgeographie und „Raumsoziologie“ zu inszenieren. Mit den diskutierten Belegstellen sollte vielmehr demonstriert werden, dass die Grundidee der Vertreter einer Sozialgeographie sehr vernünftig war und die von ihnen postulierte Forschungslücke tatsächlich existiert. Die anderen Sozialwissenschaften bestätigen dies durch ihren Verweis auf die offensichtlichen Defizite in den eigenen Disziplinen sehr überzeugend. Wir erhalten dadurch gleichsam eine Bestätigung durch eine Art Kontrollinstanz, dass die Fragestellung der Sozialgeographie in der Tat bedeutsam ist. Unser kleiner Exkurs in die „Raumsoziologie“ hat gezeigt, dass in den Sozialwissenschaften seit den 1970er-Jahren eine zunehmende Hinwendung zur Problemstellung „Gesellschaft und Raum“ stattgefunden hat. Unter Verweis auf die Klassiker der Soziologie wurde auch immer wieder von einer „Wiederentdeckung des Raumes“ gesprochen (vgl. R. Pieper, 1987). 63

M. Löw: „Soziologie kann nicht auf den Begriff ‚Raum‘ verzichten“

4. EINE „NEUERFINDUNG“ DER SOZIOLOGIE DURCH GEOGRAPHEN?

„Raumexorzismus“ in der Geographie

In der Geographie verlief die Entwicklung erstaunlicherweise genau umgekehrt. Im Bemühen um eine „Versozialwissenschaftlichung“ der Humangeographie ist im gleichen Zeitraum ein Phänomen zu beobachten, das man in der Zwischenzeit als „Raumexorzismus“ bezeichnet. Das Wort verweist darauf, dass (vor allem in der deutschsprachigen Geographie) mit der zunehmend intensiveren Befassung mit sozialwissenschaftlichen Theorien die „Raumblindheit“ der Sozialwissenschaften in die Geographie importiert und wohl wegen der unmittelbaren Betroffenheit unserer Disziplin gleichsam noch potenziert wurde. Weil die sozialwissenschaftlichen Disziplinen auf diesem Auge einen „blinden Fleck“ haben, sollte der „Überschuss“ an Raumbezug in der Geographie gleichsam ausradiert werden. Die zentrale Denkfigur lautete dabei: Soziale Phänomene sind grundsätzlich vom „Raum“ unabhängig. Gerhard Hard (z. B. 1987) stellte etwa fest, dass das Raumverständnis der Geographie nichts anderes sei als eine naive Verdinglichung einer alltagsweltlichen Abstraktion. Das laienwissenschaftliche Wirklichkeitsverständnis des alltagsweltlichen Raumbegriffes werde von den Geographen für die Wirklichkeit selbst gehalten. Tatsächlich aber, so sagt er in Berufung auf den Soziologen Niklas Luhmann, hätten soziale Systeme keine räumliche Existenz. Denn: Soziale Systeme bestehen aus Kommunikation und nichts als Kommunikation, und Kommunikation ist ein a-räumliches Phänomen. Wir werden uns in Kapitel 5 mit dieser These noch genauer beschäftigen. Für jetzt genügt es festzuhalten, dass auf der Basis dieses Axioms von vielen besonders „progressiven“ Vertretern der Humangeographie alles, was mit „Raum“ oder „räumlichen Strukturen“ zusammenhing, als obsolet angesehen wurde. Dabei hat man gelegentlich den Eindruck einer nahezu fanatischen Ablehnung, welche die Bezeichnung „Exorzismus“ (Teufelsaustreibung) durchaus rechtfertigt. (Wir werden in weiterer Folge noch unterschiedliche Formen dieses Exorzismus kennen lernen und sehen, dass die Exorzisten eigentlich ein ganz anderes Problem lösen wollen, nämlich das Problem des Determinismus.) Der Geographie wurde generell vorgeworfen, dass es in diesem Fach ganz fürchterlich „räumeln“ würde und der Begriff „Raum“ gleichsam als Zauberwort ohne angebbaren inhaltlichen Sinn verwendet würde. „Raum“ sei sozusagen die Berufskrankheit der Geographen. Mit dieser Grundsatzerklärung von der Bedeutungslosigkeit des Raumes hatte die deutschsprachige Humangeographie in den 1980er-Jahren endlich gleichsam den Anschluss an die benachbarten Sozialwissenschaften gefunden. Die gleichzeitig existierende „Wien-Münchener Schule“ wurde demgegenüber von den „Progressiven“ gar nicht ernst genommen. Im nächsten Abschnitt wollen wir überlegen, wodurch denn das massiv einsetzende Interesse der Sozialwissenschaften am „Raum“ inhaltlich zu begründen ist.

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Raum, Räumlichkeit, die „drei Welten“ und der Zusammenhang zwischen Sinn und Materie

Wie kommt es nun, dass Sozialwissenschaftler vom Rang eines Harold Proshansky, eines Anthony Giddens oder eines Carl Friedrich Graumann in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten die Analyse räumlicher Aspekte gesellschaftlicher Phänomene in den Vordergrund ihrer Arbeit rücken und damit das Thema „Raum“ wiederentdecken? Wurden die Kollegen aus den Nachbardisziplinen nur von der „Raumhysterie“ der Geographen infiziert, oder haben sie plausible Begründungen für ihr Interesse? Wenn wir diese Hintergründe und Motivationen identifizieren können, hätten wir gleichzeitig eine Art indirekte Begründung für das Erkenntnisobjekt der Sozialgeographie gefunden. Auf eine kurze Formel gebracht, kann man sagen, dass diese Entdeckung oder Wiederentdeckung der Sozialwissenschaftler auf der Wahrnehmung der „Räumlichkeit“ sozialer Phänomene beruht. Wir werden diesen eigenartigen Begriff „Räumlichkeit“ im Verlaufe dieses Abschnittes noch genauer besprechen. Jedenfalls impliziert das Bemühen um eine sozialwissenschaftliche Raumtheorie, wie es sich in den Arbeiten der zitierten Autoren äußert, die Grundannahme, dass „der Raum“ (dieses Wort ist ab jetzt in Anführungszeichen zu lesen) und soziale Phänomene auf eine sehr grundle­ gende Weise miteinander zu tun haben. Die These lautet: Räumliche Strukturen sind mehr als das unvollkommene Abbild oder die bloße Projektion sozialer Gegebenheiten in die Karte. Räumliche Strukturen sind vielmehr eine spezifische Ausdrucksform und ein Medium sozialer Phänomene und Systemzusammenhänge. Damit könnte man in Umkehrung der Fragestellung des letzten Abschnittes sogar meinen: Sind die Soziologen gerade dabei, die Sozialgeographie neu zu erfinden? Die eben formulierte These soll im Folgenden durch konkrete Beispiele veranschaulicht werden. Dazu verwenden wir einige Ausprägungsformen von „Räumlichkeit“ im Maßstabsbereich der Mikrogeographie, auf die ich bereits in einer früheren Veröffentlichung (P. Weichhart, 1993) verwiesen habe. Ein besonders anschauliches Beispiel für Räumlichkeit ist jedem präsent, der sich an einer Universität aufhält: der typische Hörsaal eines neueren 65

„Räumlichkeit“

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Dimensionen des Zusammenhangs zwischen sozialen Gegebenheiten und „Raum“

Funktionalität

Universitätsgebäudes (Abb. 3). Ein solcher Hörsaal ist durch einen charakteristischen Zusammenhang zwischen den Einrichtungsgegenständen, deren Anordnung und dem Nutzungszweck gekennzeichnet.Wir finden eine ganze Reihe von „Dingen“ vor (Bänke, Bestuhlung, Katheder, Tafel, Pult, Anschlüsse, Projektionsfläche, Beamer, Projektor etc.), die zueinander in einer ganz bestimmten Anordnungsrelation stehen. Die physisch-materielle Struktur dieses Raumes, seine Ausstattung mit Gegenständen und deren Lagerelation zueinander hängen ganz offensichtlich mit seiner sozialen Zwecksetzung, seiner spezifischen Funktion oder Nutzungswidmung zusammen. Die physisch-materielle Struktur derartiger Räume korrespondiert dabei anscheinend mit einer sehr spezifischen Zwecksetzung, die man nicht einfach gegen eine andere Nutzungsweise austauschen kann. Ein solcher Hörsaal wäre beispielsweise keinesfalls als Veranstaltungsort für eine Tanzparty geeignet, selbst wenn man die Bankreihen entfernte. Entscheidend für die Funktionalität des Raumes ist dabei nicht nur, wel­ che Dinge wir hier vorfinden, sondern vor allem auch die spezifische Art der räumlichen Anordnung der Einrichtungsgegenstände. Es reicht nicht, dass Sitzgelegenheiten, Schreibflächen, eine Tafel, die Projektionsfläche oder ein Beamer irgendwo vorhanden sind. Das spezifische Nutzungspotenzial des Hörsaals ergibt sich erst aus folgenden Merkmalen: Die Sitze sind räumlich so angeordnet, dass eine relativ große Zahl von Personen Platz findet. Gleichzeitig wird durch die Anordnung sichergestellt, dass Tafel, Projektionsfläche und Pult im engeren Gesichtsfeld der Sitzenden liegen. Durch die Krümmung der Bankreihen ergibt sich eine Fokussierung auf den Mittelbereich der vorderen Wand beziehungsweise auf den Vortragenden, das Pult, die Tafel und die Projektionsfläche. Die Höhenstaffelung der Sitzreihen gewährleistet ein ungestörtes Blickfeld über die Köpfe der Personen in den vorderen Reihen hinweg. Wären Katheder, Pult und Projektionsfläche auf der Rückseite des Raumes angeordnet, könnte die Zwecksetzung nicht erreicht werden. Wir können hier einen klaren und eindeutigen Zusammenhang zwischen der sozialen Interaktion und der räumlichen Anordnung der Einrichtungsgegenstände erkennen, die auf eine ganz bestimmte Art der sozialen Interaktion und Kommunikation zugeschnitten ist, nämlich auf den Frontalunterricht. Das ist eine Kommunikationsform im Rahmen des Bildungssystems, bei dem eine primär einseitige Richtung des Informationsflusses vom Podium zum Publikum vorherrscht, eventuell noch in die umgekehrte Richtung. Eher unpraktisch ist die Anordnung aber, wenn einzelne Zuhörer miteinander sprechen wollen. Die Zusammenhänge zwischen der physisch-materiellen Struktur des Raumes und der dabei gegebenen Relationalität der Dinge zueinander mit sozialen Gegebenheiten sind auf mehreren Dimensionen erkennbar. Eine erste leicht einsichtige Dimension ist die Funktionalität. Die räumliche Anordnung physisch-materieller Dinge, ihre relationalen räumlichen Bezie66

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Abbildung 3: Audimax der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg

hungen zueinander ist eine wichtige funktionale Voraussetzung für das Ablaufen sozialer (aber natürlich auch technischer oder ökonomischer) Prozesse. So ist es etwa für die hier gegebene soziale Zwecksetzung und das dabei ablaufende Handlungsprogramm sehr nützlich und hilfreich, wenn die Bedienungselemente für den Computer (Maus) und den Beamer räumlich so angeordnet sind, dass Vortragende sie bequem von ihrem Standort aus betätigen können. Es wäre für den funktionalen Ablauf der Lehrveranstaltung gewiss kontraproduktiv, wenn man für jeden Bildwechsel beispielsweise nach hinten laufen müsste. Die relationale räumliche Anordnung der Gegenstände und Körper wirkt sich aber auch noch auf andere Dimensionen aus. Die oder der Vortragende vorne am Pult erhält allein durch die bestehende Raumstruktur eine hervorgehobene Position. Die Lehrperson kann daraus Vorteile ziehen. Die Aufmerksamkeit des Auditoriums ist auf sie gerichtet, sie steht im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Sie hat relative Bewegungsfreiheit, kann die Körpersprache besser einsetzen als im Gedränge des Auditoriums, auf sie ist die Aufmerksamkeit aller konzentriert, sie kann die Zuseher gut im Auge behalten und gleichsam kontrollieren. Damit verweist unser Hörsaalbeispiel auf die sozialen Dimensionen Status und sozialer Rang sowie auf die Kategorien Macht und Herrschaft. Als vierte Dimension wird am Hörsaalbeispiel der Aspekt der Verhaltensnormierung erkennbar. Orte definieren „Gültigkeitsbereiche von Normen“. In einem Hörsaal benimmt man sich anders als in der Mensa, in einer Kirche anders als am Bahnhof. Wir alle haben im Verlauf unserer Sozialisation gelernt, dass mit bestimmten Orten Erwartungshaltungen in Bezug auf unser Tun 67

Status und sozialer Rang, Macht und Herrschaft

Orte als Gültigkeitsbereich von Normen

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Kontrolle

Symbolfunktion des Raumes

verbunden sind. „Raumstrukturen“, Orte und die Relationalität ihrer physisch-materiellen Ausstattung können Ausdruck und Medium von Statuspositionen, Machtausübung und Verhaltensnormierung sein. Sehen wir uns dazu einige sehr einfache Beispiele an. In Abbildung 4 ist der Plan eines fiktiven Großraumbüros aus den beginnenden 1970er-Jahren dargestellt. So oder so ähnlich konnten damals Verwaltungsabteilungen größerer Industrie- oder Dienstleistungsbetriebe aussehen: ein großer Saal, in dem die Arbeitsplätze der Beschäftigten in Reih und Glied aufgereiht sind. Die Arbeitstische sind Platz sparend zusammengerückt, zwischen ihnen befinden sich die Verkehrs- und Kommunikationsflächen. Als Sichtschutz gibt es bestenfalls paraventähnliche Abgrenzungen, zwischen den Arbeitsplätzen der einzelnen Beschäftigten gibt es kaum Unterschiede. Die Anordnung ist nicht nur Platz sparend, sie ermöglicht auch eine sehr bequeme Kontrolle des Arbeitsprozesses. Die Beschäftigten haben so gut wie keine Rückzugsmöglichkeiten. Man könnte nicht einmal ungestört in der Nase bohren. Der Abteilungsleiter sieht jederzeit, was seine Untergebenen tun. In Abbildung 5 wird der Arbeitsraum des Generaldirektors unseres Betriebes dargestellt. Die direkte Eingangstür ist für den Besucher natürlich nicht geöffnet. Er muss bei der Chefsekretärin eintreten, die mit ihrem Büro gleichsam als Filter oder Barriere wirkt. Die Tür öffnet sich für den Zugelassenen in einen Raum, dessen Repräsentationsfunktion sogleich erkennbar wird, nicht nur an der Qualität und Erlesenheit der Einrichtung, sondern auch an der räumlichen Struktur beziehungsweise der räumlichen Anordnung der Gegenstände. Ein sehr großer, eleganter Schreibtisch mit einem bequemen und repräsentativen Chefsessel steht in angemessener Distanz vom Eingang.Vor dem Schreibtisch sehen wir eine etwas weniger bequeme und einfacher ausgeführte Sitzgelegenheit, die offensichtlich von untergeordneten Personen zu benutzen ist, die in diesem Raum Anweisungen entgegennehmen. Wer hier eintritt, hat zunächst einen kleinen Fußmarsch vor sich, muss eine Distanz überwinden. Und wenn der Herr Generaldirektor seine besondere Wertschätzung für den Besucher zum Ausdruck bringen möchte, dann wird er sich erheben, seinem Gast entgegengehen und durch dieses Überwinden der räumlichen Distanz auch die soziale Distanz symbolisch verringern. Die Einrichtung dieses Zimmers, seine Größe und die räumliche Anordnung der in ihm befindlichen Dinge sind rein arbeitsfunktional nicht ausreichend zu erklären. Für das, was der Herr Generaldirektor konkret in diesem Raum tut, würde ein Drittel der Nutzfläche locker ausreichen. Wir erkennen einen fünften Aspekt des Zusammenhanges zwischen dem Sozialen und dem Räumlichen. Orte und spezifische räumliche Konfigurationen haben eine Symbolfunktion. Sie sind auch Zeichen, die auf soziale Sinnzusammenhänge verweisen. Jeder, der in unser Kultursystem bzw. in eine 68

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Abbildung 4: Großraumbüro Quelle: P. Weichhart, 1993, S. 240

Abbildung 5: Büro Generaldirektor Quelle: P. Weichhart, 1993, S. 241

bestimmte soziale Gruppe sozialisiert wurde, kann diese Zeichen verstehen. Er erkennt Gruppenzugehörigkeit, Position und Statusrang des „Bewohners“ oder „Besitzers“. Und damit sind wir bei einem sechsten Aspekt des Zusammenhanges zwischen dem Sozialen und dem Räumlichen: Raumstrukturen sind für jene Personen, die diesen Ort nutzen oder darüber Verfügungsgewalt haben, eines der (vielen) Medien, die eigene soziale und personale Identität zum Aus­ druck zu bringen. Und diese Botschaft wird von Außenstehenden sehr gut verstanden. Sie lautet: „Sieh her, diese Art von Person bin ich, dies ist meine Position in unserem sozialen System, in dieser spezifischen Organisation.“ Brechen wir an dieser Stelle zunächst einmal ab. Die wenigen Beispiele haben wohl hinlänglich klar gemacht, dass die geschilderte „Entdeckung“ 69

Ausdruck der eigenen sozialen und personalen Identität

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Gründe für die Vernachlässigung der Räumlichkeit in den Sozialwissenschaften

oder „Wiederentdeckung“ des Räumlichen durch die Sozialwissenschaftler einen durchaus einleuchtenden und plausiblen Hintergrund besitzt. Räumliche Strukturen scheinen tatsächlich gewisse Zusammenhänge mit sozialen Gegebenheiten aufzuweisen. Was sind nun die Hintergründe für die lange Vernachlässigung der Räumlichkeit sozialer Systeme durch die Sozialwissenschaften? Wie könnte man diese eigenartige Abstinenz erklären? Für eine solche Erklärung muss man weit ausholen. Wir müssen dazu Überlegungen anstellen, die sich mit drei relativ schwierigen Fragen befassen. Der erste Punkt bezieht sich auf die in den Sozialwissenschaften und der Geographie vorfindbaren Raumkonzepte.Was genau ist gemeint, wenn man in unserem Fach oder in der Soziologie von „Raum“ spricht? Wenn man darüber nachdenkt, kommt man mit zwingender Notwendigkeit zu ontologischen Problemen, also zur philosophischen Frage, wie denn die „Wirklichkeit“ beschaffen ist. Und in diesem Zusammenhang müssen wir uns auch mit dem Faktum auseinandersetzen, dass wir Menschen einen Körper besitzen und dieser Körper auch die Gegebenheiten unserer sozialen Existenz maßgeblich beeinflusst. Im nächsten Abschnitt sollen diese drei Problemstellungen etwas ausführlicher diskutiert und daraus einige Folgerungen für die Sozialgeographie und ihr Verhältnis zu den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen abgeleitet werden. 5.1. Raumexorzismus

Ausprägungen des Raumexorzismus

Wir haben im letzten Abschnitt die eigenartige Abstinenz der Sozialwissenschaften erörtert, sich mit der räumlichen Struktur sozialer Phänomene zu befassen und dann einige Beispiele für den evidenten Zusammenhang zwischen dem Sozialen und dem Räumlichen diskutiert. Diese Zusammenhänge sind die Ursache dafür, dass man in den letzten zwei Jahrzehnten in den Sozialwissenschaften den „Raum“ wiederentdeckt hat. Im folgenden Abschnitt wollen wir uns mit einigen Grundsatzüberlegungen zum Thema „Raum“ beschäftigen und einige ontologische Reflexionen dazu anstellen. Dies soll uns einerseits helfen, die lang andauernde „Raumabstinenz“ der Sozialwissenschaften zu verstehen. Andererseits möchte ich damit die zentrale Aufgabenstellung der Sozialgeographie begründen und die Leser gleichzeitig mit zeitgemäßen Raumkonzepten vertraut machen. Ich verwende dazu Formulierungen eines eigenen Textes, der in einem von P. Meusburger herausgegebenen Sammelband veröffentlicht wurde (P. Weichhart, 1999; dazu J. Miggelbrink, 2002). Wir haben im letzten Abschnitt schon davon gesprochen, dass es in der neueren Geographie eine Denktradition gibt, die als „Raumexorzismus“ bezeichnet wird. Wolfgang Zierhofer (1999 a, S. 176, Fußnote 10) unter70

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

scheidet dabei eine „starke“ und eine „schwache“ Form des Raumexorzismus. Die „starke“ Form geht davon aus, dass soziale Gegebenheiten von materiellen (und damit von „räumlichen“) Strukturen vollkommen unabhängig seien. Diese Position wurde innerhalb der Geographie (unter Verweis auf N. Luhmann) etwa von Gerhard Hard (z. B. 1993) oder Helmut Klüter (z. B. 1986) eingenommen. Vertreter der „schwachen“ Form verlangen hingegen, bei der Darstellung und Analyse sozialweltlicher Phänomene die klassische Raumsemantik durch eine besser geeignete Redeweise zu ersetzen. Es geht hier schlicht und einfach darum, soziale und kulturelle Gegebenheiten nicht primär mit raum-kategoriellen, sondern mit sozialwissenschaftlichen (z. B. handlungstheoretischen) Begriffen zu charakterisieren. Dass dabei natürlich auch die Bedeutung der räumlichen Aspekte von Handlungskontexten für das Gesellschaftliche interessiert, wird ausdrücklich herausgestrichen. Ziel dieser schwachen Form des Raumexorzismus ist es vor allem, eine unzulänglich reflektierte, elliptisch verkürzte und bloß metaphorische Redeweise sowie deterministische Fehldeutungen zu vermeiden. (Der Autor hat sich mehrfach als Vertreter der schwachen Form des Raumexorzismus geoutet, womit er sowohl in die Schusslinie der Traditionalisten und „Raumfetischisten“ als auch ins Feuer der Vertreter der starken Form des Raumexorzismus geraten ist.) Im Folgenden sollen zwei Probleme erörtert werden, die für die Sozialgeographie, aber auch für jede Art von Raumsoziologie von besonderer Relevanz sind. Das erste bezieht sich auf die Argumentation der starken Form des Raumexorzismus. Das zweite Problem ergibt sich aus der Suche nach einem Raumverständnis, das geeignet ist, die im letzten Abschnitt angedeuteten räumlichen Aspekte des Sozialen adäquat zu formulieren. Dazu müssen wir zunächst einige ontologische Vorüberlegungen anstellen. Die Ontologie ist ein Teilgebiet der Philosophie und bedeutet so viel wie „die Lehre vom Sein oder vom Seienden“. Ontologische Fragen werden in der Geographie seit langer Zeit diskutiert. Dabei steht das Problem der ontologischen Differenz zwischen verschiedenen „Seinssphären“ im Vordergrund. In der klassischen Periode der Landschafts- und Länderkunde wurden solche Frage vor allem in Zusammenhang mit dem Bemühen um eine Überwindung der Dichotomie (also des polaren Gegensatzes) zwischen „Natur“ und „Kultur“ artikuliert. Die eigenständige Leistung der klassischen Geographie zur Auflösung ontologischer Differenzen bestand darin, mithilfe der Konzepte „Landschaft“ und „Land“ eine gleichsam synthetisierende und konkret-objekthaft gedachte Klammer zwischen diesen Seinsbereichen anzubieten. Quasi als „Hilfskonstruktion“ musste dazu noch die sogenannte „Integrationsstufenlehre“ aufgeboten werden. Sie besagt, dass das „Zusammentreten der Einzelbestandteile“ im Raum in bestimmten charakteristischen Stufen erfolgen würde (H. Bobek und J. Schmithüsen, 1949). „Wir können von einer stufenweisen Integration sprechen und verstehen dabei unter Integra71

Ontologische Vorüberlegungen

Landschaft und Integrationsstufenlehre als Synthesekonzept

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

„Raum“ als Synthesekonzept

Kieler Revolution: Materie versus Sinn

tion die Verschmelzung verschiedener Elemente zu einem neuen Ganzen, dem Eigenschaften zukommen, die die Elemente einzeln nicht besitzen“ (H. Bobek, 1957, 126). Die einzelnen „Geofaktoren“ wurden dabei als „Partialkomplexe“ angesehen (z. B. der Boden), die durch funktionale und kausale Wechselwirkungen konstituiert würden und als Systeme niedrigerer Ordnung aufzufassen seien. Als „zentrales Integrationsprodukt“ galt die Landschaft, in der die „Verschmelzung“ von Natur und Kultur zu einem ganzheitlichen Gestaltkomplex evident werde. Die Raumkonzepte der klassischen Geographie hatten unter anderem also die zentrale Funktion, eine substanzialistische (dinghaft-materiell gesehene) Verklammerung von „Natur“ und „Kultur“ zum Ausdruck zu bringen. Ähnliches gilt für die postklassische traditionelle Geographie. Nun fungieren allerdings die Begriffe „Raum“ und „Region“ als Synthesekonzepte, mit denen eine ganzheitlich-gestalthafte Verschmelzung unterschiedlicher Seinsbereiche bewerkstelligt werden soll. Räume und Regionen werden dabei als „reale Gegenstände“, als „Substanz“ aufgefasst, die man gleichsam als konkrete Elemente der Realität forschend entdecken könne. Auch hier gilt als Konstitutionsprinzip der Wirkungszusammenhang zwischen verschiedenen Geofaktoren. In der Region oder generell: im Raum würden die Elemente der unterschiedlichen Seinsbereiche Natur und Kultur zu einem integralen Ganzen zusammentreten. Mit der berühmten „Kieler Revolution“, dem Verwerfen der klassischen Landschaftsgeographie und dem Umbau des Faches zu einer modernen „Raumwissenschaft“, verlagerte sich der Schwerpunkt der ontologischen Diskussion auf eine andere Ebene. Es war nun nicht mehr der Gegensatz zwischen Natur und Kultur, sondern die Dichotomie „Materie“ und „Sinn“, die zum Gegenstand von Reflexionen gemacht wurde. Man behauptete nun, dass der „Frontverlauf“ zwischen den ontologischen Kategorien eigentlich durch den Gegensatz „physisch-materielle Welt“ versus „soziale Welt“ markiert werde. Dietrich Bartels (1968, S.17) wies etwa darauf hin, dass zur wissenschaftlichen Beschreibung der physisch-materiellen Welt ganz andere Analysekategorien oder „Maßeinheiten“ verwendet werden als zur Beschreibung sozialer Tatbestände. Die Parameter zur Darstellung der Materie sind etwa „Masse“ oder „Energie“, für die Darstellung sozialer und sinnbezogener Phänomene verwendet man Parameter wie „Kommunikation“, „Information“ oder „Intention“. Und diese unterschiedlichen Klassen von Parametern hätten miteinander schließlich nicht das Geringste zu tun. Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde immer häufiger darauf verwiesen, dass eigentlich nur materielle Dinge einen „Ort“ im „Raum“ haben könnten. Man könne daher auch nur physisch-materielle Dinge „kartieren“ und in Karten darstellen. Der Gesamtbereich der sozialen Welt sei aber grundsätzlich als a-räumlich anzusehen. Vor allem Gerhard Hard wurde nicht müde, auf diese Differenz hinzuweisen. 72

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Der seit Kiel nicht mehr abreißende Diskurs zum Thema „Ent-Räumlichung“ der Geographie wird in sehr starkem Maße mit Argumenten geführt, die auf ontologische Fragen Bezug nehmen. Um die „ontologische Verslumung“ – so hat es G. Hard (1993, S. 56) einmal formuliert – der in der Geographie vorfindbaren Raumkonzepte sichtbar zu machen, wird häufig auf die gängige ontologische „Drei-Welten-Differenzierung“ verwiesen, wie sie von K.R. Popper (1973) und (eher implizit) von A. Schütz (1971, 1982) eingeführt wurde. Gerhard Hards Vorschlag lautet folgendermaßen: Suchen wir doch eine Redeweise, bei der zwischen den verschiedenen Seinsweisen der Realität präzise unterschieden wird.Verwenden wir dazu die Drei-Welten-Theorie Poppers, um eine „übersichtliche Kategorisierung“ der in der Geographie vorfindbaren Raumkonzepte vorzunehmen. In der Anwendung seines Vorschlages gelangt Hard zu drei Klassen von Raumbegriffen: dem physischmateriellen Raum der Dinge und Körper, den „Mental Maps“ oder „kognitiven Karten“ im Bewusstsein von Menschen und sozialen Raumkonstrukten wie „Heimaten“ oder „Vaterländern“. Aber sehen wir uns zunächst einmal die Originaltheorie von Popper an. Karl Popper hatte diese sogenannte „Drei-Welten-Theorie“ in einem Vortrag mit dem Titel „Zur Theorie des objektiven Geistes“ vorgestellt, den er 1968 in Wien gehalten hatte. Seine Hauptthese lautet: Die Welt besteht aus drei voneinander klar unterscheidbaren und ontologisch eigenständigen Teilwelten: Die Welt 1 ist die physikalische Welt oder die Welt der physikalischen Zustände. Die Welt 2 ist die geistige Welt, die Welt unserer psychischen Erlebnisse (Wünsche, Hoffnungen, Gedanken …). „Die Welt 3 ist die Welt der intelligibilia oder der Ideen im objektiven Sinne; es ist die Welt der möglichen Gegenstände des Denkens; die Welt der Theorien an sich und ihrer logischen Beziehungen; die Welt der gültigen Argumente an sich und der ungültigen Argumente an sich; die Welt der Problemsituationen an sich“ (1973, S. 188). Poppers eigentliches Anliegen bei der Entwicklung seiner Drei-WeltenTheorie war es, die nach seiner Auffassung unzulässige Gleichsetzung von objektiven Ideen und subjektiven Denkprozessen aufzuzeigen. Die zentrale Botschaft dieser Theorie besteht in der Behauptung, dass die Welt der objektiven Ideen oder Intelligibilia in Hinblick auf ihren ontologischen Status unabhängig sei (ebd., 195) und nicht auf subjektive Denkprozesse reduziert werden könne. Es geht Popper also vor allem darum, die Eigenständigkeit, „Wirklichkeit“ oder Autonomie der Welt 3 zu betonen, obwohl sie ein „Erzeugnis“ des Menschen ist, so wie Spinnweben oder Honig Erzeugnisse von Spinnen und Bienen sind. Bei der Interpretation dieser Theorie im Rahmen der innergeographischen Diskussion wird vor allem die strenge ontologische Unterscheidung zwischen den drei Welten in den Vordergrund gerückt. Es wird primär 73

Poppers Drei-Welten-Theorie

Interpretation der Drei-Welten-Theorie in der Geographie

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Wider den Determinismus

Zusammenhang/ Wechselwirkung der drei Welten

herausgestellt, dass physisch-materielle Dinge, subjektive Bewusstseinszustände und die Welt der Intelligibilia als grundsätzlich verschiedenartige Seins­ bereiche aufgefasst werden müssten. Die entscheidende Schlussfolgerung lautet dabei:Weil diese drei Welten und das, was sie an Phänomenen enthalten, einen unterschiedlichen ontologischen Status aufweisen, kann es nicht möglich und schon gar nicht sinnvoll sein, „Bewohner“ einer dieser Welten mit Elementen einer anderen in Beziehung zu setzen oder in einer anderen Welt abzubilden. Dies hat eine entscheidende Konsequenz: Wegen dieser ontologischen Differenz seien alle Versuche von vornherein zum Scheitern verurteilt, soziale Tatbestände, die von Hard grundsätzlich als Elemente der Welt 3 angesehen werden, in der Welt 1 zu lokalisieren. Dies wird als zentrales Argument für die starke Version des Raumexorzismus gewertet (z. B. G. Hard, 1993). Denn die Räume der Geographen sind in ihrer konkreten Materialität natürlich Elemente der Welt 1. Tatsächlich besteht – wie Wolfgang Zierhofer (1999 a, S. 167) es formuliert hat – ein „großer Bedarf“ nach einer ontologischen Unterscheidung zwischen (subjektivem) Sinn, Materie und Sozialem. Denn nur unter der Prämisse einer derartigen ontologischen Differenz ist es möglich, „sich … den Menschen als autonomes Subjekt mit freiem Willen vorzustellen“ (ebd., S. 167) und deterministische Kausalwirkungen von der Welt 1 auf die Welten 2 und 3 dezidiert auszuschließen. Bei genauer Betrachtung liegt die primäre Intention der meisten Vertreter des schwachen wie des starken Raumexorzismus auch genau in diesem Punkt. Ihr eigentliches Anliegen ist in Wahrheit gar nicht der Raum, sondern das Bemühen, jede Möglichkeit deterministischer Kurzschlüsse von der Welt 1 auf die Welten 2 und 3 auszuschließen. Durch diese Argumentationsstruktur geriet allerdings ein durchaus bedeutsames Problem aus dem Blickpunkt des Interesses. Es ist die Frage, wie denn eigentlich der Zusammenhang oder die Wechselwirkung zwischen den Welten beschaffen ist. In der Diskussion der Raumexorzisten wird unter Verweis auf die ontologische Differenz zwischen den drei Welten meist argumentiert, dass derartige Zusammenhänge gar nicht existieren (können) beziehungsweise dass es sich hier bestenfalls um wissenschaftlich völlig irrelevante Trivialitäten handeln würde. Popper selbst hält diese Frage allerdings keineswegs für trivial, sondern für „höchst wichtig“ (1973, S. 188) oder gar für eine „Hauptfrage“:

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5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

„Denn offensichtlich möchten wir verstehen, wie solche nichtphysikalischen Dinge wie Zwecke, Überlegungen, Pläne, Entscheidungen, Theorien, Absichten und Werte dabei mitspielen können, physikalische Änderungen in der physikalischen Welt herbeizuführen. Dass sie das tun, scheint – trotz Hume, Laplace und Schlick – offensichtlich zu sein. Es ist einfach nicht wahr, dass all jene ungeheuren physikalischen Veränderungen, die stündlich von unseren Federn und Bleistiften oder Baggern hervorgebracht werden, rein physikalisch erklärbar wären …“ K. R. Popper, 1973, S. 273/274 Bei der Befassung mit der Frage nach den Beziehungen zwischen den drei Welten unterscheidet Popper zwei Probleme. Das erste nennt er „Comptons Problem“ (S. 274). Es lässt sich (in der behavioristischen Terminologie Comptons) beschreiben als „… das Problem des Einflusses der Welt abstrak­ ter Bedeutungen auf das menschliche Verhalten (und damit auf die physikalische Welt)“ (S. 275). Das zweite – es ist das „klassische Leib-Seele-Problem“ – nennt er „Descartes’ Problem“ (S. 276): „Wie ist es möglich, dass Bewusstseinszustände – Willensakte, Gefühle, Erwartungen – die physischen Bewegungen unserer Glieder beeinflussen oder steuern? Und … wie ist es möglich, dass die physikalischen Zustände eines Organismus seine psychischen Zustände beeinflussen?“ (S. 276). Der Weg zur Lösung dieser Probleme, den Popper im Folgenden vorschlägt, basiert auf der Akzeptanz von „Comptons Freiheitspostulat“: „Die Lösung muss die Freiheit erklären; und sie muss auch erklären, warum Freiheit nicht einfach Zufall ist, sondern eher das Ergebnis eines komplexen Zusammenwirkens zwischen etwas sehr Zufalls­ ähnlichem und so etwas wie einer einschränkenden oder auswählenden Steuerung …“ (ebd., S. 276) Es geht Popper damit um die Beantwortung genau jener Frage, die das zentrale Problem der Geographie beschreibt: Wie kann man zu einer inde­ terministischen Behandlung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen „Sinn und Materie“2 gelangen? Popper will also ausdrücklich genau jenes Problem lösen, das nach Ansicht der Vertreter des starken Raumexorzismus angeblich gar nicht existiert. 2

So formuliert es W. Zierhofer (1999 a) sehr treffend. 75

Zusammenfassung Sinn – Materie

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Poppers evolutionstheoretische Vorschläge zur Lösung des Problems können allerdings nicht wirklich überzeugen. Er selbst bietet seine Theorie auch „mit vielen Entschuldigungen an“ (S. 288) und räumt ein, dass sein Vorschlag „gleichzeitig zu alltäglich und zu spekulativ“ wäre und gewiss nicht das sei, „wonach die Philosophen gesucht haben“ (S. 304). Sein Vorschlag soll daher hier auch nicht ausführlicher diskutiert werden.

Es geht dem Autor an dieser Stelle primär darum, das Folgende klar zu machen: Man kann sich nicht auf Popper als Kronzeugen berufen, um unter Verweis auf den eigenständigen ontologischen Status seiner drei Welten die Frage nach den Wechselwirkungen und Zusammenhängen zwischen ihnen als irrelevant oder trivial abzulehnen. Dies steht eindeutig in schroffem Widerspruch zu Poppers eigener Argumentation und Problemsicht, bei der solche Zusammenhänge ausdrücklich als besonders wichtige Fragestellung angesehen werden. Die Argumentation von Vertretern der starken Form des Raumexorzismus ist also dadurch gekennzeichnet, dass die Popper’sche Drei-Welten-Theorie als ontologisches Argument zur Begründung grundlegender Differenzen zwischen verschiedenen Seinsbereichen eingesetzt wird, gleichzeitig aber die im Rahmen dieser Theorie sehr wichtige Frage nach den Wechselwirkungen zwischen den Welten ignoriert und ausgeklammert wird. Die bisher in der Geographie praktizierten und diskutierten Versuche, mit dem Problem der Wechselwirkungen zwischen den drei Welten umzugehen, erscheinen in jedem Falle höchst reduktionistisch und kommen als akzeptable Lösung nicht wirklich infrage. Der von den traditionellen Ansätzen der Geographie implizit präferierte Lösungsweg muss als materialistischer Reduktionismus angesehen werden, bei dem die zweit- und drittweltlichen Komponenten, die soziale Praxis und der Zeichencharakter der Welt 1 nicht adäquat zum Ausdruck kommen. Hier wird ausschließlich über die physischmaterielle Welt geredet. Umgekehrt ignoriert die zeichentheoretische Lösung, wie sie in der Geographie etwa von G. Hard (z. B. 1993) und H. Klüter (z. B. 1986) propagiert wird, die evidente Materialität der Artefakte und der Dingwelt und vernachlässigt die bedeutende Rolle, die ihnen in sozialen Prozessen zukommt. Materielle Dinge sind natürlich mehr als nur Zeichen, sie besitzen strukturelle, funktionelle und physiologische Qualitäten, die sich einer ausschließlich semiotischen (also zeichentheoretischen) Analyse entziehen. Ein Laib Brot hat zwar zweifellos einen (mehrdeutigen) 76

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Zeichencharakter, dient aber eben auch als Nahrungsmittel. Und diese physiologisch durchaus relevante Funktion kann zeichentheoretisch nicht adäquat beschrieben werden. Allerdings – und hier hat G. Hard (1993, S. 57) völlig recht – sind wir es gewohnt, zur Beschreibung der „Bewohner“ der drei Welten auch unterschiedliche Sprachen zu verwenden. Daher fällt es uns überaus schwer, die Beziehungen zwischen den Welten zu artikulieren. Es erhebt sich damit auch der Verdacht, dass die in den westlichen Kulturen übliche strikte und ontologisch verstandene Differenzierung zwischen „Natur“ und „Kultur“, „Geist“ und „Materie“ nicht das (vom Sprecher unabhängige) Objekt, sondern das Produkt der gängigen kognitiven und sprachlichen Praxis darstellt. Mit anderen Worten: Der Gegensatz zwischen Natur und Kultur resultiert nicht aus der Struktur der Wirklichkeit, sondern ist das Ergebnis einer sprachlichen Konstruktion.

Das „Brot-Beispiel“, das wir eben verwendet haben, demonstriert sehr überzeugend, dass die Welt von „hybriden“ Phänomenen bevölkert ist, die gleichzeitig in mindestens zwei der Popper’schen Welten beheimatet sind. Brot ist – etwa im Christentum – ein hochrangiges Zeichen von besonders beeindruckender Bedeutungsdichte, gleichzeitig ist es aber als Nahrungsmittel von physiologischer Relevanz ein Gegenstand der physisch-materiellen Welt. Dieser Charakter der „Hybridität“ kommt besonders deutlich bei materiellen Artefakten zum Ausdruck, also bei Gegenständen der materiellen Welt, die durch die Tätigkeit des Menschen geformt und gestaltet wurden. Sie lassen sich in Bezug auf ihre Position im Drei-Welten-Schema nicht eindeutig bestimmen. Benno Werlen (1987, S. 181) formulierte dies folgendermaßen: Materielle Artefakte wie Gebäude oder Landnutzungssysteme „… können insgesamt weder der physisch-materiellen Welt noch der immateriellen sozialen Welt einseitig zugeordnet werden. Die einseitige Zuordnung zur physischen Welt ist deshalb als unangemessen zu betrachten, weil in Artefakten immer auch Sinnsetzungen der Hervorbringungsakte aufgehoben sind … Die einseitige Zuordnung zur sozialen Welt ist deshalb unangebracht, weil diese Artefakte materieller Art sind und somit einen anderen ontologischen Status aufweisen als reine Sinngehalte und Ideen.“

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Hybridität

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Auch unsere früheren Beispiele (wie etwa der Hörsaal oder das Zimmer des Generaldirektors) haben uns dieses Faktum veranschaulicht. Es gibt also so etwas wie Repräsentationen der Welt 3 in der Welt 1, Gegenstände der Welt 1 werden als Vehikel für die Welt 3 genutzt. Deshalb macht es auch Sinn, „Raum“ als Beschreibungsmodus der Welt 1 in einem sozialwissenschaftlichen Kontext zu verwenden.

Wir können ein erstes Zwischenresümee ziehen: Die starke Form des Raumexorzismus kann nicht nachvollzogen werden und wird abgelehnt. Die von den meisten Vertretern dieser Auffassung vorgelegte Begründung über die Drei-Welten-Theorie Poppers ist gerade im Kontext dieser Theorie inkonsistent und ignoriert einige ihrer zentralen Aussagen. Ein zweiter wichtiger Punkt: Bei der starken Form des Raumexorzismus wird ein ontologischer Pluralismus vertreten. Durch die Betonung der Differenz zwischen den Welten und die Behauptung, dass zwischen den Welten keine Beziehungen und Wirkungszusammenhänge bestehen, kann verlässlich ausgeschlossen werden, dass deterministische Fehlschlüsse vorkommen. Allerdings wird dieser ontologische Pluralismus der offensichtlichen Evidenz hybrider Phänomene nicht gerecht und verursacht eine Reihe von Problemen. In diesem Zusammenhang ist vor allem die Kategorie der immobilen materiellen Artefakte von besonderer Bedeutung. Denn, so Benno Werlen: „… sie strukturieren die physisch-materielle Welt und deren erdräumliche Dimension in sozialer Hinsicht und die soziale Welt in erdräumlicher Hinsicht auf persistente Weise“ (1987, S. 182).

Wenn es einen solchen Zusammenhang nun aber tatsächlich gibt und auch die Originalversion der Popper’schen Drei-Welten-Theorie die Frage nach den Zusammenhängen zwischen diesen ontologischen Kategorien ausdrücklich zulässt und sogar als besonders wichtig herausstreicht, dann ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, ein Raumkonzept zu entwickeln, in dem sowohl physisch-materielle Dinge und Körper als auch soziale Sachverhalte darstellbar sind. Was also benötigt wird, ist ein „sozialwissenschaftlich verträglicher“ Raumbegriff. Wie könnte ein solches Raumkonzept aussehen? Um diese Frage genauer zu überlegen, soll im nächsten Abschnitt eine Bestandsaufnahme der in unserem Fach gängigen Verwendungsweisen des Begriffes „Raum“ versucht werden. Dabei soll es auch darum gehen, Erklärungsansätze für die hartnäckige Persistenz der substanzialistischen und 78

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

organismischen Raumauffassungen in der Geographie zu finden. Warum haben die „Landschaften“, „Länder“, „Räume“ und „Regionen“ der Geographie die Eigenheit, als eigenständige „Dinge“ aufzutreten? Im Mittelpunkt sollen aber zwei Fragen stehen: 1. Welche Varianten der in der Geographie vorfindbaren Raumkonzepte können unter welchen Bedingungen – auch im Sinne einer fachlichen Kontinuität – weiterhin problemlos verwendet werden, welche sind zu verwerfen? 2. Ist es sinnvoll, die fachliche Identität der Geographie an irgendwelche Raumkonzepte zu knüpfen und damit – wie dies in der innerfachlichen Diskussion ständig geschieht – einen wie immer verstandenen „Raum“ gleichsam zum Konstitutionsprinzip dieser Disziplin zu erklären? 5.2. „Räume“ – eine Bestandsaufnahme Was also hat es mit dem Begriff „Raum“ auf sich? Die meisten Geographen würden wohl spontan der Behauptung zustimmen, dass „Raum“ auf das zentrale Erkenntnisinteresse unseres Faches verweist und damit als der entscheidende Schlüsselbegriff der Geographie angesehen werden kann. So wie die Geschichte als die Wissenschaft von der Zeit bezeichnet wird, gilt die Geographie als die Wissenschaft vom Raum. Wesentlich weniger Konsens wäre aber wohl gegeben, wenn es darum ginge, eine präzise, allseits akzeptierte Definition dieses Begriffes zu formulieren. Die meisten Fachvertreter haben zwar das unmittelbare Evidenzerlebnis, mit dem „Raum“ gleichsam das Herzstück der Geographie zu fassen, eine klare und in konkrete Forschungsoperationen umsetzbare Definition bereitet aber extreme Schwierigkeiten. Es geht uns mit dem Raumbegriff heute so wie den Vertretern der klassischen Geographie mit dem Landschaftsbegriff: „Was aber ist Landschaft? Das ist die ungelöste Grundfrage der Geographie“ (H. Carol, 1956, S. 111). Wenn man bedenkt, dass damals, Mitte der 1950er-Jahre, die klassische Landschaftsgeographie am Höhepunkt ihrer Entwicklung war, muss diese eindeutige Aussage doch in höchstem Maße verwundern. Einer der prominentesten Fachvertreter dieser Zeit gibt unumwunden zu, dass seine wissenschaftliche Disziplin nicht imstande ist, ihren wichtigsten Forschungsgegenstand zu beschreiben oder zu definieren, ja, dass man gar nicht genau weiß, worum es sich bei diesem Gegenstand eigentlich handelt. Wenn wir die aktuelle Literatur der Geographie sichten, dann müssen wir feststellen, dass gegenwärtig eine absolut vergleichbare Unsicherheit in Bezug auf den Begriff „Raum“ vorliegt.Wir könnten aus heutiger Sicht das Carol-Zitat umformulieren und fragen: „Was aber ist Raum?“ Und wir müssten als Resümee des Forschungsstandes resignierend zum Ergebnis kommen: „Das ist die ungelöste Grundfrage der Geographie“.

79

„Raum“ als Schlüsselbegriff der Geographie

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Umformulierung der Frage nach dem Raum

Rekonstruktion der Bedeutung des Wortes „Raum“

Raum als Gebiet der Erdoberfläche Raum1

Wie könnten wir nun vorgehen, um diese „ungelöste Grundfrage“ „Was aber ist Raum?“ doch einer Lösung zuzuführen? Der erste Schritt dazu besteht in einer Umformulierung der Frage. Im Verlaufe der Diskussion um den Landschaftsbegriff hat sich gezeigt, dass es absolut keinen Sinn macht, bei Überlegungen zu Begriffen sogenannte „Was-ist-Fragen“ zu stellen (vgl. G. Hard, 1970). Die analytische Sprachphilosophie gibt uns vielmehr den Rat, bei derartigen Problemstellungen von der Pragmatik der Sprechakte auszugehen. Wenn wir einfach fragen: „Was ist Raum?“, dann riskieren wir durch diese sprachrealistische Fragehaltung, dass die Antwort schlicht in einer metaphysischen Spekulation besteht. Denn Begriffe und Wörter sind Zeichen, die auf etwas verweisen. Ihre Bedeutung entsteht immer durch einen Zuschreibungsprozess, den der Sprecher selbst vornimmt. Es ist daher vernünftiger, schlicht und einfach die Verwendungsweisen von Begriffen zu analysieren. Bei einer solchen sprachpragmatischen Umformulierung wird die Frage aber ein wenig komplizierter. Wenn wir nämlich rekonstruieren wollen, in welcher Bedeutung das Wort „Raum“ verwendet wird, dann müssen wir auch berücksichtigen, von wem und zu welchem Zweck es verwendet wird. Denn – wir werden es gleich sehen – die Bedeutungsvarianten hängen von den Sprechern und ihren jeweiligen Zwecksetzungen ab. Zwecksetzung heißt in diesem Zusammenhang: Jede sprachliche Kommunikation beeinflusst das Ver­ halten der Gesprächsteilnehmer. Man nennt dies den „pragmatischen Aspekt“ der Sprache. Wer Begriffe in einem bestimmten Sinne verwendet, tut dies nicht nur, um Information zu transportieren, sondern auch, um den Adressaten zu beeinflussen, ihm eine bestimmte Reaktion nahezulegen. Ich möchte nun im Folgenden zunächst versuchen, die Bedeutung des Wortes „Raum“ zu rekonstruieren. Dabei wird sich zeigen, dass es unangenehmerweise tatsächlich mehrere, sehr unterschiedliche Bedeutungsvarianten gibt, die zueinander in erheblichem Widerspruch stehen. Wir müssen daher eine Art Inventar erstellen, eine Auflistung der verschiedenen Verwendungsweisen des Wortes „Raum“, wie wir sie in der Geographie, in der Umgangssprache unserer Alltagswelt und in benachbarten Disziplinen vorfinden. Mit solchen Fragen einer Bedeutungsrekonstruktion von „Raum“ haben sich in der Vergangenheit bereits verschiedene Autoren befasst. Besonders erwähnt werden sollen hier D. Bartels (1974), D. Reichert, (1996), M. Curry (1996), W. Zierhofer (1999 a), J. Miggelbrink (2002), U. Wardenga (2002) oder H.H. Blotevogel (2005). In einer ersten Bedeutung wird unser geographischer Schlüsselbegriff im Sinne von „Erdraumausschnitt“ oder „Teilbereich der Erdoberfläche“ verwendet. Gemeint ist damit die sichtbare, die materielle Welt. Das Wort bezieht sich dabei einerseits auf einen bestimmten, lagemäßig näher spezifizierten Ausschnitt der Erdoberfläche. In diesem Sinne sprechen wir etwa vom „Mittelmeerraum“, vom „Alpenraum“ oder vom „Salzburger Zen80

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

tralraum“. Genau genommen handelt es sich hier zunächst nur um eine Art Adressangabe, die in der Regel allerdings relativ unscharf ausfällt. „Raum“ ist dann nichts anderes als eine vage und abgekürzte Bezeichnung für ein bestimmtes Gebiet der Erdoberfläche, dessen Grenzen aber entweder nicht näher definiert und unscharf belassen oder konventionell und pragmatisch festgelegt werden. „Mittelmeerraum“ steht dann für nichts anderes als „die Gegend“ oder „das Gebiet rund um das Mittelmeer“. Eine pragmatische Festlegung wäre zum Beispiel dann gegeben, wenn man für die Abgrenzung angibt, dass damit alle Mittelmeeranrainerstaaten gemeint seien. Andererseits werden mit dieser Begriffsvariante auch Gebiete der Erdoberfläche bezeichnet, die durch bestimmte dominante Gegebenheiten charakterisiert sind.Wir sprechen dann etwa von Gebirgsräumen, Passivräumen oder Ballungsräumen. Damit bezieht man sich also auf Bereiche der Erdoberfläche, die gleichsam als Vertreter bestimmter Verbreitungstypen von Phänomenen angesehen werden können. Es sei gleich vorweg angemerkt, dass dieses Raumkonzept immer dann völlig problemlos eingesetzt werden kann, wenn damit tatsächlich nicht mehr gemeint ist als eine Art flächenbezogene Adressangabe und die Abgrenzung rein pragmatisch erfolgt. Wir werden etwas später aber noch sehen, dass dieses „Raum1­Konzept“ – wie ich es nennen will – meist noch durch zusätzliche Inhaltskomponenten erweitert wird. Charakteristisch für diese erste Art der Raumkonzeption ist jedenfalls, dass es sich um einen konkretisierbaren Ausschnitt der materiellen Welt handelt. Dieses Raum1Konzept reicht – wissenschaftsgeschichtlich gesehen – von den Anfängen des Faches bis in die Gegenwart. Inhaltlich entspricht der Raum1 in etwa dem „gegenständlichen Raum“ bei H. H. Blotevogel (2005, S. 831) oder dem „Realobjektraum“ bei E. Lichtenberger (1998) und H. Fassmann (2004). Man könnte den Raum1 auch als „Briefträgerraum“ bezeichnen. In einer zweiten Bedeutung verweist „Raum“ auf jenes „Ding“, das übrig bleibt, wenn man gleichsam aus einem Gebirgsraum das Gebirge herausnimmt: Für Newton war dieser Raum eine Art dreidimensionaler Container, in den alles Materielle eingebettet ist. Oder, wie der Wiener Raumplaner Peter Schneidewind dieses spezifische Raumkonzept in einem Gespräch einmal ironisierend umschrieben hat: der Raum als „Häferl“ (Hochdeutsch „Tasse“), in das man etwas hineingeben kann.Wenn wir uns aus einem „Gebirgsraum“ das „Gebirge“, aus einem Ballungsraum die „Ballung“ wegdenken, gleichsam herausnehmen, dann müsste doch etwas übrig bleiben, nämlich der „leere Raum“, der Raum als eigenständige ontologische Struktur, die unabhängig von ihrer dinglich-materiellen Erfülltheit existiert. Bei diesem Konzept wird „Raum“ als unbegrenzte, dreidimensionale Ausdehnung aufgefasst, in der Objekte und Ereignisse vorkommen, die eine relative Position und Richtung besitzen. Dieses Raum2-Konzept des Container­Raumes ist uralt, es kommt bereits in der griechischen Philosophie oder etwa in der Newton’schen Physik 81

Der Container-Raum Raum2

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Raum als logische Struktur Raum3

vor. In die Geographie drang es erst mit der sogenannten „quantitativen Revolution“ des „Spatial Approach“ beziehungsweise des „raumwissenschaftlichen Ansatzes“ ein. Die erste ausführliche methodische Diskussion dieses Konzepts im deutschen Sprachraum findet sich in den Schriften von Dietrich Bartels. Implizit steckt dieses Konzept aber natürlich auch hinter den Theorieansätzen bei Heinrich von Thünen, Walter Christaller oder August Lösch und ihren Nachfolgern. Den beiden bisher besprochenen Verwendungsweisen des Wortes ist gemeinsam, dass „Raum“ hier als etwas real Existierendes, als Element der physisch-materiellen Wirklichkeit gedacht wird. Der erste Verwendungsmodus des Wortes (Raum1) verweist dabei auf die Gesamtheit der „Dinge“, die im Container oder einer seiner Schubladen vorhanden sind, der zweite (Raum2) abstrahiert gleichsam von der „Füllung“ und meint den Container oder das „Häferl“ selbst. Beide Konzepte kommen nicht nur in der Geographie, sondern auch in verschiedenen anderen Wissenschaften vor. Bei der Inventarisierung von Verwendungsweisen des Wortes „Raum“ können wir nun noch eine dritte Bedeutungsvariante erkennen, die ebenfalls weit verbreitet ist und in fast allen Wissenschaften Verwendung findet. In dieser dritten Bedeutung steht „Raum“ nicht für etwas materiell Existierendes, sondern für immaterielle Relationen und Beziehungen oder für etwas Gedachtes. „Raum“ bezeichnet dabei so etwas wie eine „Ordnungsrelation“ und verweist damit auf eine logische Struktur, innerhalb derer die gegebenen Elemente gedanklich eingepasst oder verortet werden (Raum3). Diese dritte Kategorie ist also sehr abstrakt. Mit „Raum“ ist hier jede Ordnungsstruktur gemeint, mit deren Hilfe man beliebige „Gegenstände“ zueinander bzw. zu irgendwelchen Koordinatenursprüngen in Relation setzen kann. In diesem Sinne sprechen wir etwa von „Begriffsräumen“ und „Merkmalsräumen“. Ein Beispiel wäre etwa ein „Farbenraum“. Derartige Farbenräume kennen wir aus Graphikprogrammen, wo die Farben nach den Dimensionen Mischungsverhältnis der Grundfarben und Farbintensität dargestellt sind. „Raum“ hat hier keine eigene Gegenständlichkeit, sondern er besteht in den Beziehungen von Elementen oder Ordnungsobjekten zueinander.Wenn man also Farben in der eben angesprochenen Weise miteinander in Beziehung setzt, dann spannt man eben einen Farbenraum auf. Für diese dritte Bedeutung ist charakteristisch, dass das verwendete Ordnungsraster vom be­ trachtenden Subjekt, also vom Beobachter, gleichsam über die vorfindbare Realität gelegt wird. Es leuchtet ein, dass auch das Gradnetz, die topographische Karte und alle darauf bezogenen Instrumente (wie etwa GIS) zur Darstellung des Erdraumes in diese Kategorie eines kulturspezifischen Ordnungsrasters fallen und somit als Beispiele für den Raum3 anzusehen sind. In dieser dritten Bedeutung ist „Raum“ also eng mit dem Begriff der Ordnung und dem Akt des Ordnens verbunden. „Ordnung“ ist dabei sowohl im platonischen Sinne als „entdeckte“, den Objekten innewohnende Ord82

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

nung als auch – im konstruktivistischen Sinne – als „erfundene“ Ordnung zu verstehen (D. Reichert, 1996). Ein Teilelement dieser Kategorie ist für unsere weiteren Überlegungen so wichtig, dass es als eigenständige Bedeutungsvariante gesondert herausgestellt werden muss. Nennen wir es den Raum4. Abstrakt formuliert, handelt es sich dabei um ein Konzept, das auf Relationen zwischen physisch­ma­ teriellen Dingen und Körpern bezogen ist. Diese vierte Bedeutung von „Raum“ wurde erstmals vom Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz3 ausführlich erläutert. Er bezeichnet „Raum“ als die „Ordnung des Koexistierenden“ („spatium est ordo coexistendi“). Dieses relativistische Raumkonzept kommt ohne die Idee des „leeren Raumes“ (des „Containers“ oder „Häferls“) aus. Das Konzept geht von der Vorstellung aus, dass „Raum“ ausschließlich durch die Beziehungen und die Relationalität der physisch-materiellen Dinge zueinander konstituiert wird. Wenn wir also aus einem solchen Raum4 die „Dinge“ herausnehmen, dann bleibt schlicht und einfach gar nichts übrig, denn der Raum4 entsteht erst durch die zwischen den Dingen und Körpern existierenden Lagerelationen. Ohne Dinge gibt es keinen Raum (P. Weichhart, 1993, S. 235). Dieses Raumverständnis entspricht übrigens auch den Vorstellungen der modernen feldtheoretischen Physik (z. B. N. Straumann, 1996). Raum4 wird also durch die Relationalität der Dinge und Körper konstituiert. Halten wir noch einmal fest: Im eben angesprochenen relationalen Verständnis meint „Raum“ (in der Bedeutung 4) also nichts anderes als die Lagerungsqualität der Körperwelt (A. Einstein, 1980, S. XV). In der physischmateriellen Welt spielt diese Lagerungsqualität der Körper und Dinge offensichtlich eine nicht vernachlässigbare Rolle für die Entstehung sogenannter Emergenzphänomene. Dadurch, dass materielle Dinge eine bestimmte Konfiguriertheit aufweisen, zueinander in bestimmten Lagerelationen stehen, benachbart, getrennt oder miteinander verbunden sind, kann so etwas wie ein funktionaler oder dynamischer Systemzusammenhang entstehen, der ohne diese spezifische Lagerungsqualität nicht eintreten würde (vgl. P. Weichhart, 1997 a). Ein Beispiel wäre die kritische Masse, die erforderlich ist, um eine nukleare Kettenreaktion in Gang zu setzen. Werden zwei subkritische Massen am gleichen Ort zusammengebracht, geschieht etwas, was bei ihrer räumlichen Separierung nicht passiert, obwohl die „Dingqualität“ in beiden Fällen gleich ist. Der Raum4 ist also keine eigenständige ontologische Struktur, kein Gegenstand oder „Seinsbereich“, sondern er stellt genau genommen ein Attri­ but, eine Eigenschaft der physisch­materiellen Dinge, dar. Raum wird hier nicht als „Ding“, sondern eben als Eigenschaft verstanden. Man sollte demnach – sprachlich korrekt – nicht von „Raum“, sondern von „Räumlichkeit“ 3

Auch Leibnitz 83

Raum als Relationalität der Dinge Raum4

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Benutzung der Bedeutungsvarianten: 1. Lageinformation

2. Raumwissenschaftlicher Ansatz

3. Kognitive Operationen

Benutzung des Raumkonzepts4

reden. Genau in diesem eben dargestellten Sinne verwendet auch Doreen Massey (z.B. 1985 oder 1999) den Begriff „spatiality“ (Räumlichkeit). Kehren wir an dieser Stelle kurz zu unserer „umformulierten Grundfrage“ zurück und überlegen wir, von welchen Sprechern die vier Bedeutungsvarianten von „Raum“ zu welchem Zweck verwendet werden. Raum1 ist zweifellos für alle empirischen Wissenschaften als gedankliche Struktur von Bedeutung, deren Erkenntnisinteresse in irgendeiner Form auf Phänomene der Erdoberfläche bezogen ist.Von der Geologie, Botanik, Zoologie bis zur Soziologie, der Geschichte oder den Wirtschaftswissenschaften – all diese Disziplinen beziehen sich immer wieder auf größere oder kleinere Ausschnitte der Erdoberfläche, die sie gleichsam im Sinne einer „flächenbezogenen Adressangabe“ verwenden. Aber auch in der außerwissenschaftlichen, lebensweltlichen Realität unseres Alltagshandelns kommt diese Bedeutung von „Raum“ immer wieder vor: beispielsweise, wenn ich sage: „Ich war gestern im Mühlviertel“ oder „Nächstes Jahr will ich in der Toskana Urlaub machen“. Der Zweck derartiger Sprechakte liegt schlicht in der Lageinformation. Wir müssen dazu gar nicht genau wissen, wo die Grenzen des Mühlviertels oder der Toskana liegen. Völlig anders sieht es hingegen beim Raum2 aus. In der Geographie ist seine Anwendung auf zwei Bereiche beschränkt. Der erste Fall bezieht sich auf den Spatial Approach, den raumwissenschaftlichen Ansatz. Der Verwendungszweck ist dabei sehr klar erkennbar. Man „benötigt“ dieses Konzept, um eigenständige „Raumgesetzlichkeiten“ postulieren zu können. Wenn man von der „Wirkkraft“ des Raumes spricht, Distanz- und Konnektivitätsmodelle einsetzt, muss man dem Raum eine eigenständige Existenz zubilligen, ihn als ontologische Struktur auffassen. Der zweite Fall erscheint so selbstverständlich und trivial, dass man ihn meist nicht reflektiert und übersieht. Immer dann, wenn georeferenzierte statistische Aussagen gemacht werden, steht dahinter das Konzept des Containerraumes. Aussagen wie „Am 1.1.2017 hatte die Stadt Wien 1 867 582 Einwohner“ setzen (unter anderem) mit Notwendigkeit voraus, dass die Stadt Wien als Container gedacht ist, der eindeutige Grenzen besitzt. Jede Art der raumbezogenen Statistik muss also auf dem Raum2 basieren. Raum3 ist zweifellos das umfassendste und abstrakteste Konzept. Es ist immer dann präsent, wenn wir denken, wenn wir Unterscheidungen machen. Es wird von allen Wissenschaften verwendet. Der Verwendungszweck ist eindeutig. Wir benötigen dieses Konzept bei jeder Art von kognitiven Operationen. In einer Formulierung von Wolfgang Zierhofer (1999 a, S. 181) könnte man sagen: Raum3 ist die Bedingung der Möglichkeit von Unterscheidungen. So gesehen beinhaltet Raum3 alle anderen Bedeutungsvarianten des Begriffes. Besonders spannend wird die Angelegenheit nun beim Raum4. Ich möchte gleich vorweg die Vermutung äußern, dass dieser Raum4 für das Fach Geographie eine besondere Bedeutung besitzt. Wenn wir uns an die 84

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Beispiele vom Hörsaal und vom Arbeitsraum des Herrn Generaldirektors erinnern, wird klar, dass die dabei aufgezeigten Zusammenhänge zwischen dem „Räumlichen“ und dem „Sozialen“ primär an diesem relationalen Aspekt festgemacht werden können. Sehen wir uns einmal an, wer diese Bedeutungsvariante verwendet. Von wem, von welchen Sprechern wird dieses Raumkonzept eingesetzt? Als durchaus repräsentative Auswahl für die Gesamtheit dieser Sprecher nenne ich fünf Berufsgruppen, deren Vertreter im Rahmen ihrer professionellen Tätigkeiten von „Raum“ in der vierten Bedeutungsvariante reden: Fußballtrainer, Theaterregisseure, Architekten, Geographen und Raumplaner. Sie sind überrascht? Sie fragen sich: „Was, um Himmels Willen, haben Fußballtrainer und Geographen, Theaterregisseure und Raumplaner gemeinsam?“ Die Antwort ist einfach: Es ist der Raum4. Ich werde dies durch einige Originalzitate beweisen. In einem Zeitungsinterview mit einem berühmten Berliner Regisseur war vor einiger Zeit zu lesen, er habe bei seiner Inszenierung „durch die Raumgestaltung einen Spannungsbogen aufbauen wollen und den dramatischen Ablauf aus der Raumtiefe her entwickelt“. In der Sportberichterstattung im Fernsehen hörte man unlängst, wie ein Fußballtrainer den (unerwarteten) Sieg seiner Mannschaft stolz mit folgenden Worten erklärte: „Wir hatten einfach den besseren Raumaufbau“. Dass Architekten „Räume“ entwerfen und ob ihrer „Raumgestaltung“ gelobt oder getadelt werden, ist ein gängiger Gesichtspunkt der Architekturkritik – wobei hier natürlich nicht „Räume“ im Sinne von „Zimmern“ gemeint sind. Was ist in diesen Zitaten mit „Raumtiefe“, „Raumgestaltung“ oder „Raumaufbau“ denn gemeint? Die „Räume“ des Fußballspiels werden durch die Lagerelationen zwischen den Körpern der Spieler, dem Ball, dem Tor und die Dynamik dieser Beziehungen aufgebaut. Die Räume der Theaterinszenierung konstituieren sich durch die Lagerelationen zwischen den Körpern der Schauspieler, den Elementen des Bühnenbildes, den Requisiten und deren Beziehungen zu den Sinngehalten des Stückes. Die Problematik der Räume, mit denen sich der Planer auseinanderzusetzen hat, resultiert vor allem aus jenen Flächennutzungs- und Funktionskonflikten, die durch spezifische und oft suboptimale Lage- und Beziehungsrelationen innerhalb der Siedlungs- und Wirtschaftsstrukturen verursacht werden. Und bei der fachspezifischen Problemstellung der Geographie geht es im Kern ebenfalls genau um jene Beziehungen und funktionalen Relationen, die zwischen den Elementen der physisch-materiellen Realität an der Erdoberfläche existieren. Ökologische, soziale oder wirtschaftliche Prozesse werden in ihren Abläufen grundlegend von den Lagerelationen zwischen den beteiligten Systemelementen beeinflusst und genau dieser Aspekt der Räumlichkeit der Ding- und Körperwelt kennzeichnet auch den spezifischen Problematisierungsstil und ein zentrales Erkenntnisinteresse der Geographie. 85

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Raum als Beschreibungsmodus für materielle Aspekte sozialer Phänomene

Der erlebte Raum1e

Im Rahmen sozialwissenschaftlicher Analysen benötigen wir dieses Raum4-Konzept immer dann, wenn auf materielle Aspekte sozialer Phänomene und Prozesse Bezug genommen wird. Wir können festhalten, dass diese relationale Räumlichkeit der Körper- und Dingwelt eines der Medien darstellt, mit deren Hilfe wir Menschen im Vollzug von Handlungen Beziehungen zwischen physisch-materiellen Dingen, subjektiven Wahrnehmungs- und Deutungsprozessen und sozialen Sachverhalten herstellen. Und genau dies ist die zentrale Fragestellung der Geographie. Man möge sich kurz an die Drei-Welten-Theorie erinnern: Bei der Analyse von „Räumlichkeit“ machen wir genau das, was Popper als eine „Hauptfrage“ der Ontologie ansieht, nämlich eine Erfassung der Zusammenhänge zwischen den drei Welten. Bei vielen sozialen Interaktionsprozessen stellt auch die Art und Weise, wie unsere Körper aufeinander bezogen sind, ein durchaus bedeutsames Teilelement des Handlungsvollzugs dar. Wir bedienen uns bei nahezu allen Handlungsabläufen immer auch einer Reihe materieller Dinge. Und dabei spielen die Lagerelationen zwischen den Dingen, ihre Räumlichkeit, eine sehr entscheidende Rolle. Man kann soziale Systeme natürlich auch im Sinne von N. Luhmann (1985, S. 346) analysieren und darauf verzichten, „leibhaftige Menschen“ in ihrer Körperlichkeit und in ihrer Einbettung in die materielle Welt zu betrachten. Dadurch wird aber eine durchaus bedeutsame Dimension des Sozialen und der menschlichen Existenz schlicht und einfach ignoriert beziehungsweise ausgeblendet. Wenn wir die materiellen und auf unsere Körperlichkeit bezogenen Bereiche des Sozialen angemessen berücksichtigen wollen, dann muss auch der Aspekt der Räumlichkeit in die Analyse einbezogen werden. Nun wollen wir die Inventarisierung von Raumkonzepten abschließen und durch zwei weitere Verwendungsweisen des Wortes ergänzen. Eine sehr wichtige Bedeutungsvariante ist primär nicht der Welt der Wissenschaft, sondern der Alltagswelt zuzurechnen. Sie ist in zweifacher Hinsicht auch für die Geographie von besonderer Bedeutung. Es handelt sich um ein Konzept, das jeder Mensch im Alltagshandeln ständig verwendet. Es ist der erlebte, der subjektiv wahrgenommene Raum. Dieses Begriffsverständnis steht mit dem Raum1 insofern in enger Beziehung, als damit immer ein konkreter Erdraumausschnitt angesprochen ist. Inhaltlich meint dieses Raumkonzept aber viel mehr als eine flächenbezogene Adressangabe. Es handelt sich hier gleichsam um einen Raum1, der mit subjektivem Sinn und subjektiver Bedeutung aufgeladen wird. Die Bedeutungs- und Sinnzuschreibungen besitzen in der Regel auch intersubjektive Komponenten. Es gibt so etwas wie gruppen- und kulturspezifische Werturteile, Klischees und Imagezuschreibungen. Die meisten von uns haben etwa ein besonderes, subjektives und auf die persönlichen Erfahrungshorizonte bezogenes Bild vom Ruhrgebiet, dem Weinviertel, der Wachau oder der Toskana. Wir könnten aber unschwer Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen in 86

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

diesen subjektiven Raumbildern entdecken, die man als das kollektive Image dieser erlebten Räume bezeichnen kann. Der erlebte Raum erscheint dem Menschen als der Inbegriff faktischer Realität, er repräsentiert gleichsam die integrale „Wirklichkeit“ der Außenwelt, der wir in unserer individuellen Existenz gegenüberstehen. Er ist von der Wahrnehmung her ein ganzheitliches Amalgam, in dem Elemente der Natur und der materiellen Kultur, Berge, Seen,Wälder, Menschen, Baulichkeiten, Siedlungen, Sprache, Sitten und Gebräuche sowie das Gefüge sozialer Interaktionen zu einer räumlich strukturierten Erlebnisgesamtheit, zu einem kognitiven Gestaltkomplex verschmolzen sind. Die erlebten Räume unserer Alltagswelt stellen also kognitive Konstrukte dar, in denen ein Gefüge von Meinungen und Behauptungen über einen Raum1 zum Ausdruck kommt. In ihnen äußert sich immer ein selektives, aus subjektiver Wahrnehmungsperspektive verzerrtes und interpretiertes Bild der Realität. Je stärker der betreffende Ausschnitt der Erdoberfläche mit unserem persönlichen Alltagshandeln in Beziehung steht, desto dichter ist dabei das Gefüge der Behauptungen und Eigenschaftszuschreibungen. Und natürlich beinhalten diese Behauptungen immer auch Aussagen über die wahrgenommenen Lagebeziehungen und die Relationalität der Körper und Dinge, welche diesen erlebten Raum aufbauen. Hinter dieser spezifischen alltagsweltlichen Konzeptualisierung von physisch-materieller und sozialer Wirklichkeit als räumliche Wirklichkeit steht eine Denkfigur, die von Sprachwissenschaftlern und Philosophen mit den Fachausdrücken Hypostasierung oder Reifikation belegt wird. Auf eine knappe Formel gebracht, bedeutet Hypostasierung nichts anderes als das Umdeuten der Beziehungen zwischen Dingen und Körpern zu einem Substanzbegriff. Beziehungen, Interaktionen und Relationen werden dabei „… in ontologisierender Manier für gegenständliche Objekte gehalten“ – so hat es Benno Werlen (1993, S. 42) formuliert. Es ist klar, dass dieser erlebte Raum unserer Alltagswirklichkeit so etwas wie eine Projektionsfläche für Sentiment und Ich-Identität darstellt. Der erlebte Raum ist also als ein kognitives Konzept anzusehen, in dem eine spezifische, subjektiv gefärbte Interpretation der Realität zum Ausdruck kommt. Sie wird in den Handlungsvollzügen der Alltagswelt dazu verwendet, die jeweils vorfindbare Relationalität der Sach- und Sozialstrukturen ordnend zusammenzufassen und damit auch die Komplexität der Wirklichkeit zu verringern. Auch dieser Raum1e, der erlebte Raum, ist ein bedeutsamer Gegenstand der geographischen Forschung. Er wird vor allem von der verhaltenswissenschaftlichen, der humanistischen und der handlungstheoretischen Geographie untersucht. Die Tradition der Mental-Map-Forschung (Kapitel 9.2.3) ist eine besonders prominente Arbeitsrichtung dieser Forschungsansätze. Allerdings ist dieses Raumkonzept auch für eine ganze Reihe anderer Disziplinen wie Umweltpsychologie, Sozialpsychologie, Soziologie, An87

Hypostasierung

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Epistemologische Raumkonzeption (Kant)

Keine Differenzierung der unterschiedlichen Raumkonzepte in der Fachdiskussion

Projektion des erlebten Raumes in Raum1

thropologie und Ethnologie als wichtiges Erkenntnisobjekt von Bedeutung. Der Vollständigkeit halber sei schließlich noch die auf Kant zurückgehende Bedeutungsvariante einer epistemologischen Raumkonzeption angeführt (Raum5). In seiner kritischen Transzendentalphilosophie wollte Kant die vor aller Erfahrung liegenden Bedingungen der Erfahrung aufdecken. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass es eine voraussetzungsfreie Erfahrung gar nicht geben könne. Kant konzipiert „Raum“ als eine Form der Anschauung, mit deren Hilfe Wahrnehmungsinhalte organisiert werden. „Raum“ ist bei ihm kein Gegenstand und auch keine bloße Vorstellung, sondern – wie die Zeit – eine Bedingung oder Weise der Gegenstandswahrnehmung. Damit ist der Raum5 weder mit substanzialistischen Konzepten (Raum1 und Raum2) noch mit dem relationalen Raumbegriff (Raum4) kompatibel. Eine Ähnlichkeit zum Raum1e besteht nur insofern, als beide auf die Wahrnehmungsleistung des erkennenden Subjekts bezogen sind. In der Geographie und in allen anderen Wissenschaften (natürlich mit Ausnahme der Philosophie) wird dieses Raumkonzept nur sehr selten verwendet. Unsere Analyse zeigt also, dass wir in der Geographie ein ganzes Set unterschiedlicher Raumkonzepte vorfinden (Abb. 6). Nun ist es aber bedauerlicherweise so, dass wir im fachlichen Diskurs in der Regel nicht exakt zwischen den unterschiedlichen Bedeutungsvarianten von „Raum“ unterscheiden. Wir sagen einfach „Raum“ und meinen einmal Raum1, ein anderes Mal Raum4 oder den erlebten Raum, ohne diese Differenzierung terminologisch klar zum Ausdruck zu bringen. Dadurch entsteht aus begrifflicher Sicht ein „Verwirrungszusammenhang“ zwischen den verschiedenen Konzepten.Wir tendieren dazu, die verschiedenen Bedeutungen des Wortes einfach durcheinanderzubringen. Dass dies der argumentativen Logik des fachlichen Diskurses nicht besonders zuträglich sein kann, versteht sich von selbst. Dazu kommt, dass die fünf Konzepte auch aufeinander bezogen werden können. So lassen sich Raum1 oder Raum4 innerhalb verschiedenster Varianten von Raum3 darstellen. Wenn wir methodische Überlegungen zu einem der Raumkonzepte anstellen, neigen wir immer wieder dazu, auf Raum2 Bezug zu nehmen – obwohl dieses Konzept nach den Vorstellungen der neueren Physik eigentlich als obsolet angesehen werden muss. Es ist aber noch schlimmer. Die Geschichte unseres Faches demonstriert eindeutig, dass wir Geographen im Forschungsprozess einer zweifachen Verwechslung zum Opfer gefallen sind. Die erste problematische Verwechslung betraf bereits den zentralen Theoriekern der klassischen Landschaftsund Länderkunde. Gerhard Hard und eine Reihe anderer Autoren haben es seit über 40 Jahren mit schonungsloser Deutlichkeit nachgewiesen: Die Weltperspektive, die als kulturelles Deutungsmuster hinter dem erlebten Raum steht, wurde von der klassischen Geographie zu einem wissenschaft88

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

RAUM

als Metapher Raum1

Erdraumausschnitt (Gebirgsraum, Mittelmeerraum)

Raum1e

erlebter Raum

Raum2

Raum als eigenständige ontologische Struktur, Containerraum, „Häferl“

Raum5

Abbildung 6: Geographische Raumkonzepte und deren „Verwirrungszusammenhänge“ Quelle: P. Weichhart, 1999, S. 85

Reduktion von Komplexität, Herstellen von Fachidentität

Raum als a priori der Wahrnehmung

Raum3

Ordnungsstruktur z. B. Karte, Gradnetz, GIS, aber auch Farbenraum, sozialer Raum, Raum4 etc.

E V LL PR ERK IPTI OJ Ü SC EK RZ H TIO TE N

darstellbar in

„Verwirrungszusammenhänge“ Raum4

Lagerungsqualität der Körperwelt

„RÄUMLICHKEIT“ als Attribut der Dinge

lichen Erkenntnisprinzip hochstilisiert. Genau jene alltagsweltlichen Hypostasierungs- und Personalisierungsprozesse, die den erlebten Raum begründen, wurden von der Geographie übernommen und unreflektiert als wissenschaftliche Zugangsweise zur Realität eingesetzt. Die ganzheitlichen Landschaften und Länder, die organismischen Raumindividuen der klassischen Geographie, spiegeln bei genauerer Betrachtung die kognitiven Konstrukte der alltagspraktischen Erfahrung wider. Der erlebte Raum wurde in den Raum1 projiziert, ein kognitives Deutungsmuster der Realität mit der Realität selbst verwechselt. (In Abbildung 6 wird diese Verwechslung durch den Pfeil von Raum1e zum Raum1 veranschaulicht.) Dieses Problem ist in der Zwischenzeit längst aufgearbeitet, es ist methodologisch bestens erforscht, und der überwiegende Teil der Fachvertreter hat auch die erforderlichen Konsequenzen gezogen. Eine zweite, sehr ähnliche und nicht minder unangenehme Verwechslung ist aber auch in der gegenwärtigen, aktuellen Fachdiskussion akut. Sie wird besonders deutlich in Arbeiten zum Thema „Region“ und „Regionalentwicklung“ erkennbar. Bei derartigen Untersuchungen geht es primär um die Analyse jener Interaktionsstrukturen, die in einem mittleren, eben dem regionalen Maßstabsbereich für die Dynamik der wirtschaftlichen und demographischen Entwicklung verantwortlich gemacht werden. Untersucht werden hier beispielsweise Zulieferverflechtungen zwischen Betrieben und andere Netzwerkstrukturen der Wirtschaft, kreative Milieus, Verflechtungen zwischen Organisationen, Pendlerbeziehungen, die Dynamik von Zentralitätsver89

Projektion von Räumlichkeit auf den Raum1

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Raumsemantik als Mittel der Komplexitätsreduktion

flechtungen, Strukturen des Qualifikationssystems. Als entscheidender Faktor für derartige Interaktionszusammenhänge stellt sich dabei immer wieder die körperliche Kopräsenz der Akteure heraus. Derartige Untersuchungen beziehen sich also ausdrücklich auf unseren Raum4 und thematisieren die Räumlichkeit von Wirtschafts- und Sozialstrukturen. Obwohl es sich hier oft eher um topologische als um metrische Zusammenhänge handelt, lässt sich diese „Lagerungsqualität der Körperwelt“ gut in Karten oder in anderen Modellen darstellen. Bereits dies verführt aber gleichsam wieder zur Verdinglichung, Personifizierung und Hypostasierung. Zusätzlich verwenden wir zur Lokalisierung konkreter Beispiele den Verweis auf jenen „Erdraumausschnitt“, in dem wir diese Relationalität beobachtet haben. Und weil das alles ein bisschen kompliziert ist und noch dazu so schön den Denkstrukturen der Alltagswelt entspricht, kommt es – fast in einer Art bedingtem Reflex – zu einer elliptisch verkürzten Projektion, bei der das relationale Konzept von „Räumlichkeit“ gleichsam metaphorisch zu einem spezifischen Raum1 umgedeutet wird. Diese Projektion wird in Abbildung 6 durch den Pfeil vom Raum4 zum Raum1 angedeutet. Damit machen wir immer wieder und nahezu zwanghaft genau einen jener Fehler, welche uns die Raumexorzisten zu Recht vorwerfen. Räumlichkeit als Attribut von Dingen wird zu einem Substanzbegriff umgedeutet, Relationen werden für gegenständliche Objekte gehalten. Dabei wird das Wort „Raum“ als Metapher für eine gleichsam abgekürzte Umschreibung von „Räumlichkeit“ verwendet. Wir sagen „Raum“ oder „Lungau“ oder „Ballungsraum“ und meinen damit eine jeweils spezifische Konstellation der Lagerelation von Dingen.Weil das aber sehr komplex und kompliziert ist, kürzen wir diese relationale Beziehungsstruktur gleichsam ab und deuten die Relationalität zu einem Substanzbegriff um. Und damit wird die Raum-Metapher oder stellvertretend eine spezifische Regionalbezeichnung gleichsam personifiziert und zu einem eigenständigen „Ding“ umgedeutet. Erinnern wir uns nochmals an die sprachpragmatische Perspektive, die wir zu Beginn unserer Überlegungen besprachen. Was ist eigentlich der tiefere Zweck einer solchen metaphorischen Begriffsverwendung, warum kann sich diese elliptische Verkürzung, diese ungenaue Redeweise in unserem Fach mit einer derart penetranten Hartnäckigkeit halten und behaupten? Es ist zu vermuten, dass es zwei Antworten auf diese Frage gibt. Die erste hängt mit unserem Erkenntnisapparat und der Struktur unseres Denkens zusammen. Die besprochene metaphorische Verwendung des Raumbegriffes und die damit hergestellte Verdinglichung von Relationen stellt ein nahezu geniales Mittel der Komplexitätsreduktion dar. Diese Redeweise ermöglicht es uns, die enorme Komplexität der Zusammenhänge zwischen physisch-materiellen Gegebenheiten, subjektiven Bewusstseinsprozessen, der Welt der Ideen und Werte und den sozioökonomischen wie kulturellen 90

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Phänomenen in einem Begriff zusammenzubinden. Indem wir eine derartige Raumsemantik verwenden, können wir die höchst verwirrenden, komplizierten und unübersichtlichen Verschränkungen zwischen der Körper- und Dingwelt und sozialen Konstrukten auf eine leicht verständliche Formel bringen. Die damit einhergehenden Denkfehler nehmen wir – vorsichtshalber – einfach nicht zur Kenntnis. Die zweite Antwort hat einen wissenschaftssoziologischen Hintergrund. Der Raumbegriff hat für die Geographie die wichtige Funktion, eine Art Symbol für die Einheit und Identität des Faches darzustellen. Er ist jenes Schlüsselkonzept, das die disparaten und forschungsmäßig weitgehend unverbundenen Einzelansätze unserer Disziplin zusammenhält, ein Gefühl der fachlichen Einheit vermittelt. Gerade wegen seiner Vagheit und wegen seiner Bedeutungsvielfalt kann jeder Geograph mit dem Raumbegriff etwas anfangen, ihn im Sinne seiner eigenen Interessen- und Arbeitsrichtung interpretieren. In Anlehnung an eine Formulierung von Gerhard Hard (1970, S. 207) kann man sagen, dass derartige Konzepte den Eindruck relativ bestimmter Aussagen vermitteln, jedoch in der Forschungspraxis größte Freizügigkeit in der Anwendung und Auslegung erlauben. Als durchgehende Formeln mit längerer disziplingeschichtlicher Wirksamkeit verleihen sie aber dennoch das Bewusstsein von Tradition, Kontinuität und fachlicher Identität. Ich will versuchen, an zwei kleinen Beispiele darzustellen, wie die beiden in der Abbildung durch Pfeilfiguren symbolisierten Projektionen und Verwechslungen veranschaulicht und konkretisiert werden können. Es ist nun schon einige Jahre her, da trat eine Versicherungsgesellschaft an mich heran und gab eine Expertise in Auftrag, die zur Regulierung eines Schadensfalles dienen sollte. Ein Versicherungsnehmer hatte im Rahmen einer Urlaubsbuchung eine Rücktransport-Versicherung abgeschlossen. Im Falle einer schweren Erkrankung sollte er mit einer Flugambulanz nach Österreich zurückgebracht werden.Tatsächlich hatte er das Pech, eine schwere Herzattacke zu erleiden und musste die Versicherungsleistung in Anspruch nehmen. Nun weigerte sich die Versicherungsanstalt aber, den Anspruch anzuerkennen. Denn unser Patient hatte seinen Urlaub auf der Insel Madeira verbracht. In den klein gedruckten Bedingungen des Vertrages war jedoch die Klausel vermerkt, dass der Gültigkeitsbereich derVersicherung auf „Europa im geographischen Sinne“ beschränkt sei. Die Versicherung argumentierte nun, dass Madeira irgendwo westlich von Afrika gelegen sei und daher nicht zu Europa „gehöre“, während der Versicherungsnehmer (natürlich) das Gegenteil als zutreffend ansah. Zur Klärung dieses Rechtsstreits wurde nun das Gutachten eingeholt. Allein das Faktum, dass ein solches Gutachten zur Objektivierung eines derartigen „Sachverhaltes“ in Auftrag gegeben wurde, demonstriert in aller Deutlichkeit die dahinterstehende Denkfigur. Beide Streitparteien waren 91

Beispiele für Raumprojektionen: Europa

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Beispiele für Raumprojektionen: Salzburger Arbeitsmarktregionen

offensichtlich der Meinung, dass es so etwas wie eine „objektive“, in der Natur gegebene Abgrenzung von Europa geben müsse. Hier wurde also das ganzheitliche Raumkonzept der Alltagswelt einfach in den Raum1 projiziert. Und die Tatsache, dass unsere Geographielehrbücher voll sind mit solchen Abgrenzungsversuchen, zeigt, dass die Geographen vor dieser Denkfigur keineswegs gefeit sind. In Wahrheit ist „Europa“ aber ein kulturelles Konstrukt, in dem eine konventionelle Namensgebung zum Ausdruck kommt. Wie wir das Referenzgebiet dieser Adressangabe festlegen und abgrenzen, ist schlicht eine Frage der Übereinkunft und der Tradition. Es steht nicht auf irgendwelchen Gesetzestafeln, die wir nur entziffern müssten. Es war nicht ganz einfach, dies den Auftraggebern klarzumachen. Wir haben jedenfalls die dringende Empfehlung ausgesprochen, derartig unklare Formulierungen in Zukunft aus den Verträgen zu streichen und sie durch pragmatische Abgrenzungen der Gültigkeitsbereiche zu ersetzen. Zur Lösung des Rechtsstreites haben wir damals eine Rekonstruktion von „Europa“ als alltagsweltliches Raumkonzept vorgenommen, also das „Raum1e-Konzept“ von Europa dargestellt. Im Vorstellungsbild unserer Alltagswelt kann man Madeira tatsächlich zu Europa rechnen. Das zweite Beispiel stammt aus der Salzburger Raumplanung und kann die typische Struktur einer Projektion vom Raum4 auf den Raum1 demonstrieren. In den 1960er-Jahren wurde von der Statistik-Abteilung der Salzburger Landesregierung verdienstvollerweise eine Analyse der Arbeitsmarktsituation dieses Bundeslandes vorgenommen. Untersucht wurden dabei Pendlerverflechtungen, also die Beziehungen zwischen dem Wohnort und dem Arbeitsort der Berufstätigen. Es ist völlig klar, dass es sich hier um eine Fragestellung im Rahmen des Raum4-Konzeptes handelt. Diese empirisch feststellbaren Interaktionsstrukturen wurden natürlich in Karten eingezeichnet, also mithilfe eines Raum3-Konzepts visualisiert. Handlungen von Menschen – die täglichen Fahrten der Pendler – werden damit in Attribute von Gemeinden umgewandelt. Selbstverständlich kann man solche Beziehungsmuster auch im Sinne von Nodalregionen interpretieren. Damit werden aus den Beziehungsmustern aber konkrete „Erdraumausschnitte“ im Sinne des Raum1-Konzepts. Inhaltlich gesehen stellen diese Karten eine Momentaufnahme jener Gegebenheiten des Arbeitsmarktes dar, die zum Zeitpunkt der Volkszählung 1961 gerade aktuell waren. Weil man diese Interaktionsstrukturen aber so schön in den Raum1 projizieren konnte und die Arbeitsort-Wohnort-Beziehungen damit – vermeintlich – in eine konkrete räumliche Gegenständlichkeit umgewandelt wurden, die auch im Kartenbild überzeugend zum Ausdruck kommt, erhielten sie plötzlich ein zur Substanz gewordenes Eigenleben. Sie verselbstständigten sich gleichsam zu „realen Räumen“ ( Abb. 7). 92

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Abbildung 7: So werden Räume „gemacht“

BürmoosLamprechtshausen NeumarktStraßwalchen

ARBEITSMARKTREGIONEN des Landes Salzburg Salzburg-Stadt Strobl

N Hallein Abtenau

Die heutige Arbeitsmarktregion „Salzburger Zentralraum“

Saalfelden

Salzach-Pongau Enns-Pongau Kaprun-Bruck Oberpinzgau Lungau Gastein 0

10

20 km

Quelle: R. Hennessey & Ch. Hallwirth, 1998, S. 44

Und so können wir heute noch aktuelle Daten der Salzburger Landesstatistik auf der Basis der nun gleichsam absolut gesetzten „Arbeitsmarktregionen“ vom Amt der Salzburger Landesregierung beziehen (vgl. z.B. R. Hennessey u. C. Hallwirth, 1998). Ein Raum4-Zusammenhang, der auf der Basis einer ganz spezifischen historischen Situation analytisch festgestellt wurde, hat damit eine reale Gegenständlichkeit erhalten, wurde zu einem räumlichen „Ding“ gemacht. Dass sich die Arbeitsmarktverhältnisse seither wesentlich geändert haben, weil die Mobilität der Arbeitnehmer heute sehr erheblich gestiegen ist und sich außerdem die Standortstruktur des Arbeitsplatzangebotes grundlegend verändert hat, scheint dabei niemanden zu stören. Diese als gegenständliche Räume, als „räumliche Entitäten“ so plausibel erscheinenden Arbeitsmarktregionen sind in Wahrheit längst verstaubte methodische Artefakte. Sie haben mit der Realität des heutigen Arbeitsmarktes, der vor allem auf den Zentralraum bezogen ist und weit über die Landesgrenze hinausreicht, nicht das Allergeringste zu tun. Und durch diese gedankliche Projektion konnte es geschehen, dass jene „Arbeitsmarktregionen“, die in den 1960er-Jahren aus einer Momentauf93

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Abbildung 8: „Räumlichkeit“ – die Relationalität der Körperwelt Quelle: Salzburger Nachrichten v. 1. 12. 2000, S. 24

Welche Raumkonzepte für die Sozialgeographie?

Anwendung des Raum1-Konzeptes

nahme der damaligen Pendlerbeziehungen abgeleitet wurden, noch heute als räumliche Fundamentalstruktur des Salzburger Zentralraumes gehandelt werden. So werden „Räume“ gemacht. Als Abschluss dieser Analyse von Raumkonzepten soll noch versucht werden, den Raum4, also das relationale Raumverständnis, mithilfe einer Karikatur zu veranschaulichen (Abb. 8). Diese Graphik von Perscheid ist zwar ein wenig unappetitlich, bringt aber recht plastisch zum Ausdruck, was mit „Relationalität der Körperwelt“ gemeint ist. Welche der in diesem Abschnitt „inventarisierten“ Raumkonzepte sind mit einem modernen Geographieverständnis kompatibel? Kann eine derartige Raumsemantik in einem ausdrücklich sozialwissenschaftlich ausgelegten Weltverständnis sinnvoll eingesetzt werden? Und noch entscheidender: Benötigt die Sozialgeographie eigentlich (noch) Raumkonzepte? Die Praxis sozialwissenschaftlicher Forschung zeigt schließlich zweifelsfrei, dass man auch ohne Bezug auf irgendwelche „räumlichen“ Aspekte arbeiten kann – wenngleich man dann auf all jene Problemdimensionen und Thematisierungsmöglichkeiten verzichten muss, die in irgendeiner Form auf materielle Dinge und die Körperlichkeit des Menschen Bezug nehmen. Sobald aber auch die materiellen Grundlagen sozialer Systeme interessieren und die artefakte-weltlichen Bereiche des Sozialen in den Blickwinkel des Forschungsinteresses geraten, wird man auf einen sozialwissenschaftlich verträglichen Raumbegriff nicht verzichten können. Wenn man nun die erörterten Varianten der Wortverwendung Revue passieren lässt, dann erweisen sich immerhin vier dieser Konzepte von „Raum“ unter bestimmten Voraussetzungen als brauchbare und nützliche Kandidaten für das Begriffsinventar einer zeitgemäßen Sozialgeographie oder auch der Raumsoziologie. Völlig unproblematisch ist auch in Zukunft die Verwendung des Raum1-Konzeptes, sofern es tatsächlich nur als Lokalisierungshinweis oder Adressangabe gemeint ist. Dies gilt ohne jede Einschränkung für alle in irgendeiner Form pragmatisch abgegrenzten Teilbereiche der Erdoberfläche, die mit einem konventionellen oder neu erfundenen Namen bezeichnet werden. Die Funktion dieses Verständnisses von Raum liegt schlicht in der Abkürzung und Vereinfachung der Redeweise im Rahmen eines beliebigen Argumentationszusammenhanges und gleicht damit einer der Leistungen von Definitionen. Statt jedes Mal umständlich zu beschreiben, welches Gebiet im Folgenden gemeint sei, wird stellvertretend ein „Name“ 94

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

als Kurzbezeichnung angeführt. Unproblematisch ist die Verwendung dieses Konzepts immer dann, wenn ausreichend klar ist, dass die Abgrenzung des betreffenden Gebietes ausschließlich durch kognitive Operationen und definitorische Festlegungen des betrachtenden Subjekts bestimmt ist. Suspekt muss es immer dann werden, wenn auch nur der geringste Verdacht besteht, man könne die Abgrenzung aus irgendwelchen Attributen des Gegenstandsbereiches zwingend ableiten und damit gleichsam „natürliche“ Grenzen der betreffenden Raum1-Einheit „finden“. Die Abgrenzung ist das Produkt einer Namenszuschreibung und als relativ zur Zwecksetzung zu sehen, sie ist keinesfalls als „Wesensmerkmal“ der betreffenden „Raumeinheit“ misszuverstehen. Jede dieser Abgrenzungen ist ausschließlich von der jeweiligen Zwecksetzung abhängig. Franz Dollinger (1997) hat überzeugend dargestellt, dass dies auch für Raum1-Konzepte in der Physischen Geographie zutrifft. Um mögliche Denkfehler von vornherein zu vermeiden, dürfte es hilfreich sein, Raum1-Begriffe qua Regionalbezeichnungen als metasprachliche Ausdrücke zu interpretieren, die nichts anderes als sprachliche Konventionen darstellen. In der Regel wird es auch ausreichen, Gebietsbezeichnungen zu verwenden, die nur vage und unscharf abgegrenzt sind. Eindeutige Grenzen sind ausschließlich im Falle von staatsrechtlich definierten Territorien (Verwaltungseinheiten) gegeben, die dann allerdings nur für bestimmte Zeitintervalle Gültigkeit besitzen. Alle anderen Grenzen können nicht mehr sein als Konvention, wobei es durchaus sinnvoll sein kann, diese Konvention durch den Verweis auf bestimmte Attribute des Gebietes zu „begründen“. Aber es muss klar bleiben, dass diese „Begründung“ in Wahrheit im Betrachter, der Methodik und dem Zweck gelegen ist und kein „Wesensmerkmal“ des abgegrenzten Gebietes darstellt. Sie könnte – bei anderer Zwecksetzung und/oder anderer Methodik – immer auch anders ausfallen. Anders sieht es mit dem Raum1e-Konzept aus. Auch hier handelt es sich um einen grundsätzlich problemlos verwendbaren Begriff, der für die Sozialgeographie aber eine ganz besondere Bedeutung haben muss. Raum1e-Konzepte sind immer dann relevant, wenn es um die Rekonstruktion subjektiver und gruppenspezifischer Weltsicht und Weltdeutung geht. Sie stellen damit ein bedeutsames Thema im Rahmen jenes Forschungsprozesses dar, der sich mit sozialgeographischen Aspekten von Poppers Welt 2 befasst. Mit dem Raum1e beschäftigen sich aber auch verschiedene Nachbardisziplinen der Geographie sehr intensiv. Sozial-, Persönlichkeits- und Umweltpsychologie, Soziologie, Ethnologie und Kulturanthropologie sowie ethnomethodologische Ansätze, aber auch angewandte Disziplinen, wie Architektur oder Raumforschung, operieren mit diesem Konzept und analysieren subjektive und gruppenspezifische „erlebte Räume“. Dieses Raumkonzept kann daher auch keinesfalls als genuin fachspezifisches Thema von der Geographie reklamiert werden. 95

Anwendung des Raum1e-Konzeptes

5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Raum2 ist nur von eingeschränkter Bedeutung für die Sozialgeographie

Bedeutung Raum3

Fachspezifisches Konzept der Sozialgeographie Raum4

Problematik des Raum4-Konzeptes

Der „Containerraum“, der „Raum als Häferl“, muss aus heutiger Sicht für sehr viele Problemstellungen der Sozialgeographie als obsolet erscheinen. Er war für die quantitative Geographie sehr bedeutsam und ist auch heute im GIS-Bereich prominent vertreten. Er ist vor allem eine grundlegende Voraussetzung für jede raumbezogene Statistik. Für den überwiegenden Teil sozialgeographischer Fragestellungen ist er jedoch unbrauchbar. Der Raum3 ist gleichsam die „Mutter aller Räume“. Diese Idee ist als abstraktes und umfassendstes Konzept anzusehen, das als unverzichtbares Element aller Wissenschaften und damit natürlich auch der Sozialgeographie zu gelten hat. Raum3 kann aufgrund dieser generellen Bedeutung und seines extrem hohen logischen Spielraumes allerdings keine unmittelbar fachspezifische Signifikanz für die Geographie aufweisen und ist für empirische Analysen kaum relevant (vgl. dazu aber J. Lossau, 2008). Als einziges der bisher besprochenen Konzepte, das die Sozialgeographie mit guten Argumenten als fachspezifische „Nische“ im Wettbewerb der Sozialwissenschaften für sich reklamieren könnte, ist der Raum4 anzusehen. Es ist hier allerdings gleich grundsätzlich anzumerken, dass diese Behauptung ausschließlich pragmatisch gemeint ist und keinesfalls über Objektkonzepte, „die Struktur der Realität“, methodologisch oder ontologisch begründet werden kann. Als eigenständige Disziplin ist die Geographie (wie jede andere Einzelwissenschaft) ausschließlich durch ihre Fachtradition und durch ihre spezielle Organisationsstruktur sowie eine besondere Interessenlage (einen eigenständigen „Problematisierungsstil“) zu „rechtfertigen“. Und hier kann einfach das Faktum festgehalten werden, dass die Geographie im Kontext der Sozialwissenschaften jene Disziplin darstellt, die eine besonders ausgeprägte Tradition in der Berücksichtigung physisch-materieller Aspekte des Sozialen besitzt und eben nicht – wie die Soziologie über weite Strecken ihrer Geschichte – raumblind ist. Mit anderen Worten: Das, was inhaltlich hinter dem Raum4 steht, wurde von den anderen Sozialwissenschaften als wissenschaftliche Problemstellung lange Zeit ignoriert, von der Geographie aber immer schon berücksichtigt – wenngleich auch nicht mit einer (sozialwissenschaftlich) angemessenen Methodik und Konzeption. In diesem Sinne kann es als absolut sinnvoll und vernünftig angesehen werden, wenn die Geographie im Rahmen einer disziplinären Arbeitsteilung Fragestellungen kultiviert, die andere weitgehend vernachlässigt haben. Es sei allerdings nicht verschwiegen, dass bestimmte Varianten des Raum4-Konzepts (in der Humangeographie) ausgesprochene Tücken aufweisen und sich gegenüber einer Operationalisierung als sehr sperrig erweisen. Die Pointe am Raum4 liegt ja darin, dass es sich eben nicht um ein substanzialistisches Konzept handelt. Er ist kein Ding, keine Entität, kein „Gegenstand“ im materialistischen Sinne, obwohl er als „Mitbewohner“ der Welt 1 anzusehen ist. Er „besteht“ ja nicht nur aus „Dingen“, sondern aus Relationen zwischen ihnen.

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5. RAUM, RÄUMLICHKEIT, DIE „DREI WELTEN“

Wir werden in Kapitel 10.2.4 noch ein weiteres Raumkonzept (Raum6S) kennenlernen, für dessen Verständnis aber die Überlegungen in Abschnitt 10 vorausgesetzt werden müssen. Deshalb kann die Besprechung dieses „sozial konstruierten Raumes“ erst an dieser Stelle erfolgen. Der Raum6S ist ein sehr komplexes Gebilde, das auf den Raum4, den Raum1 und den Raum1e bezogen ist und durch die Praxis sozialer Zuschreibungen, Aneignungen und Produktionen entsteht. Dieses Raumkonzept findet in den neueren soziologischen Ansätzen – etwa bei P. Noller (z.B. 2000) oder M. Löw (z.B. 2001) – sowie in den jüngsten Entwicklungslinien der Sozialgeographie Verwendung. Der Raum4 ist nun für bestimmte Varianten dieses Raumes6S gleichsam die „Hardware“ oder die „Bezugsbasis“ in der physisch-materiellen Welt. Ein Punkt sollte aus unseren Überlegungen klar geworden sein: Mit Ausnahme von Raum3, der einen extrem hohen „logischen Spielraum“ aufweist und deshalb so gut wie mit allem vereinbar ist, sowie bestimmten Varianten von Raum6S beziehen sich die bisher besprochenen Raumkonzepte immer auf physisch­materielle Dinge und Körper, auf Gegenstände, auf Sachen. Dies trifft teilweise auch für den Raum1e zu, bei dem es sich gleichsam um eine Spiegelung oder ein Abbild von Dingen und Körpern im Bewusstsein von Menschen handelt. Dies kann zumindest teilweise die mehrfach angesprochene „Raumblindheit“ der Sozialwissenschaften erklären. Der Soziologe Hans Linde hat in einem Buch aus dem Jahr 1972 mit dem Titel „Sachdominanz in Sozialstrukturen“ darauf hingewiesen, dass die Sozialwissenschaften dazu tendieren, physisch-materielle Dinge oder Sachen zu ignorieren und ihre soziale Relevanz zu unterschätzen. Er spricht ausdrücklich von der „Dingblindheit“ der Soziologie. Diese Dingblindheit ist die eigentliche Wurzel für die Raumignoranz, die über lange Perioden für die Sozialwissenschaften charakteristisch war. Nach diesem sehr umfangreichen Exkurs über Raumkonzepte wollen wir im nächsten Kapitel wieder zur faktischen Entwicklung der Sozialgeographie zurückkehren und uns ansehen, wie sich diese Disziplin im englischen Sprachraum entwickelt hat.

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Raum6S-Konzept

„Raumblindheit“ der Soziologie

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Der Aufbruch der Sozialgeographie im englischen Sprachraum

Nach unserer ausführlichen Besprechung der verschiedenen Raumkonzepte und der ontologischen Probleme einer räumlichen Betrachtung sozialer Phänomene wollen wir im Folgenden einen Sprung zurück in die Wissenschaftsgeschichte unternehmen. Wir haben gesehen, dass die Entwicklung im deutschen Sprachraum einen ganz besonderen Verlauf nahm, der vor allem durch den geographischen Exzeptionalismus und die strikte Orientierung an der Landschaft gekennzeichnet war. Im englischen Sprachraum fanden das Landschaftskonzept und die damit verbundenen Zugänge zur erdräumlichen Realität über Richard Hartshorne und Carl Sauer zwar ebenfalls Eingang, die Entwicklung dort konnte aber wesentlich offener und unkomplizierter ablaufen. Man erkennt dies sofort, wenn man ein prominentes Nachschlagewerk der Humangeographie, das „Dictionary of Human Geography“, zum Thema „Sozialgeographie“ konsultiert. Ich verwende bewusst die 1. Auflage aus dem Jahr 1981. Unter dem Stichwort „social geography“ findet man dort eine verblüffend einfache Definition. Sie lautet: Social geography is “… the analysis of social phenomena in space.” J. Eyles, 1981, S. 309.

Themendifferenz

Eine sehr simple, klare Aussage, die völlig ohne Genitivkonstruktionen, spezifisch sozialgeographische Gruppen und sonstige Verschnörkelungen auskommt. Besonders spannend ist es, die unter diesem Schlagwort angesprochenen Arbeitsbereiche und Themenstellungen der damaligen Social Geography im Vergleich zur Wien-Münchener Schule zu betrachten. “The focus on urban areas made social geography almost synonymous with urban geography …” (ebd., S. 310). Als thematische Schwerpunkte werden genannt: – die indikatorische Messung der Dimensionen von „Lebensqualität“ und „social well-being“; – die Suche nach den „root causes“, den eigentlichen Ursachen sozialer Probleme; damit wird eine marxistisch orientierte Zugangsweise angesprochen, die eine radikale Kapitalismuskritik betreibt; 98

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

– und schließlich wird als dritter Schwerpunkt noch die Analyse der Lebenswelt und der Sinnfrage angeführt, was auf dem Weg über phänomenologische Analysen vorgenommen werden soll. Wir erkennen an diesem Beleg eine erhebliche Differenz zwischen der Sozialgeographie des deutschen und jener des englischen Sprachraumes. Während sich die Wien-Münchener Schule in den 1960er-Jahren fast ausschließlich mit Sozialbrache, Nebenerwerbslandwirten, Hausierern und Hütekindern beschäftigte, war das weit überwiegende Interesse der englischsprachigen Social Geography praktisch ausschließlich auf städtische Lebensräume und aktuelle sozioökonomische Gegebenheiten bezogen. Die Entwicklung der englischsprachigen Sozialgeographie wurde sehr stark durch außerwissenschaftliche gesellschaftliche Ereignisse und politische Gegebenheiten wie den Vietnamkrieg, die Entkolonialisierung, die beginnende Umweltkrise und die Neue Armut mitbestimmt. Regionale Disparitäten und Ungleichheit wurden wichtige Themen. Geographen begannen, sich verantwortlich zu fühlen, und versuchten, mit ihrer Arbeit Lösungen für soziale Probleme zu erarbeiten oder zumindest diese Probleme in den fachlichen und öffentlichen Diskurs zu bringen. Schon in den 1960er-Jahren lagen zahlreiche Veröffentlichungen über Rassendiskriminierung, Armut, Gesundheitsprobleme oder Kriminalität und ihre räumliche Differenzierung vor. Das Thema der sozialen Pathologien, der sozialen Probleme rückte in den Mittelpunkt des Interesses. Man fragte nach den Ursachen und Auswirkungen sozialer Störungen und Devianz und thematisierte Wohlfahrtseinrichtungen und Fürsorgeprobleme. Eine Mitursache für diese spezielle Orientierung war eine Ausrichtung am Problem der sozialen Relevanz. Für wen wird eigentlich geforscht, wem nützt die Sozialgeographie? Wir erkennen eine gewisse Ähnlichkeit zur Soziologie der sozialen Frage (L. A. Vascovics, Hrsg., 1982). Durch diese Ausrichtung auf benachteiligte soziale Gruppen ging man allerdings ein wenig das Risiko ein, gleichsam den „Normalfall“ sozialräumlicher Gegebenheiten zu vernachlässigen. Diese Interessenlagen führten dazu, dass größere Teile der Sozialgeographie des englischen Sprachraumes in starkem Maße sozialtheoretisch und politisch ausgerichtet waren, wobei – wie schon erwähnt – der Marxismus als Hintergrundtheorie wirksam wurde. Die Stadt wird vor diesem theoretischen Hintergrund als Ausbeutungsmechanismus gesehen, der nach der profitorientierten Logik des kapitalistischen Systems operiert. Ein weiteres wichtiges Thema der englischsprachigen Sozialgeographie, das bereits Ende der 1960er-Jahre aufkam, war die „Lebenswelt“. Damit bezeichnet man die „gewöhnliche Alltagswelt“, die vorwissenschaftliche oder vorphilosophische Alltagspraxis. Mit anderen Worten: Man begann, sich mit der Frage zu beschäftigen, wie denn der Mensch in seinem alltäglichen Tun die Welt wahrnimmt, erlebt und mit ihr umgeht. („Lebenswelt“ 99

Soziale Relevanz

Lebenswelt

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

Umweltwahrnehmung und „räumliches Verhalten“

Ausgeprägte Hinwendung zum Individuum

ist philosophisch gesehen ein eher schwieriges Thema. Wir werden später noch ausführlicher darauf eingehen.) Diese Ansätze entwickelten sich zur sogenannten „humanistischen Geographie“ weiter. Sie wurden im deutschen Sprachraum lange Zeit überhaupt nicht wahrgenommen. Im Zentrum standen hier Grundfragen der menschlichen Existenz und die existenzielle Bedeutung räumlicher Strukturen für die Daseinsbewältigung. Das dritte zentrale Thema, das unter der Flagge einer „Social Geography“ sehr rasch an Bedeutung gewann, war das räumliche Verhalten und die Wahrnehmung und Bewertung der Umwelt, die dieses Verhalten beeinflussen. Die Frage lautete: Wie nehmen Menschen eigentlich ihre räumliche Umwelt wahr, wie bewerten sie die räumlichen Gegebenheiten ihrer Umwelt und wie beeinflussen Wahrnehmung und Bewertung das Verhalten? Hinter dieser Fragestellung stand dabei die These, dass das menschliche Verhalten nicht von den „objektiven“ Gegebenheiten und Attributen der Realität, sondern von den wahrgenommenen und in die Bewertung einbezogenen Eigenschaften der räumlichen Umwelt abhängig ist. Um diese drei Themenstellungen kristallisierte sich relativ rasch ein Forschungsfeld heraus, das zusammenfassend als „social geography“ bezeichnet wurde. Der Unterschied zu den gleichzeitig ablaufenden Entwicklungen in der deutschen Sozialgeographie war dabei sehr deutlich ausgeprägt. Physiognomische Aspekte und die alles dominierende Schlüsselgröße „Landschaft“ spielten im englischen Sprachraum – von wenigen speziellen Ausnahmen abgesehen – so gut wie keine Rolle. Die in der deutschen Sozialgeographie erkennbare Fixierung auf das agrarische Segment der Bevölkerung und agrarische Lebensformen kamen im englischen Sprachraum ebenfalls nicht vor. Hier stehen der städtische oder suburbane Lebensraum und die in diesem Kontext relevanten Lebensformen im Vordergrund. Besonders charakteristisch ist eine sehr deutlich ausgeprägte Hinwendung zum Individuum. Gruppenbezüge werden zwar ausführlich behandelt, aber immer im theoretischen Bezug zu soziologischen Gruppenkonzepten und dem Aspekt der sozialen Kommunikation und Interaktion. Irgendwelche spezifische und eigenständige „sozialgeographische Gruppen“ werden nicht eingeführt. Die englischsprachige Sozialgeographie weist von Anfang an eine klare Anbindung an die Konzepte, Methoden und Theorien der Soziologie, der Psychologie, der Sozialpsychologie und der anderen Sozialwissenschaften auf. Sie besitzt damit von Anfang an eine problemlose Anschlussfähigkeit an die Nachbardisziplinen und betreibt auch einen systematischen „Theorieimport“. Ein Blick in die Literaturverzeichnisse zeigt, dass die einschlägigen Arbeiten und Autoren der Sozialwissenschaften ausführlich konsultiert werden. Die eigenartig engen Zitierkartelle der deutschen Sozialgeographie kommen nicht vor. Zeitgleich mit dem Band „Sozialgeographie“ der Wien-Münchener Schule lagen mehrere englische Lehrbücher der Sozialgeographie vor. Zwei davon möchte ich als Illustration des englischsprachigen „Standes der 100

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

Technik“ Ende der 1970er-Jahre im Folgenden kurz und selektiv besprechen. Dabei geht es mir vor allem darum, die unterschiedliche Zugangsweise zu Fragestellungen der Sozialgeographie und den angelsächsischen Problematisierungsstil herauszuarbeiten. Als erstes möchte ich ein britisches Lehrbuch besprechen. Es ist der Band „An Introduction to Social Geography“ von Emrys Jones und John Eyles (Abb. 9), publiziert im gleichen Jahr 1977 wie „Sozialgeographie“ von J. Maier et al. Das zweite erschien sogar schon ein Jahr früher und repräsentiert die US-amerikanische Variante der Sozialgeographie. Es ist ein Band mit dem sehr charakteristischen Titel „Human Spatial Behavior. A Social Geography“. Autoren sind John A. Jakle, Stanley Brunn und Curtis C. Roseman (Abb. 10). Das Vorwort zu „An Introduction to Social Geography“ von Jones und Eyles beginnt durchaus originell. Die Autoren meinen, dass der Satz: „Sozialgeographie ist das, was Sozialgeographen tun“ sowohl eine faire und zutreffende Beschreibung als auch eine faire Kritik des Standes der Forschung in dieser noch sehr jungen Disziplin sei. Das Interesse der Studenten für diese Disziplin führen sie darauf zurück, dass man sich zunehmend der sozialen Probleme und der möglichen Rolle der Geographie zu ihrer Lösung bewusst werde: “In this respect, … the ‘relevance’ of geography is a live issue, and a deeper understanding of the spatial implications of social processes is eagerly sought.” E. Jones und J. Eyles, 1977, S. 1 Ein weiterer Hinweis erscheint mir erwähnenswert:

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Abbildung 9: Das Lehrbuch von E. Jones und J. Eyles (1977) Jones/Eyles: An Introduction to Social Geography

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

“This book is largely about urban society. The virtual exclusion of the rural world was the result of a deliberate decision … reflecting the weight and distribution of studies in social geography. This does not unduly distort the real situation because we live in a predominantly urban society, and most of our problems lie in the city.” ebd., S. 2

Inhaltsgliederung Jones/Eyles

Gruppenkonzept nach Jones/Eyles

Der Kontrast zu Maier et al. könnte größer nicht sein. Das erste Kapitel des Bandes trägt die lakonische Überschrift „Concepts“. Hier werden zunächst einige Definitionen der Sozialgeographie diskutiert. Dabei wird Folgendes als besonders bedeutsam herausgestellt: Sozialgeographie sei explizit problemorientiert zu konzipieren. Sie müsse sich mit den sozialräumlichen Folgen von Mangel und der ungleichen Verteilung erstrebenswerter Güter auseinandersetzen. Es entspricht der Grundhaltung des gesamten Textes, die Frage der räumlichen Disparitäten und das Problem der sozialen Ungerechtigkeit zu thematisieren. Dabei geht es ausdrücklich um räumliche Aspekte von Ungleichheit: Wo sind die räumlichen Konzentrationspunkte sozialer Benachteiligung? Besonders beachtenswert ist die knappe Diskussion des Raumbegriffes. Die Autoren erörtern kurz das gängige Verständnis von Raum als Container und betonen, dass für die Sozialgeographie ein anderes Raumverständnis erforderlich sei. Kurz und lakonisch stellen sie heraus: Raum ist ein Attribut der Dinge. Ohne es genauer auszuführen oder theoretisch zu begründen, wird in diesem Band also bereits das Raum4-Konzept verwendet. In weiterer Folge befassen sich die Autoren mit der Frage nach dem Gruppenkonzept der Sozialgeographie. Ausdrücklich wird betont, dass das Individuum als primärer Entscheidungsträger gebührend zu berücksichtigen sei. Dennoch müsse die Gruppe der zentrale Referenzpunkt einer Sozialgeographie sein. Für die Zwecke der Sozialgeographie seien zwei grobe Kategorien von Gruppen ausreichend. Als Unterscheidungsmerkmal wird die Form der sozialen Beziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern herangezogen. Dabei wird (wie in den Sozialwissenschaften generell üblich) zwischen „Primärgruppen“ und „Sekundärgruppen“ unterschieden. Primärgruppen sind durch informelle Beziehungen und Face-to-Face-Kontakte gekennzeichnet. Als Beispiel kann etwa die Familie genannt werden. Primärgruppen sind die wichtigsten Träger der Sozialisation und basieren auf emotionalen Beziehungen. Als weitere Beispiele führen die Autoren die „community“ (Gemeinschaft) oder Nachbarschaftsgruppen an. Sekundäre Gruppen sind hingegen als Zweckgemeinschaften zu verstehen, oder sie werden durch gemeinsame Interessen definiert. Die Interaktion der Grup102

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

penmitglieder ist durch formelle Beziehungen charakterisiert. Ausdrücklich wird von den Autoren zwischen Gruppen – sie sind durch soziale Interaktionen gekennzeichnet – und aggregiertem Verhalten unterschieden. Die „sozialgeographischen Gruppen“ der Wien-Münchener Schüler entsprechen zweifelsfrei der zweiten Kategorie. Demgegenüber entspricht der Ansatz von Eyles und Jones eindeutig dem Verständnis der Soziologie. Klar herausgearbeitet wird von den Autoren das Problem der sozialen Gerechtigkeit und der Verfügbarkeit von Ressourcen. Als besonders wichtiger Punkt für die Sozialgeographie wird die Frage der Verfügbarkeit und der Zugänglichkeit von Ressourcen angesehen. Damit werden gleichsam automatisch Fragen der Macht und der Herrschaft thematisiert. Im zweiten Hauptkapitel wird das Thema der Raumkonzepte vertieft. Dabei wird unter anderem übrigens auch auf Arbeiten von H. Bobek und W. Hartke verwiesen. Besonders herausgestellt wird der Aspekt der symbolischen Bedeutung von Raumausschnitten. Damit gehen die Autoren genau auf jenen Punkt ein, den wir mit der Formel „Zusammenhang zwischen Sinn und Materie“ schon mehrfach angesprochen haben. Sie diskutieren diese Frage am Beispiel einer sehr bekannten Untersuchung von W. Firey aus dem Jahr 1945. (Wir werden auf diese Arbeit später noch genauer eingehen.) Dabei wird deutlich herausgearbeitet, dass der physisch-materielle Raum seinen Wert und seine symbolische Bedeutung erst durch eine kulturelle Sinnzuschreibung erhält. Weitere Themen sind Gruppenterritorien, ethnisch definierte Territorien und (sehr ausführlich dargestellt) „image and perception studies“. Dieses Thema der Raumwahrnehmung wird als zentrale Problemstellung der Sozialgeographie herausgestellt. Das dritte Kapitel befasst sich mit „patterns in social geography“. Gemeint sind damit „Muster“ menschlicher Aktivitäten im Raum. Hier wird auf Fragen eingangen, die mit der Ungleichverteilung sozialer und kultureller Phänomene in Zusammenhang stehen. Solche Ungleichheiten im Verteilungsmuster verlangen nach einer Erklärung. In Kapitel 4 wird die Frage behandelt, wie solche Erklärungen aufgestellt werden können. Dabei werden einerseits Zusammenhänge zwischen der Intensität sozialer Phänomene und Distanzrelationen – etwa zum Stadtzentrum – sowie andererseits Zusammenhänge im Sinne einer Kovariation von einander kausal bedingenden Phänomenen diskutiert. Im fünften Kapitel werden die Muster menschlicher Aktivitäten im Raum den dahinterstehenden Prozessen zugeordnet und durch diese erklärt. Hier wird vor allem auf menschliche Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse eingegangen. Diese Thematik wird in den Folgekapiteln dann differenziert nach thematischen Bereichen weiterverfolgt: Wohnstandortwahl und intraurbane Mobilität, Segregation sowie Makroprozesse der Wanderungsbewegung, Verstädterung und Suburbanisierung. Die letz103

Raumkonzepte nach Jones/Eyles

„Patterns in Social Geography“

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

ten beiden Abschnitte befassen sich mit Planung und der Frage einer „fairen Gesellschaft“. Wir können – ohne zunächst auf inhaltliche Unterschiede im Detail einzugehen – jedenfalls zusammenfassend festhalten, dass sich das Lehrbuch von Jones und Eyles sehr wesentlich von seinem deutschen Pendant unterscheidet. Obwohl im gleichen Jahr erschienen, macht es einen wesentlich „moderneren“ oder „aktuelleren“ Eindruck. Auf den ersten Blick wird klar, dass dieser Text eine gute „Anschlussfähigkeit“ gegenüber den benachbarten Sozialwissenschaften aufweist. In der verwendeten Begrifflichkeit besteht eine klare Kompatibilität zur Sprache der Soziologie, die verwendeten Konzepte zur Beschreibung sozialer Phänomene sind deckungsgleich mit jenen, die in den benachbarten Sozialwissenschaften verwendet werden.

Jakle/Brunn/ Roseman: „Human Spatial Behavior“

Um sicherzustellen, dass dies nicht ein Ausnahmefall ist, wollen wir uns in ähnlicher Kürze ein zweites englischsprachiges Lehrbuch der gleichen Zeit ansehen, und zwar eines aus den USA. Im Lehrbuch „Human Spatial Behavior. A Social Geography“ liegt der Schwerpunkt der Konzeption von Sozialgeographie weniger in der Thematisierung sozialer Probleme und sozialer Gerechtigkeit, sondern eindeutig im Bereich des individuellen räumlichen Verhaltens: “Social geography focuses on individual spatial behavior, for the geographical patterns produced by millions of people can be understood only by examining the individual’s decision making.” J. A. Jakle, S. Brunn und C.C. Roseman, 1976, S. XI. Die spezifische Perspektive dieses Bandes sei durch folgendes Zitat verdeutlicht: “The places people occupy are part of the human communication process. In renting an apartment, taking a vacation, going shopping, or commuting to work, people receive and make use of messages about the geographical environment. By making locational decisions, people, in turn, send messages to the rest of society. Place usage reveals much about an individual’s social identity. We use the word ‘spatial’ to relate to people’s use of places.” ebd., S. XI 104

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

Das Wort „place“ (Ort) wird hier in einer sehr spezifischen Bedeutung verwendet, auf die wir später noch genauer eingehen werden. Sie entspricht in etwa unserem Raum1e. Aus der Sicht der Wien-Münchener Schule muss die hier erkennbare Konzeption sehr verwirrend erscheinen, denn statt auf sozialgeographische Gruppen richtet sich das Interesse ausgerechnet auf menschliche Individuen. Bobeks Dogma von der Bedeutungslosigkeit des Individuums für die Sozialgeographie wird also völlig ignoriert. Folgende konkrete Fragestellungen einer Sozialgeographie werden aufgelistet: – Welche Möglichkeiten einer Standortwahl werden in Betracht gezogen? – Welche Informationen waren verfügbar, wie haben die Standortsuchenden sie beschafft? – Welche sozialen Rahmenbedingungen haben die Entscheidung beeinflusst? – Wie passen die Entscheidung und das resultierende Verhalten in die generellen Kommunikationsprozesse des Gesellschaftssystems? Dabei soll jeweils auch das aggregierte Muster analysiert werden, das aus den räumlichen Entscheidungen einer großen Zahl von Menschen resultiert. Als weitere wichtige Fragestellung wird angeführt, dass Sozialgeographen wissen möchten, wie Menschen vorhersehen, welche Ereignisse an welchen Orten stattfinden und wie sie Orte für bestimmte Ereignisse auswählen. Besonders unüblich aus der Sicht der deutschsprachigen Sozialgeographie erscheint die von den Autoren vorgeschlagene Befassung mit der menschlichen Ich-Identität. “Social geographers also need to know how an individual’s self-image influences expectations and choices, because people usually behave in ways consistent with their images of themselves.” J. A. Jakle, S. Brunn und C.C. Roseman, 1976, S. XII

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Abbildung 10: Das Lehrbuch von J. A. Jakle, S. Brunn und C. C. Roseman (1976)

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

Schlüsselbegriffe bei Jakle/Brunn/Roseman

Räumliches Verhalten, so meinen die Autoren, sei eine Suche nach Orten, die für ein bestimmtes beabsichtigtes Verhalten geeignet sind. Die Raumwahrnehmung müsse ständig umorientiert werden, sobald sich die Orte oder die Selbstbilder verändern. Wichtig erscheint hier der Gedanke, dass es so etwas wie eine „Passung“ zwischen Standorten und Verhaltensabläufen oder Ereignissen gebe. Bestimmte Orte eignen sich für bestimmte Nutzungszwecke besser als andere. Die Frage der Eignung hängt aber auch mit dem Selbstbild des Akteurs und seiner Wahrnehmung zusammen. Wir haben hier also eine ähnliche Zugangsweise wie bei der deutschen Sozialgeographie, aber keine Beschränkung auf die Grunddaseinsfunktionen, sondern eine abstrakte Verknüpfung zwischen Orten qua „funktionierenden Stätten“ und beliebigen Verhaltensweisen. Es fällt auf, dass der Text um eine Reihe von Begriffen kreist, die man als Schlüsselbegriffe des hier vertretenen Ansatzes bezeichnen kann: – – – – – – – –

Inhaltsgliederung Jakle/Brunn/Roseman

räumliches Verhalten räumliche Information räumliche Entscheidungen Orte Ereignisse Selbstbild Image Individuum

Keine Rede ist in diesem Text von Sozialbrache, von Persistenz, Vergrünlandung und Aufforstung, von sozialgeographischen Gruppen, Hütebuben, Hausierern und Lebensformengruppen. Eine wichtige Klarstellung formulieren die Autoren am Ende der Einleitung: “We do not view social geography as a collection of facts …” (S. XII). Das hier erkennbare Verständnis entspricht also nicht jenem einer „Geofaktorenlehre“ im Sinn der klassischen deutschen Geographie. “We prefer to view social geography as a system of thought for understanding the societal bases of human spatial behavior” (ebd.). Sehen wir uns kurz die Inhaltsgliederung dieses Lehrbuches an. Das zweite Kapitel heißt: “Social aspects of human identity”. Hier wird auf 24 Seiten eine Art „sozialwissenschaftliche Propädeutik“ in kürzest möglicher Form geboten. Es wird grundlegendes Wissen über die Funktionsweise gesellschaftlicher Systeme vermittelt. Ausgangspunkt ist dabei das Problem der Ich-Identität des menschlichen Individuums. Es soll erörtert werden, wie sich Menschen in sozialer Hinsicht voneinander differenzieren. Dabei werden Themen behandelt, wie: symbolische Interaktion, soziale Stereotype, Kognition, soziale Symbole, soziale Stratifikation, soziale Rollen, Primärgruppen, Jugendgruppen und Jugendkultur, sekundäre Gruppen, Vereine und Interessengruppen, aber auch Organisationen, Bezugsgruppen 106

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

oder ethnische Differenzierungen. Auch Prozesse wie soziale Mobilität und Fragen des Sozialstatus, soziale Klassen und Machtverhältnisse, Berufsdifferenzierung und Einkommensdifferenzierung werden besprochen. Ein eigener Unterabschnitt ist dem Thema „Lebensstil“ gewidmet. Insgesamt wird in diesem kurzen Abschnitt in sehr komprimierter Form und didaktisch gut aufbereitet ein Kontext von Begriffszusammenhängen und Konzepten angeboten, mit dessen Hilfe eine einfache Beschreibung der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Differenzierungen möglich ist. Die Literaturliste verweist auf sozialwissenschaftliche Originalarbeiten. Damit bietet dieses Kapitel eine einfache, aber höchst nahrhafte Einführung in das sozialwissenschaftliche Denken und bereitet für die Studierenden der Geographie ein Basisinventar von Fachausdrücken auf. Im dritten Kapitel mit dem Titel „Geographic aspects of human identity“ wird – wieder an sehr einfachen, aber illustrativen Beispielen – gezeigt, dass bestimmte soziale Identitäten, Lebensstile und soziale Rollen mit bestimmten Orten korrespondieren. Es soll also die „geographische Seite“ der Münze „Identität“ behandelt werden. Menschen mit einer bestimmten sozialen und personalen Identität und mit bestimmten Lebensstilen tendieren dazu, an bestimmten Orten aufzutreten und zu leben. Umgekehrt wird durch das Vorhandensein von Menschen mit bestimmten Lebensstilen das Image eines Ortes oder einer Region geprägt. Es handelt sich um Stereotype, um Vorstellungsklischees, um eingebürgerte Vorurteile. Dieser Zusammenhang von Identität und Orten wird folgendermaßen formuliert: “People are stereotyped by the kinds of places they occupy and, conversely, places are stereotyped by the kinds of people found in them. Social identities and geographical locations are thus integrally linked.” ebd., S. 37 In diesem Abschnitt wird zunächst die Frage diskutiert, wie das Image von Orten zustande kommt. Ausführlicher wird dann das Phänomen der Territorialität besprochen. “Most important to the self-concept are those places that people possess and defend as ‘belonging’ to them personally. People assign themselves special privileges of both access and use in these territories. Behavior that marks and defends these spatial possessions is called … territoriality.” ebd., S. 39 107

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

Neben individuellen Territorien und dem „personal space“ werden in der Folge auch Gruppenterritorien erörtert, wobei immer die sozialwissenschaftliche Grundlagenliteratur zu diesen Themen angeführt und zitiert wird. Weitere Themen sind „Crowding“ (Dichtestress), Nachbarschaft und „Referenzorte“, wie Nachbarschaften von Eliten, Slums, Suburbs, und sogenannte „vernacular regions“ oder „Wahrnehmungsregionen“. Wir werden uns später mit einigen dieser Themen noch eingehender beschäftigen. Im vierten Hauptkapitel werden die Wahrnehmung und die Kognition (wir werden diese Begriffe in Kapitel 9 erörtern) der Umwelt behandelt. Hier wird auf physiologische Grundlagen der menschlichen Wahrnehmung generell und im Besonderen auf räumliche Lernprozesse eingegangen. Ausführlich wird das Konzept der kognitiven Karten oder Mental Maps behandelt. Spezielle Fragen sind Distanz- und Richtungswahrnehmung sowie das Thema „Behavior Settings“, mit dem wir uns in Abschnitt 10.2.3 noch beschäftigen werden. Kapitel 5 befasst sich mit Grundkonzepten räumlicher Interaktion und Bewegungen. Hier werden zunächst jene Bewegungen besprochen, die man als „Zirkulation“ bezeichnet: alle Formen der Distanzüberwindung, die von der Wohnung ausgehen und zu ihr zurückkehren, wie Einkaufen, Pendeln, Freizeitverhalten etc. Anschließend besprechen die Autoren das Thema Migration, die Wanderungsbewegungen, bei denen es zu einer Verlagerung des Wohnsitzes kommt. Räumliche Aspekte der Kommunikation und der Kommunikationsausbreitungen werden im Folgekapitel behandelt. Hier finden sich auch Hinweise auf Innovation und Diffusion. Mit Abschnitt 7 beginnen die Autoren eine Vertiefung des Stoffes in Richtung menschlicher Entscheidungsprozesse. Er befasst sich mit den Entscheidungsprozessen, die hinter den Wanderungsbewegungen stehen. Neben dem Zusammenhang zwischen sozialer und räumlicher Mobilität wird hier auch das Thema „Assimilation“ (Eingliederung von Migranten in ein neues Sozialsystem) erörtert. Fragen der Wanderungsbewegungen stehen auch im folgenden Abschnitt im Vordergrund. Hier werden großräumige Muster aggregierter Wanderungsströme behandelt. Kapitel 9 hat die Überschrift: “How do people sort themselves out in space?” In diesem Abschnitt geht es vor allem um das Thema „Segregation“, also die räumliche Ungleichverteilung sozialer oder ethnischer Gruppen. Die letzten drei Kapitel befassen sich mit dem Standortmuster sozialer Institutionen, mit administrativen Strukturen und verschiedenen Versuchen, räumlich fassbare soziale Probleme durch politisch-administrative Intervention zu lösen. Das Buch endet mit einem sehr knapp und konzentriert formulierten Ausblick auf die zukünftige Entwicklung der Sozialgeographie.

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6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

Zusammenfassung Wir können aus unserer Lehrbuchanalyse also zusammenfassend Folgendes ableiten: Zeitgleich mit der sehr speziellen deutschsprachigen Variante einer landschaftsorientierten Sozialgeographie existierte im englischen Sprachraum eine sozialwissenschaftlich fundierte und auf aktuelle Lebensverhältnisse bezogene Sozialgeographie. Diese „Social Geography“ ist hervorragend eingebunden in den Kontext der benachbarten Sozialwissenschaften und greift auf die dort bewährten Theorien und Konzepte zurück. Als besondere Kennzeichen der englischsprachigen Ansätze lässt sich einerseits eine gesellschaftspolitische Orientierung festhalten, die auch emanzipatorische Elemente aufweist. Es ist also ein gesellschaftspolitischer Veränderungswille erkennbar. Andererseits ist eine sehr nachdrückliche Hinwendung zum menschlichen Individuum auffällig. Beides steht in einem klaren Gegensatz zu den Dogmen der Wien-Münchener Schule und der Tradition im deutschen Sprachraum. Hier wird die „Geographie des Individuums“ als Unding angesehen und bereits beim leisesten Verdacht einer nicht wertneutralen gesellschaftspolitischen Orientierung entrüstet der Untergang des Abendlandes beschworen.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz: Bei der Besprechung der klassischen deutschsprachigen Sozialgeographie der Wien-Münchener Schule fiel auf, dass sich dieser Ansatz nahezu ausschließlich auf das materielle Substrat sozialer Systeme konzentriert. Man befasste sich vor allem mit Landnutzungssystemen, Siedlungsstrukturen, Baulichkeiten und „kartierbaren“ materiellen Dingen – und zwar überwiegend nur so weit als dieses Substrat im Maßstabsbereich „landschaftlicher“ Größenordnung fassbar ist. Diese betonte Hinwendung zu den materiellen Artefakten kann vor dem Hintergrund der „Sachblindheit“ der benachbarten Sozialwissenschaften durchaus auch als erwähnenswerter Vorzug der deutschsprachigen Sozialgeographie angesehen werden. Hier liegt eine fachspezifische Sensibilität vor, die „Marktvorteile“ verschaffen kann. Besonders auffällig ist für die deutschsprachige Sozialgeographie, dass die eigentlichen sozialen Prozesse und Strukturen selbst nicht im Blickpunkt des Interesses stehen. Sie werden gleichsam als „Black Box“ betrachtet. Diese sozialen Prozesse werden bestenfalls auf dem Umweg über landschaftliche Indikatoren vom Typus „Sozialbrache“, „Vergrünlandung“ oder „Aufforstung“ indirekt erschlossen. Die Grundmuster und die konstituierenden Prozesse sozialer Systeme bleiben weitgehend unberücksichtigt. (Unter „Black Box“ versteht man in der Systemtheorie Folgendes: Ein komplexer und komplizierter Ursachen-Wirkungszusammenhang wird als bloße Input-Output-Relation gesehen. Man setzt die Inputs mit den Out109

Vergleich Sozialgeographie im deutsch- und englischsprachigen Raum

Soziale Prozesse und Strukturen als „Black Box“

6. DER AUFBRUCH DER SOZIALGEOGRAPHIE IM ENGLISCHEN SPRACHRAUM

Andere Grundorientierung in der englischsprachigen Sozialgeographie

1. Erfassung politisch-sozialer Systemstrukturen

2. Bewältigung sozialer Systeme durch das Individuum

puts in Beziehung und verzichtet darauf, die Kausalzusammenhänge zu ergründen, welche eigentlich dafür verantwortlich sind, dass ein bestimmter Input zu einem bestimmten Output führt.) Eine ganz andere Grundorientierung findet man in der zeitgleich sich entwickelnden Sozialgeographie des englischen Sprachraumes. Auch ihren Vertretern ist es ein Anliegen, sozialräumliche Phänomene und Prozesse zu erklären. Sie gehen aber von der Prämisse aus, dass dazu die sozialen Systeme selbst eben nicht als Black Boxes angesehen werden dürfen. Um diese Black Box des sozialen Systems zu öffnen, werden in der englischsprachigen Sozialgeographie zwei Strategien eingesetzt. Die erste versucht, die politisch-sozialen Strukturen zu erfassen. Diese Strategie setzt auf einen gesellschaftstheoretischen Ansatz. Die zweite Strategie ist durch eine individuumszentrierte Ausrichtung charakterisiert. Hier wird versucht, die Black Box des sozialen Systems auf dem Weg über die Erfassung der mentalen Repräsentation sozialer Existenz im Bewusstsein des einzelnen Individuums zu erfassen. Bei der gesellschaftstheoretischen Perspektive liegt der Schwerpunkt der konzeptionellen und empirischen Arbeit in der Erfassung der politischsozialen Systemstrukturen und ihrer räumlichen Organisationen und Auswirkungen. Es wird auf einschlägige Theorien der Politikwissenschaften und der Soziologie Bezug genommen, im Hintergrund steht oft ein mehr oder weniger deutlicher Bezug auf den Marxismus. Zentrale inhaltliche Themen sind regionale Disparitäten, räumlich-soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit, sozialräumliche Barrieren, Zugangsbeschränkungen zu Raumpotenzialen, räumlich definierbare Nutzungsrestriktionen, Systemzwänge innerhalb von Gesellschaftssystemen und ähnliche Fragestellungen. Für diese Ansätze ist meist eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte emanzipatorische Komponente charakteristisch. Die zweite Strategie orientiert sich an einer anderen Facette der Black Box. Hier versucht man, soziale Strukturen und Prozesse auf dem Weg über ihre mentale Repräsentation in menschlichen Bewusstseinsströmen zu erfassen. Es geht um die Frage, wie soziale Systeme vom Individuum kognitiv und emotiv bewältigt werden. Bei der Beantwortung stützt man sich auf die Theorien und Forschungsergebnisse der Psychologie und der Sozialpsychologie, aber natürlich auch auf jene der Soziologie. Spezifische Arbeitsschwerpunkte und Themenbereiche sind hier etwa: menschliche Motivationsstrukturen und Bedürfnisse, die Internalisierung gesellschaftlicher Werte, die Logik menschlicher Entscheidungsprozesse und besonders die kognitive Struktur menschlicher Weltaneignung. Dabei steht natürlich die räumliche Kognition im Vordergrund. Als elementare Grundeinheit der Analyse wird bei dieser Strategie das menschliche Individuum herangezogen.

110

7

Perspektiven und Entwicklungslinien der Sozialgeographie – eine erste Übersicht

Mit den bisher vorgenommenen Differenzierungen der verschiedenen Strömungen und Schulen der Sozialgeographie haben wir ansatzweise das analytische Werkzeug beisammen, um die Entwicklungslinien dieses Faches in groben Zügen und gleichsam flächendeckend „kartieren“ zu können (vgl. Abb. 11). Abbildung 11: Perspektiven und Entwicklungslinien der Sozialgeographie

MAKRO-

Systemtheorie Feministische Geographie PERSPEKTIVE

ANALYTISCHE

MIKRO-

GESELLSCHAFTSTHEORETISCHE

Poststrukturalismus, Neue Kulturgeographie

Radical Geography, Welfare Geography Handlungstheoretische Sozialgeographie Behavioral Approach

Kognitionsmodelle

Stimulus-WahrnehmungsReaktions-Modelle „Raumstrukturforschung“ Wien-Münchener Schule

1950

1980

2000

Den Beginn einer eigenständigen Teildisziplin „Sozialgeographie“ haben wir mit den Arbeiten von Hans Bobek etwa Ende der 1940er-Jahre angesetzt. Aus unserer bisherigen Befassung mit den deutschen und englischsprachigen Ansätzen konnten wir drei spezifische Betrachtungsperspektiven identifizieren. Sie führen, wie wir gleich sehen werden, zu unterschiedlichen Gruppen von Entwicklungslinien des Faches. Die erste, die in der Wien-Münchener Schule erkennbar wurde, wollen wir als „makroanalytische Perspektive“ bezeichnen. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie überwiegend mit aggregierten massenstatistischen Daten operiert.Wir werden das gleich ausführlich besprechen. Die zweite Gruppe von Ansätzen soll als „mikroanalytische Perspektive“ bezeichnet werden. Sie umfasst all jene 111

Drei Perspektiven der Sozialgeographie

7. PERSPEKTIVEN UND ENT WICKLUNGSLINIEN – EINE ERSTE ÜBERSICHT

Wien-Münchener Schule

Raumstrukturforschung

Schulen und Arbeitsrichtungen, die das menschliche Individuum, seine Bewusstseinsprozesse, sein Verhalten oder sein Handeln in den Vordergrund der Betrachtung stellen. Diese Perspektive haben wir bei der Besprechung des amerikanischen Lehrbuches inhaltlich bereits etwas näher kennengelernt. Zum Dritten haben wir noch eine dezidiert gesellschaftstheoretische Perspektive der Sozialgeographie zur Kenntnis genommen. Sie kam im Lehrbuch von Jones und Eyles deutlich zum Ausdruck. Die Grenzen zwischen diesen drei Perspektiven sind vor allem bei den mikro- und makroanalytischen Ansätzen relativ deutlich ausgeprägt, zwischen den mikroanalytischen und den gesellschaftstheoretischen Schulen kommt es im Zeitverlauf – wie wir noch sehen werden – zu gewissen „Konvergenzerscheinungen“ bzw. zu einer Annäherung. Relativ ausführlich mussten wir die Wien-Münchener Schule besprechen, da sie als gleichsam logische Entwicklungslinie aus der klassischen Landschaftsgeographie erwachsen ist und für den deutschen Sprachraum die Ausgangsbasis der Fachgeschichte markiert. Wir konnten aus unseren Überlegungen zu diesem Ansatz eindeutig den Schluss ziehen, dass diese Entwicklungslinie heute nur noch von historischem Interesse ist. Sie hat für die deutschsprachige Geographie zweifellos wertvolle Impulse geliefert, ihre Grundkonzeption ist aber aus heutiger Sicht obsolet und nicht weiter entwicklungsfähig. (Dies wird in Abbildung 11 durch die punktierte senkrechte Linie visualisiert.) Als zweite bedeutsame Entwicklungslinie werden wir im Folgenden eine Arbeitsrichtung diskutieren, die wir mit der Bezeichnung „Raumstrukturforschung“ belegen wollen. Es handelt sich um einen schon recht frühen Ansatz, der eigentlich in der Soziologie entstand, in der Geographie aber erheblich weiterentwickelt wurde. „Raumstrukturforschung“ ist eher ein Verlegenheitsbegriff, den ich verwende, weil es in der methodologischen Literatur keinen zusammenfassenden Überbegriff für jenes lockere Konglomerat von Arbeitsrichtungen gibt, die man dieser Kategorie zurechnen müsste. Diese beiden Ansätze beziehen sich in hohem Maße auf das materielle Substrat sozialer Systeme, also auf Landnutzungssysteme, Baulichkeiten und andere Artefakte, und versuchen, den Einfluss sozialer, wirtschaftlicher und politischer Kräfte auf diese materiellen Strukturen darzustellen. Andererseits wird hier auch sehr stark sozialstatistisch operiert. Mithilfe sozialstatistischer Daten werden „Raumgliederungen“ und „Regionalisierungen“ durchgeführt. Diese Ansätze sind also ebenfalls makroanalytisch ausgerichtet. Der weit überwiegende Teil der humangeographischen Arbeiten, die im Rahmen des raumwissenschaftlichen Ansatzes im deutschen Sprachraum entstanden sind, kann dieser Kategorie zugeordnet werden. Man kann beobachten, dass Relikte der Wien-Münchener Schule in die Raumstrukturforschung eingeflossen sind und bestimmte Begrifflichkeiten (wie „Brache“ oder „Persistenz“) hier gleichsam überleben konnten. 112

7. PERSPEKTIVEN UND ENT WICKLUNGSLINIEN – EINE ERSTE ÜBERSICHT

Eine grundlegend andere und klar differente Zugangsweise zur sozialräumlichen Realität kennzeichnet die Forschungsansätze, die wir der mikroanalytischen Perspektive zuordnen können. Das Begriffspaar „mikroanalytisch“ – „makroanalytisch“ kann in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet werden. Die erste Bedeutung, die hier nicht gemeint ist, bezieht sich auf den Maßstab der Betrachtung. In diesem Sinne kann man „mikronanalytisch“ als Bezeichnung für empirische Arbeiten verwenden, die sich auf einen Maßstab in der Größenordnung von etwa 1:25.000 bis hinunter zum Kataster- oder Planmaßstab beziehen. Es handelt sich also um Parzellen- oder Haus-zu-Haus-Kartierungen und Ähnliches. „Makroanalytisch“ charakterisiert demgegenüber Arbeiten, die großräumige Phänomene etwa im Bereich von Kontinenten oder Kulturräumen analysieren. Die zweite Verwendungsmöglichkeit bezieht sich hingegen auf die jeweils intendierten inhaltlichen Ziele der Forschung. Hier geht es um eine Gegenüberstellung von Aggregatdaten und Individualdaten. Bei mikroanalytischen Ansätzen liegt das Interesse der Forschung im Bereich individueller Bewusstseinsinhalte und Werte. Es geht um die Analyse von subjektiven Denkprozessen und Abwägungen. Diese Individualdaten werden dabei nicht indirekt, sondern auf direktem Weg überwiegend mithilfe psychologisch begründeter sozialwissenschaftlicher Erhebungsmethoden erfasst. Im Vordergrund stehen hier das Denken und Fühlen sowie die Wertungsprozesse des Subjekts, das seine oder ihre Auffassungen selbst artikuliert. Diese individuellen Auffassungen können natürlich nachträglich problemlos zu gruppenspezifischen oder kulturspezifischen Mustern aggregiert werden. Bei makroanalytischen Analysen können (unter anderem) ebenfalls individuelle Bewusstseinszustände erforscht werden. Diese werden aber nicht direkt erhoben, sondern aus statistischen Verallgemeinerungen erschlossen. Sie zielen von vorneherein auf Aggregatdaten ab, bei denen das einzelne menschliche Subjekt nicht als Einzelfall oder Einzelperson, sondern als an sich unbedeutendes Element großer statistischer Massen behandelt wird. Ein typisches Beispiel wäre die makroanalytische Wanderungsforschung. Hier werden aggregierte Wanderungsdaten erhoben – etwa die Wanderungsströme zwischen statistischen Zähleinheiten pro Jahr. Analyseeinheiten sind eigentlich nicht Haushalte oder Menschen, sondern Wanderungsfälle. Aus solchen Wanderungsströmen werden bestimmte Einstellungen, Wünsche, Bedürfnisse, Wertungen oder Motivationslagen der wandernden Personen indirekt erschlossen. Wenn etwa ein sehr hoher Anteil von Menschen einer bestimmten Alters- oder Sozialgruppe ein ganz bestimmtes Wohngebiet als Wanderungsziel wählt, dann schließt man daraus, dass die Attribute dieses Gebietes für die betreffende Gruppe besonders attraktiv sind. Die Motive, Wünsche, Wertungen der Akteure werden in makroanalytischen Untersuchungen also aus dem „overten“, dem „geoffenbarten“ Tun 113

Mikro- und makroanalytische Ansätze

Beispiel: makroanalytische Wanderungsforschung

7. PERSPEKTIVEN UND ENT WICKLUNGSLINIEN – EINE ERSTE ÜBERSICHT

Mikroanalytische Ansätze

indirekt erschlossen. Bei mikroanalytischen Zugängen werden die Motive hingegen direkt, als dezidiert artikulierte Meinung der Akteure selbst erfasst. Es handelt sich in beiden Fällen um legitime und sinnvolle Grundansätze der Forschung, beide haben ihre spezifischen Vorteile und Fehlermöglichkeiten. Sowohl die Wien-Münchener Schule als auch die Raumstrukturforschung sind eindeutig der makroanalytischen Perspektive verpflichtet. Die individuumszentrierten Zugänge der englischsprachigen Sozialgeographie hingegen orientieren sich klar an der mikroanalytischen Perspektive. Wenn wir die hier vorfindbaren Ansätze zu Gruppen zusammenfassen, dann lassen sich drei Arbeitsrichtungen unterscheiden, die gleichsam in einem Entwicklungszusammenhang stehen. Diese drei Gruppen sollen jetzt nur benannt werden, ohne sie genauer zu erklären oder zu beschreiben. Wir werden sie später im Einzelnen genau besprechen. Die historisch gesehen früheste Gruppe mikroanalytischer Forschungsansätze der Sozialgeographie basiert auf einem theoretischen Grundkonzept, das als „Stimulus-Wahrnehmungs-Reaktions-Modell“ bezeichnet werden kann. Diese Ansätze orientieren sich stark am sogenannten Behaviorismus, einer Schule der Psychologie. Die Grundhypothese besteht in der Annahme, dass das Verhalten des Menschen – und damit natürlich auch das räumliche Verhalten – durch Umweltstimuli kausal gesteuert wird. Diese Arbeitsrichtung begründete die sogenannte „verhaltenswissenschaftliche Geographie“ (englisch: „behavioral approach“) oder „Wahrnehmungsgeographie“. Die Stimulus-Wahrnehmungs-Reaktions-Modelle kamen spätestens Ende der 1970er-Jahre in eine Krise und wurden durch die nächste Gruppe mikroanalytischer Ansätze abgelöst. Diese nächste Gruppe von Ansätzen verwendet ein komplexeres Analysekonzept. Man spricht hier von „Kognitionsmodellen“ oder „organismischen Kognitionsmodellen“. Bei diesen Ansätzen wird das Stimulus-Reaktionsmodell durch das Konzept der Kognition angereichert. Wir werden das in Abschnitt 9.1.2 ausführlich diskutieren. In den 1980er-Jahren werden auch diese Ansätze obsolet. Es zeigt sich, dass sie ihrem Erklärungsanspruch nicht in dem Maße gerecht werden können, wie sie unterstellen. Als dritte Arbeitsrichtung der mikroanalytischen Perspektive, die sich von den Vorgängern allerdings sehr wesentlich und grundsätzlich unterscheidet, können wir die handlungstheoretischen Modelle anführen. Sie sind eine Innovation der deutschsprachigen Sozialgeographie, die ihre Wurzeln in den benachbarten Sozialwissenschaften hat. Die Diskussion um die handlungstheoretische Sozialgeographie setzt Anfang der 1980er-Jahre ein und hat Mitte der 1990er-Jahre einen ersten Höhepunkt erreicht. Man kann sagen, dass die Stimulus-Wahrnehmungs-Reaktions-Modelle im Verlaufe der Forschungsentwicklung fast ohne Bruch in die Kognitionsmodelle übergeführt oder von diesen abgelöst werden. Neuere Versionen der Kognitionsmodelle weisen in der Zwischenzeit Konvergenzerschei114

7. PERSPEKTIVEN UND ENT WICKLUNGSLINIEN – EINE ERSTE ÜBERSICHT

nungen zur Handlungstheorie auf. Allerdings ist hier ein deutlicher Bruch oder eine markante Kluft zu erkennen. Denn die verhaltenswissenschaftlichen Ansätze der mikroanalytischen Perspektive unterscheiden sich grundlegend von der Basiskonzeption der Handlungstheorie. Die gesellschaftstheoretische Perspektive haben wir am Beispiel des Lehrbuchs von Jones und Eyles schon in Grundzügen kennengelernt. Die hier vertretenen Ansätze wählen einen ganz anderen Zugang zur Darstellung der Zusammenhänge zwischen dem Sozialen und dem Räumlichen. Diese Perspektive ist durch den Versuch gekennzeichnet, das soziale System selbst zu thematisieren. Bereits Anfang der 1960er-Jahre war hier eine Gruppe von Ansätzen deutlich erkennbar, die sich als „Radical Geography“ und in einer etwas „milderen“ Variante als „Welfare Geography“ bezeichnete. Diese beiden Richtungen waren im deutschen Sprachraum nicht besonders einflussreich. In den letzten drei Jahrzehnten ist jedoch ein deutlicher Aufschwung dieser marxistisch orientierten Entwicklungslinie zu beobachten, die auch unter der Bezeichnung „Kritische Geographie“ firmiert. Bernd Belina hat 2013 einen Text mit dem Titel „Raum – Zu den Grundlagen eines historisch-geographischen Materialismus“ veröffentlicht, der als lesenswerte deutschsprachige Einführung in diese Arbeitsrichtung der Sozialgeographie angesehen werden kann. Seit Mitte der 1960er-Jahre findet sich auch in der Geographie – so wie in einer ganzen Reihe anderer Disziplinen – eine spezielle Variante der gesellschaftstheoretischen Perspektive, die das Thema „soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit“ am Beispiel der Geschlechterforschung thematisiert. Dieser Ansatz der feministischen Sozialgeographie ist ungebrochen bis in die Gegenwart wirksam. Wie bei der Radical und Welfare Geography ist hier eine ausgeprägt emanzipatorische Attitüde erkennbar, bei der es nicht nur um forschende Analysen, sondern auch um eine Veränderung bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse geht. Seit Mitte der 1980er-Jahre lässt sich eine Variante der Sozialgeographie erkennen, die auf die Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann zurückgreift. Auch bei diesen Ansätzen steht nicht das Individuum, sondern das gesamtgesellschaftliche System im Vordergrund. Und schließlich können wir seit Mitte der 1990er-Jahre noch einige neuere Varianten der gesellschaftstheoretischen Zugänge erkennen, die zusammenfassend als „poststrukturalistische“ Sozialgeographie und „Neue Kulturgeographie“ bezeichnet werden. Zwischen den verschiedenen Varianten der gesellschaftstheoretischen Perspektive und der handlungstheoretischen Sozialgeographie gibt es zwar heftige und kritische Auseinandersetzungen, aber auch eine sehr konstruktive wechselseitige Befruchtung. Im vorliegenden Text werden wir nur einen Teil der hier dargestellten Ansätze der Sozialgeographie in ihren wichtigsten Einzeltheorien und empirischen Ergebnisse besprechen. Der feministischen Variante der Sozialgeographie widmet sich ein eigener Band dieser Reihe (D. Wastl-Walter, 115

Gesellschaftstheoretische Ansätze

Poststrukturalismus und „Neue Kulturgeographie“

7. PERSPEKTIVEN UND ENT WICKLUNGSLINIEN – EINE ERSTE ÜBERSICHT

Differenz der Ansätze

2010), sie wird daher hier nicht näher behandelt. Das gleiche trifft für die systemtheoretischen Ansätze zu. (Der Autor vermutet, dass auch den systemtheoretischen Ansätzen ein eigener Band in dieser Reihe gewidmet wird.) Abschließend soll nochmals auf die Differenzen zwischen den drei Perspektiven hingewiesen werden (vgl. Abb. 12). Alle drei Perspektiven der Sozialgeographie haben eines gemeinsam: Sie versuchen, „das Räumliche“ oder „Räumlichkeit“ mit „dem Sozialen“ in Beziehung zu setzen. Dabei interessiert ausdrücklich der direkte Verschneidungsbereich zwischen diesen beiden Größen. Im Rahmen der makroanalytischen Perspektive bleiben dabei sowohl das soziale System selbst als auch das menschliche Individuum, das handelnde Subjekt, weitgehend unanalysiert. Beide werden als Black Box betrachtet. Dies wird in Abbildung 12 durch den schwarzen Hintergrund der Kästen „Soziales“ und „Individuum“ symbolisiert. Die im sozialen System und beim Subjekt ablaufenden Prozesse werden nicht näher betrachtet. Makroanalytische Ansätze haben meist mehr oder weniger deutliche Probleme, Schnittstellen zu den benachbarten Sozialwissenschaften zu definieren, da sie relativ geringe Überschneidungen bei der verwendeten Begrifflichkeit vorweisen können. Sie verzichten auch weitgehend darauf, Anleihen bei sozialwissenschaftlichen Theorien zu machen. Deshalb ist die makroanalytische Perspektive auch im Rahmen des raumwissenschaftlichen Ansatzes und im Kontext von GIS-basierten Untersuchungen sehr gut einsetzbar. Bei der mikroanalytischen Perspektive wird im Grunde die gleiche Problemstellung der Verschneidung von Räumlichem und Sozialem behandelt. Bei den verhaltenswissenschaftlichen Zugängen bleibt das soziale System als Black Box unanalysiert. Man interessiert sich nicht näher dafür, welche Elemente und Prozesse dieses System charakterisieren und welche Gesetzlichkeiten hier wirksam werden. Die Black Box des Subjekts wird in dieser Perspektive hingegen geöffnet und ausdrücklich thematisiert. Man versucht hier, den Gesamtzusammenhang zwischen dem Räumlichen und dem Sozialen dadurch zu erfassen, dass die Elemente und Prozesse des Teilsystems „Individuum“ offengelegt und in ihrem komplexen Zusammenwirken detailliert erfasst werden. Diese „Öffnung“ wird durch den weißen Hintergrund des Kastens „Individuum“ zum Ausdruck gebracht. Dabei bezieht man sich ausführlich auf Theorien aus der Psychologie und der Sozialpsychologie. Wir können die drei Ansätze der mikroanalytischen Perspektive auch dadurch charakterisieren, dass sie auf sozialwissenschaftlichen Theorien basieren, in denen das menschliche Individuum ausdrücklich thematisiert und in den Vordergrund gestellt wird. Nur die handlungstheoretische Sozialgeographie (vgl. Kapitel 10) ist dabei bemüht, beide Black Boxes zu öffnen (deshalb ist der Kasten „Soziales“ hier grau hinterlegt) und auch die gesellschaftlichen Gegebenheiten und deren Zusammenhänge mit den handelnden Subjekten zu thematisieren. 116

7. PERSPEKTIVEN UND ENT WICKLUNGSLINIEN – EINE ERSTE ÜBERSICHT

Makroanalytische

P E R S Mikroana- P lytische E K T GesellI schaftsV theoretiE sche

Räumlichkeit

Räumlichkeit

Räumumlichlichkeit

Abbildung 12: Differenz sozialgeographischer Perspektiven

Soziales Soziales Individuum Soziales Soziales Individuum Soziales Soziales Individuum

Die gesellschaftstheoretische Perspektive nähert sich der grundsätzlichen Frage nach dem Zusammenhang zwischen dem Räumlichen und dem Sozialen auf komplementäre Weise. Hier wird die Black Box des Sozialsystems „geöffnet“. Das Individuum selbst bleibt eher im Hintergrund. Auch für die verschiedenen Ansätze dieser Perspektive ist ein intensiver Theorietransfer aus den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen charakteristisch. Hier stehen nun natürlich Theorien im Vordergrund, die sich auf gesamtgesellschaftliche Strukturen und Prozesse beziehen. Selbstverständlich ist die eben vorgestellte Darstellung des gesamten Forschungsfeldes der Sozialgeographie als idealtypische Generalisierung anzusehen, die dem Zweck dient, gleichsam die „roten Fäden“ der Wissenschaftsgeschichte transparent zu machen. Besonders bei den gesellschaftstheoretischen Ansätzen könnte man auch eine feinere Differenzierung vertreten; hier sind auch nicht alle Strömungen dargestellt. Im folgenden Abschnitt wird nun die Raumstrukturforschung als zweite Ausprägungsform der makroanalytischen Perspektive etwas ausführlicher diskutiert. Dies soll am Beispiel konkreter empirischer Realisierungen dieser Betrachtungsweise geschehen.Vor allem aber wird es darum gehen, das charakteristische Denk- und Argumentationsmuster dieser Arbeitsrichtung aufzuzeigen. Abschließend soll eine Bewertung versucht werden: Was kann die Raumstrukturforschung aus heutiger Sicht leisten, welche Probleme sind mit diesem Ansatz lösbar, welche nicht, wie sieht ihr gegenwärtiger Stellenwert im Gesamtgefüge der Sozialgeographie aus?

117

8

Wechselwirkung zwischen sozialen Systemen und Umwelt

Die klassische Sozialraumanalyse

Im folgenden Abschnitt soll in aller Kürze die klassische makroanalytische Sozialraumanalyse besprochen werden. Ihre geographische Ausprägungsform haben wir als „Raumstrukturforschung“ bezeichnet. Die Sozialraumanalyse ist historisch gesehen der älteste Ansatz der raumbezogenen Sozialforschung. Sie hat ihre Wurzeln in der „Sozialökologie“ der Chicagoer Schule der Soziologie, die von Robert E. Park und Ernest W. Burgess (1921) begründet wurde. Eine weitere wichtige Grundlage ist die „social area analysis“ der amerikanischen Soziologie. Anleihen wurden auch an der französischen und deutschen Soziologie genommen. Hier sind etwa die Soziologen Maurice Halbwachs und Georg Simmel zu nennen. Der Grundgedanke, auf dem all diese Ansätze basieren, ist einfach und einleuchtend. Man geht davon aus, dass soziale Phänomene – wie immer man diese auch definiert – verortet sind und eine bestimmte räumliche Position besitzen. Sie sind irgendwo lokalisiert, haben einen Standort oder ein bestimmtes Verbreitungsgebiet. Damit weisen sie räumlich definierbare Erscheinungsmuster (wie Dispersion oder Ballung) und Relationen zu anderen sozialen Phänomenen auf (wie Nähe, Ferne oder Konnektivität). Soziale Phänomene können damit im Sinne des Koinzidenzprinzips aber auch mit nichtsozialen Phänomenen in Beziehung gebracht werden, die am gleichen Standort oder im gleichen Verbreitungsgebiet vorkommen. Hinter dieser Grundidee steht natürlich eine ganz entscheidende Vorannahme oder Voraussetzung: Um überhaupt im physisch-materiellen Raum verortet werden zu können, müssen soziale Phänomene an physisch-materielle Strukturen gebunden sein. Das betreffende soziale Phänomen muss also in irgendeiner Form am Körper eines Menschen oder an Dingen gleichsam „festgemacht“ werden können. Diese Grundidee wurde besonders klar und eindeutig in der Sozialökologie der Chicagoer Schule formuliert und angewendet (vgl. dazu A. Hawley, 1974 oder J. Friedrichs, 1977). Basierend auf der klassischen Sozialökologie, haben sich seit den 1940er-Jahren eine Reihe von Ansätzen der Sozialraumanalyse entwickelt, denen folgende Grundorientierung gemeinsam ist: Sie gehen davon aus, dass soziale Systeme, die durch irgendwelche soziale Variablen dargestellt oder repräsentiert werden können, immer in eine bestimmte Umwelt eingebettet sind. Es wird angenommen, dass von dieser Umwelt bestimmte Wirkungen auf die sozialen Systeme ausgehen oder dass Beziehungen zwischen der Umwelt und den sozialen Gegebenheiten existieren. Die Sozial118

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

raumanalyse versucht, die Wechselwirkungen zwischen sozialen Systemen und ihrer Umwelt zu analysieren. Dabei wird grundsätzlich eine makroanalytische Perspektive eingesetzt, bei der nicht Individuen oder Einzelakteure des sozialen Systems, sondern soziale Aggregate im Vordergrund stehen. Das inhaltliche Spektrum derartiger Forschungsansätze ist dabei sehr weit gespannt. Auch in der methodischen Orientierung ist eine sehr erhebliche Variationsbreite zu erkennen. Sie reicht von sehr einfachen Vergleichen von Verteilungsmustern bis zu komplizierten und anspruchsvollen Verfahren der analytischen Statistik. Das Grundprinzip der methodischen Konzeption und damit der generelle Algorithmus der Erkenntnisgewinnung sind aber einfach. Dieser Algorithmus sieht, abstrakt formuliert, etwa folgendermaßen aus: Empirische Daten oder Beobachtungen, von denen man annimmt, dass sie in irgendeiner Weise von sozialer Relevanz sind, werden in räumlich differenzierter Form aufbereitet und in Karten dargestellt. Eine besonders einfache Methode ist die Aufbereitung in Form von Tabellen, die räumliche Zähleinheiten wie Gemeinden oder Bundesländer ausweisen. Durch diese Darstellungsweise kommt die räumliche Variation des Datenmusters zum Ausdruck und kann auf der Basis räumlicher Bezugs- oder Zähleinheiten (Zählraster, statistische Zählbezirke, Gemeinden, Länder …) differenziert und visualisiert werden. In der allereinfachsten Form handelt es sich um Verteilungsmuster von Einzelphänomenen oder um Verteilungsmuster von Verhältniszahlen. Ein Beispiel für Einzelphänomene wäre etwa die absolute Zahl von ausländischen Arbeitnehmern pro statistischer Zähleinheit, für Verhältniszahlen die relative Zahl von ausländischen Arbeitnehmern pro 100 Einwohnern nach statistischen Zähleinheiten. Aufwendigere Ansätze verwenden komplexe soziale Indikatoren. Dabei werden mehrere sozialstatistische Daten miteinander in Beziehung gesetzt und das Ergebnis dieser Berechnungen wird als Indikatorwert nach Zähleinheiten in die Karte eingetragen. Ein Beispiel wäre der „Index der sozialen Ranglage“, den wir gleich näher besprechen werden (vgl. Abb. 23). Besonders komplex sind Ansätze, bei denen solche Indikatoren aus einer Vielzahl von Einzeldaten mithilfe aufwendiger statistischer Verfahren wie etwa der Faktorenanalyse, der Diskriminanzanalyse oder der Clusteranalyse abgeleitet und dann ebenfalls im Kartenbild ausgewiesen werden. Letztlich handelt es sich immer um Verbreitungskarten sozialer Phänomene. Diese Kartendarstellungen sind nun die Ausgangsbasis für inhaltliche Interpretationen. Aus der erkennbaren räumlichen Variation der in den Daten repräsentierten sozialen Phänomene werden also Aussagen über die Struktur und Funktionsweise des betreffenden sozialen Systems abgeleitet. Dabei ergeben sich zwei Haupttypen von Aussagen: Soziale Systeme und soziale Phänomene können durch räumliche Attribute charakterisiert werden. Dies ermöglicht dann Aussagen folgender Art: 119

Indikatorwert

Zwei Haupttypen von Aussagen: 1. Soziale Phänomene werden durch räumliche Attribute charakterisiert

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

„Die Gruppe a besitzt die Eigenschaft, im Gebiet y vorzukommen, im Gebiet y geballt aufzutreten; Gruppe b weist eine disperse Verteilung auf.“ Oder: „Das soziale Phänomen c besitzt die Eigenschaft, in räumlicher Nachbarschaft des sozialen oder nichtsozialen Phänomens d mit höherer Wahrscheinlichkeit aufzutreten als anderswo.“ Beispiele wären etwa: „Gastarbeiter haben ihren Wohnsitz überproportional häufig in statistischen Zählbezirken, die gleichzeitig einen hohen Besatz an Substandardwohnungen aufweisen.“ Oder: „Mitglieder der sozialen Oberschicht haben ihren Wohnsitz überwiegend in Zählbezirken, in denen die Bodenpreise erheblich über dem Durchschnitt der gesamten Stadt liegen.“ 2. Raumeinheiten werden durch soziale Attribute charakterisiert

Beim zweiten Typus von Aussagen werden Raumeinheiten (wie Zählsprengel, Gemeinden, Bezirke, Regionen …) durch soziale Attribute charakterisiert. Damit lassen sich Aussagen der folgenden Art formulieren: „X ist eine Arbeitersiedlung.“ Oder: „Der Stadtteil Y ist ein Oberschicht-Wohnquartier.“

Beispiele aus der Praxis

Natürlich lassen sich solche Aussagen auch kombinieren und zu komplexen Beschreibungsmodellen zusammenfassen. Aus diesen beiden Typen von Aussagen können dann Hypothesen über Ursachen-Wirkungs-Zusammenhänge und weitergehende Interpretationsmöglichkeiten abgeleitet werden. Der charakteristische Algorithmus der Erkenntnisgewinnung in der Sozialraumanalyse wurde bewusst sehr abstrakt formuliert, damit das generelle „Strickmuster“ leichter erkannt werden kann, nach dem in dieser Forschungsrichtung argumentiert wird. Sehen wir uns nun zur näheren Erläuterung einige konkrete Beispiele aus der Forschungspraxis an. Als erstes Exempel sei in einigen Ausschnitten eine klassische Arbeit des Geographen Helmut Hahn aus dem Jahr 1958 120

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

vorgestellt, in dem das beschriebene Argumentationsmuster besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Der Artikel ist in der Zeitschrift „Erdkunde“ erschienen und trägt den Titel „Konfession und Sozialstruktur. Vergleichende Analysen auf geographischer Grundlage.“4 In diesem Artikel versucht der Autor, Unterschiede im „Wirtschaftsgeist“ bei den Konfessionsgruppen Katholiken und Protestanten zu erfassen. Die Fragestellung lautet: Haben Protestanten eine andere Einstellung zum Wirtschaftsleben als Katholiken, sind sie „geschäftstüchtiger“ als Katholiken? Die sozialwissenschaftliche Diskussion zu diesem Thema hat eine lange Tradition und wurde besonders von dem großen Klassiker der deutschen Soziologie Max Weber in einem Artikel über „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ (1904 und 1905) angestoßen. Hahn geht in seiner Untersuchung von einer Darstellung der Besonderheiten der demographischen Struktur und des generativen Verhaltens beider Konfessionsgruppen aus. Als erste Beispielregion untersucht er den Hunsrück, ein Gebiet, in dem sich die kleinräumigen konfessionellen Unterschiede auch im Landschaftsbild, etwa bei den Hausformen, deutlich niederschlagen. Er kann für dieses Gebiet beachtliche Differenzen in der Bevölkerungsentwicklung zwischen den beiden Konfessionsgruppen nachweisen. Die katholische Bevölkerungsgruppe zeichnet sich, wie zu erwarten ist, durch einen größeren Geburtenüberschuss aus. Gleichzeitig können für diese Bevölkerungsgruppe auch geringere Abwanderungsraten festgestellt werden. Damit weisen die von Katholiken bewohnten Gebiete insgesamt einen erheblichen Bevölkerungszuwachs auf. Da die außerlandwirtschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten im Untersuchungszeitraum 1817–1939 gering waren, ist eine derartige Bevölkerungsverdichtung nur möglich, wenn der Bevölkerungszuwachs arbeitsmäßig von der Landwirtschaft absorbiert werden kann. Dazu ist es aber erforderlich, dass die bestehende landwirtschaftliche Produktionsfläche so aufgeteilt wird, dass die zuwachsende Bevölkerung an der Produktion beteiligt werden kann. Dies wird durch die Realerbteilung erreicht. Realerbteilung bedeutet, dass die Erbmasse in natura geteilt wird, wobei Mobilien und Immobilien (mit Ausnahme des Hauses) einzeln und gleichwertig unter sämtlichen Erbberechtigten aufgeteilt werden. Die Folge dieser Erbsitte ist natürlich eine über die Generationen sich verstärkende Besitzzersplitterung. Diese Besitzzersplitterung wird umso ausgeprägter je größer die Kinderzahl pro Familie. Hahn argumentiert nun folgendermaßen (man achte auf die Logik seiner Argumentation):

4

Der Text ist wiederabgedruckt im Band „Sozialgeographie“ (W. Storkebaum, Hrsg., 1969), auf den sich die Seitenzahlen der folgenden Zitate beziehen. 121

Konfessionsgruppen und Wirtschaftsgeist nach Hahn

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

„Nach den bisher bereits festgestellten Differenzierungen zwischen den beiden Konfessionsgruppen müssten nun auch die Besitzgrößen voneinander abweichen. Eine Übersichtskarte, in der Konfessionszugehörigkeit und ländliche Besitzgrößen … gemeinsam dargestellt werden, lässt die Zusammenhänge deutlich hervortreten. Zwar finden Bodengüte, Verkehrslage u. a. hier ebenfalls ihren kartographischen Niederschlag, aber ganz offensichtlich überwiegt die konfessionelle Beeinflussung alle anderen Faktoren.“ H. Hahn, 1969 (1958), S. 406 (Hervorhebung P. W.) Wir erkennen an dieser Formulierung, dass mithilfe der Kartendarstellung die räumliche Ausprägungsform der beobachteten sozialen Phänomene als Beweismittel für die Existenz von Kausalzusammenhängen im Bereich des Sozialsystems herangezogen wird. Die Originalkarte von Hahn ist schwer lesbar, zeigt aber doch überzeugend den beschriebenen Zusammenhang zwischen durchschnittlichen Besitzgrößen und Konfessionszugehörigkeit (vgl. Abb. 13). Im nächsten Abschnitt diskutiert Hahn die Folgen der Realerbteilung. Die seit Generationen sich wiederholende Besitzzerstückelung zwingt jene Erben, die Landwirt auf eigenem Boden bleiben wollen, ihren Besitz durch Ankauf aus der Erbmasse auf eine Größe aufzustocken, die sinnvoll bewirtschaftet werden kann. Dem bäuerlichen Besitz wird dadurch ständig Kapital entzogen. Und von diesem Prozess des Ausblutens ist nun wegen der wesentlich größeren Nachkommenschaft besonders stark die katholische Bevölkerung betroffen. Daraus ergibt sich nun aber auch, dass die Bauern mit ihren zunehmend kleiner werdenden Besitzungen einen Beruf außerhalb der Landwirtschaft benötigen, um finanziell ein Auskommen zu finden. Typische Zuerwerbsberufe sind Waldarbeit, Handwerk, Heimarbeit oder Hausierer. Wenn man nun die größere Bevölkerungsdichte und die geringere Betriebsgröße bedenkt, dann müsste auch die berufliche Gliederung der beiden Bevölkerungsgruppen deutlich voneinander abweichen. Tatsächlich ist der Arbeiteranteil bei den Katholiken erheblich höher, bei den Protestanten liegt der Bauernanteil hingegen bei über 80 %. Hahn argumentiert nun, dass man die bisher besprochenen konfessionsspezifischen Unterschiede auch allein auf die unterschiedliche Kinderzahl zurückführen könnte. Um plausibel machen zu können, dass dahinter eine abweichende Einstellung zum Wirtschaftsleben bzw. ein Unterschied in der „Geschäftstüchtigkeit“ steht, sucht er nach einem zusätzlichen Indiz. Dies findet er in der größeren Aufgeschlossenheit der Protestanten gegenüber Umlegungsverfahren. (Darunter versteht man systematische Besitzzusammenlegungen oder Arrondierungsverfahren.) Tatsächlich kann er zeigen, 122

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

dass der Anteil der Umlegungsverfahren in den protestantisch dominierten Gemeinden wesentlich höher ist. Aus diesen Befunden folgert der Autor: „Wenn die evangelische Bevölkerung auf die geringeren wirtschaftlichen Möglichkeiten des Hunsrücks mit verstärkter Abwanderung reagiert, wenn sie die Kinderzahl verhältnismäßig früh einschränkt, wenn sie die Stallungen und Scheuern vom Wohnhaus trennt, so ist das alles nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch einer stärker 123

Abbildung 13: Konfessionszugehörigkeit und Besitzgrößen Quelle: H. Hahn, 1958, S. 409

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

auf wirtschaftliche Dinge ausgerichteten Lebenshaltung, die zweifellos in gewissem Sinne fortschrittlicher ist“ H. Hahn, 1969 (1958), S. 408/409

Charakteristische Schlussfolgerung aus Koinzidenzen

Beispiel nach Hans Fehre: Typisierung von Gemeinden nach ihrer Sozialstruktur

An diesem Zitat erkennt man ein zweites typisches Charakteristikum der makroanalytischen Raumstrukturforschung. Eine spezifische Lebenshaltung, also eine individuelle und persönlichkeitsbezogene Einstellung, eine bestimmte psychische Geneigtheit, die für Vertreter einer bestimmten sozialen Gruppe typisch sein soll, wird indirekt aus einer Reihe von Koinzidenzen erschlossen, die im gleichen Gebiet beobachtet werden können. Die Lebenshaltung wird nicht selbst untersucht und etwa durch Befragungen von Vertretern beider Konfessionsgruppen oder Tiefeninterviews direkt erfasst. Die stärker auf wirtschaftliche Dinge ausgerichtete fortschrittlichere und geschäftstüchtigere Einstellung wird aus der räumlichen Koinzidenz verschiedener Indizien indirekt erschlossen. Als Beispiel für eine weitere Besonderheit von Ansätzen der Raumstrukturforschung sei auf eine andere viel zitierte klassische Arbeit verwiesen. Es handelt sich um einen Text von Hans Fehre aus dem Jahr 1961 mit dem Titel „Die Gemeindetypen nach der Erwerbsstruktur der Wohnbevölkerung …“, der in der Zeitschrift „Raumforschung und Raumordnung“ publiziert wurde. Diese Arbeit ist ein klassisches Beispiel für den Versuch, die soziale Struktur von Raumeinheiten mit einem einfachen, aber aussagekräftigen Verfahren typisierend zu erfassen und im Kartenbild darzustellen. Die Problemstellung besteht also darin, Gemeinden nach ihrer Sozialstruktur zu typisieren. Als Typisierungskriterium wird hier die Erwerbsstruktur der Wohnbevölkerung verwendet. Ziel der Typisierung ist es, Gemeinden mit ähnlicher Erwerbsstruktur zu Klassen zusammenzufassen und die räumliche Verteilung dieser Strukturklassen im Kartenbild darzustellen. Solche Typisierungen sind natürlich abhängig von der Verfügbarkeit statistischer Daten. Die amtliche Statistik bietet für die Erfassung sozioökonomischer Gegebenheiten auf Gemeindebasis verschiedenste Datensätze. Fehre verwendet für seine Typisierung die Erwerbsstruktur; das sind in der Terminologie der österreichischen Statistik die Berufstätigen nach Wirtschaftsabteilungen. Zur Vereinfachung fasst er die in den Gemeinden ansässigen Erwerbspersonen nach Wirtschaftssektoren zusammen (Primär-, Sekundär- und Tertiärsektor). Im ersten Arbeitsschritt werden pro Gemeinde die Prozentanteile der Erwerbstätigen an den drei Sektoren berechnet und tabellarisch zusammengefasst. Im zweiten Arbeitsschritt werden diese Prozentanteile einer Typenbildung unterzogen. Dazu verwendet Fehre ein einfaches Verfahren mithilfe eines Dreiecksdiagramms. Aus den Prozentwerten für die Wirtschaftssektoren, die einander auf 100 ergänzen, wird die Position jeder einzelnen Gemeinde im Strukturdreieck bestimmt. 124

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Aus dem Verhältnis der Wirtschaftssektoren wird nun eine ganz pragmatische Typenbildung vorgenommen. Gemeinden mit einem Anteil der Berufstätigen von mehr als 50 % in der Landwirtschaft werden als Agrargemeinden eingestuft, Gemeinden mit mehr als 50 % Anteil am Tertiärsektor werden als „Zentralgemeinden“ bezeichnet etc. Die Typen sind im Strukturdreieck durch unterschiedliche Farben gekennzeichnet (vgl. Abb. 14). Überträgt man diese Typen nun in die Karte (Abb. 15), dann wird ein Verteilungsmuster erkennbar, das im Sinne einer sozialräumlichen Struktur interpretiert werden kann. Man erkennt die peripheren agrarisch orientierten Gemeinden, das Ruhrgebiet mit vielen zentralisierten Industriegemeinden. Düsseldorf, Münster, Köln, Paderborn oder Bonn fallen hingegen als dienstleistungsorientierte „Zentralgemeinden“ auf. 125

Abbildung 14: Gemeindetypisierung bei G. Fehre Quelle: G. Fehre, 1961, Beilage

Abbildung 15: Gemeindetypisierung bei G. Fehre Quelle: G. Fehre, 1961, Beilage

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Ein großer Teil der Arbeiten im Bereich der Raumstrukturforschung ist derartigen Fragen der sozialen Raumtypisierung gewidmet. Das Beispiel von Hahn hat gezeigt, dass es mithilfe eines Vergleichs der räumlichen Variation sozialer Phänomene möglich ist, kausale Zusammenhänge zwischen solchen Phänomenen plausibel zu machen. Das Beispiel von Fehre hat demonstriert, dass die Darstellung des Verteilungsmusters sozialer Phänomene überzeugende Hinweise auf die Räumlichkeit sozialer Systeme bieten kann. Sehen wir uns im Folgenden kurz an, welche Beiträge die Raumstrukturforschung zur Frage der kausalen Erklärung von Zusammenhängen zwischen sozialen Phänomenen und Umweltbedingungen leisten kann. Dazu soll zunächst auf einige Arbeiten zur Medizinischen Geographie Bezug genommen werden. Es ist allseits bekannt, dass zahlreiche Erkrankungsrisiken eine klare und signifikante räumliche Differenzierung aufweisen. Weil Gesundheitsfragen in sehr komplexer Weise mit Umweltbedingungen in Zusammenhang stehen, wobei vor allem sozial definierbare Umweltbedingungen eine Rolle spielen, sind sie als Illustration für die Perspektive der Raumstrukturforschung besonders geeignet. Wenn man sich mit Fragen der Gesundheit aus geographischer Sicht befasst, dann ergeben sich zwanglos drei charakteristische Problemstellungen:

Leistungen der Raumstrukturforschung zur Erklärung des Zusammenhanges soziale Phänomene/ Umwelt

Beispiele aus der Medizinischen Geographie

– Wie sieht das räumliche Verteilungsmuster bestimmter Krankheiten aus? Ist das Risiko einer bestimmten Erkrankung in räumlicher Hinsicht zufällig gestreut, oder gibt es Gebiete, in denen eine bestimmte Krankheit häufiger auftritt als anderswo? – Wie sieht das räumliche Verteilungsmuster von Umweltfaktoren aus, von denen angenommen wird, dass sie einen kausalen Einfluss auf Erkrankungen besitzen? – Wie sieht das räumliche Verteilungsmuster von Einrichtungen des Gesundheitswesens und deren Nutzung aus? In der Medizin gibt es zwei Arbeitsrichtungen, die ausdrücklich auf den Zusammenhang Krankheit – Umwelt abzielen: die Epidemiologie und die Sozialmedizin. Epidemiologie bezeichnet jenes Teilgebiet der Medizin, welches die räumliche Verteilung von Krankheiten in menschlichen Populationen und die Ursachen für diese Verteilungen untersucht. Die Epidemiologie befasst sich also mit Bevölkerungsgruppen, nicht mit einzelnen Patienten und ist in der Regel retrospektiv (historisch) orientiert. Im Vordergrund steht die räumliche Variation des Auftretens bestimmter Erkrankungen. Unter anderem werden Unterschiede der Erkrankungsanfälligkeit bestimmter Bevölkerungsgruppen analysiert (Frauen vs. Männer, Alte vs. Junge,Vergleich bestimmter Berufsgruppen).

127

Epidemiologie

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Geomedizin

Sozialmedizin

Beispiel: Cholera-Todesfälle

Beispiel Howe: Does it matter where I live?

Ein Teilaspekt der Epidemiologie wird von der Geomedizin vertreten. Sie untersucht die Zusammenhänge zwischen bestimmten Erkrankungen und physiogeographischen, ökologischen oder klimatischen Bedingungsfaktoren (etwa zwischen dem Verbreitungsgebiet von Zecken und dem Auftreten der Frühsommer-Enzephalitis). Die Sozialmedizin könnte man gleichsam als die Entdeckung der Sozialgeographie durch die Mediziner ansehen. Sie erforscht die Zusammenhänge zwischen sozialen Gegebenheiten und Krankheiten. Untersucht wird also der Einfluss von Lebensstilen, sozial oder kulturell begründeten Ernährungsgewohnheiten oder von sozialen Werten auf den menschlichen Organismus und mögliche pathologische Auswirkungen. Teilgebiete der Sozialmedizin sind etwa Arbeitsmedizin und Umweltmedizin. Bei all diesen Ansätzen werden massenstatistische Daten über Krankheiten gesammelt und in ihrer räumlichen Verteilung dokumentiert. Man erkennt damit, in welchen Gebieten bestimmte Erkrankungen gehäuft oder besonders selten auftreten. Derartige Verteilungskarten können mithilfe statistischer Verfahren danach analysiert werden, ob die betreffenden räumlichen Muster bloße Zufälligkeiten darstellen oder ob die entsprechenden Muster signifikant von einer Zufallsverteilung abweichen. Ist dies der Fall, dann kann geprüft werden, ob irgendein anderes Phänomen ein ähnliches räumliches Verteilungsmuster aufweist, also mit der Krankheitsverteilung kovariiert. Betrachten wir dazu ein klassisches historisches Beispiel: Dr. Snows Karte von Cholera-Todesfällen. Im August des Jahres 1854 starben im Londoner Stadtteil Soho innerhalb von nur 10 Tagen mehr als 500 Menschen an Cholera. Der praktische Arzt John Snow hatte den Verdacht, dass diese Krankheit durch den Genuss von verunreinigtem Wasser verursacht sein könnte. Er kam auf die Idee, die Verteilung der Wohnstandorte aller Cholera-Toten in einen Stadtplan einzuzeichnen (vgl. Abb. 16). Dabei ergab sich eine eindeutige Konzentration der Todesfälle in einem eng umgrenzten Gebiet. Die Bewohner dieses Gebietes bezogen ihr Trinkwasser überwiegend von einer Wasserpumpe im Bereich der Broad Street. Rund um den Standort dieser Pumpe waren die Todesfälle konzentriert. Die anderen Pumpen in der Umgebung wiesen kein derartiges „Feld“ von Todesfällen auf. Dr. Snow ließ kurz entschlossen den Hahn dieser Pumpe entfernen und machte sie damit unbrauchbar. Von diesem Augenblick an ging die Zahl der Todesfälle schlagartig zurück, der Beweis für einen kausalen Zusammenhang zwischen infiziertem Wasser und Erkrankung war erbracht. Sehen wir uns eine weitere Arbeit zum Thema „Medizinische Geographie“ an, um die Denkmuster der Raumstrukturforschung zu rekonstruieren. “Does it matter where I live?” So lautet die rhetorische Frage, mit der ein Altmeister der Medizinischen Geographie, der Brite G. Melvyn Howe, einen Artikel aus dem Jahr 1986 betitelt. Die Frage bezieht sich dabei auf das 128

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Abbildung 16: Dr. Snows Karte der Cholera-Todesfälle Quelle: E. Jones und J. Eyles, 1977, S. 89

Risiko oder die Wahrscheinlichkeit, an einem bestimmten Ort an einer bestimmten Krankheit zu sterben. Um die Frage beantworten zu können, stellt der Autor standardisierte Sterblichkeitsraten für bestimmte Krankheiten nach Distrikten Großbritanniens im Zeitraum 1980 bis 1982 dar. Es handelt sich also immer um krankheitsbedingte „vorzeitige“ Todesfälle. „Standardisiert“ bedeutet, dass die Daten an die differenten Bevölkerungsstrukturen angepasst sind, also flächendeckend verglichen werden können. Analysiert wird die Altersgruppe zwischen 15 und 64 Jahren. Die Daten wurden auf den Durchschnitt für das United Kingdom bezogen. Ein Wert von 100 markiert dabei den nationalen Durchschnitt. Weil die Daten standardisiert sind, müsste man nun annehmen können, dass regionale Abweichungen vom Landesdurchschnitt zufällig verteilt sind. Sollte es hingegen zu auffälligen Clusterbildungen kommen, also regionale Häufungen von überdurchschnittlichen oder unterdurchschnittlichen Sterberaten vorliegen, liegt der Verdacht nahe, dass regionale Faktoren die Sterbewahrscheinlichkeit erhöhen. Tatsächlich zeigt die Karte der Mortalität für alle Krankheitsursachen (Abb. 17) bei den Männern eine sehr auffällige Clusterung. Die dunkle 129

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Abbildung 17: „Does it matter where I live?“ Quelle: G. M. Howe, 1986, Fig. 13

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8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Abbildung 18: „Gesunde“ und „ungesunde“ Gebiete Quelle: G. M. Howe, 1986, Fig. 9

131

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Verbindung Mortalitätsrate und Industriereviere

Koinzidenz Mortalität und Sozialstatus

Signatur verweist auf Mortalitätsraten, die deutlich über dem Landesdurchschnitt liegen, weiße Signaturen kennzeichnen Distrikte mit einer Mortalität, die weniger als 75 % des Landesdurchschnitts beträgt. Wir erkennen (von Norden nach Süden) folgende Schwerpunkte einer überdurchschnittlichen Sterblichkeit: den Raum Edinburgh – Glasgow, Belfast, die Region um Middlesbrough – Tynemouth, ein großes Gebiet zwischen Liverpool, Sheffield und Leeds, Birmingham, ein Gebiet nördlich von Newport sowie das Stadtzentrum von London. Besonders niedrige Sterberaten sind hingegen im Süden und Südosten des Landes anzutreffen. Besonders interessant ist die folgende Darstellung (Abb. 18). Sie zeigt wieder die Mortalitätsrate für alle Ursachen bei den Männern. Hier werden aber jeweils jene Distrikte ausgewiesen, die im obersten 10 %-Perzentil bzw. im untersten 10 %-Perzentil liegen. Das sind Zähleinheiten mit Index-Werten über 120 bzw. Werten unter 76. In dieser Darstellung erkennt man, dass auch die Gebiete mit sehr niedrigen Mortalitätsraten eine auffällige Ballung aufweisen. Besonders „gesund“ lebt man offensichtlich in den Suburbs von London sowie in Norfolk und Suffolk. Auch in London selbst gibt es einige Randbezirke, die in diese Kategorie fallen. Jedenfalls steht fest, dass es hinsichtlich der Mortalitätsraten anscheinend doch eine Rolle spielt, wo man lebt. Womit hängt diese äußerst auffällige und mit Sicherheit überzufällige Differenzierung des Mortalitätsrisikos zusammen? Theoretisch sollten Krankheiten wie der Herzinfarkt alle Bevölkerungsgruppen gleichermaßen treffen, denn die Risikogruppen (Raucher, Fettleibige etc.) sollten gleichmäßig im Raum verteilt sein. Natürlich können hier keine monokausalen Ursachenzuschreibungen vorgenommen werden. Aber aus der Darstellung lässt sich zweifelsfrei ablesen, dass die Gebiete der höchsten Mortalitätsraten mit den klassischen Industrierevieren des Landes und den Standorten der Schwerindustrie zusammenfallen. Das ist natürlich nicht im Sinne einer direkten Verursachung zu interpretieren. Aber man kann annehmen, dass die Gesamtheit der Umweltbelastungen und damit die Belastung des menschlichen Immunsystems in diesen Regionen besonders hoch sind. Dazu kommt noch, dass wir in diesen alten Industrieregionen weit überdurchschnittliche Anteile an Unterschichtbevölkerung antreffen. Das sind Bevölkerungsgruppen, die bekanntermaßen weniger Vorsorgemedizin in Anspruch nehmen, geringeres Gesundheitsbewusstsein kultivieren und deren Ernährungsgewohnheiten meist risikoreicher sind, als dies im Durchschnitt bei der Mittel- und Oberschicht der Fall ist. Auch die Mortalitätsschwerpunkte in Nordirland und den inneren Stadtteilen Londons können durch diesen sozialen Faktor erklärt werden. Abbildung 19 zeigt eine Typisierung der Londoner Stadtteile nach einem Index des Sozialstatus. (Die Berechnungsmethodik und die Terminologie 132

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

sollen jetzt nicht näher interessieren.) Je dunkler die Signatur, desto niedriger ist der durchschnittliche Sozialstatus der Bewohner. Man erkennt rund um die City of London einen Ring von Unterschicht-Wohngebieten, am Stadtrand hingegen liegen die Quartiere der Oberschicht. Die Nebenkarte zeigt nochmals die Mortalitätsraten (Männer, alle Ursachen). Hier wird eine klare räumliche Koinzidenz zwischen hoher Mortalität und niedrigem Sozialstatus erkennbar. Howe selbst spekuliert bei der Erklärung der Ungleichheit mit der Vermutung, dass die räumlichen Unterschiede der Mortalitätsverteilung die innerstaatliche Wanderungsdynamik in Großbritannien widerspiegeln. Die reicheren, ambitionierteren, dynamischeren und gebildeteren Bewohner des Landes sind in verstärktem Maße in den Süden und Osten des Landes gewandert. Hier sind die ökonomischen Potenziale, die guten Jobs und die Wachstumsregionen, hier finden sich auch die besseren klimatischen und landschaftlichen Bedingungen, hier sind die Gebiete mit den höchsten Wohnstandortpräferenzen (vgl. Kapitel 9.3). Insgesamt fällt eine räumliche Kovariation von hoher Mortalität und sozialer Grundschicht bzw. niedriger Mortalität und höherem Sozialstatus auf. Diese These kann durch andere Datenquellen durchaus gestützt werden. In Abbildung 20 sind die Wohnstandorte einer Stichprobe von Personen eingetragen, die im Who’s Who verzeichnet sind. Es handelt sich also 133

Abbildung 19: Sozialstatus und Mortalität London Quelle: G. M. Howe,

1986, Fig. 15

Zusammenhang mit der Wanderungsdynamik

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Abbildung 20: Residential Who’s Who Quelle: E. Jones und J. Eyles, 1977, Fig. 3.1

Arbeitslosenrate als sozialer Indikator Beispiel London

um besonders „bedürftige“ Personen, die höchstens drei oder vier RollsRoyce oder Bentleys in der Garage stehen haben. Das Verteilungsmuster der Wohnstandorte entspricht ziemlich genau jenen Distrikten, die durch besonders niedrige Sterberaten gekennzeichnet waren. Gehen wir noch einmal zurück zum Beispiel London. Die sozialräumliche Struktur einer Stadt kann natürlich auch durch verschiedenste andere soziale Parameter dargestellt werden. Einer von ihnen ist die Arbeitslosenrate. Es kann angenommen werden, dass vom Risiko der Arbeitslosigkeit in stärkerem Maße die Unterschichtbevölkerung betroffen ist. Ballungen von Gebieten mit höherer Arbeitslosigkeit sollten damit ein guter Hinweis auf Wohnquartiere niedrigerer sozialer Schichten sein. Die Darstellung der Arbeitslosenrate für Londoner Zählbezirke (Abb. 21) zeigt – in Übereinstimmung mit dem Deprivationsindex (vgl. Abb. 19) –, dass wieder eine deutliche Ballung in den Gebieten rund um die City zu beobachten ist. 134

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Abbildung 21: Arbeitslosenrate als sozialer Indikator Quelle: E. Jones und J. Eyles, 1977,

Fig. 4.12

Abbildung 22: Wahlergebnisse für die Konservativen Quelle: E. Jones und J. Eyles, 1977, Fig. 4.13

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8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Quelle: A. Kaufmann, 1978, Kartogramm 4.5

Abbildung 23: Salzburg: Index der sozialen Ranglage 1971

Makroanalytische Ansätze in der Stadtgeographie

Komplexe Indikatoren: Index der sozialen Ranglage

Umgekehrt kann man annehmen, dass die Konservative Partei eher von Vertretern der Mittel- und Oberschicht gewählt wird. Zeichnet man die Wahlergebnisse für die Konservativen in eine Karte ein, dann müsste sich also ein komplementäres Verteilungsmuster ergeben. Tatsächlich zeigen die Wahlergebnisse, dass die höchsten Anteilswerte in den eher peripheren Wohnquartieren erreicht werden, die wir bereits als Wohngebiete von Personen mit höherem Sozialstatus identifiziert haben (vgl. Abb. 22). Besonders häufig werden solche makroanalytischen Sozialraumanalysen in der Stadtgeographie eingesetzt. Mithilfe sozialstatistischer Daten und deren kartographischer Darstellung kann ein überzeugender Einblick in die sozialräumlichen Strukturen von Städten vermittelt werden. Die makroanalytische Sozialraumanalyse lebt gleichsam von der Interpretation solcher Darstellungen, wobei vor allem der Vergleich mehrerer Parameter und die Analyse räumlicher Koinzidenzen oder Divergenzen eine wichtige Rolle spielen. Eine besondere Bedeutung haben komplexe Indikatoren, die mithilfe mehr oder weniger aufwendiger Methoden aus verschiedenen Einzelvariablen berechnet werden. Ein einfaches Beispiel wäre etwa ein „Index der sozialen Ranglage“. Er ist ein grober, aber sehr aussagekräftiger komplexer Indikator, mit dessen Hilfe die Sozialstruktur von Raumeinheiten nach der Position der Bewohner in der Statushierarchie dargestellt werden kann. Für 136

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

die Berechnung der in Abbildung 23 dargestellten Version des Indikators wurden vom Institut für Stadtforschung zwei Variablen herangezogen, nämlich die höchste abgeschlossene Schulbildung und die Stellung im Beruf. Dabei werden alle Haushalte der verwendeten statistischen Zähleinheiten (mit Ausnahme der Rentner und Pensionisten) nach folgendem Gewichtungsschlüssel berücksichtigt:

Beispiel Salzburg

– Selbstständige, Angestellte und Beamte mit Hochschulabschluss: 10 Punkte – Selbstständige, Angestellte und Beamte mit Abitur: 8 Punkte – Sonstige Selbstständige: 6 Punkte – Angestellte und Beamte mit Fach- oder Berufsschulausbildung: 4 Punkte – Facharbeiter: 3 Punkte – Angestellte und Beamte mit Pflichtschulabschluss: 2 Punkte – Angelernte Arbeiter und Hilfsarbeiter: 1 Punkt Für die einzelnen statistischen Zähleinheiten kann damit ein Durchschnittswert berechnet werden, der somit den sozialen Rang der Wohnbevölkerung in der betreffenden Raumeinheit zum Ausdruck bringt. Für Salzburg zeigt die Darstellung nach den Daten der Volkszählung von 1971 ein klar ausgeprägtes räumliches Verteilungsmuster. Im Süden und besonders im Südosten der Stadt (Parsch und Aigen) finden sich Gebiete mit besonders hohen Indexwerten, der Norden und Nordwesten ist das Wohngebiet von Personen mit niedriger sozialer Ranglage. Als Beispiel für eine sehr aufwendige und komplexe Darstellung sei auf zwei „soziale Trendoberflächen“ der Stadt Wien aus einem Forschungsprojekt unter der Leitung von Josef Steinbach verwiesen (Abb. 24 und 25; J. Steinbach, A. Holzhauser u. K. Neudecker, 2001)

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Soziale Trendoberflächen Beispiel Wien

8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Abbildung 24: Soziale Trendoberfläche von Wien, 1971

Abbildung 25: Soziale Trendoberfläche von Wien, 1991

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8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

Fassen wir kurz die wichtigsten Charakteristika der sozialgeographischen Variante der makroanalytischen Raumstrukturforschung zusammen:

Zusammenfassung 1.) Die makroanalytische Sozialraumanalyse ist ein bestens bewährter Forschungsansatz mit einer langen und erfolgreichen Tradition. Das dahinterstehende Denkmodell ist dabei sehr einfach. Es gründet auf der letztlich mechanistischen Annahme, dass räumliche Koinzidenzen sozialer Phänomene auf kausale Verursachungszusammenhänge verweisen können. 2.) Der typische Algorithmus der Erkenntnisgewinnung sieht folgendermaßen aus: Bestimmte soziale Attribute werden nach beliebig definierbaren „Raumeinheiten“ quantitativ oder qualitativ dargestellt. Diese Attribute werden dabei durch bestimmte Maßzahlen, Kennwerte oder Indikatoren repräsentiert, die meist in standardisierter Form eingesetzt werden. Bei elaborierteren Verfahren können auch komplexere synthetische Indikatoren Verwendung finden. Sie sind in der Regel das Ergebnis aufwendiger statistischer Operationen. Durch diese Operationen kommt es entweder zu einer Informationsverdichtung (wie etwa der Faktorenanalyse) oder zu bereits kausal interpretierbaren Vergleichen zwischen verschiedenen sozialen Variablen (wie bei der Korrelations- oder Regressionsanalyse). 3.) Aus dem Vergleich der räumlichen Verteilungsmuster solcher Maßzahlen können im Sinne des Koinzidenzprinzips Vermutungen oder Hypothesen über Kausalzusammenhänge abgeleitet werden. 4.) Dabei werden auch Mutmaßungen über subjektive Handlungsmotive, Einstellungen, Präferenzen oder Geisteshaltungen geäußert. Es ist darauf zu achten, dass solche Aussagen im Rahmen der makroanalytischen Ansätze immer nur indirekt erschlossen werden können! 5.) Räumliche Koinzidenz und die räumliche Kovariation von Phänomenen sind immer nur bestenfalls Indizien für kausale Zusammenhänge. Plausible kausale Interpretationen setzen voraus, dass fundierte inhaltliche Theorien vorgelegt werden können. Zur Deutung der Symptome ist also eine Ursachenlehre (Ätiologie) erforderlich. 6.) Die Ergebnisse der Raumstrukturforschung müssen grundsätzlich als methodische Konstrukte oder Artefakte angesehen werden. Sie sind von der Datenverfügbarkeit und besonders vom Auflösungsniveau und der räumlichen Form der verwendeten Zähleinheiten abhängig. Es spielt also für die Ergebnisse solcher Untersuchungen eine sehr erhebliche Rolle, ob die Daten über soziale oder nichtsoziale Phänomene nach statistischen Zähleinheiten, Ge-

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8. DIE KLASSISCHE SOZIALRAUMANALYSE

meinden, Bezirken, Bundesländern oder nach einem engmaschigen Zählraster etc. zur Verfügung stehen. 7.) Im Regelfall muss auf Daten der amtlichen Statistik oder bestehende andere Datenquellen zurückgegriffen werden. Daraus ergibt sich das Problem, dass viele sozialräumlich relevante Daten in solchen Analysen nicht dargestellt werden können, weil sie in der Statistik nicht verfügbar sind und eine eigene flächendeckende Primärerhebung aus Kostengründen nicht möglich ist. Zusätzlich sind viele Daten statistisch (etwa in den Volkszählungen) nicht in der erforderlichen Differenzierung oder Genauigkeit verfügbar. Anders formuliert: Eine ganze Reihe wichtiger Fragen und Problemstellungen können im Rahmen der Raumstrukturforschung gar nicht behandelt werden, weil die erforderlichen Datengrundlagen nicht beschafft werden können. Die Komplexität der sozialen Realität kann also vielfach nicht adäquat abgebildet werden. 8.) Die makroanalytische Sozialraumanalyse ist zweifellos ein höchst bedeutsamer Ansatz für alle Sozialwissenschaften und damit auch für die Sozialgeographie. Sie kann wichtige Einblicke in die räumliche Struktur sozialer Phänomene und Prozesse vermitteln und stellt ein hervorragendes Mittel der Hypothesenfindung dar. 9.) Es steht aber auch völlig außer Zweifel, dass dieser Ansatz nur zur Analyse und Darstellung des physisch-materiellen Substrats sozialer Systeme geeignet ist. Alle wirklich entscheidenden Steuerungsgrößen der Gesellschaft, wie Werte, Ziele, Sinn, Bedeutung, Information, Intention oder Normen, können im Rahmen dieser Perspektive nicht oder nur indirekt behandelt werden.

Zweifellos hat die Sozialgeographie im Vergleich zu den sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen bei diesem Ansatz eine besondere Kompetenz vorzuweisen: erstens, weil in diesem Fach eine ausdrückliche Tradition in der Beschäftigung mit dem physisch-materiellen Substrat der Gesellschaft vorliegt (Sozialgeographen waren nie „dingblind“); zweitens, weil die Sozialgeographie über die Verbindung zur Kartographie und heute besonders über die GIS-Technologie in diesem Arbeitsfeld erhebliche methodische Kompetenzen vorweisen kann.

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9

Mikroanalytische Ansätze I: Wahrnehmungsgeographie

9.1. Grundkonzepte Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die mikroanalytischen Ansätze durch eine völlig unterschiedliche Betrachtungsperspektive gegenüber den bisher erörterten Entwicklungslinien der Sozialgeographie charakterisiert sind. Das Dogma Hans Bobeks, dass sich die Geographie nur mit sozialen Gruppen, nicht aber mit menschlichen Einzelindividuen befassen dürfe, wird in der Mikroanalyse ausdrücklich verworfen. Ausgangspunkt ist vielmehr die Annahme, dass es gerade die mentalen Prozesse der geistigen Umweltwahrnehmung und Umweltbewertung menschlicher Individuen sind, die für die wissenschaftliche Erfassung sozialgeographisch relevanter Erscheinungen und Prozesse im Vordergrund stehen müssen. Die Black Box sozialräumlicher Systeme soll in dieser Arbeitsrichtung also auf dem Weg über die Erfassung der mentalen Repräsentation sozialer Existenz inhaltlich gefüllt werden. Damit wenden sich die mikroanalytischen Forschungsansätze direkt jenen Werthaltungen, Bedeutungsinhalten und kognitiven Strukturen zu, die in der Makroanalyse bestenfalls indirekt erschlossen werden können. Bei den makroanalytischen Ansätzen waren die zentralen Analyseeinheiten in der physisch-materiellen Welt angesiedelt: die Kulturlandschaft (Wien-Münchener Schule) bzw. die räumliche Strukturiertheit des materiellen Substrats sozialer Systeme. Bei den mikroanalytischen Ansätzen steht hingegen das menschliche Subjekt im Vordergrund des Interesses. Ausgangspunkt und zentrale Analyseeinheit sind hier das Individuum und sein Verhalten, wobei letzteres meist auf „räumliches Verhalten“ eingeschränkt wird. Die verschiedenen Teilbereiche der Mikroanalyse unterscheiden sich dabei vor allem darin, welche Rolle dem Subjekt zugebilligt wird und welche Aspekte seiner kognitiven Operationen und Bewusstseinszustände thematisiert werden. 9.1.1. Exkurs: Die drei Dimensionen von ego Wir haben bisher – in Anlehnung an die Redeweise der älteren sozialgeographischen Literatur – meist von „Individuen“ gesprochen, wenn einzelne Menschen gemeint waren. Gleichbedeutend wurde in den letzten Abschnitten auch der Begriff „Subjekt“ verwendet. Für die folgenden Überlegungen und besonders für die handlungstheoretischen Modelle benötigen 141

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Schlüsselkonzept „ego“

Definition Person

Definiton Individuum

Definition Subjekt

Bewusstsein des Menschen

wir eine präzisere Terminologie, die den aktuellen Konventionen der Sozialwissenschaften entspricht. Als Schlüsselkonzept für die Darstellung und Beschreibung des „inneren Kerns“ eines Menschen hat sich der Begriff des „Ich“ eingebürgert. Man spricht auch von „Ich-Identität“, „personalem Selbst“ oder „ego“. Dieses ego kann man mithilfe von drei Dimensionen oder Beschreibungskategorien näher bestimmen (vgl. Abb. 26). Dabei muss angemerkt werden, dass diese drei Dimensionen eng miteinander zusammenhängen und jeweils verschiedene Seiten oder Aspekte von ego zum Ausdruck bringen. Diese drei Dimensionen lassen sich mit den Begriffen Person, Subjekt und Individuum umschreiben. Jedes Ich repräsentiert gleichzeitig und gleichermaßen eine Person, ein Subjekt und ein Individuum.Was genau ist damit gemeint? Die Bedeutung von „Person“ kann man am besten durch die Eigenschaft der „Personalität“ charakterisieren. Darunter versteht man die gesellschaftliche Bestimmtheit des Einzelnen durch übernommene Rollen, Werte, Normen, Erwartungen oder Gewohnheiten. „Person“ umschreibt also gleichsam die Präsenz von ego innerhalb des sozialen Systems und kennzeichnet seine gesellschaftliche Prägung. Das lateinische „persona“ bedeutet so viel wie „Maske“, eine Form zur Veränderung des Gesichts. Personalität bezieht sich also auf die Umformung des ego durch gesellschaftliche Erwartungen. Die Dimension „Individuum“ kann durch die Eigenschaft der „Individualität“ umschrieben werden. Sie bezieht sich auf die Besonderheit und Einzigartigkeit von ego. Individualität wird fassbar in all jenen Attributen eines Menschen, durch die sich der Einzelne von anderen unterscheidet. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird zur Umschreibung von ego immer wieder auch der Begriff „Subjekt“ verwendet. Damit wird eine besonders bedeutsame Facette von ego angesprochen, nämlich das Attribut der Subjektivität. Darunter versteht man die Sprach-, Handlungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit von ego. Ego besitzt einen freien Willen, ego ist – zumindest grundsätzlich – in der Lage, spontan und frei zu entscheiden, welche Handlungen er oder sie in Zukunft setzen möchte, welche Ziele er oder sie verfolgen will. Diese Selbstbestimmungsfähigkeit geht so weit, dass sie im extremsten Falle zur Selbstauslöschung von ego und zum Suizid führen kann. Markiert das Attribut der Personalität die Einbindung von ego in das gesellschaftliche System, kann Subjektivität das Potenzial von ego umschreiben, sich von den gesellschaftlichen Zwängen zu emanzipieren. Denn ego ist durch seine Fähigkeit der Selbstbestimmung in der Lage, eigene Ziele frei zu entwerfen und zu verwirklichen. Durch die Fähigkeit zur Subjektivität wird ego zu einer potenziellen „Quelle von Kontingenz“. („Kontingenz“ bedeutet so viel wie „Nichtnotwendigkeit“. Ego besitzt das Vermögen, immer auch anders handeln oder entscheiden zu können.) Menschen besitzen ein Bewusstsein. Es handelt sich also um psychische Systeme. Sie haben die Fähigkeit, dass Faktum ihrer Existenz bewusst zu 142

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Personalität: gesellschaftliche Bestimmtheit des Einzelnen durch übernommene Rollen, Werte, Normen, Erwartungen, Gewohnheiten etc.; „persona“ = (lat.) Maske.

Abbildung 26: Drei Dimensionen des Ich

PERSON

EGO SUBJEKT Subjektivität: Sprach-, Handlungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit; ego als „Quelle von Kontingenz“.

INDIVIDUUM Individualität: Besonderheit und Einzigartigkeit; Attribute, durch die Einzelne sich von anderen unterscheiden.

In Anlehnung an A. Scherr, 2002, S. 53

erleben und darüber auch zu reflektieren. Renatus Cartesius (René Des­ cartes) hat es mit seiner bekannten Formulierung auf den Punkt gebracht: „Cogito ergo sum“. Bewusstsein ist ein psychischer Prozess, der auf sich selbst Bezug nimmt. Ego ist sich also der eigenen Existenz sicher und reproduziert diese Existenz ständig dadurch aufs Neue, dass es über sich selbst nachdenkt. Damit besitzt ego eine wichtige Eigenschaft, die man als Selbst-Identität oder Ich-Identität bezeichnet. Ich-Identität ist eine reflexive Bewusstseinsleistung menschlicher Individuen, bei der Erfahrungen über die eigene Existenz verarbeitet werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Wahrnehmung der zeitlichen Konstanz und Entwicklung des Selbst. „Wer bin ich?“, „Welche Art von Mensch möchte ich sein?“ und „Was macht meine Einzigartigkeit aus?“ – das sind die zentralen Fragen, die wir beantworten müssen, wenn wir an unserer Ich-Identität arbeiten und uns ihrer ständig aufs Neue vergewissern. Dieses Bewusstsein ist der eigentliche Kern von ego. In ihm werden die drei Dimensionen Individuum, Subjekt und Person miteinander verknüpft und immer wieder aktualisiert und reproduziert. „Bewusstsein“ müssen wir uns dabei als einen Prozess oder einen spezifischen Operationsmodus psychischer Systeme vorstellen und nicht als etwas substanziell Vorhandenes. Bei der folgenden Besprechung der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie werden wir – entsprechend der dort üblichen Redeweise – meist vom „Individuum“ sprechen. Der Leser wird aber unschwer erkennen, dass die Autoren der einschlägigen Texte immer wieder auch Attribute von ego ansprechen, die den Dimensionen „Personalität“ und „Subjektivität“ entsprechen. 143

Ich-Identität als reflexive Bewusstseinsleistung

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

9.1.2. Verhaltenswissenschaftliche Sozialgeographie Drei Paradigmen der Mikroanalyse

Die verhaltenswissenschaftliche Perspektive

Bei der mikroanalytischen Perspektive der Sozialgeographie können wir drei verschiedenartige Zugangsweisen erkennen, die sich in der methodisch-konzeptionellen Struktur so erheblich voneinander unterscheiden, dass wir sie sogar als eigenständige Paradigmen ansehen müssen. Gemeinsam sind ihnen aber die Zentrierung des Interesses auf das Individuum und der Versuch, die soziale Realität über menschliche Bewusstseinszustände zu erfassen. Historisch gesehen sind die sogenannten „verhaltenswissenschaftlichen“ oder „wahrnehmungsgeographischen“ Ansätze die ältesten Vertreter der Mikroanalyse. Sie sind in Form der „organismischen Kognitionsmodelle“ auch heute noch präsent. Eine zweite Richtung ist die „humanistische Geographie“. Sie war zwar im englischen Sprachraum durch einige sehr prominente Autoren wie Anne Buttimer (z. B. 1976) oder Y.-F. Tuan (z. B. 1974) vertreten, seit etwa einem Jahrzehnt hört man aber kaum mehr etwas darüber, und im deutschen Sprachraum hat sie so gut wie gar nicht Fuß gefasst. In unserer Übersicht der Entwicklungslinien der Sozialgeographie wurde diese Richtung deshalb auch gar nicht berücksichtigt. Bei diesem Ansatz steht die existenzielle Bedeutung der Lebenswelt von Subjekten im Vordergrund des Interesses. Das dritte Paradigma innerhalb der mikroanalytischen Perspektive ist die handlungstheoretische Sozialgeographie. Sie wurde in der deutschsprachigen Geographie entwickelt und stellt zurzeit eine besonders spannende Entwicklungslinie der Sozialgeographie dar. Ihren Aufschwung in den „Mainstream“ der Humangeographie hat sie erst Mitte der 1990er-Jahre genommen. Beginnen wir mit einer knappen Darstellung der verhaltenswissenschaftlichen Perspektive, deren wichtigste Grundkonzepte wir bereits bei der Besprechung der beiden englischsprachigen Lehrbücher andeutungsweise kennengelernt haben. Obwohl in den Arbeiten von Wolfgang Hartke und vor allem in jenen seines Schülers Robert Geipel durchaus Ansatzpunkte für ein rasches Aufgreifen vorgelegen hätten, wurden die verhaltenswissenschaftlichen Arbeiten in der deutschsprachigen Geographie erst sehr spät, nämlich Ende der 1970er-Jahre, zur Kenntnis genommen. Im englischen Sprachraum sind erste Impulse hingegen bereits seit Mitte der 1940er-Jahre zu beobachten. Die erste Entwicklungslinie der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie basiert auf einem Denkmodell, das als „Stimulus-WahrnehmungsReaktions-Modell“ bezeichnet werden soll. Die grundlegende Arbeitshypothese dieses Modelltypus kann folgendermaßen formuliert werden:

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Das (räumliche) Verhalten des Menschen ist nicht von den „objektiven“ Gegebenheiten der Außenwelt, sondern von den subjektiv wahrgenommenen Strukturen der Realität abhängig. Um das Verhalten (und damit auch das „räumliche“ Verhalten) eines Menschen verstehen und erklären zu können, ist es daher erforderlich, seine Wahrnehmungen und Vorstellungen zu erforschen. Man könnte als illustratives Beispiel für dieses Modell die Ballade „Der Reiter und der Bodensee“ von Gustav Schwab anführen. Entkleidet man dieses Gedicht seiner literarischen Form und reduziert es auf das zugrunde liegende Sujet, dann lässt sich seine Aussage im Telegrammstil so zusammenfassen: Zeit:Vor einigen Jahrhunderten. Ein Reiter hat eine lange und beschwerliche Reise bereits hinter sich, die ihn durch gefährliche Gebirgsgegenden geführt hatte. Es ist Winter. Der Reiter – er ist bereits sehr abgespannt und müde – erreicht eine weite, ausgedehnte, schneebedeckte Ebene, die ihm, gemessen an der bisherigen Route, als gefahrlose und angenehme Wegstrecke erscheint. Noch dazu erkennt er in der Ferne Lichter – eine menschliche Siedlung –, auf die er, Wärme und Geborgenheit suchend, zueilt. Der erste Mensch, dem er begegnet, fragt verwundert, wo er denn herkomme. Der Reiter verweist auf die bereits hinter ihm liegende Ebene und muss zu seinem Entsetzen vernehmen, dass er eben auf trügerischem Eis die Tiefen des Bodensees überquert hat. Dieses Entsetzen ist so groß, dass es zu einer Schockreaktion mit letaler Wirkung führt und der Reiter entseelt vom Pferd stürzt. Das konkrete, beobachtbare Verhalten des Reisenden, seine Unbekümmertheit gegenüber der von ihm nicht realisierten Gefahr, resultierte aus seinem Vorstellungsbild, seiner Wahrnehmung der Wirklichkeit. Zur Erklärung seines Verhaltens ist es demnach notwendig – und nach dem StimulusWahrnehmungs-Reaktions-Modell auch ausreichend –, die verhaltenssteuernden Vorstellungsbilder oder das subjektive Image der Realität zu rekonstruieren. Das grundlegende Denkmodell der Stimulus-Wahrnehmungs-Reaktions-Modelle hat Roger M. Downs (1970) in einer einfachen Graphik zusammengefasst (Abb. 27). Ausgangspunkt des Modells ist die Grenze zwischen Individuum und Umwelt, die aber permeabel, durchlässig ist. Die Gegebenheiten der „realen“, objektivierbaren Welt werden vom Individuum über die Sinnesorgane aufgenommen und als Informationen genutzt. Diese Informationen werden dabei mit den internalisierten, im Verlauf der Sozialisation erworbenen und subjektiv gedeuteten Wertvorstellungen des Individuums in Beziehung gesetzt. Aus diesem interpretativen Vergleich wird ein bestimmtes 145

„Der Reiter und der Bodensee“

StimulusWahrnehmungsReaktions-Modell

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 27: Das Basismodell der StimulusWahrnehmungsReaktions-Modelle Quelle: R. M. Downs, 1970, S. 85, verändert.

VEREINFACHUNG, AUSBLENDEN, VERÄNDERUNG, UMDEUTUNG der Information

Wertesystem Image, Vorstellungsbild

Sinnesorgane

Entscheidung INDIVIDUUM

Information „Reale r e Üb en Welt“ ng u g e l Verhalten

UMWELT

Image gebildet, ein Vorstellungsbild der Realität. Es handelt sich also keineswegs um ein bloßes Abbild oder Spiegelbild der Umwelt, sondern um ein Image, das (verglichen mit dem „Original“) verändert, gedeutet, uminterpretiert oder gar grob verzerrt sein kann. Die Entscheidungen, die das Individuum nun trifft, beziehen sich gar nicht auf die „reale Welt“, sondern auf das durch abwägende Vergleiche im Bewusstsein entstandene Vorstellungsbild. Die Konsequenzen der Entscheidungen werden vom Individuum dann auf die jeweils konkrete Situation in der realen Welt bezogen und in ihren Wirkungen abgeschätzt. Daraus resultiert das reale, beobachtbare Verhalten des Individuums, was in der Folge natürlich Rückwirkungen auf die reale Welt hat. Downs weist ausdrücklich darauf hin, dass es bereits durch den Wahrnehmungsprozess zu einer erheblichen Vereinfachung, Verzerrung und Veränderung der Information über die reale Welt kommt, die bis zu einem weitgehenden Ausblenden ganzer Realitätsaspekte und einer völligen Umdeutung führen kann. (Denken Sie bitte zurück an den Reiter und den Bodensee.) Hinter diesem Modell steht eine sehr einfache kausale Hypothese über die Bedingtheit menschlichen Handelns. Sie lautet:

146

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Menschliches Verhalten kann als Reaktion auf Umweltreize erklärt werden. Es wird also ein Verursachungszusammenhang unterstellt, der von einem Umweltreiz ausgeht und über Wahrnehmungsprozesse zu bestimmten Reaktionen führt.

Stimulus

Wahrnehmung

Reaktion

Die Vertreter dieses Modelltyps beziehen sich in der Regel auf eine bestimmte Schule der Psychologie, nämlich den Behaviorismus. Der Behaviorismus ist eine streng mechanistische und kausalistische Denktradition der Psychologie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts vom Amerikaner John B. Watson (1913) entwickelt wurde. Diese Arbeitsrichtung versuchte, die Psychologie als reine Naturwissenschaft zu konzipieren. Dabei werden alle nicht direkt beobachtbaren mentalen oder geistigen Aspekte ausgeklammert und dezidiert aus dem Forschungsprozess ausgeschlossen. Ihr Ziel war es, menschliches Verhalten in kausalgesetzlicher Weise als eindeutig bestimmbare, deterministische Reaktion auf Umweltreize zu erklären. Das Grundmodell der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie stellt allerdings bereits eine Weiterentwicklung dieses behavioristischen Grundkonzepts dar. Denn der Behaviorismus verzichtet auf jegliche mentale Zwischenprozesse, also auch auf ein eigenständiges Konzept „Wahrnehmung“. In der Perspektive der Stimulus-Wahrnehmungs-Reaktions-Modelle der Sozialgeographie wurde dagegen von vorneherein (wenn auch völlig unzureichend) die Bedeutung mentaler Prozesse der Erfassung, Verarbeitung, Interpretation und Speicherung von Sinnesdaten zumindest teilweise zur Kenntnis genommen und in ihren Auswirkungen berücksichtigt. Selbst die einfachsten Beispiele dieses ersten Modelltypus in der Sozialgeographie gehen davon aus, dass zwischen Umweltstimulus und menschlichen Reaktionen ein Zwischenglied existiert, das gleichsam die Wirkung eines Filters oder einer intervenierenden Variablen besitzt. Es ist im Bewusstsein, im mentalen Prozess zu lokalisieren und verändert oder modifiziert den Input des Stimulus, prägt ihn um. Durch diese Wirkung der Wahrnehmung ist die Reaktion des Menschen, das konkret beobachtbare Verhalten, keine direkte, ungebrochene Funktion des Außenweltreizes, sondern eine im Bewusstsein bewirkte Modifikation dieses Stimulus. Dennoch ist klar, dass dieser erste Modelltypus eine allzu vereinfachende Modellierung mentaler Prozesse darstellt, die hier auf einfache Filter- und 147

Behaviorismus

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Organismische Kognitionsmodelle

Ausblendungsmechanismen reduziert werden. Die Komplexität menschlichen Tuns wird durch eine solche Konzeptionalisierung als bloße Reaktion auf äußere Reize unangemessen verkürzt. Das dahinterstehende Menschenbild gleicht einem Automaten, der in vorhersehbarer Weise auf bestimmte Reize mit bestimmten Reaktionen „antwortet“, wobei die Variationsbreite der Reaktionen ausschließlich von der Filterfunktion der Wahrnehmung definiert wird. Die zweite Gruppe von Ansätzen soll als „organismische Kognitionsmodelle“ bezeichnet werden. Sie versuchen, die unangemessenen Simplifizierungen der Vorgängerkonzeption zu überwinden. Die Ausganghypothese, die hinter diesen Modellen steht, lautet: Zwischen den Umweltstimuli und dem beobachtbaren menschlichen Verhalten steht ein ganzes System von Bewusstseinsprozessen, welche die Wirkung von Umweltreizen grundlegend beeinflussen können. Dabei existieren die verschiedensten individuell-personalen Einflussmöglichkeiten auf die Ausprägung des Verhaltens. Zusätzlich werden diese Bewusstseinsprozesse in hohem Maße und über verschiedenste Vermittlungsmedien vom umgebenden sozialen System modifiziert. Der gleiche Stimulus kann damit die unterschiedlichsten Responses auslösen, eine eindeutig deterministische Funktionalbeziehung zwischen Stimulus und Verhalten ist damit nicht mehr gegeben. Gesellschaft

Stimulus

Kognition

System von Bewusstseinsprozessen

Verhalten

Bei dieser Modellgruppe stehen also die kognitiven Strukturen menschlicher Weltaneignung im Vordergrund. „Kognition“ ist ein Schlüsselbegriff der neueren Psychologie. Darunter versteht man den Prozess und das im Bewusstsein präsente Ergebnis jeder geistigen Begriffsbildung, Konzeptbildung, Objektidentifikation und Vorstellung.

148

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Exkurs: Ein „tierisches“ und ein menschliches Beispiel für Kognition Vor vielen Jahren hatte der Autor einen Hund. Er hieß Bingo, hatte ein tiefschwarzes Kurzhaarfell mit einem weißen Brustfleck, wog etwa 50 kg und war das reinste Muskelbündel. Er war äußerst clever und hatte die Hundeschule mit bestem Erfolg absolviert. So kannte er etwa den Befehl „Geh in dein Häuschen“. Sobald er diesen Befehl hörte, schlüpfte er unverzüglich in seine Hundehütte. (Danach konnte man problemlos und ohne Sorge, den Hund zu übersehen, das Auto aus der Garage fahren.) Eines Tages – wir waren im Wohnzimmer im ersten Stock – kam Besuch. Ich wollte das Tier fixieren und „ablegen“. Auf den Befehl „Platz“ war Bingo gewohnt, sich blitzartig in Liegestellung zu begeben und diese verlässlich erst nach dem Befehl „auf“ wieder zu verlassen. Aus irgendeinem Grund sagte ich nun aber versehentlich nicht „Platz“, sondern „Geh in dein Häuschen“ – was natürlich Unsinn war, denn im Wohnzimmer gab es keine Hundehütte. Das Tier, das mit Freude Befehle befolgte und sehr gerne „arbeitete“, wirkte einen Augenblick auch etwas irritiert, gab sich dann aber gleichsam einen Ruck und schlüpfte blitzartig unter den Esstisch, auf dem eine tief herabhängende Tischdecke lag. Ich konnte diese Reaktion nur als sehr beachtenswerte kognitive Leistung des Hundes interpretieren. In Ermangelung der Hundehütte hatte er offensichtlich spontan den einzigen Gegenstand, der eine strukturelle Ähnlichkeit mit seiner Hütte aufwies, im Sinne des Befehls „gedeutet“, was immerhin voraussetzt, dass er über so etwas wie ein generalisierbares kognitives Konstrukt von „Hütte“ verfügte. Mit meinem damals knapp dreijährigen Sohn saß ich einmal im Wartezimmer unseres Kinderarztes. Andreas blätterte in einem großformatigen Bilderbuch. Eine Darstellung schien ihn besonders zu beeindrucken. Sie zeigte eine Art Schrägluftbild einer Stadt, auf dem Häuser, Menschen und Fahrzeuge zu erkennen waren. Ein wichtiges Bildelement war ein Fluss, auf dem mehrere Boote, in denen Personen saßen, zu sehen waren. Andreas hatte zuvor noch nie etwas mit Booten zu tun gehabt und war von diesen Fahrzeugen anscheinend sehr angetan. Schließlich zeigte er auf eines der Boote und krähte: „Schau, Papa, ein Bachauto!“

149

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Attitüden-Konzept

Bei den organismischen Kognitionsmodellen soll menschliches Verhalten also eben nicht als bloße Reaktion auf äußere Reize dargestellt werden, die durch verschiedene Wahrnehmungsfilter nur verzerrt werden. In der grundlegenden Arbeitshypothese dieses Modelltypus wird vielmehr angenommen, dass zwischen Umweltreizen und Verhalten ein ganzes System verschiedenster Bewusstseinsprozesse vermittelnd und aktiv gestaltend wirksam wird. Gleichzeitig werden ausdrücklich eine ganze Reihe von Rahmenbedingungen berücksichtigt, die für diese Prozesse bedeutsam sein können: Persönlichkeitsmerkmale, Sozialisation und soziokulturelle Faktoren sowie Lernprozesse. Bei der Erfassung der kognitiven Strukturen menschlicher Raumwahrnehmung geht es um den Versuch, die Grunddimensionen der subjektiven Lebenswelt des Menschen aufzuzeigen. Die Wirksamkeit selektierender und verzerrender Wahrnehmungsfilter wird in diesem Modelltypus natürlich auch berücksichtigt. Zusätzlich werden aber die individuellen und gruppenspezifischen Entstehungsbedingungen dieser Filter analysiert. Ein weiterer wichtiger Bestandteil derartiger Modelle ist eines der bedeutendsten theoretischen Konstrukte der Sozialpsychologie, das in praktisch alle Sozialwissenschaften Eingang gefunden hat, nämlich das Attitüdenkonzept. Unter Attitüden oder Einstellungen versteht man seelische Bereitschaftszustände, von denen angenommen wird, dass sie das Handeln des Menschen beeinflussen. Attitüden sind Werthaltungen von Individuen gegenüber Objekten, Situationen, Normen oder Umweltaspekten, die einen zeitlich relativ stabilen Bezugsrahmen wertender Zuweisungen darstellen. Attitüden werden vom Individuum im Verlaufe der Sozialisation erworben und sind abhängig von kulturellen, gesellschaftlichen oder gruppenspezifischen Normen. Sie stellen für das Individuum ein Repertoire jederzeit verfügbarer Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata von Umwelt dar und erleichtern damit die problemlose alltägliche Auseinandersetzung mit der Realität. All diese verschiedenen Wirkfaktoren beeinflussen nach Ansicht der Vertreter der organismischen Kognitionsmodelle das Verhältnis zwischen Außenweltreiz und menschlichem Verhalten so stark, dass gleiche Reize bei unterschiedlichen Individuen völlig konträre Verhaltensmuster auslösen können. Man kann die Gruppe der Kognitionsmodelle auf folgende Weise zusammenfassend charakterisieren (vgl. Abb. 28): Die Grundstruktur ist die gleiche wie bei den Stimulus-Wahrnehmungs-Reaktions-Modellen. Ein Um150

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Reiz Persönlichkeitstheorie

Lerntheorie

kognitive Zwischenprozesse

Reaktion

Persönlichkeitsmerkmale

Sozialisationstheorie, Bedürfnistheorie

Soziokulturelle Faktoren

Wahrnehmungs-/verhaltensleitende Faktoren (Motive, Bedürfnisse, Attitüden)

Lernen Folgen

Information Kognitionstheorie

Informationsfilter

Kognitive Repräsentation des Raumes

Filter der Verhaltenssteuerung

Verhalten Entscheidungstheorien

weltreiz – Information über die (räumliche) Struktur der Umwelt – wird über kognitive Zwischenprozesse verändert und führt dann zu einer bestimmten Reaktion bzw. einem bestimmten (räumlichen) Tun. Der Unterschied besteht nun darin, dass die neuen Modelle sehr ausführliche Behauptungen über die Gegebenheiten der kognitiven Zwischenprozesse aufstellen, diese Black Box „öffnen“ und inhaltlich sehr differenziert darstellen. Dabei werden Hypothesen über die Funktionszusammenhänge zwischen den Einzelelementen der Bewusstseinsprozesse und den verschiedenen Einflussfaktoren aufgestellt. Im Einzelnen werden folgende Zusammenhänge berücksichtigt: Die Information, welche den Umweltreiz repräsentiert, wird im Wahrnehmungsprozess vereinfacht, umgedeutet, an bereits Bekanntes angenähert. Man kann hier von einem „Informationsfilter“ sprechen, durch den die Umweltreize an den kognitiven Apparat des Individuums gleichsam angepasst werden. All das, was dem Individuum uninteressant erscheint, wird ausgeblendet, was unangenehm ist, kann verdrängt werden, Erfreuliches wird verstärkt, Bekanntes herausgehoben. Damit kommt es im Bewusstsein des Wahrnehmenden zu einer kognitiven Repräsentation des wahrgenommenen Stimulus. Die kognitiv strukturierte Information wird über Entscheidungs- und Abwägungsprozesse verarbeitet und mit bestehenden Werterelationen in Beziehung gesetzt. Über diesen Entscheidungsfilter kommt es schließlich zur Steuerung des beobachtbaren Verhaltens. 151

Abbildung 28: Kognitionsmodelle Quelle: B. Werlen, 1987, Fig. 1, verändert

Informationsfilter

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Persönlichkeitsstruktur

Der soziokulturelle Kontext

Vorteile der Kognitionsmodelle

Alle drei Stationen des Verarbeitungsprozesses werden nun aber ihrerseits von wahrnehmungs- und verhaltensleitenden Faktoren beeinflusst. Es sind dies die Bedürfnisse, Motive, Werthaltungen und Einstellungen der betreffenden Person. Sie lenken den Prozess der Informationsverarbeitung und können seine inhaltlichen Ausprägungen sehr wesentlich beeinflussen. Die Gesamtkonstellation der wahrnehmungs- und verhaltensleitenden Faktoren resultiert ihrerseits aus zwei Bestimmungsfaktoren: der Persönlichkeitsstruktur des Individuums und dem soziokulturellen Kontext, in den diese Person eingebunden ist. Die Persönlichkeitsmerkmale können ein sehr breites Spektrum von unterschiedlichen psychischen und mentalen Attributen aufweisen. Man denke nur an den Unterschied zwischen introvertierten oder extrovertierten Menschen oder an jenen zwischen High Arousal Seeker und Low Arousal Seeker. (Vgl. dazu A. Mehrabian und J. A. Russell, 1974. High Arousal Seeker benötigen ein gewisses Mindestmaß an Umweltstimulation, um sich wohl zu fühlen, Low Arousal Seeker empfinden das gleiche Ausmaß an Umweltreizen bereits als unangenehmen Stress.) Der soziokulturelle Kontext ist eine Determinante der individuellen Lebenswelt einer Person, deren Bedeutung wir uns in der Regel gar nicht bewusst sind. Unsere individuellen Muster der Welterkenntnis, unsere Handlungsroutinen, Werthaltungen, Überzeugungen und Sinndeutungen sind zu einem erheblichen Teil Sozialisationsprodukte.Wir haben sie uns im Verlauf unserer individuellen Sozialisation zu eigen gemacht, internalisiert. In diesem Sozialisationsprozess wird das Individuum Teilelement des betreffenden Gesellschaftssystems. Unsere Überzeugungen und Werte sind uns zu einem erheblichen Teil vom Gesellschaftssystem aufoktroyiert. Damit sind auch die wahrnehmungs- und verhaltensleitenden Faktoren, welche den Prozess der Verarbeitung von Umweltinformationen und damit auch wesentliche Aspekte unseres Verhaltens steuern, gesellschaftlich beeinflusst. Das beobachtbare, overte (sich offenbarende) Verhalten als Reaktion auf Umweltstimuli resultiert also aus einem sehr komplexen System kognitiver Prozesse, deren Gesamtwirkung eine sehr weit gestreute Variation von Verhaltensmöglichkeiten eröffnet. Das konkrete Verhalten, das letztlich als kognitiv modifizierte Reaktion aus einen Umweltreiz resultiert, hat Folgen in der Realität, die wir registrieren und ihrerseits bewerten. Das Individuum kann etwa den Nutzen eines bestimmten Verhaltens im Vergleich mit den Motiven und Bedürfnissen abschätzen. Es kann den Erfolg oder den Misserfolg bestimmter Aktivitäten registrieren. Damit wird das Individuum in die Lage versetzt, aus den Resultaten des eigenen Verhaltens zu lernen. Das Ergebnis solcher Lernprozesse wird natürlich auf die wahrnehmungs- und verhaltensleitenden Faktoren zurückwirken und für nachfolgende Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozesse Impulse setzen. Es steht außer Zweifel, dass die Kognitionsmodelle einen erheblichen Fortschritt gegenüber den Stimulus-Wahrnehmungs-Reaktions-Modellen 152

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

bedeuten. Sie stellen eine wesentlich angemessenere Annäherung an die Komplexität menschlicher Denk- und Bewusstseinsprozesse dar. Ein besonderer Vorteil dieser neuen Modelle besteht darin, dass eine ganze Reihe gut bewährter sozialwissenschaftlicher Theorien aus verschiedenen Nachbardisziplinen direkt für die verhaltenswissenschaftliche Sozialgeographie nutzbar gemacht werden konnten. Dazu gehören etwa Sozialisationstheorien, Bedürfnistheorien, Kognitionstheorien, Persönlichkeitstheorien oder Lerntheorien und Entscheidungstheorien. Im folgenden Abschnitt sollen einige konkrete empirische Beispiele der Forschung im Rahmen dieser beiden Modelltypen vorgestellt werden. Dabei muss man bei beiden Ansätzen oder Modelltypen zwei unterschiedliche, wenngleich in der Regel miteinander verknüpfte Forschungs- und Erkenntnisziele unterscheiden. Im ersten Fall konzentriert sich die Forschung auf den Bereich der Bewusstseinsinhalte und kognitiven Operationen. Im zweiten Fall ist das Forschungsinteresse primär darauf gerichtet, das beobachtbare Verhalten zu erklären oder zu prognostizieren. Die erste Fragestellung beschränkt sich also darauf, die subjektiven oder gruppenspezifischen Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse zu rekonstruieren und die dabei entstehenden mentalen Repräsentationen der räumlichen Wirklichkeit zu erfassen. Hier geht es also primär darum, die „Mental Maps“ oder „kognitiven Karten“ von Individuen und Gruppen zu erheben. (Die Begriffe „Mental Map“ oder „kognitive Karte“ werden wir im Folgenden noch ausführlich besprechen.) Die zweite Fragestellung geht einen Schritt weiter. Ihr primäres Interesse liegt darin, das beobachtbare räumliche Verhalten von Menschen zu erklären. Es ist für die Bewertung der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie aus heutiger Sicht sehr wichtig, diese beiden Fragestellungen klar auseinanderzuhalten. Ehe wir im Folgenden auf konkrete empirische Forschungsbeispiele und Erkenntnisse eingehen können, müssen wir noch einige begriffliche Abgrenzungen und Präzisierungen vornehmen.Wir haben bereits kurz auf die Schule des Behaviorismus verwiesen, von welcher der Behavioral Approach seinen Namen erhielt. Wie schon erwähnt, war der Behaviorismus eine extrem physikalistische und mechanistische Schule der Psychologie. Seine Entstehung ist im Kontext der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Psychologie zu verstehen. Watsons Anliegen war es nämlich, aus der Psychologie eine exakte Disziplin zu machen und sie von spekulativen Elementen vollständig zu befreien. Somit ist der Behaviorismus als Reaktion auf die vorangegangenen, eher geisteswissenschaftlich-spekulativen Schulen der Psychologie anzusehen, die durch die verschiedensten nicht operationalisierbaren Begriffe wie „Seele“ oder „Geist“ gekennzeichnet waren. Der Behaviorismus war ein Versuch, die Psychologie durch eine radikale Beschränkung auf direkt beobachtbare und objektivierbare Phänomene zu reformieren und damit auf 153

Zwei Erkenntnisziele: Rekonstruktion von Bewusstseinsinhalten vs. Erklärung des Verhaltens

Entstehung und Anliegen des Behaviorismus

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Gestaltpsychologie

die Stufe einer Naturwissenschaft zu heben.Vor allem wurde die Introspektion, die Selbstbeobachtung psychischer Zustände und Prozesse, als Forschungsmethode abgelehnt. Die zentrale Forderung des Behaviorismus bezog sich auf eine strenge Objektivität der verwendeten Daten. Als Beobachtungstatbestände sollten nur solche Ereignisse und Phänomene anerkannt werden, die durch einen Versuchsleiter, also einen außenstehenden Beobachter, aufgezeichnet werden können. Hauptziel des Behaviorismus war damit das Ausmerzen der Subjektivität von Erfahrungsdaten. Über Dinge, die nicht auf objektivierbare Weise messbar oder beobachtbar sind, wie etwa „Bewusstsein“, wollte man im Behaviorismus nicht reden. Das war der eigentliche Grund für die Beschränkung auf Stimulus-Response-Modelle, denn sowohl Stimuli als auch konkrete Verhaltensweisen lassen sich durch unabhängige Beobachter auf objektivierbare Weise unmittelbar beobachten. Die Ablehnung irgendwelcher vermittelnden oder intervenierenden Phänomene, die als Wahrnehmung oder Kognition im Geist oder im Bewusstsein lokalisierbar wären, erfolgte gleichsam aus methodischen Gründen. Man stellte sich dazu bestimmte Verhaltensmuster als bloße Reflexe oder Gewohnheiten vor, die entweder angelernt seien oder instinktmäßig ablaufen. Es war jedenfalls das große Verdienst des Behaviorismus, die Bedeutung von Umwelteinflüssen auf die menschliche Psyche erkannt zu haben. Man muss den Behaviorismus generell aus dem Geist der damaligen Zeit verstehen. Im ausgehenden 19. und im frühen 20. Jahrhundert gab es eine ganze Reihe von Wissenschaften, die durch ähnlich übersimplifizierende Denkmodelle gekennzeichnet waren. Damals hatte auch der Geodeterminismus in der Geographie seine Blütezeit, damals entstand das Menschenbild des Homo oeconomicus in den Wirtschaftswissenschaften. Fast gleichzeitig mit dem Behaviorismus hatte sich eine andere Schule der Psychologie ausgebildet, die ein wesentlich komplexeres und angemesseneres Modell der Mensch-Umwelt-Interaktion entwickelte. Es war dies die sogenannte Gestaltpsychologie, die sich ausdrücklich gegen die Übersimplifizierungen und den Reduktionismus der Konzepte Watsons wandte. Die Gestaltpsychologie entstand in Süddeutschland und Österreich. Begründet wurde sie von Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Kofka. Sie und ihre Schüler emigrierten in den 1930er-Jahren in die USA und publizierten dann in englischer Sprache. Im Gegensatz zum Behaviorismus ist die Gestaltpsychologie ein holistischer Ansatz. „Gestalten“ als Ergebnisse der Wahrnehmung wurden als Ganzheiten angesehen, die mehr seien als die Summe ihrer Teile. In der Gestaltpsychologie wird die Komplexität und Vielschichtigkeit der menschlichen Psyche betont. Das Bewusstsein wird als wichtiger Forschungsgegenstand angesehen. Schlüsselkonzept dieser Arbeitsrichtung ist die Wahrnehmung. Die Wahrnehmung ist als intervenierende Variable zwischen Reiz und Reaktion konzipiert. Man nimmt an, dass der Mensch mithilfe der 154

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 29: Zwei Kippfiguren Quelle: M. Millodot, 2009, Fig. R14

angeborenen Fähigkeit der Wahrnehmung imstande sei, Umweltsituationen in zusammenhängende Muster, Formen oder Gestalten zu organisieren. In der Gestaltpsychologie wird das beobachtbare Verhalten des Menschen nicht als direkte Funktion oder Folge von Umweltreizen angesehen, sondern als Ergebnis einer gedanklichen Weiterverarbeitung, einer aktiven Umänderung der Stimuli durch die Wahrnehmung. Die Sinnesdaten werden also durch eine eigenständige mentale Operation gedeutet, in Form einer kognitiven Operation zu Mustern oder Gestalten konstruiert. Ein schönes Exempel für diesen Prozess sind die sogenannten Kippfiguren (Abb. 29). Es liegt am Betrachter, an seiner gedanklichen Interpretation oder kognitiven Deutung, was man in diesen Abbildungen erkennt: eine Vase oder zwei einander zugewandte Gesichter. Gestaltwahrnehmung und Mustererkennung sind eine Fähigkeit, die sich im Verlaufe der Evolution für die Entwicklung der Spezies Mensch herausdifferenziert hat und für das Überleben der Art entscheidend war. Ihr besonderer Wert liegt darin, dass bereits bei minimalen Informationen durch die Sinneswahrnehmung Schlussfolgerungen über die Umwelt abgeleitet werden können. Auf den ersten Blick wird man in Abbildung 30 nur ein flimmerndes Gewirr von hellen und dunklen Flecken sehen. Sieht man genauer hin, schließt sich diese Struktur plötzlich zu einer Gestalt, und wir erkennen einen Hund, nämlich einen Dalmatiner. Diese Deutung ist nur möglich, weil wir imstande sind, die sehr spärliche visuelle Information durch einen aktiven kognitiven Prozess zu einer Struktur zusammenzufassen. In welch hohem Maße Wahrnehmung eine aktiv-konstruktive Tätigkeit darstellt, lässt sich mit dem folgenden Beispiel veranschaulichen. Nach kurzen Anfangsschwierigkeiten wird der Leser problemlos in der Lage sein, den folgenden „Text“ zu verstehen, obwohl er aus Buchstabenfolgen besteht, die so, wie sie geschrieben sind, gar keinen Sinn machen: 155

Beispiele kognitiver Operationen

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 30: Ein „pointillistischer“ Hund Quelle: Phot. R. C. James, zitiert nach St. E. Palmer, 1999, S. 267, Fig. 6.1.15)

Wahrhenumng msus als atkiv-knosrtutkvie Täitgekit und nciht als psasvie Reezpiton agneeshen wreedn. Wir snid ismtadne, Txete zu lseen, die aus Wrterön bseteehn, bei dneen die Bcuhsatben in beilbieegr Riehnefloge ugmetsellt wruedn. Soalgne Afnagns- und Edubchstnbaen erhltaen bblieen, reokntrusiert usenr „kongiivter Apapart“ die Snintsrkutur.

Optische Täuschungen

Unsere Wahrnehmung ist natürlich auch durch kulturelle Deutungsmuster geprägt. So sind wir seit der Renaissance gewohnt, auch zweidimensionale graphische Darstellungen perspektivisch zu interpretieren und die Bildtiefe als eigenständige Wahrnehmungsdimension gelten zu lassen. Dies führt zu einer Reihe sogenannter „optischer Täuschungen“. Die Darstellung in Abbildung 31 wird – obwohl zweidimensional – von uns automatisch und fast zwanghaft räumlich-dreidimensional interpretiert. Und damit erscheint uns die dick eingezeichnete Kante im „hinteren“ Bildteil quasi automatisch als dreimal so lang wie die kräftige Linie im „Vordergrund“ (Müller-Lyer-Täuschung).Tatsächlich sind diese beiden Linien genau gleich lang, wie man mit den beiden parallelen Verbindungslinien unschwer beweisen kann. Was uns in unmittelbarer Evidenz als Wahrnehmungsmuster erscheint, ist in Wahrheit eine kognitive Interpretation und Deutung, welche die reale Sinneswahrnehmung der objektivierbaren Datenbasis weitgehend verändert. Diese knappen Hinweise auf den Behaviorismus und die Gestaltpsychologie sollten ausreichen, um Folgendes zu erkennen:

156

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 31: Optische Täuschung

Der sogenannte „Behavioral Approach“ der Sozialgeographie im englischen Sprachraum hat seinen Namen eigentlich zu Unrecht. Bereits die Stimulus-Wahrnehmungs-Reaktions-Modelle gehen nämlich von einer Konzeption aus, die in Wahrheit nicht dem Behaviorismus klassischer Prägung, sondern der Gestaltpsychologie zuzurechnen ist. Beide Modelltypen der mikroanalytischen Sozialgeographie postulieren nämlich etwas, das vom Behaviorismus dezidiert abgelehnt wird, nämlich eine Art „mentaler Zwischenwelt“, die zwischen den Reizen und den Reaktionen im Verhalten vermittelt und die Beziehung zwischen beiden funktional beeinflusst. Um Missverständnisse zu vermeiden, müssen wir noch eine zusätzliche terminologische Klarstellung vornehmen. Im Deutschen wird „behavioral approach“ mit „verhaltenswissenschaftlicher Ansatz“ übersetzt; man spricht auch von der „verhaltenswissenschaftlichen Geographie“. Damit bezieht man sich auf das verhaltenswissenschaftliche Paradigma in den Sozialwissenschaften, welches auf dem Behaviorismus gründet. In der Zwischenzeit wurde eine eigenständige Teildisziplin der Biologie entwickelt, die sogenannte Ethologie (nicht zu verwechseln mit der Ethnologie). Auf Deutsch heißt die Ethologie, die von den Biologen Nikolaas Tinbergen und Konrad Lorenz begründet wurde, „Verhaltensforschung“. Die Ethologie untersucht jene Verhaltensformen von Tieren und Menschen, die im Verlaufe der stammesgeschichtlichen Evolution entstanden sind und den einzelnen In157

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

dividuen einer Spezies durch Vererbung als Teil des Verhaltensrepertoires zur Verfügung stehen. (Man muss sie also nicht lernen.) Natürlich ist auch die Humanethologie (Hauptvertreter Iräneus Eibl­Eibesfeldt) für die Sozialgeographie von Bedeutung, man darf diese Disziplin aber keinesfalls mit der sozialwissenschaftlichen Verhaltensforschung verwechseln. 9.2. Modelle, Fragestellungen und Forschungsergebnisse Wir haben im letzten Abschnitt damit begonnen, die verhaltenswissenschaftliche Sozialgeographie zu besprechen. Dabei haben wir zwei Grundmodelle der Konzeptualisierung kennengelernt und deren Zusammenhänge mit den psychologischen Schulen des Behaviorismus und der Gestaltpsychologie besprochen. Im Folgenden wollen wir uns nun einige konkrete Fragestellungen, Erkenntnisse und Theorieelemente dieser Entwicklungslinie der neueren Sozialgeographie etwas genauer ansehen und am Beispiel empirischer Arbeiten diskutieren. 9.2.1. Vorläufer der Wahrnehmungsgeographie Hellpach: „Geopsyche“

Thomas-Theorem

Natürlich hatte auch die Wahrnehmungsgeographie Vorläufer. Es gab einzelne Forscherpersönlichkeiten, die schon sehr frühzeitig gleichsam eine „vorparadigmatische“ Phase der Entwicklung begründeten und damit ihrer Zeit weit voraus waren. Hier ist etwa der Psychologe Willy Hellpach zu nennen, der bereits 1911 ein Buch mit dem Titel „Geopsyche“ veröffentlichte. Untertitel: „Die Menschenseele unterm Einfluss von Wetter und Klima, Boden und Landschaft“. In diesem Buch werden Themen behandelt, die in Einzelaspekten durchaus den Fragestellungen der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie entsprechen, wenngleich aus heutiger Sicht manche extrem geodeterministischen Passagen eher erheiternd wirken. So gibt es einen Abschnitt über die „Jahresperiodik des Seelenlebens“, dessen erstes Teilkapitel mit „Brunst“ überschrieben ist. Hier wird unter anderem allen Ernstes behauptet, dass sich der Frühling als die „echte Brunstzeit der Hominiden“ erwiesen hätte. Statistiken der Bevölkerungsvermehrung (gemeint sind Geburtenzahlen) würden in allen Ländern und ohne Ansehen der sozialen Struktur zeigen, dass eine Häufung der Empfängnisse im Hochfrühling und Frühsommer vorkomme (S. 164). Ein anderes Beispiel ist der amerikanische Soziologe William Isaac Tho­ mas. Ihm wird das sogenannte „Thomas­Theorem“ zugeschrieben. Es gilt als eines der fundiertesten und wichtigsten Erkenntnisse der Sozialwissenschaften. Es lautet:

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

“If men define situations as real, they are real in their consequences.” W. I. Thomas und D. S. Thomas, 1928, S. 572 Tatsächlich stammt dieses Zitat aus einer gemeinsamen Veröffentlichung von William Isaac und Dorothy Swaine Thomas. (Der berühmte Sozialwissenschaftler Robert K. Merton moniert in einem Aufsatz aus dem Jahr 1995, dass dieses so berühmte Zitat über Jahrzehnte hinweg in unzähligen Lehrbüchern falsch zitiert und die Co-Autorenschaft von Dorothy Thomas ständig verschwiegen wurde. Er hält dies für eine besonders perfide Form des Sexismus im Wissenschaftsbetrieb.) Jedenfalls formuliert das Thomas-Theorem, lange bevor es eine verhaltenswissenschaftliche Wahrnehmungsgeographie gab, das zentrale Axiom dieser Arbeitsrichtung: Auch bloß vorgestellte, imaginierte Ansichten über die Realität wirken so, als wären sie reale Gegebenheiten. Während die beiden Thomas den Aspekt der sozialen Wirkung von Wahrnehmungs- und Kognitionsinhalten unbeschadet ihrer realen Existenz betonen, hat ein anderer amerikanischer Soziologe die emotionalen und symbolischen Hintergründe der Wahrnehmung und Bewertung von Umwelt diskutiert. Es war Walter Firey, der in einem berühmt gewordenen Aufsatz mit dem Titel „Sentiment and Symbolism as Ecological Variables“ aus dem Jahr 1945 gezeigt hat, dass die emotionale Bewertung von Umweltausschnitten sehr erhebliche Konsequenzen für das Verhalten von Menschen haben kann. (Der Begriff „ökologische Variable“ im Titel bezieht sich auf die Sozialökologie der Chicagoer Schule.) Firey stellt in der Einleitung fest, dass Standortentscheidungen in der zeitgenössischen Sozialökologie primär an ökonomischen Variablen festgemacht würden. Es handle sich dabei entweder um Distanzaspekte, die auf dem Weg über Transaktionskosten Einfluss nehmen, oder um monetär fassbare Standortnutzen, die einen Mehrwert gegenüber Vergleichsstandorten produzieren. Im vorliegenden Artikel möchte Firey nun sozialökologische Prozesse beschreiben, die ganz offensichtlich nicht durch eine ökonomische Deutung erfasst werden können. Sein Neuansatz besteht darin, bestimmten Raumeinheiten nicht nur eine ökonomische Qualität zuzuschreiben, sondern zusätzlich auch davon auszugehen, dass „Raum“ das Attribut besitzen kann, ein Symbol für bestimmte kulturelle Werte zu sein, die mit dem betreffenden Gebiet gleichsam verknüpft oder assoziiert werden. Diese symbolische Qualität von Raumausschnitten habe Auswirkungen auf die Standortentwicklung. Standortentscheidungen seien daher nicht nur aus ökonomischen Gegebenheiten zu erklären. Standortprozesse und damit Landnutzungssysteme 159

Firey: „Sentiment and Symbolism as Ecological Variables“

Symbolische Qualität von Raumausschnitten

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

könnten auch entscheidend durch Sentiment und Gefühle beeinflusst werden, die auf kulturelle Werte der Entscheidungsträger bezogen sind: “… locational activities are not only economizing agents but may also bear sentiments which can significantly influence the locational process.” W. Firey, 1945, S. 140 Fireys Beispiel Boston

1. Beispiel Fireys: Beacon Hill

Als Testfall oder empirisches Beispiel bezieht sich Firey im Folgenden auf einige spezifische Besonderheiten der Landnutzung im Innenstadtbereich von Boston. Wie viele andere ältere amerikanische Städte besitze auch Boston als historisches Erbe bestimmte räumliche Strukturen und Landmarken, die sich einer „ökonomischen“ Nutzung entsprechend den Bodenpreisen hartnäckig entziehen. Die Persistenz dieser Landnutzungselemente könne man nur verstehen, wenn man sie als Symbole der Wertvorstellungen bestimmter sozialer Gruppen interpretiert. Der Autor greift drei Typen von symbolisch hoch aufgeladenen Teilgebieten der Innenstadt heraus: ein innerstädtisches Wohngebiet der Oberschicht mit der Bezeichnung Beacon Hill, zwei gleichsam „heilige Orte“, nämlich Boston Common und der koloniale Friedhof, sowie ein Unterschichtwohngebiet italienischer Einwanderer mit dem Namen North End. In diesen drei Gebieten fände man eine Landnutzung vor, die allen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten widerspricht und daher auf andere Weise erklärt werden müsse. Das erste dieser Gebiete, Beacon Hill, liegt etwa fünf Minuten Gehdistanz vom Einzelhandelszentrum der Stadt (vgl. Abb. 32). Dieses Viertel besitzt seit etwa 150 Jahren den Charakter eines hoch präferierten Oberschichtquartiers. Im Verlaufe der geschichtlichen Entwicklung habe sich Beacon Hill zum Symbol für einen ganzen Komplex sentimentaler und nostalgischer Assoziationen entwickelt, die vor allem für alteingesessene Bostoner Familien als Attraktivitätsfaktor wirksam seien. In verschiedenen Zeitungsartikeln und Broschüren werden diese Assoziationen mit Begriffen wie „old-time appearance“, „age-old charme“ oder „tradition“ angesprochen. Immer wieder wird auch auf die Bostoner Literaturtradition verwiesen, die ihren Schwerpunkt in Beacon Hill hatte. Viele der bekanntesten amerikanischen Literaten hatten hier ihren Wohnsitz. Die heutigen Bewohner dieser Häuser verweisen stolz darauf. Firey zitierte eine Bewohnerin:“I like living here for I like to think that a great deal of historic interest has happened here in this room.” Zahlreiche Familien können eine kontinuierliche „Wohngeschichte“ für mehrere Generationen bis 1800 zurück nachweisen und sind in höchstem 160

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Maße stolz darauf, gleichsam „Ureinwohner“ dieses Quartiers zu sein. “It is a point of pride to a Beacon Hill resident if he can say that he was born on the Hill or was at least raised there; a second best boast is to point out that his forebearers once lived on the Hill” (S. 141). Firey kommt zum Schluss, dass damit eine weite Palette von Gefühlen – ästhetischer, historischer und familiärer Art – in Beacon Hill einen räumlichen Ausdruck gefunden hat. In weiterer Folge untersucht der Autor, wie sich diese raumbezogenen Gefühle im Detail äußern. Als ersten Aspekt diskutiert er die Bindungswirkung des Viertels für die Oberschicht. Er zeigt auf, dass für Familien der Bostoner Oberschicht Beacon Hill seit fast 100 Jahren ungebrochen als Wohnstandort attraktiv ist. Die anderen innerstädtischen Oberschicht-Wohnquartiere haben demgegenüber an Attraktivität stark verloren. Dort ging die Zahl der Oberschicht-Familien kontinuierlich zurück. Insgesamt ist seit 1890 ein generelles Abwandern der Oberschicht aus den Innenstadt-Wohnquartieren in die Suburbs festzustellen. Einzige Ausnahme ist Beacon Hill. Hier waren zum Zeitpunkt der Untersuchung mehr Oberschicht-Familien sesshaft als 1894. Von 1894 bis 1905 kam es zu einer Ausweitung der Oberschicht-Gebiete in Richtung auf das damals neu gebaute Quartier Back Bay (vgl. den Pfeil in Abb. 32). Hier errichtete man große, moderne, palastartige Wohngebäude. Dadurch begannen die Bodenpreise in Beacon Hill zu verfallen 161

Abbildung 32: Sentiment und Symbolismus als ökologische Variablen Quelle: nach W. Firey, 1945

Bindungswirkung des Viertels

Umwandlungsdruck

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Beacon Hill Association: Bürgerinitiative gegen den Umwandlungsdruck

2. Beispiel Fireys: Boston Common

und Geschäftsfunktionen bzw. Rooming Houses in das Viertel einzudringen. Aber viele der alteingesessenen Familien blieben in Beacon Hill. Und sie unternahmen sehr effiziente Anstrengungen, die Umstrukturierung ihres Viertels zu verhindern. Ein Immobilienhändler, ein Architekt und deren Freunde stellten ein Projekt auf die Beine, in dessen Rahmen so etwas wie ein privates Sanierungsprogramm durchgezogen wurde. Alte Häuser im Viertel wurden aufgekauft, modernisiert und restauriert und dann verkauft oder vermietet.Viele Bewohner schlossen sich dem Projekt an und investierten in eine Renovierung ihrer Häuser. Es kam zu einer generellen Aufwertung von Beacon Hill und die Bodenpreise stiegen in wenigen Jahren um ein Viertel. Die drohende Degradierung des Viertels war abgewendet. Allerdings blieb der Umwandlungsdruck dadurch aufrecht, dass Geschäftsfunktionen und Apartment-Hotels weiterhin in das Viertel drängten. Daraufhin organisierten sich die Viertelsbewohner und gründeten im Jahr 1922 die „Beacon Hill Association“. Ziel dieser Bürgerinitiative war es, unerwünschte Geschäftsbauten und unerwünschte Lebensbedingungen vom Quartier fernzuhalten. Zu dieser Zeit war die Stadtverwaltung dabei, ein neues „Zoning Program“ (also ein Stadtentwicklungsprogramm) zu erarbeiten. Die Beacon Hill Association, der natürlich viele Anwälte und höchst einflussreiche Persönlichkeiten angehörten, setzte ihre ganze Macht ein, um in diesem Gestaltungsprozess Lobbying zu betreiben. Die Stadtplanung musste sich diesem politisch wirksamen Druck beugen. In verschiedenen Kampagnen gelang es der Association durchzusetzen, dass die Bauhöhe strikt beschränkt wurde, Geschäftsbauten auf einige wenige Straßenzüge eingeschränkt wurden und die Errichtung von Apartment-Hotels verboten wurde. Durch diese Aktivitäten wurde das Vordringen lukrativer ökonomischer Wertschöpfungsmöglichkeiten in das Quartier verhindert. Entscheidender Hintergrund dafür waren Sentiment und Symbolismus. Als zweites Beispiel bespricht Firey den Boston Common und den alten kolonialen Friedhof. In der Kolonialzeit hatte jede Stadt in Neuengland einen „Common“, das entspricht unserem Begriff „Allmende“ und bedeutet „Gemeinschaftsbesitz“. Der Common wurde als Weide für Rinder und als militärisches Übungsgebiet genutzt. Im Laufe der drei Jahrhunderte der Stadtentwicklung war Boston rund um diesen Common gewachsen, er liegt heute in der Mitte des Geschäftsbezirks. Drei der fünf angrenzenden Straßen sind Hauptgeschäftsstraßen des Central Business Districts mit hochwertigen Bekleidungsgeschäften, Theatern, Restaurants, Buchhandlungen etc. Die vierte Straße ist die Beacon Street, die Beacon Hill nach Süden begrenzt. Hier wurde die Geschäftsfunktion (wie besprochen) durch die Bürgerinitiative verhindert. Und an der fünften Seite des Common liegt der Public Garden. Die höchsten Bodenpreise der Stadt finden sich südlich und südöstlich des Common in der Tremont Street und der Boylston Street. 162

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Welchen Stellenwert hat der Common im öffentlichen Bewusstsein der Stadtbevölkerung? Firey verweist auf einige literarische Quellen und öffentliche Ansprachen von Stadtpolitikern. In einem von Firey zitierten Text von T. R. Sullivan aus dem Jahr 1912 lesen wir: “Here, in short, are all our accumulated memories, intimate, public, private. Boston Common was, is and ever will be a source of tradition and inspiration from which the New Englanders may renew their faith, recover their moral force, and strenghten their ability to grow and achieve” (S. 244). Der Common wurde gleichsam zu einem „geheiligten“ Raumobjekt hochstilisiert, das historische Werte und Gefühle der Gemeinschaft symbolisiert und vergegenständlicht. Firey merkt an: “Like all such objects its sacredness derives, not from any intrinsic spatial attributes, but rather from its representation in people’s minds as a symbol for collective sentiments” (S. 244). Die Kraft dieser kollektiven Gefühle ist so stark, dass gegen jede ökonomische Vernunft zahlreiche gesetzliche Schutzmechanismen für den Common konstruiert wurden. In der City Charta ist festgeschrieben, dass der Common auf ewige Zeiten im Besitz der Stadt bleiben muss. Staatsgesetze garantieren, dass die Fläche von jeder Verbauung freizuhalten ist. Es dürfen auch keine Straßen über die Fläche geführt werden. Außerdem muss der Zugang für die Bevölkerung sichergestellt werden. Dies hat für die Struktur des CBD erhebliche Auswirkungen. Kaum eine andere Stadt der USA hat ein so kleines Einzelhandelszentrum wie Boston. Die Verkehrsprobleme sind gewaltig, die Geschäfte müssen mit relativ geringen Verkaufsflächen das Auslangen finden, die Bodenpreise sind astronomisch. Als drittes Beispiel bespricht Firey noch das Unterschichtquartier North End. Darauf soll jetzt nicht näher eingegangen werden. Es wird dargestellt, dass die älteren Bewohner eng an das Quartier gebunden sind und hier eine Arena intensiver sozialer Kontakte auf ethnischer Basis vorliegt. Jedenfalls zeigt die Arbeit von Firey in aller Klarheit die Bedeutung von Wahrnehmung, Gefühlsbindung und symbolischer Projektion von Wertvorstellungen auf die Entwicklung einer Stadt auf. Firey kann gleichsam als „außerfachlicher“ Vorläufer der Verhaltensgeographie angesehen werden. Noch interessanter sind natürlich innerfachliche Vorläufer, die als „gelernte“ Geographen frühzeitig Probleme der Raumwahrnehmung thematisiert haben. An erster Stelle ist hier der Amerikaner James K. Wright zu nennen. Er legte zwischen 1908 und 1968 fast 500 Veröffentlichungen vor. Am bekanntesten davon ist wohl seine Presidential Address vor der Jahresversammlung der Association of American Geographers, die beinahe als Gründungsdokument der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie angesehen werden kann. Publiziert wurde dieser Vortrag in den Annals of the Association of American Geographers, 1947, unter dem Titel „Terrae Incognitae: The Place of Imagination in Geography“. 163

Boston Common als „geheiligtes“ Raumobjekt

3. Beispiel Fireys: North End

Wright: „Terrae Incognitae“

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Kirk: „Historical Geography and the Behavioural Environment“

White: Pionier der Natural-Hazard-Forschung

Wright bemerkt in diesem Artikel, dass es noch immer unbekannte Länder, terrae incognitae, für die Geographie gebe, auch dann, wenn längst keine weißen Flecken oder unentdeckten Gebiete auf der Weltkarte mehr existieren. Ein wichtiger Forschungsgegenstand der Geographie seien nämlich die noch unbekannten Länder in den Gehirnen der Menschen. Es sei doch von größtem Interesse, wie die unbekannten „privaten Welten“ in den Köpfen der Menschen aussehen würden. Als Beweis für die Bedeutung seiner These führt er die unterschiedliche Raumvorstellung von Menschen mit unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft an. Er lenkte damit das Interesse des Faches mit Nachdruck auf die geistigen Vorstellungsbilder über die räumliche Struktur der Realität. Und er verwies ausdrücklich auf spezifische Vorstellungs- und Urteilsstereotypen über bestimmte Länder und ihre Bewohner, die immer wieder reproduziert werden (die fleißigen Schwaben, die faulen/feigen Italiener, die gründlichen Deutschen, die sturen Tiroler …). Ein anderer prominenter Geograph, der frühzeitig auf die Bedeutung der Raumwahrnehmung und Raumvorstellung hinwies, war der Brite William Kirk. Er publizierte unter anderem im Jahr 1952 einen Aufsatz mit dem Titel „Historical Geography and the Behavioural Environment“. Er war einer der ersten Geographen, der die These vertrat, dass das Verhalten des Menschen gegenüber seiner Umwelt nicht von den objektiven Gegebenheiten, sondern von den wahrgenommenen subjektiven Umweltbildern abhängig ist. Und er stellte deutlich heraus, dass sich solche Vorstellungsbilder auf typische Weise und sehr markant von den objektivierbaren Gegebenheiten der Realität unterscheiden. Als wesentliche Ursache für diese Divergenz führt er den Einfluss der Wertesysteme auf Wahrnehmung und Kognition an. Dies erkläre auch die Unterschiede der Raumvorstellungen bei Vertretern verschiedener Kulturen. Als wichtiger Vorläufer der Wahrnehmungsgeographie muss auch der Amerikaner Gilbert F. White (z. B. 1945) genannt werden, der bereits Ende der 1940er-Jahre zahlreiche Arbeiten zum Thema „Wahrnehmung von Umweltrisiken“ veröffentlicht hat. Er gilt als Pionier und Hauptvertreter der sogenannten Natural-Hazard-Forschung. Die Extremsituation von Naturkatastrophen eignet sich besonders gut dafür, Wahrnehmungsverzerrungen der betroffenen Menschen und ihre Verhaltensreaktionen zu erforschen. Beeinflusst wurde G. F. White in seinen Konzeptionen durch den Wirtschaftswissenschaftler Herbert Simon, der sich als Vertreter einer deskriptiven (nicht normativen) Ökonomie gegen das Menschenbild des Homo oeconomicus wandte. Simon (z. B. 1957 oder 1959) betonte, dass wirtschaftliche Entscheidungsträger in der Regel nur sehr mangelhafte und auf vielfältige Weise verzerrte Informationen über die Wirklichkeit besitzen. Er deutete auch an, dass die Abwägungs- und Entscheidungsprozesse auf der Grundlage dieser unvollständigen und verzerrten Informationen auch nicht unbedingt den Regeln der klassischen Logik entsprechen, also nicht 164

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

in strengem Sinne „rational“ sein müssen. G. F. White versuchte, derartige Kalküle der Entscheidungsfindung bei Adaptionsprozessen in der Auseinandersetzung mit Naturkatastrophen zu rekonstruieren. Auch im deutschen Sprachraum gab es neben Wolfgang Hartke zwei sehr prominente Geographen, die frühzeitig die Bedeutung der Umweltwahrnehmung für das menschliche Tun erkannten und diese Erkenntnis für die Sozialgeographie nutzbar machen wollten. Der erste war Martin Schwind, der am deutschen Geographentag in Frankfurt 1951 einen Vortrag hielt mit dem Titel: „Die Umweltlehre Jakob von Uexkülls in ihrer Bedeutung für die Kulturgeographie“. Jakob von Uexküll war Biologe. Er war der erste, der den Begriff „Umwelt“ als wissenschaftlichen Terminus technicus in die Literatur einführte. Gleichzeitig war er der Erfinder der „Tierpsychologie“ und befasste sich mit der Umweltwahrnehmung von Tieren. Uexküll versteht unter Umwelt die subjektive Wirklichkeit von Lebewesen, die er auch als „Psychomilieu“ bezeichnet. Die Umwelt eines Lebewesens, so sagt er, setze sich zusammen aus dessen „Merkwelt“ und dessen „Wirkwelt“. Alles, was ein Subjekt „merkt“ (wahrnimmt), wird zu seiner „Merkwelt“, und alles, was es bewirkt, zu seiner „Wirkwelt“. Merkwelt und Wirkwelt bilden gemeinsam eine geschlossene Einheit, die Umwelt. Die gleiche objektive Umgebung enthält nach dieser Konzeption für verschiedene Lebewesen völlig unterschiedliche Umwelten. Der Umweltbegriff Jakob von Uexkülls ist also psychologisch konzipiert, auf die Wahrnehmung des jeweiligen Lebewesens bezogen. Er steht damit relativ zur Sinnesleistung und zur Kapazität der Informationsverarbeitung des betreffenden Lebewesens. Die Umwelt eines Hundes sieht natürlich ganz anders aus als die Umwelt einer Ameise. Sie unterscheidet sich nicht nur nach den verschiedenen Arten, sondern auch nach der Wahrnehmungskapazität des einzelnen Individuums. Dieser Umweltbegriff ist damit sinnesphysiologisch und kognitiv konzipiert. Dieser subjektive und relationale Umweltbegriff wurde von Uexküll dann auch auf den Menschen übertragen. Martin Schwind griff diese Konzeption auf und versuchte, das Konzept der subjektiven Merkwelt als methodisches Prinzip für die Länderkunde nutzbar zu machen. Er stellte etwa fest, dass eine naturräumliche Gliederung in einer Länderkunde ihren Sinn doch erst durch die Frage bekomme, „… ob eine bestimmte Ökotop- oder Fliesengruppe im Verlaufe der Geschichte permanenter Bedeutungsträger war, ob sie ihre Bedeutung wechselte oder ob sie bislang völlig ausgeblendet blieb …“ (1952, S. 294). Mit Uexküll haben wir einen weiteren Vordenker kennengelernt, dessen Ideen mit der mikroanalytisch orientierten Wahrnehmungsgeographie hervorragend übereinstimmen. Uexkülls Thesen entsprechen genau den zentralen Annahmen des verhaltenswissenschaftlichen Ansatzes in der Sozialgeographie. Auch hier geht man davon aus, dass durch die Wahrnehmung 165

Schwind: „Die Umweltlehre Jakob von Uexkülls …“

Konzept der subjektiven Merkwelt als methodisches Prinzip für die Länderkunde

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

ein selektives, verzerrtes, verändertes und gedeutetes Abbild der Realität produziert wird, das dann als eigentliche Bezugsgröße des Handelns fungiert. Als zweiter Fachvertreter der deutschsprachigen Geographie, der frühzeitig und eigenständig Themen der Wahrnehmungsgeographie behandelte, ist der Hartke-Schüler Robert Geipel zu nennen. In seiner 1952 publizierten Dissertation über das „Ländchen“ stellte er die Wahrnehmungs- und Wertungsprozesse der Bevölkerung für die Regionsbildung in das Zentrum seiner Überlegungen. 9.2.2. Ein einfaches Modell der Umweltwahrnehmung

Arten der Mensch-UmweltBeziehungen

Informatorische Beziehungen

Kanäle und Signale

Ein zentrales Postulat der verhaltenswissenschaftlichen Ansätze der Sozialgeographie ist die Annahme, dass die Wahrnehmung der Außenwelt und die Ausbildung von kognitiven Repräsentationen dieser Außenwelt die Grundlage für das Verhalten des Menschen darstellen. Im Folgenden wollen wir einige Überlegungen darüber anstellen, wie denn dieser Prozess der menschlichen Umweltwahrnehmung funktioniert und wie man ihn beschreiben kann. Wie sieht also die Grundstruktur der „Informationsverarbeitungsmaschine“ Mensch aus? Der Mensch steht, wie jedes andere Lebewesen auch, mit seiner Umwelt auf dreierlei Art in Wechselbeziehung: Es gibt materielle, energetische und informatorische Interaktionen. Bei den meisten Tieren und Pflanzen sind diese Beziehungen ausschließlich somatischer Art, sie sind also auf den Körper und den körpereigenen Stoffwechsel bezogen. Beim Menschen ist die Situation wesentlich komplizierter, hier ist auch ein extrasomatischer (also letztlich kultureller) Anteil der Umweltinteraktion zu berücksichtigen. Das Gesamtgefüge dieser Wechselbeziehungen definiert das Erkenntnisobjekt der Humanökologie. Im Rahmen unserer Überlegungen zur Sozialgeographie sollen uns ausschließlich die informatorischen Beziehungen interessieren (vgl. Abb. 33). Die menschliche Umwelt in all ihren Aspekten kann als Sender eines informatorischen Systems betrachtet werden. Unter „Umwelt“ seien dabei alle Gegebenheiten der Außenwelt oder „objektiven Realität“ verstanden, die in irgendeiner Weise für den Menschen (als Spezies bzw. Subjekt) von Bedeutung sind. Bei einem solchen Verständnis des Begriffes ist klar, dass Umwelt keineswegs auf den Bereich der „Natur“ (der nichtartifiziellen physischen Umwelt) reduziert werden darf. Die gebaute, die sozioökonomische und die kulturell-ideologische Umwelt sind ebenso bedeutsam (vgl. zum Umweltbegriff z. B. P. Weichhart, 2003 a). Die von der Umwelt ausgehenden Informationen gelangen auf verschiedensten Kanälen zum jeweils Information aufnehmenden Subjekt. Kanäle sind nichts anderes als materielle Medien, mit denen Signale transportiert werden. Ein Buch wäre etwa ein raum-zeitlich wirksamer Kanal, mit dessen 166

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Soziokulturelle Werte

Mensch

Biologische Regelgrößen

Externe Decodierung

Informationsverarbeitendes System Bewusstsein, Unterbewusstes, Unbewusstes Motivation

Interne Decodierung Kognition

Individ. Anspruchsniveau

„Perzeptionsfilter“

Sinnesorgane

Umwelt Kanäle

Nichtartifizielle physische U.

Dimensionen

Gebaute U.

Medien (Licht, Schall ...)

Sozioökonomische U. Kulturell-ideologische U.

Entscheidung

Aktuelles Tun

Hilfe Informationen über die Zeit und auch über Distanzen transportiert werden können. Signale sind bestimmte Zustände oder Prozesse in einem materiellen Substrat, das von einem kybernetischen System dazu benutzt wird, informationelle Koppelungen zu realisieren.Wir können etwa die Luft als Kanal ansehen; Zustandsänderungen ihrer physikalischen Struktur (Schallwellen und ihre Variationen) dienen dem Transport von Informationen zwischen Sender und Empfänger. Hier gibt es die verschiedensten Medien und Kanaldimensionen, die für die informationsverarbeitenden Prozesse bei Lebewesen (und auch beim Menschen) relevant sind. Alle künstlichen oder technischen Informationsmedien nutzen letztlich jene Medien, die durch die Rezeptionsfähigkeit unserer Sinnesorgane definiert sind. Aufgenommen werden die Umweltinformationen also über die Sinnesorgane. Das sind jene körpereigenen Rezeptoren, mit denen wir physikalische oder chemische Zustände und Zustandsänderungen in unserer Umgebung wahrnehmen können, die also gleichsam biologisch verfügbare Messinstrumente darstellen: Sehsinn, Gehör, Geruchssinn,Tastsinn, Gleichgewichtsgefühl,Wärmeempfindung. Unsere Sinnesorgane erfassen also schon von dem her, was von ihnen gleichsam „gemessen“ wird, nur einen sehr beschränkten Ausschnitt der Realität, sie besitzen nur einen höchst eingeschränkten Messbereich. 167

Abbildung 33: Ein informatorisches Modell der Mensch-UmweltInteraktion

Aufnahme durch Sinnesorgane

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Künstliche Informationskanäle

Interne Decodierung der Daten: Kognition

Die Struktur unserer Sinnesorgane bedingt, dass nur einige wenige der potenziell möglichen Informationskanäle für unser bewusst und aktiv nutzbares Informationsverarbeitungssystem zur Verfügung stehen. Dabei ist der Mensch primär als „Augentier“ anzusehen. Unser weitaus dominanter Rezeptor ist der Sehsinn. Und das bedeutet, dass wir primär eine visuelle Vorstellung von der Wirklichkeit haben. Die Metapher vom „Weltbild“ als Gesamtheit unserer Wirklichkeitsvorstellung hat also einen sinnesphysiologischen Hintergrund. (Bei Hunden müsste man von einem „Weltgeruch“ sprechen.) Die Beschränktheit unserer Sinnesorgane stellt einen ersten wichtigen Filter unserer Umweltwahrnehmung dar. Man erkennt schon bei diesem Bild des „Filters“, dass Informationsaufnahme eigentlich ein aktiver Prozess ist, der vom Rezipienten ausgeht. Nun stehen dem Menschen als Wesen mit Werkzeugintelligenz eine Vielfalt an Möglichkeiten zur Verfügung, den biologisch determinierten Wahrnehmungsapparat auf Umwegen auszuweiten. Das geschieht durch die Konstruktion und den Einsatz künstlicher Informationskanäle. Solche nichtbiologischen Rezeptoren sind technische Einrichtungen, die imstande sind, Übertragungskanäle in Wert zu setzen, die den biologischen Rezeptoren nicht zugänglich sind. Wichtig sind dabei Prozesse, mit deren Hilfe gleichsam die „Übersetzung“ der Information aus dem nicht direkt wahrnehmbaren Bereich in Kanäle möglich wird, die uns zugänglich sind. Die Messung eines Magnetfeldes wird gleichsam übersetzt in einen Zeigerausschlag oder eine Hell-Dunkel-Verteilung auf einem Bildschirm. Radiowellen werden „übersetzt“ in Schallwellen. In Abbildung 33 wird dieser Prozess als „externe Decodierung“ bezeichnet. Auch dadurch wird der Informationsfilter in seinen Ausblendungswirkungen gesteuert. Alle durch Sinnesorgane beziehungsweise durch Messgeräte via Sinnesorgane erfassten Informationen/Daten werden nun neuronal, auf chemo-elektrischem Weg, gleichsam „weitergeleitet“ an das eigentliche informationsverarbeitende System „Gehirn“. Hier wollen wir einmal als zentrales Strukturelement das personale Selbst des Individuums herausstellen und dieses grob in die Bereiche Bewusstsein, Unterbewusstes und Unbewusstes gliedern. Auch im Gehirn findet so etwas wie eine Decodierung der aufgenommenen Daten statt. Nennen wir das die „interne Decodierung“, bei der gleichsam Nervenimpulse (neuronale Prozesse) in Bedeutungen übersetzt werden. Eine höchst relevante Zwischenstufe ist dabei der bereits angesprochene Prozess der Kognition. Die Sinneseindrücke werden dabei in Form einer aktiven Bewusstseinsleistung zu gedanklichen Modellen, Begriffssystemen, Denkschemata, gedanklichen Konzeptionen weiterverarbeitet. Erst durch die Kognition wird dann aus einer Hell-Dunkel-Verteilung oder einem Farbmuster ein „Gegenstand“ der Wahrnehmung, z. B. ein Tisch. Diese Denkmodelle oder kognitiven Konstrukte können wir mithilfe um168

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

gangssprachlicher oder spezialsprachlicher Begriffe weitergeben und speichern. Kognition ist also eine Art gedankliche Transformation oder Interpretation der Sinneswahrnehmung und damit der internen Repräsentation der Realität. Alles, was wir über die Außenwelt bewusst aufnehmen, macht diesen dreifachen Schritt von der sinnesphysiologisch definierten Wahrnehmung über ein kognitives Konstrukt zum sprachlichen Ausdruck durch. Besonders wichtig ist dabei das Faktum, dass auch durch die Kognition die Struktur des Wahrnehmungsfilters bzw. seine spezifische Durchlässigkeit beeinflusst wird: Wofür man ein mentales Konstrukt und damit in der Regel auch eine korrespondierende sprachliche Begrifflichkeit besitzt, das kann man normalerweise auch sinnesphysiologisch wahrnehmen und erkennen. (Man erinnere sich an „Aha-Erlebnisse“ bei Exkursionen: Was vorher irgendein Hügel war, wird plötzlich als Alt- oder Jungmoräne erkannt und wahrgenommen.) Mit „Kognition“ sprechen wir also den Prozess der geistigen Begriffsbildung, Konzeptbildung, Objektidentifikation und Vorstellung sowie die Ergebnisse dieses Prozesses an. Davon müssen wir nun den Begriff der Wahrnehmung unterscheiden. Unter Wahrnehmung oder Perzeption versteht man in der Psychologie den primär sinnesphysiologischen Prozess der direkten Reizerfassung und Reizübermittlung. Achtung:

Begriff der Wahrnehmung

In der wahrnehmungsgeographischen Literatur wird der Begriff Wahrnehmung/Perzeption oft inkorrekt in einem so weiten Sinne verwendet, dass er auch die Kognition umfasst. Die Ergebnisse von kognitiven Prozessen werden nun aber nicht direkt in aktuelle Verhaltensmuster umgesetzt. Denn unsere Bewusstseinsprozesse sind ja eingebettet in das Gesamtsystem unserer soziokulturellen Umgebung. Im Zuge von Enkulturation und Sozialisation hat das Individuum die jeweils zulässigen, erlaubten und gebotenen Ziele und Wertvorstellungen bzw. Rollenerwartungen internalisiert, die im betreffenden Sozialsystem relevant oder wirksam sind. Dadurch werden – auf dem Weg über das individuelle Anspruchsniveau – bestimmte Zielvorstellungen definiert und potenzielle subjektive Intentionalitäten eingegrenzt. Diese sozial mitgesteuerten und modifizierten Intentionen sind gleichsam die Regelgrößen, die den weiteren Prozess steuern. Daneben gibt es noch eine weitere Gruppe von Regelgrößen, die biologisch determiniert sind und im Verlauf der artspezifischen Evolution entstanden sind. Das sind vor allem die sogenannten Grundbedürfnisse des Menschen.Während die soziokulturellen Regelgrößen sich im Zeitverlauf relativ rasch ändern können, sind die biologisch determinierten Regelgrößen 169

Soziokulturelle Regelgrößen

Grundbedürfnisse

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Externe Stimuli/ kognitive Repräsentation

Perzeptionsfilter und Motivation

eine Funktion von Evolutionsprozessen, die eher in geologischen Zeitmaßstäben zu messen sind. Erst aus dem Vergleich der wahrgenommenen und kognitiv weiterverarbeiteten Informationen mit diesen Regelgrößen der Werte und Ziele und ihrer Abstimmung mit dem individuellen Anspruchsniveau resultiert über verschiedene Abwägungs- und Entscheidungsprozesse das aktuelle Tun des Menschen. Dadurch kommt es zu einer Auswirkung oder Rückwirkung auf die Umwelt. Wir werden uns mit den hier nur vorläufig und in erster Näherung angesprochenen Zusammenhängen im weiteren Verlaufe unserer Überlegungen noch mehrfach beschäftigen müssen. Im Folgenden wollen wir uns zunächst einmal auf den Bereich der Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse beschränken, so wie es innerhalb der verhaltenswissenschaftlichen Ansätze der Sozialgeographie üblich war. Wir können abschließend festhalten, dass die verhaltenswissenschaftlichen Ansätze die Frage der Entstehung von Intentionalität weitgehend ignoriert oder ausgeklammert haben. Die handlungstheoretischen Ansätze (vgl. Kapitel 10) hingegen thematisieren vor allem diesen Bereich des Gesamtprozesses und befassen sich besonders mit der Frage, wie Intentionalität zustande kommt, wobei nun allerdings Fragen der kognitiven Strukturen und der Perzeption weitgehend unberücksichtigt bleiben. Für die folgenden Überlegungen zur raumbezogenen Wahrnehmung des Menschen ist es wichtig, gedanklich klar zu unterscheiden zwischen den komplexen Umweltreizen, die wir als externe Stimuli mit unseren Sinnesorganen aufnehmen, und der kognitiven Repräsentation dieser Stimuli im Bewusstsein des wahrnehmenden Subjekts, also dem geistigen Konstrukt, das im Bewusstsein den Reiz repräsentiert.Wir müssen uns also darüber im Klaren sein, dass unsere Wahrnehmung nicht auf eine simple Decodierung einlaufender Sinnesreize reduziert werden kann. Was da im Bewusstsein als kognitives Modell oder kognitive Repräsentation entsteht, ist ein völlig neues Konstrukt, das zum Teil gleichsam aus dem Rohmaterial der einlaufenden Signale aufgebaut ist, zu einem hohen Teil aber ein Produkt vergangener Erfahrungen ist. Wir müssen uns außerdem darüber im Klaren sein, dass die Informationsverarbeitungskapazität des menschlichen Gehirns durchaus begrenzt ist. Der Mensch kann in einem bestimmten Zeitraum nur eine begrenzte Menge von Informationen verarbeiten. Schon daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die hereinkommenden Signale zu filtern und mengenmäßig zu reduzieren. In unserem Modell ist diese Vorselektion vereinfachend durch den Perzeptionsfilter dargestellt. Man muss im Subsystem des Gehirns noch einen zusätzlichen Bereich berücksichtigen, durch den dieser Perzeptionsfilter und seine Durchlässigkeit sehr wesentlich definiert wird. Diesen Bereich könnte man mit dem Begriff „Motivation“ umschreiben. Bewusst und vielfach auch unbewusst wird die Sinneswahrnehmung auch dergestalt 170

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

gesteuert, dass nur solche Umweltreize rezipiert werden, die für das wahrnehmende Subjekt zum jeweiligen Zeitpunkt gerade aktuell, wichtig oder bedeutsam sind. Es werden also vor allem jene Umweltreize oder Signale durch den Perzeptionsfilter geleitet, die im Kontext der jeweils aktuellen Ziele und Motivationen bedeutsam sind, während viele andere gleichsam blockiert werden. Wir werden diesen Aspekt in Zusammenhang mit den handlungstheoretischen Ansätzen noch genauer besprechen. Motivationen sind natürlich zeitlichen Änderungen unterworfen und sind auf die jeweils spezifische Lebenssituation bezogen. Es ist also ausdrücklich festzuhalten, dass der Mensch kein passiver Rezeptor von Information ist, sondern dass er Information aktiv sucht, seine Wahrnehmung also selbst steuert und lenkt. Diese aktive Informationssuche ist natürlich von der jeweiligen Lebenssituation und dem jeweiligen Handlungskontext abhängig. Wenn in der betreffenden Lebenssituation vorwiegend Grundbedürfnisse des nackten Überlebens akut sind, dann stehen ganz andere Informationserfordernisse zur Diskussion als in einer Situation, bei der alle Grundbedürfnisse befriedigt sind und keine Gefährdung des Lebens besteht. Nehmen wir ein anderes weniger extremes Beispiel: Wenn Sie gerade auf dem Weg von der Wohnung zur Universität sind, also eine Wegstrecke bewältigen, die Sie gleichsam im Schlaf begehen könnten, weil sie zu Ihren alltäglichen Routinen gehört, dann werden Sie auf diesem Weg ganz andere Informationen aus der räumlichen Umwelt rezipieren können als jemand, der diesen Weg zum ersten Mal geht und ihn nicht kennt. Ein Vortragender in unserem Kolloquium etwa, der vom Bahnhof kommt, muss sich erst kundig machen, wie er hierher kommt. Sie werden auf der Ihnen völlig vertrauten Route keinerlei Notwendigkeit verspüren, sich orientieren zu müssen. Sie müssen keine Orientierungshilfen suchen, keine Landmarken orten, keine Richtungskorrekturen vornehmen. Sie müssen niemanden fragen, brauchen keinen Stadtplan konsultieren. Damit haben Sie Zeit und Gelegenheit, andere nicht auf „Navigation“ bezogene Informationen aufzunehmen oder auch einfach die Umweltwahrnehmung weitgehend auszuschalten und Ihren Gedanken nachzugehen. Der Fremde, der erst den Weg finden muss, wird demgegenüber aktiv nach navigationsrelevanten Informationen suchen.

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Weiteres Beispiel für Perzeptionsfilter

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Man kann also generell sagen, dass die Informationsaufnahme in einer direkten Relation zu ihrer jeweils individuellen Nützlichkeit steht, also von den aktuellen Zielen und Motiven gelenkt wird.

Bedeutung vergangener Erfahrungen

Und schließlich müssen wir auch berücksichtigen, dass die kognitiven Fähigkeiten des Menschen weit mehr zu leisten imstande sind als die bloße Auswertung aktueller Sinneswahrnehmung. Selbst dann, wenn nur sehr unzureichende Informationen vorliegen, ist der Mensch in der Lage, aufgrund früherer Erfahrungen und durch die Verwendung „praktischer Theorien“ und kognitiver Modelle richtig oder angemessen zu reagieren, Zusammenhänge oder Phänomene zu erschließen, unzureichende Wahrnehmungen zu ergänzen, zu interpretieren oder zu deuten. Hier wird also die Bedeutung früherer Erfahrungen als Teilkomponente der Kognition klar.

Die gesamte Umwelt bietet eine äußerst vielfältige Quelle möglicher Informationen. Im Kontext sozialgeographischer Überlegungen ist natürlich nur eine Teilmenge all dieser potenziell vorhandenen oder abrufbaren Informationen relevant. Es sind dies vor allem die räumlichen und die sozialen Informationselemente. Wir können sie abstrakt definieren als Menge aller Außenweltstimuli, die dem Wahrnehmenden Information über die Struktur und die Organisation der Räumlichkeit sozialer Phänomene und über soziale Phänomene generell vermitteln.

Designative Aspekte räumlicher Information: Orientierungskomponenten und attributive Komponenten

„Räumliche Informationen“ enthalten verschiedene Inhaltskomponenten. Einerseits gibt es die sogenannten „Orientierungskomponenten“ oder „Lagekomponenten“, andererseits attributive Komponenten.

Zu den Orientierungskomponenten gehören alle Wahrnehmungsinhalte, aus denen Rezipienten Wissen über Lage, Standorte und Ausdehnung von Umweltelementen ableiten können. Dazu gehören auch Informationen über räumliche Relationen von Dingen und Körpern zueinander. Dabei handelt es sich um Wissen über Distanzen, Richtungen, Areale, Verbreitungsgebiete oder Grenzen zwischen Arealen.

172

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Die attributiven Komponenten enthalten Informationen über die Eigenschaften oder Merkmale von Raumstellen. Diese beiden Aspekte zusammen bezeichnet man in der Wahrnehmungsgeographie als die „designativen Aspekte“ räumlicher Information. Die Repräsentation dieser Informationen im Bewusstsein der Rezipienten kann als designativer Aspekt der raumbezogenen Kognition bezeichnet werden.

Eine weitere Gruppe von Inhaltskomponenten raumbezogener Information bezieht sich auf Werturteile.

Appraisive/evaluative Komponenten

Man spricht hier von der „appraisiven“ oder „evaluativen“ Komponente der räumlichen Kognition. Damit werden alle kognitiven Repräsentationen von Wahrnehmungsinhalten bezeichnet, die einer subjektiven oder gruppenspezifischen Wertung zugänglich sind.

Eine ähnliche Differenzierung ist auch für soziale Elemente von Umweltinformationen möglich. Designative Aspekte verweisen auf die Struktur, die Funktionen und die Elemente sozialer Systeme, appraisive oder evaluative auf die status- oder hierarchiebezogenen Aspekte sozialer Phänomene. Für die Sozialgeographie sind natürlich ganz besonders jene Umweltinformationen von Bedeutung, die sowohl einen Raumbezug als auch einen Sozialbezug aufweisen. Ein weiterer wichtiger genereller Gesichtspunkt menschlicher Informationserfassung ist die Tatsache, dass Information über die Umwelt nicht nur durch direkte Sinneswahrnehmung beziehungsweise durch eigene Anschauung und Erfahrung gewonnen werden kann. Wir sind in der Lage, Informationen gleichsam aus zweiter Hand zu erhalten, etwa durch Kommunikation mit anderen Menschen, durch Lesen oder andere Kulturtechniken und mediale Informationstransfers. Dies gilt natürlich auch für räumliche und soziale Informationselemente. Es gibt noch eine dritte Komponente sozialräumlicher Information, die ganz besonders wichtig erscheint, aber operational sehr schwierig zu fassen ist: die Bedeutungs- oder Sinnkomponente. Ein bestimmter Raumausschnitt oder Ort ist als kognitive Struktur in der Raumvorstellung eines Individuums nicht nur durch designative und evaluative Aspekte charakterisiert, sondern im Bewusstsein eines Individuums auch noch in einem bestimmten Bedeutungs- oder Sinnkontext eingebunden (erinnern Sie sich an den Boston Common). 173

Indirekte Sinneswahrnehmung

Bedeutungs- und Sinnkomponente

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Beispiel für „Place“: Mekka

Nehmen wir als Beispiel die Stadt Mekka. Zum designativen Aspekt der Informationen gehört etwa: Mekka liegt in Saudi-Arabien, knapp 100 km von der Küste des Roten Meeres entfernt. Mekka ist eine Stadt, Mekka ist eine religiöse Stätte des Islam. Appraisive Aspekte würden mit folgenden Aussagen angesprochen: Mekka ist eine Großstadt, ist eine wichtige, eine besonders bedeutsame Stadt, Mekka ist eine schöne Stadt. Die Sinnkomponente sozialräumlicher Information wird deutlich, wenn man die Bedeutungsdifferenz betrachtet, die sich etwa zwischen einem Topographie büffelnden Schüler in Europa und einem gläubigen Muslim ergibt, der eine Pilgerfahrt nach Mekka vorhat. In der englischsprachigen Fachliteratur gibt es zur Charakterisierung dieses Sinnaspekts raumbezogener kognitiver Konstrukte einen eigenen Fachausdruck, nämlich „Place“.

„Place“ bezieht sich gleichsam auf das materielle Substrat sinnbehafteter räumlicher kognitiver Konstrukte. Unter „Place“ versteht man also konkrete Orte oder Gebiete, die für ein bestimmtes Individuum oder eine bestimmte soziale Gruppe in einem emotional definierbaren und meist durch ein Gefühl der Zuneigung charakterisierten Sinnkontext stehen.

9.2.3. Mental Maps Mental Maps: geistige Repräsentation raumbezogener Umweltinformation

Zur wissenschaftlichen Erfassung und Darstellung von raumbezogenen Kognitionen wird in der einschlägigen sozialgeographischen Fachliteratur ein sehr prominenter Begriff verwendet, den die Leser sicher schon oft gehört haben, nämlich „Mental Map“ oder „kognitive Karte“. Er wird in der verhaltenswissenschaftlichen Geographie, aber auch in der Umweltpsychologie eingesetzt und bezieht sich auf die geistige Repräsentation raumbezogener Umweltinformation. Die gedanklichen Aktivitäten, die zur Ausbildung oder Entstehung von kognitiven Karten führen, bezeichnet man als „kognitives/mentales Kartieren“, englisch: „cognitive mapping“. Inhaltlich umfassen Mental Maps prinzipiell alle drei Aspekte raumbezogener Informationen: designative, evaluative und sinnbezogene. Gelegentlich finden sich aber auch Verwendungsweisen, bei denen vor allem die Orientierungsoder Lagekomponente im Vordergrund steht.

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

In einer einfachen Formulierung versteht man unter einer „Mental Map“ 1.) individuelle und kollektive Vorstellungsinhalte über bestimmte räumliche Gegebenheiten; 2.) die symbolische Darstellung dieser Vorstellungsinhalte in Kartenform.

Im ersten Teil dieser Explikation geht es also um die Frage der Transformation materieller Raumstrukturen in subjektive oder kollektive Vorstellungsbilder, wobei sowohl der dabei ablaufende mentale Prozess als auch das Ergebnis dieses Prozesses interessieren. Im zweiten Teil geht es um die Projektion solcher Denkinhalte in eine Karte. Eine der ersten Arbeiten in der Geographie, die den Begriff der Mental Maps thematisierte und inhaltlich ausführlich erörterte, war eine kleine Monographie des Amerikaners Peter R. Gould aus dem Jahr 1966, die aus einem Vortragstext hervorgegangen war. Das Buch hat den lakonischen Titel „On Mental Maps“. Als Motto wird auf Seite 1 des Textes eine Frage zitiert, die sich in einem Buch von Luigi Barzini mit dem Titel „The Italians“ (1965) findet: „Can geography be mixed up with psychology … ?“ Ideengeschichtlich gesehen gibt es zwei wichtige Quellen für das Eindringen des Konzepts der Mental Maps in die Geographie. Die erste grundlegende Arbeit, die von Sozialgeographen rezipiert wurde, war eine überaus anregende Studie des Architekten Kevin Lynch, die 1960 unter dem Titel „The Image of the City“ erschien. Lynch befasste sich unter anderem mit der „Lesbarkeit“ von Stadtgestalten, also der Frage der Klarheit und Leichtigkeit, mit der einzelne Teile einer Stadt als zusammenhängende Muster und Strukturen mental erfasst werden können. Wir werden uns mit diesem Klassiker noch beschäftigen. Ein zweiter Klassiker, in dem der Begriff „Mental Map“ in die Literatur eingeführt wurde, stammt vom Psychologen E. C. Tolman. In einem Artikel aus dem Jahr 1948 schrieb er über „Cognitive Maps in Rats and Men“. Diese Quelle wurde von der Sozialgeographie erst relativ spät zur Kenntnis genommen. Als dritter Meilenstein, der für die Entwicklungsgeschichte der Mental-Map-Forschung bedeutsam wurde, auch wenn das Werk ebenfalls erst relativ spät rezipiert wurde, ist ein Buch des Ökonomen, Philosophen und Sozialwissenschaftlers Kenneth Boulding aus dem Jahr 1956 mit dem Titel „The Image“ zu nennen. Sehen wir uns kurz die Ergebnisse von Tolmans berühmtem Ratten-Experiment an. Tolman verwendete als Versuchsanordnung ein Labyrinth (vgl. Abb. 34). Eine hungrige Ratte wurde an den Ausgangspunkt a gesetzt. In der Kiste b wurde Futter deponiert. Nach vielen Versuchen erreichte das 175

Gould: „On Mental Maps“

Lynch: „The Image of the City“

Tolman: „Cognitive Maps …“ – Rattenexperiment

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Abbildung 34: Versuchsanordnung 1 beim Rattenexperiment von E. C. Tolman Quelle: E. C. Tolman, 1948, Cognitive Maps in Rats and Men; zitiert nach R. M. Downs und D. Stea, 1982, S. 56.

Abbildung 35: Versuchsanordnung 2 beim Rattenexperiment von E. C. Tolman Quelle: E. C. Tolman, 1948, Cognitive Maps in Rats and Men; zitiert nach R. M. Downs und D. Stea, 1982, S. 57.

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Tier durch den Gang d das Ziel. Diese Prozedur wurde mit der gleichen Ratte vier Nächte lang dreimal pro Nacht wiederholt. Dann hatte die Ratte gelernt, direkt und ohne Zögern oder Abweichung von a nach b zu laufen. Der Versuch wurde mit einer größeren Anzahl von Ratten wiederholt. Dann wurde die Situation für die Tiere völlig umgestaltet. Die Ratten wurden nun mit einem völlig veränderten Labyrinth konfrontiert (Abb. 35). Der Einstieg in das Labyrinth und der Kreis hatten die gleiche Form und Position wie in der ersten Versuchsanordnung. Die Ratten waren aber nun mit 6 kurzen und 12 langen Gängen konfrontiert. Keiner dieser neuen Wege stimmte in Form und Lage mit dem ursprünglichen Gang überein. Der Eingang in der Position des ursprünglichen Ganges endete blind. Die Futterkiste wurde entfernt.Was würden die Tiere nun tun? Jedes der Versuchstiere lief zunächst zielstrebig in den (nun versperrten) Gang d, dann zurück zum Kreis.Von hier aus wurden die meisten anderen Gänge jeweils ein kurzes Stück untersucht. Schließlich wurde einer der Gänge ganz durchlaufen. Wenn man sich nun die Häufigkeit ansieht, mit der die Tiere die verschiedenen Pfade für den vollständigen Durchlauf auswählten, ist ein sehr erstaunlicher Befund festzuhalten. Der mit weitem Abstand beliebteste Gang war die Nummer 6. Dieser Pfad verlief genau in die Richtung, in der sich ursprünglich die Futterkiste befunden hatte. Immerhin 35 % der Versuchstiere wählten diesen Gang für ihren ersten vollständigen Durchlauf aus. Das Experiment lässt die Interpretation zu, dass die Tiere offensichtlich so etwas wie eine Raumvorstellung oder ein Orientierungskonzept entwickelt hatten.Wir kennen solche Orientierungsphänomene bei einer ganzen Reihe von Tierarten. Bekannt sind sie etwa bei Zugvögeln, man spricht hier von „Taxien“. Besonders gut untersucht (durch die Arbeiten von Karl von Frisch) ist die Orientierungsfähigkeit von Bienen, die sogar imstande sind, Distanz und Entfernung von Honigweiden anderen Arbeitsbienen mithilfe von „Rund- und Schwänzeltänzen“ mitzuteilen. Erstaunlich an Tolmans Rattenexperimenten ist aber zweifellos, dass hier kurzfristige Lernprozesse über Lagerelationen und Richtungsverhältnisse zum Ausdruck kommen. Tolman interpretierte seine Befunde so, dass er glaubte, auf die Existenz „kognitiver Karten“ bei den Versuchstieren schließen zu dürfen. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurde die Mental-Map-Forschung in der Sozialgeographie und der Umwelt- und Kognitionspsychologie sehr intensiv ausgebaut. Übereinstimmende Ausgangshypothese dieser Forschungen waren folgende Annahmen:

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Taxien

Ausgangshypothesen der Mental-MapForschung

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Menschen haben in ihrem Bewusstsein ein Vorstellungsbild der Wirklichkeit verfügbar, das in hohem Maße subjektiv gefärbt ist und ein verzerrtes, schematisiertes, mit Zusätzen versehenes und andererseits unvollständiges Abbild oder Vorstellungsbild der Realität darstellt. Dieses Vorstellungsbild entsteht im Verlaufe der Psychogenese durch die Prozesse der Sozialisation und Enkulturation und wird im Rahmen einer aktiven Interaktion mit der Umwelt erworben. Es kann im Zeitverlauf durch Lernen verändert werden. Dieses „Bild“ der Wirklichkeit ist nach subjektiven und kulturspezifisch gefärbten kognitiven Dimensionen der Welterfahrung strukturiert und besteht aus all den unterschiedlichen Vorstellungsinhalten, die wir zur Beschreibung der lebensweltlichen Realität verwenden. Mental Maps sind auf die lebensweltlichen Sinnzusammenhänge alltagspraktischer Erfahrungen bezogen. Diese besitzen immer auch „räumliche“ oder auf „Räumlichkeit“ bezogene Elemente, verwenden zur Konzeptualisierung von Welt also Lage- und Orientierungsinformationen sowie Hinweise auf die Lagerelationen in der Dingund Körperwelt. Der gesamte Prozess dieser Modellbildung und sein Ergebnis wird als „Umweltkognition“ („environmental cognition“) bezeichnet.

Kognitive Kartierung

In einer etwas künstlichen und übergeneralisierenden Typisierung fasst man nun alle Modellbestandteile, die Lage- und Orientierungsinformationen beinhalten, unter dem Begriff „kognitive Kartierung“ („spatial cognition“, „cognitive mapping“) zusammen. Unter „kognitiver Kartierung“ versteht man jene Teilmenge von Vorstellungsinhalten über die Umwelt, die sich auf die Lage und die Standortattribute von lebensweltlichen Phänomenen beziehen. Das dabei entstehende und dem Subjekt als Erinnerung verfügbare „kognitive Produkt“ bezeichnet man als „Mental Map“ (kognitive Karte). Wir können uns leicht vorstellen, dass gerade die Geographen damals von dieser Modellvorstellung, dieser Metapher einer kognitiven Karte, besonders fasziniert waren und dankbar von den Psychologen übernahmen. Roger M. Downs (Geograph) und David Stea (Psychologe) haben den Prozess des kognitiven Kartierens in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1973 folgendermaßen umschrieben: 178

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

A process “… composed of a series of psychological transformations by which an individual acquires, codes, stores, recalls and decodes information about the relative locations and attributes of phenomena in his everyday spatial environment …” R. M. Downs und D. Stea, 1973, S. 9 (Hervorhebung P. W.) Im Jahr 1977 haben diese beiden Autoren ein Lehrbuch mit dem Titel „Maps in Minds“ veröffentlicht. Dieser Klassiker der Wahrnehmungsgeographie wurde von Robert Geipel 1982 in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen“ herausgegeben. Hier wird der Begriff „kognitives Kartieren“ wie folgt umschrieben: „Kognitives Kartieren ist ein abstrakter Begriff, welcher jene kognitiven oder geistigen Fähigkeiten umfasst, die es uns ermöglichen, Informationen über die räumliche Umwelt zu sammeln, zu ordnen, zu speichern, abzurufen und zu verarbeiten. Diese Fähigkeiten ändern sich mit dem Alter (oder der Entwicklung) und dem Gebrauch (oder Wissen).“ R. M. Downs und D. Stea, 1982, S. 23. Kognitives Kartieren wird also als Tätigkeit, als Prozess verstanden. Dieser prozessuale Charakter wird klarer, wenn wir uns überlegen, in welchen alltagsweltlichen Lebenssituationen wir diese Tätigkeiten oder Fertigkeiten einsetzen. Beispiele wären hier etwa: – ein Kind, das den Weg Schule – Wohnung kennenlernt – die Planung eines Ausflugs – Suche einer optimalen Route für einen kombinierten Einkaufsausgang – Orientierung in einer fremden Stadt – Ablegen einer Taxifahrerprüfung – Suche einer neuen Wohnung etc. Das Endprodukt dieses Prozesses, die kognitive Karte, ist damit als zweckspezifisch organisierte Repräsentation eines bestimmten Raumes zu definieren. Eine derartige Karte kann man spontan reproduzieren, wenn man etwa einem Freund, der noch nie im eigenen Wohnort war, den Weg von der Bushaltestelle zur eigenen Wohnung erklärt. Wenn man das tut, wird man gleichsam vor dem „inneren Auge“ die Wegstrecke in vielen einzelnen Details tatsächlich „sehen“. 179

Zweckbezogenheit von Mental Maps

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Selektive und verzerrte Mental Maps

Spezifische Handlungskontexte von Mental Maps

Da Mental Maps zweckbezogen sind und die Wirklichkeit überdies so wiedergeben, wie das jeweilige Subjekt glaubt, dass der betreffende Raumausschnitt aussieht, sind Mental Maps natürlich keine korrekten und eindeutigen Abbilder der Wirklichkeit.Wir können von vornherein annehmen, dass sie in höchstem Maße verzerrt und selektiv sind. Es ist auch sofort einzusehen, wodurch diese Verzerrungen entstehen. Wenn man bestimmte Einkaufsmöglichkeiten beschreiben soll, dann kann eine erhebliche Verzerrung oder Ungenauigkeit bereits dadurch entstehen, dass man gar nicht alle einschlägigen Geschäfte kennt. Eine erste Fehlerquelle ist demnach unzureichende Information, fehlende Kenntnis über reale Gegebenheiten.Weitere Verzerrungen ergeben sich durch die Fehleinschätzung von Distanzen oder Wegzeiten. Man glaubt, ein bestimmter Standort liegt außerhalb einer aus der Zwecksetzung definierbaren Aktionsreichweite, und schließt ihn aus, obwohl er in Wahrheit leichter erreichbar wäre als der Alternativstandort. Weitere besonders gravierende Verzerrungsmöglichkeiten ergeben sich aus Vorurteilen. Man kann beobachten, dass Menschen gegenüber bestimmten Gebieten oder Orten positive oder negative emotionale Einstellungen haben. Dies wird sich auf die kognitive Konzeption des betreffenden Gebietes auswirken. Besonders bedeutsam ist die bereits angesprochene Tatsache, dass Mental Maps zweckbezogene Konstrukte darstellen und jeweils auf spezifische Handlungskontexte relativiert sind. In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass Menschen vom gleichen Raumausschnitt gleichsam mehrere unterschiedliche Mental Maps besitzen, die jeweils auf unterschiedliche Lebenssituationen bezogen sind. Eine für Freizeitaktivitäten bedeutsame Mental Map einer bestimmten Stadt wird völlig anders aussehen als eine kognitive Karte, die sich auf Wohnsitzpräferenzen oder das Einkaufen bezieht. In dem schon besprochenen Lehrbuch von Jakle, Brunn und Roseman (1976) werden Mental Maps deshalb auf folgende Weise definiert: “… the mental image or construct that people use to remember or anticipate activity in geographical space” (S. 305, Hervorhebung P. W.). Es ist natürlich nicht ganz einfach, solche kognitiven Konstrukte empirisch und erhebungstechnisch in den Griff zu bekommen. Es handelt sich um ein komplexes geistiges Gebilde, das auch noch unbewusste Elemente enthält, mit Gefühlswerten verbunden ist und in der Privatheit subjektiver Bewusstseinsströme gleichsam versteckt ist. Wie bekommt man also diese komplexen raumbezogenen Bewusstseinsinhalte gleichsam aus dem menschlichen Kopf heraus und in die Arbeitsunterlagen des Wissenschaftlers? Diese methodische und erhebungstechnische Frage hat die Sozialgeographen der 1970er-Jahre sehr stark beschäftigt. Wir werden auf diese methodischen Aspekte später noch etwas genauer eingehen. Einstweilen nur ein kurzer Hinweis: Beim Versuch, Mental Maps von Individuen zu rekonstruieren, hat man immer wieder auf die Möglichkeit zurückgegriffen, die 180

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Raumvorstellung von Versuchspersonen von diesen selbst zeichnerisch darstellen zu lassen. Man forderte die Probanden dabei auf, einfach eine Skizze von einer bestimmten räumlichen Situation zu machen und die subjektiven Vorstellungen mit einem Stift zu Papier zu bringen. Nun setzt diese Form der freien Skizze natürlich ein erhebliches zeichnerisches Geschick der Probanden voraus. In Wirklichkeit misst man also mit dieser Methode weniger irgendwelche „Raumvorstellungen“, sondern vor allem die graphischen Fähigkeiten der Versuchspersonen. Der Einfluss einer „Fremddimension“ ist hier also extrem groß. Man versuchte, dieses Problem durch den Einsatz sogenannter „gebundener“ graphischer Erhebungstechniken zu lösen. Dabei werden den Probanden Umrissskizzen von bestimmten räumlichen Situationen oder Karten und Stadtpläne vorgelegt, in welche dann Eintragungen gemacht werden sollen. Daneben wurden dann auch indirekte Verfahren eingesetzt, bei denen man auf graphische Darstellungen verzichtete und den Versuch unternahm, die Raumvorstellungen auf dem Umweg über sprachliche Aussagen zu rekonstruieren. Die graphischen Versionen hatten aber jedenfalls den Vorteil, bestimmte generelle Charakteristika von Mental Maps zu veranschaulichen, und sie besitzen auch didaktische Vorzüge. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass sich Mental Maps mit zunehmender Erfahrung erheblich verändern können. Sie sind also auch ein Produkt des räumlichen Lernens und stehen in Zusammenhang mit der generellen Entwicklung intellektueller Fähigkeiten und Fertigkeiten. Besonderes Interesse fand die Ausdifferenzierung dieser Fähigkeit im Rahmen der Entwicklung von Kindern. Die Forschungen zu diesem Thema stützen sich vor allem auf einen speziellen Zweig der Psychologie, nämlich die Entwicklungspsychologie, und berücksichtigen spezielle Theorien der kognitiven Entwicklung des Menschen vom Embryo zum Erwachsenen. Besonders wichtig waren hier die Untersuchungen des Psychologen Jean Piaget. Er hatte bereits 1929 ein auch für diese Fragestellung grundlegendes Werk veröffentlicht: „The Child’s Conception of the World“. 1956 (Deutsch 1971) publizierte er gemeinsam mit B. Inhelder ein Buch mit dem Titel „The Child’s Conception of Space“. Die Theorien Piagets und seiner Mitarbeiter wurden besonders durch den amerikanischen Psychologen G. T. Moore weiterentwickelt. Hier ist etwa ein gemeinsam mit dem Geographen Reginald G. Golledge 1976 herausgegebener Band mit dem Titel „Environmental Knowing“ zu nennen. In diesem Band findet sich ein Aufsatz von Moore mit dem Titel „Theory and Research on the Development of Environmental Knowing“. Erwähnenswert ist auch ein Übersichtsartikel von R. A. Hart und G. T. Moore aus dem Jahr 1973 mit dem Titel: „The Development of Spatial Cognition: A Review“. Wir können auf die Konzepte und Ergebnisse dieser Forschungen hier nicht näher eingehen, sondern wollen nur einige wenige Gesichtspunkte andeuten. 181

Entwicklung von Mental Maps mit Erfahrungszunahme

Literatur zur Entwicklungspsychologie

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Entwicklung räumlicher Kognition

Die Fähigkeit zur Raumwahrnehmung, zur Raumvorstellung und zur Bildung räumlicher Denkkategorien ist wahrscheinlich nicht angeboren und entsteht erst durch die aktive Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Umgebung. Räumliche Kognition entwickelt sich dabei Hand in Hand mit der generellen kognitiv-intellektuellen Entwicklung des Kindes. Unter Verweis auf Piaget haben Autoren wie Moore darauf hingewiesen, dass es so etwas wie „Schemata“ gebe, die gleichsam als kognitive Modelle der Umwelt anzusehen seien. Sie werden im Verlaufe der individuellen Entwicklung erarbeitet und im Handeln und Interagieren mit der Außenwelt im Zeitverlauf verändert. Dabei werden die einfacheren Schemata in der frühen Kindheit mit Fortschreiten der kognitiven Fähigkeiten später durch komplexere Schemata ersetzt. Man nimmt an, dass die kognitive Entwicklung des Menschen nach einer Folge von Stufen abläuft, die im Durchschnitt ungefähr im gleichen Alter von Kindern auftreten. Piaget unterscheidet drei solcher Stufen oder Stadien. Die erste nennt er die sensomotorische Phase. Sie reicht zeitlich von der Geburt bis etwa zum Ende des zweiten Lebensjahres. In dieser Phase kann sich das Kind Gegenstände nur auf dem Weg über konkretes Handeln, Berühren, Körperkontakte und körperliche Interaktion vorstellen. Es entwickeln sich einfachste Schemata des Objekterkennens, die nur auf Gegenstände der unmittelbaren Nahumgebung bezogen sind. In dieser Phase besitzt das Kind einen völlig egozentrischen Raumbegriff. Distanzen und Richtungen können nur sehr eingeschränkt realisiert und wahrgenommen werden, ein abstrakt-konzeptionelles Raumverständnis fehlt noch. Raumstrukturen ergeben sich vor allem aus der Interaktion mit der Mutter. Sie ist die absolute Bezugsgröße für Richtungs- und Distanzwahrnehmung. Die zweite Entwicklungsstufe ist die präoperationale Phase. Sie dauert etwa vom Ende des zweiten bis zum siebten Lebensjahr. Hier beginnen sich Vorstellungen zu entwickeln, die dem topologischen Raumverständnis entsprechen: Es werden räumliche Relationen, wie „vor“, „hinter“, „dazwischen“, „näher“, „weiter weg“, „links“, „rechts“, „oben“, „unten“ etc., erfasst und kognitiv bewältigt. Phase drei wird als konkret operationale Phase bezeichnet. Sie dauert vom siebten bis etwa zum elften Lebensjahr. Hier entwickelt das Kind langsam die Fähigkeit, Raumbegriffe auch unabhängig vom eigenen Handeln zu erfassen. Aber die Denkoperation der Abstraktion ist noch nicht voll entwickelt. Dies tritt erst in der vierten, der formal operationalen Phase auf. Nun entwickelt sich die Fähigkeit zu

Sensomotorische Phase

Präoperationale Phase

Konkret operationale Phase Formal operationale Phase

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

abstrakten Raumvorstellungen ohne Verknüpfung mit konkreten Tätigkeiten oder konkreten Objekten. Jetzt können auch abstrakte Konzepte und Schemata wie räumliche Koordinatensysteme, relative Lage und ähnliche kognitive Strukturen verstanden und in Denkmodellen verwendet werden. Ab dem zweiten Lebensjahr, in der präoperationalen Phase, lernt das Kind, mit relationalen Raumvorstellungen umzugehen. Es hat gelernt, mit topologischen Prinzipien zu operieren. Damit stehen Schemata zur Verfügung, die qualitative räumliche Beziehungen wie Nähe/Ferne, Trennung, Reihenfolge, Anordnung, räumliche Offenheit oder Geschlossenheit zum Ausdruck bringen. Etwas später, aber noch in der gleichen Phase, wird die projektive Raumvorstellung ausgebildet. Das Kind ist nun imstande, relative Lagebeziehungen und räumlich gerichtete Strukturen projektiv zu verändern und umzudeuten. Es ist damit fähig, Perspektiven zu erfassen oder die räumliche Lage von Dingen unter verschiedenen Blickpunkten zu erkennen. So kann das Kind etwa abschätzen, was eine ihm gegenüber sitzende Puppe „sieht“. Die euklidische Raumvorstellung entwickelt sich etwa ab dem Alter von vier Jahren. Das Kind erfasst langsam die Konzeption des metrischen Raumes. Damit werden metrische Distanzkonzepte handhabbar. Der Raum ist nicht mehr ausschließlich egozentrisch konzipiert. Ein Beispiel für die begrenzte Fähigkeit des Navigierens von kleineren Kindern in der präoperationalen und zum Teil noch in der konkret operationalen Phase ist in Abbildung 36 erkennbar. Rekapitulieren wir nach den bereits herausgearbeiteten Altersphasen nochmals die generelle intellektuelle Entwicklung nach Piaget (Abb. 37): Von der sensomotorischen Phase im Kleinkindalter geht die Ausdifferenzierung über die präoperationale zur konkret operationalen und schließlich ab etwa elf Jahren zur formal operationalen Phase. Parallel dazu entwickeln sich die Raumkonzepte: der sensomotorische Raum, der im direkten Körperkontakt erfahren wird, der präoperationale Raum, der konkret operationale Raum und der formal operationale Raum, in dem metrische Eigenschaften und Relationen sowie die Handhabbarkeit des Koordinatensystems erfahrbar sind. Es kann auch bezüglich der Wahrnehmung und intellektuellen Bewältigung räumlicher Beziehungen eine ähnliche Entwicklungssequenz angenommen werden. Während in der Kleinkindphase auch die räumlichen Relationen primär durch die Mutter-Kind-Dyade definiert sind, kann das Kind sehr bald topologische Beziehungen zwischen Dingen erfassen. Ab etwa drei bis vier Jahren entwickelt sich die Fähigkeit, einfache perspektivische Zusammenhänge und damit den projektiven Raum zu bewältigen. 183

Relationale Raumvorstellung

Die Altersphasen

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 36 Der Weg nach Hause Quelle: J. A. Jakle, S. Brunn und C. C. Roseman, 1976, S. 77 Lernprozesse von Erwachsenen/ Mikrogenese räumlicher Kognition

In der letzten Entwicklungsstufe lassen sich räumliche Relationen dann schon als euklidischer und metrischer Raum erfassen. Wesentlich schwieriger zu verallgemeinern sind räumliche Lernprozesse von Erwachsenen, die etwa aus einer gewohnten Umgebung abwandern und genötigt sind, nach einer Übersiedlung in eine andere unbekannte Stadt eine völlig neue räumliche Umwelt kennenzulernen (Mikrogenese räumlicher Kognition). Man nimmt an, dass auch beim räumlichen Lernen neuer Umgebungen durch Erwachsene zumindest formale Ähnlichkeiten mit den Entwicklungsstufen der raumbezogenen Kognition bei Kindern bestehen. Das Bild der neuen Umgebung wird zunächst eine stark egozen-

Zusammenfassung Die Ergebnisse der Arbeiten zur Entwicklung der räumlichen Kognition, wie sie von Piaget, Moore oder Hart vorgelegt wurden, lassen sich auf folgende Weise zusammenfassen. Grundsätzlich ist dabei festzuhalten, dass Phylogenese, Ontogenese und Mikrogenese ähnliche und vergleichbare Entwicklungsstrukturen aufweisen. (Phylogenese ist die stammesgeschichtliche Entwicklung der Spezies, Ontogenese die Entwicklung des Einzelindividuums und Mikrogenese wäre die Entwicklung eines spezifischen Kognitionsprozesses, wenn man etwa als Erwachsener eine neue Stadt oder eine unbekannte Gegend kennenlernt und kognitiv zu bewältigen hat.)

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Die Entwicklung verläuft generell vom Konkreten zum Abstrakten und vom Egozentrismus zum Perspektivismus. Steht also am Anfang der kognitiven Ausdifferenzierung das konkrete Ding, kann man mit fortlaufender Entwicklung der intellektuellen Fähigkeiten immer stärker vom Konkreten abstrahieren. Andererseits kann die Ich-Zentriertheit immer stärker in Richtung auf die Fähigkeit zu einem perspektivischen Denken aufgelöst werden.

Ontogenese, Phylogenese, Mikrogenese ABSTRAKT

EGOZENTRISMUS

PERSPEKTIVISMUS

Räuml. Beziehungen

Raum- Generelle konintellektuelle zept Entwicklung

KONKRET

Mittlere Kindheit

Adoleszenz

Präoperationale Phase

Konkret operationale Phase

Formal operationale Phase

p-o Raum

k-o Raum

f-o Raum

Kleinkind

Vorschulalter

Sensomotorische Phase

s-m Raum (Mutter-KindDyade)

Topologischer Raum Projektiver Raum Euklidischer/metrischer Raum

trische Komponente aufweisen. Es entwickelt sich also relativ rasch ein sehr selektives Bild, das direkt auf die Standorte der persönlichen Aktivitäten ausgerichtet ist und sich gleichsam am aktuellen Handlungskontext orientiert. Die nächste Umgebung des neuen Wohnstandortes (Hotels) wird in ihren Lagebeziehungen und Attributen erfasst, zusätzlich auch die nähere Umgebung des neuen Arbeitsortes und wahrscheinlich auch des Bahnhofes oder der Einfallstraße, auf der man den Wohnstandort erreicht hat. Es bildet sich also ein kognitives „Raum-Gerüst“ heraus, das auf die Schauplätze des aktuellen Handelns und die Verbindungslinien zwischen ihnen beschränkt ist. Dabei bestehen wesentliche Unterschiede im Detailreichtum aufgrund der jeweils verwendeten Fortbewegungsmittel. Man könnte dieses kognitive Gerüst als wenig ausdifferenziertes System von Knoten (Einzelschauplätzen), Kanten (Verbindungslinien) und Attributen darstellen. 185

Abbildung 37: Die Entwicklung der räumlichen Kognition Quelle: J. R. Gold, 1980, Fig. 5.3., S. 69, verändert

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

„Activity Space“

Attributive Komponenten der Raumvorstellung

Die Orientierung erfolgt zunächst über symbolische Repräsentationen von Ortsbeziehungen, also über Straßen- und Viertelsnamen bzw. Gebäudebezeichnungen. Man hat noch kein Gefühl für reale Distanzen, die Navigation erfolgt primär nach topologischen Kriterien („dritte Straße links abbiegen“). Die Bereiche zwischen den Aktivitätsstandorten sind anfangs noch völlig ausgeblendet, mögliche Wegabkürzungen werden noch nicht wahrgenommen. (Erinnern Sie sich an die Abbildung 36 „Der Weg nach Hause“.) Erst nach mehrmaligem Besuch des gleichen Gebietes und dem Wiedererkennen von Routen beginnen bauliche Gegebenheiten ein stärkeres Gewicht zu erhalten, man erinnert sich an Richtungsänderungen und Lagerelationen und schließlich stellt sich eine präzisere Erfassung von Entfernungen ein. Das Wiedererkennen ermöglicht es, markante Landmarken wie Kirchtürme, Hochhäuser oder Hügel und Stadtberge, aber auch Flüsse, Brücken oder wichtige Straßenzüge als fixe Bezugspunkte zu verwenden. Sie dienen gleichsam als Orientierungsraster, die für das „Einklinken“ oder Vernetzen neuer räumlicher Informationen nutzbar gemacht werden können. Durch Ausweitung der Aktivitäten im Zeitverlauf und auch durch geplante „Erkundungs- oder Orientierungsgänge“ werden die zunächst linear (also entlang von Wegstrecken) erfassten räumlichen Vorstellungen zunehmend miteinander verknüpft. Es stellt sich damit ein stärker flächenhaftes Verständnis der räumlichen Relationen ein, wobei natürlich Aussichtspunkte die Kenntnis beschleunigen. Dabei sind die erwähnten Landmarken sehr wichtig, da sie die Abschätzung von Winkeln und Luftliniendistanzen ermöglichen. Dies erlaubt dann auch eine annähernde Rekonstruktion der „weißen Flecken“ zwischen den bekannten Routen. Die reinen Lagebeziehungen werden also relativ rasch erfasst und können als kognitives Raster gut gespeichert werden. Dabei kommen aber meist erhebliche Fehleinschätzungen von Distanzen und Richtungen vor. Eine exaktere Vorstellung der euklidischen Geometrie der Stadt ist erst nach geraumer Zeit verfügbar, und zwar nur für jene flächenmäßig eher kleineren Gebiete, in denen die alltäglichen Lebensroutinen ablaufen („Activity Space“). Ähnlich selektiv entwickeln sich die attributiven Komponenten der Raumvorstellung. Dazu gehören die verschiedenen Nutzungsmöglichkeiten und ihre Qualität oder Quantität. Man weiß relativ rasch, wo ein bestimmter Stadtteil liegt, wie man dort hinkommt, und welche Einrichtungen man dort findet, nämlich jene, die einen interessieren, die man selbst nutzen oder aufsuchen könnte. Wie dieser Stadtteil aber als Gesamtheit aussieht, welche anderen Einrichtungen oder Nutzungsmöglichkeiten dort situiert sind und welche Aktivitätspotenziale dort noch realisierbar wären, bleibt ausgeblendet, zumindest so lange, bis man sich durch bewusste Exploration oder konkrete Tätigkeiten mit dem betreffenden Gebiet näher auseinandersetzt. 186

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Sehr wichtig sind hier Lerneffekte. Das einmalige Kennenlernen genügt für eine genauere Raumvorstellung nicht. Selbstverständlich kann bei der räumlichen Kognition in starkem Maße auch Information aus zweiter Hand genutzt werden. Berichte von Freunden, Hinweise in Zeitungen, Berichterstattung in anderen Medien helfen, die bereits vorhandene Information zu verdichten und zu erweitern. Ausdrücklich anzumerken ist das Faktum, dass Navigation und Orientierung in bestimmten Gebieten einfach sind und leichter vonstatten gehen als in anderen. In manchen Städten kann man sich relativ rasch orientieren, in anderen ist das wesentlich schwieriger. In einer Stadt wie Salzburg oder Innsbruck findet man sich relativ rasch zurecht, in München oder in Osnabrück dauert die Ausbildung einer verlässlichen kognitiven Raumvorstellung wesentlich länger. Das ist weniger eine Frage der Stadtgröße, sondern jener Eigenschaft, die Kevin Lynch (1960) als „legibility“ (Lesbarkeit) bezeichnet. Damit ist gleichsam die „Gestaltqualität“ räumlicher Strukturen gemeint, ihre Eigenschaft, mit prägnanten Landmarken und einprägsamen baulichen Strukturen der kognitiven Erfassung entgegenzukommen.

„Legibility“

9.2.4. Einige empirische Beispiele der Mental-Map-Forschung

Eine der einfacheren Fragestellungen, die schon frühzeitig in der MentalMap-Forschung in Zusammenhang mit den rein designativen Orientierungsaspekten behandelt wurden, ist die Untersuchung der Distanz- und Richtungswahrnehmung. Menschliche Aktivitäten sind in der Regel mit Navigationsproblemen verbunden. Je stärker die Differenzierung der Arbeitsteiligkeit fortgeschritten ist, desto stärker sind die Nutzungspotenziale im Raum verstreut und desto eher wird man genötigt sein, bestimmte Aktivitäten an unterschiedlichen Standorten durchzuführen. Das bedeutet, dass man die Distanzen zwischen diesen Standorten überwinden muss, und dazu ist es notwendig, sich zu orientieren. Natürlich ist die Orientierungsfähigkeit im Zuge der stammesgeschichtlichen Entwicklung entstanden. Für Jäger und Sammler ist diese Fähigkeit lebensnotwendig. Der Mensch benötigt also Mittel,Verfahren, Methoden und Algorithmen, um seine Position im Raum mit den Standorten der von ihm intendierten Aktivitäten in Übereinstimmung zu bringen. Diese Notwendigkeit der räumlichen Orientierung setzt unter anderem voraus, dass man einigermaßen exakt Distanzen und Richtungen abschätzen kann. Die Untersuchung dieser beiden Dimensionen der Raumwahrnehmung setzte bereits um die Jahrhundertwende ein. Sehr bald stellte sich als gut abgesichertes Ergebnis dieser Forschungen heraus, dass der Mensch vor allem am Beginn seines räumlichen Lern- und Orientierungsprozesses ein stark egozentrisch ausgerichtetes kognitives Referenzsystem entwickelt, bei dem der eigene Körper gleichsam als materieller Mittelpunkt der Welt konzipiert ist. Dieses egozentrische Modell entspricht keineswegs einem euklidisch-metrischen Raumverständnis. 187

Das egozentrisch ausgerichtete kognitive Referenzsystem

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Richtungs- und Distanzwahrnehmung

Beispiel für ein Orientierungssystem: das Raumsystem der Alfuren

Bedeutsame Erkenntnisse erbrachten dabei auch Arbeiten der Anthropologie über die Richtungs- und Distanzwahrnehmung in vorindustriellen Gesellschaften. Übereinstimmendes Ergebnis verschiedenster Untersuchungen ist die Erkenntnis, dass zahlreiche alters-, erfahrungs- und kulturspezifische Unterschiede der Richtungsfindung und Richtungswahrnehmung existieren. Dabei zeigte sich, dass euklidische und kompassähnliche Orientierungssysteme keine notwendige Voraussetzung für eine korrekte Navigation im Raum darstellen. Untersuchungen an Studenten, die einen neuen Studienort gewählt haben, zeigen, dass der weitaus überwiegende Teil der Probanden nach sechs Wochen noch nicht imstande war, die Haupthimmelsrichtungen anzugeben. Dennoch konnten sie ohne Probleme konkrete Routenverläufe beschreiben und sich in der Stadt gut zurechtfinden. Eine „absolute“ oder objektive Orientierungsfähigkeit ist offensichtlich in lebensweltlichen Handlungssituationen weniger bedeutsam als eine auf konkrete Aktionsräume bezogene relative Richtungs- und Distanzvorstellung. Auch bei derartigen einfachen Problemstellungen ergeben sich eine Reihe methodischer oder erhebungstechnischer Schwierigkeiten. So stellt sich etwa die Frage, ob man bei der Distanzwahrnehmung Luftliniendistanzen, konkrete Weglängen oder Wegzeiten abfragen soll. Die Distanzwahrnehmung wird natürlich auch mit der Wahrnehmung der erforderlichen Reisezeiten in Zusammenhang stehen. David C. Canter und Stephan Tagg haben in einer Arbeit aus dem Jahr 1975 die Distanzwahrnehmung von Benutzern der Londoner U-Bahn untersucht. Dabei wurden Bewohner in der Umgebung von U-Bahnstationen gebeten, Reisezeiten und metrische Distanzen zwischen Paaren von Stationen zu schätzen. Die Ergebnisse waren einigermaßen erstaunlich. Es zeigte sich nämlich, dass Distanzen wesentlich besser geschätzt werden konnten als die Reisezeiten. Die Autoren leiten daraus den Schluss ab, dass die kognitive Repräsentation von räumlichen Distanzen beim Menschen realitätsangemessener sei als die Repräsentation von zeitlichen Erstreckungen. Als Beispiel für ein Orientierungssystem, das sich von unserem westlichen euklidischen Koordinatensystem wesentlich unterscheidet, sei das Raumsystem der Alfuren angeführt. Dagmar Reichert berichtet darüber in einem Artikel von 1996. Die Alfuren leben auf der Insel Seram (Ceram) in der Inselgruppe der Molukken. Dieses Raumsystem weist zwei horizontale Hauptrichtungen auf (vgl. Abb. 38). Die wichtigste ist die Richtung zum Meer. Sie heißt „lowau“. Es ist die Richtung zum Totenreich und zum Sitz der Meeresgötter. Die entgegengesetzte Richtung ist „lodaja“, die Richtung der lebensfördernden Kulte, die zu den Bergen zeigt, in denen die Geister und Dämonen leben. Bei den Alfuren wird die Grundrichtung der Orientierung also immer durch das Meer definiert. Das hat zur Folge, dass sich das Richtungskreuz der Alfuren mitdreht, wenn sie an ihrer Küste entlang gehen. Dieses Raumsystem ist primär religiös definiert. Die Bergvölker von Ceram sehen ihr 188

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 38: Das Raumsystem der Alfuren Quelle: D. Reichert, 1996, S. 22-24; E. Hölzl, Österreichischer Mittelschulatlas

Land nicht als eine Insel an, sondern als einen Kontinent, der sich bergwärts ins Unbegrenzte ausdehnt. Wenn man im Norden der Insel nach einer Siedlung fragt, die nach unserer westlichen Konzeption der Himmelsrichtungen genau im Süden liegt, dann erfährt man, dass es in Richtung lodaja überhaupt keine Siedlungen, sondern nur Berge und Wald gibt. Zurück zur Distanz- und Richtungswahrnehmung. Aus den zahlreichen Untersuchungen zu diesen Themen kann man einige generelle Ergebnistendenzen ableiten. Als diskutabel und einigermaßen gesichert gelten etwa folgende Hypothesen: Es scheint, als wäre die Distanzwahrnehmung durch die Lage der jeweiligen Schätzstrecke zu zentralen Bezugspunkten der Aktionsräume der Probanden beeinflusst. Zu diesen zentralen Bezugspunkten gehört vor allem der Wohnstandort und in städtischen Lebensräumen das Stadtzentrum. Aus 189

Hypothesen zur Distanz- und Richtungswahrnehmung

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

„Brennan’s Law“

Hohe Attraktivität führt zur Unterschätzung der Distanz

Kognitive Distanzen ändern sich mit der Direktheit der Route

verschiedenen Arbeiten in den USA ist etwa bekannt, dass Distanzen in Richtung des Stadtzentrums meist überschätzt werden. Hingegen werden Distanzen in Richtung Peripherie, also stadtauswärts, generell unterschätzt (vgl. R. G. Golledge, R. Briggs und D. Demko, 1969, R. Briggs, 1973). Erstaunlicherweise erbringen Untersuchungen in Westeuropa genau den gegenteiligen Befund. So kam T. R. Lee (1962) am Beispiel von Hausfrauen in Cambridge zum Ergebnis, dass Geschäfte, die in Richtung des Stadtzentrums gelegen sind, als „näher“ wahrgenommen werden als Geschäfte in Richtung Stadtrand. Ähnliche Ergebnisse wurden bereits 1948 von T. Brennan vorgelegt. Diese charakteristische Verzerrung der Distanzwahrnehmung im Sinne der Unterschätzung in Richtung des Stadtzentrums wird deshalb auch als „Brennan’s Law“ bezeichnet. Für diese Gesetzmäßigkeit liegen aus verschiedenen europäischen Städten plausible empirische Bestätigungen vor (z. B. Dundee, Amsterdam, Paris, Karlsruhe). Eine einleuchtende Erklärung für diese Divergenz zwischen der kognitiven Konzeption von Distanzen in europäischen und nordamerikanischen Städten kann in einer zweiten generellen und gut bewährten Hypothese gefunden werden. Sie lautet: Die Distanzwahrnehmung wird von der Attraktivität eines Stimulus (bzw. der Präferenz für diesen Ort) beeinflusst. Auch für diese These gibt es zahlreiche kulturübergreifende Belege. Dabei gilt, dass eine hohe Attraktivität oder hohe Präferenz zur Unterschätzung, eine niedrige zur Überschätzung der Distanz führt. Wenn man bedenkt, dass in den USA die Innenstadtbereiche in der Skala der sozialen Wertschätzung eine generell sehr niedrige Position einnehmen, dann wird die vorhin erwähnte Distanzüberschätzung in Richtung Stadtkern verständlich. Dies ist vor allem auf die citynahen Slumgebiete der nordamerikanischen Stadt zurückzuführen. In Europa genießt das Stadtzentrum in der öffentlichen Meinung hingegen eine viel höhere Wertschätzung. Dementsprechend muss nach These Nummer 2 eine Distanzschätzung in Richtung auf das positiv bewertete Stadtzentrum natürlich einen Entfernungswert ergeben, der niedriger ausfällt als die objektive Distanz. Durchaus plausibel, aber eigentlich reichlich trivial ist die Annahme, dass die Genauigkeit der Distanzschätzung abhängt von der Vertrautheit mit der räumlichen Situation, wie sie sich etwa mit zunehmender Wohndauer einstellt. Interessanter ist die vierte These, die in der Literatur immer wieder erwähnt wird. Sie lautet: Kognitive Distanzen ändern sich mit der Direktheit der jeweiligen Route. Üblicherweise werden Routen, die nicht geradlinig verlaufen, sondern mehrere Richtungsänderungen, Kurven, Abzweigungen oder Kreuzungen aufweisen, längenmäßig überschätzt. Strecken mit wenig markanten Richtungsänderungen oder knotenartigen Elementen erscheinen dagegen kürzer. Dies konnte etwa von Lorin J. Staplin und Edward K. Sadalla (1981) eindrucksvoll gezeigt werden. Es scheinen also strukturelle und topologische Attribute der Routendifferenziertheit zu sein, welche die 190

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Grundlage der Entfernungswahrnehmung darstellen, und nicht die objektive Distanz oder die Wegdauer. Spannende Ergebnisse zum Thema Distanzwahrnehmung und kognitive Karten haben die Autoren Robert Lloyd und Christopher Heivly in einem Artikel aus dem Jahr 1987 vorgelegt, der als weiterer exemplarischer Hinweis auf einige empirische Befunde kurz besprochen werden soll. Der Aufsatz hat den Titel „Systematic Distortion in Urban Cognitive Maps“. Die Autoren befassen sich mit der Frage, ob die Raumvorstellung von Stadtbewohnern über ihre städtische Lebenswelt von der Lage des Wohnstandortes im Gefüge des Siedlungskörpers beeinflusst wird. Die Ausgangshypothese lautet: Bewohner unterschiedlicher Stadtviertel haben signifikant unterschiedliche kognitive Karten, auch dann, wenn sie vergleichbare sozioökonomische und demographische Charakteristika aufweisen. Die Unterschiede der raumbezogenen Kognition entstehen dadurch, dass die Probanden ihre Raumvorstellungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln „kartieren“. Mit anderen Worten: Die Autoren gehen davon aus, dass die Mental Maps der Bevölkerung in den verschiedenen Untersuchungsgebieten viertelsspezifische systematische Fehler oder Verzerrungen aufweisen. Diese Verzerrungen der kollektiven Raumvorstellungen seien abhängig von den Differenzen der jeweiligen Aktivitätsräume. Dabei spiele der Wohnstandort als Ausgangspunkt der Aktivitäten eine entscheidende Rolle. Ausdrücklich unterschieden wird in der Arbeit zwischen „Fehlern“ in kognitiven Karten, die durch falsche oder unvollständige Informationen verursacht sind, und systematischen Verzerrungen. Von systematischen Verzerrungen sprechen die Autoren dann, wenn die einzelnen Individuen, die eine kognitive Kartierung durchführen, bei vollständiger Information und korrekter Datenverarbeitung konsistent den gleichen Fehler produzieren. Es werden folgende Ursachen für systematische Verzerrungen besprochen, durch Verweis auf andere Autoren belegt und theoretisch begründet:

Lloyd/Heivly: „Systematic Distortion in Urban Cognitive Maps“

Systematische Verzerrungen

– coding heuristics, – rotation heuristics, – reference points. Kodierungsheuristiken werden auf folgende Weise dargestellt: Wenn eine Person Informationen über eine Stadt aufnimmt, dann wird sie schon durch die Menge der potenziell verfügbaren Informationen genötigt sein, die Daten selektiv zu verarbeiten. Bei dieser selektiven Kodierung und Organisation von Informationen werden einfachste Kodierungsverfahren eingesetzt, welche mit Notwendigkeit zu systematischen Verzerrungen führen. So werden beispielsweise beim Navigieren durch eine Stadt in der Regel die verschiedenen Winkel, in denen sich Straßen kreuzen, nicht kodiert, also im Gedächtnis gespeichert. Die Kodierung erfolgt vielmehr nach einem einfachen binären System, bei dem die Straßenabzweigungen ohne Winkelangaben mit von „rechts“ und „links“ gespeichert werden.Weil damit aber die 191

Kodierungsheuristik

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Rotationsheuristik

realen Abzweigungswinkel der Straßen nicht im Gedächtnis verfügbar sind, wird jeder, der diese einfache Kodierungsheuristik verwendet, dazu tendieren, eine Mental Map zu produzieren, die ein rechtwinkeliges Straßensystem darstellt – auch wenn in Wahrheit andere Kreuzungswinkel dominieren. Ein anderes Beispiel wäre der Befund, dass Distanzen zwischen Orten systematisch überschätzt werden, wenn dazwischen viel Orientierungsinformation vorhanden ist. Die Heuristik lautet also: „Strecken müssen länger sein, wenn sich dazwischen mehr ‚Orte‘ befinden“ (siehe oben, These 4). „Rotationsheuristiken“ sind „Näherungsverfahren“, die generell bei der Speicherung, Verarbeitung und Repräsentation visueller Informationen eingesetzt werden. Sie erleichtern es der Erinnerung, mit komplexen visuellen Daten umzugehen. Dabei wird ein bestimmter Bezugsrahmen („frame of reference“) verwendet. Die neu aufgenommene Information wird in diesen Bezugsrahmen eingepasst und – falls erforderlich – an das Achsensystem des Bezugsrahmens durch Rotation angeglichen. Dies kommt vor allem dann vor, wenn eine visuelle Figur oder Szene so etwas wie eine „natürliche Orientierung“ oder Achse aufweist und diese Achse von der Orientierung des Bezugsrahmens abweicht. Das kann etwa ein Fluss, eine Hauptverkehrsstraße oder eine Allee sein. Die Autoren verweisen auf Arbeiten von B. Tverski (z. B. 1981), der diese Heuristik näher untersucht hat. “When a figure has a natural orientation that does not quite correspond to that of its frame of reference, conditions are ideal for invoking the rotation heuristic, that is, of convergence of the coordinates induced by the figure to the coordinates of the frame of reference”. B. Tverski, 1981, S. 415 Nehmen wir etwa an, das Rechteck in Abbildung 39 dient als „frame of reference“.Wenn wir nun in diesen Bezugsrahmen eine Figur mit einer klaren Längsachse einordnen, dann wird es bei einer Wiedererinnerung (etwa wenn man eine Skizze anfertigen soll) wahrscheinlich dazu kommen, dass man diese Längsachse an die Orientierung des Bezugsrahmens anpasst. Es kommt also zu einer Rotation der Figur. Diese Heuristik der Datenspeicherung führt zu einer Komplexitätsreduktion, zu einer Vereinfachung der realen Struktur. Lloyd und Heivly diskutieren in der Folge ausführlich, dass es auch in der visuellen Struktur von Städten verschiedene Formen solcher Achsenstrukturen gibt: Flüsse, Küstenlinien,Verbindungslinien zwischen Landmarken, Boulevards oder Prachtstraßen. Derartige Achsen können als Bezugsrahmen wirksam werden, in den andere visuelle Informationen eingepasst werden. Abweichungen von der Achsenlinie werden dann durch die Rotationsheuristik eliminiert. 192

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 39: Rotationsheuristik Quelle: nach R. Lloyd und C. Heivly, 1987

Wenn nun solche „natürlichen Achsen“ durch Paare von Landmarken gebildet werden, dann ist es möglich, dass aus der Perspektive unterschiedlicher Stadtteile unterschiedliche Referenzrahmen als Rotationsachsen wirksam werden. Besonders bedeutsam sind hier die Hauptverkehrslinien, welche das jeweilige Wohnquartier mit dem Stadtzentrum verbinden. Die dritte Ursache systematischer Verzerrungen wird durch den Begriff „reference points“ umschrieben. Die Autoren weisen darauf hin, dass in der Mental-Map-Forschung folgendes gut bestätigtes und generalisierbares Ergebnis diskutiert wird. Distanzen zu nahe gelegenen Orten werden häufig überschätzt, solche zu weiter entfernten Orten hingegen zu kurz angegeben, also unterschätzt. Dieser Effekt kann gleichsam als eine Ausdehnung oder Aufblähung des Raumes in der Nähe von Referenzpunkten beschrieben werden (ebd., S. 196). Als besonders wichtiger Referenzpunkt kann dabei das eigene Wohnquartier angesehen werden. Nach diesen theoretischen und konzeptionellen Vorüberlegungen beschreiben die Autoren ausführlich ihr Erhebungsdesign. Die empirische Erhebung wurde in der Stadt Columbia in South Carolina durchgeführt. Es wurden Bewohner von drei Stadtteilen befragt. Die Autoren waren bemüht, den sozialen Status, die Mobilität, die Wohndauer und die Vertrautheit mit der Stadt weitgehend konstant zu halten, also nur Probanden auszuwählen, die sich hinsichtlich dieser Parameter nicht signifikant unterscheiden. Um Landmarken innerhalb der Stadt zu identifizieren, die den Bewohnern der drei Stadtteile bekannt waren, wurde eine Liste von 47 prominenten Landmarken erstellt. In einer Telefonumfrage wurde überprüft, welche davon von Bewohnern der drei Untersuchungsgebiete lagemäßig eingeordnet werden können. 15 davon erwiesen sich als allgemein bekannt und wurden für die weiteren Erhebungen verwendet. Die Verteilung der Landmarken (hohe oder markante Gebäude, Türme etc.) und die Lage der Untersuchungsgebiete sind in Abbildung 40 ersichtlich. Pro Untersuchungsgebiet (Westside, Eastside und Downtown) wurden insgesamt 50 Probanden ausgewählt. Es wurden nur Personen erfasst, die seit mindestens 2 Jahren im Untersuchungsgebiet leben und einen Führerschein haben. Jedem Probanden wurde die Liste mit den 15 Landmarken vorgelegt. Sie sollten die generelle Lage dieser Gebäude verbal beschreiben, um nachzuweisen, dass ihnen die betreffenden Orte hinreichend genau bekannt wären. 193

„Reference Points“

Empirische Erhebung von Lloyd/Heivly

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 40: Untersuchungsgebiete und Landmarken Quelle: R. Lloyd und C. Heivly, 1987, Fig. 1, S. 197

LANDMARKS

Westside Sample Neighborhood

D

C

M

I B

Eastside Sample Neighborhood

R1 G J

H K

E N

N

O Downtown Sample Neighborhood R2

L

F

A SELECTED LANDMARK LOCATIONS R1 and R2 are reference landmarks. 1

Abbildung 41: Erhebungsmethodik Quelle: nach R. Lloyd und C. Heivly, 1987

0

Miles 1

2

3

Distanzschätzung Landmarken A

B

C

D

E

F

(Referenzdistanz)

G H .......

M

X

Richtungsschätzung ? M

Alle Probanden bestanden diesen Test. Damit konnte angenommen werden, dass sie eine relativ vollständige Mental Map der Stadt entwickelt hatten. Im weiteren Verlauf der Erhebung sollten die Befragten nun die Entfernungen zwischen Paaren von Landmarken abschätzen. Am Kopf des Fragebogens war eine Linie von 5 cm Länge abgetragen, die Enden der Linie markierten zwei allseits bekannte Landmarken (vgl. Abb. 41). Damit war gleichsam eine Referenzdistanz vorgegeben, an der alle vorzunehmenden Entfernungsschätzungen orientiert werden sollten. Darauf folgte die Liste 194

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

der Landmarkenpaare, neben jedem Paar befand sich eine Linie von 25 cm Länge. Auf dieser Linie sollten die Probanden nun durch einen Bleistiftstrich die geschätzte Distanz abtragen. Wer etwa der Meinung war, dass die Entfernung zwischen einem Paar von Landmarken genau doppelt so groß ist wie die Distanz zwischen den Referenzorten, der musste auf der betreffenden Linie bei ca. 10 cm seinen Strich machen. Zusätzlich sollten die Probanden noch die Richtungen von jeder Landmarke zu jeder anderen schätzen. Dazu sollten sie annehmen, dass Landmarke X das Zentrum eines Kreises sei. Durch einen Strich auf diesem Kreis sollte geschätzt werden, in welcher Richtung von X aus die jeweils gefragte zweite Landmarke M gelegen sei. Beide Tests wurden für alle Landmarken durchgeführt. Nach der Datenerfassung wurde eine umfassende statistische Analyse der Daten durchgeführt, auf deren Details und Methodik nicht näher eingegangen werden muss. Jedenfalls konnten diese statistischen Prüfungen zweifelsfrei belegen, dass sich die individuellen Fehler sowohl bei der Distanz als auch bei der Winkelschätzung in den drei Untersuchungsgebieten signifikant voneinander unterschieden. Anders gesagt: Die Bewohner der drei Untersuchungsgebiete machten jeweils ganz charakteristische Schätzfehler. In Abbildung 42 sind die Durchschnittswerte für die drei Untersuchungsgebiete eingetragen. Auf der x-Achse sind die Distanzfehler abgetragen, auf der y-Achse die Richtungsfehler. Die Rechtecke definieren die 95 %-Konfidenzgrenzen für die Population eines Untersuchungsgebietes. Die drei Fehlermittelwerte unterscheiden sich signifikant voneinander. In allen drei Wohnquartieren wurden die Distanzen generell überschätzt. Am wenigsten in der Eastside, am stärksten in der Westside. Die aggregierte kognitive Karte für die Downtown-Stichprobe wies den geringsten Richtungsfehler auf, West- und Eastside zeigten gegensätzliche Richtungsfehler. Bei der Eastside-Bevölkerung liegt der durchschnittliche Richtungsfehler bei etwa 5 Grad im Uhrzeigersinn, bei der Westside-Bevölkerung dagegen bei etwa 10 Grad gegen den Uhrzeigersinn. Weitere Datenanalysen zeigten, dass in allen drei Untersuchungsgebieten eine Tendenz zur Überschätzung kurzer und zur Unterschätzung größerer Distanzen besteht. Eine genauere Interpretation der Daten verdeutlicht, dass vor allem die Entfernungen im Bereich der jeweiligen Zentren der Aktionsräume überschätzt, also gleichsam gedehnt werden. Damit ergibt sich eine Art Aufblähung der Mental Maps im Bereich wichtiger Referenzflächen, wie etwa dem Stadtzentrum oder dem eigenen Wohnquartier. Im Folgenden wurden nun aggregierte Mental Maps für die drei Samples konstruiert. (Auf die Methodik der Berechnung müssen wir hier nicht näher eingehen.) Es erwies sich als wichtiges Ergebnis, dass die Lage des eigenen Wohngebietes einen entscheidenden Einfluss auf die räumliche Verteilung der Fehler oder Abweichungen in den aggregierten Mental Maps ausübt. Die vorhin besprochenen Thesen von Tverski bezüglich der 195

Ergebnisse der Untersuchung

„Aufblähung“ des kognitiven Raumes im Bereich von Referenzflächen

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 42: Mittlere Schätzfehler nach Untersuchungsgebieten Quelle: R. Lloyd und C. Heivly, 1987, Fig. 2, S. 198

Abbildung 43: Kognitive und aktuelle Position der Landmarken aus der Sicht des Eastside-Samples Quelle: R. Lloyd und C. Heivly, 1987, Fig. 5, S. 204, verändert

EASTSIDE SAMPLE

C

M

D

I B G H K

E

J

holm

Tren

Eastside Sample Neighborhood Cognitive Neighborhood

N

O

N L F

A ACTUAL LOCATION COGNITIVE LOCATION

1

196

0

Miles 1

2

3

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Rotation von Achsenstrukturen in Mental Maps konnten für zwei der Untersuchungsgebiete klar bestätigt werden. Eine solche Rotationsheuristik, bei der die Hauptachsen der kollektiven kognitiven Karte in Richtung auf die Haupthimmelsrichtungen gleichsam „verdreht“ werden, ist sowohl für das Eastside- als auch für das Westside-Sample nachweisbar. Für die Bewohner der Eastside (Abb. 43) ergibt sich eine einheitliche Rotation der kognitiven Karte um etwa 6 Grad nach rechts unten. Damit wird die Position des eigenen Quartiers im Bewusstsein der Bewohner gleichsam an die Ost-West-Achse angepasst. Die Hauptverbindungsstraße zum Stadtzentrum, die Trenholm Road, wird damit in Richtung auf die Ost-West-Achse bewegt. Dementsprechend wird der Fluss, der die Stadt von NNW nach SSE durchquert, fast in eine Nord-Süd-Richtung verdreht. Erstaunlich ist der völlig einheitliche Trend. Die Positionsfehler bei der Standortschätzung der Landmarken fallen völlig einheitlich aus. Erheblich stärker sind die Schätzfehler beim Westside-Sample ausgeprägt (Abb. 44). Auch hier können wir eine ausgeprägte und gleichsinnige „Verdrehung“ der Mental Map erkennen. Die Rotation fällt hier allerdings gegen den Uhrzeigersinn aus. Auch in diesem Falle kommt es zu einer Annäherung an die Ost-West- Achse, wobei hier die I-126, die Hauptverkehrsverbindung zum Stadtzentrum, in ihrer Richtung an die Ost-West-Achse angenähert wird. In der kollektiven Mental Map erscheint damit die Lage des Quartiers in Relation zum Stadtzentrum und zur Haupthimmelsrichtung nach links unten verschoben. Auffällig ist auch hier die absolut gleichsinnige und konsistente Ausprägung der Rotation. Die kollektive kognitive Karte für die Downtown-Stichprobe (Abb. 45) zeigt nur sehr geringe Abweichungen von der Realität.Weil dieser Stadtteil sehr nahe am Stadtzentrum gelegen ist, gibt es keine dominante Verkehrsachse, die das Wahrnehmungsgefüge determinieren würde. Die Autoren ziehen aus ihren empirischen Ergebnissen folgende Schlussfolgerungen: Die aggregierten kognitiven Karten der Bewohner eines Stadtviertels werden signifikant durch die Position des Wohnstandortes im Gesamtgefüge des Siedlungskörpers beeinflusst. Das Bild der Stadt in den Köpfen der Bewohner ist also nicht einheitlich, sondern ist abhängig von der räumlichen Position der jeweiligen Aktivitätszentren der Bewohner. Es existieren eine Reihe systematischer Verzerrungen der kognitiven Karten, die für die Bewohner einzelner Wohnquartiere erstaunlich homogen und einheitlich ausfallen. Die kognitiven Karten sind so strukturiert, dass die wichtigsten Hauptverkehrsachsen zwischen dem Wohnviertel und dem Stadtzentrum den Haupthimmelsrichtungen oder anderen Referenzstrukturen der generellen Orientierung angenähert werden. Derartige kognitive Anpassungen sind vor allem bei Wohnquartieren festzustellen, die einen ausreichend großen Abstand vom Stadtzentrum aufweisen. Nur unter diesen Bedingungen ist eine entsprechende Bezugsachse der Aktionsräume gegeben. 197

Einheitliche Rotation

Schlussfolgerungen nach Lloyd/Heivly: Relation Wohnstandort – Stadtzentrum beeinflusst Mental Map

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 44: Kognitive und aktuelle Position der Landmarken aus der Sicht des Westside-Samples Quelle: R. Lloyd und C. Heivly, 1987, Fig. 6, S. 205, verändert

WESTSIDE SAMPLE

Westside Sample Neighborhood

D

C

M

I B

Cognitive Neighborhood

N

G

I-I 2

6

J

H K

E

O

N L F

A ACTUAL LOCATION COGNITIVE LOCATION

1

0

Miles 1

2

3

Abbildung 45: Kognitive und aktuelle Position der Landmarken aus der Sicht des Downtown-Samples Quelle: R. Lloyd und C. Heivly, 1987, Fig. 4, S. 203

DOWNTOWN SAMPLE

D

C

M

I B

N

G J

H K

E N

Cognitive Neighborhood

O Downtown Sample Neighborhood L

F

A ACTUAL LOCATION COGNITIVE LOCATION

1

198

0

Miles 1

2

3

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Kurze Distanzen werden generell überschätzt. Dies gilt vor allem für Bereiche, die im Zentrum der jeweiligen Aktionsräume stehen. Zentral gelegene Wohngebiete werden hingegen realitätsangemessener wahrgenommen als suburbane oder periphere Wohngebiete. Mittelpunkt der Rotationsheuristik, mit deren Hilfe die Mental Maps städtischer Lebensräume gleichsam „vereinfacht“ werden, ist das Stadtzentrum. Für Wohngebiete, die in der Nähe des Stadtzentrums gelegen sind, fallen entsprechende Verzerrungen der kollektiven Mental Maps wesentlich geringer aus. Zusammenfassend können wir festhalten, dass derartige Erkenntnisse über die kognitiven Strukturen von Raumvorstellungen auch aus heutiger Sicht sehr wertvoll sind und uns wichtige Einsichten in die Prozesse des kognitiven Kartierens erlauben. Zur Gesamtthematik liegen Bibliotheken füllende Untersuchungen vor. Wir wollen diesen eher formalen Aspekt der Ausprägung von Mental Maps nicht weiter thematisieren und uns nur merken, dass es hier offensichtlich verallgemeinerbare Grundstrukturen gibt, die dazu führen, dass es formale Ähnlichkeiten zwischen subjektiven Raumvorstellungen gibt. Dies erlaubt es uns, von „kollektiven Mental Maps“ zu sprechen. Wie sehen nun die Inhalte kognitiver Karten aus? Welche designativen und evaluativen Attributzuschreibungen können zu den rein orientierungsbezogenen Aspekten hinzukommen? Beginnen wir mit den allereinfachsten Aspekten, den formal-designativen Strukturen. Einen ersten Ansatz dazu hat der Architekt und Städtebauer Kevin Lynch in seinem schon zitierten Buch „The Image of the City“ (1960) vorgelegt. Seine Untersuchung war die wohl einflussreichste Analyse zum Thema „Raumkognition städtischer Lebensräume“, obwohl die empirischen Ergebnisse eher bescheiden ausfielen. Die Bedeutung der Studie, die auch methodische Schwächen hat, liegt vor allem darin, dass sie eine neue Forschungsrichtung eröffnete und Konzepte vorlegte, die von anderen aufgegriffen und weiterentwickelt wurden. „The Image of the City“ war eine explorative Studie über die visuelle Qualität von drei amerikanischen Städten. Lynch untersuchte, wie die Eigenschaften des visuellen Erscheinungsbildes dieser Städte von ihren Bewohnern wahrgenommen werden. Der explorative Charakter der Arbeit kommt schon darin zum Ausdruck, dass nur eine sehr kleine Stichprobe von Stadtbewohnern als Probanden eingesetzt wurde. Lynch ging es eigentlich um Fragen des städtebaulichen Designs, also um die Frage, welche optischen Gestaltungselemente im Städtebau mit welchen Wirkungen einsetzbar sind. Er konzentrierte sich daher ausschließlich auf die visuellen Komponenten kognitiver Schemata der Stadt. Sein Anliegen war es, die Hauptelemente solcher Schemata und ihre strukturellen Beziehungen zu identifizieren. Er vernachlässigte in seinen Analysen deshalb auch die funktionalen und symbolischen Bedeutungen dieser Elemente. Zentrales Konzept seiner Studie ist die „Lesbarkeit“ („legibility“) des Erscheinungsbildes einer Stadt. Darunter versteht er die Leichtigkeit, mit 199

Kollektive Mental Maps

Formal-designative Strukturen

Lynch: „The Image of the City“

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Lynchs Typologie

der ein Individuum die verschiedenen visuellen Elemente der Stadtgestalt zu einer kohärenten (zusammenhängenden), mentalen Repräsentation verschmelzen kann. Lynch nahm an, dass manche Städte (die eine hohe Lesbarkeit aufweisen) ein besonders markantes Image besitzen, das sich aus der Prägnanz ihres visuellen Erscheinungsbildes ergibt. Dieses Konzept wurde in drei Städten getestet: Boston, Los Angeles und Jersey City. Als Probanden wurde jeweils eine kleine Gruppe von Bewohnern herangezogen, die der Mittelschicht angehörten und jeweils über ihre Wahrnehmung des Stadtzentrums befragt wurden. Methodisch wurden Kartenskizzen, Wortlisten spezifischer Attribute der Städte, Wegbeschreibungen und Fragen zur räumlichen Orientierung eingesetzt. Die individuellen Reaktionen der Probanden wurden zusammengefasst und mit den Ergebnissen von Datenaufnahmen verglichen, die durch geschulte Beobachter vorgenommen worden waren. Die Bewertung der Ergebnisse erfolgte auf der Basis einer fünfteiligen Typologie visueller Elemente kognitiver Schemata einer Stadt. Es ist nicht völlig klar, ob diese Typologie von Lynch als analytisches Ergebnis seiner Untersuchung oder als vorgegebene hypothetische Struktur entstanden ist, wahrscheinlicher ist letzteres. Mit anderen Worten: Lynch ging von vornherein davon aus, dass diese Kategorien adäquate Beschreibungen der visuellen Gestaltqualität städtischer Lebensräume seien. Es handelt sich um folgende Elemente: – Pfade – das sind Wege oder Kanäle, entlang derer sich Menschen im baulichen Gefüge der Stadt bewegen –, – Kanten oder Grenzen, – Distrikte oder Gebiete als flächenhafte Elemente der Stadtgestalt, – Landmarken, markante Baulichkeiten, – Knoten, strategische Orte der Stadt wie U-Bahn-Stationen oder markante Kreuzungen, an denen Navigationsentscheidungen gefällt werden.

Lynchs Ergebnisse

Nach den Ergebnissen der Studie von Lynch nimmt die Bevölkerung eine Stadt als Set überlappender Schemata wahr, die nach den genannten fünf Wahrnehmungskategorien strukturiert sind. Diese Schemata können individuell recht verschieden sein, sie sind aber um gemeinsame Bezugspunkte angeordnet und weisen damit strukturell eine erstaunliche Ähnlichkeit auf. Das Hauptmerkmal dieser Schemata scheint darin zu liegen, dass die allgemein bekannten Landmarken miteinander durch klar definierte Pfade verknüpft sind. Dieses Pfad-Landmarken-System ist anscheinend das wichtigste kognitive Muster, in das die anderen visuellen Raumelemente quasi „eingehängt“ werden. Verschiedene Kanten oder Grenzlinien, z. B. eine Uferlinie zu einer Wasserfläche, erscheinen als markante visuelle Orientierungslinien. Außerdem zeigt sich, dass die Wahrnehmung von flächenhaften Elementen des Stadtbildes (Viertel, Quartiere, Parkanlagen, Industrieflächen …) und das 200

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

bewusste geistig-konzeptionelle Operieren mit ihnen mit zunehmender Wohndauer abnimmt. Die flächenhaften Elemente sind anscheinend kognitive Grobraster, die mit dem Erwerb detaillierten Wissens über die Stadt in feinere Einheiten zerlegt und differenziert wahrgenommen werden. Abbildung 46 zeigt eine nach dem Schema von Lynch (umgezeichnete) Mental Map von Boston. Aus heutiger Sicht erscheinen die empirischen Ergebnisse der Studie von Lynch nicht besonders aufregend. Bedeutsam bleibt – aus ideengeschichtlicher Sicht – sein Neuansatz einer komplexen Annäherung an die visuellen Aspekte der Stadtwahrnehmung. Natürlich hatte diese Fixierung auf den visuellen Aspekt auch ihre Schattenseiten, denn aus der räumlichen Orientierung von Blinden weiß man heute, dass dem Menschen sehr stabile und kohärente räumliche Schemata und Referenzsysteme der Navigation zur Verfügung stehen, die ohne visuelle Elemente auskommen. Zu Recht wurde Lynch dafür kritisiert, dass er die verschiedenen inhaltlichen Elemente der Stadtwahrnehmung, vor allem die symbolischen Komponenten, völlig vernachlässigte. Dazu gehören auch die für das jeweilige Individuum funktionalen Gegebenheiten städtischer Strukturen. Es macht ja einen erheblichen Unterschied, ob ein Gebäude für das Individuum als Arbeitsplatz, Standort des Freizeitverhaltens, als Gefängnis, als Wohnung/Heim oder als Kirche/heilige Stätte genutzt wird. Sehen wir uns im Folgenden noch ein Beispiel aus der sozialgeographischen Forschungstradition an, bei dem ein anderer Maßstabsbereich der Umweltwahrnehmung thematisiert wird. Natürlich lassen sich Mental Maps im Sinne kollektiver Raumvorstellungen auch für den Maßstabsbereich größerer Regionen rekonstruieren. James R. Shortridge befasst sich in einem Artikel aus dem Jahr 1985 mit der Wahrnehmung und den Imagezuschreibungen des amerikanischen Mittleren Westens. Aus den Ergebnissen dieser Studie lassen sich einige interessante Schlussfolgerungen über die Entwicklung räumlicher Imagestrukturen ableiten. „Middle West“ ist in den USA eine gängige, umgangssprachlich fixierte Regionsbezeichnung und benennt eine „vernacular region“. Darunter versteht man eine alltagsweltliche Region. Es handelt sich dabei um Wahrnehmungsregionen, die in einer bestimmten regionalen Lebenswelt als gängige und allseits verständliche kognitive Konstrukte existieren und in Kommunikationsprozessen Verwendung finden. Beispiele für solche landläufige Regionskonstrukte wären in Österreich Innviertel, Salzkammergut oder Waldviertel, in Deutschland Allgäu oder Ruhrgebiet. Die US-amerikanische Regionsbezeichnung „Middle West“ bezieht sich traditionellerweise auf ein Gebiet, das die zwölf Bundesstaaten von Ohio im Osten bis Kansas im Westen und nach Norden bis zur kanadischen Grenze umfasst (vgl. Abb. 47). Der Kreis markiert den geometrischen Mittelpunkt dieses Gebietes. Diese räumliche Zuordnung entsprach über viele Jahrzehnte dem gängigen Bild dieser Wahrnehmungsregion. 201

Rezeption von Lynchs Ergebnissen

Shortridges Studie über den Mittleren Westen der USA

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 46: Mental Map von Boston nach K. Lynch Quelle: P. L. Knox und S. Marston, 2001, S. 288

Abbildung 47: The Middle West Quelle: J. R. Shortridge, 1985, Fig. 1, verändert

K

202

O

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

James Shortridge versuchte in der zitierten Arbeit den damals aktuellen Bedeutungsgehalt dieser Regionsbezeichnung zu ermitteln. In seiner Studie wurden Studenten aus 32 amerikanischen Bundesstaaten über diese Regionsbezeichnung befragt. Die Probanden sollten dabei ihre subjektive Abgrenzung des Mittleren Westens in vorgegebene Karten eintragen. Dabei zeigte sich etwas sehr Erstaunliches. Die Auswertung (vgl. Abb. 48) erbrachte nämlich das Ergebnis, dass für diese kollektive Mental Map eine klare Westverschiebung gegenüber dem ursprünglichen Raumkonzept gegeben war. Als Kernraum erwiesen sich nun die Staaten Kansas, Nebraska und Iowa, zum Teil reicht die Regionszuschreibung bis weit in die Rocky Mountains hinein. Wie kann dieser eigenartige Befund erklärt werden? Dazu müssen wir uns stärker dem inhaltlichen Aspekt von kognitiven Karten zuwenden. Der Leser erinnere sich an den Image-Begriff bei Lynch. Er verstand darunter das visuell definierte Vorstellungsbild der räumlichen Kognition. Dieser sehr engen Definition steht eine in den Sozialwissenschaften generell übliche und wesentlich umfassendere Auffassung gegenüber:

Inhaltliche Aspekte kognitiver Karten: Image

Abbildung 48: Kollektive Mental Map des Middle West Anfang der 1980er-Jahre Quelle: J. R. Shortridge, 1985, Fig. 1, verändert

“Based on cognitive maps drawn by college students from 32 states. Isolines indicate percentage of respondents who marked an area as part of the Middle West region.”

203

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

In den Sozialwissenschaften versteht man unter Image die Gesamtheit der Einstellungen, Werthaltungen, Kenntnisse, Erwartungen, Vorurteile und Anmutungen, die mit Meinungsgegenständen verbunden werden. Image bedeutet in diesem Verständnis also die Komplexqualität kognitiver Konstrukte. Das Image eines Gegenstandes ist damit sozusagen dessen psychische Realität. Image umfasst demnach alle Attributzuschreibungen, alle emotionalen Bindungen und Anmutungen, die der Mensch mit einem bestimmten Konzept, einer bestimmten kognitiven Struktur verbindet.

Shortridges Interpretation

Zelinsky: „North America’s Vernacular Regions“

Wahrnehmung von Stadtteilen in Salzburg

Und dies gilt natürlich auch für raumbezogene Konstrukte wie München, Burgenland, Ostfriesland, Innviertel etc. Shortridge erklärt die in der Karte erkennbare Grenzverschiebung nun sehr überzeugend damit, dass die Regionsbezeichnung „Middle West“ ursprünglich mit einem ganz bestimmten Image verbunden war, nämlich dem des ländlichen Amerika. „Middle West“ stand gleichsam als Chiffre und Symbol für Landwirtschaft, ländliche Kleinstädte, Pastoralismus und verweist auf das idealtypische Bild des „Yeoman“, des freien Farmers. America at its best. Da aber nun der Ostteil der ursprünglich gemeinten Region längst ein hoch entwickelter urban-industrieller Raum geworden ist, stimmt das Image des klassischen Mittleren Westens nicht mehr mit der Realität überein. Anstatt nun das regionale Image an die veränderte Wirklichkeit anzupassen, wird einfach die kollektive Raumvorstellung abgewandelt, und zwar dergestalt, dass der Kern der Region westwärts in die Great Plains verlagert wird, wo die sozioökonomische Realität noch am ehesten den Inhalten des Image entspricht. Man erkennt an diesem Beispiel auch die hohe zeitliche Persistenz von Images. Solche raumbezogenen Inhaltsattribuierungen sind – wie alle Vorurteile – sehr hartnäckig. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ein anderer amerikanischer Geograph, Wilbur Zelinsky, 1980 einen Aufsatz mit dem Titel „North America’s Vernacular Regions“ publiziert hat, in dem unter anderem auch der Mittlere Westen in seiner damals, Mitte der 1970er-Jahre, aktuellen Bedeutung dargestellt wird. Zelinsky verwendete eine ganz andere Erhebungsmethodik, kommt dabei aber zu einem ähnlichen Ergebnis. Der Autor hat Ende der 1980er-Jahre in einem Forschungsprojekt in Salzburg über die Wahrnehmung von Stadtteilen vergleichbare Befunde erarbeitet. Eines der Ziele dieses Projektes bestand darin, die Identität von Stadtteilen zu rekonstruieren (vgl. dazu P. Weichhart, C. Weiske und B. Werlen, 2006, Kapitel 4). Es ging darum herauszufinden, in welcher Form Stadtteile oder Wohnquartiere in den alltäglichen Bewusstseins- und Kommunikationsprozessen der Bevölkerung Verwendung finden. In unserem 204

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Salzburger Projekt wollten wir für verschiedene Quartiere sowohl die räumliche Abgrenzung als auch die inhaltlichen Profile der Attribuierungen bzw. Eigenschaftszuschreibung erfassen und somit die alltagsweltliche Identität der untersuchten Stadtviertel beschreibbar machen. Unter anderem wurde der Stadtteil Lehen (ein Quartier mit sehr hoher Wohndichte, einem Sozialstatus, der ungefähr dem Durchschnitt der Stadt entspricht, und einem sehr schlechten Image) untersucht. Dabei wurde sowohl das „Selbstbild“ dieses Viertels (also die Wahrnehmung durch die ansässige autochthone Bevölkerung) als auch das „Fremdbild“ (die Wahrnehmung von außen) rekonstruiert. Der „offizielle“ Stadtteil Lehen kann durch den gleichnamigen statistischen Zählbezirk räumlich abgegrenzt werden. Er hat eine annähernd dreieckige Form. Seine Grenzen werden im Osten von der Salzach, im Westen durch den Glan-Kanal und im Süden durch die Westbahn sehr klar vorgegeben (Abb. 49). Wir hatten den Stadtteil Lehen vor allem aus folgendem Grund ausgewählt: Es handelt sich um ein Quartier, das in den letzten Jahrzehnten ständig in den Medien und in der öffentlichen Diskussion vorkam. Und zwar in einem äußerst negativen Sinn. Der Stadtteil hat einen sehr schlech-

„Mentale Okkupation“ von Teilen Lieferings

Abbildung 49: Das „offizielle“ Lehen und die Sicht der Bewohner Quelle: P. Weichhart, 1992 a, Abb. 2, S. 388

Der „offizielle“ Stadtteil Lehen

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Fragestellung der Salzburger Untersuchung

Ergebnis der Salzburger Untersuchung

ten Ruf. Er gilt als Unterschichtquartier sowie als städtebauliches und soziales Problemgebiet. Man kann ihn geradezu als einen „stigmatisierten Stadtteil“ bezeichnen. Durch seine Präsenz in der öffentlichen Diskussion erschien uns dieses Viertel besonders gut als Untersuchungsobjekt geeignet. Zunächst war folgende Frage zu klären: Wenn Lehen tatsächlich ein alltagsweltlich relevantes kognitives Konstrukt ist, wie sieht dieses „räumliche Objekt“ in den Köpfen der Salzburger Bevölkerung aus? Das erste Teilproblem dabei war:Welches Gebiet genau meinen die Salzburger, wenn sie von „Lehen“ sprechen? Wo liegt die Außengrenze dieses räumlichen Objekts? Es handelt sich hier also um den Versuch, die kognitive Abgrenzung eines „räumlichen Objekts“ in der kollektiven Mental Map der Quartiersbewohner zu rekonstruieren. Auf Details der Erhebungsmethodik, wie Probandenrekrutierung und Stichprobenziehung, will ich jetzt nicht näher eingehen (vgl. dazu P. Weichhart und N. Weixlbaumer, 1988). Insgesamt haben wir etwa 200 Bewohner des Viertels interviewt. Die Frage nach der Abgrenzung des eigenen Viertels wurde dabei über die sogenannte „gebundene graphische Erhebungstechnik“ operationalisiert. Darunter versteht man die Vorgabe eines mehr oder weniger detaillierten graphischen Grundgerüstes oder eines visuellen Stimulus, auf dem von den Probanden irgendwelche Eintragungen einzuzeichnen sind. In unserem Falle wurde ein gut lesbarer Stadtplan von Salzburg vorgelegt. Die eigentliche Erhebung bestand nun darin, dass die Probanden ersucht wurden, die ihrer Meinung nach gegebenen Grenzen des Stadtteils Lehen mit einem Stift in den Stadtplan einzuzeichnen. Als Ergebnis lagen dann 190 Einzelpläne mit den Eintragungen der subjektiven Viertelsabgrenzung vor. Die Auswertung der Eintragungen war (unter den damaligen EDV-technischen Bedingungen) nicht einfach. Die individuellen Eintragungen der Abgrenzung wurden digitalisiert und dann in einer Gesamtkarte übereinander projiziert. Schließlich wurde eine Quantifizierung der Daten dadurch erzielt, dass die von den subjektiven Grenzen umschlossenen Gebiete nach einem relativ engmaschigen Raster ausgezählt wurden. Damit konnte die Häufigkeit bestimmt werden, mit der ein beliebiges Zählrasterfeld des Stadtplanes von unseren Probanden zum Stadtteil Lehen gerechnet wurde. Wie sieht nun das Ergebnis dieser subjektiven Abgrenzungen aus einer Bewohner- oder Insiderperspektive aus? Der „offizielle“ Stadtteil Lehen, der als statistischer Zählbezirk sowie als Planungs- und Verwaltungseinheit fixierbar ist, weist, wie wir gesehen haben, sehr gut objektivierbare räumliche Grenzen zu seiner Nachbarschaft auf. Diese Grenzen können nur an wenigen Stellen (durch Brücken oder Unterführungen) überschritten werden. Man sollte demnach annehmen können, dass eine derartig klare wahrnehmungs- und verhaltensrelevante Raumgliederung auch von den Bewohnern dieses Stadtteils einigermaßen nachvollzogen wird. 206

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Tatsächlich aber kann aus den Reaktionen unserer knapp 200 Probanden abgeleitet werden, dass die Identität dieses Stadtviertels im Bewusstsein seiner Bewohner ganz anders strukturiert ist und von diesen „objektivierbaren“ Grenzen sehr erheblich abweicht. Zu unserer Überraschung nahm der von den Bewohnern als „Lehen“ bezeichnete Raumausschnitt beinahe die doppelte Fläche des offiziellen Stadtteils ein. Zwar gibt es eine fast völlige Übereinstimmung über den Verlauf der Ost- und zum Teil auch der Südgrenze; Richtung Westen und Norden hingegen wird von einem signifikanten Teil der Lehener Bevölkerung ein erheblicher Flächenanteil des Nachbarbezirkes Liefering zu Lehen dazugeschlagen. Dabei tendieren vor allem Probanden mit einer geringeren Wohndauer dazu, das angrenzende Nachbarviertel in ihr Raumkonzept „Lehen“ einzubeziehen. Wie kommt es zu dieser eigenartigen kognitiven Ausweitung oder „Aufblähung“ von Lehen, das in der Vorstellung eines Teils seiner Bewohner weit in das Nachbarviertel hineinreicht? Um diese Abweichung zu erklären, müssen wir zunächst auf die inhaltlichen Attribuierungen des Stadtteils und die hier vorfindbaren sozialräumlichen Gegebenheiten eingehen. Bei der Erfassung kollektiver Mental Maps wird also auch die Frage zu untersuchen sein, welche Eigenschaftszuschreibungen mit dem Objekt verknüpft werden, das durch eine kognitive Karte repräsentiert wird. Wir wissen aus unzähligen empirischen Untersuchungen, dass derartige inhaltliche Attribuierungen äußerst stabile Beschreibungs- und Wertungsstereotype darstellen, die sich im Zeitverlauf hartnäckig behaupten und über deren Inhalte eine hohe gruppenspezifische Einhelligkeit besteht. Außerdem kann praktisch immer ein ausgeprägter Unterschied zwischen dem Fremdbild und dem Selbstbild festgestellt werden. Das Selbstbild kennzeichnet das Image, welches ein Stadtteil oder ein beliebiges „lebensweltliches Raumobjekt“ bei den eigenen Bewohnern besitzt, das Fremdbild ist das „Außenimage“. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Lehen im Bewusstsein der Gesamtbevölkerung Salzburgs ein extrem negatives Image aufweist: Lehen gilt als sozial benachteiligtes, hässliches, verschandeltes und sogar verrufenes Quartier, als Schmutz- und Schandfleck der Stadt. Diese Urteilsstereotype lassen sich übrigens sogar für Kinder im Pflichtschulalter nachweisen (vgl. R. Otavnik, 1987). Die Ursprünge für derartige Urteilsstereotype gehen weit in die baulich-soziale Vergangenheit Lehens zurück. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem aber in den 1930er-Jahren, kann für diesen Stadtteil eine gezielte Ansiedlungspolitik für die Unterschicht beobachtet werden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg war Lehen wegen der relativ günstigen Bodenpreise ein bevorzugter Standort für Billigwohnbauten. In den Printmedien finden wir zur Charakterisierung dieser städtebaulichen Situation immer wieder Schlagworte wie „Bauspekulation“, „Wohnsilos“, „Massenquartiere“ oder „Bausünden“. Diese Entwicklung führte zu einer sehr hohen 207

Eigenschaftszuschreibungen als stabile Beschreibungsund Wertungsstereotype

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Ergebnis der Lehen-Studie

Bebauungsdichte und zu einer sozialen Selektion der Bevölkerung. In diesem kleinen Gebiet wohnen heute etwa 20.000 Menschen. Objektiv lässt sich eine sehr hohe Verkehrsbelastung feststellen. Bedenkt man die hohe Einhelligkeit der negativen Bewertung durch die Gesamtbevölkerung der Stadt und die auch objektiv fassbaren Mängel an Wohnqualität, dann erscheint es also durchaus gerechtfertigt, Lehen als einen stigmatisierten Stadtteil zu bezeichnen. Betrachtet man nun aber die Sozialstruktur von Lehen nach einem objektivierbaren Indikator, dann zeigt sich, dass bereits zu Beginn der 1980erJahre eine erhebliche soziale Aufwertung des Viertels eingesetzt hatte. In Abbildung 50 wird ein „Index der sozialen Ranglage“ nach statistischen Zählbezirken der Stadt auf der Grundlage der Volkszählung von 1981 ausgewiesen. (Dieser Indikator – er wurde in Kapitel 8 bereits besprochen – wird als Durchschnittswert der Stellung der Bewohner im Beruf und nach ihrem Bildungsstatus berechnet.) Dargestellt ist hier die Abweichung dieses Indikators für die einzelnen Zählbezirke vom Mittelwert der Gesamtstadt. Man erkennt eine klare sozialräumliche Polarisierung der Stadt: Der NW liegt unter dem Durchschnitt, im Südteil sind die höheren sozialen Schichten angesiedelt. Wir können feststellen, dass Lehen schon 1981 keineswegs am unteren Ende der sozialen Rangskala einzuordnen ist. Es lässt sich vielmehr erkennen, dass bereits nach den Daten der Volkszählung von 1981 der Stadtteil Lehen zwar knapp unter dem Durchschnittswert der Gesamtstadt liegt, aber objektiv keineswegs als ausgesprochenes Unterschichtquartier angesehen werden kann. In der Zwischenzeit ist die soziale Aufwertung noch weiter fortgeschritten. Heute liegt Lehen sogar deutlich über dem Durchschnitt der Gesamtstadt. Wir müssen also festhalten, dass die soziale Komponente des schlechten Image dieses Stadtteils mit der heutigen Realität nicht übereinstimmt. Denn die Unterschichtbevölkerung der 1930er- und 1940er-Jahre und ihre Kinder sind in der Zwischenzeit zur Mittelschicht aufgestiegen. Das extrem schlechte soziale Image des Viertels in der öffentlichen Meinung erscheint demnach als negative Übersteigerung und Übertreibung der sozialen Realität. Anders formuliert: Das heutige soziale Image des Viertels bezieht sich auf die sozialräumliche Realität der 1930er-Jahre. Zwischen dem Image des Stadtteils und seiner heutigen Struktur bestehen also erhebliche Diskrepanzen. Obwohl Lehen zum Untersuchungszeitpunkt längst kein Unterschichtquartier mehr war, ist dem Stadtteil das Image eines solchen geblieben. Ein schlechter Ruf lässt sich offensichtlich auch bei Stadtvierteln nicht so leicht loswerden. Dieser Aspekt des extrem negativen sozialen Image des Viertels bietet uns die Möglichkeit, eine plausible Erklärung für die eigenartige Ausweitung oder Ausstülpung des kognitiven Raumkonzepts von Lehen in das Nachbarviertel Liefering aufzustellen. Die These lautet: 208

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 50: Index der sozialen Ranglage, Salzburger Zählbezirke (1981) Quelle: P. Weichhart, 1992 a, Abb. 1, S. 382

Das kognitive Raumkonzept „Lehen“, seine Lageidentität, wurde in der Vorstellung eines Teils seiner Bewohner dem zeit-räumlichen Wandel der sozialen Gegebenheiten angepasst. Es liegt ein ähnlicher Effekt vor, wie wir ihn bei der räumlichen Verschiebung des Mittelwestens in den kollektiven Mental Maps amerikanischer Studenten gesehen haben. Der im kognitiven Konzept gleichsam inkorporierte Teil von Liefering wurde überwiegend erst nach dem Zweiten Weltkrieg überbaut, und zwar als Siedlungsgebiet für Flüchtlinge aus Siebenbürgen und Bessarabien. In den letzten beiden Jahrzehnten diente das Gebiet als konzentrierter Standort für Wohnungen von Sozialhilfeempfängern und Personen aus Zwangsräumungen.Von der heutigen Sozialstruktur her gesehen, ist dieser Teil von Liefering also tatsächlich ein ausgesprochenes Unterschichtquartier, in dem ein besonders hoher Anteil der Grundschicht wohnhaft ist. Der Index der sozialen Ranglage in diesem Gebiet liegt deutlich unter jenem des „offiziellen“ Stadtteils Lehen. Für Lehen bestand eine solche Situation letztmalig in den 1930er-Jahren. Die seither zu beobachtende soziale Aufwertung hat dazu geführt, dass die tatsächliche Sozialstruktur sich wesentlich besser er209

„Grenzverschiebungen“ als Mittel der Dissonanzbewältigung

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

weist, als das schlechte Image in der öffentlichen Meinung unterstellt. Die sozialräumliche Realität des „mental okkupierten“ Bereichs von Liefering entspricht heute hingegen relativ genau jenem schlechten Image, das sich mit penetranter Hartnäckigkeit für Lehen gehalten hat. Wir können damit die beschriebene Ausweitung der Grenzen von Lehen auf das Unterschichtgebiet von Liefering als eine charakteristische Entwicklungsmöglichkeit eines kollektiven Raumkonzeptes interpretieren: Das Image von Lehen wird nicht an die veränderte soziale Realität angepasst. Es werden vielmehr die Grenzen des Stadtteils in der Vorstellung eines Teils der Bewohner räumlich in Richtung auf jenes Nachbargebiet verschoben, in dem das Attribut der sozialen Minderwertigkeit, das Lehen als Vorurteil anhaftet, heute real nachweisbar ist. Wir haben am Beispiel der Untersuchungsergebnisse von Shortridge über den amerikanischen Mittleren Westen gesehen, dass derartige mentale „Grenzverschiebungen“ von Raumkonzepten gar nicht untypisch sind. Man kann sie als Mittel oder Medium der Dissonanzbewältigung für kollektive Raumwahrnehmungen oder Imageprojektionen ansehen.

Wir können mit diesem Erklärungsmodell der „kognitiven Dissonanzbewältigung durch Grenzverschiebung“ auch den vorhin besprochenen Einfluss der Wohndauer auf das Raumkonzept von Lehen erklären. Wie wir gesehen haben, teilen gerade die Neubürger stärker das negative Urteil über Lehen im Image der Gesamtbevölkerung. Sie sind daher besonders anfällig für die auch am Beispiel „Middle West“ (Midwest) beschriebene „Gebietsverlagerung“ als Mittel der Dissonanzbewältigung. Daher tendieren sie stärker zu einer Verschiebung des Raumkonzepts von Lehen in Richtung auf die Lieferinger Unterschichtgebiete.

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Zusammenfassung Die besprochenen Beispiele konkreter Ergebnisse der Mental-Map-Forschung verdeutlichen, dass es sich bei diesen Fragen der raumbezogenen Kognition um ein spannendes und ertragreiches Thema der Sozialgeographie handelt. Gleichzeitig konnten wir aber auch sehen, dass der zentrale Begriff „Mental Map“ doch widersprüchlich, vage und uneinheitlich verwendet wird. Diese Unklarheiten waren natürlich ein Anlass für massive Kritik am gesamten Forschungsansatz. Einerseits bezieht sich der Begriff „Mental Map“ auf wertneutrales, designatives Wissen über räumliche Strukturen beziehungsweise Lagerelationen von Dingen und Körpern, wobei visuelle Aspekte betont werden. Diese Verwendungsweise finden wir etwa in Arbeiten, die in der Tradition von Lynch stehen. Andererseits (zum Beispiel in der Tradition Tolmans) werden Mental Maps auch als eine Art Programme oder Algorithmen für das Lösen von Navigationsproblemen angesehen. Und schließlich verwendet man das Konzept der Mental Maps auch für die Darstellung evaluativer oder appraisiver Attribute raumbezogener Denkinhalte und deren subjektiver oder gruppenspezifischer Bedeutung. Eine weitere Quelle der Verwirrung besteht darin, dass unter Mental Maps einerseits singuläre Raumvorstellungen einzelner Individuen verstanden werden, andererseits bezieht sich das Konzept aber auch auf das aggregierte Muster räumlicher Informationen oder Wertzuschreibungen, das sich als gemeinsame Struktur aus den Reaktionen mehrerer Probanden konstruieren lässt. Diese kollektiven Raumbilder entstehen eigentlich erst im Prozess der Analyse und quasi im Kopf des Forschers. Es ist keineswegs klar, ob diese Post-hoc-Konstruktionen, also die nachträgliche interpretative Deutung und Zusammenfassung, eine parallele geistige Repräsentation in der Gedankenwelt des einzelnen Probanden besitzt. Mit anderen Worten: Sind kollektive Mental Maps tatsächlich gruppenspezifische Weltbilder oder handelt es sich eher um methodische Artefakte? Und schließlich müssen wir auch überlegen, ob sich die Vertreter der sozialgeographischen Mental-Map-Forschung nicht von der assoziativen Kraft der Kartenmetapher überwältigen ließen. Nimmt man diese Metapher nicht allzu wörtlich? Ist es nicht eine unbewiesene Unterstellung, dass die kognitiven Strukturen der menschlichen Raumwahrnehmung tatsächlich den Ordnungsrelationen und Strukturprinzipien einer Karte entsprechen? Konkret gesprochen:Weisen die „Produkte“ der räumlichen Kognition etwa die Eigenschaften der Symmetrie oder der Konnektivität auf, wie sie für Produkte der Kartographie charakteristisch sind?

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Konnektivität und leere Stellen in kognitiven Karten

Auf einer Karte ist eine Distanz oder ein Ordnungsgefüge von A nach B symmetrisch zur Distanz oder Relation von B nach A. Gilt dies auch für kognitive Karten? Der Autor erinnert sich noch genau an seinen Militärdienst: Der Weg von der Kaserne in den Heimaturlaub und zu meiner damaligen Freundin erschien mir wesentlich länger als der Rückweg, obwohl die objektiven Wegstrecken natürlich gleich waren. In einer realen Karte gilt das Prinzip der Konnektivität. Die einzelnen Stellen sind durch fixe Beziehungen miteinander verknüpft. In kognitiven Karten können leere Stellen auftreten, flächenhafte Bereiche ausgeblendet sein. Gibt es also tatsächlich so etwas wie eine Isomorphie realer Karten und der räumlichen Kognition? Haben menschliche Vorstellungen und Informationen über die räumliche Umwelt immer auch einen festen Platz in einem kartenartig strukturierten räumlichen Ordnungsgefüge? Haben wir also wirklich so etwas wie „Karten im Kopf“, funktioniert raumbezogene Kognition so ähnlich wie ein GIS-Labor, wie es in Abbildung 51 karikierend dargestellt wird? Der amerikanische Geograph Y.-F. Tuan, der gegenüber den behavioristischen Ansätzen eher skeptisch eingestellt ist, warnte jedenfalls schon 1975 vor allzu wörtlich genommenen Analogien: “Terms like image, pictures in the head, and mental map have tended to become vague entities that do not correspond to psychological reality. Metaphors have heuristic value if they are not taken literally. It cannot be assumed that people walk about with pictures in the head, or that people’s spatial behavior is guided by picture-like images and mental maps that are like real maps …” Y.-F. Tuan, 1975, S. 210

O’Keefe und Nadel: „The Hippocampus as a Cognitive Map“

Derartige Bedenken sind sehr ernst zu nehmen. Hauptkritikpunkte an der allzu wörtlichen Auslegung der Kartenmetapher sind folgende: Derartige Probleme der Mental-Map-Forschung ergaben sich vor allem aus der mangelnden kognitionspsychologischen Fundierung der verwendeten Modelle sowie durch die vorschnelle Verallgemeinerung von Einzelergebnissen. Ende der 1970er-Jahre kam es allerdings zu einer deutlichen Verbesserung der Situation. Dies ist unter anderem auf die Forschungsarbeiten von J. O’Keefe und L. Nadel zurückzuführen. Sie haben 1978 ein Buch mit dem Titel „The Hippocampus as a Cognitive Map“ publiziert. 1979 wurde eine Ergänzung ihrer Thesen in der Zeitschrift „The Behavioral and Brain Sciences“ veröffentlicht. Diese Autoren haben auf der Grundlage gehirnphysiologischer Untersuchungen versucht, gleichsam die „Hardware-Entsprechung“ menschlicher 212

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Quelle: R. M. Downs und D. Stea, 1982, Abb. 8.1, S. 347

Quelle: D. Stea und R. M. Downs, 1970, S. 5. Abbildung 51: Karten im Kopf?

Zusammenfassung 1.) Verschiedene empirische Untersuchungen haben gezeigt, dass die Raumvorstellungen des Menschen keineswegs in einer einzigen „Karte“ oder einem einheitlichen kognitiven Konstrukt integriert sind. Raumbezogenes Wissen zerfällt vielmehr in verschiedene unverbundene Komponenten, die miteinander kaum in Beziehung stehen. Sie werden je nach dem konkreten Handlungskontext aktualisiert. 2.) Gut belegt ist auch das Faktum, dass raumbezogene Vorstellungsinhalte eine ausgeprägte Asymmetrie aufweisen (Brennan’s Law). 3.) Die gleichsam künstliche Isolierung räumlicher Aspekte der Umweltwahrnehmung entspricht nicht der lebensweltlichen Realität von Vorstellungsinhalten. Es muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass die subjektiv relevante Umwelt als integrative Einheit räumlicher, zeitlicher, physisch-materieller und sozialer Elemente wahrgenommen wird. Es ist auch keineswegs so, dass Sachinformationen und Denkinhalte, für die räumliche Attribute wie Konnektivität, Distanz oder Lage bedeutsam sind, im alltagsbezogenen Weltbild von Individuen primär auf ein wie immer geartetes räumliches Koordinatensystem bezogen sein müssen.

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

„Radical Image Theory“

Raumwahrnehmung und räumlicher Orientierungsfähigkeit im Gehirn zu identifizieren. Als „physiologischen Ort“ der Raumwahrnehmung lokalisierten sie ein spezifisches neuronales System im Hippocampus, einem Wulst im Seitenventrikel des Gehirns („Schläfenlappen“). Man hat bei Tieren mittels Elektroenzephalogramm verschiedene physiologische Parameter dieser Region gemessen, und zwar bei Versuchsanordnungen mit raumund orientierungsrelevanten Aufgabenstellungen (z. B. Labyrinthversuche). Dabei stellte sich heraus, dass Tiere, deren Hippocampus-Region außer Funktion gesetzt worden war, ihre Orientierungsfähigkeit verlieren. Eine Bestätigung dafür, dass diese Befunde auch auf den Menschen übertragen werden können, ergab sich aus zahlreichen medizinischen Forschungsarbeiten an gehirngeschädigten Personen und Patienten mit dem sogenannten Korsakoff-Syndrom. Diese Patienten leiden unter zeitlichen und räumlichen Orientierungsproblemen. Neuere Untersuchungen haben ergeben, dass diese Personen charakteristische organische Veränderungen (neuronale Degradierungserscheinungen) im Bereich des Hippocampus aufweisen. Anders formuliert: Störungen der neuronalen Funktionsfähigkeit des Hippocampus führen zu Orientierungsverlusten. Aus derartigen Befunden zogen O’Keefe und Nadel den Schluss, dass der Hippocampus jener Ort im Gehirn ist, in dem kognitive Karten konstruiert und gespeichert werden – und zwar als neuronal fixierte Repräsentation der wahrgenommenen räumlichen Umwelt. Der Hippocampus funktioniert quasi als neuronales Modell der Wirklichkeit, auf dem sozusagen Distanzen „abgefahren“ oder „gescannt“ werden können. Der Hippocampus der linken Gehirnhemisphäre bezieht sich dabei auf die sprachlich-attributive Konzeptzuweisung, der rechtshemisphärische hingegen auf die räumlich-distanziellen Konstrukte. Anfang der 1980er-Jahre lagen nach Robert Lloyd (1982) drei Ansätze einer theoretischen Fundierung der Mental-Map-Forschung vor. Die erste wird als „radical image theory“ bezeichnet. Sie besagt, dass raumbezogene Informationen durch den Wahrnehmungs- und Kognitionsprozess vereinfacht, generalisiert und formalisiert werden. Diese vereinfachten Muster sind im Gedächtnis als quasi-bildhafte Strukturen verfügbar. Diese Theorie impliziert, dass Menschen tatsächlich bildhaft strukturierte Mental Maps entwickeln, die funktional mit realen Karten vergleichbar sind. Es gibt eine ganze Reihe empirischer Untersuchungen aus verschiedenen Bereichen der Wahrnehmungspsychologie, deren Ergebnisse mit der Radical-Image-Theorie übereinstimmen. So wurden beispielsweise Versuche durchgeführt, bei denen Probanden mit der Aufgabe konfrontiert waren, sich an Ausschnitte von Zeichnungen zu erinnern und sich einen bestimmten anderen Bereich der gleichen graphischen Darstellung zu vergegenwärtigen. Dabei zeigte sich, dass die Reaktionszeit der Probanden proportional zur metrischen Entfernung zwischen den abgefragten Bildteilen war. Dieses Ergebnis wurde so interpretiert, dass die gedanklich vorge214

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stellten visuellen Strukturen so wie bei der Wahrnehmung realer Phänomene gleichsam mit einem inneren Auge durch einen „Scanning-Vorgang“ abgetastet werden. Ähnlich zu interpretierende Resultate ergaben Versuchsanordnungen, bei denen Probanden die Identität dreidimensionaler Objekte beurteilen mussten. Eines der Objekte wird dabei in einem bestimmten Winkel um die eigene Achse rotiert. Die Reaktionszeit, die für das Erkennen identischer Objekte notwendig war, entsprach dem jeweiligen Rotationswinkel. Im Gegensatz dazu steht die „conceptual-propositional theory“. Die Vertreter dieser Theorie nehmen an, dass visuelle und räumliche Informationen so wie alles andere Wissen im Gedächtnis als abstrakte konzeptionelle Behauptungen oder Sätze, als Propositionen, gespeichert sind. Solche Propositionen sind Aussagen oder Behauptungen über die Realität. Beispiel: „Dieser Baum ist grün“, „Texas ist groß“. Auch räumliche Informationen würden auf dem Weg über solche abstrakten Behauptungen gespeichert. Der dritte Ansatz wird von Lloyd (1982) als „dual coding theory“ bezeichnet. Er kann auf Arbeiten von A. Paivio (z. B. 1971) zurückgeführt werden und stellt eine Art Synthese der beiden erstgenannten Auffassungen dar. In diesem Ansatz wird ein verknüpftes Gedächtnissystem postuliert, in dem verbale und bildlich-visuelle Informationen parallel verarbeitet werden. Für diese dritte Theorie liegen besonders überzeugende empirische Belege vor. Auch hier können klinische Befunde von gehirnverletzten Personen als Argumente herangezogen werden. Patienten mit Verletzungen der linken Gehirnhemisphäre leiden unter Teilverlusten der Sprachfähigkeit und haben Schwierigkeiten bei der Wiedererkennung von Worten. Bei abstrakten bildlichen Darstellungen ist ihre Merk- und Kodierfähigkeit hingegen unverändert. Umgekehrte Wirkungen ergeben sich bei Verletzungen der rechten Gehirnhälfte. Die Dual-Coding-Theorie wird auch von O’Keefe und Nadel vertreten. Sie nehmen an, dass der Hippocampus der rechten Hemisphäre als Ort der bildhaften Informationsverarbeitung und als Sitz der „spatial maps“ anzusehen ist. Sein linkshemisphärisches Pendant diene hingegen der Verarbeitung verbaler Informationen mit zeit-räumlichen Bezügen. Die theoretischen Strukturen, die aus den Dual-Coding-Hypothesen abgeleitet werden können, sind vor allem für jene sozialgeographischen Fragestellungen von Bedeutung, bei denen es sowohl um informationelle als auch um evaluative Komponenten von Mental Maps geht (etwa um Einkaufspräferenzen, Freizeitverhalten oder Wohnsitzpräferenzen). John O’Keefe und zwei seiner MitarbeiterInnen erhielten 2014 für die Aufstellung der Hippocampus-Theorie den Nobelpreis für Medizin. Im Jargon der Pressemeldungen wurde diese Auszeichnung „für die Entdeckung des NAVI in unserem Gehirn“ verliehen.

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„ConceptualPropositional Theory“

„Dual Coding Theory“

Medizin-Nobelpreis 2014 für die Hippocampus-Theorie

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

9.3. Die „Verhaltensrelevanz“ raumbezogener Kognition Die 2 Fragestellungen der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie

Definition „Verhalten“

Wir haben uns bisher ausschließlich mit der ersten wichtigen Problemstellung der Wahrnehmungs-Reaktionsmodelle und der Kognitionsmodelle beschäftigt, nämlich mit der Rekonstruktion raumbezogener Vorstellungen und Kognitionen. Dabei wurden auch einige Schwachstellen und Probleme dieser Ansätze diskutiert. Im Folgenden müssen wir uns nun dem zweiten und eigentlich entscheidenden Erkenntnisobjekt der mikroanalytischen Arbeitsrichtungen zuwenden, und zwar der Verhaltensrelevanz solcher Vorstellungsinhalte (vgl. Abb. 52). Was wir bisher besprochen haben, bezog sich ausschließlich auf die erste Hauptfragestellung der verhaltenswissenschaftlichen Ansätze, nämlich auf die Rekonstruktion raumbezogener Kognition. Es ging um die Frage, wie die Mental Maps aussehen, wie sie entstehen, welche Abweichungen von der Realität sie aufweisen und wie sie gespeichert oder verarbeitet werden. Nun ist es aber das erklärte Ziel dieser beiden mikroanalytischen Ansätze, das aktuelle raumbezogene Verhalten des Menschen zu erklären. Dabei helfen uns die Mental Maps, aber sie sind nur eine Etappe auf dem Weg zum Ziel. Diese zweite Fragestellung, die Erklärung overten, beobachtbaren Verhaltens, ist das eigentliche Erkenntnisobjekt der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie. Wir müssen zunächst einmal den Begriff „Verhalten“ etwas genauer besprechen.

Abbildung 52: Die zwei Fragestellungen der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie

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9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Unter „Verhalten“ versteht man bereits im Sinne des klassischen Behaviorismus ein beobachtbares, also sinnlich wahrnehmbares Tun. Im Verständnis der Wahrnehmungsgeographie ist Verhalten jedes Tun des Menschen, das in irgendeiner Form „raumrelevant“ erscheint und das als konkrete Aktivität oder Unterlassung einer Aktivität durch einen externen Beobachter registriert werden kann. Der Verhaltensbegriff ist dabei von seiner Grundkonzeption so angelegt, dass jede menschliche Aktivität als Reaktion auf bestimmte Stimuli oder Reize dargestellt werden kann. Bei den Kognitionsansätzen werden zusätzlich noch verschiedene intervenierende Größen eingebaut, die gleichsam vermittelnd zwischen Reiz und Reaktion stehen. Alles, was ein Mensch an Aktivitäten setzt, wird als Reaktion auf irgendwelche äußeren Anreize oder Anstöße dargestellt, auch wenn diese im Bewusstsein weiterverarbeitet, interpretiert oder mit bestimmten Vorgaben verglichen werden. „Verhalten“ ist in dieser Forschungstradition immer ein beobachtbares oder overtes, „sich offenbarendes“ Tun, das von menschlichen Individuen durchgeführt wird und mit bestimmten Auslösern in Zusammenhang gebracht werden kann. Die Richtung des Zusammenhanges ist dabei klar vorgegeben: Die Auslöser (Objekte, andere Menschen, räumliche Konstellationen) senden Stimuli aus, die jeweils Aktivitäten setzenden Menschen reagieren darauf.

Aus dem Gesamtspektrum möglicher Verhaltensmuster wählte die verhaltenswissenschaftliche Sozialgeographie eine Teilgruppe von Verhaltensweisen aus, die aus geographischer Sicht besondere Bedeutung besitzt. Es ist all jenes Tun, das sich im Bereich mindestens lokaler bis „landschaftlicher“ Größenordnung abspielt. Aktivitäten innerhalb der Wohnung, am Arbeitsplatz oder innerhalb von Gebäuden interessieren weniger. Auffällig ist auch, dass vor allem solche Verhaltensformen behandelt werden, die in irgendeiner Form als eine Art „Wahl- oder Auswahlverhalten“ bezeichnet werden können. Es handelt sich dabei vor allem um zwei Formen menschlichen Tuns. Im ersten Fall geht es um die alltäglichen Routinen der menschlichen Existenz, die außer Haus durchgeführt werden und für die es in der Regel mehrere zur Wahl stehende Alternativen gibt. Hier sind vor allem das Konsumverhalten und das Freizeitverhalten zu 217

Für die Geographie relevante Verhaltensformen

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nennen. Es gibt meist unterschiedliche Möglichkeiten für die Erledigung dieser Aktivitäten, aus denen das Individuum auswählen kann. Die zweite Form bezieht sich auf jene meist relativ selten durchzuführende Wahl von längerfristigen Funktionsstandorten im Bereich des Wohnens und des Produzierens. Es handelt sich hier also um „Verhaltensmuster“, die bei der Auswahl von Wohnstandorten, Arbeitsplätzen oder der unternehmerischen Festlegung von Produktionsstandorten wirksam werden.

Standortentscheidungen

Beispiel von Hard/Scherr

„Mental Maps, Ortsteilimage und Wohnstandortwahl in einem Dorf an der Pellenz“

Man kann sagen, dass sich die verhaltenswissenschaftliche Sozialgeographie in besonderem Maße für Standortentscheidungen interessiert. Ziel ist es, das Standortwahlverhalten durch Umweltstimuli und deren kognitive Verarbeitung zu erklären. Sehen wir uns nun einmal an einigen konkreten empirischen Arbeiten an, wie man derartige Problemstellungen zu lösen versucht hat. Vor allem wollen wir darauf achten, ob es in diesen Arbeiten tatsächlich gelingt, einen klaren und nachvollziehbaren Kausalzusammenhang zwischen kognitiven und emotionalen Strukturen der Umweltwahrnehmung und dem overten Tun der beobachteten Menschen herzustellen. Anders gesagt:Werden in der Wahrnehmungsgeographie tatsächlich plausible Erklärungen menschlichen Tuns aufgestellt? Sind die Mental Maps und raumbezogenen Kognitionen tatsächlich verhaltensrelevant? Wir wollen dazu ein Beispiel besprechen, das eine der ersten empirischen Arbeiten der Wahrnehmungsgeographie darstellt, die im deutschen Sprachraum entstanden. Gleichzeitig ist sie wohl eine der elaboriertesten Untersuchungen im Rahmen dieses Ansatzes, die jemals von der deutschen Sozialgeographie vorgelegt wurde. Es handelt sich also gleichsam um einen „Klassiker“. Und pikanterweise stammt diese Untersuchung von einem der schärfsten Kritiker der verhaltenswissenschaftlichen Geographie, nämlich von Gerhard Hard und seiner Schülerin Rita Scherr. Sie wurde 1976 in den Berichten zur deutschen Landeskunde publiziert und hat den Titel „Mental Maps, Ortsteilimage und Wohnstandortwahl in einem Dorf an der Pellenz“. Die Autoren untersuchten ein kleines Dorf im Raum Koblenz, das 1973 insgesamt 620 Einwohner zählte. In diesem Dorf (es hat den Namen Welling) gibt es allgemein bekannte Viertels- oder Ortsteilnamen, die Teilbereiche des Siedlungskörpers bezeichnen. Die Verfasser gehen von der Beobachtung aus, dass jedes dieser Dorfviertel mit einem ausgeprägten Image verknüpft ist. Die konkrete Problemstellung der Untersuchung lautet nun: Korrespondieren die kognitive Raumgliederung und die mit den Ortsteilen verknüpften Images mit dem Interaktions- und Wanderungsverhalten der Bevölkerung? 218

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Diese Problemstellung entspricht exakt jener Frage nach der Verhaltensrelevanz raumbezogener Kognition, die wir eingangs aufgeworfen haben. Sehen wir uns die Fragestellung der Untersuchung von Hard und Scherr im Detail an. Die erste Teilfragestellung bezieht sich auf die Rekonstruktion der Vorstellungsbilder oder Images, die mit den verschiedenen Ortsteilen verknüpft sind. Image definieren die Autoren dabei als Gesamtheit der Vorstellungen, Bewertungen und deren Interpretationen, die bestimmte Individuen von einem bestimmten Objekt besitzen. Dabei interessiert auch die Frage nach der Art und Präzision der sprachlichen und damit kognitiven Raumgliederung. Es soll also geklärt werden, ob die Ortsteilnamen tatsächlich als kognitive Strukturen im Bewusstsein der Dorfbewohner existieren und im Rahmen der alltäglichen Lebenspraxis als gängige und inhaltlich eindeutig bestimmte Bezeichnungen verwendet werden. Bezeichnen also die gleichen Namen für alle Dorfbewohner auch genau die gleichen Gebiete? Ein weiteres Problem ist die Frage, ob die Vorstellungsbilder und Images eine Entsprechung in der Realität aufweisen. Mit anderen Worten: Haben Ortsteile mit einem besonders positiven oder negativen Image auch real messbare Attribute, die diesem Image entsprechen? Damit verbunden ist auch die Frage, wie solche Ortsteilimages entstanden sind. Und schließlich interessiert (und das ist aus unserer Perspektive natürlich die wichtigste Problemstellung), ob die kognitiven Konstrukte und Images auch verhaltensrelevant sind, also das aktuelle Tun der Bewohner beeinflussen. Vorstellungsbilder haben Bezugsgegenstände. Bevor ein Image ermittelt wird, muss zunächst einmal (wenigstens annähernd) der gemeinte Bezugsgegenstand festgestellt werden. Die Autoren gehen davon aus, dass dieses Problem im Fall von Siedlungsteilen keineswegs trivial sei. Der erste Analyseschritt bestand also darin, festzustellen, welche konkrete inhaltliche Bedeutung die einzelnen Ortsteilnamen für die Befragten besitzen.Versuchspersonen waren alle Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren, die zum Zeitpunkt der Erhebung im Dorf wohnten. Den Probanden wurde eine Planskizze von Welling vorgelegt. Es waren keinerlei Namen angegeben, nur drei bekannte Gebäude waren gekennzeichnet. Die Probanden wurden nun aufgefordert – ohne irgendwelche Vorgaben – Ortsteile zu benennen und zu beschreiben. Sie sollten also auf dem Plan Straßen, Straßenabschnitte, Häusergruppen und Einzelgebäude zusammenfassen, die ihrer Meinung nach irgendwie zusammengehören und einen Ortsteil bilden. Die Jugendlichen beschrieben sofort und spontan eine klare Viertelsdifferenzierung der Siedlungsfläche (vgl. Abb. 53). Als erstaunliches Ergebnis zeigte sich dabei, dass sich aus den Angaben der Probanden ein widerspruchsfreies und fast flächendeckendes Muster der Raumgliederung ergab, das so gut wie keine Lücken aufwies. Dabei wurden von den Probanden spontan folgende Ortsteilnamen genannt: Kreuzheck,Viedel und Acker. Diese drei Viertel sind in ihren Grundzügen 219

Der Bezugsgegenstand von Images

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 53: Die sprachlich-kognitive Raumgliederung von Welling Quelle: G. Hard und R. Scherr, 1976, Abb. 1

Stabilität der Mental Maps in der Untersuchung

Erfragung des Images von Ortsteilen Semantisches Differenzial

bei nur geringer Variation der Grenzziehung allen Befragten gegenwärtig. Nur diese drei Ortsteile haben feste Namen. Sie sind das konkurrenzlose kognitiv-designative Grundgerüst der Raumwahrnehmung. Nur sie spielen in der spontanen umgangssprachlichen Raumgliederung eine feste Rolle. Das Zentrum des Dorfes blieb übrigens von der Namensgebung ausgespart. Hier gibt es offensichtlich weder einen einheitlichen Viertelsnamen noch eine stabile kognitive Raumgliederung. Um die Stabilität der Ergebnisse zu überprüfen, wurden die gleichen Probanden einige Wochen später gebeten, folgende Ortsteile selbst in die Kartenskizze einzutragen: Kreuzheck, Acker,Viedel und Jahnstraße-Mayenerstraße (Zentrumsbereich). Es wurde also vom Versuchsleiter eine neue Viertelsbezeichnung erfunden, die im spontanen Namensfeld gar nicht vorhanden ist. Dieser Versuch sollte prüfen, wie stabil die erfassten designativen Mental Maps gegenüber veränderten Versuchsbedingungen sind. (Es handelt sich hier also auch um eine Reliabilitätsprüfung, welche die Zuverlässigkeit des eingesetzten Testverfahrens ermitteln soll.) Es zeigte sich, dass die erfasste kognitiv-designative Grundstruktur des dörflichen Lebensraumes absolut stabil ist und auch bei einer erheblichen Veränderung der Versuchsbedingungen völlig konstant bleibt. Im zweiten Untersuchungsschritt ging es um die Frage nach dem Image der Ortsteile. Nun sollten die evaluativen Komponenten der Mental Maps erfasst werden. Dazu wurden den Probanden in einer weiteren Befragung so genannte Semantische Differenziale vorgelegt und Aussagen zur Wohnsitzpräferenz verlangt. Das Semantische Differenzial (andere Bezeichnungen sind „Eindrucksdifferenzial“ und „Polaritätenprofil“) ist eine gängige sozialwissenschaft220

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 54: Semantische Differenziale von vier Ortsteilen – Fremdbilder Quelle: G. Hard und R. Scherr, 1976, Abb. 9.

Abbildung 55: Semantische Differenziale von vier Ortsteilen – Selbstbilder Quelle: G. Hard und R. Scherr, 1976, Abb. 10

221

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Methodik des Semantischen Differenzials

Semantische Differenziale in der Untersuchung von Hard/Scherr

liche Methode zur Erfassung von Einstellungen, die auch in der Humangeographie und der Siedlungssoziologie häufig eingesetzt wird. Eine der Anwendungsmöglichkeiten dieses Messverfahrens besteht darin, die Reaktion von Versuchspersonen auf bestimmte Phänomene oder Sachverhalte zu bestimmen. Dabei wird ein vorgegebener Stimulus („Konzept“) auf einer Serie von meist siebenteiligen Skalen abgebildet. Die Skalenenden werden durch zwei kontrastierende Begriffe (meist Adjektive) gebildet (z. B. laut – leise, schön – hässlich). Man nimmt an, dass mithilfe Semantischer Differenziale vor allem auch die emotionalen Komponenten von Objektbedeutungen erfasst werden können. Üblicherweise besteht ein solches Instrument aus 20 bis knapp 30 Wortpaaren. Die Methode ist in der sozialwissenschaftlichen Literatur sehr gut dokumentiert (vgl. R. Bergler, Hrsg., 1975, B. Schäfer, 1983 oder H. Eck, 1982). Semantische Differenziale werden immer größeren Probandengruppen vorgelegt. Die Auswertung erfolgt so, dass für jede Skala die Mittelwerte der gesamten Stichprobe berechnet werden. Die Verbindungslinie der Mittelwerte auf den einzelnen Skalen wird dann zu einem Gesamtprofil zusammengefasst und inhaltlich interpretiert. Das Semantische Differenzial ist also eine Methode zur Erfassung von Einstellungen gegenüber beliebigen Objekten. Dabei interessiert besonders auch der Grad der Einhelligkeit, die in den subjektiven Probandenurteilen sichtbar wird. Konkret wird dabei den Befragten ein Stimulus („Konzept“, z. B. ein Bild, eine Automarke, ein Wohnviertel etc.) vorgegeben. Sie erhalten die Aufgabe, dieses auf den vorgegebenen Skalen zu positionieren. Sollte für die Versuchsperson keiner der beiden Begriffe einer Skala den Stimulus charakterisieren, dann wird sie den „Neutralwert“ markieren, eine leichte Tendenz in Richtung auf eine Seite der Skala wird durch eine geringe Abweichung vom Neutralwert gekennzeichnet, bei einer eindeutigen Zuordnung wird der Wert +3 oder –3 angekreuzt. Bei der Auswertung der Testergebnisse werden nun die Mittelwerte („Profilhöhe“) sowie verschiedene Streuungsparameter („Profilstreuung“) für die einzelnen Skalen berechnet. Die Mittelwerte können nun durch eine Linie verbunden werden, die als „Profil“ oder „Profillinie“ bezeichnet wird. Diese Methode wurde in unzähligen Studien zur Erfassung der „Erlebnisqualität“ von Siedlungs- und Wohnumwelten eingesetzt. Dabei wird als Konzept, das durch die Probanden beurteilt werden soll, eine bestimmte Siedlung oder ein anderes „Raumobjekt“ vorgegeben. Dieses Objekt wird dann auf den einzelnen Skalen in der Einschätzung der Probanden abgebildet. Die Skalen müssen natürlich „konzeptadäquat“, also dem Bedeutungsspektrum des Stimulus angemessen sein. In der Studie von Hard und Scherr wurden nun als Stimuli oder Konzepte die drei spontan genannten Viertel und der nachträglich eingeführte Bereich „Dorfmitte“ vorgegeben. Diese vier Ortsteile sollten von den Pro222

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

banden auf den einzelnen Skalen positioniert werden. Die Auswertung wurde dabei getrennt nach „Fremdbild“ und „Selbstbild“ durchgeführt. „Selbstbild“ bedeutet, dass hier nur die Reaktionen jener Versuchspersonen zusammengefasst sind, die im betreffenden Ortsteil wohnen. „Fremdbilder“ sind die Urteile der Probanden über die jeweils anderen Wohnquartiere. Sehen wir uns zunächst die Fremdbilder an (Abb. 54). Hier zeigt sich zunächst einmal, dass sich die vier Ortsteile im Probandenurteil sehr deutlich voneinander unterscheiden. Aus der Außenperspektive werden die Viertel demnach als eigenständige kognitive Strukturen wahrgenommen, die durch unterschiedliche Merkmale gekennzeichnet sind. Zwei Ortsteile weichen besonders markant vom Zentralwert 3 ab, nämlich Kreuzheck und Acker. Acker (dargestellt mit der strichpunktierten Linie) zeigt dabei eine ausgesprochen negative Akzentuierung. Als Charakteristika dieses Ortsteiles werden folgende Attribute angesprochen: alt, ländlich, arm, einfach, klein, altmodisch, billig, ungemütlich, unsympathisch, schmutzig. Der Ortsteil Kreuzheck (dargestellt mit der durchgezogenen Linie) wird hingegen als besonders positiv eingeschätzt. Hier treten folgende Skalenenden in den Vordergrund: jung, weit, vertraut, interessant, reich, groß, fröhlich, sympathisch, zentral. Ein völlig anderes Bild bieten nun die Selbstbilder (Abb. 55). Auf den ersten Blick fällt auf, dass die Selbstbilder wesentlich ausgeprägter sind als die Fremdbilder. Die Profillinien weichen also stärker vom Mittelwert 3 ab. Man kann diese „Ausgeprägtheit“ quantifizieren, indem man den durchschnittlichen Abstand der Werte pro Skala vom Neutralwert 3 berechnet. Dieser durchschnittliche Abstand betrug beim Fremdbild 0,4, beim Selbstbild liegt er bei 0,75. Zweitens kann man klar erkennen, dass die Selbstbilder einander wesentlich ähnlicher sind als die Fremdbilder. Die Profillinien liegen hier enger beieinander. Und drittens fällt auf, dass die Selbstbilder positiver ausgeprägt sind als die Fremdbilder. Die Bewohner schätzen das jeweils eigene Quartier generell folgendermaßen ein: weiträumig, warm, interessant, modern, fröhlich, gemütlich, einfach, sympathisch, sauber. Für alle positiv getönten Skalenenden ergibt sich also eine wesentlich ausgeprägtere Beurteilung als beim Fremdbild. (Diese Befunde sind übrigens durchaus zu verallgemeinern. Selbstbilder sind grundsätzlich und unabhängig vom jeweiligen Kontext positiver und immer auch ausgeprägter. Dies lässt sich durch unzählige Untersuchungen über die Bewertung von Orts- oder Stadtteilen belegen.) Ein gutes Resümee der Imagestrukturen ergibt sich, wenn man die sechs eindeutig wertenden Skalen heranzieht und die Summe ihrer Abweichungen vom Mittelwert 3 berechnet (Abb. 56). Dazu werden diese sechs Skalen (interessant – langweilig, modern – altmodisch, fröhlich – traurig, gemütlich – ungemütlich, sympathisch – unsympathisch, sauber – schmut223

Fremdbilder

Selbstbilder

Die Summe der Abweichungen vom Neutralwert als Indikator

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 56: „Beliebtheit“ der Ortsteile Quelle: G. Hard und R. Scherr, 1976, Tab. 2

Abbildung 57: Ähnlichkeit von Selbst- und Fremdbild Quelle: G. Hard und R. Scherr, 1976, Tab. 3.

Quantitative Bestimmung der Unterschiede Fremdbild/Selbstbild bei Hard/Scherr

zig) in eine einheitliche Bewertungsrichtung umgerechnet (mit 1 als negativsten und 5 als positivsten Wert). Die (positive oder negative) Differenz dieses Mittelwertes vom Neutralwert 3 kann als aussagekräftiger Indikator für die Beliebtheit des betreffenden Viertels angesehen werden. Die Spalte „Fremdbild“ bestätigt die Beliebtheitsrangfolge 1. Kreuzheck, 2. Viedel, 3. Dorfmitte. Den niedrigsten Rang weist Acker auf. Die rechte Spalte veranschaulicht, dass die Selbstbilder generell positiver ausfallen. Beide Spalten zusammen lassen erkennen, dass die Rangfolge der Selbstund Fremdbilder nicht übereinstimmt. Die beiden unbeliebtesten Viertel haben keineswegs die negativsten Selbstbilder. Hard und Scherr versuchen nun auch, die Unterschiede bzw. Übereinstimmungen zwischen Selbstbild und Fremdbild quantitativ zu bestimmen. Ein starkes Auseinanderfallen von Selbst- und Fremdbild deuten sie als mangelnde Integration des betreffenden Ortsteils. Als Ähnlichkeitsmaß (Abb. 57) verwenden sie den Produkt-Moment-Korrelationskoeffizienten zwischen beiden Positionsindikatoren. Selbst- und Fremdbild sind bei Kreuzheck und Viedel am ähnlichsten, bei Dorfmitte haben sie kaum mehr und bei Acker haben sie keinerlei Ähnlichkeit mehr. 224

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Welche Handlungsbedeutsamkeit kann nun für diese klar differenzierten Viertelsimages nachgewiesen werden? Spielen diese appraisiven Elemente der kognitiven Karten eine Rolle für das aktuelle Tun der Ortsbewohner? Wie könnte man diese Verhaltensrelevanz messen? Die Autoren ziehen dafür die Wohnstandortwahl der Bevölkerung heran. Die Einwohnerzahl des Dorfes war zwar von 1950 bis 1973 praktisch konstant, es gab aber dennoch eine erhebliche Bautätigkeit. In diesem Zeitraum kam es zu einer fast 50 %igen Zunahme des Bestandes an Wohngebäuden. Die Wohnbautätigkeit wurde dabei fast vollständig von der einheimischen Bevölkerung getragen. Dabei ist anzumerken, dass die Wohn- bzw. Bauplatzwahl durch keinerlei Raumordnungsvorgaben wie Flächennutzungsoder Bebauungspläne gesteuert wurde. Die Bautätigkeit fand völlig unkoordiniert und praktisch wildwüchsig statt und konnte nach völlig freier Wahl der Bauherren durchgeführt werden. Demnach sollten eigentlich alle Ortsteile gleichermaßen von der Bebauung profitiert haben. Die Autoren analysieren nun, wo, in welchen Ortsteilen genau, die Neubautätigkeit stattfand und wo die Bauherren vorher gewohnt hatten. Dabei konnte folgendes Ergebnis festgestellt werden (Abb. 58): Wir sehen zunächst, dass die Anzahl der Neubauten („Neubauten gesamt“) in den einzelnen Ortsteilen exakt der Beliebtheitsrangfolge entspricht, die bei den Semantischen Differenzialen ermittelt worden war. Dabei kann ausgeschlossen werden, dass der eigene Grundbesitz und dessen räumliche Situierung eine Rolle spielten. So hatte etwa ein Bauherr aus Viedel drei Grundstücke im eigenen Viertel in landschaftlich reizvoller Lage an auswärtige Nachfrager verkauft und selbst im Ortsteil Kreuzheck ein Baugrundstück erworben. Man erkennt also, dass das aktuelle Standortwahlverhalten der Bauherren in einem erstaunlich hohen Maße mit den Mental Maps bzw. den evaluativen kognitiven Strukturen, die bei den befragten Jugendlichen erhoben wurden, übereinstimmt. Es besteht also eine klar nachweisbare und kausal interpretierbare Übereinstimmung zwischen kognitiven Vorstellungsinhalten und overtem Verhalten. Die Autoren weisen darauf hin, dass Wellinger Bauherrn, die außerhalb des eigenen Ortsteils gebaut haben, in ihrer Bauplatzverteilung ebenfalls exakt der Beliebtheitsrangfolge der Viertel folgen. In der Tabelle fällt auch die Konzentration der Bautätigkeit auf das jeweils eigene Viertel auf. Man erkennt dies deutlich, wenn man die Hauptdiagonale der Matrix betrachtet. Dabei ist aber die Selbstbevorzugungsrate der einzelnen Viertel sehr unterschiedlich. Die „Selbstbevorzugung“ wird ausgedrückt durch den Anteil der im eigenen Viertel bauenden Bauherren an der Gesamtzahl der Bauherrn aus diesem Viertel. Die Rangfolge der Selbstbevorzugungsrate entspricht wieder exakt der Beliebtheitsfolge der Ortsteile. In Ergänzung dieser Befunde haben die Autoren schließlich noch die Jugendlichen nach ihren Wohnsitzpräferenzen befragt: „Wenn Du freie Wahl hättest, wo in Welling würdest Du gerne wohnen?“ 225

Welche Handlungsbedeutsamkeit lässt sich daraus ableiten?

Standortwahlverhalten und Mental Maps bei Hard/Scherr

Selbstbevorzugungsrate

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 58: Horizontale Mobilität der Neubautätigkeit in Welling 1950–1973 Quelle: G. Hard und R. Scherr, 1976, Tab. 6.

Abbildung 59: Wohnsitzpräferenzen der Jugendlichen in Welling Quelle: G. Hard und R. Scherr, 1976, Tab. 9.

Zusammenfassung der Ergebnisse von Hard/Scherr: Entsprechung kognitives Raumkonzept – overtes Verhalten

nach

von

K

V

„M“

Bauherrn aus d. SelbstbevorViertel insgesamt zugungsrate

A

12

-

-

1

13

0,92

Viedel

6

12

2

-

20

0,60

„Dorfmitte“

2

4

9

1

16

0,56

Acker

3

2

1

4

10

0,40

Neubauten gesamt

23

18

12

6

59

Bauherrn aus dem gleichen Viertel

12

12

9

4

Bauherrn aus anderen Vierteln

11

6

3

2

nach

K

Kreuzheck

von

Kreuzheck

V

„M“

Selbstbevorzugungsrate

A

28

6

0

1

0,80

Viedel

8

20

2

2

0,62

„Dorfmitte“

6

7

11

4

0,39

Acker

17

11

1

8

0,21

Bevorzugung insgesamt

59

44

14

15

Ohne Selbstbevorzugung

31

24

3

7

Auch hier ist wieder die bereits bekannte Dominanz der Hauptdiagonale zu beobachten (Abb. 59). Das jeweils eigene Wohnquartier ist grundsätzlich (das lässt sich als generalisierbare Regelhaftigkeit der Wohn- und Wanderungsforschung festhalten) das Gebiet der höchsten Präferenz. Dies erklärt auch die generelle Tendenz beim Vergleich Selbstbild – Fremdbild. Rechnet man die Selbstbevorzugung heraus, dann entspricht die Rangreihung der Wohnsitzpräferenzen wieder genau dem bereits bekannten Muster. Dies gilt auch für die Selbstbevorzugungsrate, die sich aus den hypothetischen Wohnsitzpräferenzen der Wellinger Jugendlichen ableiten lässt. Wir können also festhalten, dass die Ortsteilimages und die Wohnstandortpräferenzen, die bei den Jugendlichen (im Alter von 13–16 Jahren) im Jahr 1973 erhoben wurden, offensichtlich ident sind mit jenen Präferenz226

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

strukturen, welche die räumliche Mobilität und die durchaus nennenswerte Neubautätigkeit von 1950 bis 1973 gesteuert haben. Besonders wichtig für unsere Fragestellung ist dabei der doch sehr überzeugende Nachweis, dass tatsächlich eine klare und zweifelsfreie Entsprechung zwischen den kognitiven Raumkonzepten und dem overten Verhalten vorliegt. Man beachte dabei aber, dass es sich hier um eine Situation handelt, bei der keinerlei Restriktionen oder Sachzwänge durch äußere Rahmenbedingungen wie Bebauungspläne oder Flächenmangel gegeben sind. Abschließend ist natürlich noch die Frage zu klären, wie denn diese offensichtlichen Bewertungsunterschiede zwischen den Vierteln entstanden sind. Wie kommt es, dass ein Ortsteil so positiv und ein anderer so ablehnend beurteilt werden? Man könnte zunächst einmal annehmen, dass die Mental Maps der Probanden einfach eine Widerspiegelung der baulichen oder der sozioökonomischen Realität darstellen. Dann müssten also in Kreuzheck Personen mit hohem Sozialstatus in aufwendigen Wohnhäusern leben, in Acker Personen mit niedrigem Sozialstatus in minderwertiger Bausubstanz. Dies ist aber durchaus nicht der Fall. Betrachtet man etwa die Berufsstruktur der Wohnbevölkerung nach Ortsteilen für das Jahr 1974, dann fallen keine erwähnenswerten Differenzen für die drei Viertel auf. Die Siedlungsteile sind von der Berufs- und Sozialstruktur her gesehen eher homogen und ähnlich ausgebildet. Als nicht besonders auffällige Differenz sind nur ein etwas höherer Anteil an Bauern im Kreuzheck, ein etwas höherer Anteil von Beamten im Viedel und ein geringfügig höherer Anteil von Rentnern im Acker festzustellen. Auch eine Analyse der sozialen Interaktionen zwischen den Bewohnern der verschiedenen Ortsteile erbrachte keine Hinweise auf Statusunterschiede. Durch die aktuelle Sozialstruktur lassen sich die markanten Imageunterschiede also nicht erklären. Völlig anders sah die Berufs- und Sozialstruktur in unserem Dorf allerdings im Jahr 1939 aus. Hier sind tatsächlich sehr erhebliche Differenzen zwischen den Ortsteilen erkennbar. Der wichtigste Unterschied war dabei folgender: Das Kreuzheck hatte damals einen besonders hohen Anteil an Bauern, fast gleich groß war jener im Acker. Dorfmitte und Viedel hatten einen höheren Anteil an Arbeitern und Arbeitslosen. Der entscheidende Unterschied zwischen Kreuzheck und Acker lag dabei darin, dass es sich im Kreuzheck um mittelbäuerliche und im Acker um kleinbäuerliche Betriebe und Häusler (kleinstbäuerliche Betriebe) handelte. Wenn man nun diese sozioökonomisch klar unterschiedliche Viertelsstruktur von 1939 mit der weitgehend ausgeglichenen Struktur von 1974 vergleicht und diesem Bild die Mental Maps von 1974 gegenüberstellt, dann wird klar, dass sich die raumbezogene Kognition der befragten Jugendlichen offensichtlich auf die sozialräumliche Realität von 1939 bezieht. Das Viertel Kreuzheck hat seine überragende Position im Image aus der 227

Spiegeln die Mental Maps die sozioökonomische Realität wider?

Raumbezogene Kognition verweist auf ehemalige Sozialstruktur

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

älteren sozialräumlichen Situation ererbt, als hier die mittelbäuerliche Schicht dominierte. Denn im alten Dorf, in der traditionellen Wertestruktur der Agrargesellschaft, verlieh primär der eigene Grund und Boden, der eigene bäuerliche Vollerwerbsbetrieb sozialen Rang, Prestige und Ansehen. Die kleinbäuerlichen Häuslerstrukturen im Viertel Acker hingegen bedeuteten eine besonders niedrige Position im damaligen Statusgefüge. Zusammenfassung Wir können damit zusammenfassen: Die designativen und vor allem die appraisiv-wertenden Elemente der kognitiven Raumgliederung, die Mental Maps der Jugendlichen von 1974, reflektieren sozialräumliche Gegebenheiten, die mindestens ein Menschenalter zurückliegen. Besonders bedeutsam für unsere Überlegungen ist die Tatsache, dass wir am Beispiel dieser Untersuchung eine völlig eindeutige und klare Entsprechung zwischen Mental Maps und dem realen räumlichen Verhalten feststellen konnten.

Raumbezogene Images werden über soziale Vermittlung erworben

Sind die Ergebnisse von Hard/Scherr generalisierbar?

Die Ergebnisse der Untersuchung von Hard und Scherr deuten also darauf hin, dass unter bestimmten Rahmenbedingungen tatsächlich klare und eindeutige Entsprechungen zwischen den designativen und appraisiven Raumvorstellungen und dem overten, beobachtbaren Tun des Menschen bestehen. Wir haben festgehalten, dass als Voraussetzung für einen solchen Zusammenhang allerdings das Fehlen jeglicher äußerer Zwänge oder Constraints erforderlich ist. Sie erinnern sich: In Welling gab es keine ortsplanerischen Regulierungen, keinen Bebauungsplan. Die Bebauung des Dorfes konnte völlig ungelenkt erfolgen, es gab auch keinerlei Restriktionen durch Flächenknappheit, in allen Ortsteilen war ausreichend Bauland vorhanden. Ein besonders interessantes Ergebnis der Studie war der Nachweis, dass die Genese der appraisiven Raumvorstellung auf Gegebenheiten basiert, die weit in der Vergangenheit zurückliegen. Die zum Zeitpunkt der Untersuchung relevanten Mental Maps spiegeln Verhältnisse wider, welche die Befragten aus eigener Anschauung gar nicht kennen können, weil sie bereits mindestens ein Menschenalter zurückliegen. Das Beispiel zeigte uns also auch, dass raumbezogene Images erstens sehr hartnäckig sind und dass sie zweitens vielfach nicht durch direkte Anschauung, sondern auf dem Weg über soziale Vermittlung erworben werden. Sie sind also das Produkt einer Internalisierung gelernter, vor-gedachter Urteile. Man achte auch darauf, dass mit dem vorgestellten Beispiel genau genommen kein exakter Nachweis der Verhaltensrelevanz von Raumvorstellungen gelungen ist. Denn die Wahrnehmungs- und die Verhaltenssubjekte waren 228

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

bei dieser Untersuchung nicht ident. Die Raumvorstellung, das Image, wurde bei den Jugendlichen erhoben, das aktuelle Verhalten bei den Erwachsenen, der Elterngeneration. Nehmen wir aber dennoch einmal an, dass am Beispiel der Arbeit von Hard und Scherr dieser Nachweis gelungen ist. Nun stellt sich allerdings die Frage, ob derartige Zusammenhänge generalisierbar sind, ob sie eine allgemeine Gültigkeit besitzen und sich an anderen Beispielen wiederholen lassen oder ob es sich beim Fall Welling um ein singuläres Phänomen, gleichsam eine Art Ausnahme von der Regel handelt. Es sei gleich vorweg verraten, dass in der Literatur zwar immer wieder die Behauptung einer derartigen Generalisierbarkeit aufgestellt wird, es aber so gut wie keine Beispiele für einen wirklich überzeugenden eindeutigen Beweis gibt. Man kann dies auf zwei Hauptursachen zurückführen, die wieder an einem konkreten empirischen Beispiel plausibel gemacht werden sollen. Man kann derartige appraisive Raumvorstellungen natürlich für jeden beliebigen Raumausschnitt erheben. Inhaltlich-thematisch stellt die Frage nach den regionalen Wohnstandortpräferenzen eine besonders gute Operationalisierungsmöglichkeit dar. Das ist ein Thema, das jeden angeht, wo jeder Mensch sehr klare und eindeutige Präferenzen besitzt und auch artikulieren kann und das eine hohe lebensweltliche Relevanz besitzt. Bei derartigen Untersuchungen geht es also um die Frage, wo eine bestimmte Person am liebsten wohnen würde. Das ist einer der am häufigsten untersuchten Aspekte appraisiver Wertzuschreibungen in der einschlägigen sozialgeographischen Literatur. Einer der ersten Sozialgeographen, der sich mit dieser Frage nach regionalen Wohnstandortpräferenzen systematisch auseinandergesetzt hat, war jener Peter Gould, den wir als Innovator der Mental-Map-Forschung bereits kennengelernt haben. Gemeinsam mit Rodney White untersuchte er die Wohnstandortpräferenzen britischer Schulabgänger. Die Ergebnisse dieser Analysen wurden unter anderem 1974 in Buchform publiziert (vgl. Abb. 60). Auf die Erhebungsmethodik und inhaltliche Details dieser Untersuchungen soll im Folgenden nicht näher eingegangen werden, präsentiert werden nur einige der Ergebnisse. Aus der Befragung einer relativ großen Stichprobe von Schulabgängern konstruierten Gould und White eine generelle oder „nationale“ Präferenzoberfläche (Abb. 61). Wenn wir hier von Norden nach Süden vorgehen, dann erkennen wir ein sehr geringes Ausmaß an Präferenzen in Schottland, hingegen in Cumberland und Westmorland einen deutlichen Präferenzgipfel und gegen Süden und Südosten einen markanten Anstieg der Präferenz. Die höchsten Werte mit über 90 % befinden sich ganz im Süden unmittelbar an der Kanalküste. Ein Nebengipfel findet sich in Norfolk. Es fällt auf, dass das Muster der Wohnstandortpräferenzen doch sehr erhebliche Übereinstimmungen mit den in Kapitel 8 besprochenen Karten 229

Gould/White: Untersuchung der Wohnsitzpräferenzen von Schulabgängern

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 60: Wohnsitzpräferenzen – die klassischen Arbeiten von P. Gould und R. White (1974) „Topographie“ der Präferenzoberfläche „Local Domes of Desirabilty“

über die Sterblichkeit aufweist (vgl. Abb. 18 und 19). Die Gebiete mit hoher Wohnsitzpräferenz liegen ziemlich genau dort, wo die niedrigsten Sterblichkeitsraten zu beobachten waren. Und wir erkennen auch eine auffällige Koinzidenz zwischen Gebieten mit hoher Wohnsitzpräferenz und der Stichprobe aus dem Who is Who, die wir als Indiz für den Sozialstatus der Wohngebiete des Landes interpretiert hatten (Abb. 20). Dies ist als Hinweis dafür zu werten, dass zwischen der Topographie der appraisiven Wohnstandortbewertung und der Sozialstruktur offensichtlich Zusammenhänge bestehen, die natürlich nicht völlig unerwartet und durchaus trivial sind. Um dieses Bild von der „Topographie“ der Präferenzoberfläche zu festigen, haben die Autoren noch ein dreidimensionales Computermodell der nationalen Präferenzoberfläche berechnet (Abb. 62). Es ist eine Perspektive, die sich einstellen würde, wenn man die nationale Oberfläche der britischen Wohnsitzpräferenzen von einem Satelliten aus etwa 300 km über Oslo betrachten würde. Ein wichtiges und gut verallgemeinerbares Ergebnis der Arbeiten von Gould und White ist der Nachweis sogenannter „local domes of desirability“. Die Bewohner eines bestimmten Teilgebietes der Untersuchungsregion stimmen in ihren Urteilen zwar weitgehend mit jenen der Gesamtstichprobe überein, bei ihrer Bewertungstopographie ist aber immer eine Art „Nebengipfel“ genau im Bereich des jeweils eigenen Wohnstandortes zu beobachten (vgl. Abb. 63). Aus der Perspektive der Befragten im Raum Aberystwyth ist neben der generellen Tendenz zur Bevorzugung der Kanalküste ein weiterer Präferenzgipfel im Bereich der Heimatregion zu erkennen. Aus der Perspektive der Probanden im Raum Liverpool wird die nationale Präferenzoberfläche zwar in den Grundzügen reproduziert, wir erkennen aber auch hier wieder im Bereich des eigenen Wohnstandortes einen regionalen Präferenzgipfel. Welche Teilregion auch immer gesondert berechnet wird, dieses Grundmuster der Präferenztopographie wiederholt sich, selbst dort, wo die nationale Oberfläche ausgesprochene Tiefs aufweist. Das gilt selbst für das generell am geringsten präferierte Schottland. Dabei ist eine Regelhaftigkeit zu erkennen. Der regionale Präferenzgipfel ist um so stärker ausgeprägt, je niedriger das Niveau der nationalen Oberfläche gelegen ist. Damit wächst die Differenz in einem Profil von Süden nach Norden immer stärker an. Das Niveau der regionalen Präferenzgipfel ist dabei immer ungefähr gleich hoch, es liegt generell über dem Wert von 80. Wir sehen auch in diesen Ergebnissen jene klare Überbewertung der gewohnten und bekannten näheren Umgebung des bestehenden Lebensraumes, die wir bereits aus einigen der früher besprochenen Arbeiten ken230

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 61: Die „nationale Präferenzoberfläche“ Quelle: P. Gould und R. White, 1974, Fig. 3.7

Abbildung 62: Ein Computermodell der nationalen Präferenzoberfläche Quelle: P. Gould und R. White, 1974, Fig. 3.8

231

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 63: Local Domes of Desirability Quelle: P. Gould und R. White, 1974, Fig. 3.11 und 3.12 Überbewertung der gewohnten Umgebung

Präferenzwahrnehmung bei Höllhuber und Weichhart

nen. Im Buch von Gould und White werden noch eine Reihe anderer einschlägiger Forschungsergebnisse (etwa über Wohnsitzpräferenzen in den USA) vorgestellt, die sehr gut zu den Befunden in Großbritannien passen und diese in allen wichtigen Punkten bestätigen. Andere Autoren haben sich der Untersuchung derartiger Wohnstandortpräferenzen in städtischen Lebensräumen zugewandt und sich auf die kleinräumigen Muster der Präferenzwahrnehmung konzentriert. Einer der ersten war der Bobek-Schüler Dietrich Höllhuber. Bereits 1975 veröffentlichte er eine kleine Arbeit über die Mental Maps von Karlsruhe, die sich mit Wohnsitzpräferenzen befasste und die Struktur der Präferenztopographie der Bewohner dieser Stadt darstellte. Mit seiner Habilitation, die 1982 in Erlangen publiziert wurde, legte Höllhuber eine sehr elaborierte Arbeit vor, die zu den Hauptwerken der mikroanalytischen verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie im deutschen Sprachraum gezählt werden kann. Auch die Habilitationsschrift des Autors (P. Weichhart, 1987) war dem Thema Wohnsitzpräferenzen gewidmet und rekonstruierte die Präferenzund Ablehnungstopographie für die Stadt Salzburg. Diese Untersuchungen befassten sich allerdings nicht mit der Handlungsrelevanz der Ergebnisse. Sie beschränken sich darauf, die Präferenztopographie der jeweils untersuchten Stadt zu rekonstruieren. 232

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Im Folgenden soll in aller Kürze gezeigt werden, wie es um die Zusammenhänge zwischen Präferenztopographie und dem aktuellen innerstädtischen Wanderungsverhalten in der Stadt Salzburg steht. Der Autor hat in mehreren späteren Untersuchungen das aktuelle innerstädtische Wanderungsverhalten analysiert. Daraus lassen sich klare Aussagen zur Verhaltensrelevanz der Präferenztopographie ableiten. Auf die Fragen „Wo möchten Sie am liebsten wohnen?“ und „Wo möchten Sie auf keinen Fall wohnen?“ bekam man in Salzburg Anfang der 1980er-Jahre, am Höhepunkt der „Neuen Wohnungsnot“, sehr klare und eindeutige Antworten. Salzburger Wohnungssuchende waren sich Anfang der 1980er-Jahre offensichtlich völlig darüber einig, in welchen Gebieten der Stadt sich die guten (vgl. Abb. 64) und die abgelehnten (Abb. 65) Wohnlagen befinden. Das in Abbildung 64 dargestellte Ergebnis ist schon einigermaßen erstaunlich. Etwa 150 Wohnungssuchende, die einander mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht kennen, nie miteinander gesprochen haben, kommen zu einer Bewertung der Wohnstandortpräferenz, die ein sehr beeindruckendes Ausmaß an Einhelligkeit und Übereinstimmung aufweist. Es wird klar, dass es sich bei bestimmten Aspekten der räumlichen Kognition offensichtlich um ein kollektiv geteiltes Urteil handelt. Es muss also so etwas wie eine „verbindliche öffentliche Meinung“ über die durchschnittliche „Wohnqualität“ der Salzburger Stadtteile geben, sonst könnte eine derart hohe Übereinstimmung niemals entstehen. Wie hoch die Stabilität und wie ausgeprägt die intersubjektive Übereinstimmung ist, lässt sich mit einem Split-Half-Test sehr eindrücklich belegen (P. Weichhart, 1987, Karten 4 und 5). Dabei wurde die Präferenztopographie für alle Probanden mit gerader und für jene mit ungerader Fallnummer gesondert berechnet. Der Vergleich der beiden Karten – er kann auch als Reliabilitätstest gewertet werden – zeigt eindrucksvoll, dass die Ergebnisse beider Halbgruppen bis in feine Details übereinstimmen. Auch die „local domes of desirability“, die wir in den Arbeiten von Gould und White sowie auf einer anderen Maßstabsebene in der Untersuchung von Hard und Scherr als ausdrückliche Regelhaftigkeit vorgefunden haben, lassen sich für die Salzburger Präferenztopographie eindeutig bestätigen. Fassen wir nochmals zusammen, was man in diesen Karten eigentlich sieht. Wir sehen eine aggregierte Darstellung individueller Werturteilsaussagen über die Stadt Salzburg. Aufgrund ihrer klar erkennbaren Übereinstimmungen und Gemeinsamkeiten kommt in ihnen die kollektive Meinung über die Wohnstandortqualitäten Salzburger Wohnquartiere zum Ausdruck. Das Urteil ist absolut einhellig, die Wertung eindeutig. Und nun vergleichen wir dieses räumliche Muster der Präferenz- und Ablehnungstopographie einmal mit einer Darstellung, die wir schon kennen, nämlich mit dem Index der sozialen Ranglage (Abb. 50). 233

Beispiel Salzburg: Präferenztopographie und Wanderungsverhalten

Bestätigung: Stabilität und intersubjektive Übereinstimmung wie bei Hard/Scherr und Gould/White

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Abbildung 64: Wohnstandortpräferenzen für die Stadt Salzburg Quelle: P. Weichhart, 1987, Karte 3

Abbildung 65: Abgelehnte Wohngebiete in Salzburg Quelle: P. Weichhart, 1987, Karte 6

234

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Die Übereinstimmung ist verblüffend. Bis in feine Details wird im zusammengefassten Urteil Salzburger Wohnungssuchender die sozialstrukturelle Realität der Stadt nachgezeichnet. 162 Wohnungssuchende sind imstande, durch die Artikulation ihrer Raumvorstellung und Raumbewertung die soziale Ranglage der Salzburger Stadtteile mit sehr hoher Genauigkeit vorherzusagen. Dieses Ergebnis ist für die Genese der appraisiven Imagekomponenten von Bedeutung. Wie bei der Arbeit von Hard und Scherr ist damit auch für Salzburg nachzuweisen, dass die wichtigste Erklärungsvariable von Wohnstandortpräferenzen in der sozialen Ranglage der betreffenden Stadtteile zu sehen ist. Wie sieht es nun aber mit der Verhaltensrelevanz der Mental Maps aus? Aus dem räumlichen Muster von Präferenz und Ablehnung müsste bei Vorliegen einer Handlungsbedeutsamkeit notwendigerweise zu erwarten sein, dass es generell zu einer Abwanderung aus den abgelehnten Gebieten im Norden und Nordwesten und einer massiven Zuwanderung im Süden und Südosten kommt. Dies sollte vor allem für innerstädtische Wanderungen zutreffen. Wenn wir diese Hypothese prüfen wollen, dann müssen wir uns das tatsächliche Wanderungsverhalten im Untersuchungszeitraum ansehen. Innerstädtische Wanderungsbewegungen sind nicht ganz einfach zu erforschen. Das liegt vor allem an der schlechten Datenlage. Nach dem gängigen Verständnis der Migrationstheorie ist diese Form der Binnenwanderung, bei der die Gemeindegrenze nicht überschritten wird, keine Wanderung, sondern nur ein Umzug. In den Daten der offiziellen Bevölkerungsstatistik werden diese Umzüge daher nicht ausgewiesen. Man muss auf spezifische Datenquellen der Meldestatistik zurückgreifen, die nicht für jede Stadt vorhanden sind und außerdem meist relativ viele Fehler enthalten. Der Autor hat in mehreren Publikationen (etwa 1985 und 1992 b) über Untersuchungen der innerstädtischen Wanderungsbewegung in der Stadt Salzburg berichtet, die auf der Basis von internen Meldeunterlagen des Magistrats der Stadt durchgeführt wurden. Mithilfe der Ergebnisse dieser Studien lässt sich sehr gut die Handlungsrelevanz der besprochenen Mental Maps zum Thema Wohnstandortpräferenzen überprüfen. Auf die Methodik der Analysen soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Als räumliche Bezugseinheiten der Untersuchung wurden die 32 statistischen Zählbezirke der Stadt herangezogen. Der Anteil der innerstädtischen Umzüge an der Gesamtzahl der Wanderungsfälle lag im Durchschnitt der Jahre 1978 bis 1987 bei etwa 50 %, was dem üblichen Wert in europäischen Großstädten entspricht. Die Zuwanderung von außen war im Untersuchungszeitraum besonders auf die innenstadtnahen Wohngebiete konzentriert. Auch das ist eine verallgemeinerbare Regelhaftigkeit, die für alle Städte typisch ist. Durch die innerstädtischen Umzüge ergibt sich übrigens ein erstaunlicher Umschichtungsprozess der Bezirksbevölkerung. In der Dreijahres235

Übereinstimmung Präferenztopographie und soziale Ranglage

Verhaltensrelevanz von Mental Maps

Untersuchung Wanderungsverhalten am Beispiel Salzburg

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Umzugsverflechtungen am Beispiel Salzburgs

Abbildung 66: Innerstädtische Wanderungsbeziehungen in der Stadt Salzburg 1981–1983 Quelle: P. Weichhart, 1992 b, Tab. 2

periode 1985 bis 1987 erreichte die Gesamtzahl der intraurbanen Zu- und Wegzüge in sechs Salzburger Zählbezirken immerhin Werte zwischen einem Drittel bis knapp 50 % der Wohnbevölkerung. Es kam in den drei Jahren also zu einem erheblichen Austausch der Wohnbevölkerung. Diese hohe Umzugsmobilität betrifft vor allem die innenstadtnahen und dicht verbauten Wohnviertel. Von besonderem Interesse ist nun die Frage nach den Umzugsverflechtungen zwischen den einzelnen Teilgebieten der Stadt. Damit kann die Hypothese über die Handlungsrelevanz der Mental Maps geprüft werden. Wie sehen also die räumliche Struktur und die Intensität der intraurbanen Wanderungsströme aus (vgl. Abb. 66)? Um die wichtigsten Hauptstrukturen der Umzugsverflechtungen herauszufiltern, wurden für die Analyse nur jene Stadtteile (Zählbezirke) berücksichtigt, die als Quellgebiete für Umzüge in einer Größenordnung von mindestens 2 % des gesamten innerstädtischen Wanderungsvolumens fungieren (pro Jahr etwa zwischen 14.000 und 19.000 Personen). Für die Periode von 1981 bis 1983 sind das nur 20 von 36 Zählbezirken. Berechnungsgrundlage war eine quadratische Matrix der Zählbezirke, in deren Feldern die Summen der zwischenbezirklichen Wanderungen für alle drei Jahre eingetragen wurden. Diese Absolutwerte wurden in eine Wahrscheinlichkeitsdarstellung übergeführt. Die Elemente pij in den einzelnen Matrixfeldern geben an,

236

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

mit welcher Wahrscheinlichkeit eine im Bezirk i lebende Person nach j umzieht. Diese Gesamtmatrix wurde dann auf jene Zählbezirke reduziert, die eine Abwanderungswahrscheinlichkeit von mindestens 2 % aufweisen. Eine zusätzliche pragmatische Datenreduktion erfolgte dadurch, dass in den Feldern der Umzugsmatrix nur die fünf höchsten Abwanderungswahrscheinlichkeiten pro Quellgebiet (also pro Zeile) ausgewiesen werden. (Deshalb wird von einer „reduzierten Matrix“ oder Wahrscheinlichkeitsdarstellung gesprochen. Die Angabe der Werte für die Umzugswahrscheinlichkeiten erfolgt in Promille.) Diese reduzierte Matrix der Umzugsverflechtungen sieht für die Periode 1981 bis 1983 (das war der Zeitpunkt der Untersuchung der Wohnstandortpräferenzen) folgendermaßen aus: In den Zeilen sind die Quellbezirke, in den Spalten die Zielbezirke ausgewiesen. Es zeigt sich, dass als Zielgebiete wieder genau jene 20 Bezirke auftreten, welche die 2 %-Bedingung als Quellgebiet erfüllen. Nur der Bezirk 42 in Nordosten der Stadt kam dazu. In den Zellen sind jetzt die fünf höchsten Abwanderungswahrscheinlichkeiten pro Quellgebiet ausgewiesen. Die Zeilensummen verdeutlichen, dass diese nur fünf Zielgebiete (von insgesamt 32 möglichen) immerhin zwischen fast 50 und 60 % der gesamten Abwanderung absorbieren. Bezogen auf die Gesamtmatrix kann man Folgendes festhalten: Durch diese 20 x 5 (= 100) besetzten Verknüpfungsfelder, die nur knapp 10 % der theoretisch möglichen Verknüpfungen abbilden, werden etwa die Hälfte aller innerstädtischen Wanderungsfälle erfasst. Das weist bereits auf eine sehr hohe und weit überzufällige räumliche Konzentration der Umzugsbewegungen hin. In den Matrixfeldern sind jene Werte fett ausgewiesen, die den jeweils höchsten Wert einer Zeile darstellen. Das sind also die jeweils wichtigsten Zielgebiete der Umzugsströme, die von einem Quellbezirk ausgehen. Wenn wir uns diese fett ausgewiesenen Werte ansehen, erkennen wir sofort das Hauptcharakteristikum der hier dargestellten innerstädtischen Umzugsverflechtung. Die höchsten Werte werden nämlich ausnahmslos in den Feldern der Hauptdiagonale erreicht. Diese Felder kennzeichnen die innerbezirklichen Umzüge, bei denen Quell- und Zielbezirk identisch sind. Von den ausgewiesenen Zielgebieten eines Bezirks ist also in jedem Fall dieser Stadtteil selbst das mit Abstand wichtigste Zuwanderungsgebiet. Die Werte in der Hauptdiagonale sind dabei immer um ein Mehrfaches größer als die nächsthöchste Wahrscheinlichkeit einer Zeile. Insgesamt entfallen 34 %, also mehr als ein Drittel aller innerstädtischen Wanderungen, auf innerbezirkliche Umzüge. Mit anderen Worten: Die Umzugsdaten beweisen eindeutig, dass das jeweils eigene Wohngebiet in jedem Falle das mit Abstand wichtigste Zielgebiet eines Umzugs darstellt. Es ließen sich Hunderte von Wanderungsmatrizen von beliebigen Städten Europas vorlegen, die völlig einheitlich und regelhaft genau dieses Muster aufweisen. 237

Wanderungsverhalten

Konzentration innerbezirklicher Umzüge

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Raum-zeitliche Konstanz der Wanderungsverflechtungen

Wanderungsverbundsysteme

Kein Zusammenhang zwischen Präferenztopographie und Umzugsströmen

Hintergründe für das Scheitern der zentralen These

Die letzte Zeile der Matrix verdeutlicht, dass die Hauptwanderungsströme auf ganz bestimmte Zielbezirke konzentriert sind. Die drei Stadtteile 20, 44 und 46 vereinigen immerhin fast die Hälfte der extrabezirklichen Wanderungsströme auf sich. Mehr als ein Viertel der ausgewiesenen Umzugsverflechtungen bezieht sich auf Wechselwanderungen zwischen Bezirken. Die betreffenden Werte sind in der Matrix unterstrichen. Die Konzentration der besetzten Matrixfelder um die Hauptdiagonale verweist auf die Bedeutung kurzer Wanderungsdistanzen, denn räumlich benachbarte Zählbezirke haben in der Regel aufeinander folgende Kennziffern. Für das Jahr 1984 lagen keine Daten vor, für 1985 bis 1987 konnte aber ein zweiter Datensatz bearbeitet werden. Für diese zweite Periode weist die nach der gleichen Methodik erstellte reduzierte Wahrscheinlichkeitsmatrix in der Grundstruktur eine sehr hohe Übereinstimmung mit der ersten Matrix auf, woraus eine verblüffende raum-zeitliche Konstanz der innerstädtischen Wanderungsverflechtungen in Salzburg erkennbar wird. Die Matrixdarstellung hat den Vorteil, dass man sehr gut die besprochenen formalen Grundstrukturen der Umzugsverflechtungen erkennt. Um die räumlichen Zusammenhänge besser zu veranschaulichen, wurden die Umzugsdaten auch in Karten übertragen (P. Weichhart, 1992 b, Abb. 3, 4 und 5). Diese Karten belegen, dass ein Großteil der innerstädtischen Wanderungsbeziehungen innerhalb begrenzter städtischer Teilräume abläuft. Die Wahrscheinlichkeit eines Umzugs sinkt auch in einer „kleinen Großstadt“ wie Salzburg mit zunehmender Distanz vom alten Wohnstandort, dessen Nahumgebung ist immer der häufigste Zielbereich eines Umzugs. Besonders wichtig ist dabei Folgendes: Die Nahwanderungsbeziehungen streuen nicht gleichmäßig über das Stadtgebiet. Es lassen sich vielmehr räumlich klar begrenzte Wanderungsverbundsysteme erkennen, die keil- oder sektorenförmig auf das Stadtzentrum ausgerichtet sind. Sie weisen in sich starke Verflechtungen auf und sind nach außen relativ abgeschlossen. Im abgelehnten Nordosten und Nordwesten der Stadt beschränken sich die Umzugsverflechtungen weit überwiegend jeweils auf den eigenen Sektor. Es lassen sich keine erwähnenswerten Umzugsströme aus dem abgelehnten Nordteil Salzburgs in den hoch präferierten Süden erkennen. Auch im Süden und Südosten dominiert die sektorale Binnenwanderung. Man kann hier aber eine Reihe von Umzugsströmen erkennen, die aus diesen begehrten Wohnbereichen hinaus nach Norden gerichtet sind. Sie repräsentieren damit Umzüge von Haushalten, die von den Gebieten höchster Wohnstandortpräferenz in den Bereich der stärksten Ablehnung übersiedeln. Was sind die Hintergründe und Ursachen dieses Scheiterns? Warum funktioniert die so plausibel erscheinende zentraleThese derWahrnehmungsgeographie nicht? Warum lässt sich die postulierte kausale Abhängigkeit des Verhaltens von den Wertungsstrukturen der Raumvorstellung nicht völlig eindeutig und widerspruchsfrei bestätigen? 238

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Zusammenfassung Die Überprüfung unserer Hypothese hat ein eindeutig negatives Ergebnis erbracht. Das Muster der innerstädtischen Wanderungsverflechtung steht genau im Gegensatz zu jener Dynamik, die aufgrund der Präferenz- und Ablehnungstopographie zu erwarten wäre. Besonders begehrte Gebiete sind Bereiche massiver Abwanderung, besonders stark abgelehnte Stadtteile wie Schallmoos, das Bahnhofsviertel oder Lehen sind dagegen hochrangige Zuwanderungsgebiete und sogar Schaltstellen der Wanderungsdynamik. Insgesamt können wir also festhalten, dass zwischen Mental Maps und aktuellem Verhalten in diesem konkreten Fall keinerlei Kausalbeziehungen nachzuweisen sind. Dieser Befund kann für unzählige andere Untersuchungen dieser Art bestätigt werden. Allerdings müssen wir folgende Einschränkung machen: Unsere Analysen erbrachten die klare Bestätigung einer zentralen Hypothese der Mental-Map-Forschung zum Thema Wohnstandortpräferenzen. Eindeutig bestätigt werden konnte nämlich die Konzentration der Wanderungsverflechtungen auf den engeren räumlichen Bereich der Umgebung des eigenen Wohnstandortes. Für die „local domes of desirability“ in den Mental Maps kann eine klare Verhaltensrelevanz eindeutig nachgewiesen werden. Diesen Effekt kann man als eines der grundlegenden Prinzipien subjektiver Raumerfahrung ansehen, dem der Rang einer sozialen Gesetzlichkeit zukommt. Abgesehen von dieser Regelhaftigkeit mit genereller Gültigkeit ist es aber nicht möglich, aus der Kenntnis der appraisiven Komponenten von Mental Maps die aktuelle Struktur der Wanderungsbewegungen zu prognostizieren. Die von den Modellen der verhaltenswissenschaftlichen Geographie unterstellte Verhaltensrelevanz der Raumkognition ist also nicht gegeben.

Der erste Ursachenkomplex ist darin zu sehen, dass sowohl die Stimulus-Wahrnehmungs-Reaktions-Modelle als auch die organismischen Kognitionsmodelle die ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen und Zwänge von Verhaltenssystemen völlig ignorieren. Erinnern wir uns an die Arbeit von Hard und Scherr. In Welling gab es einen Grundstücksund Bodenmarkt, der völlig frei von irgendwelchen Restriktionen war. Es gab keinerlei Flächenbeschränkungen, es gab keinen Bebauungsplan, keine obrigkeitlichen Eingriffe in den Markt. Dies ist aber eine völlig unübliche Situation und kommt unter den „normalen“ Gegebenheiten des Boden- und Wohnungsmarktes nicht vor. Diese Märkte sind vielmehr durch vielfältige Restriktionen und Zwänge charakterisiert. Es gibt finanzielle Einschränkungen: Wohnwünsche können nicht realisiert werden, weil die Wohnungswerber nicht die erforderlichen finanziellen Mittel besitzen, um genau dort, wo sie sich niederlassen wollen, auch 239

Ursache: sozioökonomische Rahmenbedingungen

Restriktion und Zwänge durch den Wohnungsmarkt

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

tatsächlich als Käufer oder Mieter auftreten zu können. Zum Zweiten gibt es massive Zwänge und Restriktionen auf der Angebotsseite. Wenn in einem begehrten Gebiet keine Wohnungen angeboten werden, dann kann man auch nicht dorthin übersiedeln. Es sind also nicht die appraisiven Komponenten der Raumvorstellung, welche das Wohnstandortwahlverhalten bestimmen, sondern primär die sozioökonomischen Rahmenbedingungen, also auch die bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse und die Fakten der aktuellen Marktverfügbarkeit, welche als Erklärungsvariablen für Wanderungsprozesse eingesetzt werden müssen.

Zusammenfassung Damit verabsäumen es die kognitiven Verhaltensmodelle, menschliche Aktivitäten in ihrer Einbindung in den sozioökonomischen Kontext zu erfassen. Sie unterstellen eine weitgehende Autonomie und Souveränität der Subjekte. Damit vernachlässigen sie in unzulässiger Weise die vielfältigen Zwänge, Constraints und limitierenden Rahmenbedingungen sozioökonomischer und kultureller Art, welche die Freiheitsspielräume unseres Tuns sehr erheblich einschränken können. Anders formuliert: Verhaltensmodelle ignorieren die Einbindung des individuell Handelnden in das ihn umgebende soziale System. Schon aus diesem Grund muss immer dann, wenn das betreffende Verhaltenssystem an die Grenzen der individuellen Souveränität stößt, damit gerechnet werden, dass eine direkte Verhaltensrelevanz von Raumvorstellungen nicht möglich sein kann.

Schwachstelle verhaltenswissenschaftlicher Modelle: Ignorierung der menschlichen Intentionalität

Rationalitätskonzept der verhaltenswissenschaftlichen Modelle

Wir müssen unter anderem aber noch einen weiteren Ursachenkomplex ansprechen, der entscheidend dafür verantwortlich ist, dass die Vorstellungen der Verhaltensmodelle keine ausreichende Erklärungskraft besitzen. Hier handelt es sich um ein grundsätzliches konzeptionelles Defizit, eine grundlegende Schwachstelle der Modellstruktur, die im Verhaltensbegriff begründet ist. Wir haben diese generelle Schwachstelle bereits mehrfach angesprochen: Dass unsere Salzburger Wohnungssuchenden neben ihren appraisiven Mental Maps und Präferenzvorstellungen in einer aktiven und zielbezogenen Auseinandersetzung mit ihrem akuten lebensweltlichen Problem der Wohnungssuche noch viele andere Argumente heranziehen und primär von ihrer Intentionalität bestimmt werden, nämlich der Lösung des Wohnungsproblems, hat in den verhaltenswissenschaftlichen Modellen keinen Raum. Wir können aber noch eine weitere grundsätzliche Schwäche aller verhaltenswissenschaftlichen Modelle feststellen, die dafür verantwortlich ist, dass ihr Erklärungsgehalt wesentlich geringer ist, als ihre Vertreter postulieren.

240

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Zusammenfassung Menschliches Tun ist in den verhaltenswissenschaftlichen Modellen der mikroanalytischen Geographie grundsätzlich durch eine gerichtete Kausalitätskette charakterisiert, die von der Umwelt ausgeht und Verhalten bewirkt. Menschliches Tun wird demnach als von außen stimuliert angesehen. Damit vertritt diese Arbeitsrichtung der Sozialgeographie ein Menschenbild, das dem eines funktionalen Automaten entspricht. Der Mensch wird als bloß reagierendes Wesen dargestellt. Die Entscheidungskompetenz des Subjekts wird darauf reduziert, dass es Reize, die von außen kommen, bestenfalls kognitiv umstrukturieren und interpretieren kann. Letztlich stellt sich der Mensch nach dieser Konzeption als ein Getriebener dar, als ein Wesen, das die entscheidenden Impulse für sein Agieren von außen erhält. Damit wird die menschliche Intentionalität ignoriert, die Sinn- und Zielbezogenheit menschlichen Tuns, die schöpferisch-kreativen Kräfte von Individuen bleiben völlig unberücksichtigt. Man stellt sich den Menschen in diesen Verhaltensmodellen so vor, wie er manchmal in der Werbung behandelt und konzipiert ist: als Automat, der weitgehend manipulierbar ist und der nur die richtigen Impulse braucht, damit er verlässlich das tut, was von außen an ihn herangebracht wird.

Man kann die verschiedenen Menschenbilder der Sozialgeographie in einer von Allan Pred (1967) sogenannten „Verhaltensmatrix“ darstellen (Abb. 67). Die klassische Sozialgeographie der Wien-Münchener Schule orientierte sich noch am traditionellen Menschenbild des Homo oeconomicus. Die mikroanalytischen Ansätze der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie führten demgegenüber ein neues Menschenbild ein. Ihre Vertreter erkannten, dass die Informationsstände der Akteure kein perfektes, sondern ein höchst unvollständiges und verzerrtes Abbild der Realität repräsentieren. Man entwickelte dementsprechend das Menschenbild des „Satisfizer“, der sich vorschnell mit jenem Suboptimum an Umweltnutzung und Umweltbeherrschung zufriedengibt, das ihm aufgrund seiner unvollständigen Informiertheit eben gerade noch erreichbar ist. An der Grundannahme einer im Prinzip perfekten Rationalität des Menschen in alltagsweltlichen Entscheidungssituationen wird aber auch in der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie nicht gerüttelt. Für einen Menschen, der klar strukturierte Wohnsitzpräferenzen besitzt, muss deshalb zwingend angenommen werden, dass er im Vollzug perfekter Zweckrationalität sein Wanderungsverhalten auch konsequent an diesen

241

Das Menschenbild der verschiedenen Schulen

„Satisfizer“

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

Zusammenfassung Zwar beachten vor allem die Kognitionsmodelle ausdrücklich die Unsicherheiten,Verzerrungen und subjektiven Umdeutungen, die sich in der Raumvorstellung des Menschen äußern. Dennoch wird ein streng rationales Entscheidungskalkül für die subjektive Begründung menschlicher Tätigkeiten und menschlicher Entscheidungsfindung postuliert. Das Menschenbild der Verhaltensmodelle gleicht einem Computer, der quasi vorprogrammiert, ohne die Fähigkeit autonomer Ziel- und Sinnfindung auf der Basis unzureichender, unvollständiger und verzerrter Informationen seine Entscheidungen auf der Basis streng rationaler Kalküle, „Rechenanweisungen“ und Algorithmen fällt. Er ist zwar unzureichend informiert, verfügt in den meisten Fällen über äußerst ungenaue Entscheidungsgrundlagen, fällt dann aber seine Entscheidungen mit höchster Stringenz, Widerspruchsfreiheit, Präzision und einer strengen Rationalität, die exakt den Gesetzen der klassischen Logik entspricht.

Abbildung 67: Menschenbilder der Sozialgeographie nach ihrer Position in der „Verhaltensmatrix“

Qualität und Quantität der Information

Zunahme der Rationalität

„SATISFIZER“

HOMO OECONOMICUS Irrationalität

Kritik am Rationalitätskonzept

Verzerrte, gefilterte, unvollständige Information

Perfekte Information

Perfekte Rationalität

Präferenzstrukturen orientiert und genau dorthin übersiedelt, wo die Umweltstimuli ein Präferenzoptimum signalisieren. Das empirisch belegte Faktum, dass Menschen bei der kognitiven Bewältigung von lebensweltlichen Problemen imstande sind, subjektive Formen von Rationalität und Kausalität zu verwenden, ist in diesen Ansätzen konzeptuell nicht vorgesehen. Ein solches realitätsangemesseneres Menschenbild konnte erst in einem nächsten und neueren Ansatz der mikroanaly242

9. WAHRNEHMUNGSGEOGRAPHIE

tischen Sozialgeographie entwickelt werden, den handlungstheoretischen Modellen. Man achte darauf, dass unsere Kritik an den verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen der mikroanalytischen Sozialgeographie nicht den gesamten Forschungsansatz trifft. Von den zwei Fragestellungen (vgl. Abb. 52) bleibt das Erkenntnisobjekt einer Rekonstruktion raumbezogener Kognition auch aus heutiger Sicht ein wichtiges Desiderat der Forschung. Völlig obsolet erscheint demgegenüber aber das eigentliche Ziel dieser Ansätze, nämlich die Erklärung overten „räumlichen“ Verhaltens. Und auch die Vorstellungen der einfachen Stimulus-Wahrnehmungskonzepte müssen aus heutiger Sicht verworfen werden. Bestand haben hingegen die organismischen Kognitionsmodelle, jedoch nur, was die kognitiv-mentalen Repräsentationen betrifft. Allerdings werden wir später, bei der Besprechung der „konstruktivistischen“ Konzepte der Sozialgeographie, noch sehen, dass das Verhältnis zwischen den kognitiven Mustern unserer Weltdeutung und der „Realität“ in Wahrheit doch wesentlich komplexer ist, als die kognitionstheoretischen Modelle unterstellen.

Ziel der Erklärung overten Verhaltens kann nicht erreicht werden

Eine methodologische Nachbemerkung: Im letzten Abschnitt wurden die mikroanalytischen Ansätze der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie und ihre Thesen dadurch kritisiert, dass ihnen an einem konkreten Beispiel empirische Befunde zur gleichen inhaltlichen Thematik gegenübergestellt wurden, die im Rahmen eines makroanalytischen Ansatzes der Raumstrukturforschung erarbeitet wurden. Im Vergleich mit dieser „Gegenperspektive“ eines völlig anderen Forschungsansatzes wurde so etwas wie eine „Triangulation“ möglich, durch die der Erkenntnisgegenstand gleichsam „plastischer“ und vollständiger erfasst werden konnte als bei einer monoperspektivischen Zugangsweise. Wir werden später noch sehen, dass derartige „hybride“ Forschungsansätze, die also mehrere Paradigmen in einem Untersuchungsdesign kombinieren, im Vergleich mit monoparadigmatischen Analysen in der Regel einen erheblichen Mehrwert erbringen.

243

10 Defizite der verhaltenswissenschaftlichen Ansätze

Ein neues handlungstheoretisches Paradigma

Konzept des sinnbezogenen Agierens

Mikroanalytische Ansätze II: handlungsorientierte Sozialgeographie

Wir haben im letzten Kapitel gesehen, dass auch die fortschrittlicheren Kognitionsmodelle der mikroanalytischen Sozialgeographie eine Reihe grundsätzlicher Schwächestellen und Defizite aufweisen. Dies ist primär auf die verhaltenswissenschaftliche Grundkonzeption zurückzuführen. Wenn man sich damit begnügt, menschliches Tun als „Verhalten“ zu beschreiben, dann reduziert man es auf letztlich mechanistische Stimulus-Reaktionszusammenhänge. Damit ist es – wie wir ausführlich dargestellt haben – offensichtlich nicht möglich, die Komplexität menschlichen Tuns angemessen zu erfassen. Der Mensch wird im verhaltenwissenschaftlichen Ansatz als bloßer Automat konzipiert. Das ist zwar forschungstechnisch sehr praktisch und ermöglicht den Einsatz gut handhabbarer Forschungsmethoden, wird aber den realen Gegebenheiten menschlichen Agierens nicht gerecht. Denn mit diesem Modell werden die menschliche Intentionalität und die Prozesse der Sinnfindung ausgeklammert und ignoriert. Um diese grundsätzliche Schwächestelle überwinden zu können, wird seit Anfang der 1980er-Jahre in der Humangeographie ein neuer Ansatz diskutiert, der sehr plausibel und vielversprechend erscheint. Dieser dritte Modelltypus der mikroanalytischen Sozialgeographie ist am handlungstheoretischen Paradigma orientiert. Seine Besonderheit besteht auch darin, dass es die mikroanalytische mit der gesellschaftstheoretischen Perspektive verknüpft. Es handelt sich hier übrigens um eine Konzeption, die von Vertretern der deutschsprachigen Geographie eingebracht wurde. Erstmals seit langer Zeit hat sich damit die deutschsprachige Humangeographie wieder an der internationalen Forschungsfront mit einem kräftigen konzeptionellen und theoretischen Lebenszeichen bemerkbar gemacht. Dieses neue Paradigma ist durch eine völlig andere Konzeption charakterisiert. Menschliches Tun wird in diesem Paradigma ausdrücklich als Handeln, das heißt, als bewusste, vom Subjekt autonom getragene Aktion, als zielgerichtetes, sinnbezogenes Agieren dargestellt. Dieses Tun wird nicht als außen gesteuertes Reagieren verstanden, sondern als Agieren, das vom Subjekt selbst in Gang gesetzt wird. Der Akteur entwirft die eigenen Handlungsziele selbst, er entwirft vor dem Hintergrund der bestehenden Wertestrukturen Zielsetzungen und Intentionen, die gleichsam als Antriebskräfte für das konkrete Tun wirksam werden. Die Anstöße für menschliches Tun werden in den Handlungstheorien demnach als intrinsische Kräfte gesehen, es ist ein Modell der Innensteuerung menschlichen Tuns. Zusätzlich zum Aspekt der Reflexivität, also dem Nachdenken über das eigene Tun, wird 244

244

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

in den Handlungstheorien die menschliche Intentionalität, die Ziel- und Sinnbezogenheit des Agierens, als entscheidendes Kausalitätselement personaler Systeme gesehen. In der handlungstheoretischen Sozialgeographie wird ego deshalb meist als „Subjekt“ angesprochen, weil hier die Entscheidungs- und Kontingenzfähigkeit des „Ich“ im Vordergrund steht. Bereits 1968 hatte einer der großen Erneuerer der deutschsprachigen Sozialgeographie, Dietrich Bartels, in seiner Habilitationsschrift als erster die Forderung aufgestellt, die Sozialgeographie handlungstheoretisch zu konzipieren. Aufgabe der Sozialgeographie solle es sein, die Sinnzusammenhänge sozialräumlicher Lebenssituationen zu rekonstruieren. Erst Anfang der 1980er-Jahre wurden diese Anregungen konkret aufgegriffen. Seit damals wurden eine Reihe programmatischer Vorstöße publiziert, in denen eine handlungstheoretisch konzipierte Sozialgeographie als Alternative zu den verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen gefordert wird. Hier ist besonders auf einen Artikel von Eugen Wirth aus dem Jahr 1981 zu verweisen, dessen Titel auf den Punkt bringt, was damals methodologisch diskutiert wurde: „Kritische Anmerkungen zu den wahrnehmungszentrierten Forschungsansätzen in der Geographie. Umweltpsychologisch fundierter ‚behavioural approach‘ oder Sozialgeographie auf der Basis moderner Handlungstheorien?“ Vorschläge mit ähnlicher Zielrichtung wurden von Peter Sedlacek (1982), Benno Werlen (1983) und Peter Weichhart (1986) gemacht. Die erste umfassende Darstellung und theoretische Grundlegung einer handlungstheoretisch ausgerichteten Sozialgeographie war die Dissertation von Benno Werlen, die 1987 unter dem Titel „Gesellschaft, Handlung, Raum. Grundlagen einer handlungstheoretischen Sozialgeographie“ in der Reihe „Erdkundliches Wissen“ erschien. In der Zwischenzeit liegt die dritte Auflage dieses Buches vor; der Text wurde auch ins Englische übersetzt. Es ist noch wichtig festzuhalten, dass das handlungstheoretische Paradigma seit Anfang der 1980er-Jahre in allen Sozialwissenschaften und auch in der Philosophie einen beachtlichen Aufschwung genommen hat und wesentliche Bereiche der disziplinären Forschungsfronten markiert. Es stellt ein disziplinübergreifendes Prinzip dar, das auch in der Soziologie oder in der Psychologie zu eigenständigen Forschungstraditionen geführt hat. Als Beispiel sei auf ein vierbändiges Fortsetzungswerk verwiesen, das der Philosoph Hans Lenk unter dem Titel „Handlungstheorien interdisziplinär“ zwischen 1977 und 1981 herausgegeben hat. Allerdings gründet die Handlungstheorie auf einer bereits sehr alten Tradition, deren Grundlegung durch Klassiker der Soziologie wie Max Weber, Talcot Parsons oder Vilfredo Pareto zum Teil bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts erfolgte. Mit diesem Kapitel haben wir nun den unmittelbaren Anschluss an die aktuellen Forschungsfronten der Sozialgeographie gefunden. Die kriegerische Metapher von der „Forschungsfront“ soll darauf verweisen, dass die 245

Bartels’ Forderung nach der Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen

Programmatische Forderungen nach handlungstheoretischen Ansätzen

Handlungstheorie: eine aktuelle Forschungsfront der Sozialgeographie

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Auseinandersetzungen um die im Folgenden zu besprechenden Themen noch längst nicht abgeschlossen oder entschieden sind. Hier wird noch heftig „gekämpft“, hier gibt es in der Scientific Community noch erhebliche Auffassungsunterschiede und der Ausgang der Auseinandersetzungen ist noch ungewiss. Deshalb kann sich der Autor ab diesem Abschnitt auch nicht mehr (wie er es bisher zumindest versucht hat) auf die Position des außenstehenden Beobachters zurückziehen, der aus sicherer historischer Distanz sein Urteil und seine Interpretationen formulieren kann. Ab diesem Abschnitt werde ich zwar noch immer versuchen, eine einigermaßen „objektive“ (das heißt, von anderen Beobachtern nachvollziehbare) und neutrale Darstellung der aktuellen Entwicklungstrends und Diskurse in der Sozialgeographie vorzulegen, dies wird mir aber mit Sicherheit nicht immer gelingen. Ich werde bei den folgenden Darstellungen und Überlegungen Position beziehen und Farbe bekennen müssen. Und weil der „Ausgang“ der dabei darzustellenden Konflikte und Streitpunkte offen und ungewiss ist, und – wie in Abschnitt 12 gezeigt werden soll – es auch keine übergeordnete Instanz gibt, die imstande wäre, solche Streitpunkte endgültig zu lösen, müssen meine Deutungen und Lösungsvorschläge notwendigerweise subjektiv bleiben. In diesem aktuellen Diskurs um die Sozialgeographie möchte ich gerne meine eigenen Ideen und Konzepte einbringen,Vorschläge zur Gestaltung des Faches machen und auf Denktraditionen und Konzepte verweisen, die bisher in der Sozialgeographie noch keine Berücksichtigung gefunden haben. 10.1 Grundkonzepte der handlungsorientierten Sozialgeographie Werlens Entwurf

Benno Werlens Entwurf einer handlungszentrierten Sozialgeographie wurde in den letzten Jahren von der deutschsprachigen Geographie sehr intensiv rezipiert und ausführlich kommentiert. Er hat seine Ideen in mehreren Monographien ausführlich dargelegt (1987, 1995 a, 1997, 2004).Weil damit sehr umfassende und aktuelle Veröffentlichungen vorliegen, in denen der Autor selbst eine authentische Darstellung seines Konzepts formuliert hat, die jeder, der sich heute mit Sozialgeographie beschäftigt, ohnehin zur Kenntnis nehmen muss, sollte an dieser Stelle eine sehr knappe Vorstellung seines Neuentwurfes der Sozialgeographie genügen. Ich stütze mich dabei auf eine zusammenfassende Kurzdarstellung, die unmittelbar nach dem Erscheinen des zweiten Bandes seiner „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ publiziert wurde (P. Weichhart, 1997 a). Der erste Band der „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ (B. Werlen, 1995 a) war durch die Zielsetzung charakterisiert, die gesellschaftstheoretischen Grundlagen des Faches darzustellen und die klassischen Raumkonzepte zu analysieren. Der zweite Band bietet den detailliert aus246

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

gearbeiteten Entwurf einer darauf aufbauenden Neukonzeption und Umorientierung der Humangeographie. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die aktuelle Dialektik von Globalisierung und Regionalisierung. Zentrales Ziel der Arbeit ist die Entwicklung eines Forschungsprogramms, welches in subjektzentrierter Perspektive die „… Erkundung der Bedeutung des Räumlichen für die Konstitution gesellschaftlicher Wirklichkeit …“ ermöglichen soll (1997, S. 15). Unter „Regionalisierung“ versteht der Autor dabei – im Gegensatz zur traditionellen Geographie – jene soziale Praxis, „… anhand derer die (handelnden) Subjekte die Welt auf sich beziehen“ (ebd., S. 16). „Regionalisierung“ wird somit nicht als räumliche Klassifikation, sondern als Form der „Welt-Bindung“ verstanden, welche die handelnden Subjekte unter den Bedingungen der Globalisierung vollziehen. Bei der Präzisierung seines Programms geht Werlen von Wolfgang Hartkes Konzeption der Sozialgeographie aus, der als erster eine Analyse des „alltäglichen Geographie-Machens“ gefordert hatte. Hartkes Auffassung der Sozialgeographie, die in einer Abwendung vom Forschungsgegenstand „Raum“ und der Thematisierung menschlicher Aktivitäten bestand (vgl. Abschnitt 3.2 dieses Bandes), wird von Werlen als „eine Art kopernikanischer Wende der geographischen Perspektive“ gedeutet (ebd., S. 25). Hartkes Leistung sei vor allem darin zu sehen, dass er auf die soziale Basis der Produktion von „Geographien“ aufmerksam gemacht hat. Nicht die materialisierten Spuren dieses sozialen Produktionsprozesses in der Landschaft, sondern der Prozess selbst sollten im Vordergrund des Forschungsinteresses stehen. Bei der kritischen Interpretation des Ansatzes von Hartke kommt Wer­ len zum Ergebnis, dass dessen Forschungskonzeption und Methode aber eben das voraussetze, „… wogegen seine übrige Argumentation gerichtet …“ war (ebd., S. 37). Denn Hartke würde nicht nach der gesellschaftlichen Bedeutung von Regionalisierungen fragen, sondern „… primär nach den räumlichen Eigenschaften von Gesellschaften“ (ebd., S. 38). Da aber in spätmodernen Gesellschaften „… nur noch ein geringer Teil der menschlichen Handlungen ausschließlich an die unmittelbare körperliche Vermittlung gebunden …“ sei, müsse dieses Programm scheitern. Die Erfassung der körperbezogenen Aktionsräume könne die sozialen Verhältnisse nur unzureichend abbilden. Damit ist das regional Beobachtbare wegen der vielfältigen Entankerungsmechanismen nicht mehr Ausdruck lokaler Verhältnisse, sondern spiegelt globale Zusammenhänge wider. Das „Spurenlesen“ in der „Landschaft“ wird damit vor unlösbare Probleme gestellt. Denn über die Entankerungsmechanismen der Spätmoderne ist diese „Registrierplatte“ weitgehend unsensibel geworden (ebd., S. 38). Damit sei die für vormoderne Gesellschaften gegebene unmittelbare Verknüpfung zwischen sozialen Prozessen und den materiellen Strukturen nicht mehr aufrecht. Diese Überlegung ist eine der zentralen Thesen Werlens, die auch in der Folge in vielfach variierter Form auftaucht, immer wieder neu belegt oder 247

Regionalisierung als Form der „Welt-Bindung“

Kritische Auseinandersetzung mit Hartkes Ansatz

1. Schlüsseltheorem: Entankerungsmechanismen in der Spätmoderne

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

2. Schlüsseltheorem: Zentrierung auf das handelnde Subjekt

Regionen als Konstrukte

Raumwissenschaftliche Geographie: Regionalisierung als Methode einer Klassifizierung

Sozialkulturelle Aspekte von Handlungen

inhaltlich gedeutet wird und als Begründung für seine methodisch-konzeptionellen Überlegungen sowie als Speerspitze seiner Kritik an der gegenwärtigen Geographie fungiert. Als zweites Schlüsseltheorem wird von Anfang an die strikte Zentrierung auf das handelnde Subjekt in den Vordergrund der Überlegungen gestellt. Es geht ihm um die Entwicklung eines „… geographischen Weltbildes, in dem den Handlungen der Subjekte, dem subjektiven Handeln unter bestimmten sozialen, kulturellen, ökonomischen, physisch-materiellen u.a. Bedingungen zentrale Bedeutung zukommt und nicht ‚Raum‘ …“ (ebd., S. 43). Im zweiten Hauptabschnitt befasst sich Werlen mit dem Thema „Region und wissenschaftliche Regionalisierung“. Die Defizite und Schwächen der traditionellen geographischen Regionalforschung, so lautet seine These, liege darin begründet, dass man als Basiskonzeption eine Sozialontologie der vormodernen Gesellschaft verwendet habe. Diese Gesellschaftssysteme sind unter anderem dadurch charakterisiert, dass Traditionen und Handlungsroutinen tatsächlich über räumliche und zeitliche Codes verankert werden. Unter diesen Prämissen besitze die räumliche Darstellung sozialer und kultureller Verhältnisse zumindest eine relative Plausibilität (ebd., S. 44). Sie sind letztlich auch dafür verantwortlich, dass die durch Klassifizierungsverfahren gewonnenen erdräumlichen Ausschnitte für „… naturwüchsige Wesenheiten mit quasi besonderem Eigenleben …“ (ebd., S. 48) gehalten werden: „… ‚Regionen‘ sind in dieser Sichtweise Entitäten natürlicher Art und nicht Konstruktionen, die Ausdruck sozialer oder wissenschaftlicher Konstitution sind.“ Dass dahinter die „erkenntnislogisch unakzeptable Operation“ der Hypostasierung (Verdinglichung) steht, entzieht sich durch die vermeintliche Allgemeingültigkeit der Prämissen einer näheren methodischen Reflexion. Demgegenüber erbrachte die raumwissenschaftliche Geographie zumindest einen gewissen Fortschritt. Im Rahmen dieses neuen Paradigmas wurde nun nämlich bewusst davon Abstand genommen, Regionalisierung als eine Suche nach den „wahren Regionen“ zu begreifen. Seit Bartels wird auch im deutschen Sprachraum Regionalisierung als eine Variante der Klassifizierung interpretiert, die nach Zweckmäßigkeitskriterien durchzuführen ist. Das eigentlich zentrale Problem der „traditionellen“ geographischen Regionalisierung wurde aber auch durch das raumwissenschaftliche Paradigma nicht gelöst. Es kann nach Benno Werlen wie folgt beschrieben werden (ebd., S. 59–61): Jede menschliche Handlung besitzt neben der materiell-biologischen auch eine sozial-kulturelle und mentale Komponente. Da aber sinnhafte, immaterielle Gegebenheiten keine subjektunabhängige, unmittelbare erdräumliche Existenz aufweisen, können sie nur mittels Zuschreibung mit Objekten und Standorten verknüpft werden. Unter den spätmodernen Gegebenheiten der Globalisierung ist die Möglichkeit einer eindeutigen Rekonstruktion derartiger Verknüpfungen so gut wie auszuschließen. Jeder Versuch dazu müsse zu einer inadäquaten (sozialen) 248

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Homogenisierung führen. Raumwissenschaftliche Regionalisierungen (wie sie etwa im Rahmen der Raumstrukturforschung praktiziert werden) können demnach „… eigentlich nur auf den materiellen Aspekt von Handlungskontexten Bezug nehmen“ (ebd., S. 59). Dies sei als kurzformelhafte Bezugnahme bei manchen praktischen Problemen zwar durchaus sinnvoll, wäre aber immer dann fragwürdig, sobald eben immaterielle (sozial-kulturelle, ökonomische, politische …) Aspekte den Gegenstand der Regionalisierung bilden. Als Alternative bleibt für Werlen nur die Zentrierung der Humangeographie auf menschliche Handlungen offen. Für die Geographie als Handlungswissenschaft sei nicht der reifizierte (verdinglichte) „Raum“, sondern der alltagsweltliche (und raumwissenschaftliche) Reifikationsprozess von „Raum“ die zentrale Fragestellung (ebd., S. 63). Bei handlungstheoretischen Analysen werden materielle Gegebenheiten als Bedingungen, Mittel und Folgen des Handelns interpretiert. Ausgangspunkt einer derartigen Thematisierung des „Geographie-Machens“ ist die Erforschung der Gründe und sozialen Kontexte des Handelns.Anschließend wird danach gefragt, „… welche Bedeutung die physisch-materiellen Bedingungen in ihrer Räumlichkeit für jeweils spezifische Handlungsweisen erlangen können“ (ebd., S. 64, Hervorhebung P. W.), wobei besonders auch Zugangsmöglichkeiten, Verfügbarkeit und Verhinderung (Machtkomponente) zu analysieren sind. Ehe Werlen nun auf spezifische Besonderheiten einer derart konzipierten handlungstheoretischen Sozialgeographie näher eingeht, setzt er sich in einem eigenen Abschnitt mit den Bemühungen um eine „neue Regionalgeographie“ auseinander. Denn bei der empirischen Forschung der Sozialgeographie soll es um die „… Rekonstruktion der Regionalisierung auf lokaler und globaler Ebene gehen …“ (ebd., S. 66), wobei „Regionen“ als „… Ergebnis intersubjektiv akzeptierter Interpretationsprozesse …“ (ebd., S. 67) anzusehen sind. Als eigentlichen Hintergrund der Bemühungen um eine „neue“ Regionalgeographie sieht Werlen folgende Frage an: „Auf welche Weise kann die traditionelle Forschungskonzeption der Regionalgeographie den neuen sozialontologischen Bedingungen angepasst werden?“ (ebd., S. 69). Der zentrale Vorwurf Werlens an die im Folgenden besprochenen Autoren lautet dabei etwa so: Gemeinsam sei all diesen Bemühungen um eine „neue“ Regionalgeographie, dass sie in letzter Konsequenz doch einer raumzentrierten Betrachtungsweise verhaftet bleiben. Es reiche eben nicht aus, gehaltvolle Gesellschaftstheorien in das Fach Geographie zu importieren, um dessen Forschungspraxis zu verbessern (ebd., S. 124). Fruchtbar gemacht werden könnten diese Theorien nur dann, wenn gleichzeitig eine kompatible Raumkonzeption zum Einsatz käme. Tatsächlich aber verwendeten die besprochenen Autoren alltagsweltliche, absolute oder gar gegenständliche Erdraumkonzeptionen, was mit einer konsequenten Anwendung der Sozialtheorien in Konflikt trete. 249

Zentrierung auf menschliche Handlungen

„Neue Regionalgeographie“

Kritik an raumzentrierter Sichtweise

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

„Die Idee der Regionalgeographie ist aufs engste an eine raumzentrierte Sichtweise gebunden. Da sich aber die raumzentrierte Perspektive – das heißt eine Sichtweise, bei der räumliche Kategorien die Primärkategorien bilden – mit der Integration handelnder Subjekte nicht auf angemessene Weise verbinden lässt, wird die Vorstellung einer subjektzentrierten Regionalgeographie schwierig. Stellt man das handelnde Subjekt ins Zentrum, dann führt dies konsequenterweise zu einer Sozialgeographie der Regionalisierung.“ B. Werlen, 1997, S. 125, (Hervorhebung P. W.). Giddens’ Strukturationstheorie aus geographischer Perspektive

Im vierten Hauptabschnitt wendet sich Werlen dezidiert jener prominenten Theorie zu, die bereits in der englischsprachigen Debatte um die „neue Regionalgeographie“ im Vordergrund stand, der Strukturationstheorie von Anthony Giddens. Das Kapitel wird von Werlen als systematische Rekonstruktion dieser Theorie aus der geographischen Fachperspektive verstanden. Dabei geht es ihm auch darum, die Besonderheiten dieser Theorie im Vergleich zu anderen Handlungstheorien herauszuarbeiten (vgl. auch das folgende Kapitel 10.2.1). Werlen betont vor allem folgende Charakteristika der Strukturationstheorie:

Charakteristika der Strukturationstheorie

– Bei Giddens steht nicht „Handlung“, sondern „Handeln“ (der Fluss des Handelns) im Vordergrund (ebd., S. 148–149). – Auch Intentionalität wird als Prozess interpretiert; entscheidend sei nicht eine fixe Zielorientierung, sondern die Fähigkeit zur Zielfindung und das Handlungsvermögen (ebd., S. 150). Diese Konzeption setzt voraus, dass die Reflexivität des Handelns entsprechend berücksichtigt wird (ebd., S. 149–150). – Handeln können nur Subjekte. Auch unbeabsichtigte Folgen von Handlungen können nicht als Produkte des sozialen Systems angesehen werden (ebd., S. 151). – Zur genaueren Differenzierung (und zur besseren Bewältigung der Probleme im Zusammenhang mit den nicht intendierten Folgen des Handelns) führt Giddens ein Stufenmodell des Handelns ein, das auf drei Bewusstseinsformen (Unterbewusstsein, praktisches Bewusstsein, diskursives Bewusstsein) rekurriert (ebd., S.152–154). – Die im diskursiven Bewusstsein verankerte Reflexivität bildet die Grundlage für jene doppelte Hermeneutik, die das Verhältnis der Sozialwissenschaften zu ihrem Untersuchungsgegenstand charakterisiert (ebd., S. 154–156). – Menschliches Handeln wird ausdrücklich in einem zeitlichen und räumlichen Kontext gesehen. Die mangelnde Berücksichtung dieses Kontextes wird von Giddens als Hauptdefizit der bisherigen Gesell250

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

schaftstheorien angesehen. Zeitlichkeit und Räumlichkeit werden als zentrale Konstitutionselemente von Gesellschaft angesehen. Die letztgenannte Besonderheit der Strukturationstheorie wird von Wer­ len besonders genau analysiert, wobei Giddens’ „Raumtheorie“ als zumindest problematisch eingestuft wird, weil sie von einem „… ungeklärten Verhältnis von physisch-weltlichem Raum und seiner sozial konstituierten Bedeutung für menschliches Handeln geprägt …“ sei (ebd., S. 167). Wer­ len weist darauf hin, dass der strukturationstheoretische Schlüsselbegriff „locale“ missverständlich übersetzt und interpretiert wurde, indem man ihn unangemessen auf seinen physisch-materiellen Aspekt verkürzt habe. Gemeint sei aber vielmehr eine untrennbare Verschränkung von physisch-materiellen Strukturen, Akteuren und sozialen Bedeutungen: „locale“ ist als „… ein bestimmter tätigkeitsspezifischer Raumausschnitt gemeint, der bereits ein bestimmtes Anordnungsmuster von materiellen Gegebenheiten und Interagierenden aufweist.“ Es ist „… der materielle Kontext …, dem … auf intersubjektiv gleichmäßige Weise eine spezifische soziale Bedeutung zugewiesen wird“ (ebd., S. 168; vgl. dazu das folgende Kapitel 10.2.4). Werlen schlägt vor, „locale“ mit „Schauplatz“ zu übersetzen. Nach einer Diskussion der Begriffe „Kopräsenz“, „Routine“ und „timespace-distanciation“ geht Werlen ausführlich auf das Strukturverständnis von Giddens ein. Es wird sehr klar herausgearbeitet, dass im Verständnis dieser Theorie „Struktur“ (ähnlich wie „Sprache“) nur in einem virtuellen Sinne existiert. „Wie ‚Sprache‘ nur im ‚Sprechen‘ aktuell wird, so erlangt auch ‚Struktur‘ erst über Handeln eine aktuelle Realität“. Sie existiert somit als „… Fähigkeiten der Akteure …, und zwar als Wissen, … auf dem … die soziale Praxis beruht …“ (ebd., S. 184). Strukturen sind dabei auch als Regeln zu verstehen, welche sich auf jene Eigenschaften des Handelns beziehen, „… über die eine Ordnung konstitutiv hervorgebracht wird“ (ebd., S. 186). Besonders bedeutsam für die weiteren Überlegungen Werlens ist Gid­ dens’ Verständnis von „Regionalisierung“. Im Rahmen der Strukturationstheorie verweist dieser Begriff auf eine Verknüpfung von Kontexten in Raum und Zeit. „ ‚Region‘ ist in diesem Sinne als Kontext bzw. Situation des Handelns zu verstehen und unter ‚Regionalisierung‘ der Prozess, in dem diese Kontexte und Situationen von den Subjekten sozial konstituiert werden“ (ebd., S. 194). Giddens und Werlen stimmen darin überein, dass die Analyse der Regionalisierung und somit die Herausarbeitung der räumlichen Aspekte der sozialen Praxis (im Sinne des „Geographie-Machens“) die eigentliche Marktnische einer sozialwissenschaftlichen Geographie wäre. Zusammenfassend erörtert Werlen schließlich die Konsequenzen der Strukturationstheorie für sein Konzept einer „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“. Seine Kritik konzentriert sich dabei auf missver251

Definition von „locale“ nach Werlen

Struktur-Definition

Region als Kontext bzw. Situation des Handelns

Kritik an Giddens’ Raumtheorie

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Globalisierung und Regionalisierung

Zusammenschau verschiedener Handlungstheorien

Produktiv-konsumtive, politisch-normative und informativsignifikante Bereiche alltagsweltlicher Regionalisierungen

ständliche Formulierungen in der Raumtheorie Giddens’. Über den „Import“ der Zeitgeographie habe sich gleichsam der „Containerraum im newtonschen Sinne“ (ebd., S. 207) in die Strukturationstheorie eingeschlichen. Da aber bei diesem Konzept dem Raum selbst konstitutive Kraft zukomme, müsse die Strukturationstheorie entsprechend „reorganisiert“ werden (vgl. dazu aber Kapitel 13). Für sein eigenes Konzept will Werlen „Regionalisierung“ als raumprojizierte soziale Definition des Handlungskontextes verstehen, vor allem aber in radikalisierter Form als Prozess, in dem „… die Subjekte über ihr alltägliches Handeln die Welt einerseits auf sich beziehen, und andererseits erdoberflächlich in materieller und symbolischer Hinsicht über ihr Geographie-Machen ‚gestalten‘“ (ebd., S. 212). Im fünften Abschnitt wird das Thema „Globalisierung und Regionalisierung“ als wesentliche Voraussetzung jeder Neukonzeption des Faches vertiefend behandelt. Als Problem wird hier die Frage bedeutsam, wie die Geographie auf die zunehmende Enträumlichung reagieren könnte und wie sie mit dem Problem der gegenseitigen Gebundenheit von alltäglicher Praxis und wissenschaftlichem Diskurs (doppelte Hermeneutik) umgehen sollte. Aufgabe des Faches könnte es vor dem Hintergrund von Globalisierung und Regionalisierung auch sein, „… Spannungen zwischen dem Selbstverständnis der Subjekte und der durch sie konstituierten Wirklichkeit …“ (ebd., S. 222) zu erkennen und einen Beitrag zu ihrer Verringerung zu leisten. Das von Werlen angestrebte Forschungsziel ist nicht ein Katalog nomologischer Gesetzesaussagen im Sinne eines naturwissenschaftlichen Theorieverständnisses, sondern liegt in der Sensibilisierung für bestimmte Themen und Interpretationsansätze. Zur Vorbereitung einer näheren Spezifizierung und Typologie der Formen alltäglicher Regionalisierungen diskutiert Werlen im Folgenden mögliche Komplementaritätsbeziehungen zwischen verschiedenen Handlungstheorien, von denen ja jede eine spezifische Dimension menschlicher Alltagspraxis darstellt (ebd., S. 255–271). Er leitet daraus eine Zusammenschau der zweckrationalen, normorientierten, verständigungsorientierten und strukturationstheoretischen Handlungstheorien ab, die erst in ihrer Kombination einen umfassenden Interpretationshintergrund für das Konzept einer „Sozialgeographie der alltäglichen Regionalisierungen“ bereitstellen. Dieser Interpretations- und Analysehintergrund wird dann durch die Entwicklung unterschiedlicher Typen alltäglicher Regionalisierungen weiter vorbereitet (ebd., S. 271–276). Er unterscheidet hier „produktiv-konsumtive“, „politisch-normative“ und „informativ-signifikative“ Bereiche alltagsweltlicher Regionalisierungen. Dies führt gleichsam zu einem neuartigen „System der Humangeographie“, bei dem als Forschungsbereiche des Faches „Alltägliche Geographien“ der Produktion, der Konsumtion, der normativen Aneignung, der politischen Kontrolle, der Information und der symbolischen Aneignung ausgewiesen werden (ebd., S. 272). Wer­ len geht es dabei auch um ein „Zusammenrücken“ der verschiedenen 252

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

anthropogeographischen Forschungsbereiche unter dem gemeinsamen Dach einer einheitlichen sozialgeographischen Perspektive. Denn die sechs Formen des alltäglichen „Geographie-Machens“ sind vor dem Hintergrund seiner theoretischen Gesamtkonzeption gewiss einfacher aufeinander beziehbar, als dies bei der gegenwärtigen und hoch spezialisierten Forschungspraxis mangels eines gemeinsamen theoretischen Überbaues der Fall ist. Hier trifft sich Werlens Argumentation durchaus mit den fachpolitischen Zielsetzungen von Hans Bobek, der ja ebenfalls die integrative Funktion der Sozialgeographie betonte. Das letzte Hauptkapitel des Buches (ebd., S. 285–421) soll zu einer argumentativen „Sensibilisierung“ für die Vielfalt des vorgeschlagenen geographischen Forschungszugriffs führen. Dabei soll einerseits das „… Feld der empirischen Forschung abgesteckt …“ und andererseits durch eine inhaltliche Spezifizierung der entwickelten „kategoriellen Grundorientierung“ das Aufstellen von Forschungshypothesen erleichtert werden. Dass nun die verschiedenen Typen alltäglicher Regionalisierung als „Wieder-Verankerung“ charakterisiert werden (S. 283 oder 288), steht nur scheinbar im Widerspruch zur bisher vehement vertretenen „Entankerungs-These“. Unter den spätmodernen Rahmenbedingungen der Globalisierung muss die Ich-Welt-Bindung eben nicht territorial gleichmäßig, sondern in hohem Maße subjektspezifisch ausfallen. Werlen beabsichtigt in diesem Schlusskapitel noch keine forschungspraktische und methodisch-arbeitstechnische Umsetzung seiner Konzeptionen. Dennoch wird hier eine Fülle von Ideen, Umsetzungsvorschlägen, Neuinterpretationen bestehender Forschungstraditionen und ihrer empirischen Ergebnisse vorgestellt. Man kann dieses Kapitel 6 auch als eine Art „Sammlung von Beispielfällen“ oder als verkürzte Kasuistik ansehen, bei der quer durch den gesamten Interessenbereich der Sozialwissenschaften und der bisherigen Arbeitsfelder der gegenwärtigen Humangeographie eine Neuinterpretation von Fragestellungen vor dem Hintergrund des vorgestellten theoretischen Systems vorgenommen wird. Die Beispiele und programmatischen Vorschläge verdeutlichen sehr überzeugend, dass die „Sozialgeographie der alltäglichen Regionalisierungen“ für das Fach einen radikal neuen Zugang zur sozioökonomischen Realität eröffnen kann. Eine der zentralen Forderungen Werlens besteht im Kern darin, die Sozialgeographie möge doch endlich davon Abstand nehmen, Regionen und „Räume“ als vorgegebene und tendenziell allumfassende „Behälter“ aufzufassen, in denen soziale Prozesse stattfinden, sondern als Phänomene, die im sozialen Handeln erst konstituiert werden, eben als Ergebnisse des „Geographie-Machens“. Arbeiten zum Thema „kreative Milieus“ oder über die wirtschaftsgeographische Frage nach dem „Geheimnis“ erfolgreicher und gescheiterter Regionen zeigen aus einer völlig anderen Perspektive, dass sein Vorschlag auch bestens mit empirischen Fakten übereinstimmt. „Die Eröffnung einer Alternative zum regional- oder raumwissenschaftlichen 253

Räume als Ergebnis des „GeographieMachens“

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Grundbegriffe einer handlungstheoretisch fundierten Sozialwissenschaft

Die 3 Grundbausteine

Forschungsobjekt führt ebensowenig zum Ende der Geographie, wie eine Widerlegung eines Axioms Freges zum Ende der Arithmetik geführt hat“ (ebd., S. 281). Benno Werlen möchte mit seinem Entwurf die Humangeographie qua Sozialgeographie als eine sozialwissenschaftlich konstituierte Disziplin neu fundieren, als Fach, das sich „… für die Bedeutung der räumlichen Aspekte von Handlungskontexten für das Gesellschaftliche interessiert“ (ebd., S. 62). Und er nennt auch ein Differenzkriterium zu anderen Sozialwissenschaften, mit dessen Hilfe die fachliche Identität klargestellt und begründet werden kann: Es liegt darin, dass die Sozialgeographie der „… spezifischen Interpretation der physisch-materiellen Komponente der Handlungskontexte durch die Handelnden besonderes Augenmerk schenkt. Die Analyse der räumlichen Anordnung handlungsrelevanter Artefakte kann dabei weiterhin sinnvoll sein …“. Denn: „Räumliche Bedingungen und die Räumlichkeit der Handlungskontexte werden mit der Globalisierung in der Spät-Moderne nicht bedeutungslos, wie dies gelegentlich behauptet wird“ (ebd. S. 63, Hervorhebungen P. W.). Nach diesen knappen Hinweisen auf das umfassende Programm einer „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ von Benno Werlen wollen wir im Folgenden gleichsam einige Gänge „zurückschalten“ und zunächst einige der wichtigsten Grundbegriffe einer handlungstheoretisch fundierten Sozialwissenschaft besprechen. Dabei werden wir immer wieder auch auf Werlen Bezug nehmen, zusätzlich aber auch auf andere Autoren eingehen und Aspekte einer handlungszentrierten Sozialgeographie ansprechen, die bisher in der innergeographischen Diskussion wenig oder gar keine Beachtung gefunden haben. Unter anderem möchte der Autor gerne zeigen, dass eine stärkere Berücksichtigung psychischer Aspekte von Handlungsprozessen und die Einbeziehung psychologischer Konzepte und Theorien für eine Inwertsetzung der Handlungstheorien durch die Sozialgeographie zusätzliche Erklärungs- und Deutungsmöglichkeiten eröffnen. Bei den folgenden Reflexionen werden wir uns immer wieder auch ein Stück weit von Benno Werlens Konzeption wegbewegen und Überlegungen anstellen, die mit seinem strengen theoretischen Denkgebäude nicht oder nicht mehr zwanglos kompatibel sind. Manches von dem, das im folgenden Abschnitt erörtert werden soll, kann auch als meine subjektive Interpretation oder Paraphrasierung der von Werlen entwickelten Vorstellungen angesehen werden. Beginnen wir mit einem handlungstheoretischen Modell der Mensch-Umwelt-Interaktion. Handlungstheoretische Überlegungen gehen meist von drei Grundbausteinen der „sozialen Welt“ aus, die gleichzeitig als Grundelemente der Analyse fungieren. „Handlungen“ werden dabei gleichsam als „Atome“ der sozialen Welt angesehen.

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10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Als „Handlung“ kann jedes menschliche Tun (aber auch jede Unterlassung eines Tuns) bezeichnet werden, das von einem Akteur mit einem subjektiven Sinn verbunden wird.

1. Handlung

Handlungen sind gebunden an Akteure oder Handlungsträger. In der Regel handelt es sich dabei um einzelne menschliche Individuen oder Subjekte. Manche Handlungstheoretiker lassen auch kollektive Akteure wie Gruppen oder Organisationen zu. Natürlich sind auch in diesem Falle in Wahrheit menschliche Subjekte die eigentlichen Grundeinheiten. Indem sie sich aber institutionellen Programmen unterordnen und sich kollektiv entwickelte Zielvorstellungen zu eigen machen, kann man auch derartige Aggregate als „Quasi-Akteure“ betrachten. Beispiele wären etwa die katholische Kirche, eine Gewerkschaft oder Greenpeace. Akteure besitzen Intentionalität, die sie immer wieder aufs Neue aktualisieren. Sie besitzen die Fähigkeit, die Folgen ihres Tuns zu antizipieren und Reflexionen darüber anzustellen. Handeln ist ein Tun „um zu“. Es ist ein gerichtetes Agieren, das ein bestimmtes Ziel oder gar mehrere Ziele anstrebt oder zu verwirklichen trachtet. Ziele sind angestrebte materielle und/oder immaterielle Zustände der sozialen Welt, die mit den Werten und Sinnkonfigurationen eines Akteurs in Zusammenhang stehen und die im Vollzug der Handlung erreicht werden sollen. Wenn ein Akteur ein bestimmtes Ziel erreichen möchte, dann stellt er Überlegungen an, was zu tun ist, um es zu verwirklichen. Akteure müssen also abschätzen können, welches Tun welche Folgen hat. Nur so ist entscheidbar, welche konkreten Handlungsschritte das angestrebte Ziel verwirklichen lassen. Diese Antizipationsfähigkeit ist die Voraussetzung für ein sinnvolles, der Zielerreichung dienliches Tun. Das Vermögen der Zielsetzung bedeutet, dass Akteure innerhalb bestimmter Rahmen- und Grenzbedingungen, auf die wir gleich eingehen werden, in weitgehend autonomer Weise die „Steuergrößen“ des eigenen Tuns selbst generieren und entwickeln können. In diesem Sinne sind Mensch-Umwelt-Systeme also teleogenische Systeme. (So nennt man Systeme, deren Steuergrößen durch systemimmanente Prozesse produziert werden.) Die „Richtung“ der Kausalität ist in den handlungstheoretischen Ansätzen also genau umgekehrt wie bei den verhaltenswissenschaftlichen Modellen. Der Anstoß für ein bestimmtes Tun geht hier nicht von der Umwelt aus, sondern von den Handlungsträgern, die ihre Ziele selbst entwerfen und in praktisches Wollen umsetzen.

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2. Handlungsträger/ Akteure

3. Handlungsziele

Antizipationsfähigkeit

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Eingrenzung von Zielkonfigurationen/ Sinn

Natürlich sind die Akteure dabei nicht omnipotent, sie können nicht alles realisieren, was als Zielvorstellung denkmöglich ist. Es ist auch klar, dass die individuelle Zielfindung eingebettet ist in das Repertoire möglicher Sinnzuweisungen, die im betreffenden Sozialsystem als akzeptierte und gleichsam „zulässige“ Wertekonfigurationen existieren. Die Möglichkeiten des Entwerfens von Handlungszielen sind also durch das betreffende Sozialsystem erheblich eingegrenzt und in diesem System gleichsam verankert. Einem bestimmten Handlungsträger steht demnach in einer bestimmten gesellschaftlichen und raum-zeitlichen Situation ein begrenztes Repertoire zulässiger oder erlaubter Zielkonfigurationen zur Verfügung. Die Freiheitsgrade subjektiver Sinnzuweisungen sind durch das jeweilige soziale System limitiert. Die Akteure haben diese Freiheitsgrade und die Spektren möglicher Zielsetzungen und Handlungsakte im Verlaufe der Sozialisation gelernt und internalisiert. Bereits in dieser Kontextualisierung ist die Einbindung der handlungszentrierten Sozialgeographie in die gesellschaftstheoretische Perspektive klar erkennbar. „Sinn“ ist als selbstreferenzielles Phänomen zu verstehen, also als System, das durch Rückverweis auf sich selbst gestaltet und verändert wird. Solche Sinnbezüge eröffnen Möglichkeiten des Erlebens und Handelns, wodurch die Komplexität der Welt für psychische und soziale Operationen der Subjekte handhabbar wird. „Sinn“ stellt damit einen Bezugsraster oder eine Verweisstruktur für Intentionalität dar. Daraus wird deutlich, dass Sinngehalte und darauf bezogene Handlungen nicht in direkter und linearer Weise als Ursachen-Wirkungsbeziehungen zusammenhängen. Sinn kann im Handlungsvollzug auch neu entworfen, variiert oder gar erst konstituiert werden.

Sinnstrukturen

Wertekonfigurationen als Rechtfertigungsinstanzen für Ziele

Die spezifischen inhaltlichen Ausprägungen von Sinnstrukturen lassen sich in konkreten und artikulierbaren Handlungszielen erfassen. Sinn und Ziele stehen in Zusammenhang mit normativen und präskriptiven Bedeutungskonfigurationen, die dem Handlungsträger als Werte, Bedürfnisse, Postulate, Affekte oder Emotionen verfügbar sind, also internalisierte „Sollensforderungen“ des Subjekts darstellen. Sie sind innerhalb bestimmter Grenzen einer subjektiven Argumentation zugänglich und besitzen im Rahmen spezifischer Lebenssituationen den Charakter bejahter Gewissheit. Die Akteure können also unter Verweis auf diese Werte und Normen eine Begründung und Rechtfertigung des eigenen Handelns vorlegen. Durch solche Denkoperationen lassen sich konkrete Handlungsziele vor dem Hintergrund derartiger Wertekonfigurationen gleichsam absichern. Diese Wertekonfigurationen sind damit auch Bestandteile und normative Referenz256

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

größen der kognitiven Repräsentation von Wirklichkeit im Bewusstsein menschlicher Individuen. Die Darstellung menschlichen Tuns als „Handeln“ wird möglich, wenn man die Reflexivität und Intentionalität des Akteurs ausdrücklich berücksichtigt und dieses Tun als bewusst erwogener, absichtlich auf ein Ziel hin entworfener Akt beschrieben werden kann. In funktionalistischer Redeweise können wir sagen, dass das Handeln eines Akteurs von ihm selbst durch die eigenen Werte- und Sinnkonfigurationen gesteuert wird. Natürlich ist dabei klar, dass es sich hier um Wertestrukturen handelt, die in erheblichem Maße im Verlaufe des Sozialisationsprozesses internalisiert wurden. Dadurch ist auch sichergestellt, dass die Mitglieder einer bestimmten Gruppe oder eines bestimmten Sozialsystems in Bezug auf ihr Handeln in gewissem Sinne „koordiniert“ sind, weil sie vergleichbaren Sozialisationsprozessen unterworfen wurden und deshalb kompatible Wertestrukturen besitzen. In vielen Fällen läuft menschliches Tun allerdings gleichsam gewohnheitsgemäß und automatisch ab. Man spricht dann von einem habitualisierten Tun, das auch als „Quasi-Verhalten“ bezeichnet wird. Im Gegensatz zum Handeln findet hier keine „innere“ Argumentation und Reflexion statt. Der Akteur hat bei dieser Art von Tun keinen „Rechtfertigungsdruck“, muss nicht sich selbst gegenüber Begründungen suchen.Typische Beispiele dafür sind soziale Automatismen wie das Grußverhalten oder Small-Talk-Situationen. Bei einem entsprechenden Anstoß kann der Akteur aber in der Regel problemlos Sinn- und Zielbezüge herstellen und die Automatismen nachträglich als routinisierte „echte“ Handlungen (intentionale Akte) begründen. Handlungen sind sehr komplexe Phänomene, die als hierarchische und gleichsam verschachtelte Strukturen angesehen werden müssen. Je nach dem Maßstab der Betrachtung können sie in verschiedene miteinander in Zusammenhang stehende Teilhandlungen gegliedert werden. Wir werden darauf noch zu sprechen kommen. Es handelt sich um sequenzielle Prozesse, die eine geordnete zeitliche Struktur mit vielen Rückbezüglichkeiten aufweisen. Um die Beschreibung von Handlungen zu erleichtern, wird dieser sequenzielle Charakter meist durch eine Zerlegung in vier Prozesseinheiten angenähert. Benno Werlen (1987, S. 12–15) trifft hier folgende Unterscheidung:

Quasi-Verhalten: habitualisiertes Tun

Komplexität von Handlung

Prozesseinheiten von Handlungen nach Werlen

– Der Handlungsentwurf beinhaltet vorbereitende Überlegungen und Reflexionen sowie die gedankliche Vorwegnahme der gewünschten Situation. In dieser Phase kommt es meist auch schon zu einer Rechtfertigung der angestrebten Ziele vor dem Hintergrund der bestehenden Wertestrukturen.

Handlungsentwurf

– Die zweite Phase wird oft als „Situationsdefinition“ bezeichnet. In diesem Schritt wird der Akteur die Grundlagen und Voraussetzungen seiner

Situationsdefinition

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10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

möglichen Handlungsschritte prüfen und zu einer konkreten Planung des beabsichtigten Tuns gelangen. Es wird überlegt, welche Mittel zur Erreichung der vorgegebenen Ziele eingesetzt werden könnten. Die verschiedenen möglichen Mittel und Tätigkeiten werden gegeneinander abgewogen, die Vor- und Nachteile und die unterschiedlichen Erfolgswahrscheinlichkeiten werden verglichen. Schließlich kommt es zur Auswahl konkreter Aktivitäten und spezifischer Mittel, die zur Zielerreichung brauchbar scheinen. Bei diesen „Mitteln der Zielerreichung“ handelt es sich einerseits um physisch-materielle Dinge, die als Rohmaterial, Werkzeuge oder Arbeitsmaterialien eingesetzt werden (z.B. ein Auto, ein Fahrrad oder die U-Bahn, aber auch ein Bleistift, ein Hammer, eine Schaufel …). Andererseits sind es sozial definierte Mittel (Institutionen, Bräuche, Sitten, Konventionen, Verfahrensschritte etc.). Zusätzlich wird ein Akteur in dieser Phase versuchen, eventuelle Zwänge und Hinderungsfaktoren zu erkennen, die der Realisierung seiner Absichten entgegenstehen könnten.

Auswahl der Aktivitäten und Mittel

Überdies werden in dieser Phase die Konsequenzen der Intention bedacht. Man wird also überlegen, welche positiven und negativen Konsequenzen oder auch Nebenfolgen die beabsichtigte Handlung haben könnte. Bereits hier setzt eine argumentative Rechtfertigung des eigenen Tuns ein, das sich vor allem auf die Zulässigkeit der eingesetzten Mittel und Verfahrensschritte bezieht. So kann es etwa dazu kommen, dass bei einem nicht ganz korrekten Teilschritt oder Mitteleinsatz dieser gleichsam „anrüchige“ Teilschritt des Handelns durch den Verweis auf ein edles Gesamtziel quasi „entschuldigt“ wird. Handlungsvollzug

– Als dritte Einheit kann der Handlungsvollzug ausgegliedert werden. Er ist meist als Folge einzelner, aufeinander bezogener Handlungsschritte aufgebaut, bei denen unterschiedliche Mittel oder Werkzeuge eingesetzt und unterschiedliche Hindernisse oder Zwänge der Zielrealisierung erfahren werden. Gerade bei umfassenderen Handlungsentwürfen kann es im Verlaufe des Handlungsvollzugs auch dazu kommen, dass Sinnbezüge oder Handlungsziele variiert, umgedeutet, neu formuliert oder gar völlig neu entworfen werden. (Jemand will eine neue Wohnung mieten, geht auf Wohnungssuche und kauft schließlich ein Haus. Der Autor hatte eigentlich die feste Absicht, Musik zu studieren und kam dann – durch verschiedene äußere und innere Umstände bedingt und fast wie die Jungfrau zum Kind – schließlich zur Geographie).

Handlungsfolgen

– Als vierten Bereich kann man noch die Handlungsfolgen ausweisen. Grundsätzlich muss man hier zwischen beabsichtigten (intendierten) und nicht beabsichtigten (nicht intendierten) Handlungsfolgen unterscheiden. Diese Unterscheidung ist – wie wir noch sehen werden – sehr wichtig. 258

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Als Handlungsfolgen werden alle tatsächlichen (objektivierbaren) oder vermeintlichen Resultate und Konsequenzen der durchgeführten Einzelschritte des Handlungsvollzugs verstanden. Diese Folgen werden auf verschiedenen Ebenen wirksam. Einerseits handelt es sich um materielle Auswirkungen auf die physische Welt. Die Folgen des Anschlags vom 11. September 2001 auf die physische Welt der Dinge und Körper waren von einer vorher unvorstellbaren Dramatik. Handlungen haben aber auch immaterielle Folgen in der sozialen Welt, wie an diesem Beispiel mit erschreckender Deutlichkeit klar wird.Wir werden noch sehen, dass zu den Handlungsfolgen auch die Rückwirkungen auf das handelnde Subjekt und seine IchIdentität zählen. Für den Akteur und seine Bewusstseinsprozesse sind die Handlungsfolgen primär in Hinblick auf den Grad der Zielerfüllung relevant, der in ihnen zum Ausdruck kommt. Wir werden das gleich näher besprechen. Im Gegensatz zum Verhalten kann menschliches Handeln nur im Kontext des umgebenden sozialen Systems interpretiert werden. Mit der Darstellung menschlichen Tuns als Handeln werden notwendigerweise die Sinnzusammenhänge der sozialen Welt in das Zentrum der Betrachtung gerückt. Dies ist einer der wichtigsten Vorzüge der handlungstheoretisch orientierten Modelle. Sie können damit als einziger Teilbereich der mikroanalytischen Ansätze der Gesellschaftsforschung im engeren Sinne zugeordnet werden (vgl. Kapitel 7, Abb. 11). Dieser Bezug zum gleichsam übergeordneten Sozialsystem zeigt sich schon darin, dass subjektive Handlungsziele weitgehend auf das Repertoire der im jeweiligen Sozialsystem verfügbaren und zulässigen normativen Strukturen begrenzt sind. Um derartige Zusammenhänge etwas genauer darzustellen und den prozessualen Charakter des Handelns mit seinen Rückkoppelungsstrukturen anzudeuten, soll im Folgenden ein – stark vereinfachendes – handlungstheoretisches Modell der Mensch-Umwelt-Beziehungen erörtert werden (Abb. 68). Jedes menschliche Subjekt ist in seiner Körperlichkeit gleichsam eingebettet in die physisch-materielle Welt. Jedes menschliche Subjekt entwickelt Werte, Bedürfnisse und Gefühle, die in einem Sinnkontext stehen und zur Ausbildung konkreter Ziele führen. Man kann aber nicht alles wollen. Es gibt Ziele, die in einem bestimmten sozialen Kontext tabu sind, nicht zulässig erscheinen. Andererseits gibt es aber auch Ziele, die geboten sind, die man haben muss. Das soziale System, in das jeder Einzelne eingebunden ist, hat in den Personen auf dem Weg über die Sozialisation solche Werte und Ziele gleichsam verankert, sie wurden internalisiert, also zu eigen gemacht. Auf der anderen Seite wirkt die 259

Kontext des sozialen Systems

Der soziale Kontext subjektiver Ziele

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Sozialsystem

Herrschaftsstrukturen, Mittelverfügbarkeit, Organisationsstrukturen ...

„Ressourcen“ (+), „Constraints“ (-)

Materielle Kultur, Technologie, Repertoire möglicher/zulässiger Handlungsakte

WERTE, BEDÜRFNISSE, AFFEKTE

SINN, ZIELE

?

Lebenssituation, Persönlichkeitsentwicklung, Enkulturation, Sozialisation

Handlungsentwurf Handlungsvollzug, Handlungssequenzen

(+, -) Lernen

Physisch-materielle Welt

Freiheitsgrade subjektiver Sinnzuweisung innerhalb des Sozialsystems, der Bezugsgruppe/Rollenkonfiguration

Handlungsfolgen

Abbildung 68: Ein handlungstheoretisches Modell der Mensch-UmweltInteraktion Quelle: P. Weichhart, 1986, S. 85, verändert Konformitätsdruck des sozialen Systems

Der Handlungsentwurf: subjektiv-rationale Antizipation

Entstehung individueller Werte und Ziele auf das Sozialsystem zurück (von Subjekten kreierte Modeerscheinungen werden Bestandteil allgemein verbindlicher sozialer Wertestrukturen). Das soziale System bewirkt also einen Konformitätsdruck bezüglich der möglichen Ziele von Handlungen und auch bezüglich der erlaubten Mittel, die zur Zielerreichung eingesetzt werden dürfen. Innerhalb des Sozialsystems sind mindestens drei wichtige Subsysteme zu unterscheiden, die sehr wesentlich auf den Ablauf und die Potenziale subjektiver Handlungen einwirken (vgl. Abb. 68, „Sozialsystem“). Die Spielräume individueller Sinnfindung werden, wie wir eben gesehen haben, eingeengt und in erheblichem Maße vordefiniert durch die Freiheitsgrade und tolerierten Variationsmöglichkeiten, die im betreffenden Sozialsystem erlaubt sind. Der geneigte Leser erinnere sich an seine Schulzeit. Da gab es bestimmte Handlungen, die man dort auf keinen Fall setzen durfte, ohne sich zum sozialen Outcast zu machen, zum Beispiel, den Nachbarn nicht abschreiben lassen. Diese Freiheitsspielräume sind dabei in starkem Maße auf die Bezugsgruppe und die spezifische Rollenkombination der jeweiligen Akteure bezogen. Einem Bildhauer, Schauspieler, Balletttänzer werden andere Handlungsspielräume zugestanden als etwa einem Richter, Arzt, Priester oder Lehrer. Wenn das Subjekt nun aufgrund spezifischer Wert- und Sinnkonstellationen dazu kommt, sich ein bestimmtes Ziel zu setzen, dann wird es zur Erreichung dieses Ziels bewusste Anstrengungen für einen Handlungsent260

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

wurf unternehmen. Es wird die Möglichkeiten, Mittel und Verfahren überlegen, die für eine Zielerreichung angemessen scheinen und den Handlungsvollzug sowie die Handlungsfolgen antizipierend gedanklich vorwegnehmen. Wir wissen alle, dass wir dabei meist reichlich unsystematisch vorgehen, viele Hindernisse und Chancen falsch einschätzen, notwendige Handlungsschritte einfach übersehen oder vergessen, den Aufwand für die Zielerreichung völlig falsch berechnen etc. Dennoch müssen wir festhalten, dass der Handlungsentwurf eine zumindest subjektiv rationale Antizipation unserer Zielerreichungsaktivitäten darstellt. Sind die Überlegungen des Akteurs zum Handlungsentwurf abgeschlossen, wird er sich daran machen, in den Handlungsvollzug einzutreten. Im Handlungsvollzug findet meist eine konkrete Auseinandersetzung mit der physisch-materiellen Umwelt und dem Sozialsystem statt. (Es gibt auch Handlungen, bei denen dies nicht der Fall ist, aber die sind eher selten.) Denn im konkreten Vollzug zielorientierten Tuns wird in der Regel auf die verfügbaren Gegebenheiten der materiellen Kultur und Technologie zurückgegriffen. Dazu sind natürlich die räumlichen Infrastrukturpotenziale des Kultursystems zu rechnen, aber auch das Repertoire von Handlungsstrategien,Verfahrensweisen oder Ablaufroutinen, die sich im Sozialsystem zur Erreichung bestimmter Ziele bewährt haben.Wer bestimmte Ziele verfolgt, etwa die Durchführung einer Urlaubsreise, einen Hausbau, eine Wohnungssuche, ein Studium, oder wer auch nur einen Einkauf tätigen will, der hat im Verlauf seiner Sozialisation gelernt, wie man das macht, welche Mittel man dazu einsetzt und welche Schritte man dazu setzen muss. Die Mittelauswahl und der Handlungsvollzug sind in sehr direkter Weise auch von der Ressourcenverfügbarkeit des Handlungsträgers und besonders von den bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnissen abhängig. Diese Machtstrukturen werden natürlich sehr oft als Zwänge erlebt und determinieren damit die objektiven Grenzen möglicher Handlungsvollzüge. Besonders bedeutsam für Handlungssysteme sind die jeweils bestehenden organisatorischen und institutionellen Strukturen sowie die Gruppenbindungen der Akteure. Was den einzelnen Subjekten als anzustrebende Zielkonstellation und Handlungsmöglichkeit verfügbar ist, hängt sehr wesentlich von ihrer Einbindung in Organisationen, institutionelle Strukturen und Gruppen ab. Der weit überwiegende Teil aller von den Subjekten entworfenen und durchgeführten Handlungen findet ja im Rahmen institutioneller Vorgaben, zur Verwirklichung von Gruppenzielen und als intersubjektiv koordinierte Umsetzung von Aufgaben statt, die zur Erreichung der Ziele von Organisationen erforderlich sind. Die Umsetzung erfolgt über die Rollendifferenziale (Gesamtheit aller für ein Subjekt wirksamen Erwartungshaltungen), die mit den verschiedenen Positionen einer Person verbunden sind. Anders formuliert: Sehr viel von dem, was Subjekte an Intentionalität entwerfen und im Handeln umsetzen, ist durch ihre sozialen Rollen und Positionen vorgegeben und dient eigentlich der Erreichung von 261

Rückgriff auf Strategien und Routinen des sozialen Systems

Vorgabe durch soziale Rolle, Position und institutionelle Strukturen

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Ressourcen und Constraints

Erleben der Handlungsfolgen als Medium der Sozialisation

Vorgaben, welche die Ziele von übergeordneten sozialen Systemen beschreiben. Weil die Subjekte diese eigentlich „fremdbestimmten“ Zielsetzungen aber internalisiert und damit übernommen haben, werden die institutions- und organisationsbezogenen Ziele als je eigene Intentionalität wahrgenommen und verfolgt. Damit bleiben auch bei hochgradig vom umgebenden sozialen System determinierten Handlungssystemen die Subjekte die eigentlichen „motorischen“ Einheiten (vgl. Abschnitt 10.2.1). Auf der Ebene des konkreten Handlungsvollzugs wird sich die Interaktion mit dem Sozialsystem dabei einerseits im Sinne einer Nutzbarmachung von Ressourcen und Werkzeugen, andererseits im Sinne von Constraints oder Zwängen darstellen. Auch die physisch-materielle Welt und das, was man in der Geographie den Naturraum nennt, können für den Handlungsvollzug als Ressourcen genutzt werden oder als Constraints der Zielerreichung Widerstand leisten. Handlungen haben Folgen. Das ist ja ihr eigentlicher Zweck. Allerdings haben Handlungen manchmal die unangenehme Eigenschaft, Folgen zu haben, die man ganz und gar nicht intendiert hatte und die möglicherweise im Vergleich mit der Zielsetzung absolut kontraproduktiv erscheinen. Die Folgen beziehen sich natürlich in der Regel auf das umgebende Sozialsystem, vor allem aber beziehen sie sich auch auf die materielle Umwelt und den Akteur selbst. Das umgebende Sozialsystem nimmt diese Folgen wahr und kann auf sie mit positiven oder negativen Sanktionen reagieren. Im Erleben der Handlungsfolgen und der dafür erfolgenden „Bestrafung“ oder „Belohnung“ durch das soziale Umfeld lernt das handelnde Individuum die Spielräume und Grenzen seiner Handlungsmöglichkeiten kennen. Damit ist das aktive Handeln auch ein wichtiges Medium der Sozialisation, durch das die subjektive Sinnfindung in das übergeordnete soziale Gefüge eingegliedert wird. Durch spezifische Persönlichkeitsmerkmale und die jeweils gegebene Lebenssituation werden dabei natürlich Akzente gesetzt und bestimmte Entwicklungslinien vorgezeichnet. Ganz besonders wichtig ist nun Folgendes: Die Folgen von Handlungen werden nicht nur von der sozialen Umgebung, sondern natürlich auch vom Akteur selbst beurteilt und mit den vorgegebenen Zielen verglichen. Dabei geht es für das Subjekt vor allem um die Frage, ob sein Handeln „erfolgreich“ war. Der „Erfolg“ eines Tuns ist für den Akteur dann gegeben, wenn durch den Handlungsvollzug die geplanten Ziele und Intentionen erreicht oder verwirklicht werden konnten. Dies ist immer dann der Fall, wenn durch den Handlungsvollzug Systemzustände bewirkt werden konnten, die mit den vorgegebenen Zielen und Sinnstrukturen korrespondieren.

262

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Dieser Rückkoppelungsprozess (in Abbildung 68 symbolisiert durch die gerissene Linie mit dem Fragezeichen) ist für das Verständnis menschlicher Handlungssysteme besonders bedeutsam. Die genaue und systematische Analyse der hier relevanten Bewusstseinsprozesse, die beim Vergleich zwischen Intentionen und erreichten Handlungsfolgen ablaufen, stellt eine wesentliche Voraussetzung für die Aufstellung humanteleologischer Erklärungsmodelle dar. Bei diesen Vergleichsoperationen handelt es sich um räsonierende Denkakte, um Kalküle der Abwägung, der Abschätzung und der Bewertung. Wir werden gleich anschließend noch näher darauf eingehen. Aus der Wahrnehmung der Reaktionen des Sozialsystems und aus dem eigenen Vergleich von ursprünglichen Intentionen und Handlungsfolgen kann der Akteur sehr viel lernen. Dies ist ein wesentlicher Teilprozess von Enkulturation und Sozialisation, der sich markant auf die Persönlichkeitsentwicklung des Akteurs auswirken muss. In weiterer Folge wird dieser Lernprozess damit erhebliche Rückwirkungen auf die subjektiven Werthaltungen und Zielkonfigurationen des Subjekts haben. Dass das Sozialsystem selbst auch in Wechselwirkungen mit anderen Sozialsystemen und der physisch-materiellen Umwelt steht, soll jetzt nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden. Natürlich gibt es im Bereich der Werte und Ziele sowohl innersubjektiv als auch intersubjektiv immer wieder Konflikte und Widersprüche. Mit diesen Konflikten müssen die Akteure umgehen können und Strategien zur Konfliktbewältigung suchen. Wir werden gleich sehen, dass es hier strukturelle und funktionale Ähnlichkeiten mit jenen Formen der Problembewältigung gibt, wie sie beim subjektiven Vergleich zwischen Handlungsfolgen und ursprünglich intendierten Zielen zum Einsatz kommen. Fassen wir einige wichtige Spezifika und Implikationen des handlungstheoretischen Modells zusammen.

Rückkoppelungsprozess

Lernen durch Handeln

Zusammenfassung Durch die Summe aller Handlungsfolgen (intendierte wie nicht intendierte) werden materielle und immaterielle Zustände des übergeordneten Gesamtsystems beeinflusst, verändert oder gar erst erzeugt. Dazu gehören neben rein sozialen Auswirkungen auf Rollen, Institutionen und Positionen auch räumlich-materielle Aspekte, z. B. räumliche Infrastrukturpotenziale, Landnutzungssysteme oder die räumliche Konfiguration sozialer Beziehungen. Damit sind jene Effekte angesprochen, die Benno Werlen als „Geographie-Machen“ bezeichnet. Die räumlichen Konfigurationen von Artefakten auf der Erdoberfläche, die kultur-, wirtschafts- und sozialräumlichen Gegebenheiten, also all das, was früher mit dem Begriff „Kulturlandschaft“ umschrieben wurde, sind aus dieser Perspek-

263

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

tive das Produkt menschlichen Handelns und können als Integral der Auswirkungen, also der intendierten und nicht intendierten Folgen vergangener und gegenwärtiger Handlungen, angesehen werden. Wenn die Sozialgeographie diese Strukturen erklären möchte, dann müssen die dahinterstehenden Handlungen rekonstruiert werden. Dieses Rekonstruktionsgebot beschreibt das zentrale Erkenntnisobjekt der handlungstheoretischen Sozialgeographie und demonstriert gleichzeitig die Fortschritte gegenüber älteren Paradigmen des Faches.

Die Rationalität des Handelns

Subjektive Rationalität: „Attributizer“

Kehren wir noch einmal zurück zu jener wichtigen Rückkoppelungsschleife in unserem Modell, welche die Bewusstseinsprozesse des Akteurs beim Vergleich der Handlungsfolgen mit den intendierten Zielen symbolisiert. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in der Vergangenheit für derartige Bewusstseinsprozesse generell eine Rationalität postuliert wurde, die den Gesetzen und Axiomen der klassischen Logik entspricht. Das klassische Modell des Homo oeconomicus geht von einem streng zweckrational argumentierenden Akteur aus, der nicht nur vollständig informiert ist, sondern auch die Fähigkeit besitzt, alle Argumente in perfekter Logik gegeneinander abzuwägen und immer zu richtigen Schlussfolgerungen zu gelangen. Wir haben gesehen, dass in den verhaltenswissenschaftlichen Ansätzen der Sozialgeographie bereits ein erheblicher Abstrich von dieser Annahme gemacht wurde (vgl. Abb. 69). Hier wurde ausdrücklich das Faktum herausgestellt, dass der Mensch unzulänglich informiert ist und deshalb auch zu unzulänglichen Entscheidungen kommen müsse. Der „Satisfizer“ gibt sich schon mit suboptimalen Vorteilen zufrieden. Für ihn gilt – wie Dietrich Höllhuber (z.B. 1982) und andere gezeigt haben – das Prinzip der marginalen Differenz: Der Satisfizer ist bereits zufrieden, wenn er eine marginale, gerade erkennbare Verbesserung gegenüber dem Status quo wahrnehmen kann. Ansonst „funktionieren“ seine Bewusstseinsprozesse aber in perfekter Rationalität und entsprechend den Axiomen der klassischen Logik. Nun gibt es in den Sozialwissenschaften eine Forschungsrichtung, die sich mit der empirischen Erfassung menschlicher Entscheidungsprozesse beschäftigt. Die dabei erarbeiteten Befunde belegen sehr eindeutig, dass Abwägungsprozesse, wie wir sie bei der Rückkoppelungsschleife im Handlungsmodell vorliegen haben, in vielen Fällen nicht den Annahmen und Gesetzen der Logik entsprechen. Wir müssen vielmehr davon ausgehen, dass der Mensch im Alltagshandeln so etwas wie eine „subjektive Logik“ und eine „subjektive Rationalität“ entwickelt und seine Bewusstseinsprozesse bei der Beurteilung des eigenen Handelns einer Rationalität folgen, die aus der Sicht der klassischen Logik defizitär erscheinen muss (vgl. dazu H. Esser, 1993, S. 23). In Anlehnung an die „Attributionsforschung“ der Psychologie 264

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Qualität und Quantität der Information

Zunahme der Rationalität

„ATTRIBUTIZER“

Abbildung 69: Die „Rationalität“ des Handelns I Quelle: In Anlehnung an A. Pred, 1967, S. 25

Verzerrte, gefilterte, unvollständige Information

„SATISFIZER“

Prinzip der „marginalen Differenz“ (D. HÖLLHUBER)

„subjektive Rationalität“, „subjektive Kausalität“

(vgl. z. B. W. Herkner, Hrsg., 1980) soll ein Menschenbild, das diesem Faktum gerecht wird, als „Attributizer“ bezeichnet werden. (Die Attributionsforschung befasst sich mit der Rekonstruktion subjektiver Kausalität. Wir werden darauf noch näher eingehen.) Sehen wir uns noch einmal die „Rückkoppelungssequenz“ bei der abwägenden Beurteilung an, welche Akteure bei Abschätzung des Erfolgs ihres Handelns in Form von Ziel-Ergebnis-Vergleichen durchführen (Abb. 70). Wir können aus den Ergebnissen der Entscheidungs- und der Attributionsforschung Folgendes ableiten:

HOMO OECONOMICUS

Perfekte Information

Perfekte Rationalität

Abbildung 70: Die „Rationalität“ des Handelns II

WERTE, BEDÜRFNISSE, AFFEKTE

SINN, ZIELE

?

Handlungsentwurf Handlungsvollzug, Handlungssequenzen

Handlungsfolgen

265

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Akteure verfügen über ein sehr großes und überaus flexibles Repertoire argumentativer Bewusstseinsakte, durch die nahezu beliebige Zusammenhänge oder Kausalbeziehungen zwischen Sinnstrukturen und Handlungsfolgen hergestellt werden können. Dies gilt auch für die Herstellung von Kausalbeziehungen zwischen übergeordneten Sinnkonfigurationen und spezifischen Handlungszielen. Anders formuliert: Aus einer bestimmten Sinnkonfiguration lässt sich fast jedes beliebige Handlungsziel „subjektiv logisch“ völlig überzeugend ableiten.

Alltagsweltliche Logik

Durch solche „alltagsweltlichen Logiken“ und „alltagsweltlichen Rationalitäten“ lassen sich auch intersubjektive und intrasubjektive Ziel- und Wertkonflikte „lösen“, das heißt, durch räsonierende Interpretationen und Deutungen gleichsam aus der Welt schaffen.

Menschen verfügen über eine nahezu unglaubliche Kapazität, den Vergleich zwischen den ursprünglichen Intentionen von Handlungen und den tatsächlich bewirkten Handlungsfolgen durchzuführen und interpretativ zu deuten. Dabei handelt es sich um argumentative Prozesse der aktiven Umdeutung, durch die Diskrepanzen zwischen Intention und Handlungsresultat abgebaut oder zum Verschwinden gebracht werden können. Anders gesagt: Akteure verfügen über ein sehr großes Repertoire räsonierender Argumentationsstrukturen, mit deren Hilfe so gut wie jeder Zusammenhang zwischen Sinnstruktur und Handlungsfolgen als „wahr“, „erfolgreich“, „gelungen“, „gültig“ oder „angemessen“ bewertet werden kann.

Wie können die durch das Fragezeichen in unserem Modell (Abb. 68 und 70) symbolisierten inhaltlichen Interpretationen der Rückkoppelungsschleife aussehen? Wir können natürlich keine systematische Besprechung aller hier denkbaren Möglichkeiten vornehmen. Es sei nur exemplarisch auf einige idealtypische Formen verwiesen.

266

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Exkurs Ein Beispiel für „alltagsweltliche Logik“ Der prominente Psychologe Paul Watzlawick hat ein hypothetisches, aber sehr illustratives Beispiel dafür formuliert, was mit „alltagsweltlicher Logik“ gemeint ist. Es ist „Die Geschichte mit dem Hammer“ aus seinem Buch „Anleitungen zum Unglücklichsein“. „Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt unser Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel:Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts getan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir wirklich. Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er ,Guten Tag‘ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: ‚Behalten Sie sich Ihren Hammer, Sie Rüpel!‘“ P. Watzlawick, 1983, S. 37–38

Wir alle kennen Situationen der Lebenswelt, wo wir sehr ähnlich reagieren wie dieser Mann, der ein Bild aufhängen will. Wir fühlen uns von unserer Umwelt verfolgt, unterstellen anderen böse Absichten, wir glauben manchmal sogar, dass die Dinge absichtsvoll gegen uns intervenieren. Ampeln schalten boshafterweise genau dann auf Rot, wenn wir es besonders eilig haben, die Schlange an der Kasse im Supermarkt, an der wir uns angestellt haben, wird besonders langsam abgefertigt, der Zug, der sonst immer Verspätung hat, fährt natürlich genau dann pünktlich, wenn wir ausnahmsweise eine Kleinigkeit zu spät kommen etc. Nehmen wir einmal an, die Folgen einer bestimmten Handlung stimmen mit den vom Akteur ursprünglich intendierten Zielen überein. Und dies wird nicht nur vom Akteur selbst behauptet, sondern entspricht auch der Einschätzung externer Beobachter. Zusätzlich hatte die Handlung keine 267

Wachstumsmotive

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Dissonanz zwischen Handlungsintention und -ergebnis

Dissonanzbewältigung

Schuldzuweisung an Rahmenbedingungen oder Interaktionspartner

Uminterpretation der Folgen

Umdeutung der Sinnstrukturen

nicht intendierten Folgen, die vom Akteur und von externen Beobachtern als negativ, kontraproduktiv oder destruktiv beurteilt werden. In diesem Falle kann man von einer „objektiv“ erfolgreichen Handlung sprechen. Eine solche erfolgreiche Realisierung von Zielen hat häufig zur Folge, dass neue Ziele generiert werden.Verschiedene Ergebnisse von Forschungen zur Bedürfnistheorie lassen die Hypothese plausibel erscheinen, dass mit der Verwirklichung von niederrangigen Bedürfnissen eine Appetenz nach höherrangigen Bedürfnissen, den sogenannten Wachstumsmotiven, geweckt wird. Dies wird in der Regel zu neuen Handlungssequenzen führen. Jeder von uns weiß, dass eine solche Situation unabhängig von der konkreten Zielerreichung (z. B. Fertigstellung des Hauses) auch Rückwirkungen auf den Akteur selbst, seine Persönlichkeitsstruktur und seine IchIdentität haben wird. Solche Erfolgserlebnisse bauen auf und festigen unser ego. Wir werden das in Kapitel 10.2.2 noch genauer besprechen. Häufig ergibt der Vergleich zwischen den Folgen des Handelns und der Intention des Akteurs aber eine schlechte Übereinstimmung zwischen Absicht und Ergebnis. Dann stehen dem Handlungsträger verschiedene Strategien zur Lösung dieser Spannung oder Dissonanz zur Verfügung. Eine erste Option wäre hier die Wiederholung der mehr oder weniger erfolglosen Handlungssequenz mit verstärkten Anstrengungen und mit dem Einsatz anderer bzw. angemessener Mittel. Die zweite und durchaus gängige Methode der „Problembewältigung“ besteht im Einsatz argumentativer und interpretativer Bewusstseinsprozesse, mit denen für den Akteur ein Abbau von Spannungen und Dissonanzen möglich wird. Es handelt sich dabei um eine Art „innerer Konfliktbewältigung“, welche allfällige Diskrepanzen zwischen Zielsetzungen und „Handlungsertrag“ kognitiv umdeutet und zumindest reduzieren kann. Eine gängige und – wie wir alle wissen – besonders häufige Form der Dissonanzbewältigung ist die „Schuldzuweisung“ an Rahmenbedingungen und/oder Interaktionspartner. Wenn durch den Handlungsvollzug die intendierten Ziele nicht oder unzureichend realisiert werden können, dann kann der Akteur sich selbst gleichsam exkulpieren, indem er widrige Umstände oder die Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit von Kooperationspartnern für das Scheitern verantwortlich macht. Damit wird zwar das angestrebte Ziel nicht erreicht, die Frustration über das Scheitern kann aber deutlich reduziert werden. Hier sind Akteure zu erheblichen „mentalen Verrenkungen“ imstande. Eine weitere Problemlösung besteht in der Uminterpretation der Folgen. Negative Aspekte der Handlungsfolgen werden ignoriert, beiseitegestellt oder verdrängt, positive werden überbetont. Damit stimmen in der subjektiven Weltsicht des Akteurs die Folgen seines Tuns plötzlich doch – zumindest einigermaßen – mit den Zielen überein. Eine dritte Problembewältigung ist die nachträgliche Umdeutung der subjektiven Sinnstrukturen. Wenn der Akteur die erlebte Realität nicht im 268

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Sinne der gesetzten Ziele verändern kann, dann werden eben die Ziele an die Realität angepasst und die getroffenen Entscheidungen und Handlungsvollzüge nachträglich rationalisiert. Derartige psychische Umdeutungsprozesse konnten in unzähligen Untersuchungen im Rahmen der verschiedenen Konsistenztheorien der Psychologie sehr gut bestätigt werden. (Die berühmteste dieser Konsistenztheorien ist die „Theorie der kognitiven Dissonanz“ von Leon Festinger, 1957.) Derartige Uminterpretationen werden den Akteuren aber gar nicht bewusst. Sie werden von ihnen keineswegs als „Ausreden“ oder „Ausflüchte“ empfunden, sondern erscheinen subjektiv als völlig schlüssig, rational oder „logisch“. Aus der „objektiven“ Sicht eines externen Beobachters muss die gleiche Interpretation hingegen oft als völlig unsinnig erscheinen und wird als irrational oder a-rational klassifiziert, weil sie den Prüfinstanzen der klassischen Logik nicht standhalten kann. Ein solches Urteil ist aber zweifellos nicht zutreffend, denn die subjektive Deutung der Wirklichkeit stellt für den Handelnden ja räsonierendes, vernünftiges Überlegen dar, sie hat für ihn eine argumentative Struktur. Es scheint angemessen, hier von subjektiver Rationalität und subjektiver Logik zu sprechen. Diese Art subjektiv-rationaler Weltsicht ist dabei keineswegs auf Individuen mit begrenzter Handlungs- oder gar Denkkompetenz beschränkt. Aktuelle Beispiele aus der tages- und weltpolitischen Diskussion belegen, dass auch Entscheidungsträger in höchsten politischen, wirtschaftlichen und sozialen Funktionen derartige Interpretationsmuster einsetzen, die im übrigen auch konstitutive Bestandteile gruppen- und kulturspezifischer Weltsichten darstellen. Situationsangepasste „Weltdeutungen“ von Politikern aller Couleurs oder verschiedene Reden von George W. Bush könnten hier als sehr anschauliche und überzeugende Beispiele herangezogen werden. Der derzeitige US-Präsident Donald Trump und sein Stab bieten fast täglich markante Beispiele subjektiver Logik und „alternativer Fakten“. Insbesondere bei nicht intendierten Handlungsfolgen, die gesellschaftlich oder von Bezugsgruppen negativ gewertet werden, findet sich als kognitive Strategie nicht selten auch die Leugnung von Kausalzusammenhängen mit dem eigenen Handeln. Eine Variante dieser Bewältigungsstrategie wäre die argumentative Abschwächung der negativen Auswirkungen eigenen Tuns: „Es ist ja gar nicht so schlimm“. Durch derartige argumentative Prozesse der aktiven Umdeutung können Diskrepanzen zwischen Intentionen und Handlungsergebnissen abgebaut oder einfach zum Verschwinden gebracht werden, werden Misserfolge zu beglückenden Erfolgserlebnissen, kann das objektive Scheitern eines Projekts zu einem persönlichen Sieg hochstilisiert werden. Nicht selten werden mithilfe solcher kognitiver Operationen auch spontane Ad-hoc-Entscheidungen nachträglich rationalisiert. Derartige kognitive Operationen eignen sich natürlich auch hervorragend zur Rechtfertigung von Handlungszielen. Das Grundmuster ist einfach: Akteure sind bemüht, eine argumentative Verknüpfung eigener Hand269

Theorie der kognitiven Dissonanz

Aktive Umdeutung erscheint als vernünftige Überlegung

Abbau von Diskrepanzen zwischen Intention und Handlungsfolgen

Rechtfertigung von Handlungszielen

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Bewältigung von Ziel- und Wertekonflikten

Neue Fragen der empirischen Forschungspraxis: Werte und Sinn

lungsziele mit besonders hochrangigen gesamtgesellschaftlichen oder gruppenspezifischen Werten herzustellen. Ob diese Verknüpfung von der Sachlogik her auch objektiv gerechtfertigt ist, spielt dabei keine besondere Rolle. Damit wird es dem Akteur möglich, sich selbst und anderen gegenüber auch unehrenhafte, egoistische oder ethisch unhaltbare Einzelziele zu „begründen“. Die Geschichte der Menschheit und das aktuelle Weltgeschehen bieten genügend Belege dafür, dass die grauenhaftesten Handlungen durch den Rekurs auf anerkannte Werte wie Ehre, Treue, Freiheit, Religion subjektiv gerechtfertigt werden (denken Sie nur an das Ereignis vom 11. September, Selbstmordattentate, Hexenverfolgung, Kreuzzüge etc.). Den Akteuren erscheinen die dazu erforderlichen „Argumentationen“, die in Wahrheit nur durch wilde mentale Verrenkungen möglich sind, durchaus korrekt, gültig, stimmig und zwingend. Ähnliche Denkmuster einer subjektiven Rationalität werden eingesetzt, wenn es um die Bewältigung inner- und intersubjektiver Ziel- und Wertekonflikte geht. Auch hier dienen subjektive oder gruppenspezifische Abbau-, Verdrängungs- und Harmonisierungsoperationen als Mittel der inneren Überzeugung. Zum Ergebnis einer Spannungs- oder Problembewältigung führen sie dadurch, dass die Konflikte verdeckt, verniedlicht, mit Überzeugung geleugnet oder als nicht existent angesehen werden. Bei intersubjektiven Zielkonflikten findet eine Austragung meist über Macht- und Abhängigkeitsstrukturen statt. Dabei erweisen sich natürlich solche subjektiven oder gruppenspezifischen Muster der Weltdeutung als besonders „praktisch“, mit deren Hilfe eine Rechtfertigung oder Legitimierung eigener Machtansprüche durch Werte möglich ist, die im jeweiligen Gesellschaftssystem eine besonders hohe Position in der Wertehierarchie einnehmen. (Man denke etwa an das Konzept des „Gotteslehens“ in der mittelalterlichen Feudalherrschaft.) Die Beispiele verweisen auch darauf, dass derartige subjektive Begründungszusammenhänge problemlos in gesellschaftliche Diskurse und kulturelle Deutungsmuster gleichsam „eingehängt“ werden können. Damit weist die handlungszentrierte Sozialgeographie eine hohe Kompatibilität mit den kulturalistischen Ansätzen der Sozialgeographie auf (vgl. Kapitel 11). Es sei nochmals ausdrücklich festgehalten, dass die Akteure selbst bei all diesen kognitiven Operationen mit hoher Gewissheit davon überzeugt sind, rational, logisch, widerspruchsfrei und vernünftig zu denken. Es ist klar, dass eine Sozialgeographie, die an der Handlungstheorie orientiert ist, eine ganz andere Zugangsweise zur empirischen Forschungspraxis entwickeln muss als etwa die verhaltenswissenschaftlichen Ansätze. Der übliche Kanon konkreter Forschungsaufgaben muss um eine ganze Reihe bisher kaum beachteter Fragen erweitert werden. An erster Stelle ist hier die Beschäftigung mit den Phänomenen „Werte“ und „Sinn“ zu nennen, die in älteren Ansätzen der Sozialgeographie völlig unzureichend oder gar nicht thematisiert wurden. Dabei wird auch die Frage relevant, wie Sinnstrukturen in bestimmten sozialen und personalen Systemen entstehen. 270

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Für das Aufstellen von humanteleologischen Erklärungen muss auch der Problemkreis der subjektiven Rationalität berücksichtigt werden. Hier ist eine handlungstheoretische Sozialgeographie gefordert, sich mit der Attributionstheorie (W. Herkner, Hrsg., 1980) und der Entscheidungstheorie der Psychologie auseinanderzusetzen. (Ein Klassiker der alltagsweltlichen Entscheidungstheorie ist das Buch „Die Logik des Misslingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen“ von Dietrich Dörner, 1989.) Ein weiteres wichtiges Thema müsste die Beschäftigung mit Alltagskultur und Alltagswelt sein. Dabei geht es besonders um die Frage nach den ontologischen Konzepten, die der Erfahrung von Lebenswelt im Alltagshandeln zugrunde liegen. Und schließlich wird es erforderlich sein, die potenzielle Vielfalt menschlicher Handlungen zu einer in der Forschungspraxis handhabbaren Typologie von Handlungen und Handlungselementen zusammenzufassen. Diese wenigen Hinweise lassen bereits erkennen, dass der Aufwand für die Durchführung empirischer Arbeiten im Rahmen einer handlungstheoretischen Sozialgeographie sehr erheblich sein muss. Das dürfte vermutlich der wichtigste Grund dafür sein, dass in der Zwischenzeit zwar ein sehr beeindruckender theoretischer „Überbau“ vorgelegt wurde, aber noch nicht besonders viele empirische Anwendungsbeispiele existieren.

Thema Alltagskultur und Alltagswelt

10.2. Handlungsorientierte Sozialgeographie: Stärken und offene Fragen Wir haben im letzten Kapitel ein einfaches handlungstheoretisches Modell der Mensch-Umwelt-Interaktion besprochen und dabei einige der Grundbegriffe und Grundkonzepte der Handlungstheorie kennengelernt. Wir haben gesehen, dass die Handlungstheorie gegenüber den älteren Ansätzen der Sozialgeographie zweifellos eine Reihe von Vorzügen aufweist. Fassen wir noch einmal kurz zusammen, worin die wichtigsten Stärken dieses Paradigmas liegen. Zusammenfassung Eine klar erkennbare Verbesserung ergibt sich durch das neue Menschenbild. Mit den handlungstheoretischen Ansätzen kann die Sozialgeographie ein realitätsangemesseneres und der Komplexität menschlicher Existenz besser entsprechendes Menschenbild übernehmen, bei dem auch die Bedeutung subjektiver Rationalität und Kausalität berücksichtigt ist. Der zweite entscheidende Vorzug besteht darin, dass es möglich und erforderlich ist, sich auf systematische Weise mit den für den Menschen so fundamentalen

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10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Phänomenen „Sinn“ und „Werte“ zu befassen. Die Bedeutung dieser normativen Grundstrukturen menschlicher Weltsicht als Steuergrößen und eigentlich entscheidende Determinanten menschlichen Tuns sowie deren selbstreferenzielle Dynamik kann von der Handlungstheorie (und den kulturalistischen Ansätzen, vgl. Kapitel 11) angemessen erfasst werden. Der wohl wichtigste Vorzug der Handlungstheorie besteht darin, dass mit ihrer Hilfe der soziale Kontext menschlicher Tätigkeiten berücksichtigt werden kann. Im Rahmen dieses Paradigmas wird es möglich, die sozial mitbedingte Entstehung von Wertekonfigurationen, die Einbindung von Individuen und Gruppen in den Kontext des übergeordneten sozialen Systems und die sozialen Bedingungsfelder menschlichen Tuns auf dem Weg über humanteleologische Erklärungsmodelle darzustellen. Damit kann die Sozialgeographie eine definitiv und dezidiert gesellschaftstheoretische Perspektive übernehmen und sich endlich konsequent in den Kanon der Sozialwissenschaften einordnen. Damit wird es ihr auch möglich, aus dem reichen Fundus sozialwissenschaftlicher Theorien zu schöpfen. Da viertens im Rahmen dieses Modells aber auch das menschliche Individuum, die Person und Persönlichkeit des Handlungsträgers, ausdrücklich thematisiert ist, ergibt sich gleichzeitig die große Chance, einerseits auch endlich Zugang zu psychologischen Persönlichkeits-, Identitäts- und Entwicklungstheorien zu finden. Andererseits ergibt sich die Notwendigkeit, eine Integration von gesellschaftstheoretischen und mikroanalytisch-individualtheoretischen Perspektiven anzustreben und zu realisieren. Von besonderer Bedeutung erscheint schließlich fünftens, dass die handlungszentrierte Sozialgeographie einen Denkrahmen anbietet, der geeignet erscheint, die Zusammenhänge zwischen den drei Welten Poppers artikulieren zu können. Der Begriff des „Handelns“ erbringt nämlich genau jene Leistung, die in der klassischen Geographie im Landschaftsbegriff und im Raumbegriff aufgehoben war: die Verknüpfung von physisch-materiellen Gegebenheiten, Bewusstseinszuständen und der sozialen Welt. Die Handlungstheorie bietet damit die Möglichkeit, naturalistisch-materialistische (intendierte und nicht intendierte Handlungsfolgen) und kulturalistisch-konstruktivistische (Genese und diskursive Begründung von Intentionalität) Deutungen der Welt im Kontext eines kohärenten Denkmodells miteinander in Beziehung zu setzen (vgl. dazu Kapitel 11 und 12).

Empirische Untersuchungen: Handlungsrelvanz

Die beiden letztgenannten Punkte müssen wir im Folgenden noch etwas ausführlicher besprechen. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass empirische Arbeiten innerhalb dieses Paradigmas in der Sozialgeographie noch eher selten sind. Das liegt 272

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

unter anderem daran, dass eine handlungstheoretisch konzipierte Untersuchung nur mit großem Aufwand operationalisierbar ist. Aus den Überlegungen in Kapitel 9 kann abgeleitet werden, dass auch kognitive Prozesse und die Entwicklung appraisiv-designativer Mental Maps in Zusammenhang mit konkreten Handlungsabläufen stehen. Die Welt wird im Handeln erfahren. Dies bedingt, dass bereits die Grundkonzeption einer empirischen Untersuchung auf die Handlungsrelevanz von Analyseeinheiten Rücksicht nehmen muss. Wir haben darauf schon bei der Besprechung von Untersuchungen zum Thema Wohnsitzpräferenzen hingewiesen. Es macht wenig Sinn, Wohnsitzpräferenzen von Probanden erfragen zu wollen, die zum Zeitpunkt der Befragung gar keine Wohnung suchen. Relevante Antworten könnte man nur dann erwarten, wenn die Inhalte einer Befragung mit der aktuellen Lebenssituation und dem aktuellen Handlungskontext der Probanden korrespondieren. Im Folgenden soll noch kurz überlegt werden, welche „konzeptionellen Bausteine“ erforderlich sind, um das Paradigma einer handlungstheoretischen Sozialgeographie inhaltlich so zu entwickeln, dass substanzielle empirische Ergebnisse erzielt werden können. Ein wichtiger Aspekt ist hier die Entwicklung eines Beschreibungsrasters, mit dessen Hilfe die Vielzahl menschlicher Handlungen nach Ähnlichkeiten zusammengefasst und in ihren charakteristischen Verlaufsformen dargestellt werden können. Erforderlich wäre also eine Art formale und inhaltliche Typologie von Handlungen. Ein zentraler Punkt ist die Einbindung der konzeptionellen Grundlagen einer handlungstheoretischen Sozialgeographie in die generelle und aktuelle „Sozialtheorie“ der Sozialwissenschaften. Besonders wichtig erscheint hier die Verknüpfung von Mikro- und Makroperspektive der Sozialwissenschaften. Hier bietet sich vor allem die „Strukturationstheorie“ des britischen Soziologen Anthony Giddens an, die wir im Folgenden kurz besprechen werden. Für diesen zweiten Bereich ist die innergeographische Entwicklungsarbeit am weitesten vorangeschritten. Insbesondere in den Veröffentlichungen von Benno Werlen liegt hier eine elaborierte Grundlage vor, die als solides Fundament der handlungstheoretischen Sozialgeographie gelten kann. Offen ist allerdings noch die Möglichkeit, neben Giddens noch andere Konzeptionen von Handlungstheorie für die Sozialgeographie nutzbar zu machen. Hier werden wir als Beispiel in sehr knapper Form die „Symbolische Handlungstheorie“ des Kulturpsychologen Ernst Eduard Boesch ansprechen. Als dritten großen konzeptionellen Baustein der handlungstheoretischen Sozialgeographie möchte ich die Entwicklung paradigmenspezifischer Raumkonzepte anführen. Hier hat Benno Werlen mit seinen Konzepten der „alltäglichen Regionalisierungen“ und des „Schauplatzes“ ebenfalls schon wichtige Impulse geliefert. Es sind aber gerade in diesem Bereich 273

3 Bausteine für die inhaltliche Entwicklung einer handlungs-theoretischen Sozialgeographie 1. Typologie von Handlungen

2. Einbindung der Grundlagen in die „Sozialtheorie“ der Sozialwissenschaften

3. Entwicklung paradigmenspezifischer Raumkonzepte

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Beschreibung von Handlungen: Alltagshandeln – professionalistisches Handeln

Projektbegriff nach Hägerstrand

Definition „Projekt“ nach Carlstein

noch viele Fragen offen. Besonders interessant erscheint hier die Möglichkeit, das Konzept des „Schauplatzes“ (Giddens’ „locale“) durch das umweltpsychologische Konzept des „behavior settings“ zu ergänzen und inhaltlich zu konkretisieren (vgl. P. Weichhart, 2003 b und Kapitel 10.2.3). Wie kann man Handlungen eigentlich formal und inhaltlich beschreiben? Lassen sich Handlungen in inhaltlicher oder funktionaler Sicht zu bestimmten Klassen oder Typen zusammenfassen? Wie bekommt man so etwas wie Ordnung und Generalisierbarkeit in die Vielfalt menschlichen Tuns? Eine erste Möglichkeit besteht vielleicht darin, „lebensweltliche“ und „professionalistische“ Handlungstypen zu unterscheiden. Lebensweltliche Handlungen oder Alltagshandeln stellen menschliches Tun dar, das im Vollzug der alltäglichen Existenz abläuft. Demgegenüber werden professionalistische Handlungen als „theoriegeleitetes Tun“ aufgefasst.Tatsächlich ist aber auch Alltagshandeln auf Wissensbestände abgestützt, deren Inhalte man als „lebensweltliche Theorien“ bezeichnen könnte. Einerseits handelt es sich hier um diskursives Wissen, also ein Wissen, das gelehrt werden kann, sprachlich artikuliert wird und auch schriftlich kodifiziert sein kann – in Texten gespeichert ist und über die Zeit transportiert wird (man denke etwa an Kochbücher). In sehr erheblichem Maße beziehen sich lebensweltliche Theorien auch auf „Wissensbestände“, die man als „tacit knowledge“ oder „implicit knowledge“ bezeichnet (vgl. M. Polany, 1985 oder P. Meusburger, 1998). Auch Alltagshandeln ist also „theoriegeleitet“, wenngleich die hier relevanten Theorien eine andere Form und andere Inhalte aufweisen, als wir es von „wissenschaftlichen“ oder technischen Theorien gewohnt sind. Letztere sind für das professionalistische Handeln bedeutsam. Um Handlungen als analytisch fassbare Einheiten von Geschehensströmen darstellen zu können, ist es sinnvoll, sie nach Zusammenhängen zu strukturieren, die aus der Sicht des Akteurs oder Handlungsträgers als kognitive Einheiten erscheinen. Dazu bietet sich das Konzept des „Projekts“ an. Dieses Konzept wurde ursprünglich im Rahmen der Zeitgeographie des schwedischen Geographen Torsten Hägerstrand und seiner Schule entwickelt. Hägerstrand spielte eine wichtige Rolle für die Entwicklung der handlungstheoretischen Sozialgeographie. Er ist einer der wenigen Geographen, deren theoretische Konzepte von der Nachbardisziplin Soziologie ernsthaft rezipiert wurden. So hat Anthony Giddens in seiner Strukturationstheorie ausdrücklich und intensiv auf die Zeitgeographie Hägerstrands Bezug genommen. Der Hägerstrand-Schüler Tommy Carlstein hat 1982 eine sehr einprägsame Definition des Projekt-Begriffes vorgelegt. Sie findet sich in seinem Buch „Time Resources, Society and Ecology. On the Capacity for Human Interaction in Space and Time. Vol. 1. Preindustrial Societies“ (1982):

274

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

“Projects can thus be defined as sequences of future activities of individuals or groups designed to materialize in a predefined result, which upon completion becomes a product or some other sociocultural output. As activities, projects involve and demand resources: people’s time, space-time in the settlement system, energy, and in many instances materials, tools, constructions, other organisms, and various other facilities.” T. Carlstein, 1982, S. 48

Auch in der Sozialpsychologie werden seit Anfang der 1980er-Jahre übergeordnete Handlungseinheiten als „personal projects“ bezeichnet. Dieses Konzept wurde mit dem ausdrücklichen Ziel entwickelt, eine adäquate Analyseeinheit für die Darstellung von Individuum-Umwelt-Interaktionen bereitzustellen. Ein besonderer Vorteil des Konzepts besteht darin, dass es als interaktive Messkategorie die Persönlichkeitsmerkmale und Wertekonfigurationen von Handlungsträgern mit dem zeitlichen, räumlichen, sozialen und instrumentellen Kontext des Handlungsgefüges in Verbindung bringt. Nach Brian R. Little lässt sich ein Projekt folgendermaßen definieren: “A personal project will be regarded as a set of interrelated acts extending over time, which is intended to maintain or attain a state of affairs foreseen by the individual. As suggested in an earlier work (Little, 1972), personal projects reflect cognitive, affective, and behavioural aspects of human conduct.Thus, in contrast with units that owe primary allegiance to one of these three domains, personal projects might serve the purpose of providing an integrated unit for personality research. Further, projects are natural interactional units of analysis (Argyle and Little, 1972) that typically (though not necessarily) involve active commerce with the environment over extended periods of time. As units, personal projects place individuals in context at the very outset, both spatially and temporally.” B. R. Little, 1983, S. 276

275

Definition „Project“ nach Little

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Allokative Kraft von Projekten

Synchorisation und Synchronisation

Persönliche Projekte sind exakt auf die kognitiven Strukturen individueller und gruppen- oder kulturspezifischer Welterfahrung und Sinnfindung zugeschnitten. Projekte sind also Vehikel der Zielerreichung oder des Strebens nach einem Ziel. Sie besitzen damit auch eine ihnen innewohnende Prägekraft für konkrete Handlungsvollzüge. Man könnte von den „positiven Zwängen“ eines Projekts sprechen. Projekte „kanalisieren“ gleichsam die Handlungsvollzüge, lenken sie in eine bestimmte Richtung, haben eine allokative Kraft. Wenn einmal eine Entscheidung zur Verfolgung eines bestimmten Zieles getroffen und die erforderliche Handlungssequenz begonnen wurde, dann zwingt diese Entscheidung dazu, den begangenen Weg weiterzuschreiten. Dies ist schon deshalb einleuchtend, weil ansonsten die bereits getätigten „Investitionen“ an Arbeit und Material verloren oder entwertet wären. Nehmen wir als Beispiel einen Bauern, der gerade seine Feldfrüchte ausgesät hat und damit einen Schritt zur Erreichung seines Produktionsziels gesetzt hat. Er ist nun durch seine eigene Wahl und seine eigene Entscheidung dazu genötigt, die notwendigen Feld- und Pflegearbeiten weiterzuführen, bis die Ernte eingebracht ist. Denn wenn er das nicht tut, wird er sein Ziel nicht erreichen und überdies werden die bislang getätigten Arbeiten nutzlos, das bisher eingesetzte Kapital und Material wären verloren. Er könnte auch nicht irgendwann im späteren Frühjahr auf die Idee kommen, jetzt andere Feldfrüchte auszuwählen und sein Produktionsziel nachträglich zu verändern. Denn der Zeitpunkt der Aussaat ist in der Zwischenzeit verpasst. Projekte legen die Synchorisation und die Synchronisation der Einzelelemente, Mittel und Beteiligten einer Handlungssequenz fest. Die Einzelteile einer Handlungssequenz, in die ja andere Personen,Werkzeuge, Hilfsmittel, Institutionen etc. einbezogen sind, müssen wie die Zahnräder einer komplizierten Maschine ineinandergreifen, perfekt aufeinander abgestimmt sein, damit das Gesamtprojekt vorangetrieben und realisiert werden kann. Ein Beispiel für eine solche Synchorisation und Synchronisation: Man kann ein Studium nur an einem Hochschulort und während einer bestimmten Zeitperiode beginnen, nämlich innerhalb der Inskriptionsfrist am Semesterbeginn. Und man muss (zumindest bei der Immatrikulation) persönlich anwesend sein. Es ist also eine „Kopräsenz“ mit anderen Akteuren eines bestimmten Handlungssystems erforderlich. Die Realisierung bestimmter Ziele, die Ausführung von bestimmten Handlungen setzen voraus, dass die Interaktionspartner eines Projekts gleichzeitig am gleichen Ort zusammenkommen. Wenn man etwas kauft, dann muss man in der Regel persönlich mit dem Verkäufer im Geschäft zusammentreffen. Natürlich gibt es im Zeitalter der Telekommunikation auch vielfältige Möglichkeiten, diese Kopräsenz zu umgehen: Teleshopping, Internetshopping oder Versandhandel sind geläufige Beispiele. Der weitaus überwiegende Anteil aller derartigen Interaktionsbeziehungen findet aber auch heute unter den Bedingungen einer körperlichen Kopräsenz statt. 276

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Aus diesen Hinweisen und Beispielen wird klar, welche wichtige Rolle dem Raum in den Handlungstheorien zukommt. Erstmals ist hier eine anspruchsvolle sozialwissenschaftliche Theorie entstanden, in der räumliche Gegebenheiten, Anordnungsmuster und Konstellationen nicht einfach ausgeblendet, als unerhebliches Beiwerk vernachlässigt oder bestenfalls als Rahmenbedingung interpretiert werden. In den Handlungstheorien wird „Raum“ (im Sinne von Räumlichkeit) vielmehr als unabdingbarer Bestandteil, funktionales oder instrumentelles Element bzw. „Werkzeug“ von Handlungsvollzügen fassbar. Es wird ausdrücklich thematisiert, dass Handlungen auch „Schauplätze“ haben, an bestimmten Orten stattfinden. Diese Schauplätze oder „locales“ sind „regionalisiert“, sie werden in Bezug auf bestimmte Handlungselemente in sozial definierte funktionale Teilabschnitte gegliedert. Ihre Teilbereiche sind räumlich strukturiert.

Eine Reihe von Fragen zur Handlungstheorie können an dieser Stelle nicht näher besprochen werden: etwa die Typisierung von Handlungen nach ihrem Komplexitätsgrad, die Zusammenhänge zwischen Lebensstilen und Handlungstypen oder etwas, das man „Handlungsgrammatik“ nennen könnte. Darunter wäre gleichsam die „Syntax“ von Handlungen zu verstehen. (Handlungen können einen kommunikativ-diskursiven Interaktionsstil aufweisen oder autoritär strukturiert sein, partnerschaftlich, gruppenbezogen oder individualistisch geprägt sein, eine offensive oder eine defensive Struktur aufweisen etc.) 10.2.1. Die Strukturationstheorie von Anthony Giddens Der Werlen’sche Entwurf einer handlungstheoretischen Sozialgeographie basiert in starkem Maße auf der Strukturationstheorie des britischen Soziologen Anthony Giddens. Zum Verständnis der Entwürfe und Konzepte Werlens müssen wir uns zumindest mit den Grundzügen der Strukturationstheorie vertraut machen. Anthony Giddens, Jahrgang 1938, ist der wohl bekannteste und einflussreichste britische Soziologe der Gegenwart. Seine Bekanntheit stützt sich nicht nur darauf, dass er in der Politikberatung (für Tony Blair) tätig war, sondern auch auf eine sehr umfangreiche Publikationstätigkeit. Er promovierte an der London School of Economics and Social Politics (LSE). 1969 ging er als Dozent an die Universität von Cambridge und als Fellow an das dortige King’s College. 1985 wurde er Professor am Social and Political Commitee der Universität Cambridge, von 1997 bis 2004 war er Direktor 277

Handlungsgrammatik/Syntax

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Kollektivismus versus Individualismus

1. Konzentration auf soziale Strukturen (Parsons)

2. das handelnde Subjekt (Weber/Schütz)

Kritik am „orthodoxen Imperialismus“ beider Schulen

der London School of Economics. Seine theoretischen Schriften werden weit über die Soziologie hinaus rezipiert. Wenn man sein theoretisches Werk auf kürzestmögliche Weise charakterisieren sollte, dann müsste man wohl das Folgende sagen: Die soziologischen Theorien, wie sie im Laufe des letzten Jahrhunderts entwickelt wurden, folgen im Wesentlichen zwei kontrastierenden Denkschulen: einer kollektivistisch-strukturellen und einer individualistisch-interpretativen Gruppe von Ansätzen. (Wir haben darauf schon mehrmals hingewiesen.) Die erste Gruppe konzentriert sich auf soziale Strukturen und vertritt eine systemtheoretisch-funktionalistische Auffassung, bei der das Primat des Sozialen vor dem Individuellen ausdrücklich betont wird. Strukturalismus und Funktionalismus betonen also den Vorrang des gesellschaftlichen Ganzen vor seinen individuellen Teilen. Als besonders wichtigen Klassiker dieser Richtungen könnte man stellvertretend für viele andere Talcot Parsons nennen. Demgegenüber betonen die interpretativen Richtungen der Soziologie den Vorrang des handelnden Individuums, des handelnden Subjekts, aus dessen sinnbezogenem Tun so etwas wie soziale Strukturen erst entstehen können. Max Weber oder Alfred Schütz können als Klassiker dieser Richtungen angesehen werden, die methodologisch auf der Phänomenologie und der Hermeneutik basieren. Diese beiden Hauptrichtungen der Soziologie haben sich in strenger Konkurrenz zueinander entwickelt und erscheinen ihren jeweiligen Vertretern als absolut inkompatibel und unvereinbar. Beide Richtungen sind aber auch mit Problemen konfrontiert, weisen Defizite und Schwachstellen bei ihren Erklärungspotenzialen auf. Die kollektivistisch-systemtheoretisch-funktionalistischen Richtungen vermögen nicht zu erklären, wie in einer grundlegend sozial konstruierten Welt so etwas wie menschliche Individualität und Subjektivität entstehen kann und wie andererseits durch das Wirken herausragender Einzelpersönlichkeiten gesellschaftliche Gegebenheiten tiefgreifend verändert werden können. Sie sind damit auch nicht imstande, die Einmaligkeit einer menschlichen Person auszuloten. Die subjektivistisch-interpretativen Richtungen scheitern letztlich am Unvermögen, Intersubjektivität begründen und funktionale Strukturen sozialer Systeme erklären zu können. Diese Spaltung, dieser Dualismus, findet natürlich auch in den anderen Sozialwissenschaften ihren Niederschlag. Die empirisch vorfindbare Praxis der Sozialgeographie, die wir in wesentlichen Bereichen bereits kennengelernt haben, ist letztlich ein Spiegelbild dieser Situation: Den funktionalistischen und strukturtheoretischen Ansätzen der makroanalytischen (Wien-Münchener Schule, Raumstrukturforschung) und der gesellschaftstheoretischen Sozialgeographie stehen die mikroanalytischen Ansätze weitgehend unverbunden und gleichsam dichotom gegenüber. Genau dieser Dualismus zwischen dem in seiner Ausschließlichkeit unangemessenen Objektivismus der kollektivistischen Richtungen und dem 278

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

ebenso unangemessenen reinen Subjektivismus der interpretativen Soziologie ist der Ausgangspunkt von Giddens’ Kritik an der Theorie der gegenwärtigen Sozialwissenschaft. Giddens wendet sich, wie er es einmal selbst sehr pointiert formuliert hat, gegen den jeweils orthodoxen Imperialismus sowohl der strukturell-systemtheoretischen Perspektive als auch der interpretativen Perspektive. Er will die bestehende Lücke zwischen dem sozialen Objekt und dem Subjekt endlich schließen und damit die makroanalytischen und die mikroanalytischen Ansätze der Soziologie in einem theoretischen Gesamtkonzept integrieren. Es ist sein ausdrückliches Ziel, den Dualismus zwischen dem sozialen System und dem handelnden Individuum aufzuheben und als nur scheinbaren Gegensatz zu entlarven. In methodologischer Hinsicht bedeutet diese Zielsetzung die Überwindung des Dualismus von strukturell-kausalistischen Verfahren auf der einen und von interpretativ-teleologischen Verfahren auf der anderen Seite. Das ist die Hauptstoßrichtung der Giddens’schen „Theorie der Strukturierung“. Die englische Erstveröffentlichung erschien 1984 unter dem Titel „The Constitution of Society. Outline of the Theory of Structuration“. Die deutsche Übersetzung wurde 1988 publiziert. Wir haben bei unserer Beurteilung der verschiedenen parallelen Entwicklungen in der Sozialgeographie konstatiert, dass alle besprochenen Ansätze in irgendeiner Form inkomplett sind, alle weisen Schwachstellen und Defizite auf. Genau deshalb ist dieser Versuch Giddens’ zu einer Überwindung der Dichotomie zwischen Kollektivismus und Individualismus für die Sozialgeographie so interessant. Das zentrale Konzept, der Schlüsselbegriff der Strukturationstheorie, ist die Dualität der Struktur („duality of structure“). In einer einfachsten Darstellung zusammengefasst, meint Giddens damit Folgendes:

Grundzüge der Theorien Giddens’: Aufhebung des Dualismus von sozialem System und handelndem Individuum

Die Dualität der Struktur

Handelnde und Struktur, also individuelle menschliche Akteure und soziale Systeme, dürfen nicht als polare Gegensätze oder als Dualismus verstanden werden. Sie stellen vielmehr Momente ein und derselben soziokulturellen Wirklichkeit dar und stehen in einem dialektischen Vermittlungsprozess. Soziale Strukturen werden nur über konkrete Handlungen existent und können nur im Handlungsvollzug produziert und reproduziert werden. Gesellschaftliche Strukturen werden also durch das menschliche Handeln konstituiert und sind gleichzeitig das Medium dieser Konstituierung. Die soziale Welt entsteht nach Giddens demnach in konkreten Interaktionssituationen und sie ist gleichzeitig die Voraussetzung für die Existenz der individuellen menschlichen Handlungsfähigkeit. Ohne handelndes Subjekt kann soziale Struktur gar nicht existieren und schon gar nicht reproduziert 279

Strukturierung

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

werden. Ohne soziale Struktur ist die Existenz menschlicher Akteure als individuelle Personen aber gar nicht denkbar. Diesen dynamischen Prozess der Strukturerzeugung nennt Giddens „Strukturierung“.

Exkurs Die „soziale Welt“ Wir haben eben (und bereits mehrfach) die Begriffe „soziale Welt“ oder „soziale Wirklichkeit“ verwendet. Darunter versteht man nach H. L. Gukenbiehl (2002, S. 12) „… jenen Teil der erfahrbaren Wirklichkeit, der sich im Zusammenleben der Menschen ausdrückt oder durch dieses Zusammenleben und Zusammenhandeln hervorgebracht wird. Damit sind Familien ebenso gemeint wie Betriebe und Gemeinden, kleine Gruppen ebenso wie ganze Gesellschaften, der Aufbau und die Gestaltung eines solchen Zusammenlebens ebenso wie seine Erhaltung oder Veränderung.“ Die soziale Welt umfasst natürlich auch die materiellen Artefakte, die im Prozess des Zusammenlebens und Zusammenhandelns produziert werden. Sie darf keinesfalls mit der Welt 3 bei K. R. Pop­ per verwechselt oder mit ihr gleichgesetzt werden, was bedauerlicherweise von manchen Autoren gemacht wird (vgl. P. Weichhart, 2003 a).

Kurzdarstellung der Strukturationstheorie

Strukturbegriff

Eine komprimierte Zusammenfassung oder Kürzestversion der Gid­ dens’schen Strukturationstheorie in Form von zehn Theoremen findet sich in seinem Buch „A Contemporary Critique of Historical Materialism, Vol. 1, Power, Property and the State“ aus dem Jahr 1981. Eine sehr knappe Darstellung der Strukturationstheorie hat Anette Treibel in ihrem Lehrbuch „Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart“ (2000) vorgelegt, deren Ausführungen ich im Folgenden in veränderter und gekürzter Form übernehme. Bereits das Menschenbild, das Giddens in seiner Theorie entwirft, verweist auf seinen Anspruch, den Dualismus von Mikro- und Makrotheorie zu überwinden. Giddens’ menschliche Wesen sind sich ihrer selbst bewusst, aktiv und selbstreflexiv: „Die Handelnden oder Akteure … besitzen als integralen Aspekt dessen, was sie tun, die Fähigkeit, zu verstehen, was sie tun, während sie es tun“ (1988, S. 36). Akteure besitzen also die Fähigkeit zur Reflexivität und Selbstreflexivität. 280

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Durch die ständige oder häufige Anwesenheit von anderen Menschen, mit denen ein Akteur interagiert, entstehe so etwas wie eine besondere Vertrautheit und Seinsgewissheit. Diese durch wechselseitige Interaktionen gekennzeichnete Situation des gleichzeitig am gleichen Ort Zusammenseins nennt Giddens „Kopräsenz“. Als „Gegenbegriff“ oder komplementäres Konzept zum Handeln setzt Giddens den Begriff „Struktur“ ein. Unter „Strukturen“ versteht Giddens die „Regeln und Ressourcen“, die in die Produktion und Reproduktion sozialer Systeme eingehen. „Strukturen sind die institutionellen, dauerhaften Gegebenheiten, mit denen die Individuen konfrontiert werden, in denen sie sich ‚bewegen‘ und mit denen sie ‚leben‘ und sich auseinandersetzen müssen“ (A. Treibel, 2000, S. 244). Eine Universität oder eine Lehrveranstaltung ist beispielsweise so eine Struktur. Strukturen werden erst im Handeln real. Akteure beziehen die Strukturen in ihr Handeln ein, die Strukturen verleihen dem Handeln Sicherheit und Kontinuität. Treibel führt als Beispiel ein Seminar an: „So wissen die Studierenden über ein Seminar, dass es eineinhalb Stunden dauert, zu Anfang und Ende jedoch gewisse Spielräume existieren (verspäteter Beginn und verzögertes, ‚ausfransendes‘ Ende) oder dass z.B. nicht um Erlaubnis gefragt werden muss, wenn man zur Toilette geht oder sich einen Kaffee holen will. Die Beteiligten kennen die Regeln und halten sich daran, haben aber auch einen Gestaltungsspielraum“ (ebd., S. 244/245). Strukturen bestehen aus Regeln und Ressourcen. Unter Regeln versteht Giddens die Techniken und Verfahren, die im praktischen Bewusstsein zum Ausdruck kommen. Das praktische Bewusstsein ist das meist nicht reflektierte und problematisierte Wissen der Akteure über soziale Zusammenhänge, Prozesse und Gegebenheiten. Es ist eine Art Alltagswissen über die Funktionsweise der sozialen Welt. Ressourcen sind nach Giddens die Hilfsmittel, die zusätzlich zu den Regeln notwendig sind, um soziale Systeme herzustellen und zu erhalten. Sie dienen also der Produktion und Reproduktion von Systemen. Struktur ermöglicht Handeln, bietet Orientierung für die Bewältigung des alltäglichen Lebensvollzugs und definiert die Rahmenbedingungen individueller Handlungsoptionen. Gleichzeitig setzen Strukturen damit die Grenzen unseres Handelns fest und führen deshalb zu einer gewissen Einheitlichkeit und Vergleichbarkeit menschlicher Handlungssysteme. Für Giddens entspricht „Struktur“ etwa dem, was in der makroanalytischen Soziologie als „System“ bezeichnet wird: Es handelt sich um überindividuelle soziale Entitäten.Während bisher aber Handeln und soziale Systeme als 281

Strukturen, Regeln und Ressourcen

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

polare Gegensätze aufgefasst wurden, behauptet Giddens, dass beide als komplementäre Aspekte derselben Sache angesehen werden müssen. Er ersetzt damit den früher gängigen Dualismus von Individuum und Gesellschaft durch die Dualität von Handlung und Struktur (häufig spricht er auch nur von „Dualität der Struktur“). Seine zentrale These lautet: „Die Begriffe ‚Struktur‘ und ‚Handeln‘ bezeichnen so die allein analytisch unterschiedenen Momente der Wirklichkeit strukturierter Handlungssysteme. Strukturen selbst existieren gar nicht als eigenständige Phänomene räumlicher und zeitlicher Natur, sondern immer nur in der Form von Handlungen und Praktiken menschlicher Individuen. Struktur wird immer nur wirklich in den konkreten Vollzügen der handlungspraktischen Strukturierung sozialer Systeme …“ A. Giddens, 1988, S. 290

Bedeutung der Raum-ZeitBeziehung

Räumlichkeit

Strukturen sind also die Voraussetzung sozialer Interaktionen und gleichzeitig ihr Ergebnis. Der bekannte Ausspruch: „Stell Dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“ mag hierzu als Illustration dienen. Während in den meisten anderen soziologischen Theorien Zeit und (vor allem) Raum weitgehend vernachlässigt werden, stellt Giddens den konstitutiven Charakter dieser beiden Dimensionen für soziale Gegebenheiten und Handlungsprozesse in aller Deutlichkeit heraus. Dabei beruft er sich auf den schwedischen Geographen Torsten Hägerstrand und den Soziologen Erving Goffman (z.B. 1959, deutsch: 2003). Als (für die Sozialgeographie besonders relevante) Innovation geht Giddens ausdrücklich von der These aus, dass Raum-Zeit-Beziehungen eine fundamentale und konstitutive Bedeutung für die Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens besitzen.

282

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Giddens unterscheidet drei Formen der Räumlichkeit: 1.) Unter „Regionen“ versteht er funktional beschreibbare Bereiche von Handlungsbühnen. Mit Goffman lassen sich zum Beispiel „vorderseitige“ und „rückseitige“ Bereiche von Regionen unterscheiden. In einem Restaurant wäre der Gastraum eine vorderseitige, die Küche und die Arbeitsräume eine rückseitige Region. In einer Wohnung sind das Vorzimmer und das Wohnzimmer „vorderseitige“, Schlafzimmer oder Abstellräume „rückseitige“ Bereiche. 2.) Die räumlichen Aspekte des Körpers und seiner Bewegung in Zeit und Raum und 3.) die örtlichen Gegebenheiten und Bindungen von Institutionen und Konventionen. Damit ist das Faktum gemeint, dass bestimmte Handlungen in der Regel immer auch an bestimmten Orten stattfinden. Ehen werden zum Beispiel meist auf dem Standesamt und/ oder in der Kirche geschlossen, Gerichtsverhandlungen finden im Gerichtssaal statt etc. Es gibt generalisierbare Zusammenhänge zwischen alltäglichen Handlungen und den Orten, an denen sie stattfinden. Als Bezeichnung für die spezifischen Schauplätze von Handlungen führt Giddens – wie bereits erwähnt – den Begriff „locale“ ein.

Ähnliche Zusammenhänge können für die Zeitlichkeit sozialer Gegebenheiten festgehalten werden. Unter Bezug auf den Philosophen Henri Bergson und den Anthropologen Lévi-Strauss unterscheidet Giddens drei Formen oder „Schichten“ von Zeitlichkeit: 1.) den Lebenslauf bzw. die zeitliche Struktur, die sich aus dem unmittelbaren Interaktionszusammenhang bei den Sozialkontakten der Akteure ergibt, 2.) die tagtägliche Wiederholung sozialer Aktivitäten, die als „durée“ bezeichnet wird; und 3.) die „longue durée“ der Institutionen. Damit sind die Zeitrhythmen und Lebenszyklen von Institutionen gemeint. Institutionen werden von Giddens als soziale Praktiken beschrieben, die sich über große zeit-räumliche Distanzen erstrecken (z. B. Universität, Landesregierung, Partei). Die strukturelle Praxis sozialer Systeme verknüpft die Zeitlichkeit der „durée“ der alltäglichen Lebenswelt mit der „longue durée“ von Institutionen. 283

Zeitlichkeit

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Modifikation des Handlungsbegriffs

Räumlichkeit und Zeitlichkeit verdeutlichen, dass gesellschaftliche Strukturen für den individuellen Akteur gleichermaßen im Sinne von Chance oder Ermöglichung, aber auch im Sinne von Zwängen oder Constraints zu sehen sind. Besonders herauszustellen ist der Versuch Giddens’, Gesellschaft als objektiven Strukturzusammenhang und gleichzeitig als subjektvermittelte Handlungswirklichkeit von Individuen kategorial verfügbar zu machen. Dabei kommt es zu einer Modifikation des Handlungsbegriffes. Im Gegensatz zu klassischen Formen der Handlungstheorie wird „Handeln“ bei Giddens nicht ausschließlich durch Intentionalität bestimmt. Nach seiner Auffassung soll sich „Handeln“ nicht nur auf die Intentionen der beteiligten Subjekte beziehen, sondern auch auf deren praktisches Vermögen,Veränderungen in der materiellen und sozialen Welt zu bewirken.

Berücksichtigung der nicht intendierten Folgen

Es geht also auch um die vom Handeln produzierte Objektivität selbst, um die von den Akteuren hervorgebrachten Geschehnisse. Das sind also Dinge, die sich ohne die aktive Intervention eines menschlichen Subjekts nicht ereignet hätten. Handeln ist also auch als Eingreifen des Menschen in die natürliche und soziale Ereigniswelt zu verstehen. Dabei ist es ihm wichtig, das Eingebettetsein des Handelns in Raum und Zeit herauszuheben. Giddens belässt dabei das intentionale Subjekt als „Homo creator“ im Mittelpunkt der Betrachtung. Ihm kommt es aber darauf an festzuhalten, dass Handeln durch Intentionalität allein nicht erschöpfend charakterisiert werden kann (vgl. B. Kießling, 1988). Damit bezieht er sich genau auf jenen Kritikpunkt, den wir bei der Besprechung der klassischen Handlungstheorie schon betont haben: die unzulängliche Berücksichtigung der nicht intendierten Folgen menschlichen Tuns. Im Konzept Giddens’ ist dieses Defizit behoben. In der Strukturationstheorie können auch die nicht intendierten Folgen angemessen behandelt werden. Wenn wir die Handlungstheorie für die Sozialgeographie nutzbar machen wollen, dann ist das ein sehr bedeutsamer Punkt, denn viele Erscheinungen der sozialräumlichen Realität sind nur als unbeabsichtigte Folgen menschlichen Tuns zu erklären. Die Produktion bestimmter industriell gefertigter Güter wird ja nicht mit der ausdrücklichen Absicht unternommen, die Umwelt zu schädigen, der Attentäter von Sarajewo wollte mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht den Gaskrieg von Flandern bewirken, die Erbauer und Betreiber von Tschernobyl wollten Strom (und vermutlich auch Material für Atomsprengköpfe), aber mit Sicherheit nicht absichtsvoll eine Nuklearkatastrophe produzieren.

284

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

10.2.2. „Symbolic Action Theory“ (SAT) von E. E. Boesch Die Überlegungen in diesem Kapitel werden bei manchen etablierten Vertretern der Sozialgeographie wahrscheinlich zumindest ein Stirnrunzeln, vielleicht ein Achselzucken („Wozu denn das?“) oder gar Ablehnung („Das hätte er sich doch sparen können!“) provozieren. Noch dazu werden hier nicht bereits existierende Umsetzungen der Symbolischen Handlungstheorie bei konzeptionellen Entwürfen oder in der empirischen Forschungspraxis der Sozialgeographie referiert, sondern Überlegungen zur Handlungstheorie dargestellt, die bislang in der Sozialgeographie noch gar nicht rezipiert wurden. Der Autor ist davon überzeugt, dass dieses Kapitel für das Verständnis und die Bewertung der handlungszentrierten Sozialgeographie sehr wichtig ist. Dafür möchte ich, im Vorgriff auf die folgende Argumentation, drei Gründe anführen. Erstens bietet die Symbolische Handlungstheorie (SAT) eine wesentliche Erweiterung der bisherigen Konzeption von Handlungstheorie. Hatte A. Giddens die Weber’sche Konzeption des Handelns um den bedeutsamen Aspekt erweitert, dass Handeln nicht nur durch Intentionalität, sondern auch durch die Fähigkeit der Akteure gekennzeichnet ist, in der physisch-materiellen und der sozialen Welt etwas bewirken zu können (intendierte und nicht intendierte Handlungsfolgen), so fügt E.E. Boesch mit der identitätstheoretischen Komponente seiner Theorie einen weiteren Aspekt bei, der den Erklärungsgehalt der Handlungstheorie ebenfalls erheblich vertieft. Er zeigt nämlich auf, dass im Handeln auch auf die Akteure selbst bedeutsame Rückwirkungen produziert werden und dass Handeln ein zentrales Medium der Formierung von Ich-Identität darstellt. Dabei müssten neben der primären Intentionalität spezifischer Handlungen noch sogenannte „overarching goals“ als Triebkräfte des menschlichen Tuns berücksichtigt werden. Zweitens bietet die SAT einen Denkrahmen an, in dessen Kontext die „Kultivation“ oder „Sozialisierung“ von Materie in Handlungsvollzügen diskutiert werden kann. Dies bietet eine bedeutsame Beschreibungs- und Erklärungskomponente, wenn es um die Produktion von Artefakten und deren Beitrag zu den Prozessen der „alltäglichen Regionalisierungen“ geht. Und drittens lassen sich aus der SAT eine Reihe von Konzepten und terminologischen Konventionen übernehmen, mit deren Hilfe eine Operationalisierung der Handlungstheorie in konkreten empirischen Projekten der sozialgeographischen Forschungspraxis erleichtert werden könnte. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das handlungstheoretische Paradigma als disziplinübergreifende Perspektive so gut wie alle Human- und Sozialwissenschaften beeinflusst hat. Dies gilt auch für die Psychologie. Eine für die Sozialgeographie besonders interessante Variante einer Handlungstheorie wurde vom Kulturpsychologen Ernst Eduard Boesch vorgelegt. 285

Erweiterung der bisherigen Konzeption

Psychologische „Variante“ der Handlungstheorie

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Boeschs Ansatz

Seine „Symbolic Action Theory“ (1991) soll im Folgenden in aller Kürze und reduziert auf einige wenige Einzelaspekte dargestellt werden. Es handelt sich um eine sehr komplexe Theorie, die sowohl zur Gruppe der Handlungstheorien als auch zur Gruppe der Identitätstheorien gezählt werden kann und unter anderem noch das spannende Problem der Beziehung zwischen den drei Welten Poppers auf sehr originelle und innovative Weise erörtert. Man kann auch sagen, dass die Symbolische Handlungstheorie eine Art Einsetzungsinstanz oder Konkretisierung der autopoietischen Systemtheorie darstellt. E. E. Boesch, ein Schüler Piagets, ist einer der bedeutendsten Vertreter der Kulturpsychologie. Weil er in seinem Theoriegebäude den spezifischen Kontext von Handlungsprozessen berücksichtigt und dabei neben den mentalen Befindlichkeiten und Bewusstseinsinhalten des handelnden Subjekts ausdrücklich auch den kulturellen Rahmen, die Umweltgegebenheiten und die raum-zeitliche Situation thematisiert, in die konkrete Handlungen eingebettet sind, gilt er auch als bedeutender Umweltpsychologe. Im Einführungskommentar zu seiner „Symbolischen Handlungstheorie“ charakterisieren W. J. Lonner (ein Kulturpsychologe) und R. B. Textor (ein Kulturanthropologe) den Entwurf E. E. Boeschs folgendermaßen: “Boesch’s approach to understanding individual and cultural change is holistic rather than particular, molar rather than molecular, naturalistically descriptive rather than experimental, and qualitative rather than quantitative. Boesch provides few answers, but much guidance about where to look for answers. For this reason we nominate this work for the ‘short list’ of books that any cultural anthropologist or cross-cultural psychologist should take into the fieldwork situation, to serve as a stimulus for conceptualizing the right questions …” W. J. Lonner und R. B. Textor, 1991, S. 5

Bedeutung des Ichs

Der Autor möchte sich dieser Empfehlung ausdrücklich anschließen und die „Symbolische Handlungstheorie“ (SAT) von E. E. Boesch für die „short list“ jener Bücher reklamieren, die jeder Sozialgeograph lesen sollte, weil die dort formulierten Aussagen auch den Vertretern dieser Disziplin helfen können, „richtige“ Fragen zu stellen. Die Symbolische Handlungstheorie ist ein besonders komplexes und vielschichtiges Theoriegebäude, das vielfältige Anknüpfungspunkte für Fragestellungen und Problemstellungen der Sozialgeographie bietet. Im Folgenden können nur einige wenige Elemente und Konzepte dieser Theorie in aller Kürze angesprochen werden. Ähnlich wie B. Werlen stellt auch E. E. Boesch den Begriff des Handelns in das Zentrum seiner Theorie. Als Psychologe betont er dabei aber 286

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

ausdrücklich auch den strukturierenden Einfluss des Handelns auf das Ich und die Persönlichkeitsstruktur des Akteurs: “It is action which relates the individual to his or her environment, action which leads him or her to assimilate their world, to identify with it, submit to it, dissociate from it or rebel against it. In the course of these various forms of interaction, the individual’s reality will be influenced or even transformed, and his self will be structured. These processes are interrelated in complex ways, but the basic concept for analyzing them is ‘action’”. E. E. Boesch, 1991, S. 362 (Hervorhebung P. W.) Unter anderem beschreibt die SAT, wie menschliche Ich-Identität entsteht und wie sie im Vollzug komplexer Transaktionsprozesse aufrechterhalten wird. In diesem identitätstheoretischen Teil der SAT ist (ähnlich wie in N. Luhmanns Theorie sozialer Systeme) Selbstreferenz das grundlegende Funktionsprinzip. Eine wichtige These der Symbolischen Handlungstheorie ist die Behauptung, dass menschliches Handeln in der Regel mit polyvalenten Sinnstrukturen verknüpft sei. Damit ist Folgendes gemeint: „Handeln“ ist – wie bereits ausführlich besprochen wurde – als menschliches Tun definiert, das absichtsvoll auf ein Ziel hin entworfen ist und in dessen Vollzug Wirkungen auf die Außenwelt verursacht werden können. Beispiele für Handlungen wären etwa: eine Prüfung absolvieren, eine Seminararbeit schreiben, ein Haus bauen, Essen kochen, ein Werkstück erzeugen, ein Buch lesen etc. Das sind alles mehr oder weniger komplexe Tätigkeiten, die an einem bestimmten Ziel orientiert sind. Dieses Ziel ist bereits vorher gegeben: Man entwirft dieses Ziel, hat es gleichsam vor Augen. An dieser Intention orientieren sich die folgenden Aktivitäten. Man führt die erforderlichen Tätigkeitsschritte durch, um dieses Ziel zu erreichen. Diese generelle Vorstellung der sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien wird in der Symbolischen Handlungstheorie erheblich erweitert. Boesch behauptet nämlich, dass neben der vordergründigen Intention eines bestimmten Handlungsaktes zusätzlich meist auch noch sogenannte „übergeordnete“ Ziele („overarching goals“) eine Rolle spielen. Zu diesen praktisch immer präsenten übergeordneten Zielen zählt nach E.E. Boesch (neben sozialer Anerkennung, Karriereentwicklung oder dem Streben nach Glück) die subjektive Wahrnehmung der eigenen Handlungsfähigkeit des individuellen Akteurs. Diese individuelle Fähigkeit zum selbstständigen Handeln wird von Boesch als „action potential“ bezeichnet. Eine zentrale Aussage der Symbolischen Handlungstheorie ist nun die Annahme, dass menschliche Subjekte danach streben, sich selbst immer wieder die 287

Funktionsprinzip Selbstreferenz

„Overarching Goals“

„Action Potential“

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

eigene Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und diese in ständig aufs Neue entworfenen Handlungsvollzügen zu verstärken und zu verbessern. Menschliche Akteure sind bestrebt, sich immer wieder der eigenen Handlungsfähigkeit zu vergewissern. Das ständige Sich-Vergewissern der eigenen Handlungsfähigkeit wird von Boesch als besonders wichtiges „übergeordnetes Ziel“ angesehen, das zusätzlich zur „overten“ oder vordergründigen Intention einer Handlung zu berücksichtigen ist. “Many actions are performed less for their overt goal than for improving, reascertaining, enlarging or safeguarding our action potential. This then, constitutes an overarching action orientation of basic importance.” E.E. Boesch, 1991, S. 13

Situationsdefinition II

Handlungsvollzug als Medium der Festigung von Ich-Identität: Selbstbestätigung

Welche Funktionalität steht nun hinter diesem übergeordneten Ziel? Welche Bedeutung hat das ständige Arbeiten am eigenen Handlungspotenzial? Die Antwort der Symbolischen Handlungstheorie lautet: Die permanente „Übung“ des Handlungspotenzials ist das entscheidende Mittel zur Entwicklung und Aufrechterhaltung der Ich-Identität und des Selbstwertgefühls einer Person. In den klassischen Handlungstheorien geht man davon aus, dass ein Akteur Intentionalität entwickelt und ein Ziel antizipiert, vorausdenkt, entwirft (vgl. Abb. 71). Um dieses Ziel zu erreichen, muss der Akteur die Rahmenbedingungen möglichen Handelns erfassen und beschreiben. Er muss die Ausgangssituation definieren und die möglichen Handlungsschritte überlegen. Dazu gehört auch die Überlegung, welche Mittel für die Zielerreichung einzusetzen sind und welche Widrigkeiten überwunden werden müssen. Dieses planende Vorausdenken ermöglicht erst den Handlungsvollzug. Mit der Durchführung der Handlung wird der Akteur die Folgen seines Tuns beurteilen und überprüfen, ob dieses Tun geeignet war, das angestrebte Ziel tatsächlich zu erreichen. Man nennt dies die „Situationsdefinition II”. Die Symbolische Handlungstheorie legt nun gesteigerten Wert auf die Funktionalität des Handlungsvollzugs selbst und schreibt diesem Tun eine eigenständige Bedeutung zu. Diese Zusatzbedeutung, so wird postuliert, liegt darin, dass dem Akteur die Bestätigung und Selbstversicherung erwächst, durch sein planmäßiges Tun tatsächlich etwas in der Außenwelt bewirken zu können. Dies ist ein „übergeordnetes Ziel“, das für alle Handlungsakte relevant ist und in seiner Erreichung auf den Akteur zurückwirkt. Durch diese Rückkoppelung wird der Handlungsvollzug zu einem bedeutsamen Medium der Entwicklung und Festigung von Ich-Identität. 288

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Situationsdefinition I

Handlungsvollzug

Abb. 71: Das Handlungskonzept der Symbolic Action Theory Nach E. E. Boesch, 1991 Quelle: P. Weichhart, C. Weiske und B. Werlen, 2006, S. 70

Situationsdefinition II

Emergenz neuer Ziele

Und weil es schön und befriedigend ist, aus eigener Kraft und mit eigener Handlungskompetenz ein Ziel erreicht zu haben, werden mit dem Handeln und der Selbstbestätigung der eigenen Handlungsfähigkeit neue Ziele entwickelt. Die SAT erklärt also auch das eigenartige Phänomen, dass menschliche Akteure immer wieder aufs Neue Intentionalität entwerfen, sie nie zufrieden, nie endgültig am Ziel sind. Die eigentliche Motivation dafür ist nicht unbedingt nur das neue Ziel selbst, sondern auch der interne Sinn der Selbstbestätigung, die aus der Erfahrung erwächst, ein kompetenter Akteur zu sein, Handlungspotenzial zu besitzen, „Ursache von etwas“ in der Welt außerhalb des eigenen Ich sein zu können. Damit bietet die SAT eine Erklärung für die Funktionalität der sogenannten „Wachstumsmotive“ in der klassischen Bedürfnistheorie (vgl. A. H. Maslow, 2002 (1954)). Handlungstheorien zeigen uns generell die Bedeutung der Einbettung von Individuen in übergeordnete soziale und kulturelle Systeme auf. Sie demonstrieren, dass die Ziele menschlichen Handelns zu einem erheblichen Teil durch die soziale Umwelt determiniert werden. Welche Ziele „erlaubt“ oder gar „geboten“ sind und welche Freiheitsgrade der Zielwahl wir im Rahmen spezifischer sozialer Rollen besitzen, ist in hohem Grade eine Vorgabe des soziokulturellen Systems. Die SAT kann darüber hinaus plausibel machen, dass jede Handlung zusätzlich zu materiellen Zielen und vordergründigen Sinnzuschreibungen auch noch übergeordnete Werte und Ziele verwirklicht. Neben vordergründigen Handlungszielen (wie die Erstellung eines Werkstückes, das Erbauen eines Hauses, die Anfertigung eines Berichts) ist jedes menschliche Handeln auch noch auf übergeordnete Ziele bezogen. Besonders bedeutsam ist dabei die Erhaltung und Weiterentwicklung der Ich-Identität des Akteurs. Boesch (1991) sieht dieses übergeordnete Ziel als die eigentliche Basismotivation menschlichen Tuns an: 289

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

“We continuously strive at optimizing our action potential, and this reinforcing, strengthening, or enlarging of our readiness and capacity to act appears most of the time to be more important than any specific single goal.” E.E. Boesch, 1991, S. 105 „Flow“ nach Csíkszentmihályi

Diese Thesen der SAT sind übrigens sehr gut kompatibel mit einem prominenten Konzept der neueren Psychologie, das von Mihály Csíkszentmihályi (1990) entwickelt wurde. Unter „flow“ versteht dieser Autor einen vom handelnden Subjekt überaus positiv und glückhaft empfundenen mentalen Zustand, der sich einstellt, wenn man in einen konkreten Handlungsvollzug gleichsam völlig aufgeht. Flow entsteht, wenn wir so in eine Tätigkeit vertieft sind, dass wir alles andere um uns herum vergessen und lustvoll das eigene Handlungspotenzial auskosten können. „Flow ist eine uneingeschränkt positive Erfahrung, die sich aus einem eigentümlichen Gemisch von Anstrengung und spielerischer Leichtigkeit, hoher Konzentration und Selbstvergessenheit zusammensetzt. Dies geht einher mit einem Gefühl von Effizienz und ‚Können‘. Flow-trächtige Handlungen werden deshalb gerne und oft wiederholt, und sie werden oft um ihrer selbst Willen ausgeführt, selbst wenn sie bestimmten Zielen dienen (etwa konzentriertes Musizieren …). Der Motor, der sie in einer Situation antreibt, liegt also nicht in einem später eintretenden Erfolg oder einer von außen kommenden Belohnung, sondern gewissermaßen im Ausführen der Handlung selbst. Czikszentmyhalyi … spricht in diesem Zusammenhang von ‚autotelischem‘ Verhalten (auto = selbst, Telos = das Ziel).“ T. Wirth, 2005, http://www.kommdesign.de/texte/flow.htm

Subjektive Übereinstimmung von Ich-WeltBeziehungen

Heimat-Territorien

Ein weiteres Theorem der SAT bezieht sich auf das permanente Streben menschlicher Individuen, eine subjektive Übereinstimmung von „Ich-Welt-Beziehungen“ zu erreichen. Boesch beschreibt die Wechselbeziehungen von materiellen Dingen, Artefakten, kulturellen Werten und menschlichen Akteuren. Auf der einen Seite sind Artefakte Voraussetzungen und Rahmenbedingungen menschlichen Handelns, auf der anderen Seite sind sie die Ergebnisse unseres Tuns. Mit diesen Thesen ermöglicht uns die Symbolische Handlungstheorie auch eine plausible und umfassende Erklärung der existenziellen Bedeutung raumbezogener Identität für menschliche Lebensvollzüge (vgl. P. Weichhart, 1990 und P. Weichhart, C. Weiske und B. Werlen, 2006).Vor dem 290

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Hintergrund dieser Theorie wird nämlich klar, dass es Heimat-Territorien sind, welche besonders entscheidende Referenzgrößen unserer „Ich-Welt-Kongruenz“ darstellen. Denn „Heimat“ ist der Ort, wo unsere Handlungsvollzüge konzentriert sind. Dort erfahren wir am ehesten die Bestätigung des eigenen Handlungspotenzials. In der Kindheimat haben wir gelernt, kompetente Akteure zu werden. Es ist die Sicherheit einer vertrauten Umwelt, die wir uns im permanenten Handlungsvollzug immer wieder aufs Neue angeeignet haben, welche uns am deutlichsten die befriedigende Erfahrung einer Harmonie und Übereinstimmung zwischen dem Ich und der Welt vermitteln kann. Heimat-Territorien sind also Orte, an denen Ich-Identität besonders nachdrücklich stabilisiert werden kann. Als Settings, die uns in ihrer Vertrautheit „leichtes Handeln“ ermöglichen, definiert „Heimat“ jenen Ort, wo wir unser Handlungspotenzial am augenscheinlichsten entfalten können. Heimat ist der Ort, wo das Subjekt besonders gut in der Lage ist, seine „IchWelt-Kongruenz“ zu entfalten. Heimat definiert den Ort der Meisterschaft unserer Handlungspotenziale. Und demnach ist Heimat der Ort, wo wir die besten Möglichkeiten haben, unsere Ich-Identität zu entwickeln, zu verstärken und uns ständig aufs Neue zu bestätigen. „Heimat“ ist dabei überall dort, wo ein Mensch diese Ich-Welt-Kongruenz produzieren kann. Wo immer man Orte des „leichten Handelns“ zu schaffen in der Lage ist, dort ist Heimat. Wo immer jene Bedingungen von Sicherheit, Stimulation und sozialer Kohärenz gegeben sind, die für „Heimat“ charakteristisch sind, besteht für das Individuum ein Setting, in dem Ich-Identität gepflegt und bestärkt werden kann. Das kann im Urlaub, am Zweitwohnsitz und natürlich auch in einer zweiten oder dritten neuen Heimat sein. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass im Konzept des Handelns die drei Welten Poppers miteinander in Beziehung gesetzt werden. Dies wird in der SAT besonders nachdrücklich betont:

SAT und Popper

“Action … represents also both the external situation in which it takes (and took) place, and the internal experiences which it induces (and induced). This makes action broadly ‘symbolic’ … Action, its goals as well as its situative referents, always are both real and symbolic”. E.E. Boesch, 1991, S. 12 Der Autor verweist darauf, dass eine derartige Konzeption von „Symbolismus“ von der üblichen Definition zwar abweicht, aber den Vorzug hat, die unbefriedigende Trennung von Symbol und „Wirklichkeit“ zu beseitigen. In einem überaus lesenswerten Artikel mit dem Titel „The Sound of the Violin“ (1993) geht Boesch in innovativer Weise auf die Frage der Ver291

Boesch: “The Sound of the Violin”

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Entwicklung der Geige

knüpfung der drei Welten ein, ohne allerdings dabei auf Popper Bezug zu nehmen. Zunächst behandelt er die Phylogenese (Stammesentwicklung) dieses Instruments und zeigt damit auf, wie im Handeln kulturelle Artefakte gleichsam evolutionär entwickelt werden. Demgegenüber stellt er in der Ontogenese (Biologie und Psychologie: Individualentwicklung) den Prozess dar, durch den die Violine von einem bloßen Gegenstand oder „Ding“ tatsächlich zu einem „Instrument“ wird, das der Spieler beherrscht. Die ersten Saiteninstrumente gehörten zur Gruppe der Zupfinstrumente. Die tatsächlichen Ursprünge sind nicht bekannt. Boesch spekuliert, dass ein primitiver Jäger den spezifischen Klang wahrgenommen haben könnte, welcher beim Abschießen eines Pfeiles zu hören ist. Möglicherweise entdeckte er beim entspannten Herumspielen die ästhetische Qualität des Klanges einer gezupften Bogensehne. Die unterschiedliche Tonhöhe von Saiten unterschiedlicher Länge und Spannung wurde wohl ebenfalls durch Experimentieren mit unterschiedlich langen Bogen entdeckt. Und schließlich war noch die Erkenntnis erforderlich, dass man den Ton einer Saite verstärken kann, wenn man sie mit einem hohlen Objekt verbindet. Damit war das erste Zupfinstrument erfunden. Die thailändische Phin (Abb. 72) entspricht diesem Konstruktionsprinzip. Um schließlich bis zur Erfindung der Geige voranzuschreiten, war eine weitere, sehr wichtige Erkenntnis erforderlich. Irgendjemand muss entdeckt haben, dass man einen länger andauernden Ton produzieren kann, wenn man die Saite mit einem länglichen Gegenstand streicht. “The creation of the violin, thus, required three discoveries: the sound differences of varying string tensions and lengths, the effect of a resonance body, and the stroking bow.” E.E. Boesch, 1993, S. 70/71 Die ersten Violinen waren sehr einfache Instrumente, und dieser Typ wird heute noch in vielen Teilen Asiens gespielt, wie etwa die Soo Uu, die eine Ähnlichkeit mit chinesischen Varianten dieses Streichinstruments hat. Sie besteht aus einer halben Kokosnussschale, die mit Fell überzogen ist. Daran ist ein Hartholzstab mit zwei stimmbaren Saiten befestigt. Dieses Instru-

Abbildung 72: Phin (Thailand) Quelle: E. E. Boesch, 1993, S. 71

292

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

ment weist bereits alle wesentlichen Elemente der Violine auf: Die Saiten werden durch den Steg unterstützt, es gibt Stimmwirbel, der Korpus ist mit Löchern versehen (heute die F-Löcher), und man verwendet einen Bogen (Abb. 73). Boesch weist darauf hin, dass dieser Typus von Streichinstrument unabhängig voneinander in verschiedenen Kulturen entwickelt wurde. Nach Europa wurde es wahrscheinlich im 11. Jahrhundert aus dem Nahen Osten importiert, und zwar in Form der arabischen Rabab und der Fiddel aus Turkmenien. Aus derartigen Urformen entstand im Verlauf der Jahrhunderte schließlich die heutige Form der Geige. Boesch betont, dass es sich hier um einen sehr komplexen Prozess handelt, bei dem in vielfältigen Experimenten und Bauversuchen die verschiedenen Elemente des Instruments variiert und abgewandelt wurden. Es wurden die unterschiedlichsten Holzarten verwendet und kombiniert, die Form verändert, neue Bauteile wie Stimmstock und Bassbalken eingebaut, mit verschiedenen Lacken experimentiert, die Form und Position der F-Löcher abgewandelt etc. Ende des 17. Jahrhunderts war diese Experimentierphase abgeschlossen, und seit dieser Zeit blieb die Form mit vier in Quinten (g-d-a-e) gestimmten Saiten konstant. Mit diesem knappen Abriss der Phylogenese der Geige rückt Boesch das Faktum in den Vordergrund, dass Artefakte wie die Geige als „kulturelle Spezies“ in unzähligen und aufeinander aufbauenden Handlungen produziert werden, die von sehr vielen verschiedenen Akteuren durchgeführt werden. Ihr Handeln ist durch den Bezug auf eine gemeinsame Kultur gleichsam koordiniert und aufeinander bezogen. Jeder Geigenbauer kann und wird sich auf die Traditionen seiner Vorgänger und Konkurrenten beziehen, hat Sägeschablonen, Maßangaben und Baupläne zur Verfügung, hat Wissen über Arbeitstechniken, Materialien und Werkzeuge erworben. Er kann sich auf eine „Idee“ von Geige beziehen, die als kulturelles Konzept Bestandteil der Popper’schen Welt 3 ist. Die konkrete Anfertigung eines Instruments stellt für einen Geigenbauer natürlich ein persönliches „Projekt“ dar. Die Antizipation des Ziels, die Planung und Vorbereitung des Baues, die Abwicklung der einzelnen Teilhandlungen und der Abschluss des Werkes sind Bestandteile seines Bewusstseinsstromes – und damit Element der Welt 2. Und wenn er durch eine innovative Variation oder Erweiterung des Bauplanes zur „Evolution“ der Spezies beiträgt, hat er damit auch die „Idee“ der Geige verändert. Selbstverständlich ist die fertige Geige auch ein Gegenstand der physisch-materiellen Welt – also der Welt 1. Sie wurde aus Rohstoffen (Holz, Leim, Lack, Metall) gefertigt, die alle naturalen Systemen entnommen wurden und über verschiedene Veredelungs- oder Bearbeitungsprozesse vorbereitet und für den Geigenbau bereitgestellt wurden. Es handelt sich dabei 293

Abbildung 73: Soo Uu Quelle: E. E. Boesch, 1993, S. 71

Die Geige als kulturelle Spezies und die Verknüpfung der 3 Welten Poppers

Kultivation von Materie

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Csíkszentmihályi/ Rochberg-Halton: „The Meaning of Things“

um eine mit jedem Arbeitsschritt zunehmende „Kultivation“, „Sozialisation“ oder „Kolonisierung“ von Materie. Die verwendeten Hölzer werden viele Jahre getrocknet, mit verschiedenen Werkzeugen bearbeitet, geschliffen, mit feinen Sägen und hochpräzisen Schnitten in die richtige Form gebracht, wieder geschliffen und in vielen Arbeitsschritten präpariert. Im Handeln werden also Elemente der physisch-materiellen Welt so verändert, „umgebaut“ oder bearbeitet, dass sie den Handlungszielen der Akteure entsprechen bzw. zu deren Verwirklichung genutzt werden können. Die so produzierten Artefakte „tragen“ damit also gleichsam Sinngehalte und Zielsetzungen in sich. Es finden sich in der Literatur nur wenige Autoren, die sich – wie E. E. Boesch – aus der „Ding- und Sachblindheit“ der Soziologie lösen konnten und vergleichbare Fragestellungen behandelt haben. Zu ihnen gehören M. Csíkszentmihályi und E. Rochberg-Halton, die 1981 ein Buch mit dem Titel „The Meaning of Things“ publiziert haben. Sie gehen von einer Auffassung aus, die mit den Konzepten von Boesch sehr gut kompatibel ist: “Things embody goals, make skills manifest, and shape the identities of their users. Man is not only homo sapiens or homo ludens, he is also homo faber, the maker and user of objects, his self to a large extent a reflection of things with which he interacts. Thus objects also make and use their makers and users.” M. Csíkszentmihályi und E. Rochberg-Halton, 1981, S. 1

Fischer-Kowalski: Kolonisierung

Durch die Zuwendung zu bestimmten Gegenständen und die im Handeln vorgenommene Umgestaltung werde gleichsam „psychische Energie“ investiert (S. 8). Deshalb werden im Prozess der „Kultivation“ nicht nur Elemente der physisch-materiellen Welt verändert und sozialisiert, sondern es kommt auch zu einem Umbau und einer Weiterentwicklung der Ich-Identität der Akteure. In den Arbeiten der Forschergruppe um Marina Fischer-Kowalski am Institut für Soziale Ökologie (Standort Wien) der Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung der Alpen-Adria Universität Klagenfurt wird für einen derartigen „Umbau der materiellen Welt im Handeln“ der Begriff „Kolonisierung“ verwendet. Kolonisierung bedeutet, dass natürliche Ökosysteme (bzw. Gegenstände der materiellen Welt) durch den Einsatz menschlicher Arbeit und verschiedener Werkzeuge oder Hilfsmittel (also im Handeln) in einen Zustand übergeführt werden, der für die betreffenden Individuen bzw. das Gesellschaftssystem in irgendeiner Form „nützlicher“ oder vorteilhafter ist als vor diesem Eingriff (vgl. M. Fischer-Kowalski und K. Erb, 2007). 294

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Es leuchtet ein, dass eine derartige Darstellung der Phylogenese, wie sie Boesch für die Geige vorgenommen hat, auch für beliebige andere Artefakte möglich ist. Im Maßstabsbereich, der für die Analysen der Sozialen Ökologie charakteristisch ist, ließe sich also vor dem Hintergrund des Konzepts der Kolonisierung auch die Phylogenese von Landnutzungssystemen, Siedlungen, Städten und „Kulturlandschaften“ darstellen und im Sinne des Werlen’schen „GeographieMachens“ typologisch interpretieren.

In seinen folgenden Überlegungen geht Boesch nun der Frage nach, was denn die Gründe für den Entwicklungsprozess waren, die zur heutigen Form der Geige geführt haben.Welche sozialen und kulturellen Zwecksetzungen sind in ihr aufgehoben und durch die „Evolution“ gleichsam perfektioniert worden? Man könne die kontinuierliche Weiterentwicklung und Verbesserung anderer Artefakte wie etwa des Webstuhls unschwer verstehen. Moderne Formen dieses Gerätes sind einfacher zu bedienen, produzieren höhere Qualitäten und haben vor allem einen wesentlich höheren Ausstoß, sie sind effizienter. Was aber ist der „Ausstoß“ oder „Output“, der durch die Evolution der Geige verbessert wurde? Und er gibt folgende Antwort:“Sound, or to be more specific: more beautiful sound – unsubstantial, not measurable … and even undefinable. That such an elusive goal should have determined such a prolonged and complex development of an object is indeed a vexing problem” (E.E. Boesch, 1993, S. 72). Der angestrebte „schöne“ Klang war aber vor seiner Verwirklichung natürlich unbekannt. Ein Geigenbauer könnte bestimmte Bauteile des Instruments verändert haben, aber beim Ausprobieren könnte die Reaktion des Spielers dann lauten: “‘It sounds better, but that’s not yet it’”. Aber was genau könnte dieses „es“ bedeuten? “An intuition, an intangible anticipation, and although such an image became transformed over and again during the century long processes of improvement, it would have remained a ‘should-value’ both inducing change and also controlling it” (ebd.). So hat man über Jahrhunderte hinweg die Form, Größe und Position des Stegs variiert, was sehr erhebliche Effekte auf die Tonqualität hatte und manchmal Rückschritte, im Endeffekt aber substanzielle Verbesserungen in der Suche nach dem „schönen Klang“ brachte. Um die lang dauernde Suche nach einem noch schöneren Klang besser zu verstehen, schlägt Boesch vor, nicht nur das Instrument für sich, sondern auch den Spieler in die Überlegungen miteinzubeziehen und die Ontogenese der Geige zu analysieren. Boesch verwendet den Begriff „Ontogenese“ nicht in jener Bedeutung, den er in der Entwicklungspsychologie besitzt. In diesem Fach ist damit die 295

Boesch: Begründungen für Weiterentwicklungen und Verbesserungen

Ontogenese der Geige

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Entfaltung eines Lebewesens von der Empfängnis bis zur Reife angesprochen. Boesch will das Wort in seiner „ursprünglichen“ Bedeutung verstanden wissen:“the coming into being” (S. 72). Sein Ausgangsargument leuchtet unmittelbar ein: “Indeed, a violin becomes really a violin only on being played”. E.E. Boesch, 1993, S. 72

Rückwirkung des Handlungsvollzugs auf den Akteur

Im Folgenden stellt der Autor dann den überaus mühsamen Weg dar, der zu beschreiten ist, wenn ein Kind ernsthafte Anstrengungen unternimmt, das Spielen auf diesem schwierigen Instrument zu erlernen. “Mastering the violin is a long and frustrating endeavour … Indeed practising the violin provides at first only little intrinsic reward” (ebd.). Boesch schildert danach ausführlich die motorischen Fähigkeiten und die Diskriminationserfordernisse des Gehörs, die notwendig sind, um das überaus komplexe Zusammenspiel der Bewegungen von linker und rechter Hand, Nackenmuskulatur, Fingerbewegungen der linken Hand und Bogenführung der Rechten zu beherrschen und über die selbstkritische Bewertung des produzierten Tons zu kontrollieren. Und er zeigt, wie all diese Fertigkeiten im Handeln des langwierigen Übungs- und Lernprozesses entwickelt und zunehmend perfektioniert werden. Er zeigt an diesem Prozess sehr überzeugend auf, dass im Handlungsvollzug des Übens und Lernens erhebliche Rückwirkungen auf den Akteur und seine Entwicklung wirksam werden: “… learning to master an object implies shaping the development of the individual; while, as we saw, the object was formed ‘phylogenetically’, the individual is led to ‘fit’ the object in its ontogenesis … Becoming a violinist allows no shortcuts, no jumping of chapters one doesn’t like, no skipping of arguments one does not understand; ignorance cannot be glossed over by empty words. In music every negligence becomes cruelly manifest in the performance, and therefore the learner is bound by an unrelenting discipline – which inevitably will transform his person.” E.E. Boesch, 1993, S. 73

Man könne deshalb auch unschwer verstehen, dass die Geige für den Lernenden zu einem ambivalenten Objekt wird und dass viele Schüler nach 296

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

einer Zeit aufgeben. Das Unbehagen und die wahrgenommenen Beschränkungen erinnern den Akteur ständig an sein begrenztes Handlungspotenzial und die Sperrigkeit des Objekts. Aber, manche Schüler halten durch. Sie entwickeln eine hohe Frustrationstoleranz und verfolgen ihr Ziel der Verbesserung und Vervollkommnung des Spiels unentwegt weiter. Für diese Akteure wird die Perfektionierung des Spiels zu einem dominanten oder übergeordneten Ziel. “… learning to play the violin is a dominant or superordinate goal. Superordinate goals are distant in time but command actions in the present, which – as with violin exercises – may not be pleasant in themselves.” E.E. Boesch, 1993, S. 73 Dabei wird die Fremdkontrolle des Erfolges durch ein Publikum oder den Lehrer immer mehr durch Selbstkontrolle ersetzt und erweitert.“The more the player advances, the more an additional audience will have to be satisfied: he himself. He will … watch and evaluate ‘his sound’. ‘His’ … and not the violin’s … He wants to feel that it is his mastery which forces the violin to sound well” (S. 74). Warum aber wird der „schöne Klang“ ein derart dominierendes Ziel, an dessen Erreichung der Spieler mit größter Verbissenheit arbeitet? Boesch streicht als Antwort auf diese Frage vor allem einen wesentlichen Punkt heraus: Es geht um die Überwindung des Antagonismus zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich, um die Produktion von „Ich-Welt-Kongruenz“. Die Realisierung eines „schönen Klangs“ bringt den Akteur und die Welt außerhalb seiner selbst wenigstens für einen kurzen Augenblick in eine geradezu perfekte Übereinstimmung. Zur Erläuterung schildert der Autor, dass er als Kind Grasblätter zwischen seine Daumen gespannt und durch Anblasen einen scharfen, oboenähnlichen Ton erzeugen konnte. Im Frühling schnitt er frische Zweige von Haselsträuchern, höhlte sie aus und formte sie zu einfachen Flöten um. “Each time, doing so, I transformed nature into ‘culture’, shaping natural raw materials into forms apt at producing sounds which did not occur in ‘pure’ nature.Yet the pleasure was immense and can be understood only by the extension of my childish action potential; it made me a creator, albeit in a tiny area. Making objects sound, thus, is a bit like taming animals: it transforms a resistant non-I into a compliant extension of the I.” E.E. Boesch, 1993, S. 74 297

Produktion von Ich-WeltKongruenz

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Noch viel mehr gilt dies für die Geige. Die ästhetische Qualität des „schönen Klangs“, den der Spieler in perfekter Harmonie und Übereinstimmung mit seinem Instrument zu erzeugen in der Lage ist, erscheint dem Akteur als eine Annäherung an eine Idealvorstellung des Schönen. “Somehow we feel that producing a pure, immaculate sound provides the experience of an optimal action potential, able to realize perfection – although only for the fleeting moment of the sound’s duration … We sometimes imagine a world entirely in harmony with fantasms, entirely in tune with inner experience; we call it utopia, and reaching it is a topic of dreams and fairy-tales. Utopia, we might formulate, abolishes the ‘I’ – ‘non-I’ antagonism” … “Beauty bridges the chasm between I and non-I”. E.E. Boesch, 1993, S. 74/75

Verschmelzung Akteur–Objekt im Handeln

Ein Aspekt erscheint ihm beim Streben des Spielers nach dem schönen Ton von grundlegender Bedeutung: “… to be able, by himself, to overcome the antagonism of objects. The violin, we have seen, is a recalcitrant object, and to master it requires profound transformations of the individual … Indeed, the sound felt to be perfect can be produced only by a perfect fit between instrument and player. Assimilation and accommodation cannot be separated anymore: artist and violin form a symbiotic whole, the I, so to say, blending into the object, and the object melting into the I.” E.E. Boesch, 1993, S. 78

Im Handeln verschmelzen Akteur und Gegenstand zu einer kombinierten Struktur, zu einer Dyade.

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10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

“Mastering the violin, we saw, will ultimately unite man and object in that intimate symbiosis resulting in the beautiful sound, and we are likely to find comparable interactions in man’s use of other objects. Already the invention of an object implies objectivation: the subject transforms an idea into external reality. In mastering the object, the player will in turn assimilate, and thereby subjectivize it, while he or she will simultaneously be objectivized by accommodation. In addition, the creation of an object implies its socialization – it will be integrated in common frameworks of action and ideation, and hence the mastery of the object entails an enculturation of the user, but also, by the individual variations in style or ways of handling the object, an individualization of culture.” E.E. Boesch, 1993, S. 80 Dieser knappe und komprimierte Ausschnitt aus einem Argumentationsstrang von E.E. Boesch sollte dem Leser verdeutlichen, dass die mit der SAT vorgelegte Erweiterung der Handlungstheorie auch für die handlungszentrierte Sozialgeographie von Bedeutung ist und die zusätzliche Berücksichtigung entwicklungs- und identitätstheoretischer Zusammenhänge unser Verständnis von Handlungsprozessen erheblich ausweiten und vertiefen kann. Die SAT bietet auch in terminologischer Hinsicht eine Vielzahl von Anregungen und Impulsen, die von einer handlungszentrierten Sozialgeographie mit größtem Nutzen aufgegriffen werden könnten und sollten. So schlägt E.E. Boesch eine Reihe sprachlicher Konventionen zur Benennung von Handlungselementen vor, die auch in der Sozialgeographie für empirische Analysen überaus hilfreich sein dürften. Er zeigt am konkreten Beispiel der Herstellung eines Tontopfes, dass Handlungen einerseits aus einer Reihe von Teilhandlungen („subactions“) bestehen, andererseits aber so gut wie immer in übergeordnete Handlungssysteme eingebunden sind. “To form a clay pot is readily analyzable as an action. It is a goaldirected activity, carried out within a specific environment, and utilizing a certain number of instrumental techniques which allow the actor to bridge the gap between the initial intention and the concrete realization of the goal. Intention (or goal formation), procedure (or instrumental action), goal-achievement (or goal consumption), and situative embeddedness are thus the four basic constituents of a unit of action.” E.E. Boesch, 1991, S. 43 299

Terminologische Anregungen der SAT

Übergeordnete Handlungssysteme und Teilhandlungen

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Acteme und übergeordnete Handlungssysteme

Es sei aber klar, dass eine solche Handlungseinheit aus einer größeren Zahl von Teilhandlungen bestehe: Bereitstellung von Ton und Wasser, Formen des Materials, Trocknen der fertigen Form, Ausführen der Verzierungen, Brennen, Glasieren etc. Auch diese Tätigkeiten erscheinen jeweils als eine eigenständige Handlung: Es gibt ein Ziel, einen Vollzug und eine Zielerreichung. Es handle sich hier aber um Handlungen, die von einem Kontext abhängen: “… they derive their meaning from their common, or main, goal of making a pot – ordinarily, no one … will grab a lump of clay just for the sake of grabbing it, or shape it just for the sake of shaping it. These sub-actions derive their meaning from their place within a sequence of instrumental steps leading to the main goal: the finished pot. Such subactions are here also termed ‘actemes’ … Actemes relate to the action as parts to a whole: they are incomplete in themselves and their meaning depends on the nature of the goal they are to serve.” E.E. Boesch, 1991, S. 43 Warum aber kann man behaupten, die Herstellung eines Tontopfes sei eine Handlung und nicht ein Actem (eine Teilhandlung)? Es könnte ja sein, dass dieser Produktionsprozess nur Teil einer übergeordneten Zielsetzung ist. Dies würde, so meint Boesch, bei den meisten Handlungen auch zutreffen, denn: “Actions … are always links in a chain which only may end with the death of the actor.” (1991, S. 43). Und dennoch gebe es gute Gründe für die Behauptung, dass die Herstellung eines Tontopfes eine eigenständige Handlung und nicht nur ein Actem sei: “Once the pot is finished, the individual considers it to be an action result to be evaluated, to feel proud of, to show to others, or to be discarded should it not fit the individual’s criteria of instrumentality or beauty. Moreover, a finished pot … awaits different kinds of uses which it can serve. A finished pot possesses … an intrinsic value, being able to serve a multitude of different actions … In other words, both inner as well as external particularities determine the wholeness of an action: the feeling of having finished a thing, and the corresponding evaluation of it, on the one hand; and the independent existence of the thing allowing it to be used for new actions within different frameworks.” E.E. Boesch, 1991, S. 43/44

300

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Im Übrigen gebe es auch ganz spezifische Reaktionen und Handlungsmuster, die auf den Abschluss einer eigenständigen Handlung hinweisen: Stolz oder Unzufriedenheit, längere Arbeitspausen oder die Mitteilung an andere, dass man mit der Arbeit fertig sei. Solche „Abschlusshandlungen“ nennt Boesch „terminating actemes“ (1991, S. 44): “The terminating actemes point to the completion of an action as a unit, and they clearly distinguish the real action goal from mere instrumental actemes …” E.E. Boesch, 1991, S. 44 Hier und bei der Abgrenzung von Actemen solle man sich vor allem auf die Perspektive des Akteurs beziehen: “… any portion of an action may properly be analyzable as an acteme, as long as it is so in the mind of the actor. An acteme is, for the actor, a natural segment of his doing something. This may be marked by special signs.” E.E. Boesch, 1991, S. 44 Allerdings gibt es auch Handlungen, die nach der Erreichung des Zieles nicht abgeschlossen sind. Manche Handlungen haben gleichsam permanente Ziele. Ein passionierter Briefmarkensammler hält seine Sammlung niemals für vollständig oder abgeschlossen, ein Künstler oder ein Wissenschaftler hat seine Ziele nie endgültig erreicht. Nach Abschluss eines Werkes oder eines Artikels wird schon das nächste Teilelement des übergeordneten Ziels angegangen. “Reaching a goal, in such cases, does not produce need reduction. A lover never stops courting, and we all continuously pursue happiness. Such ‘endless’ actions derive their motivation from superordinate or overarching goals …” E.E. Boesch, 1991, S. 45 Mit diesen Beispielen und Zitaten wird klar, dass die SAT eine Vielzahl wertvoller Anregungen für die theoretische Ausgestaltung und die empirische Umsetzung einer sozialgeographischen Handlungsforschung bereitstellt, die bislang aber noch nicht genutzt wurden. 301

„Terminating Actemes“

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

10.2.3. Einige empirische Beispiele der handlungszentrierten Sozialgeographie 3 Handlungsbereiche nach Werlen

Empirische Untersuchungen von Odermatt und van Wezemael

Benno Werlen (1997, Kapitel 6) hat zur empirischen Untersuchung des „Geographie-Machens“ und der alltäglichen Regionalisierungen vorgeschlagen, drei Handlungsbereiche zu unterscheiden, welche die Alltagswelt auf unterschiedliche Weise räumlich und zeitlich differenzieren. Der erste Bereich bezieht sich auf die ökonomische Praxis und befasst sich mit der Konstitution von Regionen über Produktion und Konsumtion. Das zweite Wirkungsfeld wird durch die Praktiken der normativ-politischen Regionalisierungen umschrieben und verweist auf Regionsbildungen über territorial gebundene Normengebung. Der dritte Handlungsbereich steht mit den beiden anderen „in engstem Zusammenhang“ (S. 377) und bezieht sich auf die symbolische Aneignung von Handlungskontexten. Diese informativ-signifikativen Regionalisierungen sind in der Spätmoderne in hohem Maße durch Medien beeinflusst, die als bedeutsame Produzenten von Wissensbeständen zu „zentrale(n) Institution(en) der Wirklichkeitskonstitution und der Reproduktion sozial-kultureller Sinnwelten“ (S. 379) geworden sind. Die hier relevanten Formen des „Geographie-Machens“ beziehen sich auf subjektive Bedeutungszuweisung und symbolische Aneignung. Dabei geht es vor allem um die Frage, welche symbolische, emotionale und subjektive Bedeutung bestimmte erdräumlich Ausschnitte erlangen (S. 381). Der überwiegende Teil der dem Autor bekannten empirischen Umsetzungsbeispiele einer handlungszentrierten Sozialgeographie ist den Konstitutionsbereichen der informativ-signifikativen Regionalisierungen gewidmet. Die meisten der bislang vorgelegten empirischen Untersuchungen dieser Entwicklungslinie der Sozialgeographie wurden von Schülern Benno Werlens verfasst. Ein repräsentativer Querschnitt dieser Arbeiten wird in Band drei der von Benno Werlen (2007) herausgegebenen „Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen“ vorgelegt. Als Beispiele für handlungstheoretisch fundierte Analysen zu produktiv-konsumtiven Regionalisierungen können die Arbeiten von A. Odermatt (1997) und J. E. van Wezemael (1999 und 2005) angeführt werden. In diesen Beiträgen wird das räumlich-soziale Muster der Wohnstandortverteilungen als Folge von Handlungen unter den Rahmenbedingungen des Wohnungsmarktes thematisiert. „Damit soll ein Beitrag zur Erklärung von erdräumlich beobachtbaren Konfigurationen sozial bedeutsamer materieller Artefakte geleistet werden ...“ (A. Odermatt und J. E. van Wezemael, 2007, S. 18). Ausgangspunkt der Überlegungen ist die existenzielle Bedeutung der Wohnung für die Lebenspraxis von Menschen. Einerseits stellen die Attribute der Wohnung (Grundriss, Ausstattung, Größe, Lage) wesentliche Determinanten alltagsweltlicher Handlungsspielräume dar, weil sie Grenzen der Ermöglichung und Beschränkung von Lebensweisen defi302

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

nieren. Andererseits strukturieren Standortentscheidungen für das Wohnen die Aktionsräume der Bewohner, da die Wohnung als Ankerpunkt raum-zeitlicher Regionalisierungen der Alltagswelt wirksam wird. Für die meisten Subjekte gilt dabei, dass „… sie ihre alltäglichen Geographien in räumliche Strukturen einpassen müssen, deren Herstellung außerhalb der Reichweite ihres aktuellen Handelns liegt. Die Hersteller dieser räumlichen Bezugswelt sind Akteure, welche z.B. durch die Investition von Kapital in der Lage sind, wichtige Standortentscheidungen zu treffen. … Alltägliche Tätigkeiten, die sich auf das physische Artefakt Wohnung beziehen, sind demzufolge immer bezogen auf und mitbestimmt von den Handlungen anderer Akteure“ (ebd., S. 18). Nach einer kritischen Darstellung der Defizite verschiedener traditioneller Ansätze der Wohnforschung diskutieren die Autoren die Potenziale und Rahmenbedingungen einer handlungstheoretischen Konzeptualisierung des Wohnungsmarktes. Dabei müssen grundsätzlich zwei miteinander verkoppelte Handlungsbereiche unterschieden werden. Der erste Bereich, die Produktions- und Zirkulationssphäre, ist geprägt „… durch die Ziele des wirtschaftlichen, renditeorientierten Handelns“. Der zweite, die Konsumtionssphäre, ergibt sich hingegen durch die Ziele, „… welche sich aus den Lebens- und Konsumtionsweisen der Wohnungsnutzer konstituieren“ (S. 20). Da die Produzenten und Anbieter in der Regel wesentlich größere Handlungspotenziale besitzen, werden die unterschiedlichen Zielorientierungen häufig zu einer Benachteilung der Konsumenten führen. Die räumlichen Verteilungsmuster des Angebots sind jedenfalls primär als Folge von Investitionshandlungen zu begreifen. Deshalb müssten Erklärungsansätze „… vom Raummuster auf die Regionalisierungspraktiken“ verschoben werden (ebd., S. 21). Für die wohnungsbezogene Regionalisierung der Alltagswelt sind also vor allem die Handlungen der Produzenten und Eigentümer bedeutsam. Produzenten und Eigentümer haben „… durch ihr großes Gestaltungsvermögen die Möglichkeit …, ihre Auffassung von Interaktionsformen und Lebensstilen durch den Wohnbau zu materialisieren und ihnen Dauerhaftigkeit zu verleihen. … Das Machtpotenzial äußert sich aber nicht nur im Vermögen zu produzieren, zu gestalten, anzuordnen und Bedeutung zu verleihen, sondern auch in der Definition der Zugangsbedingungen über Preise oder andere Regeln der Verteilung. Das (professionelle) Handeln von Produzenten und Eigentümern gründet auf – im Vergleich zu anderen Akteuren – überlegenen allokativen und autoritativen Ressourcen.“ A. Odermatt und J. E. van Wezemael, 2007, S. 23 303

Ein handlungstheoretisches Konzept des Wohnungsmarktes

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

„Das objektive Angebot an Wohnungen in der Form von räumlich und sozial differenzierten Teilmärkten sowie die Eigentumsverhältnisse des Wohnungsmarktes sind als intendierte/unintendierte Folgen … der Handlungen in der Produktions- und der Zirkulationssphäre zu interpretieren. Gleichzeitig stellen diese Folgen die Strukturen im Sinne einer situativen Rahmenbedingung für weiteres Handeln dar, für die Produzenten ebenso wie für die Nachfrager von Wohnungen ...“ A. Odermatt und J. E. van Wezemael, 2007, S. 23 Idealtypisch konstruierte Handlungsweisen – Intentionalitätstypen

Wie kann vor diesem konzeptionellen Hintergrund nun eine angemessene Erklärung der räumlich-sozialen Struktur der Wohnstandortverteilung erfolgen? Die Autoren schlagen einen Ansatz vor, bei dem idealtypisch konstruierte Handlungsweisen als analytische Instrumente im Vordergrund stehen. So können die langfristig orientierten Eigentümer zu folgenden Idealtypen zusammengefasst werden (A. Odermatt und J. E. van Wezemael, 2007, S. 28): – „Selbstnutzende Wohnungseigentümer: Ihre Zielorientierung liegt primär in der Verwirklichung subjektiver Nutzungsvorstellungen. – Kommerziell orientierte Wohnungseigentümer: Ihre Zielorientierung liegt vor allem in der Erzielung einer möglichst hohen Rendite und einer langfristigen Sicherung des angelegten Kapitals. – Gemeinnützig orientierte Wohnungseigentümer: Ihre Zielorientierung liegt in der Bereitstellung preiswerter Wohnungen für einkommensschwächere Nachfrager.“

Zuteilungssysteme

Vor dem Hintergrund dieser Intentionalitätstypen werden auf dem Weg über Marktprozesse nun die wohnbezogenen Strukturen des Siedlungssystems und die damit verbundenen sozialräumlichen Gegebenheiten produziert und reproduziert. Dabei werden drei Zuteilungssysteme wirksam: Der Eigenheimmarkt ist durch ein marktorientiertes Zuteilungssystem gekennzeichnet, das auf der Fähigkeit der Nachfrager gründet, hohe Kapitalkosten zu finanzieren. Der Markt der Sozialwohnungen basiert auf einem bürokratischen Zuteilungssystem, dessen Kriterium die soziale Bedürftigkeit darstellt. Das Zuteilungssystem der Mietwohnungen ist wiederum marktorientiert und beruht auf der individuellen Zahlungsfähigkeit der Nachfrager. Die Vergabesysteme führen zu einer Art „Passung“ oder Korrespondenz der Sozialstruktur der Nachfrager und dem nach Eigentümern differenzierten Wohnungsbestand. Die unterschiedlichen Zielorientierungen der Akteure der Produktionssphäre führen hingegen zu einem räumlich differenzierten Verteilungsmuster der Angebote, denn die unterschiedlichen Intentionen lassen sich an bestimmten Orten besser oder schlechter realisieren. 304

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

52 % der vermietenden Wohnungseigentümer in der Schweiz sind Privatpersonen, denen etwa die Hälfte der Mietwohnungen gehört. Ein Drittel des Mietwohnungsbestandes ist im Besitz von kommerziell orientierten Eigentümern (Immobilienfonds etc.). Nur 14 % der Mietwohnungen gehören gemeinnützig ausgerichteten Eigentümern. Die primäre Intentionalität der Eigentümer resultiert in einem spezifischen Standortmuster des Bestandes nach Besitzstrukturen, was über die wirksamen Zuteilungssysteme zu einer räumlich-sozialen Differenzierung der Bewohner führt. Die begehrten zentralen Wohnstandorte mit den höchsten Renditen sind weit überwiegend in der Hand kommerziell orientierter Eigentümer. Ihre Eingriffe in den Markt (Produktion und Ankauf neuer Wohneinheiten in den begehrten suburbanen Lagen, Luxussanierung und Gentrifizierung im Bereich der älteren Bausubstanz der Kernstädte) sind als Strategien zur Steigerung der Rendite und zur langfristig sicheren Anlage der Kapitalien zu verstehen. In den peripheren Gebieten des Landes, in denen das Vermietungsgeschäft keine besonders hohen Renditen verspricht, stellen die vermietenden Privatpersonen die dominierende Vermieterkategorie dar. Mit dieser handlungstheoretisch orientierten Zugangsweise, die sich als eine „Wirtschaftsgeographie der Subjekte“ versteht, gelingt es den Autoren, die Besonderheiten und Grundstrukturen des schweizerischen Wohnungsmarktes plausibel abzuleiten und mit der Intentionalität der privilegierten Akteure zu begründen. Als entscheidende Akteure bei der zweiten Form alltäglicher Regionalisierungen, der normativ-politischen Regionalisierung, sind staatliche und administrative Organisationen zu nennen, die den Regionalisierungsprozess als Medium der Machtausübung und Strukturierung von Verwaltungsprozessen sowie zu deren Koordinierung nutzen. Diese Form der Regionalisierung beruht auf dem Prinzip der Territorialität. Das bedeutet, dass sich Zuständigkeiten und Kompetenzbereiche von Organisationen der Verwaltung und des politischen Systems auf klar begrenzte Raumausschnitte beziehen. In der Regel handelt es sich dabei um Gebietskörperschaften. Auch ökonomische, kulturelle und religiöse Institutionen, deren Gliederung oft an die staatlich vorgegebenen Verwaltungsgrenzen angelehnt ist, weisen häufig territorial definierte Regulierungsbereiche auf. Um über einen Raumausschnitt bestimmen und normative Vorgaben durchsetzen zu können, muss die herrschende Instanz die Hoheit über ihn besitzen und über die Autorität zur Durchsetzung ihrer Interessen verfügen. Verschiedene Autoren (unter anderem M. Hermann und H. Leuthold, 2007) haben darauf hingewiesen, dass unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen das Territorialitätsprinzip zunehmend infrage gestellt wird. Territorien haben eine hohe zeitliche Persistenz und lassen sich in ihrer Abgrenzung nur mit großem Aufwand und gegen erhebliche Widerstände verändern. Die Geschichte von Gebietsreformen und Gemeindezusammenlegungen zeigt dies in aller Deutlichkeit. Deshalb kommt es immer 305

Beispiel: Schweizer Wohnungsmarkt

Wirtschaftsgeographie der Subjekte

Prinzip der Territorialität

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Anpassung an neue funktionale Rahmenbedingungen

Arber: Bedeutung der Medien für Regionalisierungen

häufiger dazu, dass die bestehende territoriale Gliederung nicht (mehr) auf das abgestimmt ist, „… was es eigentlich zu regeln gilt, nämlich die sozialen und wirtschaftlichen Interaktionen. Durch die Steigerung der Mobilität und die Entwicklung der Telekommunikation seit den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts kann eine territoriale Ordnung immer weniger mit den Reichweiten und Einzugsgebieten von Interaktionen zur Deckung gebracht werden. Die einstmals effiziente territoriale Gliederung erweist sich daher zunehmend als hinderlich“ (ebd., S. 220). Genau dies ist der Grund dafür, dass aktuelle Beispiele normativ-politischer Regionalisierungen überwiegend auf Versuche bezogen sind, bestehende Territorien qua „Gültigkeitsbereiche von Normen“ zu verändern und an die neuen funktionalen Rahmenbedingungen anzupassen. Dies zeigt sich etwa an der absichtsvollen Konstituierung neuer Planungsregionen. Als Beispiele können Euregios oder Planungsverbände herangezogen werden. Es entstehen Regionen, die gleichsam als „Designerregionen“ mit dem ausdrücklichen Ziel geschaffen werden, territoriale Steuerungsprozesse zu ermöglichen, die möglichst genau an die aktuelle soziale Praxis der sozioökonomischen Interaktion angepasst sind (vgl. P. Weichhart, 2001 b). Bei der Untersuchung solcher Gestaltungsprozesse (oder der Analyse des Scheiterns derartiger Bemühungen) wird eine handlungstheoretische Analyse, die auf die zum Teil erheblichen Differenzen in der Intentionalität der beteiligten Akteure eingeht, einen erheblichen Erkenntnisgewinn erbringen (vgl. z.B. P. Weichhart, 1996 a). Ein besonders illustratives Beispiel für eine Analyse informativ-signifikativer Regionalisierungen, bei der überdies die Bedeutung der Medien für derartige Prozesse sehr deutlich herausgearbeitet wird, hat G. Arber (2007) vorgelegt. Medien, so betont der Autor im Einleitungsabschnitt, überbrücken räumliche und zeitliche Distanzen und verschaffen ihren Nutzern Zugang zu Gegebenheiten und Ereignissen, von denen sie sonst nichts wüssten. „Die Medien haben also eine enorme Bedeutung bei der Vermittlung von Wissen erlangt. Auf dessen Grundlage konstruieren die Menschen ihre Weltbilder und Wirklichkeiten, die den Sinnhorizont für ihr Handeln darstellen.“ G. Arber, 2007, S. 251

Beispiel: Drogenthematik in der Schweiz

Die Drogenthematik zählt zweifellos zu jenen Gegenstandsbereichen, zu denen die meisten Menschen (glücklicherweise) nur über Medien Zugang haben. Damit konnten sich aber die Medien eine erhebliche Definitionsmacht über das „Drogenproblem“ zu eigen machen. Im Falle der Schweiz und Zürichs wird die Drogenthematik von der Öffentlichkeit vor allem als 306

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

„räumliches“ Problem wahrgenommen. Der Autor betont, dass die zwei Stadtgebiete „Platzspitz“ und „Letten“ über Jahre hinweg die Diskussion beherrschten und mit diesen beiden Orten das „Drogenproblem schlechthin“ symbolisiert wurde. Dabei hätten die Massenmedien als zentrale Instanzen der Wissensvermittlung eine entscheidende Rolle dafür gespielt, dass die Drogenthematik in einer „territorialen“ Sichtweise und weniger als Sachproblem artikuliert wird. Die zentrale Forschungsfrage des Autors lautet deshalb: Wie wurden „… die Aufenthaltsorte der offenen Drogenszene – als sichtbarer Ausdruck bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse – über die mediale Darstellung zum Drogenproblem per se … Mit anderen Worten: Mit welchen medialen Praktiken wurde die Reduktion gesellschaftlicher Komplexität auf eine räumliche Dimension bewerkstelligt, auf deren Basis dann ,räumliche Maßnahmen‘ als Strategie der Problemlösung als angemessen erscheinen konnten?“ G. Arber, 2007, S. 252 Um diese Fragen beantworten zu können, geht der Autor zunächst auf das Verhältnis zwischen mediatisiertem Wissen und den Wirklichkeitskonstruktionen der Subjekte ein und betont die bedeutsame Rolle der Medien als zentrale Informationslieferanten und einflussreiche Bezugsgrößen subjektiver Handlungsorientierung. Dabei müsse berücksichtigt werden, dass über die Massenmedien privilegierte Interessen in die öffentliche Meinungsbildung einfließen können. Die dabei eingesetzten oder wirksam werdenden Instrumentarien einer selektierenden und letztlich manipulierenden Nachrichtengestaltung könnten mit der Theorie der Nachrichtenselektion und der Agenda-Setting-Hypothese beschrieben werden. Über derartige Thematisierungs- und Selektierungsfunktionen werden die Medien zu einer wichtigen Instanz bei der gesellschaftlichen Konstitution der Wirklichkeit: „Sie selektieren und gewichten Ereignisse, stellen Sinnzusammenhänge her und weisen Bedeutungen zu“ (G. Arber, 2007, S. 256). Der Autor geht dann der Frage nach, ob das Drogenproblem, das von seinen Konstitutionsbedingungen her als längerfristiger sozialer Interaktionsprozess anzusehen ist, durch die spezifische Form der Mediendarstellung zu einem räumlichen Problem umstrukturiert wurde. Als Untersuchungsmaterial dienten einschlägige Berichte in der Boulevardzeitung „BLICK“.

307

Medien als Bezugsgröße subjektiver Handlungsorientierung

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

„Die Verräumlichung gesellschaftlicher Gegebenheiten kann im Prinzip als eine spezifische Form der Reifikation oder Verdinglichung aufgefasst werden. Unter dem Begriff „Verräumlichung“ soll hier die Projektion und Reduktion des Sozialen auf das Räumliche beziehungsweise die Thematisierung gesellschaftlicher Prozesse in räumlichen Kategorien verstanden werden. Die Verräumlichung sozialer Gegebenheiten rückt die räumlichen Manifestationen in den Vordergrund und verwischt die gesellschaftlichen Vorgänge, deren Ausdrucksformen diese räumlichen Manifestationen sind.Verräumlichung ist folglich eine bestimmte Weise der Bedeutungskonstruktion eines räumlichen Ausschnittes und stellt somit eine spezifische Form der Regionalisierung dar.“ G. Arber, 2007, S. 257 Reifikation als gängige alltagsweltliche Praxis

In Anlehnung an Werlen wird bei alltagsweltlichen Regionalisierungen zwischen subjektiven Belegungen und Aneignungen (signifikative Regionalisierung) und Wissensvermittlung (informative Regionalisierung) unterschieden. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass Reifikation als gängige alltagsweltliche Praxis angesehen werden muss. Sie stellt eine immer wieder praktizierte Denkfigur dar, die auf dem Glauben basiert, „… dass einem Substantiv auch ein reales Objekt entsprechen müsse …“ (S. 259), was zur Verdinglichung des Substantivs führe. Der Begriff der „Verräumlichung“ kann so als Diskursform über gesellschaftliche Vorgänge verstanden werden, durch die das „… räumlich Manifeste auf sich selbst reduziert und dessen soziale Bedingungen und Ursachen …“ (S. 260) ausgeblendet werden. Durch diesen Prozess komme es zu einer „semantischen Substitution“, zu einem „Wechsel der Ontologie von Gesellschaft und Raum, von sozialer zu physischer Welt“ (S. 261). „Verräumlichende Diskurse reduzieren die Komplexität von Gegebenheiten, indem sie die Prozesse ihrer gesellschaftlichen Herstellung, ihre Geschichte, verdecken. … Verräumlichungen können demzufolge als Basis für die Konstitution von Mythen verstanden werden“ G. Arber, 2007, S. 261

Verräumlichung als Basis für Mythenbildung

Die empirische Untersuchung geht nun von der Frage aus, wie im BLICK die Gesprächsagenda zum Thema „Drogen“ konstituiert wird. Die zentrale These der Arbeit lautet, dass im BLICK in Bezug auf die Drogenthematik ein mythenbildender Diskurs geführt wird. 308

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

„Dieser Diskurs rückt die räumlichen Manifestationen der gesellschaftlichen Gegebenheiten und Prozesse im Zusammenhang mit Drogen in den Vordergrund – ‚Setzt sie auf die Agenda‘ – und definiert damit die Drogenthematik auf territorialer Ebene. Die lokalisierten, sichtbaren Vorgänge sind dadurch nicht Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und Gegebenheiten, sondern sind die Drogenthematik. Dieser Diskurs regionalisiert, denn er konstituiert die Bedeutung des Aufenthaltsortes der Drogenszene: Er konstruiert eine Region als Drogenproblem, eine Region die das Drogenproblem ist.“ G. Arber, 2007, S. 264 Die Ergebnisse der Medienanalyse zeigen, dass im „BLICK“ gesellschaftliche Bedingungen und Vorgänge der Drogenthematik zwar nicht ausgespart bleiben, insgesamt aber eine territoriale Sichtweise und Verräumlichung dominiert. Das Drogenproblem ist der Zürcher „Platzspitz“ beziehungsweise der „Letten“: „Mit der Bezeichnung der offenen Drogenszene in Zürich als Zürcher ,Drogenhölle‘ gibt der BLICK dem Drogenproblem einen Namen und einen Ort.“ Damit gilt bei der Darstellung der Drogenthematik im BLICK „… auf der Ebene der Konnotation folgende Deutungsregel: Das Drogenproblem hat einen Ort (Zürich: Platzspitz respektive Letten), einen Namen (,Drogenhölle‘), ein Gesicht (Bilder vom Platzspitzrespektive Lettenareal) und es ist eine Schande für Zürich und die Schweiz … Der BLICK-Diskurs über die Drogenthematik … vermittelt somit eine primär territoriale Sichtweise des ,Drogenproblems‘ …“ G. Arber, 2007, S. 268–269 Markus Richner (1996 und 2007) befasst sich mit der Kapellbrücke, die als Wahrzeichen Luzerns gilt und deren Brand im Jahr 1993 zu einem überregionalen Medienereignis wurde. Die Betroffenheit, die sich zu diesem Ereignis in den Medien manifestierte, wird vom Autor als diskursiver Ausdruck alltäglicher Regionalisierungen verstanden, „… der geographische Denkweisen der Welt involviert“ (2007, S. 273). Die „Herstellung“ des Wahrzeichens Kapellbrücke werde als Form signifikativer Regionalisierung im Kontext von „Heimat“ fassbar, und zwar als „… geregelter Gebrauch 309

Richner: Luzerner Kapellbrücke als Beispiel einer Regionalisierung

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Aufdeckung der Konstruktionsprinzipien

von Bedeutungen, der eine Brücke zum Wahrzeichen macht, einen Ort sakralisiert“ (ebd., S. 273). Zielsetzung der Analysen und Überlegungen des Autors ist die Rekonstruktion dieser Deutungsprinzipien. Bei seiner Untersuchung konkreter Texte greift der Autor methodisch auf M. Foucaults (1981) Diskursanalyse zurück. Es geht ihm darum, die Konstruktionsprinzipien des Wahrzeichens durch die Erfassung der Regelmäßigkeiten der Koordinierung von Diskurselementen aufzudecken. Die Analyse zeigt, dass in den Medientexten drei Themen oder Aspekte des Brandes unterschieden werden können, die sich als „Erzählungen“ darstellen lassen: „In der technischen Erzählung wird ein technisches Ereignis besprochen. Ein Expertenkreis kunstgeschichtlich Sachverständiger entwickelt ein kunsthistorisches Ereignis. Und im ,Brand‘ des ,Wahrzeichens‘ manifestiert sich das Ereignis der Betroffenheit, das ebenfalls durch einen bestimmten Expertenkreis eingeführt wird.“ M. Richner, 2007, S. 285 Im Bereich der „Betroffenheitserzählung“ werden die drei Diskurselemente „zusammengeführt“, wodurch unterschiedliche Objektkonzeptionen in Beziehung gebracht werden. Durch die hiermit produzierten Regelmäßigkeiten der Kombination von Diskurselementen wird die Kapellbrücke zum Wahrzeichen. „Die Wahrzeichensemantik koordiniert Konzeptionen aus einer technischen, einer kunsthistorischen und der Betroffenheitserzählung zu einer symbolischen Geographie. In der technischen Erzählung wird ein Objekt verortet. Dieser Ort erhält in der kunsthistorischen Erzählung die Weihen der Originalität, und das technische Ereignis der Zerstörung des lokalisierten Ortes wird zu dessen Verlust. Die metaphorische Materialität der Heimat im Element Betroffenheit ist aufgrund ihrer Herleitung als körperliche Erfahrung des Ortes auf den technischen Diskurs abgestützt und wird im Ereignis als Möglichkeit des Verlusts des Originals zur nicht mehr reproduzierbaren, erinnerten Erfahrung, die damit auch gefährdet ist. Zur Sakralisierung kommt es also gerade aufgrund der Materialität der Ausdehnung, die den Ort generiert und ihm die Metaphorik des Sicherheit und Kontinuität vermittelnden Areals der gewohnten, weil körperlich als Materialität erfahrenen Umgebung zuweist.“ M. Richner, 2007, S. 292–293 310

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Zwei besonders beeindruckende Arbeiten zum Thema der informativ-signifikativen Regionalisierungen sind die Dissertationen von Antje Schlottmann (2005) und Tilo Felgenhauer (2007 a). Beide Arbeiten befassen sich mit der „alltäglichen Praxis“ dieser Form der Regionalisierung. Sie handeln davon, „…wie gemacht wird, was selbstverständlich nicht als Gemachtes erscheint.“ Und sie handeln „… von der Wirklichkeit und Bedeutung allgegenwärtiger Räume, in denen wir leben, aus denen wir kommen und über die wir selbstverständlich sprechen, als seien sie.“ (A. Schlottmann, 2005, S. 5). Beide Texte sind sprachanalytisch ausgerichtet, theoretisch bestens fundiert und erscheinen in der Argumentation sehr dicht und konzentriert. Sie können an dieser Stelle nur mit einigen wenigen knappen Hinweisen skizziert werden. Zentrales Thema der Untersuchung von Antje Schlottmann sind die „… selbstverständlichen sprachlichen ,Weisen der Raumerzeugung‘ …“ (S. 313), welche für die gesellschaftliche Praxis charakteristisch sind. Unter Verweis auf die Ost-West-Differenzen in der Berichterstattung zur deutschen Einheit stellt die Autorin die Frage, wie disparate regionale Einheiten, über die so selbstverständlich gesprochen wird, denn ihrerseits konstituiert werden. Der gängige und unhinterfragte Einsatz von Regionen in der Sprache müsse daher zum Gegenstand einer kritischen Betrachtung gemacht werden. Denn eindeutig begrenzte Räume seien weiterhin fester Bestandteil alltäglicher kommunikativer Praxis, obwohl die Bedeutung räumlicher Einheiten und Grenzen im Zeitalter der Globalisierung schwinden würde (S. 21). Als theoretische Hintergrundposition, die für die vorgesehenen Analysen einen „Mittelweg zwischen radikalem Raumkonstruktivismus und radikalem Raumrealismus“ (S. 23) eröffnen soll, sucht die Autorin nach der Möglichkeit einer Verknüpfung der handlungszentrierten Sozialgeographie B. Werlens, der Sprachphilosophie von John R. Searle (1997) und der Strukturationstheorie von A. Giddens (1984). Unter Bezug auf die tiefgehende und umfassende Analyse einer Textcollage aus der Berichterstattung zur deutschen Einheit wird die konstitutive Rolle der Sprache für die gesellschaftliche Wirklichkeit herausgearbeitet, wobei sehr überzeugend die zentrale Rolle von Verortungsprinzipien für die „… Praxis des Identifizierens, Organisierens, Koordinierens und Funktionalisierens …“ (S. 176) aufgezeigt werden kann. In einer Zwischenbilanz (Kapitel 3.4) fasst die Autorin die Algorithmen der Raumsprache zusammen, die gleichsam „hinter“ der signifikativen Regionalisierung stehen. Dabei unterscheidet sie zwischen einer „ermöglichenden“ und einer „einschränkenden“ Dimension der Strukturierung. Bei den „Ermöglichungen“ werden vier Funktionen unterschieden (Tab. II–1, S. 177): Identifizierung als die Distinktion von „Einheiten“ gegenüber anderen über die indexikalische Bezugnahme auf eine Raum-Zeit-Stelle, die symbolische Funktionszuweisung eines Namens, der für einen erd311

Beispiele der informativsignifikativen Regionalisierung

Beispiel Schlottmann: Raumsprache

Algorithmen der Raumsprache

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

räumlichen Ausschnitt steht, sowie die Abgrenzung durch metaphorische Strukturierungen. „Signifikative Regionalisierung ist mit einer Identifizierung von ,Tatsachen‘ verbunden. Distinkte Gebilde werden ,objektiviert‘ und unverhandelbar. Ermöglicht eindeutige Identifizierung über die Logik der Ausschließlichkeit von Gegenständen oder Subjekten in einem Raum (nicht gleichzeitig in einem anderen). Ermöglicht Quantifizierung und Skalierung, Größe und Volumen werden vorstell-, berechen- und vergleichbar.“ A. Schlottmann, 2005, S. 177, Tab. II–1

Chronologisierung/ Topographisierung/ Topologisierung

Orientierung bezieht sich auf die „Ordnung der Dinge … in ihrer Lage ,im Raum‘ und zueinander“. Dies erlaubt es, Gegenstände „… zueinander und zu sich selbst in Beziehung zu setzen. “ Orientierung ermöglicht die Vorstellung von Nähe vs. Ferne und Innen vs. Außen. „Über metaphorische Erweiterungen werden räumliche Orientierungen zum Indikator für gesellschaftliche Einstellungen“ (ebd.). Organisation oder Funktionalisierung weist bestimmten räumlichen Entitäten über (metaphorische) Bezüge bestimmte Funktionen für andere Einheiten oder ein größeres Ganzes zu (z. B. Zentrum-Peripherie-Schema). Handlungsbegründung deutet darauf hin, dass signifikative Regionalisierungen „… als Vorstellungsweisen von der Welt und ihrer Räumlichkeit“ handlungsleitend und handlungsermöglichend sind. „Sie sind gesellschaftlich akzeptierte Gemeinplätze und Hintergrund einer tradierten Weltsicht“ (ebd.). „Übersetzt“ man diese Wirkungen in „konventionelle“ geographische Terminologie, dann werden drei „Stränge“ signifikativer Regionalisierung erkennbar, die als typische Algorithmen der alltäglichen Raumsprache eingesetzt werden:

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10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Chorologisierung: „Die alltägliche Identifizierung und Differenzierung von distinkten räumlichen Einheiten über ontologische Konzepte, insbesondere die Container-Metapher. Ermöglicht über Begrenzung die Vorstellung von Verteilung und Zugehörigkeit.“ Topographisierung: „Alltägliche Verortung von abstrakten Eigenschaften in Verbindung mit der Verwendung von Toponymen, ermöglicht indexikalische Bezugnahmen und wird durch diese wiederum erzeugt. Ermöglicht die Identifizierung von Individuen und Artefakten aufgrund ihrer Herkunft (Zuordnung zu einer bestimmten Raumstelle).“ Topologisierung: „Alltägliche Herstellung von ,Nachbarschaftsbeziehungen‘,Vorstellung der ,relativen Lage geographischer Objekte‘ …, ermöglicht die Präsentation und Organisation von Bewegungen. Durch Konzepte wie ,NAH – FERN‘ oder ,Zentrum – Peripherie‘ werden funktionale Bewertungen möglich.“ A. Schlottmann, 2005, S. 178, Tab. II–2 Die „Herstellungsweisen“ der einzelnen Elemente alltäglicher Raumsprache werden auf S. 182 (Tab. II–4) konkretisiert und zusammenfassend auf ihre Effekte bezogen. Die daraus erkennbaren „Verortungsprinzipien“ führen zu einer Verknüpfung von traditionell als „kulturell“ und „räumlich“ bezeichneten Gegebenheiten (vgl. Abb. 74). Dabei handle es sich um „konstruktive Präsentationen“ (S. 317) von Wirklichkeit, also um den aktiv-gestaltenden sprachlichen „Bau“ von Welt. Deshalb müsse auch die mit dieser Sprachpraxis einhergehende „Essentialisierung“ bzw. „Vergegenständlichung“ als „Ermöglichung gesellschaftlichen Handelns“ und nicht als sprachliche „Fehlleistung“ aufgefasst werden. Genau dieser aktiv über sprachliche Handlungsvollzüge konstruierte räumliche Bau von Welt bildet den Hintergrund seiner gesellschaftlichen und subjektiven Evidenz: „Ihre unumstößliche Plausibilität erhalten die Verortungslogiken über ein tautologisches Prinzip: Weil sie über Handlungen manifestiert werden und diese Manifestation erfahrbare Strukturen mit sich bringt, werden sie zu Repräsentationen einer scheinbar handlungsunabhängigen Realität.“ A. Schlottmann, 2005, S. 318

313

Verortungsprinzipien der Sprache

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Signifikatives Element

Strukturierende „Logik“

Strukturierende Effekte

Indexikalischer Begriff

Raumzeit-Angabe = Gehalt, (dort steht für so)

Toponym

Raumzeit-Etikett = Gehalt, (Toponym steht für so)

Kultur-Raum-Einheit: Verbindung und Objektivierung von Eigenschaften an einer Raum-Zeit-Stelle durch die Bezugnahme

Orientierungsmetapher NAH-FERN

(physische) Nähe = Gleichartigkeit, Kenntnis,Vertrautheit und Existenz, je näher zusammen, je ähnlicher; je näher dran, je klarer

Distanzbewertung: Verbindung von einander Nahem zu einer Einheit (Ähnlichkeit, je näher, desto ähnlicher); Distanz zum Gegenstand wird Maß seiner Kenntnis (je näher an einem Ort, desto mehr Kenntnis der Gegenstände dort)

Container-Metapher / INNEN-AUSSEN-Konzept

Flächenausschnitt = Container 1. Alles ist entweder innerhalb des Containers oder außerhalb (P oder ~P) 2. Wenn Container A in Container B und X ist in A, dann ist X in B (wie modus ponens)

Grenzbildung: Innen und Außen, räumlich fixierter Behälter bestimmt Inhalt, Eigenschaften sind einem begrenzten Behälter zugeordnet; Kultur-Raum-Einheit: Alles im Behälter ist so, nicht anders.

Abbildung 74: Verortungsprinzipien der alltäglichen Raumsprache nach A. Schlottmann Quelle: A. Schlottmann, 2005, S. 182, Tab. II–4 Beispiel „Mitteldeutschland“ nach Felgenhauer

3 Raumargumentationen

Auch die Arbeit von Tilo Felgenhauer (2007 a) besticht durch eine differenzierte theoretische Fundierung und eine überzeugende Argumentation. Sie ist ebenfalls so komplex strukturiert, dass der Gang der Argumentation an dieser Stelle nicht einmal in verkürzter Form skizziert werden kann. Ein knapper Hinweis auf Fragestellungen und Hauptergebnisse muss genügen. Diese Dissertation kann als ein systematischer Beitrag zur Erforschung der Bedeutung von Sprache bei der Konstitution „geographischer Wirklichkeit“ angesehen werden. Die Arbeit geht also ebenfalls der Frage nach, wie auf alltäglicher Ebene Regionen „gemacht“ werden und welche Rolle die sprachliche Strukturierung der Wirklichkeit dabei spielt. Dabei werden vor allem die sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Grundlagen zur angemessenen analytischen und methodischen Erfassung derartiger Prozesse herausgearbeitet. Als besonders hilfreich wird hier die Argumentationsanalyse angesehen. Als empirische Grundlage der Analyse dient die Sendereihe „Geschichte Mitteldeutschlands“ des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR). Die Zielsetzung der Arbeit besteht darin, „… mittels eines sprachbezogenen Vokabulars eine Erklärung für eine räumliche Entität namens ,Mitteldeutschland‘ zu liefern, die auf substantialistische Prämissen verzichtet und stattdessen eine Beschreibung des Gebrauchs und eine Erklärung des semantischen Gehalts des Toponyms ,Mitteldeutschland‘ anstrebt“ (S. 8). Bei der Datenanalyse werden das räumliche Vokabular sowie raumbezogene Behauptungen und Argumentationsweisen untersucht. Es werden ex314

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

plizite und implizite Formen der signifikativen Regionalisierungen und verschiedene Typen von raumbezogenen Argumentationsmustern unterschieden. Dabei werden drei Haupttypen herausgearbeitet. Die „Raumargumentation“ (S. 200) beruht auf der Container-Metapher. Dabei wird „von einer gegenwärtigen Territorialisierung ausgehend nach der Vergangenheit des Raumes als Summe von Orten und im Container enthaltenen Elementen gefragt. Welche Geschichte (Ereignisse, Personen, Prozesse, physisch-materielle oder ,natürliche‘ Entitäten) steckt im Container?“ (ebd.). Die „historische Raumargumentation“ ist dadurch charakterisiert, dass die Geschichte Mitteldeutschlands als Erzählung verstanden wird, welche „… die historische Kontinuität der Existenz ,Mitteldeutschlands‘ verdeutlicht“. Hier geht es um die Beantwortung der Frage „Welche Geschichte hat der Container?“ (ebd.). Die dritte Form der sprachlichen Regionalisierung kommt ohne ausdrücklichen Containerbezug und historische Kontinuität aus. Sie beruht auf einer „Wesensargumentation“, bei der „… ein bestimmtes Wesen des ,Mitteldeutschen‘ benannt werden kann, das auf bestimmte Eigenschaften eines Kollektivs oder geistesgeschichtlich konstruierte Wesenszüge des/der Mitteldeutschen abhebt… Die so Argumentierenden diskutieren Fragen der Art: Was ist das Wesen … mitteldeutscher Geschichte unabhängig vom Container?“ (S. 200–201). Das Fazit der Untersuchung stimmt mit jenem der Arbeit von A. Schlottmann perfekt überein: „Sprachliche Raumbezüge werden meist als Gründe eingesetzt, die selbst nicht der Begründung bedürfen … Die praktische Etablierung des Begriffes ,Mitteldeutschland‘ erfolgt nicht etwa vorrangig dadurch, dass man ihn erklärt, sondern am besten dadurch, dass man ihn als geklärt behandelt … Die diskursive Konstitution der Region folgt dem Modell unserer vor-sprachlichen Erfahrung. Bezogen auf die Ergebnisse der Argumentationsanalyse ergibt sich eine Umkehrung der Erklärungsreihenfolge des semantischen Gehaltes von Toponymen: Anstatt in der intuitiven Reihenfolge zu bleiben und zu sagen, die Kategorie ‚Raum‘ taugt besonders gut für Letztbegründungen, weil sie auf reale Objekte in der außersprachlichen Welt Bezug nimmt, soll hier die Umkehrung erfolgen: Die Kategorie ‚Raum‘ vermittelt uns den Eindruck, ein Stück Welt in der Sprache zu spiegeln, weil sie besonders oft in Letztbegründungen auftaucht“. T. Felgenhauer, 2007 a, S. 208–209

315

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Beispiel Monzel: kinderfreundliche Wohnungsgestaltung

Action-SettingTheorie nach Weichhart

Von T. Felgenhauer (2007 b) stammt auch eine der wenigen Untersuchungen, in denen die drei Ebenen der alltäglichen Regionalisierungen (produktiv-konsumtive, normativ-politische und informativ-signifikative) am Beispiel des Themas „Produktherkunft“ miteinander direkt in Beziehung gesetzt werden. Silvia Monzel (1995 und 2007) befasste sich aus handlungszentrierter Sicht mit der Frage einer kinderfreundlichen Wohnumfeldgestaltung. Sie stellt das Spiel als zentrale kindliche Handlungsform in den Vordergrund und zeigt exemplarisch auf, wie das Spiel als kindspezifisches Medium der Realitätsverarbeitung und Weltaneignung zur Entwicklung der kindlichen Egos beiträgt und als zentrales Instrument der Sozialisierung wirksam wird. „Handlungstheoretisch gesehen ist es also Sinn und Zweck des Spielens, Handlungsweisen, Strategien und vor allem Mittel des Handelns in ihrer Wirksamkeit zu erproben und zu trainieren. Quasi als ,Probehandeln‘ dient das Spielen einem Kind dazu, einerseits seinen individuellen Handlungswissensvorrat aufzubauen und andererseits, den bereits vorhandenen Wissensvorrat kontinuierlich zu überprüfen“ (2007, S. 111). Aus den funktionalen Erfordernissen, die für eine Umsetzung des Spielens benötigt werden, leitet die Autorin Überlegungen darüber ab, welche materiellen und sozialen Rahmenbedingungen vorliegen müssen, um Wohnumfelder zu optimalen „Sozialisationsräumen“ für Kinder zu gestalten. Die Arbeit verdeutlicht unter anderem, dass die von Benno Werlen begründete Schule einer handlungszentrierten Sozialgeographie ohne größere Probleme mit der entwicklungs- und persönlichkeitstheoretisch orientierten Symbolischen Handlungstheorie von E.E. Boesch in Beziehung gesetzt werden könnte. Denn auch für Silvia Monzel stellen die Rückwirkungen des kindlichen Handelns auf die Entwicklung der Akteure den zentralen Ausgangspunkt der Analyse und die Zielgröße der planungspraktischen Empfehlungen dar. Bemerkenswert erscheint bei dieser Arbeit auch der Versuch, aus der Handlungstypologie des Spielens konkrete Forderungen für die bauliche Gestaltung von Wohnumfeldern abzuleiten. Der hier vertretene Ansatz besitzt damit eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Synomorphie-Konzept bei R.G. Barker (1968) und P. Weichhart (2003 b), auf das gleich anschließend eingegangen wird. Monzels Arbeit macht plausibel, dass eine sozialgeographische Planungspraxis, „… die nicht primär ,Raum‘ plant, sondern sich explizit auf bestimmte Handlungstypen ausrichtet, an Differenzierung und Effizienz gewinnen kann“ (S. Monzel, 2007, S. 131). Ein erster Versuch einer ausdrücklichen Thematisierung der physisch-materiellen Welt als „Bauplatz“ und Gestaltungsobjekt alltäglicher Regionalisierungen wurde vom Autor unter der Bezeichnung „Action-Setting-Theorie“ vorgelegt (P. Weichhart, 1996 b, 2003 b und 2004 a). Allerdings liegen zu diesem Ansatz noch keine konkreten empirischen Analysen vor, sondern nur theoretisch begründete Vorschläge für eine Konzeptualisierung 316

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

und Operationalisierung, die auf einer handlungstheoretischen Neukonzeption der Behavior-Setting-Theorie von R.G. Barker basieren. Im Jahr 1947 gründete der Psychologe R.G. Barker die „Midwest Psychological Field Station“ in Oskaloosa, Kansas, um dort das langfristig angelegte Projekt „A Field Study of Children’s Behavior“ durchzuführen. Im Verlaufe dieser Forschungen entwickelte er mit seiner Arbeitsgruppe das Konzept der Behavior Settings. Es handelt sich dabei um ein hybrides Realitätsmodell, das im Sinne einer „systemaren Sozialgeschehens-Grundeinheit“ (G. Kaminski, 2000, S. 239) die materielle Welt, die Welt der subjektiven Bewusstseinszustände und die soziale Welt miteinander verknüpft. Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die Beobachtung, dass mit der Veränderung von Orten oder Schauplätzen kindlicher Aktivitäten substanzielle Änderungen der Handlungsmuster verbunden sind. Zwei Kinder an einem Schauplatz verhielten sich ähnlicher als ein Kind an zwei verschiedenen Standorten. Daraus leitete Barker (1968) die Hypothese ab, dass Schauplätze oder Orte das menschliche Tun beeinflussen. Durch diesen Einfluss wird die potenziell hohe Variabilität und Kontingenz (oder Unbestimmtheit) der Alltagswelt in der Realität konkreter Lebensvollzüge erheblich eingeengt und normiert. Individuen geraten in ihrem Tun immer wieder in den Bann bestimmter Kontextbedingungen. Ein solcher Kontext besteht aus raum-zeitlich fixierten sozialen Interaktionspartnern und spezifischen Dingkonstellationen und scheint das Tun der Individuen geradezu zu determinieren. Barker gliederte das alltägliche Tun von Individuen nach „Verhaltensepisoden“. Sie können wiederholt und bei verschiedenen Akteuren auftreten und werden „standing patterns of behavior“ genannt. Solche konstanten Verhaltensmuster sind an bestimmte Orte, Zeiten, Gegenstände und Interaktionspartner gebunden. Diese Verknüpfungen erweisen sich als überaus stabil: In Kaufhäusern werden zu bestimmten Zeiten Waren verkauft, in Kirchen Gottesdienste abgehalten, in Schulklassen wird unterrichtet. Dagegen kommt es extrem selten vor, dass in Warenhäusern Gottesdienste abgehalten und in Kirchen Waren verkauft werden. Derartige Zeit-Ort-Konstellationen, in denen konstante Verhaltensmuster mit spezifischen Akteuren eingebettet sind, werden von Barker als „Milieu“ bezeichnet. Zwischen den Verhaltensmustern und den Milieus besteht dabei in der Regel eine Art „Passung“ oder strukturelle Koppelung. Die Gesamtkonstellation aus interindividuell konstantem Verhaltensmuster und dazu passendem Milieu wird „Behavior-Milieu-Synomorph“ genannt. Solche Synomorphe oder Kombinationen zusammengehöriger Synomorphe spricht Barker als „Behavior Settings“ an. Synomorphie bedeutet dabei, dass zwischen den materiellen Gegebenheiten des Milieus und dem konkreten Tun der Akteure strukturelle Entsprechungen bestehen. Milieuelemente dienen als Mittel zur Durchführung der Aktivitäten, die Sachausstattung des Settings ermöglicht oder erleichtert den Ablauf des Verhaltensmusters. 317

Barkers Konzept der Behavior Settings

Verhaltensepisoden: „Standing Patterns of Behavior“

„Milieu“

Behavior Settings

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Penetrationszonen

Programme

Genotypen

Neukonzeption der Setting-Theorie

„Standing Patterns of Actions“

Einzelne Individuen partizipieren mit unterschiedlichen Handlungskapazitäten sowie unterschiedlichen Graden der Verantwortung oder Betroffenheit an einem Setting. Nach dem Grad dieser Involviertheit unterscheidet Barker sechs „Penetrationszonen“, die vom Status des bloßen Zusehers (Zone 1) bis zu „Joint Leaders“ (Zone 5) und „Single Leaders“ (Zone 6) reichen. Akteure der Zonen 5 und 6 haben dabei Lenkungs- und Koordinationskompetenzen. Das Geschehen in einem Setting wird durch Programme gesteuert. Sie beschreiben die Regeln, Abläufe, Rollenverteilungen,Verantwortlichkeiten und Interaktionsstrukturen in einem Setting. Diese Programme sind im Bewusstsein der beteiligten Akteure präsent, sie können auch kodifiziert sein und in Form schriftlicher „Regieanweisungen“ vorliegen. Jeder weiß, wie man sich in einem Seminar, bei einem Empfang, einer Vernissage, einer Vorstandssitzung etc. zu benehmen hat und welche Ereignisse oder Ablaufmuster dabei zu erwarten sind. Settings können aufgrund von Ähnlichkeiten zu Genotypen zusammengefasst werden: zwei Grundschulklassen mit unterschiedlichen Schülern und Lehrern, zwei Gottesdienste der gleichen Religionsgemeinschaft oder zwei Schuhgeschäfte. Sie haben jeweils das gleiche Programm und „funktionieren“ problemlos weiter, wenn man die Akteure der Penetrationszonen 5 und 6 wechselseitig austauscht. Und sie weisen natürlich funktional äquivalente Milieuelemente auf. Den „standing patterns of behavior“ in Seminaren (Einkaufszentren), die weltweit nach dem gleichen Muster (Programm) ablaufen, steht auf der Milieuseite die (ebenso weltweit) standardisierte materielle Ausstattung von Seminarräumen (Einkaufszentren) gegenüber. Die Setting-Theorie steht in der Tradition des Behaviorismus und stellt eine im Kern verhaltenswissenschaftliche Konzeption dar. Sie muss damit aus heutiger Sicht grundsätzlich obsolet erscheinen. Will man diese dennoch faszinierende Theorie im Rahmen einer handlungszentrierten Sozialgeographie einsetzen, wird es notwendig sein, sie tiefgreifend zu modifizieren (vgl. zum Folgenden P. Weichhart, 2003 b). Um die Setting-Theorie zu modernisieren und handlungstheoretisch umzuformulieren, ist es erforderlich, die Argumentationsrichtung der Primärtheorie gleichsam „umzudrehen“ oder auf den Kopf zu stellen: Ausgangspunkt einer handlungstheoretischen Neukonzeption sind dabei nicht die Orte, sondern die Subjekte, die im Vollzug bestimmter Handlungen bestimmte Orte dazu instrumentalisieren, unter Verwendung der dort vorfindbaren materiellen Gegebenheiten und Interaktionspartner bestimmte Intentionen zu verwirklichen. Dabei kann man auch in einer handlungstheoretischen Perspektive davon ausgehen, dass ein erheblicher Teil menschlichen Handelns als habitualisiertes oder gewohnheitsmäßiges Tun anzusehen ist. In Analogie zur Formulierung Barkers könnte man von „standing patterns of actions“ sprechen. Dazu sind die meisten Aktivitäten zu rechnen, die ein 318

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Individuum im alltäglichen Lebensvollzug und in Ausübung seiner sozialen Rollen unternimmt. Solche Handlungen leiten sich aus den Rollenbildern, Normen, Sitten, Gebräuchen und Konventionen des Kultur- und Sozialsystems ab. Sie führen insgesamt zu einer sehr erheblichen Normierung und Standardisierung des Alltags. Im Handeln setzen Akteure auch die Fähigkeit um, intendierte und nicht intendierte Veränderungen in der sozialen und der physisch-materiellen Welt zu bewirken. Damit kommt es, wie ausführlich besprochen wurde, zu einer Verschränkung und Verknüpfung subjektiver Bewusstseinszustände mit den Elementen der sozialen und der physisch-materiellen Welt. Eine Voraussetzung und Grundbedingung für Handlungsvollzüge ist die Körperlichkeit des Menschen. Sachstrukturen sind dabei bedeutsame Mittel und Medien des Handelns. Bei sehr vielen Handlungen muss auf materielle Dinge zurückgegriffen werden (Rohstoffe, Werkzeuge, Ablagemöglichkeiten, Baulichkeiten, Infrastruktureinrichtungen etc.), die räumlich ungleich verteilt und in unterschiedlichem Maße zugänglich sind.Viele von ihnen werden im Planungsprozess und in Verfahren der Raumordnung produziert und lokalisiert. Handeln bedeutet in sehr vielen Fällen Interagieren mit kopräsenten anderen Subjekten. Diese Interaktionen werden mithilfe materieller Dinge ermöglicht, erleichtert oder gesteuert.Verkaufslokale, Amtsstuben, Hörsäle, Werkstätten, Klassenzimmer, Einkaufszentren oder CBDs sind dafür anschauliche Beispiele. Es handelt sich hier um kulturspezifische standardisierte Konfigurationen materieller Gegebenheiten für die einfache und unkomplizierte Ermöglichung spezifischer Handlungen, welche die „Leichtigkeit des Seins“ der Alltagswelt mitbegründen. Solche standardisierten (kulturspezifischen) materiellen Sachkonfigurationen (Einrichtungsgegenstände, Räumlichkeiten, Gebäude, Siedlungsstrukturen), die als Medien von Handlungsvollzügen dienen, werden in Anlehnung an Barker als Milieu bezeichnet. Die strukturelle Koppelung oder „Passung“ zwischen Milieu und Elementen des Handlungsvollzugs nennen wir analog zu Barker Synomorphie. Synomorphie sei dabei nicht als Attribut des Milieus angesehen, sondern wird als Ergebnis von Kolonisations- und Kultivierungsaktivitäten interpretiert. Durch diese werden materielle Gegebenheiten über Aneignungs- und Umgestaltungsprozesse, nämlich durch den Einsatz von Arbeit, Energie und Material, gezielt und aktiv an die Erfordernisse spezifischer Handlungsvollzüge angepasst. Genau hier lässt sich der entscheidende Unterschied der Neukonzeption zur Primärtheorie Barkers erkennen: Nicht die Kontextbedingungen determinieren das menschliche Tun, diese wurden vielmehr eigens zu dem Zweck geschaffen, standardisierte Handlungsvollzüge zu ermöglichen, zu unterstützen oder zu optimieren. Der zentrale Punkt ist die damit postulierte Umkehr der Kausalwirkung: Die Funktionalität und die Wirkungsweise des 319

Milieu und Synomorphie

Action Settings

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Abbildung 75: Action Settings Quelle: P. Weichhart, 2004 a, Abb. 1, S. 47

DUALITÄT DER STRUKTUR Einbindung der Akteure und ihrer subjektiven Intentionalität in gesellschaftliche Zusammenhänge.

Akteure

„Transaktionistischer“ (hybrider) Zusammenhang zwischen materiellen, mentalen und sozialen Phänomenen.

Standardisierte Handlungsroutinen, Rollenbilder, Lebensstile etc., Verknüpfung der Intentionalität von EinzelakProgramm teuren.

Materielle Strukturen, Milieu

Synchronisation und Synchorisation der Akteure, Acteme, und Mittel; „Synomorphie“.

Kolonisierung und Kultivation

Action Settings = hybride Entitäten

Milieus ist das Ergebnis von Kolonisierungsanstrengungen, mit deren Hilfe die betreffenden Bereiche und Elemente der materiellen Welt an die Erfordernisse der Sinnstrukturen der sozialen Welt angepasst werden. Um auch terminologisch zum Ausdruck zu bringen, dass die wirksamen Kausalzusammenhänge nicht von den Milieuelementen, sondern von den Akteuren und ihren Intentionalitäten ausgehen, wird als Bezeichnung für den Gesamtzusammenhang der Begriff „Action Setting“ eingeführt. Action Settings (Abb. 75) sind hybride Entitäten. Ihre Elemente (Akteure – Milieu – Programm) können nur analytisch differenziert werden. Als „Gegenstände“ der Realität existieren sie ausschließlich im aktuellen Handlungsvollzug. Deshalb haben Settings nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Grenzen. Ein Kaufhaus, eine Schulklasse, eine Arztpraxis existieren als Setting ausschließlich während der Dauer der vom Programm vorgegebenen Handlungsvollzüge. Man darf Settings demnach nicht mit dem Milieu verwechseln und mit den materiellen Strukturen gleichsetzen. Nicht die Bühne, nicht die Schauspieler, nicht das Stück allein, sondern die konkrete Aufführung einer bestimmten Inszenierung konstituiert das Setting. Action Settings stellen also einen „transaktionistischen“ oder hybriden Zusammenhang zwischen materiellen, mentalen und sozialen Phänomenen dar. Durch Action Settings werden einzelne Akteure (Lehrer, Schüler, Käufer,Verkäufer etc.) und ihre subjektiven Intentionalitäten in gesellschaftliche Zusammenhänge eingebunden. Die Programme vermitteln dabei standardisierte Handlungsroutinen, Rollenbilder und Lebensstile, vor deren Hintergrund die Intentionalität der Einzelakteure miteinander in Beziehung gesetzt wird. Dabei findet gleichsam eine Synchronisation und Synchorisation der Akteure statt. Je besser die einzelnen Handlungseinheiten (Acteme) 320

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

und die zu ihrer Verwirklichung erforderlichen materiellen Mittel und Verfahren aufeinander bezogen sind, desto ausgeprägter ist die Synomorphie. Die materiellen Gegebenheiten des Milieus werden durch Kultivierung und Kolonisierung ständig an die Erfordernisse der Handlungsvollzüge angepasst. Indem die Akteure zur Umsetzung ihrer Intentionen die Vorgaben der vom Sozialsystem definierten Programme verwirklichen, realisieren sie jene „Dualität der Struktur“, welche in der Strukturationstheorie (A. Giddens, 1984) den Gegensatz zwischen Mikro- und Makrosoziologie aufhebt. Die in Handlungsvollzügen produzierten Milieus – die Artefaktestruktur der „Kulturlandschaft“ – sind somit das im Handeln ständig aktualisierte und angepasste materielle Ergebnis alltäglicher Regionalisierungen, welche für die Subjekte umgekehrt als Ressourcen oder Constraints neuer Handlungsvollzüge wirksam werden. Einschränkend ist allerdings festzuhalten, dass die Setting-Theorie nur solche Handlungsabläufe modellieren kann, bei denen die Körperlichkeit der Akteure und die Kopräsenz der Interaktionspartner eine Rolle spielt. Für Handlungen, die im Kontext spätmoderner „Entankerungsprozesse“ zu sehen sind, bietet sie keine oder nur begrenzte Analyse- und Erklärungsmöglichkeiten. Auf der anderen Seite ist anzumerken, dass Settings in vielen Fällen nur wenig oder gar keine Spielräume lassen, Handlungsabläufe auf die konstitutive Leistung eigener Intentionalität zu beziehen. Bei solchen „Gewalt-Settings“ liegen die Definitionsmacht und die Synomorphien ausschließlich im sozialen System oder bei besonders mächtigen Einzelakteuren (totalitäre Institutionen, Gefängnis, Absperrungen etc.). Für die Analyse von Siedlungssystemen ist die Frage von Bedeutung, ob die Setting-Theorie auf höhere Maßstabsebenen übertragen werden kann. Das Grundkonzept geht ja gleichsam von den kleinsten ökologischen Einheiten des Zusammenhangs von Sach- und Sozialstrukturen aus und operiert auf einer Mikro-Ebene menschlicher Handlungsabläufe. In empirischen Projekten muss deshalb überlegt werden, ob und wie sich die Zusammenhänge dieser Mikrostrukturen und ihre Kontextualisierung auch in größeren Siedlungen oder gar Regionen darstellen lassen. Ein weiteres Problem ist die Frage bewusster Fehldeutungen. Settings können von den beteiligten Akteuren (oder einigen von ihnen) auch absichtsvoll fehlgedeutet und entgegen dem „eingebauten“ Sinn des Programms verwendet werden. Wie gehen soziale Systeme und betroffene Einzelakteure mit solchen Fehldeutungen um? Konkrete empirische Analysen und Projekte wurden bisher jedoch noch nicht vorgelegt. Allererste und noch völlig unzulängliche Ansätze finden sich in Kapitel 12 bei P. Weichhart, C. Weiske und B. Werlen, 2006, sowie in der unveröffentlichten Diplomarbeit von E. Hackl-Sengstschmid (2007). Der Autor ist aber sehr zuversichtlich, dass sich dieser Ansatz weiterentwickeln und für empirische Analysen operationalisieren lässt.

321

Einschränkungen der Setting-Theorie

Anwendung der Setting-Theorie auf höheren Maßstabsebenen?

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Zwischenresümee Die handlungszentrierte Sozialgeographie erscheint als ein überaus ambitioniertes Projekt, dessen Grundkonzeption dem handlungstheoretisch orientierten Mainstream der gegenwärtigen Sozialwissenschaften entspricht. Mit dem Œuvre von Benno Werlen wurde eine umfassende theoretische Begründung dieser Entwicklungslinie der Sozialgeographie vorgelegt, die mit sehr hohem analytischen und konzeptionellen Aufwand bemüht ist, eine ausführliche und detailreich ausgearbeitete Begründung, eine systematische und umfassende Terminologie sowie Vorschläge und Anregungen für eine empirische Umsetzung zu bieten. Die bisher vorgelegten Ansätze einer Operationalisierung durch empirisch ausgerichtete Anwendungs- oder Umsetzungsbeispiele – die allerdings keineswegs als repräsentativ für das Gesamtpotenzial dieser Arbeitsrichtung angesehen werden dürfen – vermitteln jedoch den Eindruck, dass der sehr umfassende Erklärungsanspruch der handlungszentrierten Sozialgeographie noch nicht „flächendeckend“ eingelöst werden konnte. Durch die in den empirischen Arbeiten erkennbare Konzentration auf den Bereich der signifikativen und informativen Regionalisierungen scheint die physisch-materielle Welt als „Bauplatz“ alltäglicher Regionalisierungen noch nicht wirklich in das Blickfeld der Vertreter dieser Arbeitsrichtung geraten zu sein. Der Bereich der produktiv-konsumtiven Regionalisierungen und seine massiven Auswirkungen auf die Artefakte der Siedlungsstrukturen, Produktions- und Konsumstandorte wurden lange Zeit vernachlässigt. In der Zwischenzeit wird diese Thematik sehr überzeugend von der relationalen Wirtschaftsgeographie behandelt (vgl. H. Bathelt und J. Glückler, 2012). Es fällt auch auf, dass in den bislang vorgelegten empirischen Arbeiten den handelnden Subjekten wesentlich weniger Aufmerksamkeit geschenkt wurde, als dies aufgrund der theoretischen Überlegungen zu erwarten war. Kollektive Akteure (BLICK, MDR) und handlungstypologische Zugänge finden ausdrücklich Berücksichtigung. Durch die in mehreren Arbeiten dominante methodische Ausrichtung an der Sprach- und Argumentationsanalyse sowie an der Diskurstheorie wird eine deutliche Konvergenz zur „Neuen Kulturgeographie“ (vgl. Kapitel 11) erkennbar.

322

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

10.2.4. Raum6S – der sozial konstituierte und konstruierte Raum Die Darstellung der handlungszentrierten Entwicklungslinie der Sozialgeographie hat deutlich gemacht, dass wir unser Inventar von Raumkonzepten – wie in Kapitel 5.2 bereits angekündigt – noch um eine zusätzliche und besonders wichtige Bedeutungsvariante von „Raum“ erweitern müssen. Es handelt sich um den sozial konstituierten und konstruierten Raum6S.

Konstituierung durch Handlungspraxis

Aus unseren konzeptionellen Überlegungen zu den Handlungstheorien und der knappen Vorstellung konkreter empirischer Untersuchungen im Rahmen der handlungszentrierten Sozialgeographie können wir ableiten, dass „Raum“ und „Räumlichkeit“ in konkreten Handlungsvollzügen produziert und „gemacht“ werden. Die von Werlen und seinen Schülern unterschiedenen drei Formen der alltäglichen Regionalisierungen „produzieren“ auf unterschiedliche Weise „räumliche Entitäten“, die einerseits als sprachlich konstituierte kognitive Konstrukte, andererseits als durch die soziale und ökonomische Praxis formierte Konfigurationen der physisch-materiellen Welt in Erscheinung treten. Diese verschiedenen Varianten des Raumes6S sind ihrerseits wiederum als Ressourcen und/oder Constraints von Handlungsvollzügen wirksam und ermöglichen oder begrenzen die weitere sozioökonomische Praxis. Der Raum6S (Abb. 76) wird also durch die Handlungspraxis konstituiert und stellt in mehrfacher Hinsicht ein soziales Konstrukt dar. Der dahinterstehende Konstruktionsprozess der alltäglichen Regionalisierungen verweist dabei in der Regel auf einen Raum1 und schreibt diesem im Rahmen der gesellschaftlichen Sprachpraxis ganz bestimmte Attribute zu, die somit als soziale Stereotype gleichsam verortet werden. Zwischen dem sozial konstruierten Raum6S und dem erlebten Raum1e können (wie in Kapitel 5.2 bereits angedeutet wurde) wechselseitige Zusammenhänge bestehen. Häufig steht hinter dem sozial konstruierten Raum eine bestimmte sprachliche Praxis, durch die soziale Zusammenhänge und Prozesse gleichsam in eine „Raumsprache“ übersetzt und damit (zum Teil erheblich) vereinfacht werden. Diese Variante von Raum6S, die etwa in den Arbeiten von A. Schlottmann (2005) und T. Felgenhauer (2007 a) behandelt wird, ist das Produkt der informativ-signifikativen Regionalisierungen und weist meist keine Bezugnahme auf den Raum4 auf. Häufig bezieht sich der sozial konstruierte Raum auch dergestalt auf die physisch-materielle Welt, dass diese aktiv in den Konstruktionsprozess einbezogen wird. Im Falle der normativ-politischen Regionalisierungen ge323

Einbeziehung der materiellen Welt in den Konstruktionsprozess

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Abbildung 76: Raum6S

Materialisierungen des Raumes6S

schieht dies etwa dadurch, dass in bestimmten Territorien (Raum1-Elemente, die politische Zuständigkeitsbereiche und Bezugsgrößen des Verwaltungshandelns darstellen) bestimmte Normen Gültigkeit besitzen, welche die Praxis der produktiv-konsumtiven Regionalisierung beeinflussen oder in bestimmte Bahnen lenken. Das Salzburger Raumordnungsgesetz 1977 hatte etwa mit seinem § 19/3 (Ausnahmegenehmigung für das Bauen im Grünland) eine für den Bereich des gesamten Bundeslandes gültige Norm vorgegeben, welche die Bautätigkeit und die Siedlungsstruktur in diesem Territorium maßgeblich beeinflusste und jene Zersiedelung ermöglichte, die heute als schwerwiegende Restriktion der Planungsoptionen wirksam ist. Eine zweite Variante der Bezugnahme von Raum6S auf die physisch-materielle Welt ergibt sich im Rahmen der produktiv-konsumtiven Regionalisierungen. Hier werden spezifische soziale Zwecksetzungen, die als Intentionalitäten individueller und/oder kollektiver Akteure fassbar sind, auch durch einen aktiven Umbau oder eine Neuformierung der physisch-materiellen Welt in einem bestimmten Raum1 unterstützt oder ermöglicht. Inszenierte Erlebniswelten im Tourismus, die Konsumtempel der Einkaufszentren, aber auch durchgestylte Innenstädte oder Wohnquartiere sind dafür besonders anschauliche Beispiele. Dann wird der Raum6S durch einen spezifischen Raum4 gleichsam materialisiert. Deshalb kann man auch die Milieu-Elemente von Action Settings als Raum4-Entsprechungen eines Raumes6S ansehen. Auch die „locales“ bei A. Giddens, die „Schauplätze“ bei B. Werlen und die „vorderseitigen“ oder „rückseitigen“ Regionen bei E. Goffman sind als sozial konstruierte („regionalisierte“) Gebilde der phy324

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

sisch-materiellen Welt Raum4-Projektionen des Raumes6S. Die Raum4-Entsprechung kommt bei dieser Variante von Raum6S durch verschiedene Kolonisierungs-, Sozialisierungs- oder Kultivationsprozesse zustande, mit denen die Struktur der physisch-materiellen Welt gleichsam „umgebaut“ und an die sozialen Zwecksetzungen angepasst wird. Man denke an unser Hörsaalbeispiel in Kapitel 5. Betrachtet man einen solchen Hörsaal als Action Setting, dann stellt er einen Raum6S auf einer „mikrogeographischen“ Maßstabsebene dar. Dieser Raum6S ist durch das ablaufende Programm (Frontalunterricht einer Vorlesung), die Akteure (Studenten und Dozent) sowie ein spezifisches Milieu (eine für den Frontalunterricht angepasste spezifische Räumlichkeit der Einrichtungsgegenstände) gekennzeichnet. Die spezifische Relationalität der Einrichtungsgegenstände (also das Milieu qua Anordnung der Tische und Stühle in Relation zu Tafel,Vortragspult und Projektionsfläche) kann als Raum4-Entsprechung dieses Raumes6S angesehen werden. Als Raum6S existiert dieses Setting ausschließlich für die Zeitdauer einer Lehrveranstaltung. Die Raum4-Konfiguration der Einrichtungsgegenstände bleibt hingegen auch in der vorlesungsfreien Zeit bestehen.Wenn in diesem Hörsaal nun aber ein anderes Programm ablaufen soll, nämlich ein Seminar oder eine Institutsbesprechung, dann müsste eine „alltägliche Regionalisierung“ durchgeführt werden, durch die zur Erreichung einer optimalen Synomorphie die Raum4-Konfiguration an das veränderte Programm angepasst werden kann. Die Milieu-Komponente des Settings müsste also so umgebaut werden, dass eine Face-to-Face-Interaktion zwischen allen Akteuren möglich wird. Dies ließe sich ganz einfach dadurch bewerkstelligen, dass die Tische zu einem Oval oder einer U-Form umgruppiert und die Stühle so angeordnet werden, dass die Akteure einander ansehen können. Damit entsteht im gleichen Hörsaal ein anderer Raum6S, dem ein anderer Raum4 als materielles Korrelat der beabsichtigten sozialen Programmsetzung entspricht. Eine Operationalisierung des Raum6S-Konzepts in empirischen Untersuchungen erfordert einen relativ hohen konzeptionellen und erhebungstechnischen Aufwand. Der Raum6S ist kein substanzialistisches Konzept. Er ist in der Variante von Action Settings ontologisch gesehen ein hybrider „Gegenstand“. Er „besteht“ nämlich nicht nur aus „Dingen“ und Relationen, sondern gleichzeitig auch aus Akteuren und einer sozialen Praxis („Programme“). Deshalb kann man eine solche Variante des Raumes6S auch niemals vollständig kartieren. In die Karte eintragen („erdoberflächlich verorten“) lassen sich nämlich nur seine physisch-materiellen Komponenten (die Milieu-Elemente). Und dabei geht es letztlich gar nicht um die (kartierbaren) Dinge und Körper für sich, sondern primär um die zwischen ihnen bestehende Relationalität (qua Raum4-Projektion). Diese Relationalität, das aus den materiellen Lagebeziehungen resultierende Spannungsgefüge, hängt funktional mit der sozialen Praxis und den Akteuren zusammen. Deshalb ist es auch möglich, dass ein bestimmter Raum6S nur über kürzere 325

Materialisierungen des Raumes6S: Beispiel Hörsaal

Operationalisierung des Raumes6S in empirischen Untersuchungen

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Umkehrung des klassischen substanzialistischen Raumverständnisses

Zeitstrecken existiert (man denke etwa an ein Fußballspiel) oder dass am gleichen Ort im Zeitverlauf unterschiedliche Raum6S-Einheiten auftreten können. Im Hinblick auf die ontologischen Überlegungen in Abschnitt 5.1 liegt der entscheidende Vorzug des Raum6S-Konzepts darin, dass hier die grundlegende Denkfigur des klassischen substanzialistischen Raumverständnisses genau umgekehrt wird. Es wird nicht mehr das Soziale oder das Psychische als gleichsam wesensinhärente Eigenschaft der erdräumlich lokalisierbaren materiellen Welt dargestellt und projektiv verdinglicht. Es ist umgekehrt vielmehr so, dass mit dem Raum6S bestimmte Aspekte oder Ausschnitte der erdräumlich lokalisierbaren Welt (qua Raum1 und/oder Raum4) in spezifischen Handlungskontexten über subjektive und objektive Sinnzuschreibungen und die soziale Praxis als wesensinhärente Elemente des Sozialen gedeutet werden können. Damit sollte dieses Raumkonzept auch gegen alle Möglichkeiten und Gefahren einer deterministischen Interpretation gefeit sein. Exkurs: Wie werden Räume konstruiert? In Lehrveranstaltungen und Diskussionen hat der Autor immer wieder den Eindruck gewonnen, dass viele Studierende (aber auch nicht wenige Fachkollegen) mit dem Begriff „Raumkonstruktion“ manchmal Schwierigkeiten haben und nicht wirklich nachvollziehen können, was damit eigentlich gemeint ist. Deshalb soll im Folgenden die Grundstruktur von Raumkonstruktionen an konkreten Beispielen erörtert werden. Ich verwende dazu längere Ausschnitte aus einer früheren Veröffentlichung (P. Weichhart, 2010). Was genau tun wir eigentlich, wenn wir „Räume“ konstruieren? Wer konstruiert? Was ist der Sinn, der „Nutzen“ einer solchen Operation? Warum machen wir das? Ist das Konstruieren von Räumen in irgendeiner Weise „neu“ beziehungsweise nur für Vertreter der handlungszentrierten Sozialgeographie und der Neuen Kulturgeographie oder für Kulturwissenschaftler charakteristisch und ein aktuelles Forschungsthema? Welche Formen und Komplexitätsstufen von Raumkonstruktionen können wir beobachten? Das „Konstruieren von Räumen“ ist letztlich ein trivialer und selbstverständlicher Standardprozess unserer alltagsweltlichen Praxis. Es handelt sich um eine Grundfunktion unseres kognitiven Apparates, die im Sprachhandeln immer wieder aufs Neue produziert wird. Überdies müssen wir festhalten, dass das „Konstruieren von

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10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Räumen“ eine charakteristische Prozedur geographischer Forschungspraxis darstellt. Geographen haben nie etwas anderes gemacht, als Räume zu konstruieren – allerdings haben sie dies über lange Strecken ihrer Fachgeschichte nicht bemerkt und die eigenen Konstruktionen für die „Wirklichkeit“ gehalten. Als Musterbeispiel für eine alltagsweltliche Raumkonstruktion möchte ich eine kleine Geschichte aus meiner Kindheit erzählen. Mitte der 1950er-Jahre – ich war damals etwa acht Jahre alt – übersiedelte ich mit meinen Eltern in eine österreichische Landeshauptstadt. In unmittelbarer Nähe des neu errichteten Wohnblocks, in den wir eingezogen waren, befand sich eine weitläufige Baustelle, auf der gerade ein neues Amtsgebäude errichtet wurde (vgl. Abb. 77). Das Gebäude befand sich im Rohbau, und aus verschiedenen Gründen ging der Innenausbau nur langsam voran. Hinter dem Gebäude diente ein relativ großer Teil der Parzelle als Lager für Bauschutt und Baumaterialien. Außerdem befanden sich dort noch Reste von Bombenruinen, die noch nicht vollständig abgerissen waren. Auf diesem rückwärtigen Teil des Grundstückes sollten in einer späteren Bauphase Garagen und Werkstätten errichtet werden. Natürlich war die Baustelle eingezäunt, und es gab Schilder mit der Warnung „Betreten verboten – Eltern haften für ihre Kinder“. N Baustelle, Mitte der 1950er Jahre

Wohnblock

Bauschutt

„Die Wüste“

Kies etc. Bauschutt

„Kaplanhof-Wüste“ Wohnblock

Holzreste etc.

„unsere Wüste“ „Bunker“

„Mein“ Wohnblock

Abbildung 77: Die „Wüste“ Quelle: P. Weichhart, 2010, Abb. 1, S. 23

Wohnblock

Für die (zahlreichen) Kinder, die in den Wohnblocks in der Umgebung lebten, besaß die Baustelle aber natürlich eine geradezu magische Anziehungskraft. Die Warnschilder wurden ignoriert, der Bauzaun wies Lücken auf und konnte an vielen Stellen problemlos überwunden werden. Für uns Kinder war die Rückseite der Bau-

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stelle ein geradezu idealer Abenteuerspielplatz, den wir rasch eroberten und uns aneigneten.Wir nannten ihn „die Wüste“. (Warum, kann ich heute nicht mehr sagen.) Von den Arbeitern wurden wir anfangs zwar mehrfach weggeschickt, nach kurzer Zeit wurde unsere Anwesenheit aber toleriert. Der von uns Kindern als Spielplatz genutzte Teil der Baustelle wies eine innere Differenzierung auf. Es gab mehrere Bereiche, in denen Bauschutt gelagert war, an anderen Stellen fanden sich Holzreste, Bretter und Balken, es gab Bereiche, wo Kies, Sand und Ziegel gelagert wurden. Im Gebiet der noch nicht vollständig abgerissenen Bombenruinen (wir nannten es „Bunker“) fanden sich begehbare Reste von Kellerräumen, die wir mit den im Gelände verfügbaren Materialien gleichsam ausbauen oder gestalten konnten und als „Lager“ nutzten. Die Aneignung des Geländes durch uns Kinder als Abenteuerspielplatz führte sehr rasch zu einer Art „territorialen“ Differenzierung. Der Südteil der Baustelle wurde von den Kindern eines benachbarten Wohnblocks beansprucht, das war die „KaplanhofWüste“. Der Nordteil wurde von den Kindern „meines“ Wohnblocks okkupiert, das war „unsere Wüste“. Es gab zwar gleichsam wechselseitige Durchgangs-, Besuchs- und Nutzungsrechte, diese waren aber durch geradezu ritualisierte Verfahren der Aushandlung und wechselseitigen Absprache geregelt. Unsere „Wüste“ kann als Musterbeispiel einer alltagsweltlichen Raumkonstruktion gelten. Ein bestimmter, mehr oder weniger scharf abgrenzbarer Ausschnitt der Erdoberfläche wird in einer bestimmten historischen Situation von einer bestimmten Gruppe mit einem Namen (Toponym) gekennzeichnet, auf verschiedenartige Weise „angeeignet“, als Handlungsbühne und Ressourcenquelle genutzt und als materielle Extension von Ich- und Gruppenidentität wirksam. Dem so konstituierten Raum werden Attribute und Werte zugeschrieben, er wird in einen Sinn- und Bedeutungskontext eingeordnet. Elemente und Dimensionen alltagsweltlicher Raumkonstruktionen Wir können an diesem Beispiel einige Elemente und Dimensionen alltagsweltlicher Raumkonstruktionen erkennen. Ein besonders wichtiges Element ist zweifellos die Namensgebung. Der Name bezieht sich dabei auf eine meist eher unscharfe „Flächenadresse“ (Raum1, Briefträgerraum). Wenn ich sagte: „Ich spiele jetzt in der 328

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Wüste“, dann wusste meine Mutter, wo ich zu finden bin. Raumkonstruktionen weisen in der Regel einen Gruppen- und Kulturbezug auf. „Wüste“ war für eine bestimmte Gruppe von Kindern (eines bestimmten Alters) in der engeren Nachbarschaft ein geläufiges und wichtiges Raumkonzept, im Stadtplan kam die Bezeichnung nicht vor. Und auch Nachbarn, die keine Kinder im entsprechenden Alter hatten, konnten mit dem Namen nichts anfangen. Als eigenständiger „Raum“ wurde die „Wüste“ von bestimmten „Konstrukteuren“ gleichsam „geschaffen“. Es waren bestimmte Akteure, Subjekte, die in Handlungsvollzügen und Aneignungsprozessen ein bestimmtes Gebiet der Erdoberfläche benannt und damit von anderen Bereichen abgegrenzt und unterschieden hatten. In Raumkonstruktionen werden oft auch territoriale Ansprüche erkennbar. Um Material aus der „Kaplanhof-Wüste“ nutzen zu können, benötigten wir gleichsam die Erlaubnis der Kaplanhofkinder, die in diesem Bereich quasi die „Territorialherren“ waren und Besitzansprüche geltend machten. Raumkonstruktionen sind in der Regel in eine bestimmte Zeitstruktur eingebunden und haben ihre Geschichte.Während der Unterrichtszeit war die „Wüste“ gleichsam entvölkert; nach der Schule, am Wochenende und in den Ferien wurde sie von uns intensiv genutzt. Das Beispiel zeigt, dass Raumkonstruktionen nicht ausschließlich auf designative und informative Zuschreibungen beschränkt sind, sondern vielfach auch materielle Aspekte aufweisen. Die verschiedenen Teilgebiete der „Wüste“ waren für uns Ressourcenquellen, denen wir Baumaterial, aber auch Äste und Stauden für die Anfertigung von Pfeilen und Speeren etc. entnehmen konnten. Die „Wüste“ als Abenteuerspielplatz war für uns ein Gemenge von Action Settings (vgl. Weichhart, 2003 b), bestehend aus Akteuren, Milieu und Programmen. In den „Bunkern“ wurde das Programm „Lagerleben“ absolviert; andere Bereiche boten geradezu ideale Milieustrukturen, um das Programm „Räuber und Gendarm“ oder „Indianerspielen“ zu verwirklichen. Das Beispiel macht auch deutlich, dass gerade in Raumkonstruktionen eine ausdrückliche Verschränkung von kognitiven Operationen, Sinn- und Bedeutungszuschreibungen sowie Elementen der physisch-materiellen Welt zum Ausdruck kommt. Und man erkennt auch, dass die Beschreibung solcher Raumkonstruktionen einen Beobachter erfordert, der die Rekonstruktion oder Dekonstruktion vornimmt und die dahinterstehenden Prozesse aufdeckt. Würde ich mich nicht daran erinnern und den Lesern die Geschichte der „Wüste“ erzählen, wäre sie für immer aus der „Realität“ ver-

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schwunden. Denn die „Wüste“ hat nur für eine Zeitspanne von knapp zwei Jahren „existiert“, dann kamen die Bulldozer, räumten auf, und mit dem nächsten Bauabschnitt war sie endgültig verschwunden. Für uns Kinder war die „Wüste“ damals zweifellos ein bedeutsames Element unserer lebensweltlichen Realität. Sie war „wirklich“, sie war ein signifikanter Ort unserer personalen Existenz. Auch für unsere Eltern war die „Wüste“ ein realer Raum, dem ebenfalls Attribute und Werte zugeschrieben wurden. Allerdings war die Attribuierung und Wertzuschreibung meiner Eltern eher negativ besetzt: Verletzungsgefahr, fehlende Kontrolle, Weitläufigkeit („Ich kann euch da nicht sehen“), Sorge um den „richtigen Umgang“ („Ich möchte nicht, dass du dauernd mit diesen Kaplanhofkindern spielst!“). Natürlich hatte meine Mutter völlig recht. Abschürfungen, eingetretene Nägel und blaue Flecken waren nicht so selten. „Warum spielst du ständig in der Wüste, wir haben im Hof doch so einen schönen Spielplatz!“ Meine verzweifelte Replik: „Und wie, bitte schön, soll ich in der Sandkiste Indianer spielen? Da kann man sich doch nicht anschleichen!“ war für meine Mutter kein wirklich überzeugendes Argument.Auch für die Bauarbeiter war die „Wüste“ real. Allerdings nicht als „Wüste“, sondern als Rückseite einer großen Baustelle, die als Deponie und Lager genutzt wurde und damit als ein funktionales Element des aktuellen Arbeitsplatzes anzusehen war. Aus den hier skizzierten Zusammenhängen lassen sich zwei Thesen ableiten. (1) Im gleichen Gebiet („Erdraumausschnitt“) können unterschiedliche „Räume“ existieren, wobei bestimmte „Räume“ von unterschiedlichen Gruppen (Nutzern) unterschiedlich attribuiert und bewertet werden können. Entscheidend für die Konstitution solcher Räume ist der sich in Kommunikations- und Handlungsakten vollziehende Prozess der Konstruktion, der besonders augenscheinlich in der Namensgebung zum Ausdruck kommt. (2) „Räume“ (als Ergebnisse derartiger Konstruktionsprozesse) sind keine Sonderfälle oder auffällige Besonderheiten, sondern (wie andere alltagsweltlich relevante „Sachen“ auch) geradezu triviale Teilelemente der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit. Die „Wirklichkeit“ der Räume Bei der Konstruktion von Elementen der Alltagswelt spielt offensichtlich die Sprache eine wichtige Rolle. Aus sprachwissenschaft-

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licher Sicht handelt es sich eigentlich um eine völlig banale Selbstverständlichkeit: „Von welcher Wirklichkeit reden wir, wenn wir sagen, dass sie durch sprachliche Handlungen konstruiert wird? … man soll sich … sprachliche Konstruktion nicht so vorstellen, als würden Häuser gebaut, indem jemand spricht. Die materielle Wirklichkeit, zu der diese Häuser gehören, wird von der Sprache nicht direkt berührt. Aber diese Steingebilde werden als Häuser erst wirklich, sobald eine begriffliche Vorstellung von „Haus“ vorhanden ist. Erst dann lässt sich über diese „Häuser“ sprechen, können weitere „Häuser“ … geplant und schließlich gebaut werden. Für das soziale Leben ist also nur relevant, was begrifflich gewusst und worüber kommuniziert werden kann. … Für … weniger konkrete Dinge, wie Nationen oder Regionen, wurde bereits die Frage aufgeworfen, wie über sie gesprochen werden kann, als wären sie wirklich, obwohl ihnen doch keine eindeutige materielle Realität zugrunde liegt. … solche Dinge [sind] deshalb wirklich …, weil über sie gesprochen wird. Ihre Wirklichkeit findet sich also allein in der Sprache. … Ob das, worüber gesprochen wird, im alltagssprachlichen Sinn „wirklich“ (meist verstanden als: physikalisch nachweisbar) ist, spielt für die Kommunikation keine Rolle. Auch über Geister lässt sich schließlich reden“ (M. Burghardt, 2008, S. 31; Hervorhebungen P. W.). Räume sind also „wirklich“, weil über sie gesprochen werden kann. Ihre im Sprechen hergestellte Wirklichkeit setzt voraus, dass das, was im Sprechen und in der Kommunikation gemeint ist, auch als kognitives Konstrukt im Bewusstseinsstrom der Sprecher verfügbar ist. Mit dieser sprachlichen Dimension ist allerdings nur ein Teilaspekt des Konstruktionsprozesses angesprochen. Denn das sprachliche Konstrukt „Wüste“ bezog sich auf einen bestimmten Ausschnitt der physisch-materiellen Welt. Auch das materielle Substrat der „Wüste“ war in dem Sinne „konstruiert“, dass es im Vollzug unzähliger Handlungsakte verändert und „umgebaut“ wurde: durch das Bauprojekt, den Teilabriss der Bombenruinen, Schutt- und Materialablagerung, den (bescheidenen) Umbau durch uns Kinder etc. Es handelt sich dabei um intendierte und nicht intendierte Folgen von Handlungsakten unterschiedlichster Akteure in der physisch-materiellen Welt. Räume sind also auch deshalb „wirklich“, weil sie über die im jeweiligen Gebiet vorfindbaren materiellen Gegebenheiten (Dinge) und deren Lagerelationen distinkte Elemente der physisch-materiellen Welt darstellen. Diese materiellen Strukturen (Dingkonfigurationen) sind einerseits die Voraussetzung, andererseits das Produkt

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von Konstruktionsleistungen. Sie sind Resultate des alltäglichen „Geographie- Machens“ im Sinne von Benno Werlen (z.B. 1997). Unser Beispiel der „Wüste“ hat gezeigt, dass diese beiden Aspekte der Raumkonstruktion eng miteinander verflochten und wechselseitig voneinander abhängig sind. Menschliche Involviertheit in Raumkonstruktionen hat deshalb meist (wenngleich nicht notwendigerweise) zwei Seiten: einen Sinn- und Bedeutungskontext (die „kulturelle Seite“, an der wir mit unseren Bewusstseinsströmen teilhaben) sowie einen materiellen Kontext, in den wir (zwangsläufig) in unserer Körperlichkeit eingebunden sind. Allerdings tendieren wir in der Forschungspraxis dazu, entweder die eine oder die andere Seite des Konstruktionsprozesses in den Vordergrund zu stellen und die Wechselbeziehungen zwischen beiden aus den Augen zu verlieren Die Beobachtung der Beobachtungspraxis Unsere Geschichte von der „Wüste“ bezog sich auf Handlungspraktiken der Alltagswelt. Um dieses Beispiel aber formulieren zu können, musste der Autor eine ganz bestimmte Beobachtungsweise verwenden, die schon durch die eingesetzten Analysekategorien dezidiert auf eine bestimmte konzeptionelle und methodische Grundhaltung bzw. eine spezifische erkenntnistheoretische Positionierung verweist. Für einen Vertreter der „klassischen“ Geographie der Landschaftsund Länderkunde oder für Vertreter des „raumwissenschaftlichen Ansatzes“ wäre meine Darstellung der „Wüste“ einfach nicht nachvollziehbar. Damit werden unsere Überlegungen zum Thema „Raumkonstruktionen“ aber ein weiteres Stück komplizierter: Wir müssen offensichtlich auch die Beobachtungspraxis berücksichtigen, mit deren Hilfe Raumkonstruktionen erforscht werden. Worin unterscheidet sich nun die Beobachtungspraxis der einzelnen Paradigmen, auf deren Grundlage die verschiedenen Entwicklungslinien der Sozialgeographie entstanden sind? Bei der Beantwortung dieser Frage wird sich zeigen, dass nun noch eine weitere Komplexitätsdimension zu berücksichtigen ist, denn in einigen Paradigmen werden Raumkonstruktionen „höherer Ordnung“ produziert. In manchen dieser Paradigmen werden alltagsweltliche (oder fachspezifische) Raumkonstruktionen rekonstruiert, in anderen werden in einer Art aufklärerisch-emanzipatorischen Attitüde oder Ideologiekritik Raumkonstruktionen dekonstruiert, aufgedeckt oder gleichsam „entlarvt“.

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10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

In der „klassischen“ Geographie der Landschafts- und Länderkunde, die ihren Höhepunkt in den 1950er- und 1960er-Jahren erreicht hatte, war man davon überzeugt, dass Räume eigenständige Entitäten der „erdräumlichen Realität“ seien. Die Aufgabe der Geographie wurde darin gesehen, derartige Räume (als organismische Ganzheiten) zu entdecken, sie durch sorgfältige Analyse als „natürliche Einheiten“ der Geosphäre zu identifizieren und abzugrenzen. Die Landschaften und Länder, die den Vertretern dieses Paradigmas als zentrale Erkenntnisgegenstände galten, sind natürlich als fachspezifische Raumkonstruktionen anzusehen, die als distinkte Räume erst durch den Forschungsprozess selbst hergestellt wurden. Es gab nur wenige Autoren der klassischen Einheitsgeographie, die zu ihrer Zeit den Konstruktcharakter ihrer Gegenstände erkannten oder zumindest erahnten. Mit der innerfachlichen Revolution auf dem Geographentag in Kiel 1969 änderte sich die Situation grundlegend. Die Vertreter des nun propagierten raumwissenschaftlichen Paradigmas unterschieden sich nämlich von ihren Vorläufern sehr entscheidend dadurch, dass sie den Prozess der fachspezifischen Konstruktion von Räumen nicht nur erkannten, sondern auch bewusst offenlegten und transparent machten. Für sie waren Räume nicht mehr Gestaltqualitäten der Realität, sondern methodische Konstrukte. Die Areale, Felder oder Regionen der raumwissenschaftlichen Geographie waren das Ergebnis eines klassenlogischen Kalküls, taxonomische Raumeinheiten, die nicht gefunden, sondern erfunden wurden. Pikanterweise kam es im Gefolge dieser Forschungen aber dennoch immer wieder dazu, dass die derart konstruierten Räume eine Art Eigenleben entwickelten, reifiziert (vergegenständlicht) und in eigenständige räumliche Entitäten umgedeutet wurden.Was eigentlich als methodisches Konstrukt und als Produkt eines klassenlogischen Kalküls gedacht war, wurde nachträglich dann doch wieder als eigenständiges Element der „räumlichen Wirklichkeit“ angesehen.Wir werden im letzten Abschnitt ein Beispiel für eine derartige Metamorphose besprechen. Bei der Familie der politisch-emanzipatorischen Paradigmen steht vor allem die ideologiekritische Dekonstruktion von lebensweltlichen und fachspezifischen Raumkonstruktionen im Vordergrund des Interesses. Diese Gruppe von Paradigmen, zu der man „Welfare Geography“, „Radical Geography“, die marxistische und die feministische Geographie zählen kann, enthält als gemeinsames Kennzeichen das Verwerfen der Wertneutralitätsthese, die Konstatierung raumstrukturell ausgeprägter sozialer Ungleichheiten und Un-

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gerechtigkeiten sowie das ausdrückliche Bestreben, derartige Ungerechtigkeiten mithilfe wissenschaftlicher Analysen aufzuheben oder zu beenden. Ihre Vertreter kritisieren lebensweltliche Raumkonstruktionen, in denen Barrieren, Zugangsbeschränkungen, geplante oder verordnete Segregation sowie Ausbeutungs- und Enteignungsstrukturen zum Ausdruck kommen. Gleichermaßen dekonstruiert werden fachspezifische Raumkonstrukte, mit deren Hilfe soziale Ungleichheiten reproduziert und als Abbilder einer gleichsam selbstverständlichen Realität dargestellt werden. Und schließlich werden im Rahmen dieser Paradigmenfamilie spezifische „Räume“ produziert, die sich auf die Thematiken der eigenen Forschungen beziehen, z.B. „Angsträume“. Besonders produktive Raumkonstrukteure sind die Vertreter der subjektorientierten Paradigmen (Verhaltensgeographie, humanistische Geographie und handlungszentrierte Geographie). Auch sie beziehen sich auf lebensweltliche Raumkonstruktionen und berücksichtigen dabei sowohl kognitive, normative als auch physisch-materielle Konstruktionsprozesse. Indem sie diese alltagspraktischen Regionalisierungen beobachten und darstellen, produzieren sie eigenständige paradigmenspezifische Raumkonstruktionen einer höheren Ordnung. Typische Beispiele sind etwa die Mental Maps der Wahrnehmungsgeographie oder die verschiedenen Formen der alltäglichen Regionalisierungen bei Benno Werlen (als fachspezifische Abbildungen oder Rekonstruktionen des alltagspraktischen „Geographie-Machens“). Beispiele für paradigmenspezifische Raumkonstruktionen Wir haben gesehen, dass aus der Perspektive eines bestimmten wissenschaftlichen Paradigmas jeweils unterschiedliche alltagsweltliche Raumkonstruktionen in den Fokus des Interesses rücken, die mit den spezifischen konzeptionellen und analytischen Instrumenten des Paradigmas rekonstruiert oder dekonstruiert werden. Dadurch entstehen paradigmenspezifische Raumkonstruktionen „zweiter Ordnung“. Auch sie werden immer wieder als eigenständige „Entitäten“ gedeutet, es wird ihnen ein „Dingcharakter“ zugeschrieben. Ein besonders illustratives Beispiel für eine solche Raumkonstruktion im Rahmen des raumwissenschaftlichen Paradigmas haben wir in Abschnitt 5.2 (Abb. 7) bereits kennen gelernt. Hier wurden die tagesrhythmischen Interaktionsstrukturen der Pendler (qua lebensweltliche Raumkonstruktion) in eine paradigmenspezifische Raum-

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konstruktion („Arbeitsmarktregionen“) umgewandelt und als eigenständige räumliche Entitäten verstanden. Als zweites Beispiel, in dem sogar eine vierfache Relationierung unterschiedlicher Raumkonstruktionen zum Ausdruck kommt, soll das Salzkammergut dienen. Ursprünglich war das Salzkammergut ein Gebiet, das durch eine der „mächtigsten“ Raumkonstruktionen geprägt wurde, die wir in der Alltagswelt vorfinden. Es handelte sich um einen Rechtsraum (normativen Raum). Rechtsräume oder Territorien werden dadurch konstituiert, dass sie als Gültigkeitsbereiche von Normen bestimmt werden. Im Sinne von Benno Werlen handelt es sich um eine normativ-politische Regionalisierung. „Kammergut“ bezeichnet hier eine Region, die direkter Besitz des Landesherrn war, in diesem Falle des Hauses Habsburg. Sie umfasste ursprünglich die Grundherrschaft der Burg Wildenstein in Bad Ischl. Sie wurde von der Finanzbehörde des Landesherrn – der „Kammer“ – verwaltet. Das Gebiet war damit ein eigenständiger Rechtsraum, in dem besondere Schutzbestimmungen für die Nutzung von Holz und Wasser sowie spezielle soziale Sicherungen für die Bewohner gültig waren. Später wurden immer mehr angrenzende Gebiete eingegliedert, um den ungeheuren Holzbedarf der Saline decken zu können. Bis ins 19. Jahrhundert war die Region der Hofkammer, der Wiener Finanzbehörde, unterstellt. Im 19. Jahrhundert wurde das Salzkammergut als Tourismusgebiet entdeckt und bis in die Gegenwart von den Tourismusverbänden gezielt als „touristischer Raum“ weiterentwickelt. Neben den normativen Rechtsraum tritt mit dem touristischen Raum also eine zweite (strategische) Raumkonstruktion. Das vom Toponym „Salzkammergut“ bezeichnete Gebiet wurde im Laufe der Jahre immer mehr ausgeweitet. Heute haben sich 52 Gemeinden in drei Bundesländern der Tourismusregion angeschlossen. Auf der Grundlage dieser beiden alltagsweltlichen Raumkonstruktionen wurde das Gebiet in der Folge auch als „vernacular region“ (im Sinne einer kollektiven informativ-signifikativen Regionalisierung) konstituiert (die dritte Raumkonstruktion).Wie „Innviertel“, „Allgäu“ oder „Weinviertel“ ist „Salzkammergut“ heute eine umgangssprachlich geläufige Regionsbezeichnung, die ein zusammenhängendes Gebiet im Grenzbereich von Oberösterreich, Salzburg und der Steiermark benennt und dessen Kernbereich das Gebiet des ehemaligen Kammergutes darstellt. Wenn ein Bewohner von Gmunden oder Bad Ischl nach seiner Herkunft befragt wird, dann outet er sich als „Salzkammergutler“. Das Salzkammergut in Gestalt der dritten Raumkonstruktion (ver-

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Nennungshäufigkeiten in Prozent

Vöcklabruck

< 10 10 - < 30

Gmunden

30 - < 50

Grünau

Thalgau

70 - < 90

Salzburg

90 - 100 Gr. Priel

Bad Ischl Hallein

50 - < 70

H. Zinken Bad Aussee Bad Mitterndorf Grimming H. Dachstein

Entwurf: Angelika Pauli Christian Wiesinger (c) 1992 Angelika Pauli

0 4 8 12 16 20 km Dargestellt ist die subjektive räumliche Ausdehnung des Salzkammergutes in Zählrastern gleicher Nennungshäufigkeiten. Gesamtstichprobe n=239 Kartengrundlage: Österreichische Schulhandkarte Oberösterreich 1:400000 1968 Wien

nacular region, Wahrnehmungs- und Identitätsregion) kann im Rahmen des verhaltenswissenschaftlichen oder des handlungstheoretischen Paradigmas der Geographie natürlich auch wissenschaftlich rekonstruiert werden (Abb. 78). Das Ergebnis ist eine kollektive Mental Map, die natürlich ebenfalls als Raumkonstruktion (Nr. 4) anzusehen ist. Eine derartige Konstruktion wurde von Angelika PAULI (1992) in ihrer Salzburger Diplomarbeit vorgenommen. In dieser Arbeit wurde das Image des Salzkammergutes untersucht und eine Rekonstruktion der mit diesem Toponym verknüpften raumbezogenen Urteilsstereotype vorgelegt. Dazu war es natürlich auch erforderlich, diese lebensweltliche Region abzugrenzen und die Vorstellungen über ihre Außengrenzen in den Köpfen der Bewohner zu erfassen. Als Probanden wurden Bewohner der Region herangezogen, und zwar Vertreter lokaler Eliten (Bürgermeister, Pfarrer/Pastoren, Schulleiter). Die Probanden trugen u.a. auf vorgegebenen Karten die ihrer subjektiven Einschätzung nach bestehenden Grenzen des Salzkammergutes ein (gebundene graphische Erhebungstechnik). Durch die Auszählung und Aufsummierung der Nennungshäufigkeiten nach Zählrasterfeldern wurden die subjektiven Abgrenzungen der insgesamt 239 Probanden zu einer kollektiven Mental Map zusammengefasst (Abb. 78).

Abbildung 78: Eine Mental Map des Salzkammergutes. Quelle: P. Weichhart, 2010, Abb. 5, S 36.

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10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Das Ergebnis der wissenschaftlichen Analyse ist also eine Raumkonstruktion höherer Ordnung, mit der eine alltagsweltliche Raumkonstruktion (im Sinne einer informativ-signifikativen Regionalisierung) dargestellt und veranschaulicht werden konnte. Fazit Das Konstruieren von Räumen ist eine geradezu banale Selbstverständlichkeit unserer alltäglichen Lebenspraxis und es ist die Standardroutine geographischer Forschung. Aber auch Historiker, Soziologen, Ökonomen, Planer, Tourismusforscher etc. konstruieren Räume und rekonstruieren oder dekonstruieren derartige Konstruktionen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass ein erheblicher analytischer Aufwand erforderlich ist, um die verschiedenen Ebenen und Prinzipien der dabei eingesetzten Konstruktionsprozesse aufzuzeigen. Als besonders bedeutsam hat sich die Beobachtung der paradigmenspezifischen Beobachtungspraxis erwiesen, mit deren Hilfe Raumkonstruktionen de- oder rekonstruiert werden. Aus der Sicht der verschiedenen Paradigmen der Geographie rücken jeweils unterschiedliche alltagsweltliche Raumkonstruktionen in das Zentrum des Interesses. Dabei entstehen verschiedenartige Konstruktionen zweiter Ordnung. Als ein zentrales Problem hat sich das Faktum erwiesen, dass Raumkonstruktionen immer wieder für eigenständige Entitäten gehalten werden, die eine vom Konstrukteur, seinen Zwecksetzungen und der Art des Konstruktionsprozesses unabhängige Existenz besitzen. Dies gilt, wie wir am Beispiel der Salzburger Arbeitsmarktregionen gesehen haben, auch für Konstruktionen zweiter Ordnung. Als besonders spannende Forschungsfrage wurde die Analyse der Zusammenhänge zwischen den Sinn- und Bedeutungskontexten von Raumkonstruktionen und den materiellen Aspekten der Konstruktionsprozesse herausgestellt. Mit dieser Frage ist der eigentliche Kernbereich des Erkenntnisobjekts der Sozialgeographie angesprochen: Wie schaffen wir es, die Zusammenhänge zwischen soziokultureller Sinnstiftung und der Räumlichkeit der physisch-materiellen Welt transparent zu machen?

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10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

10.2.5. Offene Fragen und Kritikpunkte

Anspruch der handlungszentrierten Sozialgeographie

Defizite

In den letzten drei Abschnitten wurde der handlungszentrierten Sozialgeographie ein ausdrückliches Loblied gesungen. Fassen wir noch einmal zusammen, worin die zentrale Bedeutung dieser Entwicklungslinie für die Humangeographie besteht. Dazu müssen wir uns in Erinnerung rufen, was die Sozialgeographie nach ihrem eigenen Verständnis denn eigentlich leisten soll beziehungsweise leisten will. Abstrakt formuliert, soll unsere Disziplin Erklärungen und interpretative Deutungen dafür vorlegen, wie die Räumlichkeit der sozialen Welt strukturiert ist und wie diese Strukturen entstanden sind. In Anlehnung an Wolfgang Hartke hat Benno Werlen eine sehr pointierte Umschreibung dieser Aufgabe formuliert: Es gehe darum herauszufinden, wie „Geographie gemacht wird“, und um die Rekonstruktion „alltäglicher Regionalisierungen“. Im Gegensatz zu anderen Entwicklungslinien der Sozialgeographie stellt die handlungszentrierte Variante genau dieses aktive „Machen“ und die Produktion von Räumlichkeit und Regionalisierungen durch handelnde Akteure in den Vordergrund ihres Interesses. Eine solche handlungszentrierte Perspektive geht davon aus, dass durch die Summe aller Handlungsfolgen materielle und immaterielle Zustände des sozialen Systems und der physisch-materiellen Welt beeinflusst, verändert oder neu produziert werden. Daraus folgt, dass die auf der Erdoberfläche vorfindbaren Artefakte und ihre spezifische räumliche Konfiguration sowie ihre Veränderungsdynamik, die Räumlichkeit der sozialen Welt, aber auch die Verteilungsmuster und Strukturen menschlicher Populationen als „Produkte“ menschlichen Handelns anzusehen sind. Es erscheint daher sinnvoll und notwendig, sie als intendierte oder nicht intendierte Folgen menschlichen Handelns zu erklären. Überdies zeigt die handlungszentrierte Sozialgeographie auch sehr überzeugend auf, dass im Sprachhandeln die alltagsweltlich relevante räumliche Struktur der Welt produziert und reproduziert wird. Als besonderen Vorzug der handlungszentrierten Sozialgeographie haben wir auch hervorgehoben, dass sie mit einigen der im nächsten Kapitel zu besprechenden konstruktivistischen Entwicklungslinien der „Neuen Kulturgeographie“, mit der feministischen Sozialgeographie, den gesellschaftstheoretischen Ansätzen und mit den „kongnitionstheoretischen Resten“ der anderen mikroanalytischen Ansätze zumindest partiell durchaus kompatibel ist. Natürlich weist auch die handlungszentrierte Sozialgeographie eine Reihe von Defiziten, Problemen, Schwachstellen und Entwicklungserfordernissen auf. Es ist auch keineswegs so, dass sich dieses Paradigma in der Zwischenzeit gleichsam als Mainstream „durchgesetzt“ hätte. E. Wunder (2005, S. 228) stellt lakonisch fest, dass die Werlen’sche Konzeption einer handlungszentrierten Sozialgeographie unter den heutigen deutschen So338

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

zialgeographen keineswegs mehrheitsfähig sei. Es finden sich in der Literatur immer wieder auch ablehnende Stimmen (vgl. z.B. H. Köck, 1997), welche diese Entwicklungslinie der Sozialgeographie sogar vollständig verwerfen möchten. Aber auch bei einer grundsätzlichen Anerkennung des Ansatzes und seiner besonderen Bedeutsamkeit wird die handlungszentrierte Sozialgeographie aus einer ganzen Reihe von Gründen kritisiert (vgl. einige der Artikel in P. Meusburger, Hrsg., 1999). Ein erster und grundsätzlicher Kritikpunkt ergibt sich aus der Sicht der eben formulierten Vorbemerkung über die Zielsetzungen der Sozialgeographie wohl daraus, dass es den Vertretern dieser Entwicklungslinie (und hier schließe ich mich selbst durchaus ein) bislang noch nicht überzeugend gelungen ist, den eigenen Erkenntnisanspruch auch umfassend einzulösen. Dieser Kritikpunkt gilt zumindest vorläufig und so lange, bis vor allem auch der Bereich der konsumtiv-produktiven Regionalisierungen durch empirisch gehaltvolle Analysen bearbeitet wird und die Ergebnisse einen Erkenntnis-Mehrwert gegenüber anderen Ansätzen deutlich machen. Als Hinweis auf das enorme Potenzial einer akteurszentrierten und handlungstheoretisch orientierten Analytik kann das Buch „Wer baut Wien?“ des Raumplaners Reinhard Seiß (2007) angeführt werden. Dieser Text wurde vom Autor keineswegs als fachwissenschaftliche Analyse konzipiert und ist stilistisch wie methodisch durch eine eher journalistische Zugangsweise charakterisiert. Es finden sich auch keinerlei Hinweise auf eine bewusste Reflexion der eigenen Beobachtungspraxis. Der Text verweist aber zweifelsfrei darauf, dass der Autor implizit von einer handlungstheoretischen Betrachtungsperspektive ausgeht. Denn sein Interesse richtet sich dezidiert auf die individuellen und kollektiven Akteure, die hinter den untersuchten Bau- und Entwicklungsprojekten in der Stadt Wien stehen. Er rekonstruiert deren Intentionalitäten, Handlungsstrategien, Taktiken und „Werkzeuge“ sowie die Netzwerke der Interaktionen, die für die jeweilige Zielerreichung bedeutsam waren. An konkreten Beispielen besonders bedeutender Bauvorhaben der letzten zwei Jahrzehnte, die städtebaulich wie funktional enorme Auswirkungen auf die Struktur des Siedlungssystems haben, stellt der Autor holzschnittartig, aber sehr überzeugend dar, wie diese bauliche Um- und Neustrukturierung des Stadtkörpers im Sinne alltäglicher Regionalisierungen zustande kam. Dabei zeigt er mit schonungsloser Deutlichkeit auf, dass die meisten dieser Projekte keineswegs als Realisierung fachlich begründeter und an den Zielsetzungen der Stadtplanung und Stadtentwicklung orientierter Überlegungen angesehen werden können, sondern primär an den ökonomisch motivierten Verwertungsinteressen und Zielsetzungen der Projektbetreiber sowie an den Interessenlagen von Schlüsselakteuren des Politiksystems und der Wirtschaft ausgerichtet sind. Bürgermeister, Planungsstadträte, Stararchitekten, Spitzenbeamte der Stadtplanung, Geschäftsführer von Projektträgern und Developern, aber auch kollektive Akteure wie politische Parteien, die Österreichischen Bundesbahnen, Ban339

Kritikpunkt Empirie

Potenzial des Ansatzes: Beispiel Seiß: „Wer baut Wien“

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Methodisches Problem des handlungszentrierten Ansatzes

ken, Investoren und Mieter oder Käufer der erbauten Immobilien, Bürgerinitiativen und Anrainer sind die Akteure der dargestellten Regionalisierungsprozesse. Die Intentionalitäten dieser Akteure, aber auch deren subjektive Vorlieben, Handlungsstile oder persönliche Animositäten, die bestehenden Netzwerke (oder „Seilschaften“) und Abhängigkeiten sowie die verschiedenen Verfahrenstricks, die bei der Umsetzung der Handlungsziele in der Projektrealisierung eingesetzt wurden, werden vom Autor durch Dokumentenanalyse und durch eine Vielzahl von Interviews mit (zum Teil ehemaligen) Schlüsselakteuren und Insidern rekonstruiert und in knapper Form dargestellt. Dadurch wird auf sehr überzeugende Weise die baulich-funktionale Entwicklung der Stadt als Ergebnis alltäglicher Regionalisierungen aufgezeigt und der Strukturwandel der Stadt als Integral intendierter und nicht intendierter Handlungsfolgen erklärt. Es wäre überaus wünschenswert, derartige Studien, die sich auf konkrete Allokationsprozesse in verschiedenen Bereichen der konsumtiv-produktiven Regionalisierungen beziehen könnten, auf der Grundlage solider theoretischer und methodischer Reflexionen durchzuführen. Das Beispiel der Arbeit von R. Seiß verweist aber auch auf ein grundsätzliches methodisches Problem handlungszentrierter Forschungsansätze, auf das P. Meusburger (1999, S. 110/111) aufmerksam gemacht hat. In vielen Fällen ist eine Erfassung der Handlungen von Akteuren nicht oder zumindest nicht vollständig möglich. Dies gilt vor allem für die Rekonstruktion subjektiver und kollektiver Reflexionen zur Entscheidungsfindung bei der Zielformulierung und Planung von Handlungsabläufen. Was sich hier tatsächlich im Bewusstsein eines handelnden Subjekts abgespielt hat, lässt sich im Optimalfall nachträglich vielleicht durch ein ausführliches Tiefeninterview mit diesem Akteur erfassen. Und selbst dann kann bestenfalls eine Post-hoc-Interpretation des Akteurs zu Protokoll gebracht werden, der seine damalige Bewusstseinslage aus dem möglicherweise vollständig veränderten Kontext des Befragungszeitpunkts deutet und sich an vieles vielleicht gar nicht mehr erinnern kann oder will. Noch viel schwieriger ist die Situation bei kollektiven Entscheidungsfindungen: „In vielen Fällen ist eine rückwirkende Rekonstruktion der Handlungen von Subjekten gar nicht möglich. Wir können erfahren, wie die Bundesbank, der Vorstand eines Unternehmens, die Berufungskommission einer Fakultät, das Bischofskonzil oder das Zentralkomitee einer kommunistischen Partei entschieden und gehandelt haben, aber die Entscheidungsabläufe und Handlungen der diesen Institutionen angehörenden Subjekte bleiben uns weitgehend verborgen. … Auch exakt geführte Protokolle … können nicht die tatsächlichen Hintergründe und Motive der Entscheidungsabläufe

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10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

bzw. den Beitrag der einzelnen Subjekte zu den Entscheidungen des Gremiums erfassen.“ P. Meusburger, 1999, S. 110 Zusätzlich ist anzumerken, dass bei kollektiven Akteuren immer auch mit gruppendynamischen Prozessen gerechnet werden muss, die sich massiv auf das Ergebnis von Entscheidungsfindungsprozessen auswirken (vgl. Kapitel 11). Allerdings zeigt das Buch von R. Seiß auch, dass eine derartige Genauigkeit der Analyse vielfach gar nicht erforderlich ist. Die für Handlungsfolgen entscheidenden Primärmotivationen von Akteuren (Macht, Einfluss, Image, Rendite, Ertrag, Verlustvermeidung, Schädigung des Gegners, Stärkung des Selbstwertgefühls etc.) sind im Kontext von Handlungsabläufen meist so dominant, dass sie von einem Beobachter (etwa den Schlüsselakteuren, die Seiss befragt hat) in vielen Fällen relativ einfach und eindeutig erschlossen werden können. Als ausdrücklicher Schwerpunkt der Kritik stellt sich die konstitutive Bedeutung der Subjekte für die handlungszentrierte Sozialgeographie heraus. Verschiedene Autoren lehnen diese herausragende Bedeutung der Subjekte und den dahinterstehenden „revidierten methodologischen Individualismus“ ab oder möchten sie zumindest stark einschränken. Wir haben bei der Darstellung der handlungszentrierten Sozialgeographie in den Kapiteln 10.1 und 10.2 sowie mit den Überlegungen in Abschnitt 9.1.1 einige dieser Kritikpunkte bereits indirekt angesprochen und Argumente verwendet, mit denen sie zwar nicht grundsätzlich ausgeräumt, aber zumindest partiell entkräftet oder abgeschwächt und relativiert werden können. Begründet wird diese Kritik mit verschiedenen Argumenten. Einige Autoren beklagen die „systematische Unterbelichtung“ von Organisationen und Institutionen in der handlungszentrierten Sozialgeographie, die auf die Überbetonung des Subjekts zurückzuführen sei (H. H. Blotevogel, 1999, z.B. S. 22 oder P. Meusburger, 1999). Werlens Version der Sozialgeographie würde die Emergenzphänomene vernachlässigen, die sich aus den arbeitsteiligen Strukturen und Koordinationsleistungen komplexer Organisationen ergeben. Deshalb solle sein Konzept durch eine „organisationszentrierte Handlungstheorie“ ergänzt werden (P. Meusburger, 1999, S. 101). Während Giddens ausdrücklich die Dualität von Struktur und Subjekt betone und eine „dialektische Verbindung zwischen strukturtheoretischen und individualtheoretischen Ansätzen“ schaffen möchte, würde Werlen allzu einseitig nur die Subjekte berücksichtigen (W.-D. Sahr, 1999, S. 58). H. Arnold (1998, S. 147) hingegen wirft Werlen vor, dass Teilelemente seines Konzepts (Globalisierung und Regionalisierung) eine einseitig struk341

Kritikpunkt Subjekte

Forderung nach einer „organisationszentrierten Handlungstheorie“

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Kritikpunkt Handlungsfreiheit

turalistische Komponente aufweisen und die determinierende Kraft des Sozialen hier die Konstitutionsleistungen der Subjekte übertrumpfen würden. In der Tat werden im bisher vorliegenden Theoriesystem Organisationen und Institutionen nicht ausdrücklich und ausführlich thematisiert. Die in Abschnitt 10.2.3 besprochenen empirischen Umsetzungsbeispiele zeigen jedoch, dass kollektive Akteure im Rahmen dieses Ansatzes grundsätzlich durchaus behandelbar sind. Außerdem ist Werlen und anderen Autoren sicher recht zu geben, dass nur Subjekte Intentionen im eigentlichen Sinne haben können und dass die Funktionalität von Organisationen und anderen sozialen Systemen darauf beruht, dass die beteiligten egos organisationsspezifische Werte und Ziele internalisieren und sich zu eigen machen. Um derartige Probleme behandeln zu können, haben wir in Abschnitt 9.1.1 die drei Dimensionen von ego eingeführt und damit die Position des Subjekts ausdrücklich relativiert. In der Dimension der Personalität, des sozial geprägten ego, sind all jene Determinanten der Handlungsoptionen von ego aufgehoben, die sich aus seinen Rollen- und Positionsbezügen ergeben und seine Funktion innerhalb von Organisationen und Institutionen bestimmen. Und dennoch bleibt trotz aller sozialer und organisationsstruktureller Zwänge die prinzipielle, aber natürlich nicht immer genutzte Möglichkeit offen, dass ego in der Dimension der Subjektivität in gleichsam subversiver, widerspenstiger und aufmüpfiger Weise immer auch anders – kontingent – handeln kann und sich den Zwängen der Rollen und Stellen aufgrund des eigenen Action Potentials entzieht. Nur so lassen sich historische Figuren wie Luther, Kolumbus oder Jägerstätter erklären. Dennoch ist den Kritikern dahingehend zuzustimmen, dass die Emergenzphänomene, die sich gleichsam als neue und unerwartbare Attribute von Organisationen ergeben, eben nicht als Summe der Attribute der Individuen erklärt werden können, sondern als „Qualitätssprünge“ anzusehen sind. Das lässt sich etwa am Beispiel von Diskursen und gruppensoziologischen Prozessen zeigen. Bei einer Sitzung oder Besprechung kann die Eigendynamik der Gruppeninteraktion dazu führen, dass am Ende ein Ergebnis „herauskommt“, das keines der beteiligten Subjekte intendiert hatte. Ein zweiter zentraler und sehr bedeutsamer Kritikpunkt ergibt sich durch ausdrückliche Zweifel an der Autonomie und Agency (Handlungsfähigkeit) der Subjekte. Für die handlungstheoretische Sozialgeographie ist eine hohe Autonomie und Entscheidungsfreiheit der handelnden Subjekte ja von geradezu konstitutiver Bedeutung. Den egos qua Subjekten wird die Fähigkeit zugeschrieben, fundamentale Konstitutionsleistungen erbringen und damit die Welt gleichsam aus eigener Kraft quasi erschaffen zu können. Diese Grundannahme wird von verschiedenen Positionen her zum Teil grundsätzlich verworfen oder zumindest erheblich infrage gestellt. Ein erstes Argument lautet: Die Autonomie und Entscheidungsfreiheit der Subjekte sei in starkem Maße von der Sozialisation abhängig und durch 342

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

die Einbindung in kulturelle Systeme eingeschränkt (vgl. P. Meusburger, 1999, S. 96/97). Hier komme eine eurozentristische Einseitigkeit des Werlen’schen Theoriegebäudes zum Ausdruck, denn in anderen Kulturen, etwa in Japan, sei die Einbindung von ego in übergeordnete gesellschaftliche Strukturen wesentlich ausgeprägter als bei uns. Dieses Argument trifft zweifellos zu, steht aber nicht notwendigerweise im Widerspruch zu den Annahmen der Handlungstheorie. Wie wir ausführlich dargestellt haben, geht die Handlungstheorie keineswegs von einer Omnipotenz der Akteure aus, sondern anerkennt die soziale Determiniertheit der Sinn- und Zielsetzungen von ego (qua Person). Allerdings wird dies in den theoretischen Schriften vielleicht nicht mit jener Deutlichkeit herausgestellt, die zur Vermeidung von Missverständnissen sinnvoll wäre. Zweitens wird kritisiert, dass den Subjekten nur eine höchst unzulängliche Rationalität zur Verfügung stehe. Die gängigen Rational-Choice-Modelle, die von einer geradezu perfekten Entscheidungsfähigkeit der egos ausgehen, seien deshalb mit Skepsis zu beurteilen. Bei der Darstellung der Handlungstheorie in Kapitel 10.1 wurde deshalb ausdrücklich das Konzept der „alltagsweltlichen Logik“ eingeführt, das verdeutlichen soll, dass die Entscheidungsprozesse der egos zwar auf „räsonierenden“ Überlegungen gründen, dabei aber keineswegs den Vorgaben der Vernunft und der Logik genügen müssen. Drittens wird von der Kritik bemängelt, dass die egos in sehr starkem Maße von äußeren Gegebenheiten abhängig oder gar determiniert seien und ihre subjektiven Konstitutionsleistungen deshalb dramatisch eingeschränkt wären. Gerade im Bereich von Produktion und Konsumtion wären strukturelle Zwänge (H. H. Blotevogel, 1999, S. 20) wirksam, die vor allem die unselbstständig Beschäftigten betreffen und dazu führen, dass sowohl die Einbindung in das Arbeitsleben als auch die Konsumakte der egos in erheblichem Maße fremdbestimmt seien. Aus der Sicht der Handlungstheorie ist dieses Argument natürlich abzulehnen. Denn die strukturellen Zwänge für die Konsumenten oder unselbstständig Beschäftigten resultieren aus den Konstitutionsleistungen und Intentionalitäten von Akteuren der Produktionssysteme und anderen Subjekten mit besonders umfassenden Action Potentials (vgl. die Überlegungen von A. Odermatt und E. van Wezemael, 2007, zum Wohnungsmarkt). Viertens würde die handlungszentrierte Sozialgeographie mit ihrer dezidierten Ablehnung einer möglichen Beeinflussung der Subjekte und ihrer Handlungsautonomie durch die physisch-materielle Welt übersehen, dass es durchaus auch Handlungsbeschränkungen und Handlungsermöglichungen gebe, die auf die Potenziale oder Constraints zurückgeführt werden können, welche auf physisch-materiellen Gegebenheiten beruhen. Bestimmte Konfigurationen der physisch-materiellen Welt können einen „Aufforderungscharakter“ („Affordanz“; vgl. P. Meusburger, 1999, S. 121, unter Ver343

Kritikpunkt Rationalität

Kritikpunkt strukturelle Zwänge von ego

Kritikpunkt Beeinflussung der Subjekte durch die physisch-materielle Welt: Affordanz

10. HANDLUNGSORIENTIERTE SOZIALGEOGRAPHIE

Kritikpunkt Willensfreiheit: die Neurobiologie-Debatte

weis auf J. J. Gibson, 1979) besitzen, welcher die Akteure zwar keineswegs in deterministischer Weise „zwingt“, aber doch mit einiger Nachdrücklichkeit dazu anregt, bestimmte Handlungsdispositionen zu präferieren. Überdies gibt es (gar nicht so selten) Handlungskontexte und Situationen, „… in denen der Konstitutionsleistung der Subjekte extrem enge Grenzen gesetzt sind. Die Mauer im geteilten Berlin oder eine Lawine lassen den Sinnfindungsprozessen des Subjekts keinerlei Deutungsspielräume. Wenn man von einer Lawine erfasst wird, dann ist man bedauerlicherweise relativ häufig wirklich tot, und nicht bloß symbolisch oder im Sinne einer kulturellen Semantik. Und ein solches Ereignis liegt auch mit Sicherheit außerhalb der Möglichkeiten einer Konstitutionsleistung des betroffenen Subjekts“ (P. Weichhart, 1997 a, S. 40). Es findet sich in der Literatur noch eine ganze Reihe anderer kritischer Äußerungen gegenüber der handlungszentrierten Sozialgeographie. Einige beziehen sich stärker auf die Strukturationstheorie, andere thematisieren die von Werlen verwendete Epochengliederung der Moderne oder die Popper’sche Drei-Welten-Theorie. Darauf muss und kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Eine zum Zeitpunkt des Erscheinens der ersten Auflage dieses Bandes als bedeutsam und geradezu fundamental erscheinende Kritik an der handlungszentrierten Sozialgeographie ergab sich aus der damals geführten „Neurobiologie-Debatte“. Neurobiologen, Philosophen und Sozialwissenschaftler diskutierten damals die sogenannte „Willensfreiheit“ des Menschen. Dabei argumentieren einige Neurobiologen, vor allem G. Roth (z.B. 2004) und W. Singer (z.B. 2004), dass menschliches Tun vollständig durch chemoelektrische neuronale Prozesse im Gehirn vorherbestimmt sei. Die Annahme der Subjekt- und Sozialbestimmtheit des Menschen müsse daher verworfen werden, und die „Willensfreiheit“ sei demnach als bloße Illusion anzusehen. Diese Debatte erreichte eine große Öffentlichkeit, weil sie zum Teil in prominenten Tageszeitungen wie der Frankfurter Allgemeinen Zeitung oder der New York Times ausgetragen wurde. Bereits damals wurden heftige Zweifel an der Validität dieser Thesen geäußert (vgl. R. Mayntz, 2006 oder E. Oeser , 2006). Diese Zweifel erscheinen aus heutiger Sicht und der Perspektive der „embodied cognitive neuroscience“ (siehe Kapitel 13) mehr als gerechtfertigt.

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11

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Der Poststrukturalismus und die „Neue Kulturgeographie“

Kurz vor der Jahrtausendwende hatte die Sozialgeographie nun also einen Zustand erreicht, der durchaus zutreffend mit dem Begriff der „postmodernen Unübersichtlichkeit“ charakterisiert werden kann. Neben der makroanalytischen Raumstrukturforschung, den „kognitionstheoretischen Resten“ der Mikroanalyse und der handlungszentrierten Sozialgeographie florierten gleichzeitig – allerdings in unterschiedlicher Quantität – die (in diesem Band nicht näher besprochenen) Entwicklungslinien der strukturalistisch-gesellschaftstheoretischen (marxistisch orientierten), der feministischen und der von H. Klüter (1986) begründeten systemtheoretischen Sozialgeographie. Die Unübersichtlichkeit steigerte sich noch dadurch, dass etwa zu dieser Zeit (und gegenüber dem anglophonen Raum wieder mit einiger Verspätung) zwei neue Paradigmen in die Arena der Sozialgeographie eintraten – die „Neue Kulturgeographie“ und der Poststrukturalismus. Im deutschen Sprachraum weniger bedeutsame Entwicklungen wie die humanistische und die hermeneutische Sozialgeographie sind dabei noch gar nicht berücksichtigt. Gleichsam „strafverschärfend“ wirkt sich dabei noch das Faktum aus, dass die Grenzen zwischen einigen der Entwicklungslinien sehr durchlässig erscheinen und deutliche Konvergenzen zu beobachten sind. So lässt sich etwa für die feministische Sozialgeographie bei einer Reihe von Autoren einerseits eine deutliche Annäherung an die Handlungstheorie, andererseits eine ausgeprägte Bezugnahme auf den Poststrukturalismus beobachten. Obwohl unterschiedlich etikettiert, sind die Neue Kulturgeographie und die poststrukturalistischen Ansätze der Sozialgeographie nur schwer gegeneinander abzugrenzen. Sie lassen sich am ehesten durch die Radikalität unterscheiden, mit der sie ihre Grundkonzepte realisieren. Auch zwischen der handlungszentrierten Sozialgeographie und der Neuen Kulturgeographie existieren trotz aller Differenzen eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Sowohl der „Cultural Turn“, der hinter der Neuen Kulturgeographie steht, als auch der Poststrukturalismus sind (wie die Handlungstheorie) disziplinübergreifende Denkansätze. Der Cultural Turn, von dem in der neueren Sozialgeographie sehr intensiv die Rede ist, lässt sich dabei, wie wir noch sehen werden, in so viele verschiedene „Turns“ zerlegen, dass einem außenstehenden Beobachter geradezu schwindlig werden könnte. Die Bezeichnung „Neue Kulturgeographie“ impliziert, dass es auch eine „alte“ Version dieser Disziplin (oder Betrachtungsperspektive) gibt bzw. gab (vgl. dazu W. Natter und U. Wardenga, 2003 sowie F.-J. Kemper, 2003). 345

„Postmoderne Unübersichtlichkeit“

„Cultural Turn“

„Neue“ und „alte“ Kulturgeographie

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Neue Kulturgeographie: Inhalte

Bis etwa Ende der 1960er-Jahre wurde die Bezeichnung „Kulturgeographie“ im deutschen Sprachraum einerseits weitgehend synonym zu „Humangeographie“, „Anthropogeographie“ bzw. „Geographie des Menschen“ verwendet. Man fasste damit also die Bearbeitung aller anthropogenen Geofaktoren (mit Ausnahme der Physischen Anthropogeographie) zusammen. Andererseits kennzeichnete der Begriff aber auch eine ganz spezifische und (im Vergleich zu den „Geofaktorenlehren“) eher ganzheitliche Zugangsweise der Forschung, die besonders von den Vertretern der von Carl Sauer begründeten „Berkeley Schule“ praktiziert wurde und auf den Arbeiten älterer Klassiker des deutschen Sprachraumes (August Meitzen, Eduard Hahn, Friedrich Ratzel, Otto Schlüter oder Robert Gradmann) aufbaute. Im Vergleich zur Länderkunde standen hier weniger die individuellen Besonderheiten, sondern mehr die generalisierbaren Gegebenheiten des Gesamtgefüges der Kultur(-landschaft) im Vordergrund. In seiner Presidential Address vor der Jahrestagung der Association of American Geographers hat Marvin Mikesell (1978), einer der führenden Vertreter der „alten Kulturgeographie“, als wichtige Charakteristika dieser Arbeitsrichtung eine ausgeprägte historische Orientierung und eine Vorliebe für die Erforschung von Artefakten der materiellen Kultur angeführt. Im Vordergrund stand dabei die Erforschung ländlicher Räume der USA und vorindustriell geprägter Gesellschaften in Übersee. Von diesem Konzept unterscheidet sich die „Neue Kulturgeographie“ nun in einer ganzen Reihe von Punkten. Bedeutsamer Ausgangspunkte für den Neuansatz waren eine massive Kritik am Kulturverständnis der Sauer-Schule (J. Duncan, 1980) und die Rezeption der britischen Cultural Studies (vgl. F.-J. Kemper, 2003, S. 10–11). Als einer der Begründer der Neuen Kulturgeographie gilt Peter Jackson, der in seinem Buch „Maps of Meaning“ (1989) einen ersten systematischen Überblick über dieses Forschungsfeld vorgelegt hat. W. Natter und U. Wardenga (2003, S. 80–82) stellen für diesen Arbeitsbereich unter anderem eine stärkere Orientierung auf die Gegenwart heraus. Zeitgenössisch hervorgebrachte Räumlichkeit wird nicht als Resultat vergangener Vorgänge angesehen, obwohl sie durch geschichtliche Rahmenbedingungen modifiziert werden könne. Auch die Neue Kulturgeographie sei an den Artefakten der materiellen Kultur interessiert, stelle aber vor allem deren Bezug zu immateriellen und symbolischen Gegebenheiten in den Vordergrund. Man wendet sich auch stärker städtischen Kulturen und den Phänomenen der Globalisierung zu. Die Neue Kulturgeographie sei ausdrücklich theorieorientiert und suche vermehrt den Kontakt und den Diskurs mit den Sozialwissenschaften. Besonderes Interesse bestehe an den „Praktiken des alltäglichen Lebens und der subjektiven Erfahrung sowie der Wahrnehmung von Räumen … Das betrifft insbesondere solche Fragestellungen, die mit Klasse, Rasse, Geschlecht, Sexualität oder Ethnizität zu tun haben“ (ebd., S. 81). Einen hohen Stellenwert nehmen die Erfahrungen von Akteuren und deren Handlungsmög346

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

lichkeiten ein, wobei auch die Grenzen und Constraints menschlicher Handlungsfähigkeit thematisiert werden. Eine weitere bedeutsame Fragestellung befasst sich mit den Zusammenhängen von Kultur und Macht. Große Aufmerksamkeit wird auch den Medien, ihrem Einfluss auf die Wahrnehmung und den von ihnen eingesetzten Darstellungsprozessen gewidmet. „Insgesamt ist festzustellen, dass ,Kultur‘ im Rahmen der new cultural geography als Quelle und Anknüpfungspunkt von Macht, Herrschaft und Hegemonie aufgefasst wird …“ (ebd., S. 82). Besonders hervorzuheben sei das Interesse der Neuen Kulturgeographie für „das Besondere oder das vom Untergang bedrohte Einmalige“ (S. 85) und die im Prozess der Globalisierung entstehende Tendenz zur Aufhebung der Differenz kultureller Gegebenheiten. Damit wird einer der Knotenpunkte des engmaschigen Beziehungsnetzwerkes zwischen der Neuen Kulturgeographie und den „Poststrukturalismen“ in der Geographie (vgl. N. Gelbmann und G. Mandl, 2002) sichtbar. Auch im Poststrukturalismus spielt der Gedanke der „Differenz“ eine wichtige Rolle, besonders in den Schriften von Jacques Derrida (siehe Kapitel 11.1). Eine ganze Reihe von methodischen und konzeptionellen Zugängen der Neuen Kulturgeographie bezieht sich direkt oder indirekt auf Denkmuster und Betrachtungsperspektiven des Poststrukturalismus (etwa das Diskurskonzept und die Diskursanalyse), sind aber meist durch eine weniger radikale und, wie Kritiker behaupten, eher „verwässerte“ Lesart gekennzeichnet. Beide Entwicklungslinien, vor allem die Poststrukturalismen, sind relativ schwer zu vermitteln und erschließen sich einem „außenstehenden“ Leser nur mit einiger Mühe. „Die Texte des Poststrukturalismus gelten gemeinhin als besonders schwierige Lektüre“ (S. Münker und A. Roesler, 2000, S. VII). Dies liegt nicht zuletzt darin, dass gerade der Poststrukturalismus durch seine antiszientistische und antirationalistische Grundhaltung in geradezu paradoxer Weise genau das verwirft, was üblicherweise als Fundament wissenschaftlichen Denkens angesehen wird: Eindeutigkeit und Klarheit der Begriffe und Konzepte, intersubjektive Verständlichkeit und die Idee einer „objektiven Wahrheit“. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die Grundvorstellungen des Poststrukturalismus wegen seiner theoretisch inhärenten pluralen Positionen auch nur in groben Zügen darzustellen. Im folgenden Abschnitt können nur einige schlagwortartige Hinweise zu dieser Denkrichtung formuliert und an wenigen Beispielen die Rezeption dieser Ideen in der Geographie andeutungsweise veranschaulicht werden. Eine sehr gut lesbare Einführung in das Thema bietet der Band „Poststrukturalismus“ von S. Münker und A. Roesler (2000, vgl. dazu auch F. Dosse, 1999, M. Frank, 2001 oder J. Culler, 1999).

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Beziehungsnetzwerk Neue Kulturgeographie und Poststrukturalismus

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

11.1. Die Rezeption des Poststrukturalismus in der Geographie

Kein „Manifest“ des Poststrukturalismus – Abgrenzung vom Strukturalismus?

Dem geneigten Leser wird im folgenden Abschnitt sicher auffallen, dass der Autor gegenüber dem Poststrukturalismus eine eher reservierte und skeptische Einstellung vertritt. Diese Skepsis ist eine notwendige Konsequenz meiner erkenntnistheoretischen Positionierung, die im letzten Kapitel relativ ausführlich dargelegt werden soll. Trotz dieser Skepsis sei (um Missverständnissen vorzubeugen) gleich vorweg in aller Deutlichkeit angemerkt, dass ich die „Poststrukturalismen“ in der Sozialgeographie als eine sehr wertvolle Bereicherung der fachlichen Diskurse ansehe, die zu einer innovativen Weiterentwicklung der sozialgeographischen Forschung geführt hat. „Poststrukturalismus“ ist „der allgemeine Titel für eine bestimmte Art zu denken und zu schreiben, eine philosophische Haltung, die sich im Laufe der 60er Jahre in Frankreich entwickelt hat“ (S. Münker und A. Roesler, 2000, S.VIII). Die Bezeichnung lässt bereits vermuten, dass diese Denkrichtung durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus geprägt ist. Bei der Bewertung des Poststrukturalismus sind sich viele Autoren darin einig, dass es sich um eine äußerst bedeutsame, sehr populäre und in vielfacher Hinsicht überaus umstrittene theoretische Bewegung handelt. Nicht ganz einig scheint man sich hingegen darüber zu sein, ob diese Denkrichtung tatsächlich eine „kritische Überwindung des Strukturalismus“ darstellt oder ob sie nicht zutreffender „als dessen konsequente Fortsetzung“ beschrieben werden müsste (ebd., S. IX). Die meisten der Autoren, die dieser Denkrichtung zugeordnet werden, würden sich selbst nicht als Poststrukturalisten etikettieren. Es gibt auch „keinen Text oder vergleichbares Material, welches man als das Programm oder Manifest des Poststrukturalismus bezeichnen könnte“ (ebd.). Allerdings kann man aus den vorliegenden Texten bestimmte Merkmale rekonstruieren, die für diese Denkweise charakteristisch sind. Als entscheidender Ausgangspunkt wird dabei in den meisten Rekonstruktionsversuchen die bewusste und dezidierte Abgrenzung der Autoren vom Strukturalismus angesehen. Die Argumente, die einer solchen Abgrenzung zugrunde liegen, lassen sich dann zusammenfassen, „um so theoretische Grundideen des Poststrukturalismus und programmatische Gemeinsamkeiten seiner Vertreter systematisch sichtbar zu machen. Eine derartige Zusammenfassung wird dem Phänomen des Poststrukturalismus allerdings noch nicht gerecht; als theoretischer Bewegung mangelt es ihm dafür zu sehr an einer klar identifizierbaren Theorie“ (ebd.).

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11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Exkurs Strukturalismus Als Gründungsvater des Strukturalismus gilt der Schweizer Linguist Ferdinand de Saussure. Seine Gedanken zur Grundlegung einer allgemeinen strukturalen Linguistik hatte er in mehreren Vorlesungen entwickelt, die er zwischen 1906 und 1911 in Genf hielt. Anhand von Vorlesungsmitschriften hatten einige seiner Schüler die dahinterstehende Theorie rekonstruiert und 1916 unter dem Titel „Cours de linguistique générale“ (Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft) posthum veröffentlicht. In diesen Vorlesungen wollte de Saussure die nur scheinbar einfache Frage beantworten, wie eine einzelne Sprache aufgebaut ist, wie sie beschrieben werden kann und wie innerhalb der Sprache Sinn konstituiert wird. „Diese Fokussierung auf den Aufbau einer einzelnen Sprache zielt auf die Beschreibung allgemeiner sprachlicher Strukturen, und so nimmt die Antwort dann auch den Weg einer methodischen Differenzierung dieser Strukturen. Saussure unterscheidet zunächst das, was wir gemeinhin als ‚Sprache‘ verstehen, in drei Kategorien: in langage, langue und parole. Der Neologismus langage ist kaum zu übersetzen; was Saussure damit meint, ist die menschliche Fähigkeit zu sprechen. Dieser übergreifenden Sprachkompetenz gegenüber bezeichnet der Terminus langue die Sprache als normatives, durch allgemeine Regeln und verbindliche Konventionen strukturiertes virtuelles ,System von Zeichen‘ … Die parole bezeichnet schließlich die Sprachverwendung als Akt der individuellen Ausübung der eigenen Sprachkompetenz gemäß den allgemeinen Regeln des Sprachsystems; kurz: die konkrete Aktualisierung des virtuellen sprachlichen Codes“ (S. Münker und A. Roesler, 2000, S. 2). Das Interesse der strukturalistischen Linguistik konzentriert sich natürlich auf die langue, die sich aus dieser Sicht als kodiertes Regelsystem sprachlicher Zeichen darstellt. Im Vordergrund der Überlegungen Saussures stand die Struktur des kleinsten bedeutsamen Elements dieses Systems, des Zeichens selbst. Ein Zeichen ist nach Saussure zu verstehen als die Relation zwischen einem „signifié“ und einem „signifiant“, also einem Bezeichneten (Signifikat) und einem Bezeichnenden (Signifikant). Man könne sich „das Zeichen als ein Blatt Papier vorstellen, dann sei dessen eine Seite das Signifikat, die andere der Signifikant; sie lassen sich nicht voneinander trennen, ohne das Zeichen zu zerstören.

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11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Doch so untrennbar beide Seiten des Zeichens miteinander verbunden sind, so wichtig bleibt zugleich ihre Differenz. Aus dem reziproken Zusammenspiel von Signifikat und Signifikant leitet dann Saussure die gerade für die Wirkungsgeschichte seiner Theorie entscheidenden weiteren Bestimmungen des Zeichens ab“ (S. Münker und A. Roesler, 2000, S. 3). Der Signifikant ist eine bestimmte Lautfolge, das Signifikat der konkrete Inhalt, der bezeichnet wird. Die Lautfolge „Bach“ bezeichnet beispielsweise ein über eine längere Strecke fließendes Wasser. „Lese ich aber nun die Lautkombination ,Bach‘ in einem Buch über barocke Musik, dann ist es wenig wahrscheinlich, dass ,Bach‘ dort ein fließendes Gerinne bezeichnet, da der Satz ,Bach machte sich dann an die Komposition der Matthäus-Passion‘ in dieser Form keinen Sinn machen würde. Dieselbe Lautkombination bezeichnet hier vielmehr eine bestimmte, historisch wohlbekannte Persönlichkeit. Aus ähnlichen Überlegungen (etwa der Möglichkeit, dass dieselben Dinge in unterschiedlichen Sprachen durch unterschiedliche Lautkombinationen bezeichnet werden und es uns dennoch möglich ist, verschiedene Sprachen zu erlernen und zu benutzen) hat Saussure geschlossen, dass im Zeichen signifié und signifiant zwar eng verbunden sind, aber nicht a priori, denn es besteht keine innere Beziehung zwischen beiden; es gibt keinen außersprachlichen Grund, der diese Verbindung bestimmt …“ (N. Gelbmann und G. Mandl, 2002, S. 4, Hervorhebung P. W.). Daraus folgt als zentraler Grundsatz der allgemeinen Sprachwissenschaft die Arbitrarität (Beliebigkeit) des Zeichens. Sprachlicher Sinn ist nicht vorgegeben, sondern wird konventionell konstituiert, also in sprachlichen Prozessen festgelegt. „Weil es keinen außersprachlichen Grund gibt, der das Verhältnis von Signifikat und Signifikant bestimmen und so die Bedeutung eines Zeichens festlegen würde, muss sich die Konstitution sprachlicher Zeichen sprachintern erläutern lassen. Nicht die Referenz der Zeichen, also ihr Bezug auf etwas Außersprachliches, zählt, sondern ihre Relation, genauer: die Differenz der Zeichen zueinander. Entscheidend ist der Wert, … der durch diese Differenz festgelegt wird. Sie ist auf den beiden Ebenen des Zeichens, des Signifikanten wie des Signifikats, wirksam. Die Art und Weise, wie wir das Wort ,Brot‘ verwenden, ist sowohl bestimmt durch die Art und Weise, wie sich der Signifikant ,Brot‘ von Signifikanten wie ,Boot‘ oder ,Schrot‘ unterscheidet, als auch durch die Abgrenzung des Signifikats ,Brot‘ von anderen Signifikaten wie ,Brötchen‘, ,Kuchen‘ oder ,Crois-

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11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

sants‘. Der sprachliche Sinn ist daher Ergebnis der Differenzierungen in einem System“ (S. Münker und A. Roesler, 2000, S. 4). Im System Sprache sind also nicht die Einzelglieder selbst für die Konstitution des Sinns bedeutsam, sondern die Differenzen zwischen den Einzelgliedern. „Die Sprache ist ein Netz von Signifikanten und der Sinn eines Signifikanten ergibt sich nicht aus der Beziehung zum Signifikat, sondern primär aus dem Verhältnis zu den anderen Gliedern des ,Netzes‘ …“ (N. Gelbmann und G. Mandl, 2002, S. 5). Dieses von Saussure entwickelte Modell der Sprache wurde in der Folge verallgemeinert und als idealtypisches Erklärungsmodell für verschiedene andere Untersuchungsgegenstände in geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschungsbereichen angewendet. Die dabei übernommene Grundidee liegt in der Konzentration auf die interne Relation ihrer Strukturelemente, wie sie Saussure zur Erläuterung der Sprache vorgenommen hat (S. Münker und A. Roesler, 2000, S. 5). Eine solche Zugangsweise zur Realität ist bereits in der linguistischen Variante durch zwei sehr bedeutsame Implikationen gekennzeichnet. „Zum einen bedeutet die These, dass sich der Sinn sprachlicher Zeichen einzig durch die (sprachinterne) Differenzierung ihrer Elemente konstituiert, zugleich die methodische Ausgrenzung des (sprachexternen) Referenten. Und zugleich folgt aus der Feststellung, dass diese Konstitution gerade in ihrer sozialen Verankerung weitgehend vom bewussten Willen des individuellen Sprechers unabhängig ist, der tendenzielle Ausschluss des Subjekts“ (ebd.). Ein zentrales Theorem des Strukturalismus (das dann später vom Poststrukturalismus noch verschärft wird) besteht also in der Annahme, dass „… derjenige, der seit jeher als Sinnkonstituent gegolten hat, aus dem Spiel von Sinn-Konstituierung herausfällt. Dem Subjekt kommt – streng strukturalistisch gesehen – bei der Sinnstiftung keine Bedeutung mehr zu …“ (N. Gelbmann und G. Mandl, 2002, S. 5). Die eigentliche „Karriere“ des Strukturalismus außerhalb der Linguistik wurde vom Anthropologen Claude Lévy-Strauss begründet. Er untersuchte, wie in unterschiedlichen Kulturen die Verwandtschaftsbeziehungen ihrer Mitglieder geregelt werden. Er „… ließ sich leiten von der Überzeugung, dass sich hinter den divergierenden und auf den ersten Blick willkürlichen Regelungen binnenkultureller Verwandtschaftsverhältnisse eine strukturelle Ordnung verbirgt, die Auskunft gibt über die Natur des Menschen …“ (S. Münker und A. Roesler, 2000, S. 8). „Er untersuchte Verwandtschaftssysteme (und ihren Sinn) wie eine Sprache, als Strukturzu-

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11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

sammenhänge. Er versuchte, Grundeinheiten der Verwandtschaftsbeziehungen herauszuarbeiten, und bezeichnete diese mit dem Neologismus ,Parenthem‘ – analog zu ,Morphem‘ in der Linguistik. Das allgemeinste Postulat, das sich aus seinen Forschungen ableiten lässt, ist, dass sich gesellschaftliche Prozesse und auch die mentalen Fähigkeiten der Menschen auf solche Strukturen zurückführen lassen und man diese immer unbewussten Prädispositionen auch freilegen könne …“ (N. Gelbmann und G. Mandl, 2002, S. 5/6). Der Strukturalismus kann als bedeutsames Element des „Linguistic Turn“ angesehen werden, der als philosophische Hauptidee des 20. Jahrhunderts gilt. „Die Grundüberlegung dabei ist einfach: weil alle unsere Erkenntnisse in Sprache ausgedrückt werden müssen, wird die Struktur der Sprache zur Voraussetzung von allem, was sich in ihr ausdrücken lässt. Als allgemeine kultur- bzw. geisteswissenschaftliche Methode lebt der Strukturalismus von der Ausweitung der sprachtheoretischen Überlegungen Saussures auf alle Sinnsysteme und geht sogar einen Schritt weiter, indem der Grundgedanke Saussures, dass die Differenzierung der Elemente untereinander Sinn generiert, zur Basis des Denkens selbst gemacht wird“ (S. Münker und A. Roesler, 2000, S. 19).

Merkmale des Poststrukturalismus 1. Themen

2. Schreibstil

S. Münker und A. Roesler (2000, S. IX–XIV) weisen darauf hin, dass für die poststrukturalistische Denkperspektive neben einigen wenigen zentralen Thesen und der gemeinsamen Gegenposition zum Strukturalismus die Konzentration auf spezifische Themen, bestimmte Stoßrichtungen der Kritik sowie stilistische Eigenheiten charakteristisch seien, welche die „Einheit einer sich weiterentwickelnden Geschichte“ (R. Harland, 1987, S. 184) gleichsam wie rote Fäden durchziehen. Erst mit der Einbeziehung dieser zusätzlichen Gemeinsamkeiten könne die Einheit dieser „Geschichte“ sichtbar gemacht werden. Ein besonders auffälliges Merkmal der poststrukturalistischen Autoren ist ein ausgeprägt intellektueller und ästhetisierend-artifiziell wirkender Schreibstil. Dieser sei jedoch keineswegs ästhetisch motiviert, sondern müsse als „literarischer Ausdruck einer Abgrenzung von gewohnten Reflexionsweisen, etablierten Darstellungsformen (und) traditionellen Diskurspraktiken“ (ebd., S. X) angesehen werden. Eben dieser ausgeprägt intellektuelle Stil und die dahinterstehende kritische Haltung gegenüber der Sprache und ihren Prinzipien der Bedeutungskonstitution machen die Lektüre poststrukturalistischer Texte zu einem eher mühsamen Unterfangen. 352

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Ein weiteres charakteristisches Merkmal dieser Denkrichtung ist in einem „kritischen Einspruch gegen totalisierende Tendenzen philosophischer Theorien“ (ebd.) zu sehen. Dies werde besonders in der kritischen Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels erkennbar, die ja durch einen besonders ausgeprägten Hegemonieanspruch ihrer Erkenntnispotenziale gekennzeichnet ist.

3. Kritische Auseinandersetzung mit dem Rationalismus der Moderne

„Entscheidend … ist die Tatsache, dass in den absoluten Ansprüchen der spekulativen Dialektik Hegels eine Arroganz zum Vorschein kommt, die den Vertretern des Poststrukturalismus als ein typisches Merkmal der Moderne gilt. Ihr Widerstand gegen die Überheblichkeit des neuzeitlichen Denkens und seiner Versuche, die Welt restlos zu rationalisieren, reiht die poststrukturalistischen Ansätze ein in den Diskurs einer kritischen Selbstreflexion der Moderne.“ S. Münker und A. Roesler, 2000, S. XI Die Skepsis der Poststrukturalisten richtet sich dabei nicht nur gegen alle (philosophischen und politischen) Formen totalitärer Systeme und deren absolute Wahrheitsansprüche, sondern auch gegen die „großen Erzählungen“ der Moderne (J.-F. Lyotard, 2005). Konsequenterweise wandte man sich deshalb auch gerne gesellschaftlichen Gruppen zu, die am Rand der „großen Erzählungen“ stehen. Das poststrukturalistische Plädoyer für die Differenz „konkretisiert sich … auch als theoretische Auseinandersetzung mit solchen gesellschaftlichen Gruppen, welche die moderne Strukturierung der Gesellschaft an den Rand gedrängt hat. Foucaults Arbeiten über die Geschichte der Gefängnisse oder die Bedeutung des Wahnsinns stehen hierfür nicht weniger exemplarisch als die forcierte Entwicklung feministischer Ansätze …“ (S. Münker und A. Roesler, 2000, S. XI). Neben der Betonung der Differenz ist damit auch die Thematisierung des „Anderen“ ein wichtiges Anliegen der Poststrukturalisten. Die Kritik des Logozentrismus sei vor allem als eine „Suche nach dem ,Anderen‘“ zu verstehen (J. Derrida, 1983). Eine weitere Kernidee des Poststrukturalismus ist die radikale Dezentrierung des modernen Subjektbegriffes. Sie wird von den Kritikern dieser Denkrichtung besonders scharf zurückgewiesen. Diskurse benötigen keine Subjekte, Sinn wird nicht im Bewusstsein der egos gestiftet, sondern ergibt sich aus der Eigendynamik der Sprache, der Diskurse und der Relationalität der Zeichen. Diese bereits im Strukturalismus angelegte These wird im Poststrukturalismus radikalisiert und gleichsam zu Ende gedacht. Das Subjekt wird als eine Erfindung der Moderne entlarvt und dekonstruiert (vgl. P.V. Zima, 2007). Konsequent beim Wort genommen, bedeutet der Poststrukturalismus letztlich das Aufgeben jeglichen Wahrheitsanspruches, das Eingeständnis, dass Sinn, Bedeutung, Kommunikation und intersubjektive Verständlichkeit 353

4. Thematisierung des „Anderen“

5. Dezentrierung des Subjektbegriffes

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Kritik am Poststrukturalismus

kontingente, unkontrollierbare und unbeeinflussbare Phänomene sind und wir unsere Vorstellungen von Zweck und Bedeutung der Wissenschaft verwerfen müssen. Als wissenschaftliches Denkgebäude führt sich der Poststrukturalismus damit allerdings selbst ad absurdum. Er wird heute auch aus der Sicht einer emanzipatorisch und politisch gewendeten Wissenschaftsdeutung infrage gestellt. Beatrice Frasl (2017) sieht den gegenwärtigen „Postfaktizismus“ in engem Zusammenhang mit dem „epistemischen Relativismus“ des Poststrukturalismus. In einem Zeitalter, „… in dem wahr ist, was man glaubt …“ und in dem „… Unwahrheiten plötzlich nicht mehr Lügen oder Propaganda sind, sondern Alternativfakten …“ (S. 32) müsse man ausdrücklich auf die Überschneidung dieses Phänomens mit poststrukturalistischen Glaubenssätzen verweisen. G. Böhme betont, dass der Poststrukturalismus genau zum Gegenteil dessen geworden ist, was der Strukturalismus auf der Ebene der Wissenschaft war: „Bei Foucault schon, dann aber deutlicher bei Derrida, Roland Barthes, Deleuze und Baudrillard wird Philosophie zum höheren Spiel, zur Literatur, zum unverwechselbaren Ausdruck einer Person. Sie ist nicht mehr eine erlernbare Kompetenz, sie ist nicht mehr ein kollektives Unternehmen, zu dem im Prinzip jedermann einen Beitrag leisten kann, sie ist nicht mehr methodisch nachvollziehbar: sie ist nicht mehr Wissenschaft.“ G. Böhme, 1998, S. 379, Hervorhebung P. W.

„Der Umgang mit poststrukturalistischen Tendenzen innerhalb der rezenten Wissenschaften ist vielleicht deshalb so schwierig, da die Philosophen dieser Richtung eben gerade behaupten, die bisherige Rationalität (Logik, Methodologie, modus ponens etc.), selbst den Sinn des Sprechens und Schreibens ‚zerstören‘ zu können (der Verantwortung aber, im Gegenzug dazu erklären zu können, warum Sprache und Kommunikation dennoch tagtäglich funktioniert, entzieht man sich stillschweigend. Man könnte sagen: Die poststrukturalistische Philosophie versucht mit ihrem ‚Verlust des Sinns‘ eine Hypothese von so universeller Gültigkeit ‚durchzuboxen‘, dass sie damit eigentlich auch ihre eigene Beweisführung anzweifeln müsste – dass sie es nicht tut, ist zumindest einmal verdächtig). Diejenigen, die poststrukturalistische Ideen übernehmen und weiterentwickeln wollen, übernehmen mit ihnen auch gleichzeitig (und zwar tatsächlich automatisch) epistemologische Fragestellungen.“ N. Gelbmann und G. Mandl, 2002, S. 18 354

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Norbert Gelbmann und Gerfried Mandl (2002, Fußnote 14, S. 11) weisen darauf hin, dass die sozialwissenschaftliche (und auch die sozialgeographische) Rezeption des Poststrukturalismus durch einen selektiven Eklektizismus gekennzeichnet ist, bei dem poststrukturalistische Gedanken gleichsam als „heuristische Leitsätze“ verwendet und damit aus ihrem radikalen Kontext herausgenommen werden.

Rezeption des Poststrukturalismus nach Gelbmann/ Mandl

„Eine Einstellung gegenüber der Welt, die sich uns nur über die gesellschaftliche ‚Konstruktion‘ der Wahrnehmung, Umwelt etc. aufschließt, wird somit von Derrida abgeleitet.Tatsächlich hat dieser Aspekt Derrida in seinen philosophischen Schriften nur wenig interessiert. Und im Prinzip geht die ‚konstruktivistische Perspektive‘ nicht auf diesen zurück, sondern ist v.a. das Programm der Vertreter des sog. ‚Radikalen Konstruktivismus‘ à la H. v. Förster, E. v. Glasersfeld u.a., einer rein erkenntnistheoretischen Richtung. Bei weitem nicht bei allen geographischen ‚Konstruktivisten‘ kommen aber die Vertreter dieser Richtung als Referenzautoren vor. Der Gebrauch des Terminus ‚Konstruktivismus‘ durch die Geographen scheint sich daher bei manchem einfach aus der Annahme ergeben zu haben, dass dort, wo von ‚Dekonstruktion‘ die Rede ist, auch einmal eine ‚Konstruktion‘ stattgefunden haben sollte. Dass Landschaften, Nationen etc. erst durch soziale Sinngebung ent- bzw. bestehen (reproduziert werden) ist sicher richtig, kann aber nicht mit einem Verweis auf Derrida gerechtfertigt werden.“ N. Gelbmann und G. Mandl, 2002, S. 18

„Quasi analog zum vielfältigen und diversifizierten ‚Quellgebiet‘ der poststrukturalistischen Philosophie kommt diese innerhalb der Geographie nur eklektisch zum Tragen; bestimmte Autoren rezipieren nur bestimmte Aspekte; so gehen etwa lediglich die Konsequentesten auch auf die (totale) Sinndekonstruktion … ein. Der Großteil beschäftigt sich nur mit sozusagen ‚ausgewählten Kapiteln‘ …“ N. Gelbmann und G. Mandl, 2002, S. 19 Als Analyseraster für ihre exemplarische Darstellung der Rezeptionsgeschichte verwenden Gelbmann und Mandl ein vierteiliges Schema, das sich am Grad der Reflexion der philosophischen Grundlagen und dem Ausmaß einer konkreten Umsetzung im Rahmen empirischer Forschungsfragen bei den jeweils besprochenen Autoren orientiert: 355

Analyseraster der Rezeptionsgeschichte

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

1. Metatheoretischer Diskurs

1.) Metatheoretischer Diskurs: In diese Kategorie fallen all jene Texte, in denen versucht wird, die wichtigste, da letztlich epistemologische Behauptung der poststrukturalistischen Philosophie in die Praxis umzusetzen: das Verschwinden des Sinns. Gelbmann und Mandl verhehlen diesem Texttypus gegenüber keineswegs eine gewisse (und durchaus plausibel erscheinende) Skepsis: „Nach dem oben bereits Ausgeführten wird niemanden überraschen, dass bei einem solchen Programm auch … die Forderung nach methodischer Klarheit und möglichst klarer und leicht nachzuvollziehender Argumentation auf der Strecke bleibt. Ein Verfechter des ‚gleitenden Sinns‘ ist von der Sinnlosigkeit des gesprochenen und geschriebenen Wortes überzeugt. Dass sie/er dennoch – d.h. seit jeher und immer noch – in gedruckten Medien publizieren, könnte man ihr/ihm – wahrscheinlich dann auch zu Recht – übel nehmen“ (ebd., S. 20).

2. Reflexion der theoretischen Grundlagen

2.) (Ledigliches) Reflektieren der theoretischen Grundlagen: Die Schlüsseltexte des Poststrukturalismus sind nicht eben leicht eingängig oder einfach zu lesen. Deshalb scheint es für manche Autoren der geographischen „Sekundärliteratur“ sinnvoll zu sein, „die theoretischen Grundlagen noch einmal zu reflektieren und zusammenzufassen“ (S. 20). Einem Autor, der einen einleitenden Text zu einem einschlägigen Sammelwerk oder Themenheft einer Zeitschrift zu verfassen hat, könne man „ein solches deskriptives ‚Zurschaustellen‘ von theoretischen Aussagen anderer Autoren kaum vorhalten“ (ebd.). Grundsätzlich sei aber auch bei dieser Textgattung Skepsis angebracht, denn diese Arbeiten kämen im Prinzip „… über die Reflexion und Deskription bisher geleisteter theoretischer Überlegungen nicht hinaus … Es besteht die Gefahr einer Theorie um der Theorie willen, denn für einen Geographen (immerhin der Vertreter einer Spezialdisziplin) bestünde dann kaum noch ein wirklicher Anreiz, sich mit dieser Denkrichtung zu befassen; sie hilft ihm in dieser Form keine neuen Problemstellungen zu finden bzw. bestehende Fragestellungen zu beantworten“ (ebd.).

3. Von der Reflexion zur Praxis

3.) Von der theoretischen Reflexion zur sozialgeographischen Praxis: „Das sind all die Texte, die versuchen, mit Aussagen der poststrukturalistischen Philosophie zu konkreten (‚praktischen‘) Ergebnissen zu kommen. Sie haben eine Forschungsfrage und versuchen, diese zu beantworten. Die interessanteste Frage ist hierbei vor allem, wie und vor allem zu welchen Fragestellungen und Ergebnissen man dabei tatsächlich kommen kann. Würde man die hypothetische Frage stellen, was denn die poststrukturalistische Philosophie für eine Spezialdisziplin wie die Geographie denn eigentlich bringe, sollte 356

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

man hier auf diesem Gebiet am ehesten eine Antwort darauf bekommen“ (ebd. S. 20). 4.) Von der theoretischen Reflexion zur vermeintlichen sozialgeographischen Praxis: „Es ist vielleicht bezeichnend, dass es einigen Arbeiten gar nicht gelingt, von theoretischen Fragestellungen loszukommen, bzw. es überhaupt passieren konnte, dass man aufgrund theoretischer Überlegungen zu keinen bedeutenden Fragestellungen kommt, und die dennoch versuchten Antworten auf solche von einem respektabel komplizierten Theoriegebäude gestützten Fragen unter dem Strich so banal sind, dass man sich zumindest insgeheim fragen kann: ,Wozu der ganze Aufwand.‘ Much ado about nothing?“ (ebd.). Als Beispiel für diese Kategorie, die deshalb im Folgenden nicht weiter besprochen werden soll, führen die Autoren einen einzigen Text an (J. Strassel, 2000).

4. Von der Reflexion zur vermeintlichen Praxis

Die Autoren klassifizieren nach diesem Analyseraster eine repräsentative Auswahl poststrukturalistisch beeinflusster Arbeiten (n = 38) in der Geographie aus dem englischen und deutschen Sprachraum, die zwischen 1993 und 2001 erschienen sind. Die Zuordnung zeigt, dass auffällig viele Arbeiten der zweiten Kategorie, also dem Reflektieren der theoretischen Grundlagen, zugerechnet werden müssen. Diese doch eher überraschende Tendenz – von Vertretern einer empirisch orientierten Spezialdisziplin müsste man doch eher eine praxisbezogene Orientierung erwarten – ist vor allem unter den angloamerikanischen Autoren ausgeprägt. Demnach kann festgestellt werden, „dass es offensichtlich unter den poststrukturalistischen Geographen überproportional viele ‚Theoretiker‘ gibt, denen eine ungleich kleinere Gruppe an ‚Praktikern‘ gegenübersteht“ (ebd., S. 23). Eine relativ geringe Anzahl geographischer Autoren nimmt die poststrukturalistische Philosophie ausdrücklich beim Wort und ist bemüht, die Postulate der Relationalität, Pluralität und des „gleitenden Sinns“ auch im eigenen Text umzusetzen. Es ist kein Versehen, kein Scheitern oder Versagen der Autoren, wenn für den Leser in derartigen Texten kein eindeutig rekonstruierbarer Sinn erkennbar wird, sondern volle Absicht. Mögliche Sinnfindungen wären (kontingente) Konstitutionsleistungen der Leser – und genau das ist wohl die Zielsetzung derartiger Texte. Alan Preds Aufsatz mit dem symptomatischen Titel „Re-Presenting the Extended Present Moment of Danger: A Meditation on Hypermodernity, Identity and the Montage Form“ (1997) ist ein sehr anschauliches Beispiel für diesen Texttypus. Es handelt sich hier um eine einfache Aneinanderreihung („Montage Form“) von Zitaten und (meist stichwortartig notierten) Gedanken (Meditation). Explizit wird dabei auf das ,Gleiten des Sinns‘ à la Derrida hingewiesen (A. Pred 1997, S. 131). Gelbmann und Mandl resümieren: „Es gibt wahrscheinlich keine Aussage dieses Artikels, die einigermaßen zusammenfassbar und vermittelbar wäre“ (2002, S. 24). Ein kleiner Textausschnitt,

Theorielastigkeit des Ansatzes

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Poststrukturalismus beim Wort genommen: gleitender Sinn

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

bei dem Zeilenumbruch und Zeichensetzung genau dem Original entsprechen, möge dies veranschaulichen: “The day-to-day and minute-to-minute worlds in which we live are perhaps post-‘high modern,’ but difficult to defend as postmodern; for, any placing of the ear to the ground of past times and places would aurally reveal that we are not literally completely beyond the modern modes of life that appeared in conjuncture with specific forms of industrial capitalism.”

A. Pred 1997, S. 123 Metatheoretischer Diskurs: Reichert

Eine Autorin, die den artifiziell-intellektualistischen Stil der poststrukturalistischen Literatur geradezu perfektioniert hat, ist Dagmar Reichert. Einer ihrer Artikel (1993) stellt eine Collage verschiedener fremder (Freud, Heidegger, Hegel, Leibniz, Shakespeare, Foucault) und eigener Texte dar, die in einzelnen Blöcken und in unterschiedlichen Schriftgrößen nebeneinander montiert sind. Mehrfach sind die Sätze unvollständig und enden mit „…“. In der ersten Fußnote gibt die Autorin eine Art „Leseanleitung“, aus der die Motivation für ihren Schreibstil deutlich wird: “Other articles in this book have pointed to the inadequacy of dualistic thinking for a human ecology and to the importance of overcoming anything that presupposes a clear separation between subject and object. … In this chapter I think about the self-understanding of the human being as a subject (i. e. something that is identical to itself and different from the other, the object it faces). In the way I think about it, however, I try – as much as possible – to refrain from reproducing subject-object relations myself. The traditional notion of an author writing about something and thereby communicating a definite message to a passive reader is rooted in such relations. Hence I experiment with writing techniques taken from literary tradition such as stream of consciousness writing, intertextual writing and surrealist writing and emphasize the metonymic movement.” D. Reichert, 1993, S. 200/201 (Hervorhebung P. W.).

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11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Damit bietet die Autorin eine plausible Begründung für ihren Schreibstil, die für die Interpretation des Textes sehr hilfreich ist und auch deutlich macht, um welches Problem es ihr geht. Die Erläuterung kann aber nicht sicherstellen, dass verschiedene Leser zu einer intersubjektiv vergleichbaren Interpretation gelangen können. Die Deutung bleibt kontingent. Die Arbeiten, die Gelbmann und Mandl der zweiten Kategorie zuordnen – „(Ledigliches) Reflektieren der theoretischen Grundlagen“ – werden insgesamt sehr kritisch dargestellt. Die hier versammelten Autoren würden entweder nur bereits publizierte Meinungen referieren oder gar nicht ernsthaft auf den Poststrukturalismus Bezug nehmen. Die Arbeiten der dritten Gruppe („Von der theoretischen Reflexion zur sozialgeographischen Praxis“) sind ausdrücklich „umsetzungsorientiert“ und verfolgen das Ziel, mithilfe poststrukturalistischer Ideen einen Beitrag zur Weiterentwicklung der empirischen Forschungspraxis und zur Erreichung neuer Erkenntnisse zu leisten. Man erwartet sich von der Rezeption poststrukturalistischer Konzepte, dass damit „der praktisch orientierten Forschung eine Reihe von Instrumenten, sozusagen ein Werkzeugkasten, zur Verfügung gestellt wird. Diese Instrumente sollen in erster Hinsicht dazu dienen, traditionelle Fragestellungen unter einem anderen Blickwinkel bzw. diese wieder mit neuen Fragestellungen untersuchen zu können.Vor allem emanzipatorische Ansätze (Feminismus, Marxismus) – die an ihren traditionellen Forschungsfeldern natürlich festhalten – sehen darin die Möglichkeit, das Spektrum ihrer Untersuchungsmethoden und der damit ermöglichten Kritik zu verbreitern“ (ebd., S. 34). Bei dieser Textgattung fällt dem Autor die Abgrenzung zur „Neuen Kulturgeographie“ besonders schwer. Es ist auch klar, dass bei derartigen Ansätzen eine sehr pragmatische Zugangsweise gewählt wird, welche streng genommen den Grundprinzipien der poststrukturalistischen „Quellen“ widerspricht. Denn die hier vertretenen Autoren möchten ja eindeutig interpretierbare Aussagen machen, zu intersubjektiv vermittelbaren und argumentativ nachvollziehbaren Ergebnissen kommen. Ein allzu ausgeprägtes „Gleiten des Sinns“ wäre dabei in höchstem Maße kontraproduktiv. Empirisch sind poststrukturalistische Tendenzen in der deutschsprachigen Geographie, oft in Anlehnung an den anglophonen Kontext, vor allem auf die Themenfelder Macht, Ideologie, Diskriminierung (der Frau), ökonomische Ungleichverteilungen und politische Diskurse konzentriert. Dabei bestehen Verbindungen zu traditionell marxistisch-emanzipatorischen und feministischen Ansätzen. Ausdrücklich thematisiert wird auch die Frage der diskursiven Konstruktion von Welt. Hier ist übrigens eine deutliche Konvergenz zu den handlungstheoretischen Arbeiten über informativ-signifikative Regionalisierungen zu erkennen.

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Arbeiten zur Reflexion der theoretischen Grundlagen

Beispiele für „Von der Reflexion zur Praxis“

Themenfelder der praxisorientierten Arbeiten

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

„In der Praxis läuft die Übertragung poststrukturalistischer Prinzipien auf Spezialdisziplinen v.a. auf ein ‚In-Frage-Stellen‘ der bestehenden Ordnungen (auch Begriffe) und der damit zusammenhängenden Frage, wem diese Ordnungen nutzen (Machtstrukturen), und den Entwurf (bzw. besser: die Adaption) eines geeigneten ‚Instrumentariums‘, mit dem diese Sachverhalte nun untersucht werden können, hinaus. Von dem ‚In-Frage-Stellen‘ der gesamten abendländischen Rationalität, des ‚Sinns‘ und des Subjekts ist nicht mehr die Rede: ‘Poststructuralism offers a number of strategies for calling into question received ideas and dominant practices, making visible their power, and creating openings for alternative forms of practice and power to emerge.’ – schreibt etwa Gibson-Graham (2000, S. 97).“ N. Gelbmann und G. Mandl, 2002, S. 34 Gibson-Graham: Dekonstruktion als Analyse-Tool

Poststrukturalismus bringt innovative Impulse für die Sozialgeographie

Gibson-Graham (2000) setzt dabei „Dekonstruktion“ im Sinne von Derrida als Instrument zur Schärfung von Forschungsfragen ein. Sprache und Denken würden sich sehr stark auf binäre Strukturen beziehen (Mann/ Frau, Fabrik/Nicht-Fabrik etc.). Diese Gegensatzpaare könnten analytisch bearbeitet und damit dekonstruiert werden. „Was in der relativ abstrakten Philosophie bei Derrida auf den Verlust des Sinns hinausläuft“, wird bei J.K. Gibson-Graham (2000, S. 98) zu einem Analyse-Tool, das letztlich zu einer neuen Sinnstiftung führt. Man könne den geringer bewerteten Begriff des Gegensatzpaares untersuchen; bei Fabrik/Nicht-Fabrik sind das etwa Untersuchungen zur Bewertung der Hausarbeit. Dann zeige sich, wie viel unbezahlte Arbeit dort verrichtet wird, die außerhalb der „Logik des Marktes“ stehe, aber gleichzeitig ihrem Wertesystem unterworfen ist („Was nichts kostet, ist auch nichts wert“). Andererseits kann gezielt untersucht werden, wie sehr der eine Gegensatz eigentlich vom anderen Gegensatz abhängt bzw. in ihn einbezogen ist. Für das Fabrik/Nicht-Fabrik-Beispiel lässt sich etwa aufzeigen, wie viel an Gütern eigentlich in der Hausarbeit produziert wird (J.K. Gibson-Graham 2000, S. 99). Trotz der eher selektiven Zugangsweise mancher Autoren muss festgehalten werden, dass durch derartige Referenzen auf einzelne Ideen des Poststrukturalismus ein ausgesprochen „frischer Wind“ in der Forschungspraxis der Sozialgeographie entstanden ist und nicht nur Verunsicherung in Bezug auf eingefahrene Denk- und Interpretationsmuster, sondern durchaus innovative Beschreibungs- und Erklärungsmodelle produziert wurden. Allerdings bleibt anzumerken, dass manche dieser Neuerungen auch durch den Verweis auf andere Hintergrundtheorien hätten erreicht werden können. Wie bei der Besprechung der Beispielarbeiten zur handlungszentrierten Sozialgeographie angedeutet wurde, lassen sich die Instrumentarien der 360

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Dekonstruktion und der Diskursanalyse auch rein sprachwissenschaftlich begründen. Die oben am Beispiel der Arbeit von Gibson-Graham angesprochene Methodik der Dekonstruktion binärer Begrifflichkeiten könnte genauso gut auch aus der „Distinktionstheorie“ von R. Jokisch (z.B. 1996) abgeleitet werden. Damit hätte man sich die schwere Hypothek der poststrukturalistischen Philosophie und ihrer zentralen Aussage der Sinnverluste vielleicht ersparen können. Besonders überzeugend und konstruktiv wurden die „Poststrukturalismen“ nach Wahrnehmung des Autors in der feministischen Entwicklungslinie der Sozialgeographie eingesetzt. Eine knappe, aber überaus instruktive Darstellung der Positionierung des „poststrukturalistischen Feminismus“ im Gesamtgefüge der feministischen Debatte hat E. Aufhauser (2005) vorgelegt. Dieser Text ist die Einleitung zur Publikation der Diplomarbeit von Anke Strüver (2005), die mit ihren „Ansätzen für eine Geographie der Differenz“ eine durchaus kritische Aufbereitung verschiedener poststrukturalistischer Ansätze unternimmt. Da in der Reihe „Sozialgeographie kompakt“ ein eigener Band über die feministische Entwicklungslinie der Sozialgeographie erschienen ist (D. Wastl-Walter, 2010), soll hier auf eine detaillierte Besprechung dieser Arbeit und anderer einschlägiger Publikationen verzichtet werden.

Poststrukturalistischer Feminismus

Zwischenresümee Die Entwicklungslinie der poststrukturalistischen Sozialgeographie ist nicht leicht zugänglich und scheint sich auch dem geneigten Leser eher verschließen zu wollen. Dies ist allerdings kein Versehen, sondern Absicht und entspricht der inhärenten Logik dieses Ansatzes. Texte, die dem Typus der metatheoretischen Diskurse entsprechen, nehmen die Vorgaben des Poststrukturalismus gleichsam beim Wort und setzen sie konsequent um. Sie verzichten damit auf vordergründige Möglichkeiten einer intersubjektiv transferierbaren Textinterpretation. Dennoch enthalten diese Texte „Botschaften“. Sie wollen irritieren, verunsichern, den Leser auf unhinterfragte Voraussetzungen von Wissenschaft aufmerksam machen, Grundstrukturen des abendländischen Denkens infrage stellen. Sie realisieren wohl auch ästhetische Ansprüche der Autoren, und sie lassen Risse und Verwerfungen gängiger Weltdeutungen erkennen – wenngleich die Evokation derartiger Erkenntnisse je nach Leser sehr kontingent und unzuverlässig ausfallen dürfte. So gesehen sind Arbeiten dieses Typus zweifellos ein hochwirksames Antidot (Gegengift) gegenüber einem allzu naiven Empirizismus und einem allzu überheblichen Positivismus – vorausgesetzt allerdings, dass sich der Leser dafür sensibilisieren lässt. Irgendwelche „Erkenntnis

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11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

fortschritte“ im Sinne einer Erweiterung der sozialgeographischen Theoriebildung, des Aufdeckens bislang unbekannter Zusammenhänge und Regelhaftigkeiten bei der räumlichen Entwicklung gesellschaftlicher Systeme und/oder der gesellschaftlichen Produktion von Räumen sind bei derartigen Arbeiten jedoch nicht zu erwarten – was auch der Grundintention des Ansatzes widerspräche. Bei der relativ umfangreichen Gruppe von Texten, in denen die theoretischen Grundlagen der poststrukturalistischen Philosophie (lediglich) reflektiert werden, lässt sich eher kein besonders aufregender Erkenntnisgewinn für die Sozialgeographie erwarten. Sie führen – zum Teil didaktisch durchaus ansprechend – in die Denkstrukturen des Poststrukturalismus ein, erbringen aber über die bloße Wiedergabe des bereits Gedachten kaum einen erkennbaren Nutzen für die Forschungspraxis. Anders sieht dies zweifellos bei jenen Arbeiten aus, in denen versucht wird, unter Bezugnahme auf das Gedankengebäude der poststrukturalistischen Philosophie zu „konkreten“ Ergebnissen zu kommen und dabei spezifische Forschungsfragen zu beantworten oder zu kreieren. Bei dieser Gruppe von Texten – die zumindest zum Teil auch der Entwicklungslinie der Neuen Kulturgeographie zugeordnet werden könnten – ist eine durchaus innovative Weiterentwicklung der sozialgeographischen Theorie zu konstatieren, die besonders bei den feministisch orientierten Arbeiten auffällt. Diese Gruppe von Arbeiten ist allerdings mit dem Vorwurf konfrontiert, eine eklektische Selektion poststrukturalistischer Ideen vorzunehmen und die eigentliche Zielrichtung dieser Philosophie zu verpassen.

11.2. Cultural Turns als Grundlage der „Neuen Kulturgeographie“ Definition „Kultur“

„Kultur“ ist einer jener übergroßen Begriffe, die man, wie Nietzsche einmal gesagt haben soll, nicht definieren kann. Dennoch existieren natürlich hunderte von Definitions- oder Explikationsversuchen. Das lateinische cultura wird mit Landbau übersetzt, meint aber auch „Pflege des Körpers und des Geistes“. Die knappste Explikation, die mir bisher untergekommen ist, fand ich in einem „kommentierten Vorlesungsverzeichnis“ (WS 1998/99) des Instituts für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig (S. 10). Der Begriff „Kultur“ habe zwei Ursprünge: „Er bedeutet sowohl die ‚Kultivierung‘ des Geistes und der Seele: ‚cultura animi‘, - und er meint andererseits den Inbegriff aller vom Menschen geschaffenen Dinge: die menschliche Lebenswelt und die menschlichen Lebensweisen, die zweite Natur: ‚natura altera‘.“ Ein derart breites Verständnis umfasst neben den geistigen Ele362

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

menten wie Sprache, Ethik, Religion, Kunst,Wirtschaft, Recht etc. auch die Gesamtheit der (mit diesen Sphären verbundenen) materiellen Kultur, also die vom Menschen produzierten, gestalteten und umgestalteten Gegenstände und Artefakte. Etwa ab den 1980er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts geriet Kultur erneut (im Vergleich zur „Alten Kulturgeographie“) und auf deutlich veränderte Weise in das Blickfeld der Geographie. Und wieder war es die angloamerikanische Geographie, von der aus, wie in der Einleitung zu diesem Abschnitt bereits angedeutet, die ersten Impulse für eine Neubewertung und Neuinterpretation des Kulturbegriffes gesetzt wurden. Um die Jahrtausendwende konnte Don Mitchell der (Neuen) Kulturgeographie des englischen Sprachraumes bereits eine ausgesprochene „Trendiness“ bescheinigen:

Erste Impulse aus dem angloamerikanischen Raum

“Now everyone wants to be a cultural geographer. Cultural geographers get to study music; sex; cultural identity; the mall; tourist attractions; literature; shopping (or rather ‘consumption’); race, gender and ethnicity …; spectacle; representation; tropes of mobility; theme restaurants and theme parks; protest and social movements; ‘nature’; and anything putatively postmodern, poststructural, postcolonial, or postpolitical. Not only is cultural geography fun, but doing it makes its practitioners look like they are doing something important, something relevant to the world we live in, for the world we live in seems to be fully, inescapably, irrevocably ‘cultural’. It is no exaggeration now to say that ‘culture is everything’ – and geographers have been at the forefront of saying just that …”. D. Mitchell, 2000 a, S. 3

Im deutschen Sprachraum setzte die Rezeption der Neuen Kulturgeographie (wieder) mit einer leichten Verspätung ein. Hier wurde die Mainstream-Humangeographie erstmals am Deutschen Geographentag 2001 in Leipzig in einer sehr gut besuchten Fachsitzung (organisiert von A. Dix und U. Wardenga) mit der Neuen Kulturgeographie konfrontiert. Ein nächstes Event war die Präsentation des Bandes „Kulturgeographie“ (H. Gebhardt, P. Reuber und G. Wolkersdorfer, Hrsg., 2003) bei einer weitgehend ausgebuchten Veranstaltung des Leibniz-Instituts für Länderkunde in Leipzig, die unter dem Titel „Neue Kulturgeographie in Deutschland. Themen, Methoden, Perspektiven“ vom 29. bis 31. Januar 2004 stattfand und bei der in mehreren Workshops und einer abschließenden Plenumsdiskussion überaus anregend diskutiert wurde. Ein ausführliches Protokoll dieser Tagung findet sich auf der Homepage des IfL (Downloadcenter). Seither wurde bis 363

Neue Kulturgeographie in Deutschland

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Forschungsfragen der Neuen Kulturgeographie

2017 jedes Jahr eine groß angekündigte und jeweils gut besuchte Folgeveranstaltung zum Thema organisiert. Der als „Reader“ angelegte Band „Kulturgeographie“ wurde im deutschen Sprachraum geradezu flächendeckend rezipiert und regte zu sehr kontroversen Diskussionen an. Einen besonders lesenswerten Überblick der Streit- und Kritikpunkte bieten die ausführliche und sehr kritische Rezension von H. Klüter (2005) und die ebenfalls sehr anspruchsvoll und anregend formulierte Entgegnung von W.-D. Sahr (2005). Was sind nun die zentralen Forschungsfragen der Neuen Kulturgeographie? In seinem Lehrbuch führt D. Mitchell folgende „key questions behind … the contemporary study of cultural geography“ an: “What constitutes significant cultural difference? What are the sources and processes of cultural differentiation? How are these sources and processes of cultural differentiation linked to developments in political economy (from the local to the global scale)? How is cultural change – the dialectic between sameness and difference – negotiated, contested, or struggled over? Who has the power to produce ‘culture’ – the power to say that being able to eat rice at McDonald’s is a significant achievement in the preservation of cultural diversity?” D. Mitchell, 2000 b, S. XIII

Mitchell: Durchsetzung kultureller Ansprüche – „Cultural War“

Für Don Mitchell steht die Frage der Durchsetzung kultureller Ansprüche im Vordergrund. Er betont den Aspekt der Hegemonie kultureller Systeme und die Prozesse, mit deren Hilfe bestimmte Gruppen die Definitionsmacht zur Festigung kultureller Ansprüche erhalten. Deshalb verwendet er die Metapher des Kulturkampfes („Cultural War“) und geht davon aus, dass „Culture is politics by another name“ (2000 b, S. 3). Er zeigt dies unter anderem am Beispiel des neuen Convention Centers in der Innenstadt von Denver, Colorado, auf. Die Künstlerin Barbara Jo Revelle schuf dort ein zwei Block langes Mosaik mit der Bezeichnung „Colorado Panorama: A People’s History“. Auf diesem Mosaik sind 168 Portraits abgebildet, die verschiedene Personen darstellen, welche in irgendeiner Form für die Geschichte und die Identität Colorados bedeutsam sind. Darunter finden sich traditionelle „Helden“ der Geschichte des Westens wie Kit Carson, aber auch Gewerkschafter, der Begründer der Black Panther in Denver, Lauren Watson, Farmer, lokale Aktivisten, Bergarbeiter etc. Dieses Mosaik kam von Beginn an in das Kreuzfeuer der Kritik. Offizielle Vertreter der Stadt verlangten von der Künstlerin, mehrere der Portraits zu entfernen, so etwa einen Aids-Aktivisten, einen Bürgerrechtler und Lauren Watson. Die 364

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Künstlerin weigerte sich mit der Begründung, dass auch diese Personen verschiedene Kapitel der Geschichte Colorados mitbestimmt hätten. Daraufhin durfte sie das Projekt nicht fertigstellen und die dafür bereits bewilligten Gelder wurden anderweitig verwendet. Eine bestimmte kulturelle Interpretation der Geschichte und Identität des Landes wurde durch die Durchsetzung von Macht zumindest deutlich abgeschwächt. Dies sei nur ein kleines Beispiel für die vielfältigen Ausprägungsformen der Kulturkämpfe: “The battlefronts in the culture wars are many and varied. In the United States they have included everything from long-running battles over abortion and the use of drugs, to curriculum in schools, to what is broadcast on TV. Globally, they can be seen in the reassertion of fundamentalist religious beliefs in all religions, battles against the ‘Americanization’ of the media, reassertion of national identity, pride, and prejudice, and attacks on immigrants, foreigners, and minority ethnic populations” (ebd., S. 4/5). “The Colorado mural is instructive, though, because the terms of the debate over it are indicative of the sorts of social, political, and economic tensions that mark contemporary society – and the cultural wars that are so much a part of its landscape. The controversy around Revelle’s mural asks us to consider how different ideals, different ‘cultures’ are represented and contested. Like other wars, wars over culture are territorial, they literally take place, whether that place is on the wall of a convention center, on the city streets outside, or in the print and electronic media. Culture wars are about defining what is legitimate in a society, who is an ‘insider’ and who is an ‘outsider’. They are about determining the social boundaries that govern our lives. … arguments over ‘culture’ are arguments over real spaces, over landscapes, over the social relations that define the places in which we and others live.” D. Mitchell, 2000 b, S. 5/6

Mitchell verweist auf Nationalismen und religiöse Fundamentalismen, die weltweit als besonders dramatische Beispiele für derartige Kulturkämpfe angeführt werden können. Ein wichtiges Argument lautet nun:

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Neue Kulturgeographie als spezifische Perspektive der Sozialgeographie

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

“… any culture war – now or in the past – is both a reflection of, and an ongoing contribution to, the geographies we build in the world. Each successive battle transforms the geography in which it takes place and therefore creates new contexts – new geographical situations – within which the next round of struggle occurs. … By examining the geography of culture, then, we can get a better handle on how it is that our social worlds are constructed and contested, how we do and do not live together, and how, historically, these constructions and contestations have created the material contexts within which new struggles for cultural determinacy, for cultural autonomy, for cultural control, and for cultural rights take place.” D. Mitchell, 2000 b, S. 11/12

„Cultural Turn“ nach Blotevogel

Derartige Vorannahmen und die damit verbundenen programmatischen Orientierungen zeigen in aller Deutlichkeit die Positionierung der Neuen Kulturgeographie als eine spezifische Perspektive der Sozialgeographie auf. Die im Buch von Don Mitchell erkennbare Umorientierung und Neupositionierung kann als Rezeption des fächerübergreifenden „Cultural Turn“ durch die Sozialgeographie interpretiert werden. Was genau ist mit „Cultural Turn“ gemeint? H.H. Blotevogel (2003) bietet dazu eine erste Positionsbestimmung: „Eine klare Antwort wird dadurch erschwert, dass mit diesem Terminus ziemlich unterschiedliche Phänomene bezeichnet werden. Dazu gehören beispielsweise die explizite Einbeziehung kultureller Forschungsgegenstände, die Berücksichtigung kultureller Einflüsse auf Gesellschaft und Wirtschaft, die Verwendung qualitativer bzw. interpretativer Methoden, die Akzentuierung des Idiographischen, die Ablehnung strukturalistischer Erklärungsansätze und/oder die Skepsis gegenüber dem szientifischen Wissenschaftsmodell. Insofern wäre es zweifellos angemessener, nicht von dem cultural turn, sondern von einer Familie mehrerer cultural turns zu sprechen.“ H.H. Blotevogel, 2003, S. 9 Diese verschiedenen „Wenden“ ließen sich als ein Prozess der Neubestimmung von Fragestellungen und Methoden verstehen, der seit den 1970er-Jahren für die meisten Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zu beobachten ist. Er begann zunächst in der Ethnologie und Volkskunde und wurde dann von der Philologie, der Philosophie, der Geschichtswissenschaft 366

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

sowie von einigen Gesellschaftswissenschaften aufgenommen. Als zentrales Element des Wandels nennt Blotevogel ein verändertes Verständnis von „Kultur“. „Die traditionelle Auffassung von Kultur als regional gebundener, historisch geprägter, allenfalls längerfristig wandelbarer und insofern eher statischer Bezugsrahmen des menschlichen Handelns geriet in die Kritik. Allerdings ist aus der Kritik kein neues eindeutiges Verständnis von ‚Kultur‘ hervorgegangen, der Begriff blieb vieldeutig.“ H.H. Blotevogel, 2003, S. 9/10 Einerseits werde „Kultur“ in einem umfassenden Begriffsverständnis als „whole way of life“ angesehen, in dem die menschliche Fähigkeit zum Ausdruck kommt, die Welt sinnhaft zu deuten. Andererseits finde sich auch eine engere Konzeption, bei der „Kultur“ auf künstlerische und intellektuelle Aktivitäten – auch außerhalb von Hochkultur – bezogen wird. „Gemeinsam ist den neuen Auffassungen jedoch, dass Kultur nicht als ein Gegenstand verstanden wird, sondern als ein Prozess der sinnhaften Kartierung der Welt und der Verortung des Selbst als zentraler Aspekt menschlicher Kommunikation und menschlichen Handelns. Zentral sind ,signifying practices‘, d.h. Praktiken der Sinnzuschreibung, der symbolischen Deutung und der Repräsentation, die soziales Verhalten orientieren.“ H.H. Blotevogel, 2003, S. 9/10 Methodisch wirken sich die Cultural Turns in „… einer zunehmenden Skepsis gegenüber quantitativen Erhebungsmethoden wie standardisierten Befragungen und in einer Hinwendung zu qualitativen und insbesondere interpretativen Methoden wie teilnehmender Beobachtung, nicht oder nur gering vorstrukturierten Interviews sowie der Diskursanalyse …“ aus (ebd., S. 11). Dieser Umschwung zu qualitativen empirischen Methoden sei als Konsequenz eines tiefgreifend veränderten methodologischen Programms zu sehen.

367

Methodische Auswirkungen des Cultural Turn

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

„Mit dem cultural turn erfolgt eine Hinwendung zur Hermeneutik, zu interpretativen Methoden der Sinnerschließung, der Re- und Dekonstruktion der Bedeutung von Handlungen, Handlungsartefakten und Texten … Diese Verschiebung umfasst eine gewandelte Auffassung von der Seinsweise der Forschungsgegenstände (Ontologie) und von der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung und Beschreibung (Epistemologie): Es geht nicht um die Erfassung der – vom Menschen und speziell vom beobachtenden Wissenschaftler als unabhängig existent angenommenen – Realität, sondern um die Reinterpretation der vom Menschen bereits vorinterpretierten Wirklichkeit(en) …“ H.H. Blotevogel, 2003, S. 12

Schlüsselimpulse: Hermeneutik

Grundlagen aus den 1960er–und 1970er-Jahren

Berger/ Luckmann

Im Folgenden formuliert H.H. Blotevogel eine komprimierte und exemplarische Darstellung der geistesgeschichtlichen Hintergründe und Schlüsselimpulse des Cultural Turn. Als dessen bedeutsame ältere Wurzel identifiziert er eine spezifische geisteswissenschaftliche Methodologie der Kulturwissenschaften gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals entstand die (moderne) Methodenlehre der Hermeneutik „… als Kunst der Auslegung von Texten und Quellen. Damit korrespondiert das Konzept der ,idiographischen‘ oder ,historischen‘ Wissenschaften, deren Ziel nicht die Formulierung von Gesetzen zur Erklärung der Forschungsgegenstände sei, sondern das Verstehen individueller Besonderheiten“ (S. 16). Als Schlüsselautoren führt er unter anderen die Philosophen Wilhelm Dilthey, Heinrich Rickert, Edmund Husserl, Martin Heidegger und Ernst Cassirer an. Als zweite Entwicklungslinie identifiziert er die Kritik an der Moderne, die mit Friedrich Nietzsche einsetzt und im deutschen Sprachraum mit dem Werk „Dialektik der Aufklärung“ von Th. W. Adorno und Max Horkheimer (1969 (1944)) einen ersten Höhepunkt erreichte. In dieser Kritik an der Moderne und ihrem Vernunftkonzept wird eine der Gemeinsamkeiten des Cultural Turn und des Poststrukturalismus erkennbar. In den 1960er- und 1970er-Jahren wurden dann die entscheidenden Grundlagen für den eigentlichen Cultural Turn gelegt. Hans-Georg Gadamer präsentierte mit seinem Werk „Wahrheit und Methode“ (1960) eine besonders bedeutsame Schlüsselpublikation der philosophischen Hermeneutik. In der Folge wurden auch die bereits skizzierten Reflexionen der poststrukturalistischen Autoren von den Kulturwissenschaften zur Kenntnis genommen. Wesentliche Impulse für den Cultural Turn gingen von dem Buch „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ aus (P. Berger und Th. Luckmann, 1969). Dieser „Klassiker“ der Wissens- und Kultursoziologie „… leitet die konstruktivistische Wende in den Sozialwissenschaften ein. Für die Autoren ist Gesellschaft konstruiert durch Handlungen, die 368

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

subjektiv gemeinten Sinn zum Ausdruck bringen. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei die Wirklichkeit der Alltagswelt ein, genauer: die Vielfalt der Wirklichkeiten, in denen die Menschen im Alltagsbewusstsein leben“ (H.H. Blotevogel, 2003, S. 18). Als weiterer Schlüsseltext gilt das Buch „Strukturen der Lebenswelt“ von Alfred Schütz und Thomas Luckmann (1975), in dem die Forderung aufgestellt wird, „… dass im Zentrum der Humanwissenschaften die Beschreibung und Deutung der Grundstrukturen der Lebenswelt, d.h. der vorwissenschaftlichen, von den Menschen als selbstverständlich erlebten Wirklichkeiten der Alltagswelt, stehen möge“ (H.H. Blotevogel, 2003, S. 18). Weitere wichtige Autoren, auf die sich die Vertreter des Cultural Turn in den verschiedenen Kulturwissenschaften (und der Geographie) immer wieder beziehen, sind der Ethnologe Clifford Geertz und der Literaturtheoretiker Edward Said. Letzterer beeindruckte und inspirierte die Proponenten des Cultural Turn vor allem durch sein Buch „Orientalism“ (1978), in dem er eine diskursanalytisch begründete Kritik am Orientbild der westlichen Wissenschaft vorlegte und die dort charakteristische Dichotomisierung zwischen einem „aufgeklärten“ Westen und einem „mystischen“ Orient als Ideologie entlarvte. Clifford Geertz (z.B. 1973 und 1983) vertritt in seinem Spätwerk einen semiotisch fundierten Kulturbegriff. Kultur ist für ihn ein „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“, das ständig neuen Interpretationen unterworfen ist und deren Bedeutungskonstellationen sich ständig in Herstellung und Wandlung befinden. Die lokale „Sinnproduktion“ dieser Bedeutungsgewebe könne in Form einer interpretierenden „dichten Beschreibung“ erfasst werden, bei der die Position des Forschers in die Beschreibung und Interpretation einbezogen werden müsse. Blotevogel weist in seinem Übersichtsartikel wiederholt darauf hin, dass es sich beim Cultural Turn keineswegs um ein eindeutiges, homogenes und klar fassbares Phänomen handelt. In der kulturwissenschaftlichen Literatur sei deshalb auch von einer Mehrzahl von „Cultural Turns“ die Rede, die konsequenterweise auch zu einer Vielzahl von „new cultural geographies“ geführt hätten (H.H. Blotevogel, 2003, S. 22; vgl. auch Ph. Crang, 1997). Doris Bachmann-Medick (2006) unternimmt in ihrer Monographie über Cultural Turns den Versuch einer „Kartierung“ der Kulturwissenschaften und unterscheidet nicht weniger als sieben (bzw. acht) voneinander mehr oder weniger gut abgrenzbare „Wenden“.

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Geertz/Said

„Kartierung“ der Kulturwissenschaften nach BachmannMedick

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

„Erst die unterschiedlichen ,Wenden‘, die sich etwa seit den 1970er Jahren im Schlepptau des linguistic turn herausgebildet haben, legen ein ausdifferenziertes, höchst dynamisches Spannungsfeld der kulturwissenschaftlichen Forschung frei. Erst sie haben Blickrichtungen geändert und neue Fokussierungen eingeführt. Damit haben sie durch alle Disziplinen hindurch bisher unbearbeitete Forschungsfelder quer zu den Disziplinen erschlossen und den etablierten Theorien- und Methodenkanon durch gezielte Forschungsanstöße aufgebrochen.“ D. Bachmann-Medick, 2006, S. 7 Kultur als „Textur des Sozialen“

Linguistic Turn

Wenn man die verschiedenen „Turns“ vor dem Hintergrund der gesamten Kulturwissenschaften betrachtet, dann werde zunächst eine grundsätzliche Umorientierung erkennbar, durch die szientistische, positivistische und ökonomistische Erklärungen des Sozialen abgelöst und „eine grundlegende Neubewertung von Symbolisierung, Sprache und Repräsentation auf den Weg gebracht“ worden sei (ebd., S. 13). Kultur wird dabei als „Textur des Sozialen“ gesehen, als „Transfervorgang“, durch den das Soziale gleichsam ins „Symbolische“ übersetzt werde. Die verschiedenen „Turns“ markieren in diesem Kontext keine jeweils kopernikanische Wende im Sinne eines eigenständigen Paradigmas. (Der Begriff „Paradigma“ wird in Kapitel 12 noch genauer besprochen.) Es handle sich dabei nämlich nicht um „umfassende Kehrtwendungen“, sondern „eher um die Ausbildung und Profilierung einzelner Wendungen und Neufokussierungen“, wobei es „zum Methodenpluralismus, zu Grenzüberschreitungen (und) eklektizistischen Methodenübernahmen“ (ebd., S. 17/18) komme. Allerdings gebe es einen entscheidenden „Mega-Turn“, der alle anderen Formen der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung erst ausgelöst habe, nämlich den Linguistic Turn. Wir haben die dahinterstehende Grundidee weiter oben bereits als bedeutsamen Wesenszug der Philosophie des 20. Jahrhunderts angesprochen. Der Linguistic Turn „… durchzieht alle einzelnen turns und bildet das mächtige Vorzeichen für alle weiteren Richtungswechsel und Schwerpunktverlagerungen, die sich jeweils auf ihre Weise am linguistic turn abarbeiten“ (ebd., S. 33). „Die Überzeugung von den Grenzen der Sprache als den Grenzen des Denkens bzw. die Überzeugung, dass ,unterhalb‘ bzw. jenseits der Sprache und des Sprachgebrauches keine Realität verborgen ist, führt zu einer folgenreichen Einsicht: Jegliche Analyse der Wirklichkeit ist sprachlich determiniert und durch eine Sprachpriorität ,gefiltert‘ … Mit Sprache werde keine von ihr unabhängige, darunter 370

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

liegende Wirklichkeit beschrieben. Statt eines Instruments zur Beschreibung von Wirklichkeit sei Sprache vielmehr ein Instrument zur Konstitution von Wirklichkeit: Alle Erkenntnis des Realen ist in sprachlichen Aussagen formuliert; es gibt keine Realität, die nicht von Sprache durchzogen und die nicht schon sprachlich geprägt wäre.“ D. Bachmann-Medick, 2006, S. 34/35 Damit ist der Linguistic Turn letztlich auch eine entscheidende Grundlage für die Entwicklung der verschiedenen Formen des Konstruktivismus, auf den weiter unten noch einzugehen ist. Es ist an dieser Stelle nicht erforderlich, die verschiedenen „Wenden“ im Detail vorzustellen. Sie sollen im Folgenden nur aufgezählt und in aller Kürze charakterisiert werden. Alle haben – mehr oder weniger ausgeprägt – die Neue Kulturgeographie beeinflusst. Der „Interpretive Turn“ wurde in den 1970er-Jahren von der amerikanischen Kulturanthropologie vollzogen. Er ist durch einen semiotischen Kulturbegriff gekennzeichnet. Kultur wird als ein Zeichen- und Symbolsystem verstanden, das „… sowohl auf seine Bedeutung hin auslegbar ist als auch Selbstdeutungen leistet“ (ebd., S. 37). Kultur wird gleichsam als Text gelesen, den es zu interpretieren gilt. Der „Performative Turn“ greift diese textuell-interpretative Wende kritisch auf und versucht eine Dynamisierung. Die Aufmerksamkeit verschiebt sich damit vom Text und seiner Bedeutung hin auf die „Aufführungspraxis“, auf die „Performance“ des soziokulturellen Handelns. Damit werden auch Körperlichkeit und nicht verbale Handlungsdimensionen in den Vordergrund gerückt und der Ritual- und Inszenierungsaspekt der kulturellen Produktion von Wirklichkeit betont (vgl. dazu auch C. Wulf et al., 2001). „Dies lässt die verschiedensten Disziplinen danach fragen, wie Wirklichkeit produziert und inszeniert wird, welche Inszenierungsstruktur Handlungen aufweisen, etwa in Form von Festen, Karneval, in kulturellen Darstellungsmedien wie Sport, in politischer Inszenierung und Religion und nicht zuletzt in Drama und Theater. ,Kultur als Darstellung‘ zu betrachten fordert die Disziplinen dazu heraus, ausgehend von der kulturellen Ausdruckssphäre einen Zugang zur Dynamik sozialer Prozesse zu gewinnen.“ D. Bachmann-Medick, 2006, S. 34/35 Das Konzept der Performativität wurde in der feministischen Sozialgeographie etwa von Judith Butler (z.B. 1990) aufgegriffen und auch auf diskur371

Interpretive Turn

Performative Turn

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Reflexive Turn

Postcolonial Turn

Translational Turn

Spatial Turn

Pictorial Turn

Kulturgeographie nach Gebhardt/ Reuber/ Wolkersdorfer

sive Praktiken und Sprechakte bezogen, deren Vollzug soziale Fakten gleichsam „produziert“ (z.B. Ernennungen). Der „Reflexive Turn“ verweist auf die zunehmende kritische Selbstreflexion der Kulturwissenschaften. Er ist durch eine „kritische Durchleuchtung des wissenschaftlichen Schreibvorgangs“ gekennzeichnet, bei der „Darstellungs- und Erzählstrategien aufgedeckt (werden): literarische Muster und Plots sowie der Einsatz von Metaphorik und Ironie. Freigelegt wird damit das erhebliche Steuerungs- und Manipulationsvermögen von Autoren und Autorinnen, ja die Abhängigkeit der Kulturbeschreibung von der Autorität der Verfasser …“ (D. Bachmann-Medick, 2006, S. 39). Der „Postcolonial Turn“ wurde von der Literaturwissenschaft ausgelöst. Seit den 1980er-Jahren und im „Anschluss an Dekolonisierungsphänomene und ihre kritische literarische Repräsentation durch neuere Literaturen der Welt außerhalb Europas“ kam es bei den Kulturwissenschaften zu einer „Infragestellung ihrer eigenen Prämissen“. Dies führte zu einer globalen und transkulturellen Öffnung, die ein Überdenken des „eurozentristischen Universalisierungsanspruchs der wissenschaftlichen Untersuchungskategorien selbst“ zur Folge hatte (ebd., S. 39/40). Mit dem „Translational Turn“ wird die Kategorie der Übersetzung als kultur- und sozialwissenschaftlicher Grundbegriff thematisiert. Dabei geht es um Übersetzungen „von und zwischen den Kulturen“, bei denen „Grenz- und Differenzaushandlungen“ eine wichtige Rolle spielen (ebd., S. 245/246). Der „Spatial Turn“ kennzeichnet die „Wiederentdeckung“ des „Raumes“ durch die Kulturwissenschaften. Er wurde vor allem durch die Erfahrung globaler Enträumlichung und dem dazu komplementären Prozess der Regionalisierung ausgelöst. „Raum“ wird „… zu einer zentralen Analysekategorie, zum Konstruktionsprinzip sozialen Verhaltens, zu einer Dimension von Materialität und Erfahrungsnähe sowie zu einer wirkungsvollen Repräsentationsstrategie“ (ebd., S. 42). Und schließlich wird in der Literatur noch der „Pictorial“ oder „Iconic Turn“ erwähnt, „… der seit den 1990er Jahren gegen die Vorherrschaft der Sprache und des Sprachsystems, ja gegen den Logozentrismus der westlichen Kultur eine neue Aufmerksamkeit auf den Erkenntniswert von Bildern fordert.“ Dabei geht es einerseits um Bilder als Objekte von Anschauung, Interpretation und Erkenntnis, andererseits wird auch danach gefragt, „… welche Fähigkeit Bilder und andere visuelle Erfahrungen haben,Wissen überhaupt erst zu formen. Statt um Erkennen von Bildern geht es immer mehr um Erkennen durch Bilder und Visualität; statt darum, Bilder zu verstehen, geht es eher darum, die Welt in Bildern sowie durch spezifische Kulturen des Sehens und des Blicks zu verstehen“ (ebd., S. 42). All diese spezifischen Fragehaltungen der Kulturwissenschaften und die damit verbundene Umorientierung von Analyse- und Beschreibungskategorien beeinflussten in unterschiedlichem Ausmaß auch die Neue Kulturgeographie. Dies gilt auch für die deutschsprachige Variante, wie sie exemplarisch im Reader „Kulturgeographie“ (H. Gebhardt, P. Reuber und G. 372

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Wolkersdorfer, Hrsg., 2003) präsentiert wird. Entsprechend der relativ frühen Position im Zyklus der Rezeptionsgeschichte dominieren in diesem Band allerdings Artikel, die stärker programmatisch und konzeptionell ausgerichtet sind. In den meisten dieser Texte wird die Neue Kulturgeographie nicht wirklich praktiziert, sondern es wird die Forderung aufgestellt und begründet, dass man sie praktizieren solle. Es werden – zum Teil sehr überzeugend – Fragestellungen, Perspektiven, Zugangsweisen, Deutungsangebote, Analysekategorien und Methoden besprochen, die für die deutschsprachige Mainstream-Humangeographie als neuartig und innovativ angesehen werden und deren Herleitung oder Begründung durch Verweise auf die verschiedenen Cultural Turns und deren epistemologische Konsequenzen erfolgt. Die dabei meist sehr deutlich vertretene Forderung nach einer „Veränderung des Blicks“, nach einem Perspektivenwechsel, nach einer „anderen“ Geographie (J. Lossau, 2003) geht Hand in Hand mit dem Aufzeigen verschiedener Schwächen, Defizite oder gar ideologischer Fundierungen der bisher gebräuchlichen Sichtweisen. Dabei steht der Konstruktcharakter der fachspezifischen Weltdeutung im Zentrum der Kritik, die somit als „Weltoder Wirklichkeitsproduktion“ entlarvt wird. Diese radikale Verunsicherung der gängigen (fachspezifischen) Weltdeutungen markiert eine der vielen Verknüpfungen zwischen Neuer Kulturgeographie und poststrukturalistischen Ansätzen der Sozialgeographie. Als disziplinpolitisch bedeutsames Faktum ist noch darauf hinzuweisen, dass durch die Neue Kulturgeographie ein deutlicher Qualitätssprung in dem seit etwa drei Jahrzehnten zu beobachtenden Prozess der „Reintegration“ humangeographischer Teildisziplinen ausgelöst wurde. Die immer stärkere Ausdifferenzierung der verschiedenen „Geofaktorenlehren“, die als „Schubladengeographien“ des „logischen Systems“ (vgl. Abb. 1) die innerfachliche Arbeitsteilung in der Humangeographie strukturieren sollten, wurde zunehmend obsolet (vgl. P. Weichhart, 1997 b). Durch die Impulse der Neuen Kulturgeographie kommt es zu einer noch stärkeren Vernetzung oder Verknüpfung zwischen den Teildisziplinen der Humangeographie. Die Grenzen zwischen Sozialgeographie, Politischer Geographie (vgl. G. Wolkersdorfer, 2001 oder B. Belina, 2003), Stadtgeographie (vgl. G. Wood, 2003) oder Wirtschaftsgeographie (vgl. J. Glückler und H. Bathelt, 2003) werden zunehmend aufgelöst, denn das übergreifende Konzept der Kultur legt eine integrative und ganzheitliche Betrachtungsweise nahe. Ja sogar die in der Zwischenzeit geradezu versteinerte Grenze zwischen Physiogeographie und Humangeographie beginnt brüchig zu werden, weil (auch) aus der Sicht der Neuen Kulturgeographie „Natur“ als kulturelles Konstrukt entlarvt und damit die Grenzen zwischen Natur und Kultur „verhandelbar“ werden (vgl. W. Zierhofer, 2003). Wie die Konzepte der Neuen Kulturgeographie und ihre Forderung nach einer „anderen“ Sichtweise in der konkreten Forschungspraxis umge373

Forderung nach Veränderung des Blicks

Stärkere Vernetzung der Teildisziplinen

Konzept nach Lossau

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Themenorte

setzt werden könnten, soll im Folgenden anhand einiger Zitate aus dem Aufsatz von Julia Lossau (2003) im Band „Kulturgeographie“ veranschaulicht werden. Die Autorin geht von so genannten „Themenorten“ und „Themenfestivals“ aus. Es handelt sich dabei um Inszenierungen, bei denen bestimmte Orte oder Ereignisse an anderen Orten gleichsam nachgeahmt und damit repräsentiert werden. So findet in Hot Springs, Arkansas, ein Oktoberfest mit deutschen Bräuchen, bayerischer Folklore und original Oktoberfest-Musik statt. Als zweites Beispiel verwendet die Autorin den Themenpark Swissminiatur im Kanton Tessin, in dem zahlreiche „Modelle von Patrizierhäusern, Burgen, Domkirchen und anderen Bauten der Schweiz“ im Maßstab 1:25 ausgestellt sind. Die Besucher solcher Orte und Veranstaltungen wüssten natürlich, dass sie die dargestellten Ereignisse „lediglich repräsentiert“ und „irgendwie symbolisch und zusammenfassend“ dargestellt bekommen (S. 102). „Dennoch werden in all diesen Fällen Räume repräsentiert, und diese Repräsentationen wirken in gewisser Weise auf ihre Originale zurück. Denn es stellt sich die Frage, was eigentlich den Unterschied zwischen den Repräsentationen und ihren Vor-Bildern (sic) ausmacht. Anders gefragt: Wäre es nicht möglich, dass nicht bloß die Burgen und Domkirchen von Swissminiatur oder der German Bier Garten in Hot Springs Konstruktionen darstellen, die nicht authentisch sind, sondern nachempfunden wurden? Wurden und werden nicht auch deren Originale immer wieder aufs Neue nachempfunden, oder besser, erfunden? Anders gefragt: Stellen nicht auch das ,richtige‘ Irland und die ,richtige‘ Türkei geographische Repräsentationen dar, die insofern durch ihre Bezeichnung bedingt sind, als schlicht nichts gedacht werden kann, was vor seiner Bezeichnung von Bedeutung wäre?“ J. Lossau, 2003, S. 102

Konstruktion repräsentierter Wirklichkeit

Die eben zitierte Frage könne als Leitfrage einer anderen Geographie angesehen werden. Dabei gehe man eben nicht davon aus, dass die „vermeintlich natürliche geographische Wirklichkeit per se existiert, sondern untersucht die Prozesse, in deren Verlauf diese Wirklichkeit als repräsentierte Wirklichkeit erst konstruiert wird“ (ebd. S. 102/103). Als entscheidendes Moment dieses Prozesses werde die Trennung des „eigenen“ Raumes von dem der jeweils „Anderen“ angesehen. Um die Leitfrage beantwortbar zu machen, bedient sich die Autorin (mit ausdrücklicher Referenz auf den Postkolonialismus und den (Post-)Feminismus als „explizit politische Varianten des postmodernen/poststrukturali374

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

stischen Denkens“) der Dekonstruktion, mit deren Hilfe eine „Verstörung“ zweier „grundlegender Setzungen der modernen Rationalität“ (ebd., S. 103) erreicht werden soll. Die moderne Rationalität hätte nämlich „… auf ihrer traditionellen Suche nach der Einheit von Einheit und Vielheit unweigerlich die Einheit privilegiert …“ und die Vielfalt aus dem Blickfeld verloren (ebd.). Es gehe also um die „… Verstörung desjenigen Aspekts der neuzeitlichen Vernunft, der auf objektive Weltordnung und -aneignung durch den logozentrischen Jedermann abzielt. Zum anderen handelt es sich um die Bearbeitung des Statthalters bzw. der Statthalterin dieser Vernunft: des stabilen, selbst-identischen Subjekts in der Gestalt des egozentrischen Jemands“ (ebd., S. 104). „Die Kritik an der Logozentrik des erkennenden Jedermann rührt daher, dass der Postkolonialismus vor dem Hintergrund der Kontingenz operiert, d.h. davon ausgeht, dass alles auch ganz anders sein könnte.Vor diesem Hintergrund kann gesellschaftliche Wirklichkeit – wie alle anderen Gegenstände (inner- und außer-)wissenschaftlicher Beobachtung auch – nicht unabhängig von ihrer Beobachtung und Beschreibung vorliegen. Die daraus resultierende Unmöglichkeit eines direkten, unmittelbaren Zugriffs auf eine vorgängige Wirklichkeit wird auch als Krise der Repräsentation bezeichnet: Weder wohnen Bedeutungen in den Dingen, noch sind die Beziehungen zwischen den Dingen und ,ihren‘ Bedeutungen natürlich oder gar gottgegeben. Die Wirklichkeit entsteht vielmehr erst durch kontinuierliche Bedeutungszuweisungen; durch Sprechen oder Schreiben, Denken oder Fühlen im Rahmen kultureller Konventionen. Mit anderen Worten: Die Wirklichkeit stellt eine Konstruktion dar, die im Rahmen von Repräsentationsprozessen (re-)produziert wird. J. Lossau, 2003, S. 104 (Hervorhebung P. W.) Die Erkenntnis, dass „Wirklichkeit“ kulturell je anders konstruiert werde und es sie per se für uns gar nicht gibt, müsse mit Notwendigkeit zur letztlich politischen Frage führen, wer denn die Definitionsmacht in diesen Konstruktionsprozessen habe, wer autorisiert sei oder wer sich einfach das Recht herausnehme, solche Konstruktionen als Wahrheiten zu verbreiten.

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Definitionsmacht in Konstruktionsprozessen

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

„Gerade vor dem Hintergrund der Kontingenz wird es folglich möglich, nicht nur die realen Effekte von Konstruktionen zu beobachten, sondern auch zu sehen, dass Repräsentationen der Wirklichkeit immer in Fragen nach Macht und Herrschaft eingelassen sind. Der immer wieder geäußerte Vorwurf, der Postkolonialismus rede (wie der Postmodernismus) einem nihilistischen Relativismus das Wort, zielt demnach ins Leere. Eine Absage an die Möglichkeit objektiver Erkenntnis durch den weltordnenden Jedermann kann vielmehr als Vorbedingung für eine politisch-engagierte Kritik betrachtet werden …“ J. Lossau, 2003, S. 104 Die von Julia Lossau geforderte „andere“ Geographie (qua Neue Kulturgeographie) ziele also darauf ab, „… jenen Wahrheiten und Identitäten zu ihrem Recht zu verhelfen, die sich im ,blinden Fleck‘ des objektivistischen Jedermann befinden“ (ebd., S. 105). „Was aber sind das für Identitäten? Anders gefragt: Was passiert mit dem Jemand, dem egozentrischen Alter Ego des Jedermann, wenn letzterer von seinem freischwebenden Aussichtspunkt gestoßen und damit seines vermeintlich objektiven Panoramablicks beraubt wird? Dieser Positionswechsel hat zwangsläufig Folgen für die Stabilität des Jemand. Und in der Tat wendet sich die postkoloniale Kritik ganz grundsätzlich gegen die neuzeitliche Ableitung eines allgemeinen Wesens des Menschen, das als gleichmachende Eigenschaft jedem Jemand innewohnt. Denn im theoretischen Konzept des unteilbaren sowie unterscheidbaren Subjekts geht der Blick für die Vielheit ebenso verloren wie die empirische Feststellung, dass sich das westliche (weiße, männliche und besitzende) Subjekt mit seiner vermeintlich universellen und selbstgenügsamen Identität nur hat erfinden können durch die Spiegelung in seinen vermeintlichen Anderen, auf die es zwar angewiesen war, aber die es gleichzeitig ausschließen musste. Daher wird dem autonomen, sich selbst bewussten Subjekt die Vorstellung hybrider Subjektpositionen entgegengesetzt, die, als jeweils vorläufige Produkte permanenter Differenzierungsprozesse, in einen umkämpften und nicht endenden Prozess der Identifikation verwickelt sind.“ J. Lossau, 2003, S. 105

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11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Als Beispiel für einen gelungenen Versuch, „… die Geographie auf Grundlage der beiden skizzierten ,Terrains der Verstörung‘ neu zu verhandeln …“ und gleichsam „umzudenken“ (ebd., S. 106), führt die Autorin das (weiter oben bereits erwähnte) Buch „Orientalism“ von Edward Said (1978) an. In diesem Text würde aufgezeigt, „… wie die geographische Repräsentation ,Orient‘ in den Diskursen des französischen und britischen Imperialismus zum ,Anderen‘ der geographischen Repräsentation ,Europa‘ wurde. Dadurch beraubte er den traditionellen geographischen Blick, d. h. den Blick auf die vermeintlich natürliche geographische Wirklichkeit, seines Status als Prophet einer gleichsam naturgegebenen Wahrheit. Er fasst ihn umgekehrt als Bestandteil einer diskursiven Praxis, mit deren Hilfe diese Wirklichkeit erst produziert wird“ (ebd., S. 106). Vor diesem Hintergrund werde klar, dass nicht nur die Burgen und Domkirchen von Swissminiatur oder der German Bier Garten in Hot Springs Konstruktionen darstellen, sondern auch die entsprechenden Vorbilder. Die Autorin demonstriert dies mithilfe eines knappen Abrisses der geographischen Repräsentation der „richtigen“ Türkei im Kontext der politischen Diskussion um einen EU-Beitritt. Diese postkoloniale Repräsentation bestehe in einem hybriden „Dazwischen“, das nicht einschließend wirken könne und eine „… Aufnahme der Türkei in den Raum des ,Eigenen‘ letztlich unterminiert“ (ebd., S. 108). Ihr Fazit: „Die vermeintlich natürliche geographische Wirklichkeit ist nicht per se, sondern wird durch die Verhandlung geographischer Repräsentationen im Prozess der Verortung erst konstruiert. Dies bedeutet, dass die ,richtige‘ Türkei als solche ebenso wenig existiert wie das ,wahre‘ München als Original des Oktoberfests von Hot Springs. Jede Geographie – sei sie lustiger Themenort oder umkämpfte Territorialgrenze – kann nicht mehr (aber auch nicht weniger) sein als eine geographische Imagination. Daher besteht das Kernanliegen einer anderen Geographie in einer Verunsicherung des traditionellen geographischen Blicks. … Eine andere Geographie fordert dazu auf, vertraute Ordnungen (auch die eigenen) in Frage zu stellen und gewohnte Denkschemata (auch die eigenen) zu hinterfragen.“ J. Lossau, 2003, S. 109/110 Es fällt auf, dass im Literaturverzeichnis des eben besprochenen Textes kein Hinweis auf den philosophischen Konstruktivismus zu finden ist. Einige der zentralen Thesen der Autorin (und generell der Neuen Kulturgeographie) ließen sich nämlich auch durch Arbeiten dieser Denkschule begründen. Diese erstaunlicherweise nicht genutzte Bezugnahme trifft, wie in einem Zitat von N. Gelbmann und G. Mandl weiter oben bereits angemerkt 377

Beispiel Said: „Orientalism“

Konstruktion der Vorbilder nach Lossau

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

wurde, für eine ganze Reihe von Arbeiten der Neuen Kulturgeographie zu. Eine Begründung derartiger Thesen und der gewünschten „Verunsicherung des geographischen Blicks“ über den radikalen Konstruktivismus statt über den Poststrukturalismus hätte vermutlich den Vorteil, dass die im Kontext einer wissenschaftlichen Argumentation letztlich inkonsistente (und deshalb oft auch verschwiegene) Mitübernahme einer radikalen Ablehnung von Rationalität und Sinn entfallen könnte.

Exkurs Konstruktivismus Beim sogenannten Konstruktivismus sieht es ähnlich aus wie beim Poststrukturalismus: Es gibt die verschiedensten Spielarten und Versionen (vgl. K. Knorr-Cetina, 1989, J. Miggelbrink, 2004 oder M. Redepenning, 2006). Es liegt keine einheitliche und geschlossene Theorie vor, die den Anspruch erheben wollte oder könnte, „den“ Konstruktivismus darzustellen. Am besten versteht man „Konstruktivismus“ als einen „… Oberbegriff für Denkweisen und Theorien, die der ,Vorstellung oder gar Darstellung einer unverfälschten ontischen Wirklichkeit‘“ (von Glasersfeld, 1997, S. 11) skeptisch gegenüberstehen und sich mit den elementaren Bedingungen der Möglichkeit von Erkennen und Wissen befassen. „Gemeinsam ist ihnen das Interesse an den Bedingungen der Möglichkeit des Wahrnehmens, Erfahrens, Handelns und Kommunizierens“ (J. Miggelbrink, 2004, S. 298). „Im phänomenologischen (sozialen) Konstruktivismus wird vorrangig die Frage gestellt, wie die Wirklichkeit der Sozialordnung und gesellschaftliche Erfahrungen entstehen als etwas, das uns im Alltag als objektiv gegebene Wirklichkeit erscheint. Er befasst sich demzufolge insbesondere mit Prozessen der Objektivierung, beispielsweise im Zuge der Entstehung sozialer Kategorisierungen (Geschlecht, Rasse usw.). Konzepte wie das der Habitualisierung, der Routinisierung, der Internalisierung, der Kategorisierung, der Symbolisierung sowie der Sprache sind demzufolge zentral …“ (ebd., S. 298). Die „Wirklichkeit“ der Alltagswelt entsteht über derartige Prozesse der Sozialisierung und verschafft im Alltag Orientierung und Komplexitätsreduktion. Dabei handelt es sich vielfach um „… Prozesse der Durchsetzung von sozialen Tatsachen, die zunächst in noch ungefestigter Weise auftauchen und im Laufe reproduktiven und rekursiven

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Gebrauchs … verhärten und zum festen Wissen über die Ordnung der sozialen Welt und zu Instrumenten des Umgangs mit ihr werden. Gerade wenn der Konstruktivismus in entlarvender und kritischer Absicht auftritt …, geht es häufig darum, alle noch so ,natürlichen‘ Klassifikationen als arbiträre ,Auferlegung‘ herauszuarbeiten …“ (ebd., S. 298). „Der radikale Konstruktivismus setzt elementarer an als der phänomenologische, indem er als Bedingungen des Erkennens nicht nur die Problematik einer gesellschaftlichen Koordination von Handlungen,Wahrnehmungen u.ä. heranzieht, sondern u.a. auch die biologischen und neurophysiologischen Voraussetzungen thematisiert. Auch für ihn ist Wahrnehmung keine Repräsentation, keine Abbildung der äußeren Welt, vielmehr versteht er sie als Konstitutionsleistung des Gehirns. Indem eine (vereinfachte) Abbildtheorie verworfen wird, stellt der radikale Konstruktivismus den Beobachter und die Beobachtung ins Zentrum seines Interesses: Alles was wahrgenommen, d. h. unterschieden und bezeichnet wird, bedeutet ein permanentes Setzen von Differenzen, die nicht ,in der Natur‘ oder ,in den Dingen‘ liegen, sondern einem Beobachter zugerechnet werden müssen. … Jegliches Wissen muss daher als beobachtungsabhängige Leistung verstanden werden, die ,Realität als wissensunabhängiger Bezugsgegenstand gilt als Fiktion‘ (K. Knorr-Cetina, 1989, S. 89)“ (ebd., S. 298). (Der Leser möge sich bitte in diesem Zusammenhang auch an unsere kognitionstheoretischen Überlegungen in Kapitel 9.1.2 erinnern.) J. Miggelbrink (ebd., S. 299) verweist darauf, dass diese beiden Formen des Konstruktivismus bei ihrer Begründung unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Der soziale Konstruktivismus könne durchaus politisch bzw. emanzipatorisch motiviert sein. Stärker als der radikale Konstruktivismus schließt er nämlich von der Arbitrarität der Konstruktionen der sozialen Welt auf die Möglichkeiten der Veränderung und der Reform (vgl. dazu auch I. Hacking, 2002, S. 39–41). Als eigenständige dritte Form führt K. Knorr-Cetina (1989) noch den Laborkonstruktivismus an. Er ist empirisch ausgerichtet und „… beschäftigt sich mit den Bedingungen der Erzeugung vor allem naturwissenschaftlichen Wissens in wissenschaftlichen

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Labors“ (J. Miggelbrink, 2004, S. 299). Zu diesen Bedingungen zählen die Gegebenheiten „… der konkreten technischen Apparatur und der durch sie erzeugten Messdaten ebenso wie Fragen der Imitation von Natur (z.B. Wachstumsprozesse von Pflanzen) und der jeweiligen Diskussionskultur, die u.a. darüber mitentscheidet, welche Fragen, Ansätze und experimentelle Formen als wünschenswert, zukunftsträchtig, reputationsfähig etc. betrachtet werden. Diese Bedingungen werden von den Laborkonstruktivisten nicht als (zu vernachlässigende) Randbedingungen des ,objektiven‘ Wissens begriffen, sondern als konstitutiv für die Generierung von Wissen, das hergestelltes, produziertes und kontextabhängiges Wissen ist“ (ebd., S. 299). Ausdrücklich betont J. Miggelbrink (S. 299), dass der gelegentlich unterstellte Gegensatz von Realismus und Konstruktivismus von den Konstruktivisten selbst abgelehnt wird. „Auch von Konstruktivisten wird in der Regel nicht die Existenz einer ,externen‘ Realität geleugnet, sondern lediglich die erkenntnistheoretische Relevanz der ontologischen Darstellung der Realität bestritten“. Eine ausführliche und sehr überzeugend formulierte Darstellung konstruktivistischer Ideen findet sich in Kapitel 3 der Dissertation von M. Redepenning (2006). Er unterscheidet den Sozialkonstruktivismus und den erkenntnistheoretischen Konstruktivismus. „Ersterer legt in seinen Analysen das Gewicht auf die Feststellung, dass die gesellschaftliche Objektivität zu großen Teilen sozial produziert worden ist, dieser Charakterzug aber durch Wiederholungen (also einem zeitlichen Begriff) unkenntlich geworden ist und die damit verbundene soziale Kontingenz vergessen wird. Dann geht es dem Sozialkonstruktivismus darum zu zeigen, dass die (gesellschaftlichen) Dinge nicht das sind, was sie zu sein scheinen. In diesem Sinne klärt er über das (wahre oder falsche) gesellschaftliche Sein auf. Der erkenntnistheoretische Konstruktivismus legt weniger Gewicht auf ontologische Fragen, sondern beschäftigt sich grundsätzlich mit (den Bedingungen) der Möglichkeit von Erkenntnis. Hier wählt er eine ,radikale‘ Position, indem er zwar die Existenz einer sozialunabhängigen Realität keineswegs leugnet, diese aber als operativ unzugänglich ansieht. Daher kann ein operativ geschlossenes und erkennendes System die als unzugänglich erachtete Realität nur nach eigenen Strukturvorgaben rekonstruieren“ (S. 37).

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In einem Artikel mit dem Titel „Konzepte und Konstruktionsweisen regionaler Geographien im Wandel der Zeit“ haben Hans Gebhardt, Paul Reuber und Günter Wolkersdorfer (2004) einen knapp formulierten programmatischen Entwurf für das Arbeitsprogramm einer regionalen Geographie vorgelegt, die sich am Cultural Turn und den methodischen bzw. erkenntnistheoretischen Anregungen des Poststrukturalismus orientieren solle. Ähnlich wie bei der oben kurz besprochenen Arbeit von J. Lossau geht es hier ebenfalls um eine „andere“ Geographie, aber auch um die Erkenntnis, dass auch die „traditionellen“ Geographien immer schon „Konstruktionen“ waren, deren Autoren (und Leser) eben diesen Konstruktcharakter aber nicht wahrgenommen und die produzierten Texte als (wahre) Repräsentationen einer vorgegebenen Realität (miss)verstanden haben. Damit verbunden ist die Erkenntnis, dass die Wissenschaft keinen privilegierten Zugang zur Wirklichkeit besitzt, sondern nur über eine spezifische Art des Sprechens, Klassifizierens und Handelns verfügt. Dementsprechend könne es auch keine „wahre Form von wissenschaftlicher Erdbeschreibung“ geben (H. Gebhardt, P. Reuber und G. Wolkersdorfer, 2004, S. 294). Gefragt sei demnach eine Geographie, „… welche sich von den vermeintlichen Realräumen der Erde und ihrer ,geographischen Substanz‘ (was immer damit gemeint sei) löst und sich den raumbezogenen Konstruktionen unserer Welt und ihrer Dekonstruktion zuwendet, der ,Welt in den Köpfen‘ und den Folgen, welche solche ,Geographical Imaginations‘ (D. Gregory, 1994) für Wirtschaft, Gesellschaft und insbesondere auch Politik in dieser Welt haben“ (H. Gebhardt, P. Reuber und G. Wolkersdorfer, 2004, S. 295). Derartige Konstruktionen seien aber nicht beliebig, sondern immer eingebunden in die jeweils aktuellen „großen Erzählungen“ und Diskurse sowie in den Kontext der Relevanz- und Akzeptanzkriterien des jeweiligen soziokulturellen und wissenschaftlichen Umfeldes. Als theoretisch-methodische „Kerne“ der aktuell möglichen „Erzählweisen“ Regionaler Geographien unterscheiden die Autoren hermeneutisch-interpretative, systemtheoretische sowie poststrukturalistische und diskursanalytische Erzählformen (ebd., S. 299). Die poststrukturalistischen und diskursanalytischen Zugangsweisen erscheinen den Autoren besonders geeignet, die „alltäglichen Konstruktionen“ der Regionalen Geographien offen zu legen, wie sie in der Politik, in den Medien oder in den lebensweltlichen Diskursen vor Ort sprachlich produziert werden. Die vor diesem Hintergrund operierende Regionale Geographie „… dekonstruiert diese Diskurse, d.h. sie zeigt, wie geographische Argumentationen und Leitbilder als sprachliche Konstruktionen, als diskursive Praktiken Geltung erlangen. Eine solche Perspektive schärft den Blick für den normativen Charakter konkurrierender Diskurse. Je mehr dabei die Relativität geographischer Sprachspiele, kartographischer Repräsentationen und Regionalisierungen deutlich wird, desto weniger können 381

Konstruktivistische Regionalgeographie nach Gebhardt/ Reuber/Wolkersdorfer

Poststrukturalistische und diskursanalytische Zugangsweisen

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diese ihre das Denken strukturierende Rolle in den alltäglichen Auseinandersetzungen um Macht und Raum erfüllen“ (ebd., S. 304). Auf diesem Wege könne eine konstruktivistische Regionale Geographie klassische Themen „anders“ präsentieren und gerade die Multiperspektivität und die Spielräume des „wissenschaftlichen Geographie-Machens“ im Sinne fachspezifischer Weltdeutungen veranschaulichen. „Die konstruktivistische Perspektive ermöglicht gleichzeitig einen neuen Zugang zu eben diesen Weltdeutungen selbst: Sie ist die Basis dafür, raumbezogene Sprachspiele und Diskurse aus Politik, Planung, Wirtschaft etc. als Diskurse um Raum und Macht zu verstehen. Auf diese Weise konzentriert sich eine postmodern-konstruktivistische Regionale Geographie auf die soziale Produktion von Regionen, Geographien, räumlich-symbolischen Territorien etc.“ H. Gebhardt, P. Reuber und G. Wolkersdorfer, 2004, S. 305

Schlüsselbegriffe Dekonstruktion und Diskurs

Diskurskonzepte

Die letzten Zitate können zweifellos auch die in Abschnitt 10.2.3 behauptete Konvergenz der poststrukturalistisch-konstruktivistisch orientierten Neuen Kulturgeographie zu den handlungstheoretisch fundierten Arbeiten über signifikativ-informative Regionalisierungen belegen. Zwei Schlüsselbegriffe der Neuen Kulturgeographie, „Dekonstruktion“ und „Diskurs“, verweisen abermals auf die Verknüpfung mit dem Poststrukturalismus, gleichzeitig aber auf erhebliche Brüche und Verwerfungen zwischen diesen beiden Denkschulen sowie auf Inkonsistenzen und pragmatische Vereinfachungen in der Rezeption des Poststrukturalismus durch die Geographie. Dekonstruiert soll in der Neuen Kulturgeographie nahezu alles werden, was mit traditionellen Denkmustern und gängigen Formen der Sinnkonstitution oder Weltdeutung zu tun hat, vor allem aber Diskurse. Die Dekonstruktion ist gleichsam das zentrale Medium der „Verunsicherung“, auf deren Grundlage eine jeweils „andere“ Geographie konstituiert werden soll. Zur theoretischen Begründung beider Begriffe bezieht man sich schwerpunktmäßig auf Autoren des Poststrukturalismus, greift deren Vorgaben aber meist selektiv und eklektisch auf. Weil aber beide Begriffe auch außerhalb der poststrukturalistischen Denkrichtung verwendet und dort mit ganz anderen Argumenten theoretisch begründet werden, kommt es zu uneinheitlichen, hybriden oder gar brüchigen Konzeptvarianten, deren innere Konsistenz nicht immer wirklich glaubhaft vermittelt werden kann. H. Gebhardt, P. Reuber und G. Wolkersdorfer scheuen sich nicht, genau dieses Problem auch anzusprechen. Sie verweisen darauf, dass die hinter den beiden Begriffen stehenden Konzeptionen (etwa die von M. Foucault und die von J. Habermas begründeten) sich einander zum Teil 382

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widersprechen beziehungsweise (und vielleicht noch schlimmer) „quer“ zueinander stehen. Man könne sich jedenfalls darauf einigen, unter „Diskurs“ eine „systematische Kategorie der Kommunikations- und Kulturanalyse“ zu verstehen: „Diskurse steuern, regeln und ordnen gesellschaftliches Wissen und Zugänge zu Wissen und legen die öffentlich verfügbaren Formen von Wissen institutionell fest. Folglich werden Diskurse durch spezifische Argumentationssysteme, Regelsysteme und Denksysteme konstituiert; Diskurse sind damit auch ,komplexe gesellschaftliche Debatten‘ beispielsweise über die Bevölkerungs- und Ausländerpolitik … und sie wirken über Schlagworte, Bilder und Medien weit in unser Alltagsleben hinein, d.h. sie konstituieren ganz wesentlich unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit, bilden einen Bezugspunkt unseres Denkens und Handelns, sind an der Konstitution unserer alltäglichen Lebenswelt zentral beteiligt. Kurz formuliert: Die sprachliche Konstitution über Diskurse formt unser Weltbild …“ H. Gebhardt, P. Reuber und G. Wolkersdorfer, 2004, S. 305 In der Neuen Kulturgeographie (aber, wie wir gesehen haben, gelegentlich auch in der Handlungstheorie) bezieht man sich meist auf die von M. Foucault (1991) vorgelegte Diskurstheorie. Diskurse werden demnach als gesellschaftliche Praktiken der Bedeutungskonstitution und Weltdeutung angesehen. In Diskursen werden durch kommunikative Praktiken und (sich verselbstständigende) kommunikative Prozesse Themen und gesellschaftliche „Gegenstände“ konstituiert und Machtkonstellationen sowie „Wahrheiten“ konstruiert und reproduziert. Das Verhältnis zwischen Diskurs und Macht müsse dabei als eine komplexe und mehrdeutige Beziehung angesehen werden. Ein Diskurs kann Macht produzieren und fördern, sie aber auch unterminieren und infrage stellen. Als Methode zur Erforschung von Diskursen wird die Diskursanalyse diskutiert und eingesetzt. Unter diesem Begriff werden allerdings „… zurzeit eine ganze Reihe unterschiedlicher Ansätze verhandelt. Ihre gemeinsame Basis bildet unter Berufung auf … Michel Foucault die generelle Kritik an einem objektivistischen Wissenschaftsverständnis, das mit Hilfe sog. exakter Methoden und rationaler Logik eine vermeintliche Wahrheit zu ergründen sucht. Diesem Verständnis von Wissenschaft setzen Diskurstheoretiker entgegen, dass es nicht möglich sei, Realität durch Sprache abzubilden, da alles Denken … sich in Sprache vollzieht und durch diese vorstrukturiert 383

Diskurstheorie Foucaults

Diskursanalyse

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ist. Statt also nach absoluten Wahrheite(n) hinter sprachlichen Äußerungen zu forschen, versucht die Diskursanalyse deren unbewusste (sprachliche) Strukturierung offen zu legen.“ A. Mattissek, 2004, S. 306 In der (deutschsprachigen) Variante der Neuen Kulturgeographie wird unter „Dekonstruktion“ meist eine Art „Ideologiekritik“ verstanden, bei der die Konstitutionsbedingungen von Diskursen aufgedeckt werden – was im übrigen eine sehr vereinfachende Deutung des Konzepts der „Dekonstruktion“ bei J. Derrida darstellt (vgl. z.B. H. Kimmerle, 2000). Als Methode der Ideologiekritik dient die Diskursanalyse. „Ein vornehmliches Ziel der Diskursanalyse ist es, die Kontingenz von Weltbildern, Normen und Wertvorstellungen aufzudecken, d.h. ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass unser Weltbild nur eine von vielen möglichen Arten ist ,sich die Welt zu erzählen‘. Die vermeintliche Evidenz und Naturgegebenheit solcher diskursiv gebildeten Ansichten zu hinterfragen und die gesellschaftlichen Machtkämpfe im Ringen um ,die Wahrheit‘ aufzuzeigen, sind wichtige Aufgaben der Diskursanalyse.“ A. Mattissek, 2004, S. 306 Handlungstheoretische und poststrukturalistische Ansätze der Diskursanalyse

A. Mattissek weist darauf hin, dass sich auch diskursanalytische Ansätze durch eine große Heterogenität auszeichnen. In den deutschsprachigen Geistes- und Sozialwissenschaften würden heute zwei Forschungsansätze dominieren: „… Ansätze, die sich durch eine gewisse Nähe zu handlungstheoretischen Zugriffen auszeichnen, und Positionen, die eine radikale Kritik an der Idee des Subjekts als selbständig denkender, handelnder und intendierender Einheit beinhalten“ (ebd., S. 306). Die mit der Handlungstheorie kompatiblen Ansätze gehen davon aus, dass Diskurse „… von Akteuren zur Beeinflussung von Meinungen und Handlungsweisen und zur Durchsetzung eigener Interessen mehr oder weniger bewusst eingesetzt werden. … In dieser Sichtweise werden Akteure durch die bestehenden Diskurse zwar beeinflusst, können jedoch umgekehrt auch aktiv-reflexiv auf diese einwirken“ (ebd., S. 306/307). Demgegenüber lehnen die stärker poststrukturalistisch argumentierenden Vertreter der Diskursanalyse das Konzept des Subjekts (erwartungsgemäß) vollständig ab: „… das Subjekt wird nicht mehr als intentional handelndes, selbstreflexives Individuum, sondern als Knotenpunkt verstanden, der diskursive Strukturen zur Sprache bringt“ (ebd., S. 307).

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Eine konkrete empirische Anwendung der Diskursanalyse im Rahmen einer sozialgeographischen Studie, die man bereits als „Klassiker“ ansehen könnte, hat Günter Wolkersdorfer in seiner Dissertation (2001) vorgelegt. Seine Arbeit steht im Kontext der Critical Geopolitics (vgl. G. Ó’Tuathail, 1996), die sich mit raumbezogenen Konflikten im Spannungsfeld von Politik, Macht und Wissen befasst. Der Autor untersucht den „Kampf der Diskurse“, der sich in Zusammenhang mit dem raumbezogenen Konflikt um die Umsiedlung des Dorfes Horno in der Niederlausitz ergeben hat. Horno ist sorbisches Siedlungsgebiet und war vom voranschreitenden Braunkohletagebau betroffen. (Die Sorben sind eine slawische Bevölkerungsgruppe, die rechtlich als autochthone Minderheit anerkannt ist.) Die Bewohner haben sich gegen den Abriss zur Wehr gesetzt und gingen dabei mit dem Konflikt „relativ selbstbestimmt um“ (G. Wolkersdorfer, 2001, S. 197). „Die Zerstörung großer Teile des sorbischen Siedlungsgebietes durch die großflächigen Tagebaue hat für die kleine Minderheit der Sorben dramatische Auswirkungen. Die für die Konstruktion ethnischer Minderheiten wichtige Verbindung zum Territorium wird damit unterminiert“ (ebd., S. 206). Unter den ökonomischen Rahmenbedingungen der DDR hatten die Sorben keinerlei Möglichkeit, diese Umsiedlungen abzuwehren, denn der Braunkohletagebau war für den Staat geradezu lebensnotwendig. Er wurde deshalb ohne Rücksicht auf ökologische oder soziale Folgekosten vorangetrieben. Nach der Wende wurde die Braunkohleförderung an marktwirtschaftliche Rahmenbedingungen angepasst. Damit sank die Zahl der Tagebaugebiete in Brandenburg von 17 auf 3. Der Tagebau Jänischwalde, von dem Horno betroffen ist, erwies sich als Bereich langfristiger Bergbausicherheit und blieb erhalten. Die geförderte Kohle dient zur Versorgung von Großkraftwerken, die den Raum Berlin-Brandenburg beliefern. Für die Analysen der Diskursdynamik identifiziert der Autor zunächst die (zahlreichen) Parteien (qua Akteure!), die an diesem Konflikt in irgendeiner Form beteiligt sind: Gemeinde Horno, Tagebaubetreiber, Gewerkschaften, politische Parteien, Verbände, Domowina (Dachverband der Sorben), Kirche, Braunkohleausschuss und Justiz. Im Rahmen der Diskursanalyse zeigt der Autor sehr überzeugend auf, dass in diesem Konflikt zwei sehr unterschiedliche „Geschichten“ erzählt werden. Die erste nennt er den „ökonomischen Diskurs“. Es handelt sich um einen sehr machtvollen Diskurs, der die Hegemonieansprüche der Wirtschaft in unserem Gesellschaftssystem repräsentiert. Weil die Braunkohlewirtschaft den „letzten verbliebenen industriellen Kern in einer de facto deindustrialisierten Region“ darstellt, „erscheint es logisch, diesen letzten verbliebenen Zweig mit allen Mitteln zu halten“ (ebd., S. 215). Der generelle diskursive Machtkampf um die zukünftige Energiewirtschaft und um die Durchsetzung einer ökonomischen Rationalität wird in diesem Konfliktfall gleichsam auf die lokale Ebene von Horno „heruntergebrochen“ (ebd., S. 215). 385

Anwendung der Diskursanalyse nach Wolkersdorfer

Beispiel Horno

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Die zweite „Geschichte“ wird als „ethnischer Diskurs“ bezeichnet. Die Minderheit der Sorben bevölkert die Lausitz seit dem 6. Jahrhundert und konnte eine eigenständige westslawische Sprache, Kultur und Tradition bis in die Gegenwart erhalten. Obwohl die ethnische Zugehörigkeit der Bewohner von Horno vor dem Tagebaukonflikt kaum mehr eine identitätsstiftende Funktion besaß (ebd., S. 221), wurde die Erinnerung an die sorbische Tradition mit der Eskalation des raumbezogenen Konflikts gleichsam „wiederbelebt“: „Ursache hierfür ist zunächst das rationale Kalkül, nur über das Ausspielen der ,ethnischen Karte‘ in diesem Konflikt eine Chance im diskursiven Machtkampf zu erhalten. Nachdem der Gemeindeverwaltung klar geworden war, dass mit ,herkömmlichen‘ Begründungszusammenhängen die Vorrangstellung des ökonomischen Diskurses nicht zu erschüttern war, verlagerte man sich auf die Reaktivierung ethnischer Begründungen. So trugen im Hornoer Dorfumzug 1998 erstmals seit Jahrzehnten Einwohner wieder die sorbische Tracht.“ G. Wolkersdorfer, 2001, S. 221 (Hervorhebungen P. W.) Die hervorgehobenen Formulierungen im letzten Zitat weisen zweifelsfrei darauf hin, dass der Autor die Sprecher der Diskurse keineswegs als „Knoten im Netz“ der Kommunikation konzipiert, sondern sie als intentional handelnde Subjekte betrachtet. Das Kalkül der Gemeindeverwaltung, „… durch die Konstruktion eines ethnischen Diskurses dem ökonomischen Diskurs Paroli zu bieten …“ (ebd., S. 221) ist durchaus aufgegangen, wenngleich es letztlich dann doch nicht zum gewünschten Erfolg führte. Im Oktober 2003 haben die letzten Bewohner den Ort verlassen. Dennoch kann der Autor sehr überzeugend darlegen, dass das Umschwenken von einem ökologisch oder allgemein kulturell begründeten Argumentationsmuster auf den ethnischen Begründungszusammenhang und auf Minderheitenschutz im Machtkampf der Diskurse erhebliche Vorteile erbracht hat. Für die letztlich erfolgreiche Durchsetzung des ökonomischen Diskurses musste das Justizsystem „schwere diskursive Verrenkungen“ einsetzen, indem bei einer Normenkontrollklage vom Landesverfassungsgericht der Artikel 3 des deutschen Grundgesetzes gegen die Interessen von Minderheiten instrumentalisiert wurde, was zweifellos als „höchst ungewöhnliche Vorgangsweise“ angesehen werden muss. Zusammenfassend stellt der Autor fest, dass diskurstheoretisch orientierte Studien „Einblicke in die Hintergründe eines raumbezogenen Konfliktes“ liefern können und ein solcher Ansatz vor einer „naiven ,Gut-Böse‘ oder ,Klein-Groß‘ Dichotomie“ (ebd. S. 228) schützt. 386

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

„Die Einwohner (von Horno) … verstehen es sehr wohl, mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln eine machtvolle diskursive Plattform zu errichten. Der ethnische Diskurs ermöglicht ihnen immense Einflussmöglichkeiten und wird deshalb von den zentralen Akteuren des Dorfes sehr bewusst gewählt. … Dass in der diskursiven Abwägung der ökonomische Diskurs sich noch immer als machtvoller erwies, ist beim gegenwärtigen Stand für die Einwohner verhängnisvoll. Dennoch muss man konstatieren, dass ohne die Plattform des ethnischen Diskurses der raumbezogene Konflikt um Horno niemals solche Ausmaße angenommen hätte.“ G. Wolkersdorfer, 2001, S. 228 Die von G. Wolkersdorfer sehr pragmatisch eingesetzte Diskursanalyse bietet ihm die Möglichkeit einer plausiblen Interpretation eines raumbezogenen Machtkonflikts. Seine Version der Diskursanalyse liegt aber wesentlich näher an der Handlungstheorie, als der Autor selbst zu glauben scheint (vgl. ebd., S. 229). Als weiteres Beispiel für einen eher pragmatischen und selektiven, inhaltlich aber sehr überzeugenden Einsatz der Diskursanalyse soll in knapper Form ein Artikel von Elisabeth Aufhauser (2001) mit dem Titel „Diskursfeld Bevölkerungspolitik“ besprochen werden. Im ersten Teil dieses Beitrages, der insgesamt die Einführung in das Thema „internationale Bevölkerungspolitik“ zum Ziel hat, möchte die Autorin darstellen, „… was es heißt, Bevölkerungspolitik aus einer diskursanalytischen Perspektive zu betrachten, und wie das ,Diskursfeld Bevölkerungspolitik‘ grob strukturiert ist“ (ebd., S. 7). Die Autorin hält sich gar nicht lang mit Reflexionen zum Poststrukturalismus oder zur theoretischen Begründung der Diskursanalyse auf, sondern kommt nach einer knappen Begriffsbestimmung gleich zur Sache: „In Anlehnung an den französischen Historiker und Philosophen Michel Foucault können Diskurse als ,inhaltlich-thematisch abgrenzbare, strukturierte und institutionalisierte Formen der Bedeutungsproduktion‘ (R. Keller, 1998) definiert werden“ (ebd., S. 8). Ihr eigentliches Anliegen besteht darin, Diskurse und ihre „Formation“ aus soziologischer Perspektive zu untersuchen. Diese Perspektive sei dadurch gekennzeichnet, dass eine ganze Reihe von Fragen gestellt und beantwortet werden sollten:

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Beispiel Aufhauser: Diskursfeld Bevölkerungspolitik

Fragenkatalog nach Aufhauser

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„Was sind die spezifischen Formen der Bedeutungsproduktion und die inhaltlichen Themen, die einen Diskurs kennzeichnen und ihn von anderen Diskursen abgrenzen? Wie, wann und unter welchen Bedingungen kommt es zur Institutionalisierung dieser spezifischen Formen der Bedeutungsproduktion? Welche Gegenstände und Begriffe werden über die institutionellen Formen der Sinngebung produziert, die den Diskurs kennzeichnen? Wo und unter welchen Bedingungen tauchen bestimmte Gegenstände und Begriffe erstmals auf und wann, wo, unter welchen Bedingungen wird ihre Sinngebung verändert? Welche Instanzen nehmen am Diskurs teil, welche tragen ihn, welche werden langfristig institutionalisiert? Wer spricht an welchen institutionellen Plätzen von welcher Position aus? In welcher zeitlichen Anordnung, Reihenfolge werden bestimmte Aussagen getätigt? Wie ist das Feld der Aussagen organisiert, in dem Begriffe in einer bestimmten Form auftauchen und zirkulieren? Wie werden Aussagen neugeschrieben, übertragen, übersetzt, einander angenähert, voneinander abgegrenzt und systematisiert? Wie erfolgreich sind bestimmte Diskurse, sprich welche Außenwirkungen haben sie? Welche materiellen Praktiken sind mit den historischen Transformationsprozessen in bestimmten Diskursen verbunden? In welchem Verhältnis stehen bestimmte Diskurse und ihre charakteristischen Formationen zu anderen zeitgenössischen Diskursen?“ E. Aufhauser, 2001, S. 8 Es handelt sich hier zweifellos um eine umfassende Liste höchst bedeutsamer Fragen, mit deren Beantwortung es möglich sein dürfte, gesellschaftliche Prozesse der Meinungsbildung und der Konfiguration von Sinnzuschreibungen detailliert zu erfassen. Für die Begründung dieses Fragenkatalogs müsste man aber nicht unbedingt auf M. Foucault Bezug nehmen. Derartige Fragen haben Historiker und Kommunikationswissenschaftler schon immer gestellt, wenn sie Meinungsbildungsprozesse und die Entwicklung von Ideologien analysiert haben. Einige der Fragen, deren Beantwortung zweifellos besonders bedeutsame Erkenntnisse verspricht, sind mit der Foucault’schen Diskurstheorie gar nicht kompatibel, etwa: „Wer spricht an welchen institutionellen Plätzen von welcher Position aus?“ Das ändert natürlich nicht das Geringste an der Brauchbarkeit und Sinnhaftigkeit des Fragenkatalogs. Auch hier liegt also eine eher handlungs- und akteurszentrierte Version der Diskursanalyse vor, die auf Fragen nach der Eigendynamik und Verselbstständigung der Diskurse weniger Wert legt, dafür aber um so besser die (zum Teil emanzipatorisch-politisch definierten) Intentionalitäten der am Diskurs beteiligten Akteure darstellen kann (vgl. dazu R. Keller et al., 2001). 388

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Mit diesem Ansatz gelingt es der Autorin, eine sehr überzeugende Darstellung von vier Entwicklungslinien vorzulegen, nach denen das gesamte Diskursfeld strukturiert ist, indem sie den eugenischen, den entwicklungspolitischen, den feministischen und den ökologischen Diskursstrang als letztlich intentional formierte Begründungs- und Rechtfertigungszusammenhänge identifiziert. Im letzten Teil ihres Beitrages zeigt sie, „… auf welche Weise sich die Fäden der verschiedenen Diskursstränge im historischen Verlauf zu jenem Mainstream verweben, der die Entwicklung der bevölkerungspolitischen Aktivitäten im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts prägte“ (ebd., S. 7). (Abschließend sei nur angemerkt, dass die beiden letzten Beispiele problemlos auch in Kapitel 11.1 und als Beispiele für die Gruppe 3 der umsetzungsorientierten poststrukturalistischen Arbeiten hätten besprochen werden können.)

Entwicklungslinien des Diskursfeldes

Resümee Die Entwicklungsstränge der poststrukturalistisch orientierten Sozialgeographie und der Neuen Kulturgeographie stellen zweifellos ein besonders spannendes Kapitel der neueren Geographiegeschichte dar. Beide Entwicklungslinien sind sehr stark aufeinander bezogen und weisen trotz klar erkennbarer Differenzen große Ähnlichkeiten auf. Beide (besonders die Poststrukturalismen) sind didaktisch recht schwer vermittelbar und unterscheiden sich am deutlichsten im Grad der Radikalität, in dem sie ihre zentralen Thesen auf sich selbst anwenden. Die übergreifende und geradezu konstitutive Metapher beider Entwicklungslinien ist die der „Verunsicherung“. Die als vermeintlich entlarvte Sicherheit, Beständigkeit und Intersubjektivität traditioneller geographischer Weltdeutungen wird grundlegend infrage gestellt. Der Poststrukturalismus wendet seine radikale Dekonstruktion der Vernunft auch auf sich selbst an. Die meisten Vertreter einer poststrukturalistischen Geographie (und jene der Neuen Kulturgeographie) wollen so weit aber nicht gehen. Denn sie postulieren explizit oder implizit einen archimedischen Punkt außerhalb ihrer Beobachtungs-Objektsysteme, von dem aus die „Vernunft“ ihrer Analysen und die „Wahrheit“ ihrer Thesen beurteilt werden kann. Verunsichern, Aufdecken und Transparent-Machen manipulativer Praktiken der Produktion von Weltbildern „… stehen ganz in der Tradition der Aufklärung, die die Autoren eigentlich aus einer poststrukturalistischen Haltung heraus überwunden glaubten. Der Fortschrittsgedanke wird von ihnen zwar als ,modern‘ verworfen, eine Überwindung der positivistischen, naturalistischen Geographie und der naturalisierenden Diskurspraxis wird aber gleichzeitig als Fortschritt

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11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

aufgefasst. Die Überwindungs- und Aufklärungsrhetorik passt nicht zur poststrukturalistischen Attitüde, denn wer die Teleologie verabschiedet, kann sich nicht als fortschrittlich verstehen. ,Dekonstruktion‘ ist also ebenso wie das … kritisierte ,absolute‘ Denken als ontologisierende Technik am Werk. Auch der Dekonstruktivismus … beruht letztlich auf der Idee des besseren Argumentes und dem Modell ,Erkenntnisfortschritt‘“ (T. Felgenhauer, 2007 a, S. 18). Beide Entwicklungsstränge haben zweifellos neue, originelle und weiterführende Fragestellungen und Forschungsfelder eröffnet. Mit der Neuen Kulturgeographie wird Kultur als grundlegende Funktionskategorie und adäquater Beschreibungsmodus des Sozialen eingeführt. Die Vertreter dieser Entwicklungslinie gehen von der Annahme aus, dass „Kultur“ als das eigentlich entscheidende Medium gesellschaftlicher Prozesse anzusehen ist. Das Soziale würde sich als Kultur entfalten. Konsequenterweise benötigt man aus dieser Perspektive auch keine eigenständige Sozialgeographie mehr. Mit ihrer konstruktivistischen Grundattitüde haben sich beide Entwicklungsstränge jedoch zwei recht deutlich ausgeprägte „blinde Flecken“ ihrer Wahrnehmungsfähigkeit eingehandelt: „Die physische Welt verliert an Interesse und wird weitgehend ausgeklammert, aber auch ,das Soziale‘ wird dekonstruiert zugunsten kultureller Differenzen, so dass soziale Strukturen … häufig aus dem Blick geraten“ (H. H. Blotevogel, 2003, S. 28).

Ausklammerung der physischen Welt

Abschließend ist noch anzumerken, dass in Bezug auf die Ausklammerung der physischen Welt in den Kulturwissenschaften bereits wieder ein Umschwung erkennbar ist. In der Ausschreibung zu einem Projekt des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften in Wien wird dies so formuliert: „Was heißt ,Evidenz‘ in den Wissenschaften? Der Anspruch, ,nackte Tatsachen‘ zu präsentieren, ist sowohl in den Natur- wie auch in den Geisteswissenschaften längst überwunden.Weithin herrscht Einigkeit darüber, dass sowohl die exakten Wissenschaften wie auch die Geisteswissenschaften ihre Gegenstände konstruieren und dass ,Tatsachen‘ erst durch Praktiken der Evidenzerzeugung (wie Diagramme, Bilder, Formeln,Texte etc.) entstehen. Wissenschaftlich ist also Evidenz stets hergestellt. In den letzten Jahren häufen sich aber die Vorbehalte gegenüber diesem konstruktivistischen Leitbild. Im Rückgriff auf die Phänomenologie wird daher seit kurzem versucht, dem Eigenleben der Dinge wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Die Gegenstände der Wissenschaften sind sowohl konstruiert als auch daseiend, vermittelt und unvermittelt, künstlich und natürlich“ (IFK, Ausschreibung „Kulturen der Evidenz“, Hervorhebung P. W.). 390

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

Auch in der englischsprachigen Sozialgeographie ist seit einigen Jahren eine Neubesinnung auf die materielle Welt zu beobachten, die durchaus als Gegenposition zu der mit dem Cultural Turn verbundenen Fokussierung auf Texte und Diskurse und die thematische Konzentration auf die Welt der Zeichen, Symbole und immateriellen Sinnstrukturen angesehen werden kann (vgl. z.B. P. Jackson, 2000, L. Lees, 2002, D. Mitchell, 1995, C. Philo, 2000 oder G. Hoskins, 2007). In diesem Zusammenhang wird sogar von der Notwendigkeit einer „Rematerialisierung“ der Humangeographie gesprochen. Die hier ausgesprochene Botschaft ist natürlich nicht als „entweder – oder“, sondern als „sowohl – als auch“ zu verstehen. Sie lautet: Wenden wir uns doch den Symbolen und Zeichen, aber eben auch den Dingen und Artefakten, der kulturalisierten und sozialisierten Materie zu. Als Beispiel für einen Ansatz, mit dem die Neue Kulturgeographie wieder stärker auf soziale Gegebenheiten zurückgebunden wird, sei noch kurz auf einen Text von Werner Gamerith (2005) verwiesen. In diesem Artikel mit dem Titel „Ethnizität und Bildungsverhalten“ moniert der Autor, dass in der Neuen Kulturgeographie zwar ausdrücklich Konflikte, Macht, Hegemonie und Widerstand thematisiert würden (S. 311), die sozialen Implikationen der dahinterstehenden kulturellen Praktiken aber nur unzulänglich Beachtung fänden. So würden Wissen, Bildung und Schule in der Neuen Kulturgeographie „nur marginal angesprochen“ (S. 312), obwohl das Schulsystem als zentrale kulturelle Institution in entscheidendem Maße dazu beiträgt, soziale Machtverhältnisse und Beziehungsgeflechte zu reproduzieren. Die Schule sei ein Ort (S. 313), an dem die von D. Mitchell angesprochenen „Culture Wars“ besonders intensiv und wirksam ausgetragen würden. Die öffentlichen Schulen in den USA seien seit ihrer Begründung als Kulturinstitutionen dazu instrumentalisiert worden, die Hegemonieansprüche der Herrschenden durchzusetzen, die Assimilation von Zuwanderern und Minoritäten zu ermöglichen und ethnische und soziale Differenzen zu reproduzieren. Andererseits könne die Public School in segregierten Stadtvierteln unter günstigen Umständen auch ein Medium für die Bewahrung von Identität und Tradition einer kulturellen Gruppe darstellen.

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Rematerialisierung

Gameriths „Ethnizität und Bildungsverhalten“

11. DER POSTSTRUKTURALISMUS UND DIE „NEUE KULTURGEOGRAPHIE“

„In segregierten Stadtvierteln ist es sehr oft die Nachbarschaftsschule, unter deren Obdach sich ein Zentrum der Kulturidentität der lokalen Bevölkerungsgruppe entwickelt, um das wiederum verstärkt ethnische Konflikte um symbolische oder tatsächliche Macht ausgetragen werden können. Die ethnische Zusammensetzung des Lehrkörpers, curriculare Fragen zur Beteiligung und Gewichtung der Unterrichtsfächer, die Wahl der Unterrichtssprache und andere Streitpunkte verwandeln die Schule zu Orten, an denen „Culture wars“ im lokalen Rahmen kulminieren.“ W. Gamerith, 2005, S. 315 Jedenfalls könne über öffentliche Schulen eine folgenreiche Minderheitenund Kulturpolitik betrieben werden. Am Beispiel des „Ability Grouping“ („Tracking“) zeigt der Autor die zum Teil subtilen Exklusionsmechanismen auf, mit deren Hilfe im Schulsystem soziale Karrieren gleichsam vorprogrammiert werden. „Ability Grouping“ ist „… eine Organisationsform des Unterrichts, nach der Schüler entsprechend ihren eigenen Wünschen, antizipierten Fähigkeiten oder tatsächlichen Leistungen unterschiedlichen Schulzweigen und Kursen zugewiesen werden“ (S. 327 und 329). „Diese Praxis steht im Kreuzfeuer der Kritik, die vor allem mit mangelnder Objektivität bei der Platzierung der Schüler in die Kurse argumentiert. Wer in den unteren Tracks (berufsbildende Kurse, Vocational oder Technical courses) landet, gilt bei vielen als stigmatisiert … Die nach Begabung sortierten Kursprogramme spiegeln also unterschiedliches soziales Prestige wider, wobei von einem Wechsel von unten nach oben nur in Ausnahmefällen berichtet wird. Vielmehr zementiert das Tracking-Prinzip bestehende soziale Hierarchien, die sich hier – wiederum – mit ethnisch-kulturellen Merkmalen verschränken. … Dass die Tracks von den Verteidigern als quasi unumstößliches Organisationsraster des öffentlichen USamerikanischen Schulsystems begriffen werden, das den sozialen Status quo reproduzieren hilft, deckt sich gut mit dem hegemonialen Verständnis von Macht und Kultur, auf das eine Neue Kulturgeographie fokussiert.“ W. Gamerith, 2005, S. 329

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12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

Sozialgeographie – quo vadis?

Erinnern wir uns noch einmal an unsere „Übersichtskarte“ der Sozialgeographie und die dort ausgewiesenen Entwicklungslinien des Faches (Abb. 11). Wir haben hier immerhin sieben eigenständige Richtungen unterschieden, welche die aktuelle Gesamtstruktur des Faches in mehr oder weniger deutlichem Maße bestimmen. Mit dieser vereinfachenden und als idealtypisch anzusehenden Klassifikation wurde dabei eine eher grobe Systematik vorgelegt, die sich problemlos noch verfeinern ließe. Diese verschiedenen Varianten der Sozialgeographie unterscheiden sich erheblich voneinander und stehen gleichsam miteinander in Konkurrenz. Jede der besprochenen Entwicklungslinien weist in bestimmten Bereichen deutlich erkennbare Vorzüge auf, kann einzelne Aspekte des Erkenntnisobjekts der Sozialgeographie besonders angemessen und einleuchtend behandeln und plausible Antworten auf Grundfragen der fachspezifischen Problematisierung der sozialen Welt anbieten. Auf der anderen Seite haben wir gesehen, dass jede dieser Entwicklungslinien auch ihre (mehr oder weniger ausgeprägten) spezifischen Defizite, Schwächen und „blinden Flecken“ aufweist. Dies gilt auch – ohne es an dieser Stelle belegen zu wollen – für die nicht näher behandelten Entwicklungslinien der humanistischen, feministischen, marxistischen und systemtheoretischen Sozialgeographie. Auch sie haben ihre spezifischen Vorzüge, lassen bestimmte Elemente oder Aspekte der sozialen Welt und ihrer Räumlichkeit mit besonderer Deutlichkeit hervortreten und bieten Begrifflichkeiten, Konzepte, Methoden, analytische Zugänge und Beschreibungsmodalitäten, die für diese Elemente plausibel oder angemessen erscheinen, für andere aber eben gar nicht. Wie wird es nun aber weitergehen mit unserem Fach Sozialgeographie? Welche dieser Entwicklungslinien ist die „bessere“, welche bietet die günstigsten Optionen für die Zukunft? Welcher wollen wir uns in der eigenen Arbeit anschließen? Wie können wir zu einer abschließenden und möglichst „objektiven“ Bewertung kommen? Sollte man nicht versuchen, die einzelnen Richtungen einander anzunähern, sie gleichsam wechselweise zu „übersetzen“, um so zu einer Art „Synthese“ zu gelangen und ein ganzheitlich strukturiertes Gesamtgebäude des Faches zu schaffen? Derartige Fragen drängen sich geradezu auf. Sie sind aber wesentlich einfacher gestellt als beantwortet. Und wir werden gleich sehen, dass die Antworten ganz anders ausfallen müssen, als dies die Frageformulierungen zunächst vermuten lassen. Beginnen wir mit der letzten Frage. Auch ihre 393

Synthese der Ansätze?

12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

Konkurrierende Paradigmen

Definition Paradigma nach Kuhn

Beantwortung erfordert einen relativ hohen Aufwand, sie kann aber eindeutig entschieden werden. Die Antwort ist hier ein klares Nein. Es ist völlig unmöglich, die verschiedenen Entwicklungslinien zu „synthetisieren“, sie miteinander in Beziehung zu setzen, sie wechselweise zu übersetzen oder miteinander kompatibel zu machen. Sie stellen nämlich geographische Varianten miteinander konkurrierender Paradigmen dar. Der Begriff „Paradigma“ wurde als spezifischer Fachterminus von Thomas S. Kuhn (1962) in die Wissenschaftstheorie eingeführt. In einer einfachsten Definition versteht man unter einem Paradigma eine forschungsleitende Perspektive, die für eine bestimmte Gruppe von Wissenschaftlern und für eine bestimmte Zeitspanne konsensbildend ist und die das Gesamtgefüge aller axiomatischen Vorannahmen einer wissenschaftlichen Arbeitsrichtung beinhaltet. Paradigmen unterscheiden sich unter anderem dadurch voneinander, dass ihre jeweilige Weltkonzeption, ihre Vorannahmen und ihre zentralen Begrifflichkeiten absolut inkompatibel oder (wie Th. S. Kuhn es formuliert) „inkommensurabel“ sind. Man kann sie also nicht miteinander in Beziehung setzen, sie sind grundsätzlich nicht wechselweise übersetzbar.

Exkurs Paradigma In seinem Buch „The Structure of Scientific Revolutions“ (1962) stellt Thomas S. Kuhn eine Art „Entwicklungstheorie“ von Wissenschaft auf. Er zeigt, dass es im Verlauf der Geschichte einer wissenschaftlichen Disziplin immer wieder zu einschneidenden Traditionsbrüchen kommt, die den Charakter einer Revolution aufweisen. Durch einen Paradigmenwandel würde der gesamte kognitive und soziale Bezugsrahmen einer Disziplin zerstört und durch eine völlig anders strukturierte Weltsicht ersetzt. Die Primärtheorie Kuhns wurde mit verschiedensten Argumenten kritisiert, und zahlreiche seiner Thesen wurden in der Zwischenzeit verworfen oder modifiziert. Heute versteht man unter einem Paradigma ein kognitives System, das von einer bestimmten Gruppe von Wissenschaftlern als verbindliche und nicht näher zu reflektierende Ausgangsposition der spezifischen Problematisierung von „Wirklichkeit“ akzeptiert wird. Paradigmen bestehen aus charakteristischen Gesetzeshypothesen und

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12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

Modellvorstellungen, in denen auch ontologische Vorannahmen über die Konzeption und die relevanten Elemente der Wirklichkeit zum Ausdruck kommen. Paradigmen unterscheiden sich auch durch bestimmte Musterbeispiele erfolgreicher Erklärungsleistungen, durch methodische Regeln und erkenntnistheoretische Vorannahmen sowie durch verschiedenartige Erkenntnisinteressen, Zielvorstellungen und Programme (vgl. G. Schurz, 1998). Vereinfachend dargestellt, kann man sagen, dass ein Paradigma folgende Minimalbestandteile enthält: Als wichtigstes Element ist der sogenannte Theoriekern anzusehen. Jedes Paradigma enthält ein Set von verallgemeinernden Aussagen, mit denen Behauptungen über Kausalzusammenhänge der Realität aufgestellt werden. Mindestens eine von ihnen hat dabei die Form einer deterministischen oder stochastischen Allaussage, gilt also für alle Ausprägungsformen eines Elements des betreffenden Gegenstandsbereichs. Mit den Konzepten und Elementen des Theoriekerns werden bereits grundlegende Annahmen über die ontologische Struktur des Gegenstandsbereichs getroffen. Zweitens enthalten Paradigmen einen sogenannten methodologischen Rahmen, der aus grundlegenden methodologischen Werten und Normen sowie methodologischen Hypothesen besteht. Sie beziehen sich auf drei Aussagenkomplexe. Einerseits werden Aussagen über das Verhältnis des Forschungssubjekts zum Forschungsobjekt gemacht. Dabei geht es vor allem um die Positionierung gegenüber der Wertneutralitätsthese und darum, ob es geboten ist, den Forschungsprozess objektiv-distanzierend oder subjektivpartizipierend durchzuführen. Andererseits beinhaltet der methodologische Rahmen Festlegungen hinsichtlich der erlaubten und gebotenen Methoden der Datenerhebung und der Repräsentation von Forschungsergebnissen. Und schließlich enthält der methodologische Rahmen Behauptungen über die Relevanz von Parametern. G. Schurz spricht hier von „thematischen Fokussierungswerten“. Damit wird festgelegt, welche Elemente oder Phänomene der Realität für die Erklärung des jeweiligen Gegenstandsbereiches als zentral anzusehen sind und damit auch als Schlüsselelemente des Theoriekerns fungieren. Es leuchtet ein, dass mit den thematischen Fokussierungswerten sehr starke Behauptungen über die Struktur der Realität aufgestellt werden. Jedes Paradigma beinhaltet auch eine programmatische Komponente. Sie ist gleichsam eine Art „Versprechen“ an die Vertreter eines Paradigmas. Es lautet: „Wer genau so forscht, wie die Hypothesen und Axiome des Paradigmas vorgeben, wird auf längere Sicht letztlich alle Phänomene des betreffenden Gegenstandsbereichs erklären können“.

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12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

In aller Kürze seien noch drei weitere wichtige Charakteristika von Paradigmen angeführt. Paradigmen haben eine axiomatische Struktur. Das heißt im Klartext: Man kann sie nicht wirklich begründen, man muss sie gleichsam „glauben“. Der sehr wichtige methodologische Rahmen von Paradigmen bezieht sich auf dahinterstehende erkenntnistheoretische Grundpositionen. Und auch für die Erkenntnistheorie gilt, was für alle anderen Wissenschaften zutrifft. Sie ist kein monolithisches System, sondern weist ihrerseits eine Vielfalt von konkurrierenden Paradigmen auf, die ungeachtet von zyklischen Konjunkturschwankungen miteinander koexistieren. Kritischer Rationalismus, Neopositivismus, Phänomenologie, Naiver Empirismus, Kritischer Realismus, Marxismus, Strukturalismus, Poststrukturalismus, hypothetisch-konstruktiver Realismus: All diese erkenntnistheoretischen Positionen und noch einige mehr werden gegenwärtig vertreten. Natürlich sind auch sie axiomatische Systeme und können damit weder bewiesen noch widerlegt werden. Und weil das so ist, eignet sich ein Student oder ein Forscher ein Paradigma auch nicht durch logische und rationale Überlegungen an. In ein Paradigma wird man als Wissenschaftler gleichsam „hineinsozialisiert“. Man lernt im Verlaufe des Studiums und der eigenen wissenschaftlichen Arbeit, auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu denken, man macht sich einen bestimmten (paradigmenspezifischen) Stil zu eigen, die Wirklichkeit zu problematisieren. Und wenn man schließlich das internalisiert hat, was das soziale System der betreffenden Schule oder eines bestimmten Instituts vorgibt, dann bleiben keinerlei Zweifel offen. Man weiß jetzt einfach, wie die Wirklichkeit und das eigene Fach funktionieren. Damit wird auch klar, welche soziale Funktion Paradigmen für die Forschungspraxis und die subjektive Befindlichkeit von Wissenschaftlern haben. Sie schaffen eine Art kognitives „Urvertrauen“, sie entlasten den alltäglichen Wissenschaftsbetrieb von permanenter Grundlagenkritik, sie liefern dogmatische Überzeugungen, die gegen alle Einwände gesichert erscheinen, und stellen Basiskonzepte außer Streit. Die Vertreter eines bestimmten Paradigmas sind davon überzeugt, über bewährte Strategien zur Lösung fachlicher Probleme zu verfügen und Beschreibungskategorien wie Erklärungsansätze zur Hand zu haben, die (jedenfalls von den Mitgliedern der eigenen „Schule“) anerkannt sind und außer jeder Kritik stehen.

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12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

Man kann diese grundsätzliche Unvereinbarkeit von Paradigmen durch eine Gegenüberstellung ihrer zentralen Grundbegriffe unschwer veranschaulichen. Wenn man menschliches Tun als „Verhalten“ versteht, wie das in der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie der Fall ist, dann verwendet man ein Modell der Beschreibung der sozialen Welt, das mit den Vorstellungen der handlungszentrierten Sozialgeographie in Konflikt steht. Und dieser Konflikt ist durch keine Übersetzungsarbeit, durch keine Vermittlungs- oder Kompromissvorschläge zu lösen.Wer die soziale Welt durch die Brille der marxistischen Theorie betrachtet, sieht etwas ganz anderes als jemand, der ein auf der Grundlage der Luhmann’schen Systemtheorie basierendes Weltbild vertritt. In Abbildung 79 werden einige Inkompatibilitäten zwischen der handlungstheoretischen und der poststrukturalistischen Entwicklungslinie aufgezeigt. (Dass es in geographischen Arbeiten – wie wir im letzten Kapitel gesehen haben – gelegentlich dennoch zu einer wechselseitigen Referenzierung kommt, ist nur um den Preis zu erkaufen, dass die Vorgaben des Poststrukturalismus nicht wirklich ernst genommen werden, die betreffenden Autoren sehr selektiv aus diesem Theorieangebot auswählen und wesentliche Elemente einfach verschweigen.) Poststrukturalismus

Handlungstheorie

Subjekt

„Idee“ des Subjekts wird verworfen

Gilt als „Motor“ des Geschehens

Welt

„Entsteht im Diskurs“

Wird im Handeln umgebaut

Sprache

„Gleiten des Sinns“, unendlicher Regress der Zeichen

Ausdruck subjektiver Rationalität

Materie

Widersprüchlich: von Wird im Handeln bedeutungslos bis „Agency“ verändert (ANT)

Inkompatibilitäten

Abbildung 79: Unvereinbarkeiten zwischen Post­ strukturalismus und Handlungstheorie

Wir müssen also festhalten, dass eine „Synthese“ oder eine „Verknüpfung“ der verschiedenen Entwicklungslinien zu einem einheitlichen theoretischen Gesamtgebäude der Sozialgeographie nicht möglich ist. Man kann nicht die Idee des Subjekts verwerfen und gleichzeitig das Subjekt als Motor des Geschehens ansehen. Die paradigmenspezifischen Vorentscheidungen und Axiome, die den verschiedenen Entwicklungslinien als konstitutive Basis zugrunde liegen, unterscheiden sich voneinander dermaßen, dass eine widerspruchsfreie Verknüpfung ausgeschlossen ist.

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12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

Bewertung möglich?

Damit kommen wir nun aber zur Gretchenfrage, welche der koexistierenden Entwicklungslinien nun die „beste“ Sozialgeographie verspricht, welche wir also bevorzugen sollen. Denn wenn die verschiedenen Paradigmen, auf denen Entwicklungslinien aufbauen, einander fundamental widersprechen, dann können sie nicht gleichzeitig wahr sein. Und so müsste es möglich sein, jene Entwicklungslinie zu identifizieren, die der „Wahrheit“ (zumindest) am nächsten kommt. Die Paradigmenforschung und die Wissenschaftstheorie haben in aller Deutlichkeit und unmissverständlich gezeigt, dass es aufgrund des axiomatischen Charakters wissenschaftlicher Denksysteme nicht möglich ist, zu einem derartigen Urteil zu gelangen. Denn auch die Philosophie und die Wissenschaftstheorie gründen ihrerseits auf axiomatischen Vorannahmen und Setzungen, für die es keine Letztbegründung gibt und die demnach nicht „beweisbar“ sind. Diese Behauptung kann hier nicht ausführlich erörtert und belegt werden. Ich möchte sie gleichsam exemplarisch nur durch ein Zitat aus einem Artikel des Wissenschaftstheoretikers Hans Albert (1961) stützen. H. Albert erinnert daran, dass in zeitgenössischen Publikationen immer wieder mit Nachdruck darauf hingewiesen würde, dass man auch in der Philosophie „nicht ohne gewisse Entscheidungen auskommt“ (1961(1979), S. 508). „Das Apriori der Philosophie, das ihren regulativen Charakter für andere Bereiche wie Wissenschaft und Moral ermöglicht, besteht nicht in besonders gearteten Erkenntnissen, sondern in normierenden Festsetzungen, die sich in bestimmten Zusammenhängen als zweckmäßig erweisen und die durchaus der Diskussion zugänglich sind. Auch die Auffassung, dass es keine Aussagen geben dürfe, die der rationalen Diskussion und der kritischen Überprüfung im Lichte der Logik und der Erfahrung prinzipiell entzogen sind, geht auf eine Entscheidung zurück, nämlich die Entscheidung zum Rationalismus, der insofern eine normative Konzeption ist. Die Anerkennung einer solchen Auffassung schließt eine dogmatische Berufung auf irgendwelche Autoritäten … prinzipiell aus und ermöglicht naturgemäß auch die Kritik solcher Auffassungen, die für sich eine solche dogmatische Basis in Anspruch nehmen. Ein so formulierter Rationalismus ist nicht eine ontologische Auffassung über die Beschaffenheit der Welt und ihre Erkennbarkeit, auch keine … Theorie über die Beschaffenheit der menschlichen Vernunft als Erkenntnisquelle, sondern nur ein methodisches Prinzip … Für die empirischen Wissenschaften müssen in Übereinstimmung mit dieser Basis-Entscheidung weitere methodische Festsetzungen getroffen werden … z.B. das Falsifizierbarkeits-Kriterium für theoretische Systeme, das die 398

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prinzipielle Möglichkeit sichert, jede Theorie an der Erfahrung scheitern zu lassen. … Wer derartige methodische Festsetzungen nicht anerkennt, kann natürlich niemals mit rationalen Mitteln gezwungen werden, seine Überzeugungen zu revidieren. Letzten Endes geht die Lösung aller Gültigkeitsprobleme auf solche Basis-Entscheidungen zurück. Nur wer sie anerkennt, muss die Gültigkeit bestimmter inhaltlicher Aussagen zugeben.“ H. Albert, 1961 (1979), S. 508/509 (2. Hervorhebung P. W.)

Da auch die grundlegenden Vorentscheidungen der Wissenschaftstheorie auf normativen Setzungen beruhen, kann es keine objektive und endgültige vergleichende Bewertung von Paradigmen geben. Und deshalb lässt sich auch nicht sagen, welche Entwicklungslinie der Sozialgeographie der „Wahrheit“ am nächsten kommt. Der axiomatische Charakter der Paradigmen und damit der verschiedenen Richtungen der Sozialgeographie erklärt auch, warum es so schwierig ist, die Vertreter eines bestimmten Ansatzes von den Qualitäten einer konkurrierenden Entwicklungslinie zu überzeugen.Wer die axiomatischen Setzungen und Ausgangsdifferenzen der Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann (1985) oder jene der Handlungstheorie (etc.) jeweils akzeptiert und ihre Gültigkeit postuliert, der kann mit rationalen Argumenten niemals davon überzeugt werden, dass diese Art der Weltbeschreibung und Weltkonstruktion die soziale Welt nur unzulänglich oder selektiv darstellt und dass ein anderer Zugang demgegenüber Vorzüge besitzt. Denn die Axiomatik des Paradigmas definiert sein Weltverständnis. Und die spezifischen Vorzüge, welche die Weltsicht der Luhmannianer bietet, kann andererseits kein anderes Paradigma vermitteln. Wenn uns die Wissenschaftstheorie hier nicht weiterhelfen kann, wie gehen wir nun mit der Koexistenz der rivalisierenden „Sozialgeographien“ um? Lösen wir das Problem dezisionistisch und entscheiden wir uns einfach für jene Entwicklungslinie, die gerade modern und trendy ist, oder für jene, die uns persönlich jeweils am besten liegt? Zur Veranschaulichung des Lösungsansatzes, den ich dem Leser im Folgenden gerne vermitteln und schmackhaft machen möchte, habe ich beim 28. Schulgeographentag in Wien ein „Gedankenexperiment“ vorgestellt (P. Weichhart, 2004 b), das im folgenden Exkurs wiedergegeben wird.

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Koexistenz rivalisierender Ansätze

12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

Exkurs Ein Gedankenexperiment Stellen Sie sich bitte Folgendes vor: Sie sitzen in einem abgeschlossenen Raum und beobachten durch ein kleines Fenster die Ereignisse, die sich in einem benachbarten, sehr großen Raum abspielen. Das Fenster ist schalldicht, Sie verstehen nicht, was gesprochen wird. Wenn eine der Personen im Nachbarraum mit dem Rücken zum Fenster steht, können Sie deren Gesichtszüge nicht sehen; steht sie nahe am Fenster, verdeckt sie einen erheblichen Teil des Geschehens. Was in den toten Winkeln geschieht, ist Ihrer Wahrnehmung grundsätzlich verborgen. Ereigniskonstellationen, die von Ihrem Fenster aus nicht betrachtet werden können, sind für Sie einfach nicht wahrnehmbar. Sie haben keinerlei Möglichkeit, auf das Geschehen im Nachbarraum Einfluss zu nehmen. Wenn Sie nun die Aufgabe hätten, über einen längeren Zeitraum zu protokollieren, was genau sich eigentlich im Nachbarraum ereignet, könnten Sie nur jene Aspekte der Realität des Nachbarraumes darstellen, die aus der Perspektive Ihres Fensters und Ihres Blickwinkels erkennbar waren. Alles, was nicht visuell wahrnehmbar war, kann in Ihrem Protokoll nicht enthalten sein. Und nun überlegen Sie einmal, wie sich Ihr Ereignisprotokoll von jenem eines anderen Beobachters unterscheiden müsste, der zwar keinen Sichtkontakt zum Versuchsraum hat, dafür aber über eine leistungsfähige Abhöranlage verfügt. Er kann nur die akustisch wahrnehmbaren Elemente des Geschehens erfassen, diese allerdings sehr genau. Er oder sie kann die kommunikativen Strukturen des Geschehens aufnehmen und die Sinngehalte der Gespräche rekonstruieren. Für diese Person bleibt aber beispielsweise völlig unklar, welche Gegenstände sich im beobachteten Raum befinden und was die Anwesenden damit tun. Wenn etwas geschieht, das im Kommunikationsprozess nicht reflektiert oder durch zweifelsfrei erkennbare akustische Signale deutbar wird, kann es im Protokoll nicht aufscheinen. Auch diese Beobachtungsperson hat nicht die geringste Chance, das Geschehen in irgendeiner Form zu beeinflussen. Stellen wir uns nun eine dritte Person vor, welche die Möglichkeit hat, als Protokollant in den zu beobachtenden Raum selbst einzutreten und am Geschehen unmittelbar teilzuhaben. Diese Person wird die Ereignisse sehr direkt wahrnehmen können, sie kann die Körpersprache der Anwesenden unmittelbar erfassen und Details

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12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

erkennen, die den beiden anderen Beobachtern verborgen bleiben. Sie wird sogar imstande sein, die Ereignisse im Beobachtungsraum selbst zu beeinflussen, Impulse zu setzen und durch eigene Aktivitäten die Handlungsstruktur in gewissem Maße zu steuern. Durch ihre unmittelbare Involviertheit in das Geschehen wird diese Person aber mit Sicherheit größere Probleme haben, den Geschehensablauf vollständig darzustellen. Und auch dieser Protokollant wird Wahrnehmungslücken aufweisen. Die betreffende Person wird beispielsweise nicht fehlerfrei darstellen können, was hinter ihrem Rücken oder während eigener Aktivitätsphasen geschehen ist. Wir könnten das Beispiel jetzt problemlos kunstvoll weiter ausbauen, indem wir zusätzliche Beobachtungsperspektiven definieren. Es wäre etwa ein Protokollant vorstellbar, der aus der Gegenperspektive von Nummer 1 seine visuellen Wahrnehmungen aufnimmt und dabei durchaus zu differenten Ergebnissen kommen wird, oder ein Beobachter, der das Geschehen durch ein Fenster in der Decke betrachtet und damit wieder ein etwas anderes Bild der Situation erfasst. Wir wollen das aber gar nicht weiterführen, denn die Pointe der Geschichte sollte bereits jetzt völlig klar sein. Die „Wirklichkeit“ des Beobachtungsraumes – was immer „Wirklichkeit“ auch sein mag – stellt sich aus der Sicht oder Perspektive eines bestimmten Beobachters immer genau so dar, wie es die jeweils eingenommene Perspektive festlegt. Wir wollen auch keine Spekulationen weiterverfolgen, die sich bei der Reflexion dieses Gedankenexperiments natürlich sofort aufdrängen, ob es denn überhaupt möglich ist, so etwas wie eine objektivierbare und perspektivenunabhängige Realität zu erkennen. Es geht jetzt primär darum, an diesem Beispiel zu verdeutlichen, dass jede Beobachtung von Sachverhalten und alle daran anschließenden Deutungen, Interpretationen oder Erklärungen der dabei gegebenen Zusammenhänge mit Notwendigkeit selektiv sein müssen. Die jeweilige Betrachtungsperspektive determiniert dabei auch die Ontologie, den Seinsstatus, der wahrgenommenen Sachverhalte. Wenn nun in einem Gerichtsverfahren die Vorgänge im Untersuchungsraum zu bewerten oder zu prüfen wären, welches der verschiedenen Protokolle sollte der Gerichtshof als Grundlage und Datenbasis für seine Urteilsfindung heranziehen? Könnten wir eine rational begründbare Empfehlung für eines der verschiedenen Protokolle abgeben? Könnten wir plausible Aussagen darüber machen, welches der verschiedenen Protokolle der „Wahrheit“ am nächsten kommt?

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12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

Um eine solche Empfehlung abzugeben, muss man weder die Erkenntnistheorie konsultieren noch wird man sich auf vergleichende Untersuchungen über die Genauigkeit der Protokolle stützen müssen. Aus der Sicht des alltagspraktischen „Hausverstandes“ ist ja von vorneherein klar: Jede dieser Realitätsbeschreibungen ist inkomplett, jede weist Defizite auf, keine ist perfekt. Unsere Empfehlung an den Gerichtshof müsste daher lauten: Nehmt doch alle verfügbaren Protokolle und vergleicht sie, denn sie ergänzen einander. Die „blinden Flecken“ des einen sind die Sehschärfe des anderen. Was in einem Protokoll verborgen blieb, offenbart sich in aller Deutlichkeit in einem anderen.

Wenn Hans Heinrich Blotevogel (1999, S. 18) die Frage stellt: „Ist die Giddens-Werlensche Sozialgeographie wirklich die einzig mögliche und sinnvolle Art, Sozialgeographie zu betreiben?“, dann kann aus der Perspektive des eben vorgenommenen Gedankenexperiments die Antwort Benno Werlens nur so ausfallen, wie sie tatsächlich ausgefallen ist: „Forschungsansätze sind wie Brillen, anhand derer man die Wirklichkeit – oder zumindest das, was man dafür hält – unterschiedlich sieht. Jede Forschungsperspektive hat, je nach Zuständigkeitsbereich, in gewissem Sinne je spezifische Sehschärfen und tote Winkel.“ B. Werlen, 1995 b, S. 513 Multiperspektivität der Sozialgeographie

Der Ansatz zur Lösung unseres Entscheidungsproblems, den ich gerne vorschlagen möchte, besteht also darin, die Situation der Multiperspektivität in der Sozialgeographie zu akzeptieren und – wie im Gedankenexperiment – positiv zu bewerten. Der Pluralismus der konkurrierenden Entwicklungslinien wird damit als adäquate Reaktion auf die Komplexität des Forschungsgegenstandes der Sozialgeographie angesehen. Die im Rahmen eines bestimmten Ansatzes mögliche Beschreibung von Welt kann bestenfalls Teilaspekte der Realität erfassen, die als spezifische Projektionen durch die Perspektive des Betrachtungsmodells mitbestimmt oder gar erst konstituiert werden. Der Vorzug einer solchen multiparadigmatischen Struktur besteht darin, dass man gleichsam aus der Gegenperspektive konkurrierender Ansätze zusätzliche Projektionen erhält, die sich zueinander komplementär verhalten und uns erst im Vergleich der verschiedenen und nicht aufeinander reduzierbaren Befunde ein vollständigeres Bild der Wirklichkeit vermitteln können. Bei einer solchen Auffassung erscheint der in den verschiedenen Entwicklungslinien erkennbare Paradigmenpluralismus aus402

12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

drücklich als Ziel und erstrebenswerte Struktur einer wissenschaftlichen Disziplin. Eine solche Auffassung bezeichne ich als „Komplementaritäts-Idealismus“ (P. Weichhart, 2001 a). Als überzeugter Komplementaritäts-Idealist gehe ich davon aus, dass die unterschiedlichen Entwicklungslinien der Sozialgeographie eigentlich weniger Konkurrenten, sondern Komplementoren im Sinne der Co-opetitionTheorie von Adam M. Brandenburger und Barry J. Nalebuff (1996) sind: Sie ergänzen einander. Das „Produkt“ – die Forschungsergebnisse im Rahmen einer Entwicklungslinie – erhält einen Mehrwert, wenn gleichzeitig die „Produkte“ einer anderen Entwicklungslinie vorliegen und wir damit zu einer multiperspektivischen Weltsicht im Sinne des Komplementaritätsprinzips gelangen. In Abbildung 80 wird versucht, diese Auffassung graphisch zu veranschaulichen. Nehmen wir an, die mit „R“ (wie „Realität“) gekennzeichnete Figur stellt ein bestimmtes sozialgeographisch relevantes Phänomen der „Wirklichkeit“ dar. Dieses Phänomen gilt es zu erforschen. (Aus konstruktivistischer Perspektive wird „R“ selbst natürlich durch den Forschungs- und Beobachtungsprozess erst konstituiert.) Aus der Sicht des Paradigmas 1 (P1) lässt sich dieses Phänomen auf eine ganz bestimmte Weise abbilden. Auf der Grundlage der Konzepte, Konstrukte und Methoden dieses Paradigmas erscheint uns das Phänomen als eine ganz bestimmte Projektion, die eben der Perspektive von P1 entspricht. Die aus der Sicht von P1 hinter „R“ gelegene Fläche symbolisiert das paradigmenspezifische Modell der Realität. Aus der völlig differenten Perspektive von Paradigma 2 (P2) sieht die Realität aber ganz anders aus. Das Modell von „R“, das von P2 gezeichnet wird, unterscheidet sich grundlegend von der Projektion des ersten Paradigmas. Aus dem Blickwinkel eines dritten Ansatzes P3 ist sogar nur ein bestimmter Teil des Phänomens erkennbar, dieser aber besonders genau. Aus dieser Sicht geht einerseits etwas verloren, bleibt unberücksichtigt. Andererseits wird eine Facette des Phänomens fassbar, welche für die beiden anderen Betrachter anscheinend gar nicht wahrnehmbar ist. Und natürlich ist es vorstellbar, dass für die Perspektiven P4 oder P5 das Phänomen „R“ gar nicht sichtbar ist, und demnach gar nicht existiert. Erst wenn wir imstande sind, die verschiedenen paradigmenspezifischen Modelle der „Realität“ wahrzunehmen, sie – auch wenn sie nicht unmittelbar miteinander vergleichbar oder wechselweise „übersetzbar“ sind – als komplementäre Weltbeschreibungen miteinander in Beziehung zu setzen, kommen wir dem Ziel, eine möglichst umfassende Darstellung der Räumlichkeit der sozialen Welt zu formulieren, einen kleinen Schritt näher. Von einem allzu naiven Wahrheitsbegriff, der als Prüfstein und Beurteilungskriterium für die „Qualität“ der Projektionen eingesetzt werden könnte, müssen wir uns dabei allerdings verabschieden. Ich schlage vor, zur Beurteilung der Brauchbarkeit der verschiedenen Entwicklungslinien der 403

Komplementoren

Konzept der Viabilität

12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

Abbildung 80: Paradigmen als „Komplementoren“ Quelle: P. Weichhart, 2000, S. 488

P2

„R“

P1

P3

Paradigmenspezifische Modelle der „Realität“

Sozialgeographie nicht das Konzept der „Wahrheit“, sondern das konstruktivistische Konzept der Viabilität zu verwenden. „Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen. Nach konstruktivistischer Denkweise ersetzt der Begriff der Viabilität im Bereich der Erfahrung den traditionellen philosophischen Wahrheitsbegriff, der eine ,korrekte‘ Abbildung der Realität bestimmt. Diese Substitution ändert natürlich nichts am Alltagsbegriff der Wahrheit, der die getreuliche Wiederholung oder Beschreibung einer Erfahrung bedeutet.“ E. von Glasersfeld, 1997, S. 43 Demnach ist die makroanalytische Raumstrukturforschung zweifellos viabel, wenn es darum geht, eine Beschreibung des räumlichen Verteilungsmusters sozialer Phänomene vorzunehmen. Sie ist aber natürlich nicht viabel, wenn mit ihrer Hilfe eine Rekonstruktion der Sinnkonstitution spezifischer sozialer oder kultureller Prozesse vorgenommen werden soll. Probleme der Sinnzuschreibung sind im Rahmen dieser Entwicklungslinie einfach nicht vorgesehen und damit auch nicht behandelbar. Eine handlungstheoretische Analyse ist sicher viabel, wenn sie zu dem Zweck eingesetzt wird, die Intentionalität von Akteuren bei Prozessen der signifikativ404

12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

informativen Regionalisierung zu rekonstruieren, nicht aber, wenn die Eigendynamik von Diskursen im Zentrum des Forschungsinteresses steht. Umgekehrt können eine streng im Sinne von M. Foucault durchgeführte Diskursanalyse oder eine Kommunikationsanalyse im Luhmann’schen Verständnis diese Eigendynamik durchaus viabel erfassen. Diese beiden Ansätze müssen aber (im Sinne der Viabilität) scheitern, wenn die Forschungsfragen den Beitrag der Subjekte (als Quellen von Intentionalität und Kontingenz) für die Diskursdynamik thematisieren wollen. Das Konzept der Viabilität ist besonders gut geeignet, die oben angesprochene Position des Komplementaritäts-Idealismus funktional zu begründen. Das (durchaus fachpolitisch gemeinte) Fazit lautet also: Akzeptieren wir die Paradigmenvielfalt in der Sozialgeographie und die daraus resultierende Vielfalt an Entwicklungslinien. Sehen wir diese Multiperspektivität ausdrücklich als Vorzug und Stärke des Faches an. Um diesen Vorzug in Wert setzen zu können, sollten wir uns aber um „Mehrsprachigkeit“ bemühen. Sozialgeographen sollten also die Konzeptionen von mindestens zwei Entwicklungslinien „beherrschen“ und allen anderen Richtungen gegenüber zumindest offen sein. Durch die Überlegungen in diesem Abschlusskapitel habe ich mich auch hinsichtlich meiner eigenen erkenntnistheoretischen Positionierung eindeutig „geoutet“. So sehr ich die Vorzüge und die problemspezifische Viabilität konstruktivistischer Zugänge schätze (und dazu zählt auch das Theorem der Konstitutionspotenziale der Subjekte in der Handlungstheorie), letztlich führt (nach meiner heutigen Einschätzung) kein Weg an einer zumindest gemäßigten Form des Realismus vorbei. Aids, Krebs, Hiroshima, Tschernobyl, Armut, das Attentat vom 11. 9., eine Lawine, die Phänomene der globalen Fragmentierung oder der Klimawandel sind existenzielle Realitäten, die unabhängig von Beobachtern und Sinn konstruierenden Subjekten existieren und deren Wirkungen sich kein Betroffener durch noch so bemühte Konstitutionsleistungen entziehen kann und konnte. Überzeugte Konstruktivisten werden jetzt empört aufschreien, denn alle angeführten Beispiele lassen sich in irgendeiner Form natürlich auch konstruktivistisch interpretieren. Natürlich wird Armut sozial produziert und konstruiert. Für das betroffene Subjekt bedeuten ihre Auswirkungen aber eine faktische Realität, deren existenzielle Signifikanz außerhalb jeder eigenen Beeinflussungs- oder Interpretationsmöglichkeit steht. Deshalb bekenne ich mich ausdrücklich zu einem hypothetisch-konstruktiven Realismus (vgl. G. Schurz, 2006, S. 26–29 und S. 56–57), den ich generell und auch für die Sozialgeographie für eine ausgesprochen viable er405

Hypothetisch­ konstruktiver Realismus

12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

Minimaler Realismus

kenntnistheoretische Grundposition ansehe. Dabei handelt es sich um einen wichtigen Bestandteil des von G. Schurz diskutierten „minimalen erkenntnistheoretischen Modells“. Dieses Modell lässt sich durch fünf erkenntnistheoretische Annahmen beschreiben. Die erste Annahme wird als minimaler Realismus bezeichnet. „Dieser Annahme zufolge gibt es eine Wirklichkeit bzw. Realität, die unabhängig vom (gegebenen) Erkenntnissubjekt existiert. Es wird nicht unterstellt, dass alle Eigenschaften dieser Realität erkennbar sind. Die Möglichkeit grundsätzlicher Erkenntnisgrenzen wird offengelassen und kann nicht apriori, sondern nur angesichts des faktischen Erkenntniserfolges der Wissenschaften beantwortet werden.Wissenschaftliche Disziplinen bezwecken, möglichst wahre und gehaltvolle Aussagen über abgegrenzte Bereiche dieser Realität aufzustellen. Der Begriff der Wahrheit wird dabei im Sinne der strukturellen Korrespondenztheorie verstanden, derzufolge die Wahrheit eines Satzes in einer strukturellen Übereinstimmung zwischen dem Satz und dem von ihm beschriebenen Teil der Realität besteht. Dieser von Alfred Tarski … präzisierte strukturelle Wahrheitsbegriff unterstellt somit keine direkte Widerspiegelungsbeziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit.“ G. Schurz, 2006, S. 26

Fallibilismus

Intersubjektivität von Aussagen

Die zweite Annahme umschreibt Schurz mit den Konzepten Fallibilismus und kritische Einstellung: „Es gibt keinen unfehlbaren ,Königsweg‘ zu korrespondenztheoretischer Wahrheit. Der Annahme des Fallibilismus zufolge ist jede wissenschaftliche Behauptung mehr oder minder fehlbar; wir können uns ihrer Wahrheit daher nie absolut sicher sein, aber wir können ihre Wahrheit als für mehr oder weniger wahrscheinlich befinden. … Mit dem Fallibilismus ist somit eine kritische Einstellung verbunden, derzufolge keine Aussage von der Kritik ein- für allemal ausgeschlossen werden darf“ (ebd., S. 26/27). Annahme 3 (Objektivität und Intersubjektivität) besagt, dass die Wahrheit einer Aussage objektiv gelten muss, also unabhängig ist von den Einstellungen und Wertungen des Erkenntnissubjekts. Ein zentrales wissenschaftliches Kriterium für Objektivität und damit auch für Wahrheit liegt in der Intersubjektivität von Aussagen:

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12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

„Wenn sich die Wahrheit einer Aussage überhaupt überzeugend begründen lässt, so muss sich jede kognitiv hinreichend kompetente Person von der Wahrheit dieser Aussage nach hinreichender Kenntnisnahme der Datenlage zumindest ,im Prinzip‘ überzeugen lassen.“ G. Schurz, 2006, S. 27 Die vierte Annahme bezeichnet Schurz als „minimalen Empirismus“. Der Gegenstandsbereich einer Wissenschaft muss im Prinzip der Erfahrung bzw. der Beobachtung zugänglich sein. „Empirische Beobachtungen sind somit ein zentraler Schiedsrichter für die wissenschaftliche Wahrheitssuche: an ihnen müssen wissenschaftliche Gesetzeshypothesen und Theorien überprüft werden“ (ebd., S. 27). Annahme fünf bezieht sich auf Logik im weiten Sinn.

Minimaler Empirismus

„Durch die Anwendung präziser logischer Methoden zur Einführung von Begriffen, zur Formulierung von Sätzen sowie zur Bildung korrekter Argumente kann man dem Ziel der Wahrheitssuche … am effektivsten näher kommen. … nur für Sätze mit präzise formulierten Bedeutungen sind deren logische Konsequenzen präzise ermittelbar. Schließlich ist nur dann, wenn die Konsequenzen einer Hypothese genau bekannt sind, diese Hypothese … empirisch überprüfbar. Das Verfahren der empirischen Überprüfung erfordert also an allen Stellen die Anwendung logischer Methoden …“ G. Schurz, 2006, S. 27/28 Die Annahmen 3 und 5 sind der Hintergrund für die Skepsis des Autors gegenüber dem Poststrukturalismus, die in Abschnitt 11.1 doch recht deutlich erkennbar war. Diese Skepsis ändert allerdings nicht das Geringste daran, dass ich aus der Perspektive des Komplementaritäts-Idealismus auch die poststrukturalistischen Ansätze respektiere, sie keineswegs verwerfen möchte und als wichtige Facette des Paradigmenpluralismus letztlich durchaus positiv bewerte. Die Position des radikalen Konstruktivismus wird von G. Schurz zurückgewiesen. Die Begründung des radikalen Konstruktivismus enthalte nämlich einen „subtilen“ Fehler. Diese Begründung lautet: „Es ist unmöglich, über eine Wirklichkeit an sich – unabhängig von ihrer erkenntnismäßigen Konstruktion – etwas auszusagen. Dasjenige, worüber wir immer nur etwas aussagen können, ist die von uns konstruierte Wirklichkeit“ (ebd., S. 56). Der Fehler der Begründung liege darin, dass dabei „… der Begriff des „Aussagens“ im naiv-realistischen Widerspiegelungssinn aufgefasst wird. 407

Ablehnung eines radikalen Konstruktivismus

12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

Dann ist es in der Tat unmöglich, über einen Gegenstand ,unabhängig von seiner erkenntnismäßigen Konstruktion‘ … etwas auszusagen“ (ebd., S. 57). „Die moderne Wahrheitstheorie fasst die Beziehung zwischen wahrer Aussage und ihrem Gegenstand jedoch nicht als quasi-identische Widerspiegelung, sondern als strukturelle Korrespondenz auf, die gewisse Informationen überträgt, aber weder vollständig noch eindeutig sein muss. Dass der Satz ,diese Blume ist rot‘ wahr ist, heißt lediglich, dass das vom singulären Term ,diese Blume‘ bezeichnete Objekt die vom Prädikat ,rot‘ ausgedrückte Eigenschaft besitzt: wie viele andere Eigenschaften diese Blume sonst haben mag und wie viele Rotnuancen es auch geben mag, spielt für diese strukturelle Korrespondenz keine Rolle. In dieser Sicht liegt keine Inkohärenz darin, zu sagen, mit unseren erkenntnismäßigen Konstruktionen sagen wir etwas über eine Wirklichkeit aus, die unabhängig von unseren erkenntnismäßigen Konstruktionen existiert, wenngleich diese erkenntnismäßigen Konstruktionen keine quasi-identischen Widerspiegelungen der Wirklichkeit, sondern nur unvollkommene strukturelle Abbildungen derselben darstellen. Die unabhängig existierende Wirklichkeit wird eben nicht als in unseren Vorstellungen unmittelbar gegeben angenommen, wie im metaphysischen Realismus, sondern sie wird lediglich als System hypothetischer Entitäten postuliert, dessen Existenz die empirischen Erfolge unserer Erkenntnis am besten erklären kann. … ich bezeichne diese Position als den hypothetisch-konstruktiven Realismus, um zu betonen, dass auch der Realismus letztlich eine fallible Hypothese darstellt.“ G. Schurz, 2006, S. 57

Ausblick

Diese erkenntnistheoretische Grundposition scheint mir für die Sozialgeographie besonders tragfähig zu sein. Denn ihr zentrales Erkenntnisobjekt bezieht sich auf die Grundfrage nach dem Verhältnis von Sinn und Materie. Und die Bedingung der Möglichkeit, diese Frage überhaupt stellen zu können, liegt in der hypothetischen Annahme, dass es eine vom Betrachter unabhängige materielle Realität tatsächlich geben könnte. „Beweisbar“ ist diese Position natürlich nicht, weil auch sie auf Axiomen basiert, die man für ihre Anerkennung akzeptieren muss. Deshalb muss ich vor dem Hintergrund des Komplementaritäts-Idealismus auch jeden anderen erkenntnistheoretischen Standpunkt respektieren – aber ich muss ihn nicht teilen. Wie wird es weitergehen mit der Sozialgeographie? Dass sie nach einer längeren Stagnationsphase spätestens seit der intensiven Diskussion der handlungszentrierten Entwicklungslinie und auch jener der Neuen Kulturgeographie wieder klar in den Mainstream der Humangeographie gerückt 408

12. SOZIALGEOGRAPHIE – QUO VADIS?

ist, sollten die hier vorgestellten Überlegungen ausreichend veranschaulicht haben. Es sollte aber auch deutlich geworden sein, dass es immer weniger Sinn macht, einzelne Teildisziplinen der Humangeographie fein säuberlich gegeneinander abzugrenzen. Ich bin auch davon überzeugt, dass in absehbarer Zeit weitere Entwicklungslinien der Sozialgeographie auf den Plan treten werden. Die Geistesgeschichte ist eine unendliche Geschichte, die mit der vorliegenden Bestandsaufnahme selbstverständlich nicht abgeschlossen ist. So vermute ich, dass in nächster Zeit auch in der Sozialgeographie Fragen stärker thematisiert werden, die in der Physischen Geographie aktuell unter der Bezeichnung „Skalen-Problem“ Beachtung finden. Dabei geht es (in der Sozialgeographie) um eine neue Version des klassischen „Mikro-Makro“- oder „Individualismus-Kollektivismus-Problems“, die vor allem auf die wechselseitige Beeinflussung von Phänomenen auf unterschiedlichen Maßstabsebenen Bezug nimmt. Das „schwierige“ Verhältnis zwischen Globalisierung auf der einen und Regionalisierung/Lokalisierung auf der anderen Seite wäre ein konkretes Beispiel. Außerdem vermute ich, dass demnächst auch in der Sozialgeographie eine Neuthematisierung der materiellen Welt ins Haus steht. Auf erste Hinweise darauf wurde am Ende des letzten Kapitels bereits aufmerksam gemacht. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, mit diesem Buch genau jenes Ziel zu erreichen, das mich motiviert hat, es zu schreiben: dem Leser Lust auf Sozialgeographie zu machen. Unsere Zeitreise durch die Geistesgeschichte dieses Faches sollte deutlich gemacht haben, dass sich die Konstitutions- und Rahmenbedingungen der fachlichen Identität bis zur Gegenwart grundlegend geändert haben. Hans Bobek hat mit seiner Vision, dass die Sozialgeographie sich zu einer integrierenden Klammer der gesamten Humangeographie entwickeln solle, durchaus recht behalten. Die klassischen „Schubladengeographien“ haben ausgedient. Die Reintegration der humangeographischen Teildisziplinen zu einer übergreifenden Sozialgeographie, die auch Wirtschaft und Kultur umfasst, ist bereits weit fortgeschritten.Verbunden damit war eine immer deutlicher erkennbare Anthropozentrierung, eine Fokussierung auf den Menschen selbst. Dabei findet der Wertepluralismus der Postmoderne seine Entsprechung in der Vielfalt der Paradigmen, welche die Sozialgeographie heute prägt. Wie immer sich unser Fach in Hinkunft auch weiterentwickeln wird, die Beziehung zwischen dem Sozialen und dem Räumlichen ist und bleibt eine spannende und aufregende Geschichte.

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Sozialgeographie heute – eine Patchwork­ disziplin?

Zehn Jahre nach Abschluss des Manuskripts der ersten Auflage dieses Bandes bietet die Sozialgeographie ein Erscheinungsbild, das man durchaus mit dem schon etwas abgegriffenen Diktum von der „postmodernen Un­ übersichtlichkeit“ charakterisieren könnte. Es fällt (nicht nur dem Autor) derzeit sehr schwer, eine klare Binnendifferenzierung des Gesamtgefüges der Humangeographie zu erkennen und zu begründen. Zwar scheint die Sozialgeographie – durchaus im Sinne der Vorstellung von Hans Bobek – alle anderen Arbeitsbereiche der Humangeographie zu übergreifen und gleichsam zu verklammern, es ist aber nicht auszumachen, wo genau ei­ gentlich ihr Kernbereich oder der gegenwärtige Mainstream der deutsch­ sprachigen Sozialgeographie liegt. In den letzten Jahren wurden zahlreiche Anregungen und Ideen aus dem englischen und französischen Sprachraum aufgegriffen, zum Teil miteinander in Beziehung gesetzt, überwiegend aber als eigenständige „Denkinseln“ kultiviert. Die handlungszentrierte Sozial­ geographie von Benno Werlen und seiner Schule scheint die letzte umfas­ sende Innovation aus dem deutschen Sprachraum geblieben zu sein. Um es bewusst etwas despektierlich zu formulieren: Die Sozialgeogra­ phie erweckt beim Autor derzeit den Eindruck einer großen Spielwiese, auf der sich zahlreiche wunderschöne Steckenpferdchen tummeln, deren Be­ wegungen aber weitgehend unkoordiniert und ohne gemeinsame Choreo­ graphie erfolgen. Jedes dieser prächtigen Steckenpferde verfolgt ein für sich genommen durchaus bedeutsames Anliegen, ist an spannenden Einzelthe­ men und zweifellos sehr wichtigen Fragen orientiert. Man verliert bei der Betrachtung aber ein wenig den Überblick und sucht etwas ratlos nach verbindenden Gemeinsamkeiten und einem roten Faden, mit dessen Hilfe das Zentrum der Bewegungen gefunden werden könnte. Zu einem ähnlichen Befund gelangen auch Susan J. Smith et al. (2010) im Einleitungskapitel des SAGE Handbook of Social Geographies. Es wird mit Verweis auf andere Autoren konstatiert, dass die Identifikation der Geo­ graphen mit dem Sozialen in den letzten zwei Jahrzehnten eher in den Hintergrund gedrängt wurde und das ausdrückliche Engagement der Sozi­ algeographie für Fragen der Unterdrückung, Ungleichheit und Armut er­ heblich abgeschwächt worden sei. Es wird von einem aktuellen „patchwork of social geographies“ (S. 2) gesprochen, das durch unterschiedliche natio­ nale Traditionen noch zusätzlich differenziert wird.

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13. SOZIALGEOGRAPHIE HEUTE – EINE PATCHWORK DISZIPLIN?

“Scholarship self­consciously labelled ‘social geography‘ may be ra­ dical or conservative, life changing or mundane, engagingly relevant, comprehensively bland or uniquely quirky. It is above all diverse, covering many topics, embracing a mix of methods, rooted in a variety of places and practised in different, multiple, ways. … But why collect so many snippets of such a wide­ranging subject into a single volume? ... Compiling a historiography of social geography might have been an interesting option, but more compelling was a sense of the urgency – and timeliness – expressed by colleagues and authors for considering what social geography should become.“ S. J. Smith et al., 2010, S. 3

Im Folgenden seien nur einige dieser „Snippets“ oder Einzelhemen skiz­ zenhaft erwähnt. Ausführlichere Belege und Beispielarbeiten können aus Platzgründen nicht geboten werden. Manchen der aktuellen sozialgeographischen Themenfelder sind (aus meiner Sicht) eine gewisse Subtilität, Randständigkeit oder gar eine esote­ rische Note gemeinsam. Sie sind aber zweifellos innovativ und erörtern Fragestellungen, die bislang nicht oder unzulänglich behandelt wurden. Und gelegentlich versuchen ihre Protagonisten, über Fragen zu reden, über die man eigentlich nicht reden kann. Einige dieser Themen sind als Reak­ tion auf aktuelle gesellschaftliche, politische und technologische Entwick­ lungen entstanden. Manche davon verstehen sich als eine Art Frühwarn­ system, das auf bestimmte Entwicklungen aufmerksam machen will. Seit den frühen 1990er­Jahren lässt sich im englischen Sprachraum bei­ spielsweise eine Neuinterpretation der „Animal Geography“ beobachten. Bei diesem Ansatz handelt es sich nicht um die klassische Tiergeographie als Teilgebiet der Biogeographie, die sich mit der Verbreitung und Ausbreitung der Tierarten auf der Erde und den dabei wirksamen ökologischen Hinter­ gründen befasst, sondern, wesentlich weiter ausgreifend und sozialwissen­ schaftlich verstanden, um die Grundstrukturen von Mensch­Tier­Bezie­ hungen. Bei dieser Arbeitsrichtung geht es natürlich auch um Tierschutz und bedrohte Arten, vor allem aber um die generelle Form der Beziehung von Menschen und Nichtmenschen. Damit kann die Animal Geography auch als Teilbereich einer umfassenden Gesellschaft­Umwelt­Forschung verstanden werden. Eine der Pionierarbeiten war ein Buch von Yi­Fu Tuan (2004, erste Auflage 1984), in dem am Beispiel von geliebten Haustieren die Dominanz­ und Machtbeziehungen gegenüber der belebten und unbe­ lebten Natur, aber auch gegenüber anderen Menschen thematisiert wurden. Seit 2009 gibt es die „Animal Geography Specialty Group“ der Association of American Geographers, seit 2011 ist das „Animal Geography Research 411

13. SOZIALGEOGRAPHIE HEUTE – EINE PATCHWORK DISZIPLIN?

Network“ aktiv. Als aktuellere Monographie kann der Band „Placing Ani­ mals“ von Julie Urbanik (2012) angeführt werden. Ein Zitat aus diesem Text kann die Stoßrichtung und Schwerpunktsetzung dieses Ansatzes ver­ deutlichen: “The ’new‘ animal geography, however, distinguishes itself by decentering the human as the focal subject, recognizing the agency of nonhumans, and demanding a geographically rich analysis of the ways in which the full spectrum of human­animal relations come into being, exist, evolve, and disappear.“ J. Urbanik, 2012, S. 43. Die Animal Geography kann aufgrund ihrer Berücksichtigung emotionaler Aspekte von Tier­Mensch­Beziehungen auch als Facette einer seit einiger Zeit zu beobachtenden neuen Hinwendung der Sozialgeographie zum Nachbarfach Psychologie gesehen werden. Man kann geradezu von einem „Psychological Turn“ sprechen. Sosehr der Autor dies aufgrund seiner ei­ genen Interessenlagen durchaus begrüßt, die Vielfalt der dabei entstandenen „neuen“ Geographien macht einen geradezu schwindelig. „Geography of Emotions“, „Emotional Geography“, „Affectual Geogra­ phy“, „Psychoanalytic Geography“ und „Psychogeographie“ sind durchaus unterscheidbare und voneinander abgrenzbare neuere Ansätze des Faches, zu denen in den letzten Jahren unzählige Publikationen vorgelegt wurden. Hinweise auf zahlreiche neuere Veröffentlichungen zu dieser Thematik fin­ den sich etwa bei Steven Pile (2010, S. 5) sowie bei Mick Smith et al. (2009). Noch komplizierter wird die Situation dadurch, dass derartige Ar­ beiten auf einer Metaebene zum Teil Querbeziehungen zur Neurowissen­ schaft und deren jüngstem Paradigma, der „Embodied Cognitive Neurosci­ ence“, sowie zu verschiedenen Spielarten der Phänomenologie aufweisen. Einig sind sich die Vertreterinnen und Vertreter dieser Arbeitsrichtungen jedenfalls in der Auffassung, dass Emotionen und Affekte in der Geographie lange Zeit geradezu sträflich vernachlässigt wurden. Da das Emotionale aber ein konstitutives Element menschlicher Weltaneignung und Lebenspraxis sei, habe diese Vernachlässigung zu einem erheblichen blinden Fleck geo­ graphischer Weltsicht geführt. Jede kritische Geographie müsse daher An­ strengungen unternehmen, die emotionale Seite menschlicher Existenz (und damit auch Fragen der Ethik und Moral) zu thematisieren (J. Davidson und M. Smith, 2009, S. 440/441). Einig ist man sich auch darüber, dass es sehr schwierig sei, über Emotionen und Affekte zu sprechen, sie sprach­ lich­konzeptionell zu repräsentieren. Deshalb wird häufig auch auf die „Non­representational Theory“ („wider­than­representational theory“) verwiesen und weniger auf sprachliche Repräsentationen als vielmehr auf 412

13. SOZIALGEOGRAPHIE HEUTE – EINE PATCHWORK DISZIPLIN?

die Performanz von Lebensvollzügen Bezug genommen (vergl. z. B. C. Schurr und A. Strüver, 2016). Eine spezifische Facette der Emotional Geography stellen auch die „Ge­ ographies of Friendship“ dar (vgl.Tim Bunnell et al., 2012). Auch Freund­ schaft sei ein bedeutsames Element menschlicher Existenz und Lebens­ weise, was in der Geographie bislang so gut wie gar nicht berücksichtigt worden ist. Räumlichkeit sei eine wesentliche Rahmenbedingung für die Formation, Erhaltung und Auflösung freundschaftlicher Beziehungen, und raum­zeitliche Settings seien gleichsam „Schlüssel­Technologien“ für die Konstituierung von Freundschaften. Freundschaft spiele auch eine wichtige Rolle bei der Ordnung und Transformation sozialer Gegebenheiten. Von der Bedeutung derartiger Zugänge sind ihre Vertreter zweifellos zu Recht überzeugt: „It is difficult to imagine any area of the social sciences or humanities that could not be enriched by the incorporation of the emo­ tions that are so intricately entwined with the fabric of our lives“ (L. Bondi, J. Davidson und M. Smith, 2007, S. 13). Die Befunde und Theorien der gegenwärtigen Neuropsychologie und der Embodied Cognitive Neurosci­ ence haben überdies eindeutig gezeigt, dass menschliche Rationalität, „Ver­ nunft“, Entscheidungsfindung und Ratio ohne Gefühl und Emotion gar nicht funktionieren können. Rationalität und Vernunft sind nur zu verste­ hen, wenn wir sie mit Gefühl und Emotion in Beziehung setzen: „Es dürfte deutlich geworden sein, dass zwischen den sogenannten kognitiven Pro­ zessen und den Prozessen, die gemeinhin als ,emotional‘ bezeichnet werden, eine enge Partnerschaft besteht“ fasst der Neurologe Antonio R. Damasio (1997, S. 239) seine Befunde zusammen. Ignorieren wir menschliche Emo­ tionalität, dann können wir also auch die Ratio nicht vollständig erfassen. Die Geographies of Emotion und ihre verschiedenen Ausprägungsfor­ men stellen gewiss eine wesentliche Erweiterung und sehr bedeutsame Bereicherung für das Gesamtgebäude der Humangeographie dar. Es muss allerdings dennoch bezweifelt werden, ob wir mit diesen Ansätzen – so wichtig sie auch sein mögen – den Kernbereich einer zeitgemäßen Sozial­ geographie identifiziert haben. Eine Reihe aktueller Fragestellungen des Faches sind weniger als über­ greifende Querschnittsthemen angelegt, sondern gleichsam als „Tiefen­ bohrungen“, mit deren Hilfe ein spezifisches Einzelphänomen möglichst umfassend erforscht werden soll. Sie sind in der Regel noch stärker inter­ disziplinär ausgerichtet und in hohem Maße spezialisiert. Es handelt sich um gesellschaftlich relevante Phänomene, die gleichsam „quer“ zu den wis­ senschaftlichen Disziplinen stehen und deshalb nicht eindeutig als Element der Domäne eines Einzelfaches angesehen werden können. Da sie eine meist deutlich ausgeprägte räumliche Komponente aufweisen und durch spezifische Konstellationen von Räumlichkeit und Setting­Strukturen ge­ kennzeichnet sind, spielt bei ihrer Erforschung die Blickweise der Geogra­ phie eine wichtige Rolle. 413

13. SOZIALGEOGRAPHIE HEUTE – EINE PATCHWORK DISZIPLIN?

Hier kann exemplarisch etwa die Atmosphärenforschung angeführt werden. Atmosphäre in diesem Sinne ist ein Konzept der Ästhetik. Man versteht darunter einerseits eine von der äußeren Umgebung vermittelte, subjektiv erfahrene Stimmung und andererseits die als objektiv angesehene Eigenschaft einer Umgebung, die sich aus der Konfiguration ihrer Anmu­ tungsqualitäten ergibt und zu einer reproduzierbaren Stimmungslage oder Aura dieser Umgebung führt. Die Atmosphärenforschung bezieht sich auf die Schriften zur Ästhetik des Philosophen Gernot Böhme (z. B. 2013 (1995)) sowie die „Neue Phänomenologie“ des Philosophen Hermann Schmitz (z.B. 2014), die auch als „Leibphilosophie“ bezeichnet wird. Da Atmosphären immer auf Orte und die räumliche Konfiguration ihrer ma­ teriellen und soziokulturellen Konstituenten bezogen sind, wurde das Thema natürlich auch von der Geographie aufgegriffen (vgl. z.B. Jürgen Hasse, 2012 oder Rainer Kazig, 2013). Ein weiteres Beispiel ist die interdisziplinäre Wissens­ und Bildungsfor­ schung. Auch hier sind verschiedene Disziplinen beteiligt. Es wird manch­ mal die Meinung vertreten, dass Wissen und seine Anwendung als Univer­ salien anzusehen seien, die überall verfügbar sind und an jedem beliebigen Ort produziert werden können. Unzählige empirische Studien zeigen aber zweifelsfrei auf, dass räumliche Kontexte für die Entstehung, Verbreitung und Anwendung von Wissen eine sehr bedeutsame Rolle spielen. Mit der Schriftenreihe „Knowledge and Space“ (derzeit liegen 12 Bände vor, wei­ tere 5 sind in Druck bzw. Planung) hat der in Heidelberg lehrende Geo­ graph Peter Meusburger Geographen und Vertretern anderer Disziplinen eine Publikationsplattform geschaffen, in deren Rahmen die Vielfalt der räumlichen Bezüge des Wissens und der Wissensproduktion ausführlich und tiefgehend behandelt werden können (vergl. z.B. H. Jöns, P. Meusburger und M. Heffernan, Hrsg., 2017). Zwar ist die Bildungsgeographie seit ge­ raumer Zeit ein gewichtiges Thema unseres Faches, das in weiten Bereichen der Sozialgeographie zugerechnet werden kann (vgl. P. Meusburger, 1998 oder T. Freytag, H. Jahnke und C. Kramer, 2015), die in der Reihe (und den jeweils vorausgehenden Tagungen) angesprochenen Aspekte und Pro­ blemlagen gehen aber weit über die traditionellen Schwerpunkte der Bil­ dungsgeographie hinaus. Schließlich seien noch die Forschungen zum Thema der residenziellen Multilokalität erwähnt. Sie betreffen ebenfalls ein gesellschaftlich besonders relevantes Phänomen, das gleichsam in den „Zuständigkeitsbereich“ meh­ rerer Disziplinen fällt. Residenzielle Multilokalität ist eine spezifische Aus­ prägungsform einer weitverbreiteten sozialen und ökonomischen Praxis, mit deren Hilfe Einzelakteure oder Gruppen die Ressourcenangebote an zwei oder mehr Orten gleichzeitig oder abwechselnd nutzen und dadurch einen Mehrwert bei der Erreichung ihrer Intentionen erzielen können. Residenzielle Multilokalität bedeutet, dass Einzelpersonen oder Gruppen (Haushalte) über zwei oder mehr Behausungen an unterschiedlichen Stand­ 414

13. SOZIALGEOGRAPHIE HEUTE – EINE PATCHWORK DISZIPLIN?

orten verfügen, die in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen genutzt werden. Dabei werden an jedem der Orte abwechselnd die wichtigsten Lebensvollzüge der Alltagspraxis ausgeübt. Residenzielle Multilokalität hat es in der Geschichte der Menschheit schon immer gegeben, sie kommt auch in so gut wie jedem gesellschaftli­ chen System vor. In den letzten zwei bis drei Jahrzehnten hat diese Praxis jedoch erheblich an Bedeutung gewonnen. Die sozioökonomischen und materiell­infrastrukturellen Rahmenbedingungen der Zweiten Moderne bieten einerseits immer mehr Möglichkeiten und Optionen für die Reali­ sierung dieser Lebensweise, andererseits nötigen sie durch ihre Mobilitäts­ zwänge und Mobilitätszumutungen immer mehr Menschen dazu, multilo­ kal zu leben. (In Österreich etwa hatten nach Angaben der Statistik Austria zum Stichtag 1.1.2016 insgesamt 1,140.932 Personen mindestens einen Nebenwohnsitz.) Es leuchtet ein, dass eine multilokale Wohnpraxis sehr erhebliche Auswirkungen auf die sozialen und ökonomischen Gegebenhei­ ten der betroffenen Wohnorte, auf die sozialen und familiären Beziehungen der Akteure und sogar auf deren Ich­Identität haben muss. Auch an der Erforschung dieses Phänomens sind verschiedene wissen­ schaftliche Disziplinen und Arbeitsrichtungen beteiligt: Ethnologie, Sozio­ logie, Psychologie,Wohn­ und Wanderungsforschung,Verkehrswissenschaf­ ten, Familienforschung und natürlich auch Sozialgeographie. Der aktuelle Stand der Forschung wurde in mehreren Übersichtsdarstellungen ausführ­ lich dokumentiert (vgl. G. Wood et al., 2015 und die anderen Beiträge in diesem Themenheft sowie P. Weichhart und P. A. Rumpolt, Hrsg., 2015). Nur nebenbei sei erwähnt, dass in Arbeiten zu dieser Thematik zwei pro­ minente Theorieansätze und Konzepte ausdrücklich berücksichtigt werden, die von der Sozialgeographie so gut wie nie oder schon lange nicht mehr beachtet wurden. Es handelt sich einerseits um die Prozess­ und Figurati­ onssoziologie von Norbert Elias (z.B. 1978), die hervorragende und bis­ lang in der Sozialgeographie kaum genutzte Möglichkeiten bietet, soziale Interaktionen und Machtstrukturen jenseits gruppensoziologischer Ansätze darzustellen und zu erklären. Andererseits erweist sich bei der Untersu­ chung residenzieller Multilokalität die Zeitgeographie von Torsten Hägerstrand (z.B. 1970) als geradezu zentrales Schlüsselkonzept. Die Zeit­ geographie war in den 1980er­Jahren etwas in Verruf geraten und spielte seither in der deutschsprachigen Sozialgeographie keine erwähnenswerte Rolle mehr. Ursache dafür war die Behauptung, die Zeitgeographie würde sich ausschließlich auf den Containerraum (Raum2) beziehen und sei des­ halb aus sozialwissenschaftlicher Sicht weitgehend unbrauchbar. Hierbei handelt es sich aber zweifellos um ein Fehlurteil, das vielleicht durch die graphischen Veranschaulichungen des Konzepts mit den sogenannten „Raum­Zeit­Aquarien“ verursacht wurde. Faktum ist jedoch, dass Hägerstrand einen sehr komplexen und jedenfalls relationalen Raumbegriff verwendet, die Kritik also nicht gerechtfertigt ist (vergl. D. Sui, 2012 und C. 415

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Kramer, 2012). Das Constraints­Konzept der Zeitgeographie bietet jeden­ falls eine entscheidende theoretische Grundlage für die Erklärung des Phä­ nomens der residenziellen Multilokalität. So spannend und anregend die angeführten drei Beispiele für sozialgeo­ graphisch relevante interdisziplinäre „Tiefenbohrungen“ auch sind, als Leit­ bilder und Gravitationsschwerpunkte für den Kernbereich einer aktuellen Sozialgeographie sind sie aufgrund ihrer hohen Spezialisierung wohl nicht geeignet. Dies gilt auch für den Großteil der im SAGE Handbook of Social Geographies erörterten weiteren Teilgebiete und Themenfelder des Faches. Es handelt sich um wichtige Ansätze, die sich mit Fragen auseinandersetzen, welche zweifellos besondere Beachtung verdienen, wie zum Beispiel: Gen­ der, Rasse, Sexualität, Alter, Behinderung, Gesundheit, Neoliberalismuskri­ tik, Geographie des Wohlbefindens, Risiko, Resilienz, Jugend, Phobien, Angst. Bei manchen neueren Ansätzen der Sozialgeographie hat der Autor ein­ fach Verständnisprobleme und kann die Logik sowie die methodischen Im­ plikationen der auf den ersten Blick durchaus überzeugend erscheinenden (und auch durchaus prominenten) Vorschläge bei bestem Bemühen nicht wirklich nachvollziehen. Dies trifft leider auch auf einige besonders elabo­ rierte und übergreifende Konzeptionen zu, von denen zu erwarten wäre, dass sie eine fundamentale Neuorientierung des Faches bieten können oder sogar schon bewirkt haben. Hier ist die Rede nicht von „Steckenpferd­ chen“, sondern von sehr anspruchsvollen „Supertheorien“, die als „große Erzählungen“ umfassende Erkenntnis­ und Erklärungsleistungen verspre­ chen. Ich denke hier vor allem an Edward Soja und einen seiner Kronzeu­ gen, Henri Lefebvre. Beide haben ein beeindruckendes Œuvre vorgelegt, das auch weltweit rezipiert wurde. Vielleicht beschreiben diese postmo­ dern­marxistisch­mystizistischen Entwürfe tatsächlich die ideale Route, die eine zukünftige Sozialgeographie einschlagen sollte. Ich kann es nicht sa­ gen. Was ich jedoch sagen kann ist: So sympathisch mir das Werk von Soja (und vielen seiner Bezugsautoren) auch ist, ich persönlich kann mit diesen Konzepten nicht sehr viel anfangen. Ich habe damit ähnliche Probleme wie mit vielen poststrukturalistischen Autoren: Die Logik der Beliebigkeit, die synästhetische Weltdeutung sowie die Verschmelzung von Epistemologie, Ontologie und Transzendenz, die für mich in seinen Texten sichtbar wird, halte ich für beeindruckend, anregend und stimulierend; ich sehe für mich persönlich aber so gut wie keine Möglichkeit, damit in der sozialen Praxis „Wissenschaft“ umzugehen. Sojas Theorie des Thirdspace ist ein Konzept, mit dessen Hilfe … everything comes together … subjectivity and objectivity, the abstract and the concrete, the real and the imagined, the knowable and the unimaginable, the repetitive and the differential, structure 416

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and agency, mind and body, consciousness and the unconscious, the disciplined and the transdisciplinary, everyday life and unending his­ tory … I define Thirdspace as an­Other way of understanding and acting to change the spatiality of human life, a distinct mode of critical spatial awareness that is appropriate to the new scope and significance being brought about in the rebalanced trialectices of spatiality–historicality–sociality.“ E. Soja, 1996, S. 57 Solche Aussagen klingen sehr beeindruckend, ich wüsste aber nicht, wie ich sie den Studierenden auf nachvollziehbare und intersubjektiv vergleichbare Weise inhaltlich vermitteln oder in konkreten empirischen Projekten um­ setzen könnte. Es gibt auch andere Ansätze, die ähnlich holistische und geradezu synkre­ tistische Zugänge zur sozialgeographischen Weltbeschreibung vorschlagen. Sie weisen eine gewisse Familienähnlichkeit auf, beschäftigen sich mit der Frage des Zusammentretens disparater Einzelelemente zu gleichsam ganz­ heitlichen Strukturen und erörtern die Logik und Funktionalität der dabei fassbaren Emergenzen aus unterschiedlicher Perspektive. Dazu gehören verschiedene Systemtheorien (nicht nur die Luhmann’sche Variante), die Akteur­Netzwerk­Theorien (vergl. als konkretes Anwendungsbeispiel H. Schad, 2015) oder die Assemblage­Theorie (vergl. z.B. B. Anderson und C. McFarlane, 2011, sowie die anderen Beiträge in diesem Themenheft). Hier geht es nicht um inhaltliche Einzelthemen, sondern um die Verwen­ dung einer jeweils spezifischen Betrachtungsperspektive oder Weltsicht, die für beliebige geographisch relevante Problemstellungen mit großem Nut­ zen eingesetzt werden kann. Den Gesamtbereich der Sozialgeographie an derartigen Ansätzen zu orientieren, dürfte aber wenig Sinn machen. Jeden­ falls sind all diese sozialgeographischen Zugänge zur erfahrbaren „Wirk­ lichkeit“ – im Sinne der Überlegungen in Kapitel 12 – zu respektieren und zu akzeptieren. An dieser Stelle muss ich meine Suche nach den wünschenswerten Ent­ wicklungsoptionen einer zeitgemäßen Sozialgeographie abbrechen. Ich habe für dieses Kapitel einfach nicht genügend Seiten zur Verfügung. Es ist mir auch nicht möglich, auf die zum Teil sehr subtilen und oft verdeckten, manchmal aber auch offensichtlichen Querverbindungen zwischen Phäno­ menologie, Postphänomenologie, Akteur­Netzwerk­Theorie, Non­repre­ sentational Theory, postmoderner Geographie und anderen Arbeitsrich­ tungen näher einzugehen. Hinweisen möchte ich nur auf die geradezu verblüffenden Übereinstimmungen zwischen den Überlegungen derartiger Ansätze der Sozialgeographie und der „Embodied Cognitive Neuro­ science“ (vergl. z. B. Th. Fuchs, 2009 und 2011). Aber auch traditionelle 417

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Themen der Sozialgeographie wie „Place“, „Place Attachment“, „Ortsbin­ dung“ oder „Heimatgefühl“ können durch Verweise auf Befunde und The­ orien dieses neuen Paradigmas der Neurowissenschaft sehr überzeugend dargestellt und erklärt werden. Abschließend möchte ich aus meiner ganz persönlichen Sicht überlegen, wie die Reise der Sozialgeographie weitergehen sollte. Es geht mir jetzt also nicht um die Frage „Sozialgeographie – quo vadis?“, sondern um die Frage „Sozialgeographie – quo vadere debes?“ (Vergl. P. Weichhart, 2009, S. 73.) Schließlich möchte ich in diesem Zusammenhang auch noch erörtern, wie sich im deutschen Sprachraum das Verhältnis zwischen Sozialgeographie und Neuer Kulturgeographie entwickelt hat und entwickeln sollte. Aller­ dings will ich natürlich auch überprüfen, inwieweit meine subjektive Per­ spektive in der Scientific Community konsensfähig ist. Deshalb werde ich mich bei den folgenden Überlegungen mehrfach auf zwei Veranstaltungen und „Social Events“ der jüngsten Geschichte des Faches beziehen, nämlich auf die dreizehnte Tagung „Neue Kulturgeogra­ phie“ in Graz (28. bis 30.01.2016) und auf das „Zweite Gespräch zur So­ zialgeographie“, das unter dem Titel „Geographien sozialer Krisen / Krisen sozialer Geographien“ am 6. und 7. Juli 2017 in Heidelberg stattfand. Die bei diesen Veranstaltungen gehaltenen Vorträge sind allerdings (noch) nicht veröffentlicht. Die folgenden Verweise beziehen sich deshalb auf die Vor­ tragsmanuskripte oder auf Texte, die sich derzeit im Begutachtungsverfah­ ren oder in der Phase der Drucklegung befinden. Ich danke allen Kolle­ ginnen und Kollegen, die mir diese Vorfassungen zur Verfügung gestellt und mich autorisiert haben, daraus zu zitieren. In seinem knappen Eröffnungsstatement zur Tagung in Heidelberg hat Hans Gebhardt auf sehr pointierte Weise genau jenes Unbehagen am ak­ tuellen Status der Sozialgeogeographie zum Ausdruck gebracht, das oben angesprochen wurde. Er konstatiert eine „sukzessive Erosion“ des Begriffs und fordert eine andere, eine „Neue Sozialgeographie“, die imstande sein müsse, die aktuellen sozialen und politischen Fragen der Gegenwart zu behandeln: „Es geht um Krisen und grobe Defizite sozialer Gerechtigkeit in einer von neoliberaler Politik befeuerten globalisierten Welt, um geopolitische und geoökonomische Machtasymmetrien und die da­ durch geschaffenen Geographien des Sozialen oder eben des Asozi­ alen.“ H. Gebhardt, 2017, S. 2. Die Motivation der Veranstalter, das Rundgespräch „Sozialgeographie“ durchzuführen, wird durch die aktuelle Veränderungsdynamik des Gesell­ 418

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schaftlichen begründet. „Räumliche Organisationsformen von Gesellschaft unterliegen derzeit raschen Veränderungsprozessen, sie sind begleitet von sozialen Verwerfungen, sozialräumlichen Disparitäten auf verschiedenen Maßstabsebenen, Krisen sozialer Kohäsion. Zunehmend asoziale Geogra­ phien bestimmen die Alltagssituationen nicht nur von Gesellschaften im globalen Süden, sondern sie sind meines Erachtens auch ein Megathema jedweder irgendwie an Gerechtigkeit orientierter Gesellschaft. Dies gilt in der aktuellen Welt sozialer Krisen, neo­diktatorischer Systeme und brutaler Ausbeutung, in einer Welt von fake news und umgekehrt Geographien des Unsichtbaren und Unsichtbarmachens mehr denn je“ (ebda., S. 1). Gebhardt sieht in dieser Neuorientierung eine ausdrückliche Gegenpo­ sition zur zunehmend „zerfaserten“ Neuen Kulturgeographie, die fast schon hegemonial die aktuellen Fachdiskurse dominiere. Aus seiner Sicht (und dem schließe ich mich vollinhaltlich an) sei eine Fokussierung des Faches gefragt, durch die es gelingen solle, „… die harten, manchmal brutalen sozialgeogra­ phischen Folgen einer zunehmend aus den Fugen geratenen Weltordnung auf verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen … wieder zu einem Megathema einer kritischen Humangeographie [zu] machen“ (ebda., S. 2). Eine im Prinzip ähnliche Position vertritt auch Benno Werlen im Vor­ wort zur dritten Auflage des Bandes „Globalisierung, Region und Regio­ nalisierung“. Auch für ihn liegt die große Herausforderung der Geographie in den aktuellen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Folgen der Globalisierung und den daraus resultierenden Krisen. Er warnt davor, zur Bewältigung dieser Krisen auf „rückwärtsgerichtete“ Strategien zu set­ zen und „etablierten Konzeptionen der räumlichen Welterschließung“ zu vertrauen, wie sie in populistischen Diskursen als politische Doktrin der Re­Nationalisierung propagiert werden. Für ihn besteht die zentrale Auf­ gabe der wissenschaftlichen Geographie darin, „diese neue geographische Wirklichkeit verständlich zu machen“. „Denn das Verstehen des eigenen Lebens in globalen Zusammen­ hängen ist eine Grundvoraussetzung, eine neue conditio humana, um die Herausforderungen der neuen Formen und Intensitäten der Globalisierung erfolgreich meistern zu können.“ B. Werlen, 2017, S. 12 Welche der vielen Neuansätze der Sozialgeographie (von mir despektierlich als „Steckenpferdchen“ und von S. J. Smith et al. (2010, S. 3) als „snippets“ bezeichnet) wären nun in der Lage, die von Gebhardt und Werlen einge­ forderte Neuorientierung des Faches, der ich mich ohne Einschränkung anschließe, zu ermöglichen? Ich fürchte: einige davon ein wenig und eher randlich, keiner davon jedoch schwerpunktmäßig und umfassend. 419

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Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass eine solche Neuorientie­ rung eine erhebliche Rückbesinnung auf das Soziale und die „soziale Frage“ erforderlich macht. Dies bedeutet keineswegs, dass die bereits be­ sprochenen Themenstellungen und Ansätze, die vielfach unter der Flagge der Neuen Kulturgeographie propagiert werden, obsolet würden. Denn viele von ihnen weisen durchaus zumindest partiell Querbeziehungen zur sozialen Frage auf. Zuvor ist noch zu klären, ob die Sozialgeographie in der Selbstwahrneh­ mung der Geographinnen und Geographen tatsächlich als ein zentraler Arbeitsbereich des Gesamtfaches wahrgenommen wird. Johannes Glückler und Pascal Goeke (2009) haben eine Analyse des „Organisationsplanes“ der Geographie auf der Grundlage von Selbstzuschreibungen der im Ver­ band der Geographen an Deutschen Hochschulen (VGDH) organisierten Mitglieder vorgenommen. Dabei wollten sie mithilfe einer sozialen Netz­ werkanalyse ermitteln, wie die thematischen Arbeitsbereiche der Geogra­ phie durch die Aktivitäten der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verknüpft sind und welche inneren Vernetzungen des Faches dadurch ent­ stehen. Auf die Problematik des Datensatzes und auf Detailergebnisse muss hier nicht eingegangen werden. Jedenfalls macht die Analyse plausibel, dass die Sozialgeographie in der Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung der VGDH­Mitglieder eine durchaus bedeutsame Rolle spielt. Auch ihre Vernetzung mit anderen Arbeitsbereichen ist erwähnenswert. Bei der Bet­ weenness­Zentralität liegt die Sozialgeographie nach der Stadtgeographie auf Platz 2 der humangeographischen Teildisziplinen. „Je größer die Bet­ weenness eines Arbeitsbereiches, desto wahrscheinlicher wird es, unter­ schiedliches Wissen anderer Arbeitsbereiche direkt oder indirekt zu erhalten und zu beeinflussen. Arbeitsbereiche mit hoher Betweenness sind demnach potenzielle Schlüsselfelder, die den Gesamtaustausch an Wissen am stärksten prägen können“ (ebda., S. 270). Die Sozialgeographie stellt in der Selbst­ wahrnehmung der VGDH­Mitglieder demnach eines der Schlüsselfelder der Humangeographie dar. Aber was genau meinen die sich selbst zuord­ nenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eigentlich, wenn sie sich als „Sozialgeographin“ oder „Sozialgeograph“ outen? Wenn man nun die multiparadigmatische Struktur der Sozialgeographie und die gegenwärtige Dominanz der Neuen Kulturgeographie im deut­ schen Sprachraum bedenkt, dann erhebt sich natürlich die Frage nach dem Verhältnis von Klasse und Element. Ist die Neue Kulturgeographie noch eine spezifische Entwicklungslinie und damit ein Element der übergeord­ neten Klasse „Sozialgeographie“, oder hat die Neue Kulturgeographie die Sozialgeographie in der Zwischenzeit bereits verdrängt oder gar schon er­ setzt? Macht es noch einen Sinn, zwischen beiden Begriffen zu unterschei­ den? Ist die oben angesprochene Selbstzuordnung zur „Sozialgeographie“ nur darauf zurückzuführen, dass es im taxonomischen System des VGDH die Kategorie „Neue Kulturgeographie“ nicht gibt? 420

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Genau mit dieser Frage haben sich zwei der Vorträge bei der Tagung „Neue Kulturgeographie“ 2016 in Graz beschäftigt. Jan­Erik Steinkrüger und Boris Michel (2016) stellten in ihrem Referat Überlegungen darüber an, was denn nun die Unterschiede zwischen Kulturgeographie und Sozial­ geographie seien und wo genau die Differenz zwischen ihren Erkenntnis­ interessen gelegen sei. Ist die sprachliche Distinktion zwischen beiden ei­ gentlich noch angemessen? Die Suche nach Antworten auf diese Frage stufen die Autoren als „eher komplizierter“ ein. Unter Verweis auf Bartels, Werlen und Lippuner vermuten sie, dass die Selbstverortung der Sozial­ geographie dadurch gekennzeichnet sei, dass die Beziehungen von Gesell­ schaft und Raum im Sinne eines nomothetischen Verständnisses von Wis­ senschaft erforscht würden. Es gehe also um die Regelhaftigkeiten mensch­ lichen Handelns in seinen räumlichen Bezügen, um Gesetze, Muster und Wiederholungen. Demgegenüber orten sie die Spezifik der Neuen Kulturgeographie in der ausdrücklichen Beachtung der Bedeutung (historischer) Kontingenz: „Die Dinge sind geworden, wie sie sind, hätten aber auch anders sein kön­ nen; sie sind aber nur zu verstehen aus ihrem spezifischen Kontext“ (ebda., S. 4). Als Distinktionskriterium zwischen beiden sehen sie also die Regelhaftigkeit des Sozialen gegenüber der Kontingenz des Kulturellen an. Durch diese unterschiedlichen Erkenntnisinteressen seien Sozialgeographie und Neue Kulturgeographie hinlänglich voneinander abgrenzbar. Auf den ersten Blick erscheint diese Unterscheidung durchaus plausibel. Bei genauerer Betrachtung muss jedoch festgestellt werden, dass Kontingenz als Universalie anzusehen ist, die auch für Regelhaftigkeiten, Gesetze und Muster Gültigkeit besitzt. Ob in einem spezifischen Einzelfall eine soziale Regelhaftigkeit eintritt bzw. wirksam wird, kann, aber muss nicht sein. Um­ gekehrt gilt, dass auch im Falle historischer Kontingenz Muster und Wieder­ holungen erkennbar sein können. Ob beispielsweise eine bestimmte Stelle der Erdoberfläche als „Erinnerungsort“ fassbar wird, ist zweifellos als kon­ tingente Wirkung spezifischer Kontexte anzusehen. Dass es aber viele unter­ schiedliche Erinnerungsorte gibt, die trotz unterschiedlicher Bezugssysteme eine vergleichbare Genese und Wirksamkeit aufweisen, lässt sich durchaus als Regelhaftigkeit interpretieren. Das von den Autoren vorgeschlagene Unter­ scheidungskriterium kann vielleicht als tendenziell plausible Distinktion verwendet werden, die aber nicht besonders trennscharf erscheint. Einen stärker pragmatisch und empirisch orientierten Zugang zum Pro­ blem der Abgrenzung von Sozialgeographie und Neuer Kulturgeographie (im Folgenden mit NKG abgekürzt) ist bei Malte Steinbrink und Philipp Aufenvenne zu finden. Es ist derzeit praktisch kaum noch möglich, auf der Grundlage textanalytischer Zugänge selbst bei programmatischen Veröffent­ lichungen klare und eindeutige Positionierungen der Texte zu bestimmten Paradigmen oder Arbeitsrichtungen vorzunehmen. Deshalb haben die Au­ toren zur Klärung dieser Frage eine netzwerkanalytisch­szientometrische 421

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Zugangsweise auf der Grundlage von Zitationsbeziehungen jener Geogra­ phinnen und Geographen gewählt, die im Wintersemester 2012 an den geo­ graphischen Universitätsinstituten im deutschsprachigen Raum eine Profes­ sur innehatten. Auch diese Analyse wurde im Rahmen der NKG­Tagung 2016 in Graz vorgestellt. Eine erweiterte Version des Vortrages, auf die ich mich im Folgenden beziehe, ist in Band 159, 2017, der Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft erscheinen. Aus dem oben erwähnten Datensatz haben die Autoren all jene Personen herangezogen, welche an den seit 2004 alljährlich stattfindenden Tagungen zur Neuen Kulturgeographie aktiv teilgenommen haben (die sogenannten „NKG­Profs“). Mithilfe dieses Datensatzes können die Autoren überprü­ fen, wie stark der innere Diskurszusammenhang der NKG ausgeprägt ist und wie die NKG im disziplinären Wissensnetz der deutschsprachigen Geographie positioniert ist. Mit ausführlichen Zitaten wird von den Auto­ ren das Selbstbild der NKG­Vertreterinnen und ­Vertreter veranschaulicht, das seit den ersten Veranstaltungen durch den Mythos des Außenseitertums und der progressiven revolutionären Minderheit geprägt war, die gegen einen „rückständigen Mainstream“ ankämpfen wollte: „Man begriff sich als rebellisch und als intellektuelle Vorhut des geo­ graphischen Wissensfortschritts … Im sozialen Feld der NKG­Be­ wegung wurde ein selbstkonstituierendes ‚wissenschaftliches AN­ DERES‘, nämlich ein rückständiger geographischer Mainstream, konstruiert, zu dem man sich abgrenzend in Beziehung setzen konnte, um so eine eigene kollektive Identität zu schaffen.“ M. Steinbrink und P. Aufenvenne, 2017, S. 85/86. Die Autoren betonen, dass dieses Narrativ der Selbstheroisierung dreizehn Jahre nach der ersten NKG­Tagung in Leipzig einiges an Plausibilität verlo­ ren habe. Um zu überprüfen, ob die NKG­Profs auch tatsächlich eine „Wis­ sensgemeinschaft im Sinne eines verdichteten wissenschaftlichen Kommu­ nikationszusammenhangs“ darstellen, führten die Autoren eine Zitations­ analyse durch. Dabei ergab sich zwischen diesen Autorinnen und Autoren ein sehr kompakter Zitationszusammenhang ohne erkennbare Binnendiffe­ renzierung im Sinne unterschiedlicher Schulen oder Arbeitsbereiche. „Die NKG steht offensichtlich in einem recht regen Wissensaustausch und zeich­ net sich durch einen hohen Grad interner Integration aus“ (ebda., S. 95). Die Analyse erbringt einige sehr bedeutsame Befunde, die gegenüber einer interpretativ­textanalytischen Zugangsweise den großen Vorzug aufweisen, dass sie das Wissensnetzwerk der deutschsprachigen Sozialgeographie und die bestehenden Diskurszusammenhänge auf der Grundlage empirischer Daten abbilden. So können die Autoren etwa zeigen, dass sich die NKG in 422

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Abbildung 81: Positionierung der NKG-Profs im Netz der starken Beziehungen (> 4 Zitationen) innerhalb der Humangeographie und der Geographiedidaktik Quelle: M. Steinbrink und Ph. Aufenvenne, 2017, Abb. 7, S. 97.

der Zwischenzeit zu einer eigenständigen Scientific Community mit ausge­ prägter Binnenvernetzung entwickelt hat. Es wird auch sichtbar, dass klas­ sische „Schubladengeographien“ (wie Bevölkerungsgeographie oder Touris­ musgeographie) derzeit nicht als eigenständige Substrukturen des Gesamt­ faches identifizierbar sind. Deutlich erkennbar sind in den Zitationsverflech­ tungen jedoch Didaktik, Entwicklungsforschung und Wirtschaftsgeographie. Der Kern des NKG­Clusters steht dabei mit der Didaktik, der geographi­ schen Entwicklungsforschung und der relationalen Wirtschaftsgeographie in einem intensiven Wissensaustausch (vergl. Abb. 81). Die Daten der Zitationsanalyse zeigen in aller Deutlichkeit, „… dass sich die NKG mittlerweile zu einem sehr bedeutenden Feld bzw. einer sehr prominenten Forschungsperspektive innerhalb der Humangeographie ent­ wickelt hat. … Allerdings steht dieses Ergebnis nun in eklatantem Wider­ spruch zu dem in der NKG kreierten Selbstbild disziplinären Außenseiter­ und Querdenkertums (s. o.). Denn die NKG ist nicht nur voll im human­ geographischen Mainstream angekommen, sondern bestimmt diesen mitt­ lerweile maßgeblich!“ (ebda., S. 100). Vor dem Hintergrund dieser Befunde stellen sich die Autoren die Frage, wo sich in diesem disziplinären Wissensnetz die „altehrwürdige Sozialgeo­ 423

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graphie“ versteckt. „Oder ist die Neue Kulturgeographie gar die neue So­ zialgeographie? … Fast scheint es, als habe in der letzten Dekade eine freundliche Übernahme der Sozialgeographie durch die NKG stattgefun­ den“ (ebda., S. 97/98). Die Autoren deuten an, dass die 2015 in Bonn neu gestartete Tagungsreihe zur Sozialgeographie und deren Fortsetzung in Heidelberg 2017 „…als Reaktion auf diese Inkorporation und als Versuch [zu] deuten [ist], die Sozialgeographie aus ‚der Krise‘ (vgl. Titel der 2. Ta­ gung in Heidelberg) zu retten“ (ebda., S. 98). Und sie vermuten, dass dieser Versuch vielleicht durch das Bestreben motiviert ist, „… die Sozialgeogra­ phie aus dem unübersichtlichen Geflecht sehr diverser kulturtheoretischer Betrachtungsweisen zu befreien, indem an die soziale Frage erinnert wird“ (ebda., Fußnote 20, S. 98). Sie weisen auch ausdrücklich darauf hin, dass dieser „wichtige Rettungsversuch“ der Heidelberger Tagung „… vor allem von aktiven NKGlerInnen unternommen wird“ (ebda., S. 98). „Es ist etwas verwirrend: Rettet hier die NKG die Sozialgeographie vor der Neuen Kulturgeographie? Oder flüchtet die NKG vor sich selbst in eine NSozGeo? … Geht es also u. U. auch um einen neuen sozial(geographisch)en Distinktionsgewinn, um sich nunmehr vom NKG­Mainstream abzugrenzen (s. u.)?“ M. Steinbrink und P. Aufenvenne, 2017, S. 98. Die Neue Kulturgeographie, die nach eigenem Selbstverständnis alle Facet­ ten der diversen neuen Geographien umfasst, habe sich vom Mainstream entgrenzt, „… indem sie selbst Mainstream wurde“. Es sei daher nun, so folgern die Autoren, ein guter Zeitpunkt, „… ganz dezidiert die Frage nach den Grenzverläufen innerhalb der Neuen Kulturgeographie zu stellen.“ „Wir brauchen jetzt keine NKG­Einigkeit mehr, sondern Wider­ spruch. Ziel müsste es vor allem sein, die inneren Widersprüche der NKG­Community immer wieder anzusprechen, um im Sinne einer analytischen Klarheit konzeptionelle Differenzen zu markieren und so etwas Ordnung zu bringen in das unübersichtliche Getümmel der verschiedenen interessanten Ansätze, die in unserer bunten NKG hin­ und herwirbeln und wohl nur bei den hartgesottensten NKG­ lerInnen kein Schwindelgefühl verursachen.“ M. Steinbrink und P. Aufenvenne, 2017, S. 102. Abschließend äußern die Autoren die Vermutung (oder gar die Hoffnung), dass sich die neue Tagungsreihe zur Sozialgeographie (Bonn 2015 und Hei­ 424

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delberg 2017) als „field­configuring events” erweisen, die eine Erneuerung der Sozialgeographie einläuten könnten. Den meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung in Heidelberg war der eben zitierte Text als Manuskript bereits bekannt, und es wurde in der Diskussion mehrfach und überwiegend zustimmend darauf verwiesen. Sowohl die (in ihren Kernthesen oben zitierte) Begrüßung und Einfüh­ rung von Hans Gebhardt als auch gleich der erste Vortrag ließen erkennen, dass von dieser Veranstaltung tatsächlich Impulse für eine Rezentrierung der Sozialgeographie ausgehen könnten. In ihrem „Auftaktreferat“ fragen Si­ mon Runkel und Jonathan Everts nach den Möglichkeiten einer „erneu­ erten Sozialgeographie, die sich verstärkt in kritischer, politischer und öko­ nomischer Perspektive mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen aus­ einandersetzt“ (2017, S. 477). Auch in den Diskussionen und Gesprächen rund um die Tagung konnte man ein großes Interesse für die Rückbesin­ nung auf das Soziale und vielleicht sogar eine gewisse Aufbruchsstimmung erkennen. In mehreren Wortmeldungen wurde die Auffassung vertreten, dass die klassischen Fragestellungen der Sozialgeographie gegenwärtig am ehesten noch in der geographischen Entwicklungsforschung erkennbar seien. Dieser Arbeitsbereich hat sich im deutschen Sprachraum zu einem eigenständigen und deutlich erkennbaren Cluster entwickelt (vergl. Abb. 81). In der Entwicklungsforschung wurden auch die konzeptionellen und analytischen Ansätze der Praxistheorie von Pierre Bourdieu besonders nachdrücklich aufgegriffen (vergl. z. B. P. Sakdapolrak, 2014). Eng ver­ knüpft mit der sozialen Frage rückt hier auch das Thema „Translokalität“ in den Vordergrund, wobei spannende Querverbindungen zum Forschungs­ feld der residenziellen Multilokalität erkennbar sind (vergl. M. Steinbrink und S. A. Peth, 2014, sowie die anderen Beiträge in diesem Themenheft). Dass das Programm einer solchen Rückbesinnung auf das Soziale und eine Sozialgeographie der Ungleichheit (vergl. dazu aus soziologischer Per­ spektive auch A. Weiß, 2017) von Vertretern der deutschsprachigen Hu­ mangeographie mit Engagement aufgegriffen werden könnte, sei exempla­ risch durch den Verweis auf einen Text von Marc Redepenning (2013) veranschaulicht. Auch er beklagt, dass die Wende zur Neuen Kulturgeogra­ phie zu einer „Evakuierung“ des Sozialen aus der Sozialgeographie geführt hätte. Distributionsfragen und die Thematik materieller Ungleichheiten würden immer mehr marginalisiert oder gar ausgelöscht. Für die alltägliche Reproduktion des Sozialen seien Ressourcen sowie technische und soziale Einrichtungen (wie etwa Essen, Sicherheit,Wohnen, Einkommen, Gesund­ heit und Bildung) erforderlich.

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„Die Differenz Gleichheit/Ungleichheit hinsichtlich der Distribu­ tion dieser Ressourcen bzw. ihre Rechtfertigung über die Idee so­ zialer Gerechtigkeit bildet so verstanden das zentrale Forschungsobjekt der Sozialgeographie.“ M. Redepenning, 2013, S.4, (Hervorhebung P. W.)

Zusammenfassung Die Entwicklung der Sozialgeographie seit Hans Bobek bis in die Gegenwart muss zweifellos als ausgesprochene Erfolgsgeschichte gesehen werden. Die Sozi­ algeographie hat ihren Anspruch, einen sozialtheoretisch begründeten Ansatz zu entwickeln, der alle Themenbereiche der Geographie mit Gewinn angehen kann, weitgehend eingelöst. Das vom Sozialgeographen Benno Werlen initiierte und von ihm als Geschäftsführender Direktor maßgeblich geführte „Inter­ national Year of Global Understanding“ (IYGU, 2016, vergl. http://www.glo­ bal­understanding.info/de/ zuletzt besucht am 29.9.2017) macht deutlich, dass sozialgeographische Zugänge und Erkenntnisse bis in die hohe Weltpolitik von UN und UNESCO wirksam geworden sind. Das IYGU wurde immerhin von den Weltdachverbänden der Natur­, Sozial­ und Geisteswissenschaften prokla­ miert. In der Projektarbeit werden „praktische Wege zu einem globalen Verständ­ nis für die kulturellen und sozialen Auswirkungen neuer geografischer Lebens­ bedingungen und neuer globaler Realitäten gefördert“ (Homepage, Frame „IYGU Ergebnisse“). Dennoch darf nicht übersehen werden, dass sich die Sozialgeographie derzeit anscheinend in einer Identitätskrise befindet. In diesem Schlusskapitel sollte diese Krisensituation ausdrücklich thematisiert werden. Ich gebe offen zu, dass ich der evidenten Unübersichtlichkeit und Perspektivenvielfalt in der gegenwärtigen Sozialgeographie etwas ratlos gegenüberstehe. Ich habe kein Generalrezept an­ zubieten, mit dessen Hilfe der rote Faden wiedergefunden werden könnte. Ich liebe all die zahlreichen „Steckenpferdchen“ oder „Snippets“ der aktuellen For­ schungslandschaft – und seien sie noch so esoterisch, subtil, verspielt, randständig oder ästhetisierend. Ich wünsche mir dazu aber eine deutliche Akzentverschie­ bung in Richtung auf eine sozial engagierte, ethisch motivierte und emanzipa­ torisch ausgerichtete Entwicklung der Sozialgeographie, bei der das Soziale und die soziale Frage (wieder) im Mittelpunkt stehen. Aktuelle Überlegungen zum Status des Faches, über die in diesem Abschnitt in knapper Form berichtet wurde, geben mir eine gewisse Hoffnung, dass eine derartige Neukonfigurierung des Mainstreams der Sozialgeographie möglich ist.

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14. LITERATURVERZEICHNIS

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14. LITERATURVERZEICHNIS

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442

Verzeichnis der Abbildungen Abb. 1: Die Sonderstellung der Sozialgeographie im „logischen System“ der klassischen Geographie ......................................18 Abb. 2: „Organisationsplan“ der Geographie nach H. Uhlig ..............18 Abb. 3: Audimax der Naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg ..............................................................67 Abb. 4: Großraumbüro ......................................................................69 Abb. 5: Büro Generaldirektor ............................................................69 Abb. 6: Geographische Raumkonzepte und deren „Verwirrungszusammenhänge“ .............................................89 Abb. 7: So werden Räume „gemacht“ ...............................................93 Abb. 8: „Räumlichkeit“ – die Relationalität der Körperwelt..............94 Abb. 9: Das Lehrbuch von Jones und Eyles (1977) ...........................101 Abb. 10: Das Lehrbuch von J. A. Jakle, S. Brunn und C. C. Rosemann (1976) ...............................................................105 Abb. 11: Perspektiven und Entwicklungslinien der Sozialgeographie .................................................................111 Abb. 12: Differenz sozialgeographischer Perspektiven ........................117 Abb. 13: Konfessionszugehörigkeit und Besitzgrößen ........................123 Abb. 14: Gemeindetypisierung bei G. Fehre ......................................125 Abb. 15: Gemeindetypisierung bei G. Fehre ......................................126 Abb. 16: Dr. Snows Karte der Cholera-Todesfälle ..............................129 Abb. 17: “Does it matter, where I live?”.............................................130 Abb. 18: „Gesunde“ und „ungesunde“ Gebiete ................................131 Abb. 19: Sozialstatus und Mortalität London .....................................133 Abb. 20: Residential Who‘s Who .......................................................134 Abb. 21: Arbeitslosenrate als sozialer Indikator ...................................135 Abb. 22: Wahlergebnisse für die Konservativen ..................................135 Abb. 23: Salzburg: Index der sozialen Ranglage 1971 .........................136 Abb. 24: Soziale Trendoberfläche von Wien, 1971 ..............................138 Abb. 25: Soziale Trendoberfläche von Wien, 1991 ..............................138 Abb. 26: Drei Dimensionen des Ich ...................................................143 Abb. 27: Das Basismodell der Stimulus-WahrnehmungsReaktions-Modelle .............................................................146 Abb. 28: Kognitionsmodelle ..............................................................151 Abb. 29: Zwei Kippfiguren................................................................155 Abb. 30: Ein „pointillistischer“ Hund ................................................156 Abb. 31: Optische Täuschung ............................................................157 Abb. 32: Sentiment und Symbolismus als ökologische Variablen .........161 443

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN

Abb. 33: Ein informatorisches Modell der Mensch-UmweltInteraktion ..........................................................................167 Abb. 34: Versuchsanordnung 1 beim Rattenexperiment von E. C. Tolman........................................................................176 Abb. 35: Versuchsanordnung 2 beim Rattenexperiment von E. C. Tolman........................................................................176 Abb. 36: Der Weg nach Hause ...........................................................184 Abb. 37: Die Entwicklung der räumlichen Kognition ........................185 Abb. 38: Das Raumsystem der Alfuren ..............................................189 Abb. 39: Rotationsheuristik...............................................................193 Abb. 40: Untersuchungsgebiete und Landmarken ..............................194 Abb. 41: Erhebungsmethodik ............................................................194 Abb. 42: Mittlere Schätzfehler nach Untersuchungsgebieten ..............196 Abb. 43: Kognitive und aktuelle Position der Landmarken aus der Sicht des Eastside-Samples ...................................................196 Abb. 44: Kognitive und aktuelle Position der Landmarken aus der Sicht des Westside-Samples ......................................198 Abb. 45: Kognitive und aktuelle Position der Landmarken aus der Sicht des Downtown-Samples .......................................198 Abb. 46: Mental Map von Boston nach K. Lynch ..............................202 Abb. 47: The Middle West .................................................................202 Abb. 48: Kollektive Mental Map des Middle West Anfang der 1980er-Jahre .......................................................................203 Abb. 49: Das „offizielle“ Lehen und die Sicht der Bewohner .............205 Abb. 50: Index der sozialen Ranglage Salzburger Zählbezirke (1981) ..............................................................209 Abb. 51: Karten im Kopf? .................................................................213 Abb: 52: Die zwei Fragestellungen der verhaltenswissenschaftlichen Sozialgeographie .......................................................216 Abb. 53: Die sprachlich-kognitive Raumgliederung von Welling........220 Abb. 54: Semantische Differenziale von vier Ortsteilen – Fremdbilder .......................................................................221 Abb. 55: Semantische Differenziale von vier Ortsteilen – Selbstbilder .........................................................................221 Abb. 56: „Beliebtheit“ der Ortsteile ..................................................224 Abb. 57: Ähnlichkeit von Selbst- und Fremdbild ...............................224 Abb. 58: Horizontale Mobilität der Neubautätigkeit in Welling 1950–1973 ..........................................................................226 Abb. 59: Wohnsitzpräferenzen der Jugendlichen in Welling ................226 Abb. 60: Wohnsitzpräferenzen – die klassischen Arbeiten von P. Gould und R. White (1974) ................................................230 Abb. 61: Die „nationale Präferenzoberfläche“ ....................................231 Abb. 62: Ein Computermodell der nationalen Präferenzoberfläche ....231 Abb. 63: Local Domes of Desirability ................................................232 444

VERZEICHNIS DER ABBILDUNGEN

Abb. 64: Wohnstandortpräferenzen für die Stadt Salzburg ..................234 Abb. 65: Abgelehnte Wohngebiete in Salzburg...................................234 Abb. 66: Innerstädtische Wanderungsbeziehungen in der Stadt Salzburg 1981 – 1983 ..........................................................236 Abb. 67: Menschenbilder der Sozialgeographie nach ihrer Position in der „Verhaltensmatrix“ ......................................242 Abb. 68: Ein handlungstheoretisches Modell der MenschUmwelt-Interaktion ............................................................260 Abb. 69: Die „Rationalität“ des Handelns I .......................................265 Abb. 70: Die „Rationalität“ des Handelns II ......................................265 Abb. 71: Das Handlungskonzept der Symbolic Action Theory ...........289 Abb. 72: Phin (Thailand) ...................................................................292 Abb. 73: Soo Uu ...............................................................................293 Abb. 74: Verortungsprinzipien der alltäglichen Raumsprache nach A. Schlottmann ...........................................................314 Abb. 75: Action Settings ....................................................................320 Abb. 76: Raum6S ...............................................................................324 Abb. 77 Die „Wüste“ .......................................................................327 Abb. 78: Eine Mental Map des Salzkammergutes ...............................336 Abb. 79: Unvereinbarkeit zwischen Poststrukturalismus und Handlungstheorie.........................................................397 Abb. 80: Paradigmen als „Komplementoren“ .....................................404 Abb. 81: Positionierung der NKG-Profs im Netz der starken Beziehungen (> 4 Zitationen) innerhalb der Humangeographie und der Geographiedidaktik ................................................423

445

Sachindex Abbildtheorie 379 Ability Grouping 392 Ablehnungstopographie 232, 239 Abschlusshandlung 301 Acker 219, 223, 224, 227 Actem 300, 320 – acteme, terminating 301 Action Potential 287, 288, 290, 342, 343 action setting 316, 319, 320, 324, 325 Activity Space 186 Affectual Geography 412 Affekte 412 Affordanz 343 Agency 342 Agenda-Setting-Hypothese 307 Aggregatdaten 113 Aggregat, soziales 119 Agieren 244, 255 Agrargesellschaft 46, 228 Akteur 42, 90, 114, 244, 255, 262, 268, 305, 320, 321, 325, 338, 339, 340, 343, 346, 384, 404 Akteur-Netzwerk-Theorien 417 Aktionsraum 189, 247, 303 Aktionsreichweite 180 Aktivitätsraum 191 Alfuren 188 Algorithmus 187, 242, 311, 312 Allgäu 201 Allgemeine Geographie 18 Allmende 162 Allokativ 303 Alltag 319, 378 Alltäglich 273, 311, 312 Alltagsbewusstsein 369 Alltagshandeln 86, 271, 274 Alltagskultur 271 Alltagspraxis 415 Alltagswelt 90, 92, 201, 266, 271, 302, 343, 369, 378 Alltagswissen 281 Analyse – Analyse, makroanalytische 113, 116 – Analyse, monoparadigmatische 243 Aneignung 252, 302 Animal Geography 411 Anmutungsqualitäten 414 Anordnung, räumliche 66 Anordnungsrelation 66 446

Ansatz – Ansatz, emanzipatorischer 359 – Ansatz, gesellschaftstheoretischer 338 – Ansatz, handlungstheoretischer 170 – Ansatz, kulturalistischer 270, 272 – Ansatz, makroanalytischer 243, 279 – Ansatz, mikroanalytischer 141, 241, 243, 259, 278, 279, 338 – Ansatz, verhaltenswissenschaftlicher 157, 170, 244, 270 Anthropogeographie 346 Anthropologie 87 Anthropozentrierung 42, 409 Antizipation 255, 261 A-rational 269 Arbeitslosigkeit 20, 134 Arbeitsmarktregion 92, 93 Arbeitsmedizin 128 Arbeitsort-Wohnort-Beziehung 92 Arbeitsplatz 218 Arbeitsprozess 68 Arbitrarität 350, 379 Architektur 95 Areal 172 Argumentationsanalyse 314, 315, 322 Argumentationsstruktur 266 Armut 20, 61 Artefakt 53, 76, 77, 78, 94, 109, 112, 139, 285, 290, 292, 293, 302, 303, 313, 321, 322, 338, 363, 391 – Artefakt, materieller 280 – Artefakt, methodisches 211 Aspekt – Aspekt, designativer 173, 174 – Aspekt, evaluativer 174 – Aspekt, sinnbezogener 174 Assemblage-Theorie 417 Assimilation 108, 391 Ästhetik 414 Asymmetrie 213 Ätiologie 139 Atmosphäre 414 Attitüde 150 Attraktivitätsfaktor 160 Attribuierung 207 Attribut 185 – Attribut, appraisives 211 – Attribut, evaluatives 211 Attributionstheorie 264, 271 Attributizer 264, 265

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Aufforstung 46, 109 Aufklärung 389 Aura 414 Ausbeutungsmechanismus 99 Ausgangsdifferenz 399 Ausgrenzung 61 Ausmärker 46 Außenimage 207 Außenwelt 166, 169, 172 Außenweltreiz 150 Axiom 394, 397, 399 Bartels 421 Basis-Entscheidung 399 Baulichkeit 109, 112 Bebauungsplan 225, 227, 228, 239 Bedeutung 140, 173, 353 Bedeutungsinhalt 141 Bedeutungskonstitution 352, 383 Bedeutungsproduktion 387, 388 Bedürfnis 256, 259 Bedürfnistheorie 153, 268, 289 Begrifflichkeit, binäre 361 Begriffssystem 168 Behausungen 414 Behavioral approach 157 Behaviorismus 114, 147, 153, 154, 156, 157, 158, 217, 318 Behavior-Milieu-Synomorph 317 Behavior Setting 108, 274, 317 Behavior-Setting-Theorie 317 Beobachtung 407 Beobachtungspraxis 339 Berkeley Schule 346 Beschreibungskategorie 396 Betroffenheitserzählung 310 Betweenness-Zentralität 420 Bevölkerungspolitik 387 Bewertung 223 Bewusstsein 142, 143, 151, 154, 168, 170, 173, 207, 219, 257 – Bewusstsein, diskursives 250 – Bewusstsein, praktisches 250 Bewusstseinsinhalt 153 Bewusstseinsprozess 112, 148, 150, 151, 153, 169, 263, 264 Bewusstseinsstrom 180, 293 Bewusstseinszustand 74, 113, 141 Beziehung – Beziehung, extrasomatisch 166 – Beziehung, informatorische 166 – Beziehung, kommunikative 50 – Beziehung, somatische 166 – Beziehung, topologische 183 Bezugsgegenstand 219 Bezugsgruppe 106, 260 Bezugsrahmen 192 Bildungsverhalten 391 Bindungswirkung 161 Binnenwanderung 235

BLICK 307, 308, 309 Blightphänomen 46 Bobek-Otremba-Kontroverse 32 Bodenmarkt 239 Bodenpreis 160, 161, 162, 207 Boston 160, 173, 200 Brache 55 Brauch 258 Brennan’s Law 190, 213 Burgenland 204 Central Business District 162 Chicagoer Schule 118, 159 Cholera 128 Chorologisierung 313 Clusteranalyse 119 Clusterbildung 129 Code, sprachlicher 349 Cognitive Map 175 Community 102 Comptons Freiheitspostulat 75 Comptons Problem 75 Conceptual-propositional theory 215 Concrete mind 62 conditio humana 419 Constraint 262, 284, 321, 323, 343, 347 Container-Metapher 313, 314, 315 Containerraum 47, 81, 96, 252, 415 Critical Geopolitics 385 Cultura Animi 362 Cultural Studies 346 Cultural Turn 345, 366, 368, 369, 373, 381, 391 Daseinsfunktion 41 Datenmuster 119 Debatte, feministische 361 Decodierung 168 Definitionsmacht 375 Degradierung 162 Dekolonisierungsphänomen 372 Dekonstruktion 355, 360, 361, 368, 375, 381, 382, 384, 389, 390 Denken, perspektivisches 185 Denkinseln 410 Denkmodell 168 Deprivation 61 Deprivationsindex 134 Descartes’ Problem 75 Designerregion 306 Determinismus 64, 74 Deterministisch 78 Devianz 99 Dezentrierung 353 Dichotomie 72 Dichtestress 108 Dienstleistungsgesellschaft 46 Differenz 347 – Differenz, marginale 264 – Differenz, ontologische 74 Differenziale, semantische 220, 225 447

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Differenzierung, ethnische 107 Diffusion 108 Dingblindheit 97 Dingqualität 83 Diskriminanzanalyse 119 Diskriminierung 359 Diskurs 308, 309, 310, 353, 381, 382, 383, 384, 385, 388, 397 – Diskurs, ethnischer 386, 387 – Diskurs, ökonomischer 385, 386 – Diskurs, politischer 359 Diskursanalyse 310, 347, 361, 367, 383, 384, 385, 387, 388, 405 Diskursdynamik 405 Diskurselement 310 Diskursfeld 389 Diskursiv 371, 386 Diskurskonzept 347 Diskurspraxis 389 Diskursstrang 389 Diskurstheorie 322, 383 Disparität – Disparität, räumliche 102 – Disparität, regionale 99, 110 Dispersion 118 Dissonanzbewältigung 209, 268 – Dissonanzbewältigung, kognitive 210 Dissonanz, kognitive 269 Distanz 68, 172, 180, 182, 186, 188, 190, 213 Distanzfehler 195 Distanzkonzept 183 Distanzrelation 103 Distanzwahrnehmung 182, 187, 188, 190 Distinktionstheorie 361 Drei-Welten-Differenzierung 73 Drei Welten Theorie 73, 78, 286, 291, 292, 293, 344 Drogen 306, 307, 308, 309 Dual Coding Theory 215 Dualismus 279, 280, 282 Dualität 279, 282, 321 Durée 283 Dyade 298 Ego 142, 245, 268, 316, 342, 343, 353 Eigenheimmarkt 304 Eigenschaftszuschreibung 207 Eigentümer 305 Eindrucksdifferenzial 220 Eklektizismus 355 Element – Element, appraisives 225 – Element, appraisiv-wertendes 228 – Element, designatives 228 Embodied Cognitive Neuroscience 412, 413, 417 Emergenzphänomen 83, 341, 342 Emotion 256, 413 448

Emotionale Beziehung 102 Emotional Geography 412 Emotionalität 413 Emotionen 412 Empirismus – Empirismus, minimaler 407 – Empirismus, naiver 396 Empirizismus 361 Enkulturation 169, 178, 263 Entankerungsmechanismus 247 Entankerungsprozess 321 Entankerungs-These 253 Entität 320, 323 Entkolonialisierung 99 Enträumlichung 252 Ent-Räumlichung 73 Entscheidung 398 Entscheidungsfilter 151 Entscheidungsfindung 165, 242, 413 Entscheidungskompetenz 241 Entscheidungsprozess 108, 110, 151, 152, 164, 170 Entscheidungstheorie 153, 271 Entscheidungsträger 160 Entwicklung des Kindes 182 Entwicklungsforschung, geographische 425 Entwicklungspsychologie 181, 295 Entwicklungstheorie 272, 394 Epidemiologie 127, 128 Epistemologie 368 Ereigniswelt 284 Erfahrung 178, 398, 407 Erhebungstechnik 181, 206 Erinnerungsort 421 Erkennen 378 Erkenntnis 380 Erkenntnisgegenstand 243 Erkenntnisgewinnung 119, 120, 139 Erkenntnisobjekt 21, 33, 44, 88, 216, 243, 264, 393 Erkenntnissubjekt 406 Erkenntnistheorie 396, 402 Erkenntnisziel 153 Erkrankungsrisiko 127 Ernährungsgewohnheit 128 Erwartungshaltung 67 Erzählform – Erzählform, diskursanalytische 381 – Erzählform, hermeneutisch-interpretative 381 – Erzählform, poststrukturalistische 381 – Erzählform, systemtheoretische 381 Erzählung 353, 381 Essay über den Raum 62 Essentialisierung 313 Ethik 121, 363, 412 Ethnizität 346, 391 Ethnologie 88, 95, 366

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Ethnomethodologisch 95 Ethologie 157 Euregio 306 Europa 91, 92 Evidenz 384, 390 Evidenzerzeugung 390 Evolution 157, 169, 170 Exzeptionalismus 24, 98 fake news 419 Fallibilismus 406 Falsifizierbarkeits-Kriterium 398 Feminismus 359 – Feminismus, poststrukturalistischer 361 Filter 148, 168 Flächennutzungsplan 225 Flow 290 Flurwüstung 55 Fokussierungswert 395 Forschungsansatz 402 Fragmentierung, globale 405 Freiheit 240 Freizeitaktivität 180 Freizeitverhalten 217 Fremdbild 205, 207, 223, 224, 226 Freundschaft 413 Fundamentalismus 365 Funktion 33 – Funktion, Träger der 42 Funktionalismus 278 Funktionalität 66 Funktionsstandort 218 Funktions-Standort-System 52 Gebiet 60, 95, 200 Gebietskörperschaft 305 Gebietsreform 305 Gefühl 160, 259, 413 Gefühlsbindung 163 Gegenstandswahrnehmung 88 Gehirn 168, 170, 214 Gehirnhemisphäre 215 Geige 293, 295, 296, 298 Geist 77, 153 Geistesgeschichte 409 Gemarkung 46 Gemeinde 34 Gemeindesoziologie 34 Gemeindezusammenlegung 305 Gemeinschaft 102 Gemeinschaftsbesitz 162 Genotyp 318 Gentrifizierung 305 Geodeterminismus 44, 154, 158 Geofaktor 72 Geofaktorenlehre 373 Geographical Imagination 381 Geographie – Geographie, alltägliche 252 – Geographie, Ende der 63

– Geographie, humanistische 100, 144 – Geographie, konstruktivistische regionale 382 – Geographie, medizinische 127, 128 – Geographie, mikroanalytische 241 – Geographie, politische 373 – Geographie, raumwissenschaftliche 248 – Geographie, regionale 381 – Geographie, Stadt- 373 – Geographie, symbolische 310 – Geographie, verhaltenswissenschaftliche 114, 174 Geographie- Machen 295, 302 Geographie-Machen 249, 251, 252, 253, 263, 382 Geographies of Emotion 413 Geographies of Friendship 413 Geography of Emotions 412 Geomedizin 128 Geopsyche 158 Gerechtigkeit soziale 103 Geschichtswissenschaft 366 Geschlecht 346 Geschlechterforschung 115 Gesellschaft 48, 63, 282 – Gesellschaft, vormoderne 248 Gesellschaft, Grundtypen 33 Gesellschaftliche Engagement 20 Gesellschaftssystem 105, 152 Gesellschaftstheorie 110, 112, 115, 117, 249, 250 Gesellschaftswissenschaft 367 Gesetzeshypothese 394 Gestalt 154, 155 Gestaltpsychologie 154, 156, 157, 158 Gestaltqualität 187 Gestaltwahrnehmung 155 Gewalt-Setting 321 Globalisierung 247, 248, 252, 253, 254, 311, 346, 409, 419 Globalisierungsdiskurs 63 Grenze 60, 172, 200 – Grenze,Verwaltungs- 305 Grenzlinie 200 Grenzverschiebung 209, 210 Grundbedürfnis 169, 171 Grunddaseinsfunktion 42, 48, 49, 52, 57 Grundfunktion 41 Grundschicht 209 Gruppe 42, 43, 50, 56, 261, 272 – Gruppe, aktionsräumliche 52 – Gruppe, soziale 25, 32, 42, 44, 48, 124, 160, 174 – Gruppe, sozialgeographische 56, 100 Gruppenbegriff, soziologischer 50 Gruppenkonzept 33, 100, 102 Gruppenterritorium 103, 108 Gruppenverständnis 49, 56 449

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Gruppenzugehörigkeit 69 Gruppenzwang 44 Gültigkeitsbereich 67, 306 Gültigkeitsproblem 399 Habitualisierung 378 Handeln 44, 112, 244, 250, 257, 259, 264, 265, 284, 319, 397 Handlung 250, 254, 257, 268, 271, 273, 274, 277, 282, 283 – 249 Handlungsablauf 321, 340, 341 Handlungsbeschränkung 343 Handlungsbühne 283 Handlungsdisposition 344 Handlungseinheit 300, 320 Handlungselement 299 Handlungsentwurf 257, 260 Handlungsermöglichung 343 Handlungsfähigkeit 287, 288, 342, 347 Handlungsfolge 258, 261, 262, 263, 264, 266, 285, 304, 338, 340 Handlungsgrammatik 277 Handlungskapazität 318 Handlungskontext 171, 180, 185, 213, 273, 326 Handlungsmotiv 139 Handlungsmuster 317 Handlungspotenzial 288, 289, 290, 291, 297, 303 Handlungspraxis 323 Handlungsrelevanz 235, 236, 273 Handlungsroutine 152, 248, 320 Handlungsstil 340 Handlungsstrategie 261 Handlungsstruktur 401 Handlungssystem 263, 276, 299 Handlungstheoretisch 114, 244 Handlungstheorie 244, 245, 252, 254, 270, 271, 272, 285, 286, 343, 345, 383, 384, 397, 405 – Handlungstheorie, organisationszentrierte 341 – Handlungstheorie, symbolische 273 Handlungstyp 274, 316 Handlungstypologie 50, 316 Handlungsvermögen 250 Handlungsvollzug 258, 261, 262, 319, 321, 323 Handlungsziel 244, 266, 269 Hegemonie 347, 364, 391 Heimat 291, 309, 310 Heimatgefühl 418 Hermeneutik 250, 252, 278, 368 Herrschaft 67, 103, 347, 376 Herrschaftsverhältnis 240, 261 Heuristik 192 – Heuristik der Datenspeicherung 192 High Arousal Seeker 152 Hintergrundtheorie 360 450

Hippocampus 212, 215 Hochkultur 367 Homo Creator 284 Homo Oeconomicus 154, 164, 241, 264 Horno 385, 387 Human Ecology 358 Humanethologie 158 Humangeographie 42, 346 Humanökologie 166 Humanteleologisch 271 Hybrid 320 Hybridität 77 Hypostasierung 87, 89, 90, 248 Ich 142, 143, 245, 287 Ich-Identität 87, 105, 106, 142, 143, 259, 268, 285, 287, 288, 289, 291, 294 Ich-Welt-Bindung 253 Ich-Welt-Kongruenz 291, 297 Ich-Zentriertheit 185 Iconic Turn 372 Identifikation 376 Identität 79, 104, 106, 107, 204, 207, 215, 376, 391 – Identität, alltagsweltliche 205 – Identität, personale 69 – Identität, raumbezogene 290 – Identität, soziale 69 Identitätstheorie 272, 286 Ideologie 359, 369, 388 Ideologiekritik 384 Image 106, 107, 145, 146, 175, 199, 203, 204, 207, 208, 210, 212, 218, 220, 227, 229, 341 – Image, kollektives 87 Imagekomponente 235 Imagestruktur 223 Imageunterschied 227 Imagezuschreibung 86 Implicit Knowledge 274 Index 54 Indexikalisch 313, 314 Indikator 45, 46, 51, 54, 55, 109, 119, 136, 137, 224 Individualdaten 113 Individualismus 278, 279, 341, 409 Individualität 142, 278 Individuum 36, 38, 39, 42, 43, 100, 102, 105, 106, 109, 110, 112, 115, 116, 117, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 150, 152, 165, 174, 213, 218, 272, 282, 319, 384 – Individuum, Geographie des 39 Indiz 44, 45, 139 Industriegesellschaft 46 Information 72, 171, 172, 173, 242 – Information, räumliche 173 – Information, sozialräumliche 174 Informationsfilter 151 Informationskanal 168 Informationsmedium 167

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Informationstransfer 173 Informationsverarbeitung 152 Informationsverarbeitungskapazität 170 Informationsverarbeitungssystem 168 Infrastrukturpotenzial 261, 263 Inhaltsattribuierung 204 Inkommensurabel 394 Inkonsistenz 382 Innenstadt 160, 161 Innerbezirklich 237 Innerstädtisch 238, 239 Innviertel 201, 204 Input-Output-Relation 109 Institution 258, 263, 283, 341 Inszenierung 371, 374 Integrationsstufenlehre 71 Intelligibilia 73, 74 Intention 72, 258, 262, 263, 266, 287, 304, 321, 342 Intentionalität 169, 170, 240, 244, 245, 250, 255, 256, 257, 261, 284, 285, 288, 305, 306, 320, 321, 324, 339, 343, 388, 404, 405 Intentionalitätstyp 304 Interaktion 34, 56, 100, 102, 106, 108, 166, 167, 306 – Interaktion, energetische 166 – Interaktion, informatorische 166 – Interaktion, materielle 166 – Interaktion, Mensch-Umwelt 154, 167 – Interaktion, soziale 50, 66 – Interaktion, sozioökonomische 306 Interaktionsgruppe 50 Interaktionspartner 276 Interaktionsstruktur 92 Interaktionsverhalten 218 Interaktionszusammenhang 90 Internalisierung 378 Interpretation 340 Interpretationsschema 150 Interpretive Turn 371 Intersubjektiv 347, 353 Intersubjektivität 278, 389, 406 Intraurban 103 Intrinsisch 244 Introspektion 154 Irrational 269 Isomorphie 212 Jersey City 200 Jugendgruppe 106 Kalkül 165, 242 Kanaldimension 167 Kante 185, 200 Kapellbrücke 309, 310 Kapitalismus 121 Kapitalismuskritik 98 Karlsruhe 232 Karte, kognitive 177, 178, 179, 191, 225

Kartenmetapher 211 Kausalität 242, 255, 265, 271 Kausalitätsverständnis 44 Kernstadt 305 Kieler Revolution 72 Kindheimat 291 Klasse 346 – Klasse, soziale 107 Klassifizierung 248 „klassische Phase“ der Geographie 17 Knoten 185, 200 Knowledge and Space 414 Kodierungsheuristik 191 Koexistenz 399 Koexistierend 83 Kognition 106, 108, 110, 114, 148, 149, 154, 159, 164, 168, 169, 172, 173, 174, 184, 203, 211, 216 – Kognition, raumbezogene 243 – Kognition, räumliche 182, 233 Kognitionsmodell 114, 144, 150, 152, 216, 242, 243, 244 Kognitionsprozess 153, 170, 214 Kognitionspsychologie 177 Kognitionstheorie 153 Kognitiv 141, 151, 153, 155, 168, 170, 178, 186, 187, 188, 190, 200, 225, 396 Kognitiv-mental 243 Koinzidenz 136, 139 Koinzidenzprinzip 118, 139 Kollektiv 163, 197, 207, 255, 339 Kollektivismus 25, 278, 279, 409 Kolonisierung 294, 295, 320, 325 Kommunikation 64, 66, 72, 100, 108, 353 Kommunikationsanalyse 383, 405 Kommunikationsprozess 105 Kommunikationswissenschaftler 388 Kommunikativ 311 komplementär 403 Komplementaritätsbeziehung 252 Komplementaritäts-Idealismus 403, 405, 407, 408 Komplementor 403, 404 Komplexität 87, 256, 308, 402 – Komplexität, gesellschaftliche 307 Komplexitätsreduktion 90, 192, 378 Komplexqualität 204 Komponente – Komponente, appraisive 173, 240 – Komponente, attributive 172, 173, 186 – Komponente, emotionale 222 – Komponente, evaluative 173, 220 – Komponente, visuelle 199 Konfession 121 Konfessionsgruppe 121, 122 Konfessionszugehörigkeit 122 Konfiguration 256, 323, 338, 388 451

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Konfiguriertheit 83 Konflikt 391 Konfliktbewältigung 263, 268 Konformitätsdruck 260 Konnektivität 118, 211, 213 Konsistenztheorie 269 Konstitution 371, 384 – Konstitution, diskursive 315 – Konstitution, gesellschaftliche 307 Konstitutionsleistung 342, 343 Konstrukt – Konstrukt, kognitives 87, 168, 169, 174, 201, 204, 206, 213, 323 – Konstrukt, kulturelles 92, 373 – Konstrukt, räumlich-distanzielles 214 – Konstrukt, soziales 323 Konstruktion 375, 376, 381 – Konstruktion, sprachliche 381 Konstruktivismus 371, 377, 378, 379, 380, 407 – Konstruktivismus, radikaler 355 Konstruktivist 405 Konstruktivistisch 338 Konsumstandort 322 Konsumtion 252, 343 Konsumverhalten 217 Kontext – Kontext, sozialer 272 – Kontext, soziokultureller 152 kontingent 342 Kontingenz 142, 317, 375, 376, 380, 384, 405, 421 Kontingenz des Kulturellen 421 Kontingenzfähigkeit 245 Kontrolle 68 – Kontrolle, politische 252 Konvention 258 Konzept 222 – Konzept, ontologisches 271 Konzeptzuweisung, sprachlich-attributive 214 Kopernikanische Wende 62 Koppelung 167 – Koppelung, strukturelle 317, 319 Kopräsenz 90, 251, 276, 281, 321 Körper 70 Körperlichkeit 319, 321 Körperwelt 90, 94 Korrespondenz – Korrespondenz, strukturelle 408 Korrespondenztheorie 406 Korsakoff-Syndrom 214 Kovariation 133, 139 Kräftefeld, anthropogen 41 Kreuzheck 219, 223, 224, 225, 227 Krisen 418, 419 kritische Humangeographie 419 Kultivation 285, 293, 294, 325 Kultivierung 321 452

Kultur 71, 72, 77, 346, 347, 362, 367, 370, 371, 373, 390 – Kultur, materielle 53, 261, 363 Kulturanalyse 383 Kulturanthropologie 95 Kulturgeographie 346 Kulturidentität 392 Kulturkampf (Cultural War) 364, 365, 391 Kulturlandschaft 42, 263, 295, 346 Kulturreich 35 Kulturtechnik 173 Kulturwissenschaft 368, 370, 372 Kunst 363 Laborkonstruktivismus 379 Lage 60, 183, 213 Lagebeziehung 87 Lageidentität 209 Lageinformation 178 Lagekomponente 172 Lagerelation 83, 85, 86, 177, 178, 186, 211 Lagerungsqualität 90 Lagerungsqualität der Körperwelt 83 Land 71, 79, 89 Länderkunde 17, 19, 71, 88 Landmarke 186, 187, 193, 200 Landnutzung 160 Landnutzungselement 160 Landnutzungssystem 109, 112, 159, 263, 295 Landschaft 40, 42, 43, 44, 71, 72, 79, 89, 98, 247, 272 – Landschaft als Palimpsest 45 Landschaftskunde 18, 71, 88 Langage 349 Langue 349 Leader – Leader, joint 318 – Leader, single 318 Lebensformengruppe 51, 56, 57 Lebensqualität 98 Lebenssituation 171, 262 Lebensstil 107, 128, 277, 320 Lebensvollzug 281 Lebenswelt 99, 144, 152, 271, 369 Lehen 205, 206, 207, 208, 209, 210 Leibniz-Institut für Länderkunde 363 Leibphilosophie 414 Leib-Seele-Problem 75 Lernprozess 108, 150 Lerntheorie 153 Lesbarkeit 175, 187, 199 Letten 307, 309 Liefering 207, 208, 209 Linguistic Turn 352, 370, 371 Linguistik 349, 351, 352 Local Domes of Desirability 230, 233, 239

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Locale 251, 274, 277, 324 Lodaja 188 Logik 164, 264, 266, 269, 343, 398, 407 – Logik, alltagsweltliche 267 Logozentrik 375 Logozentrismus 353, 372 Lokalgesellschaft 34 Lokalisierung 409 Longue Durée 283 Los Angeles 200 Low Arousal Seeker 152 Lowau 188 Luftliniendistanz 186 Luxussanierung 305 Luzern 309 Macht 67, 103, 107, 240, 261, 270, 341, 347, 359, 360, 376, 382, 383, 384, 391, 392 Machtasymmetrien 418 Machtausübung 68 Mapping 174 Marginalisierung 61 Marxismus 99, 110, 359, 396 Masse 72 Massenmedien 307 Materialisierung 54 Materialität 76, 372 Materie 72, 74, 75, 77, 103, 294, 391, 397, 408 MDR 314 Medien 306, 307, 347 Meinungsbildung 388 Meinungsgegenstand 204 Mekka 174 Meldestatistik 235 Menschenbild 242, 271 Mensch-Umwelt-Beziehung 259 Mensch-Umwelt-Interaktion 254, 271 Mensch-Umwelt-System 255 Mental Map 73, 108, 153, 174, 175, 178, 180, 181, 191, 194, 195, 197, 207, 211, 214, 216, 218, 220, 225, 227, 228, 232, 235, 236, 273 Mental-Map-Forschung 87, 177, 187, 193, 211, 212, 229 Merkmalsgruppe 50 Merkwelt 165 Methode, logische 407 Methodenpluralismus 370 Methodologisch 341, 395, 396 Middle West 201, 204, 210 Mietwohnung 304, 305 Migration 108 Migrationstheorie 235 Mikroanalyse 345 Mikrogenese 184 Mikrogeographie 65 Milieu 89, 317, 319, 320, 321, 324, 325 – Milieu, kreatives 253

Milieuelement 318 Minderheitenschutz 386 Minderheit, ethnische 385 Minorität 391 Mitteldeutschland 314, 315 Mittelschicht 136, 208 Mobilität 103, 107, 108, 193, 227, 306 Mobilitätszumutungen 415 Mobilitätszwänge 415 Modell 168 – Modell der Realität 403 – Modell, handlungstheoretisches 259 – Modell, humanteleologisches 263, 272 – Modell, kognitives 170, 172, 182 – Modell, minimales erkenntnistheoretisches 406 – Modell, Rational-Choice- 343 – Modell, verhaltenswissenschaftliches 240, 241 Modellvorstellung 395 Modern 353, 375 Moderne 353, 368 Monoperspektivisch 243 Moral 412 Morphem 352 Mortalität 129 Mortalitätsrate 132, 133 Mortalitätsrisiko 132 Motiv 152, 172 Motivation 170, 171, 341 Motivationslage 113 Multiperspektivität 405 München 204 Muster 152 – Muster, kognitives 200, 243 Mustererkennung 155 Mutter-Kind-Dyade 183 Mythenbildend 308 Nachbarschaft 108 Nachbarschaftsgruppe 102 Nachrichtenselektion 307 Nahumgebung 182 Nahwanderungsbeziehung 238 Nationalismus 365 Natur 71, 72, 77, 373 Natura Altera 362 Natural-Hazard-Forschung 164 Navigationsproblem 187, 211 Nebenwohnsitz 415 Neopositivismus 396 Netzwerk 340 Neue Armut 99 Neue Kulturgeographie 115, 322, 338, 345, 346, 347, 362, 363, 364, 365, 366, 369, 372, 373, 376, 377, 378, 382, 383, 384, 389, 390, 392, 408, 418, 419, 420 Neue Phänomenologie 414 Neue Regionalgeographie 249 453

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Neue Sozialgeographie 418 Neurobiologie-Debatte 344 Neurowissenschaft 412, 418 Niederlausitz 385 Nodalregion 34, 92 nomothetisches Verständnis 421 Non-representational Theory 412, 417 Norm 67, 140, 142, 256, 306, 319, 384, 395 Normenkontrollklage 386 Nutzungsrestriktion 110 Oberschicht 136, 161 Oberschichtquartier 160 Objektbedeutung 222 Objektiv 165, 347 Objektivismus 278 Objektivität 284, 406 Omnipotenz 343 Ontogenese 184, 292, 295 Ontologie 71, 308, 368, 401 Ontologisch 395 Operation, kognitive 153, 155 Ordnungsrelation 82, 211 Organisation 106, 341 „Organisationsplan“ der Geographie 18 Orientalism 369, 377 Orientierung 187, 312 Orientierungsfähigkeit 214 Orientierungsinformation 178 Orientierungskomponente 172 Orientierungskonzept 177 Orientierungsmetapher 314 Orientierungsphänomen 177 Orientierungsproblem 214 Orientierungssystem 188 Ort 60, 62, 67, 72, 105, 106, 107, 318, 414 Ortsbindung 418 Ortsteil 219, 223, 224 Ortsteilimage 218, 219, 226 Ortsteilname 219 Ostfriesland 204 Overarching Goal 285, 287 Overt 113, 152, 217, 225, 227, 228, 243 Paradigma 157, 243, 271, 272, 338, 370, 394, 395, 396, 398, 399, 403, 404, 423 Paradigmenpluralismus 402, 407 Paradigmenvielfalt 405 Parenthem 352 Parole 349 Partialkomplex 72 Pathologie, soziale 99 Pendlerbeziehung 34, 89, 94 Pendlerverflechtung 92 Penetrationszone 318 Performance 371 Performanz 413 Performative Turn 371 Performativität 371 Persistenz 53, 54, 305 454

Person 142, 272 Personalität 142, 143 Personal Space 108 Personifizierung 90 Persönlichkeit 272 Persönlichkeitsentwicklung 263 Persönlichkeitsmerkmal 150, 152, 262 Persönlichkeitspsychologie 95 Persönlichkeitsstruktur 152, 268, 287 Persönlichkeitstheorie 153, 272 Perspektive – Perspektive, gesellschaftstheoretische 244, 256, 272 – Perspektive, makroanalytische 111, 113, 114, 119 – Perspektive, mikroanalytische 111, 113, 114, 116, 144, 244 Perzeption 170 Perzeptionsfilter 170, 171 Pfad 200 Pfad-Landmarken-System 200 Phänomen – Phänomen, hybrides 77 – Phänomen, soziales 122, 172 Phänomenologie 278, 390, 396, 412, 417 Phase – Phase, formal operationale 182 – Phase, funktional 42 – Phase, konkret operationale 182 – Phase, präoperationale 182 – Phase, sensomotorische 182, 183 Philologie 366 Philosophie 366, 398 Phylogenese 184, 292, 293, 295 Physiogeographie 373 Physisch-materiell 83 Pictoral Turn 372 Place 418 Place Attachment 418 Planungsregion 306 Planungsverband 306 Platzspitz 307, 309 Pluralismus 78, 402 Polaritätenprofil 220 Politikwissenschaft 110 Population 338 Position 69, 261, 263, 342 Positivismus 361 Postcolonial Turn 372 Postkolonial 377 Postkolonialismus 374, 375, 376 Postmoderne 345, 409 postmoderne Geographie 417 postmoderne Unübersichtlichkeit 410 Postmodernismus 376 Postphänomenologie 417 Poststrukturalismus 345, 347, 348, 352, 353, 354, 356, 357, 359, 361, 362, 368, 378, 381, 382, 387, 389, 396, 407

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Poststrukturalistisch 397 Potenzial 343 Präferenz 139, 226 Präferenzgipfel 230 Präferenzoberfläche 229, 230, 231 Präferenzoptimum 242 Präferenzstruktur 226 Präferenztopographie 230, 232, 239 Pragmatisch 80 Praktik – Praktik, diskursive 381 – Praktik, gesellschaftliche 383 – Praktik, kommunikative 383 – Praktik, kulturelle 391 Praxis, diskursive 377 Praxistheorie 425 Primärgruppe 102, 106 Prinzip, physiognomisch 42 Probehandeln 316 Problem – Problem, Mikro-Makro- 409 – Problem, soziales 99 Produktherkunft 316 Produktion 252, 343 Produktionssphäre 304 Produktionsstandort 218, 322 Profilhöhe 222 Profillinie 222 Profilstreuung 222 Programm 318, 320, 321, 325 Projekt 275 – Projekt, persönliches 275, 276, 293 Projektion, symbolische 163 Propädeutik 106 Proposition 215 Prozess – Prozess, gruppendynamischer 341 – Prozess, kommunikativer 383 – Prozess, mental 147 – Prozess, sozialer 109 Prozess- und Figurationssoziologie 415 Psyche 62 Psychisch 326 Psychoanalytic Geography 412 Psychogenese 178 Psychogeographie 412 Psychological Turn 412 Psychologie 100, 110, 147, 153, 181, 264, 269, 412 Psychomilieu 165 Quasi-Akteur 255 Radical Geography 115 Radical Image Theory 214 Rahmenbedingung – Rahmenbedingung, soziale 239 – Rahmenbedingung, sozioökonomische 240 Ranglage 136 – Ranglage, soziale 119, 136, 208, 209, 235

Rangordnung, soziale 34 Rang, sozialer 67 Rasse 346 Rassendiskriminierung 99 Ratio 413 Rationalismus 353, 396, 398 Rationalität 241, 242, 264, 265, 266, 343, 375, 378, 397, 413 – Rationalität, subjektive 264, 269, 270, 271 Ratten-Experiment 175, 177 Raum 47, 53, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 78, 79, 80, 82, 84, 85, 88, 89, 159, 248, 249, 252, 253, 272, 277, 282, 323, 372, 382 – Raum als Häferl 96 – Raum, Aufblähung des 193 – Raum, erlebter 86, 87 – Raum, euklidischer 184 – Raum, formal operationaler 183 – Raum, gegenständlicher 81 – Raum, konkret operationaler 183 – Raum, metrischer 183, 184 – Raum, organismischer 89 – Raum, physisch-materielle 73 – Raum, präoperationaler 183€ – Raum, projektiver 183 – Raum, sensomotorischer 183 – Raum, sozialer 47, 61, 97 – Raum, Wiederentdeckung des 63 Raum1 81, 88, 92, 94, 95, 97, 323, 324 Raum1e 87, 88, 92, 95, 97, 105, 323 Raum2 81, 84, 88, 415 Raum3 82, 84, 92, 96, 97 Raum4 83, 84, 85, 88, 90, 92, 96, 97, 102, 324, 325 Raum5 88 Raum6S 97, 323, 324, 325, 326 Raumabstinenz 70 Raumausschnitt 159 Raumbegriff 78, 91, 182 – Raumbegriff, alltagsweltlicher 64 – Raumbegriff, metaphorischer 90 Raumbewertung 235 Raumbild 87 – Raumbild, kollektives 211 Raumblindheit 62, 63, 64, 96, 97 Raumeinheit 136 Raumerzeugung 311 Raumexorzismus 64, 70, 71, 74, 75, 78 Raumfetischist 71 Raumforschung 95 Raumgesetzlichkeit 84 Raumgliederung 112, 206, 220 – Raumgliederung, kognitive 218, 228 – Raumgliederung, sprachlich-kognitive 220 Raumhysterie 65 Raumignoranz 62, 97 Raumkognition 239 455

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Raumkonstruktivismus 311 Raumkonstrukt, soziales 73 Raumkonzept 78, 79, 81, 92, 94, 103, 210, 273 – Raumkonzept, alltagsweltliches 92 – Raumkonzept, kognitives 209, 227 – Raumkonzept, kollektives 210 – Raumkonzept, relativistisches 83 Raumkonzeption, epistemologische 88 Räumlich 102, 261, 323 – Räumliche Information 106 – Räumliches Verhalten 100, 106 Räumlichen, Wiederentdeckung des 70 räumliche Welterschließung 419 Räumlichkeit 65, 70, 83, 84, 86, 89, 90, 116, 127, 172, 178, 249, 251, 254, 277, 283, 284, 323, 325, 338, 346, 393, 403, 413 – Räumlichkeit sozialer Phänomene 61, 65 Raumobjekt 163, 222 Raumordnung 319 Raumrealismus 311 Raumsemantik 71, 90, 94 Raumsoziologie 63, 71, 94 Raumsprache 311, 312, 313 Raumstelle 173 Raumstruktur 182 Raumstrukturforschung 112, 114, 117, 118, 124, 127, 128, 243, 249 – Raumstrukturforschung, makroanalytische 139, 345, 404 Raumsystem 188 Raumtheorie 59, 63, 65, 251 Raumtypisierung 127 Raumverständnis – Raumverständnis, abstrakt-konzeptionelles 182 – Raumverständnis, euklidisch-metrisches 187 – Raumverständnis, topologisches 182 Raumvorstellung 164, 177, 181, 182, 186, 228, 235, 238, 240 – Raumvorstellung, abstrakte 183 – Raumvorstellung, appraisive 228, 229 – Raumvorstellung, euklidische 183 – Raumvorstellung, kollektive 191, 204 – Raumvorstellung, projektive 183 – Raumvorstellung, relationale 183 Raumwahrnehmung 103, 106, 150, 163, 164, 182, 214 – Raumwahrnehmung, kognitiv-designative 220 Raumwissenschaft 72 Raumwissenschaftlich 19, 82, 112 Raum-Zeit-Aquarien 415 Raum-Zeit-Beziehung 282 Realerbteilung 121, 122 456

Realismus 380, 405 – Realismus, hypothetisch-konstruktiver 396, 405, 408 – Realismus, kritischer 396 – Realismus, metaphysischer 408 – Realismus, minimaler 406 Realität 169, 379, 380, 381, 383, 395, 401, 402, 403, 405, 406, 408 – Realität, psychische 204 Realitätsbeschreibung 402 Realobjektraum 81 Realraum 381 Recht 363 Reduktion 307 Reduktionismus 76 Referenzort 108 Referenzsystem 187 Reflexive Turn 372 Reflexivität 244, 250, 257, 280 Regelgröße 169, 170 Regelhaftigkeit des Sozialen 421 Regelhaftigkeiten 421 Region 34, 60, 72, 79, 89, 201, 248, 249, 251, 253, 283, 302, 306, 311, 314, 315 – Region, rückseitige 283, 324 – Region, unzentrierte 35 – Region, vorderseitige 283, 324 – Region, zentrierte 34 Regionalentwicklung 89 Regionalgeographie 250 Regionalisierung 112, 247, 248, 249, 251, 252, 273, 308, 309, 381, 409 – Regionalisierung, alltägliche 285, 305, 316, 321, 323, 325, 338, 339 – Regionalisierung, informative 308, 322 – Regionalisierung, informativ-signifikative 252, 302, 306, 311, 316, 323, 359 – Regionalisierung, normativ-politische 302, 305, 316, 323 – Regionalisierung, politisch-normative 252 – Regionalisierung, produktiv-konsumtive 252, 302, 316, 322, 324 – Regionalisierung, signifikative 308, 309, 312, 315, 322 – Regionalisierung, signifikativ-informative 382, 404 Regionalplanung 60 Regionskonstrukt 201 Registrierplatte 45 Regulierungsbereich 305 Reifikation 87 Reifikationsprozess 249 Relation 90, 186, 325 Relationalität 66, 68, 83, 87, 90, 94, 325, 353 Relativismus 376

SACHINDEX

Relevanz, lebensweltliche 229 Relevanz, soziale 99 Reliabilitätsprüfung 220, 233 Religion 363, 371 Rematerialisierung 391 Re-Nationalisierung 419 Rendite 305 Repräsentation 367, 375, 377, 379, 381 – Repräsentation, symbolische 186 Repräsentationsfunktion 68 Repräsentationsprozess 375 residenzielle Multilokalitä 416 residenzielle Multilokalität 414 Ressource 103, 262, 281, 303, 321, 323 Ressourcenangebote 414 Ressourcenverfügbarkeit 261 Restriktion 239 Revier 35 Revolution, quantitative 82 Rezeptor 168, 171 Richtung 182, 186, 190 Richtungsänderung 190 Richtungsfehler 195 Richtungswahrnehmung 182, 187 Rolle 106, 107, 142, 169, 263, 319, 342 Rollenbild 319, 320 Rollendifferenziale 261 Rollenkombination 260 Rotation 197 Rotationsheuristik 192, 197, 199 Routine 217, 251 Routinisierung 378 Rückkoppelungsprozess 263 Rückkoppelungsstruktur 259 Ruhrgebiet 201 Sachblindheit 294 Sachkonfiguration 319 Sachstruktur 319 SAGE Handbook of Social Geographies 410, 416 Sakralisierung 310 Salzburg 92, 94, 204, 232, 233 Salzkammergut 201 Sanktion 262 Satisfizer 241, 264 Schätzfehler 195, 197 Schauplatz 273, 277, 283, 317, 324 Schema 200 Schläfenlappen 214 Schulgeographie 41 Schumpeter-Unternehmer 49 Scientific Revolution 394 Seele 153 Segregation 103, 108 Sein, gesellschaftliches 380 Seinsbereich 72 Seinssphäre 71 Sektorale Binnenwanderung 238 Sekundärgruppe 102, 106

Selbst 143, 168 Selbstbestimmungsfähigkeit 142 Selbstbevorzugungsrate 225 Selbstbild 106, 205, 207, 223, 224, 226 Selbstreferenz 287 Selbstreflexivität 280 Semantik, kulturelle 344 Sender 167 Sentiment 159, 160, 162 Seram 188 Setting-Strukturen 413 Setting-Theorie 318, 321 Sexismus 159 Sexualität 346 Siedlung 34 Siedlungsgebiet, gauhaft 35 Siedlungsstruktur 322 Siedlungssystem 304, 321 Siedlungsteil 219 Siedlungsumwelt 222 Signal 167 Signifiant 349, 350 Signifié 349, 350 Signifikant 349, 350, 351 Signifikanz 405 Signifikat 349, 350, 351 Signifying practice 367 Sinn 74, 75, 103, 140, 241, 242, 255, 256, 270, 272, 316, 351, 353, 354, 356, 357, 359, 360, 369, 378, 397, 408 Sinndeutung 152 Sinnerschließung 368 Sinnesleistung 165 Sinnesorgan 145, 167, 168, 170 Sinneswahrnehmung 155, 169 Sinnfindung 244, 260, 276 Sinnfrage 99 Sinngebung 388 Sinngehalt 294, 400 Sinnkonfiguration 255, 266 Sinnkonstituent 351 Sinnkonstitution 382, 404 Sinnkontext 173, 174, 259 Sinnproduktion 369 Sinnstiftung 351, 360 Sinnstruktur 262, 266, 268, 270, 320, 391 – Sinnstruktur, polyvalente 287 Sinnverlust 361 Sinnzusammenhang 68, 178, 245 Sinnzuschreibung 289, 326, 367, 388, 404 Sinnzuweisung 256 Sitte 258 Situationsdefinition 257 Skala 222, 223 Skalenende 222, 223 Skalen-Problem 409 Skizze 181 457

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Slum 108, 190 Social Area Analysis 118 Social Geography 101, 106 Social Well-being 98 Sorben 385, 386 Souveränität 240 Sozial 324, 325, 326 – Soziale Phänomene 118 – Soziale Praxis 247, 251, 325, 326 Sozialbrache 46, 51, 55, 109 soziale Frage 420 Soziale Frage 20, 61 soziale Gerechtigkeit 418 soziale Netzwerkanalyse 420 soziale Verwerfungen 419 Sozialgeographie 17, 46, 47, 49, 109, 338, 393 – Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen 251, 253, 254 – Sozialgeographie, feministische 115, 338, 345, 371, 393 – Sozialgeographie, gesellschaftstheoretische 278 – Sozialgeographie, handlungszentrierte 144, 244, 246, 256, 299, 338, 345 – Sozialgeographie, humanistische 345, 393 – Sozialgeographie, landschaftsorientierte 109 – Sozialgeographie, makroanalytische 278 – Sozialgeographie, marxistische 393 – Sozialgeographie, mikroanalytische 44, 232, 244 – Sozialgeographie, Multiperspektivität der 402 – Sozialgeographie, poststrukturalistische 115, 361 – Sozialgeographie, Sonderstellung der 17, 18, 19 – Sozialgeographie, strukturalistisch-gesellschaftstheoretische 345 – Sozialgeographie, systemtheoretische 345, 393 – Sozialgeographie, verhaltenswissenschaftliche 158, 241, 243 Sozialisation 44, 102, 145, 150, 152, 169, 178, 256, 259, 261, 262, 263, 294, 342 Sozialisationsprozess 257 Sozialisationsraum 316 Sozialisationstheorie 153 Sozialisierung 285, 316, 325 Sozialkonstruktivismus 380 Sozialkontakt 283 Sozialmedizin 127, 128 Sozialökologie 118, 159 Sozialontologie 248 Sozialpsychologie 87, 95, 100, 110 458

Sozialraumanalyse – Sozialraumanalyse, makroanalytische 118, 136, 140 Sozialräumlich 110 sozialräumliche Disparitäten 419 Sozialstatus 52, 107, 132, 133, 136, 227 Sozialstruktur 121, 124, 136, 208, 230, 304 – Sozialstruktur, räumliche 48 Sozialwissenschaft 264, 346 Sozialwohnung 304 Soziokulturell 169 Soziologie 56, 59, 87, 95, 100, 104, 110, 112, 118, 274, 278, 279, 294, 368 Soziologisch 100 Spatial Approach 82, 84 Spatial Behavior 104, 106 Spatiality 84 Spatial Turn 372 Spätmoderne 247 Spät-Moderne 254 Split-Half-Test 233 Sprache 80, 352, 363, 371, 378, 383, 397, 406 Sprachhandeln 338 Sprachphilosophie 80, 311 Sprachrealistisch 80 Sprachspiel 382 Sprechakt 372 Staat 35 Stadtentwicklung 339 Stadtplanung 60, 339 Stadtteil 204, 208, 223, 235 Stadt-Umland-Region 34 Stadtviertel 205, 207, 392 Standardisierung 319 Standing Patterns of Action 318 Standing Patterns of Behavior 317, 318 Standortentscheidung 159, 218, 303 Standortwahlverhalten 218, 225 Status 67 – Status, ontologischer 74 – Status, sozialer 193 Statusgruppe 52 Statushierarchie 136 Statusposition 68 Statusrang 69 Sterberate 129 Stereotype 106, 107, 164, 207, 323 Stimulus 151, 170, 172, 222 Stimulus-Reaktionszusammenhang 244 Stimulus-Wahrnehmungskonzept 243 Stimulus-Wahrnehmungs-Reaktions-Modell 114, 144, 145, 152, 157 Stratifikation 106 Struktur 251, 279, 281, 282, 321 – Struktur, axiomatische 396 – Struktur, binäre 360 – Struktur, evaluative kognitive 225

SACHINDEX

– Struktur, formal-designative 199 – Struktur, institutionelle 261 – Struktur, kognitiv-designative 220 – Struktur, kognitive 141, 170, 219, 223 – Struktur, ontologische 395 – Struktur, physisch-materielle 66, 118 Strukturalismus 278, 348, 349, 351, 352, 353, 354, 396 Strukturationstheorie 250, 251, 274, 277, 280, 284, 311 Strukturierung 280, 314 Strukturprinzip 211 Subject 358 Subject-object Relation 358 Subjekt 95, 113, 116, 141, 142, 170, 178, 180, 240, 241, 245, 247, 248, 250, 255, 256, 259, 262, 263, 278, 284, 303, 318, 319, 322, 340, 341, 343, 351, 353, 360, 375, 376, 384, 386, 395, 397, 405 Subjektbegriff 353 Subjektiv 165, 242, 255, 256, 261, 264, 265, 268, 397 Subjektivismus 279 Subjektivität 142, 143, 278 Subjekt-Objekt-Dichotomie 62 Substanzbegriff 90 Substitution, semantische 308 Substrat 109, 112, 141 – Substrat, räumliches 60 Suburb 108, 161 Suburbanisierung 103 Symbol 106, 159, 391 Symbolfunktion 68 Symbolic Action Theory 285, 286, 287, 289, 290, 291, 299 Symbolisch 367 Symbolische Handlungstheorie 285, 286, 287, 288, 316 Symbolismus 159, 162 Symmetrie 211 Synchorisation 276, 320 Synchronisation 276, 320 Synomorphie 316, 317, 319, 321, 325 Synthesekonzept 72 System 281 – System, informatorisches 166 – System, kybernetisches 167 – System, psychisches 142 – System, soziales 109, 110, 112, 115, 118, 119, 127, 141, 142, 148, 169, 240, 259, 260, 261, 272, 278, 281 System, logisches 17 Systemtheorie 397 – Systemtheorie, autopoietische 286 Systemtheorien 417 Tacit Knowledge 274 Tagebau 385 Täuschung, optische 156, 157 Taxien 177

Technologie 261 Teilhandlung 299, 300 Telekommunikation 306 Teleologie 390 Terrae Incognitae 163, 164 Territorial 309 Territorialgrenze 377 Territorialisierung 315 Territorialität 107, 305 Territorium 60, 95, 103, 108, 305, 306, 324, 382, 385 Themenfestival 374 Themenort 374, 377 Themenpark 374 Theorie – Theorie der Strukturierung 279 – Theorie, lebensweltliche 274 – Theorie, marxistische 397 – Theorie sozialer Systeme 399 Theoriekern 395 Thomas-Theorem 158, 159 Time-Space-Distanciation 251 Topographie 230 Topographisierung 313 Topologisch 186 Topologisierung 313 Toponym 313, 314, 315 Tracking 392 Transaktionistisch 320 Transaktionskosten 159 Translational Turn 372 Triangulation 243 Tun 67, 217, 228, 240, 241, 244, 257 Typologie 271, 273 Typologie räumlicher Gesellschaftskörper 34 Umgebung 165 Umlegungsverfahren 122 Umwandlungsdruck 162 Umwelt 100, 108, 118, 119, 146, 155, 165, 166, 170, 172, 182, 255 – Umwelt, materielle 262 Umweltbewertung 141 Umweltinformation 152, 167, 174 Umweltkognition 178 Umweltkrise 99 Umweltlehre 165 Umweltmedizin 128 Umweltpsychologie 87, 95, 177, 286 Umweltreiz 147, 148, 151, 152, 155, 171 Umweltrisiko 164 Umweltstimulus 114, 147, 148, 218 Umweltwahrnehmung 141, 165, 166, 168, 201 Umzug 235, 237, 238 Umzugsbewegung 237 Umzugsmobilität 236 Umzugsverflechtung 236, 237, 238 Unbewusstes 168 459

SACHINDEX

Ungerechtigkeit 110, 115 Universalie 421 Unterbewusstsein 250 Unterschicht 134, 207 Unterschichtquartier 206, 208, 209 Urban Geography 98 Urban Society 102 Ursachenlehre 139 Ursachen-Wirkungsbeziehung 256 Urvertrauen 396 Variabilität 317 Verband der Geographen an Deutschen Hochschulen (VGDH) 420 Verdinglichung 90, 308 Verfahrensschritt 258 Verflechtung 238 Verflechtungsbereich, funktional 34 Vergegenständlichung 313 Verhalten 33, 43, 104, 106, 112, 114, 147, 148, 150, 151, 153, 216, 217, 225, 227, 244, 397 – Verhalten, räumliches 141, 145, 243 Verhaltensbegriff 240 Verhaltensepisode 317 Verhaltensforschung 157 Verhaltensgruppe 33, 51, 52, 56 Verhaltensmatrix 241, 242 Verhaltensmuster 150, 169, 217, 218, 317 Verhaltensnormierung 67, 68 Verhaltensrelevanz 225, 235, 239, 240 Verhaltenssystem 239 Vernacular Region 201, 204 Vernunft 413 Verortung 377 Verortungsprinzip 311, 313 Verräumlichung 308 Verslumung, ontologische 73 Verstädterung 103 Verstehen 368 Verteilungskarte 128 Verteilungsmuster 119 Verwaltungseinheit 95 Verwirrungszusammenhang 88 Verzerrung 180, 191, 197 Viabilität 403, 404, 405 Viedel 219, 224, 225, 227 Viertelsdifferenzierung 219 Vietnamkrieg 99 Violine 292, 293 Visualität 372 Volkskunde 366 Vorstellungsbild 145, 146, 164, 175, 178 Vorstellungsinhalt 225 Vorstellungsklischee 107 Wachstumsmotiv 267, 289 Wachstumsregion 133 Wahrheitsbegriff 403, 406 Wahrheitstheorie 408 460

Wahrnehmung 100, 108, 145, 147, 148, 150, 152, 154, 159, 163, 164, 166, 168, 169, 170, 171, 214, 379 Wahrnehmungsfilter 150, 169 Wahrnehmungsgeographie 114, 158 Wahrnehmungsmuster 156 Wahrnehmungsprozess 151, 153 Wahrnehmungspsychologie 214 Wahrnehmungsregion 108, 201 Wahrscheinlichkeitsmatrix 238 Wahrzeichen 310 Waldviertel 201 Wanderung 235 – Wanderung, innerstädtische 235, 237 Wanderungsbewegung 103, 108 Wanderungsbeziehung 238 Wanderungsdistanz 238 Wanderungsdynamik 133, 239 Wanderungsforschung 113, 226 Wanderungsprozess 240 Wanderungsstrom 108, 113, 236, 238 Wanderungsverbundsystem 238 Wanderungsverflechtung 238, 239 Wanderungsverhalten 218, 233, 235, 241 Wanderungsvolumen 236 Was-ist-Frage 80 Wechselwanderung 238 Wegzeit 180 Welfare Geography 115 Welling 218, 219, 229 Welt – Welt, physisch-materielle 322, 323, 324 – Welt, soziale 320, 338, 393, 399, 403 Weltaneignung 316 Weltbeschreibung 399, 403 Weltbild 306, 383, 384 Welt-Bindung 247 Weltdeutung 95, 243, 382, 383 Welterfahrung 178, 276 Welterkenntnis 152 Weltkonstruktion 399 Weltkonzeption 394 Weltsicht 95 Wende, konstruktivistische 368 Werkzeugintelligenz 168 Wert 44, 110, 128, 140, 142, 152, 170, 256, 259, 270, 272, 289, 395, 409 – Wert, kultureller 159, 160 – Wert, sozialer 54 Wertekonfiguration 272 Wertestruktur 244, 257 Wertesystem 164 Wertfreiheit der Wissenschaften 20 Werthaltung 141, 150, 152, 204, 263 Wertkonflikt 266 Wertneutralitätsthese 395 Wertung 43, 44, 45, 113, 166, 207 Wertungsstruktur 238

SACHINDEX

Werturteil 44, 86, 173, 233 Wertvorstellung 145, 160, 163, 169, 384 Wertzuschreibung 229 Wien-Münchener Schule 40, 109, 112, 114, 141 Willensfreiheit 142, 344 Winkel 186 Winkelschätzung 195 Wirklichkeit 165, 307, 311, 314, 371, 374, 375, 377, 378, 396, 401, 402, 403, 406, 407, 408 Wirklichkeitskonstitution 302 Wirkwelt 165 Wirtschaft 363 Wirtschaftsgeographie 373 Wirtschaftssektor 124 Wirtschaftswissenschaft 264 Wissen 306, 378 Wissenschaft 394 Wissenschaftsmodell 366 Wissenschaftstheorie 394, 398, 399 Wissenschaftsverständnis 383 Wissens- und Bildungsforschung 414 Wissensvermittlung 308 Wohndauer 193, 210 Wohnen 303 Wohnforschung 226 Wohnfunktion 48 Wohnqualität 233 Wohnquartier 161, 233 Wohnsitzpräferenz 180, 225, 232, 273 Wohnstandort 161, 218, 238, 305 Wohnstandortbewertung, appraisive 230 Wohnstandortpräferenz 133, 226, 229, 232, 233, 235

Wohnstandortqualität 233 Wohnstandortverteilung 304 Wohnstandortwahl 103, 218 Wohnstandortwahlverhalten 240 Wohnumfeldgestaltung 316 Wohnumwelt 222 Wohnung 302, 304 Wohnungsmarkt 239, 302, 303, 304, 305 Wohnungsproblem 240 Yeoman 204 Zeichen 68, 80, 349, 350, 353, 391 Zeichencharakter 77 Zeichentheoretisch 77 Zeit 282 Zeitgeographie 274, 415 Zeitlichkeit 251, 283, 284 Zeit-Ort-Konstellation 317 Zentralitätsverflechtung 89 Zentralraum 93, 94 Zersiedelung 324 Ziel 169, 170, 171, 172, 241, 242, 255, 256, 258, 259, 262, 263, 264, 287, 288, 289 Zielerfüllung 259 Ziel-Ergebnis-Vergleich 265 Zielerreichung 261, 262 Zielkonflikt 266, 270 Zielsetzung 262, 294 Zielvorstellung 256 Zirkulation 108 Zitierkartell 100 Zürich 309 Zwecksetzung, soziale 66 Zweite Moderne 415

461

Personenindex Adorno, Theodor W. 368 Albert, H. 398, 399 Anderson, B. 417 Arber, Guenther 306, 307, 308, 309 Argyle 275 Arnold, H. 341 Aufenvenne, Philipp 421, 422, 424 Aufhauser, Elisabeth 361, 387, 388 Bachmann-Medick, Doris 369, 370, 371, 372 Barker, R. G. 316, 317, 318, 319 Bartels, Dietrich 19, 40, 72, 80, 82, 245, 248 Barthes, Roland 354 Barzini, Luigi 175 Bathelt, H. 373 Baudrillard, Jean 354 Belina, B. 373 Berger, P. 368 Bergler, R. 222 Bergson, Henri 283 Blotevogel, Hans Heinrich 80, 81, 341, 343, 366, 367, 368, 369, 390, 402 Bobek, Hans 17, 18, 19, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 40, 41, 42, 43, 46, 48, 49, 50, 51, 56, 58, 71, 72, 103, 105, 111, 141, 253, 409, 410 Boesch, Ernst Eduard 285, 286, 287, 288, 289, 290, 291, 292, 293, 294, 295, 296, 297, 298, 299, 300, 301, 316 Böhme, Gernot 354, 414 Bondi, L. 413 Bourdieu, Pierre 425 Brandenburger, Adam M. 403 Brennan, T. 190, 213 Briggs, R. 190 Brunn, Stanley 101, 104, 105, 106, 180, 184 Bunnell, Tim 413 Burgess, Ernest W. 118 Butler, Judith 371 Buttimer, Anne 144 Canter, David C. 188 Carlstein, Tommy 274, 275 Carol, H. 79 Cartesius, Renatus 143 Cassirer, Ernst 368 Christaller, Walter 82 462

Compton, 75 Crang, Ph. 369 Csíkszentmihályi, Mihály 290, 294 Culler, J. 347 Curry, L. 80 Damasio, Antonio R. 413 Davidson, J. 412, 413 Deleuze, Gilles 354 Demangeon, A. 43 Demko, D. 190 Derrida, Jaques 347, 353, 354, 355, 357, 360, 384 Descartes, René 75, 143 Dilthey, Wilhelm 368 Dix, A. 363 Dollinger, Franz 95 Dörner, Dietrich 271 Dosse, F. 347 Downs, Roger M. 145, 146, 176, 178, 179, 213 Duncan, J. 346 Eck, H. 222 Einstein, Albert 83 Elias, Norbert 415 Erb, K. 294 Esser, H. 264 Eyles, John 98, 101, 102, 103, 104, 112, 115, 129, 134, 135 Fassmann, H. 81 Fehre, Hans 124, 125, 126, 127 Felgenhauer, Tilo 311, 314, 315, 316, 323 Festinger, Leon 269 Firey, Walter 103, 159, 160, 161, 162, 163 Fischer-Kowalski, Marina 294 Fliedner, Dietrich 19 Förster, H. von 355 Foucault, Michel 310, 354, 358, 382, 383, 387, 388, 405 Frank, M. 347 Freud, Siegmund 358 Freytag, T. 414 Friedrichs, J. 118 Frisch, Karl 177 Fuchs, Th. 417 Gadamer, Hans-Georg 368 Gamerith, Werner 15, 391, 392 Gebhardt, Hans 363, 372, 381, 382, 383, 418, 425

PERSONENINDEX

Geertz, Clifford 369 Geipel, Robert 144, 166, 179 Gelbmann, Norbert 347, 350, 351, 352, 354, 355, 356, 357, 359, 360, 377 Gibson-Graham J. K. 360, 361 Gibson, J. J. 344 Giddens, Anthony 65, 250, 251, 252, 273, 274, 277, 279, 280, 281, 282, 283, 284, 285, 311, 321, 324, 341, 402 Glasersfeld, E. von 355, 378, 404 Glückler, Johannes 373, 420 Goeke, Pascal 420 Goffman, Erving 282, 283, 324 Gold, J. R. 185 Golledge, Reginald C. 181, 190 Gould, Peter R. 175, 229, 230, 231, 232, 233 Gradmann, Robert 346 Graumann, Carl Friedrich 65 Gregory, Derek 381 Gukenbiehl, H. L. 280 Habermas, Jürgen 382 Hacking, I. 379 Hackl-Sengstschmid, E. 321 Hägerstrand, Torsten 274, 282, 415 Hahn, Eduard 346 Hahn, Helmut 120, 121, 122, 123, 124, 127, 128 Halbwachs, Maurice 118 Hallwirth, C. 93 Hard, Gerhard 20, 40, 64, 71, 72, 73, 74, 76, 77, 80, 88, 91, 218, 219, 220, 221, 222, 224, 225, 226, 228, 229, 233, 235, 239 Harland, R. 352 Hartke, Wolfgang 40, 42, 43, 44, 45, 46, 51, 54, 103, 144, 165, 166, 247, 338 Hart, R. A. 181 Hartshorne, Richard 98 Hasse, Jürgen 414 Hawley, A. 118 Heffernan, M. 414 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 353, 358 Heidegger, Martin 358, 368 Heinritz, Günter 57 Heivly, Christopher 191, 192, 193, 194, 196, 197, 198 Hellpach, Willy 158 Hennessey, R. 93 Herkner, W. 265, 271 Hermann, Michael 305 Höllhuber, Dietrich 232, 264 Holzhauser, A. 137 Hölzl, E. 189 Horkheimer, Max 368 Hoskins, G. 391 Howe, G. Melvyn 128, 130, 131, 133 Hume, David 75

Husserl, Edmund 368 Inhelder, B. 181 Jackson, P. 346, 391 Jahnke, H. 414 Jakle, 180, 184 Jakle, John A. 101, 104, 105, 106 Jokisch, R. 361 Jones, Emrys 101, 102, 103, 104, 112, 115, 129, 134, 135 Jöns, H. 414 Kaminski, G. 317 Kant, Immanuel 88 Kazig, Rainer 414 Keller, R. 387, 388 Kemper, F.-J. 345, 346 Kimmerle, H. 384 Kirk, William 164 Klüter, Helmut 71, 76, 345, 364 Knorr-Cetina, K. 378, 379 Knox, P. L. 202 Köck, H. 339 Kofka, Kurt 154 Köhler, Wolfgang 154 Konau, Elisabeth 60, 61, 62 König, René 34, 60 Kramer, C. 414, 415 Kuhn, Thomas S. 394 Lang, Alfred 62 Läpple, Dieter 62 Lees, L. 391 Lee, T. R. 190 Lefebvre, Henri 416 Leibniz, Gottfried Wilhelm 83, 358, 363 Lenk, Hans 245 Leuthold, Heiri 305 Lévi-Strauss, Claude 283 Lichtenberger, Elisabeth 81 Linde, Hans 97 Little, Brian R. 275 Lloyd, Robert 191, 192, 193, 194, 196, 197, 198, 214, 215 Lonner, W. J. 286 Lorenz, Konrad 157 Lösch, August 82 Lossau, Julia 15, 96, 373, 374, 375, 376, 377, 381 Löw, Martina 63, 97 Luckmann, Thomas 368, 369 Luhmann, Niklas 64, 71, 86, 115, 397, 399, 405 Lynch, Kevin 175, 187, 199, 200, 201, 202, 203, 211 Lyotard, J.-F. 353 Maier, Jörg 11, 20, 40, 41, 42, 43, 46, 47, 50, 51, 52, 53, 54, 55, 56, 101, 102 Mandl, Gerfried 347, 350, 351, 352, 354, 355, 356, 357, 359, 360, 377 Marston, S. 202 Maslow, A. H. 289 463

PERSONENINDEX

Massey, Doreen 62, 84 Mattissek, A. 384 Mayntz, R. 344 McFarlane, C. 417 Mehrabian, A. 152 Meitzen, August 346 Merton, Robert K. 159 Meusburger, Peter 70, 274, 339, 340, 341, 343, 414 Michel, Boris 421 Miggelbrink, Judith 70, 80, 378, 379, 380 Mikesell, Marvin 346 Mitchell, Don 363, 364, 365, 366, 391 Monzel, Silvia 316 Moore, G. T. 181, 182, 184 Münker, S. 347, 348, 349, 350, 351, 352, 353 Nadel, L. 212, 214, 215 Nalebuff, Barry J. 403 Natter, W. 345, 346 Neudecker, K. 137 Newton, Isaac 81 Nietzsche, Friedrich 362, 368 Noller, Peter 62, 63, 97 Odermatt, André 302, 303, 304, 343 Oeser, E. 344 O‘Keefe, J. 212, 214, 215 Otavnik, R. 207 Otremba, Erich 32, 35, 36, 37, 38, 39, 49 Ó’Tuathail, G. 385 Paesler, Reinhard 40 Paivio, A. 215 Pareto,Vilfredo 245 Park, E. 118 Parsons, Talcot 245, 278 Partzsch, D. 41 Philo, C. 391 Piaget, Jean 181, 182, 183, 184, 286 Pieper, R. 63 Pile, Steven 412 Polany, M. 274 Popper, Karl 73, 74, 75, 76, 77, 78, 86, 95, 280, 286, 291, 292, 293, 344 Pred, Allan 241, 265, 357, 358 Proshansky, Harold M. 62, 65 Ratzel, Friedrich 346 Redepenning, Marc 378, 380, 425 Reichert, Dagmar 80, 83, 188, 189, 358 Reuber, Paul 363, 372, 381, 382, 383 Richner, Markus 309, 310 Rickert, Heinrich 368 Rochberg-Halton, E. 294 Roesler, A. 347, 348, 349, 350, 351, 352, 353 Roseman, Curtis C. 101, 104, 105, 106, 180, 184 Roth, G. 344 Rumpolt, P. A. 415 464

Ruppert, Karl 40, 41, 56 Russell, J. A. 152 Sadalla, Edward K. 190 Sahr, Wolf-Dietrich 15, 341 Said, Edward 369, 377 Sakdapolrak, P. 425 Sauer, Carl 98, 346 Saussure, Ferdinand de 349, 350, 351, 352 Schad, H. 417 Schäfer, B. 222 Schaffer, Franz 40, 41, 46, 56 Scherr, A. 143 Scherr, Rita 218, 219, 220, 221, 222, 224, 225, 226, 228, 229, 233, 235, 239 Schlick M. 75 Schlottmann, Antje 311, 312, 313, 314, 315, 323 Schlüter, Otto 346 Schmithüsen, J. 71 Schmitz, Hermann 414 Schneidewind, Peter 81 Schurr, C. 413 Schurz, G. 395, 405, 406, 407, 408 Schütz, Alfred 73, 278, 369 Schwab, Gustav 145 Searle, John R. 311 Sedlacek, Peter 19, 245 Seiß, Reinhard 339, 340, 341 Shakespeare, William 358 Shortridge, James R. 201, 202, 203, 204, 210 Simmel, Georg 63, 118 Simon, Herbert 164 Singer, W. 344 Smith, Mick 412, 413 Smith, Susan J. 410, 411 Snow, John 128 Soja, Edward 416 Sombart, Werner 26, 27, 50 Staplin, Lorin J. 190 Stea, David 176, 178, 179, 213 Steinbach, Josef 137 Steinbrink, Malte 421, 422, 424, 425 Steinkrüger, Jan-Erik 421 Storkebaum, Werner 19, 32, 40, 43, 121 Strassel, J. 357 Straumann, N. 83 Strüver, Anke 361, 413 Sui, D. 415 Sullivan, T. R. 163 Textor, R. B. 286 Thomale, Eckehart 31 Thomas, Dorothy Swaine 159 Thomas, William Isaac 158, 159 Thünen, Heinrich von 82 Tinbergen, Nikolaas 157 Tolman, E. C. 175, 176, 177, 211 Treibel, Anette 280, 281

PERSONENINDEX

Tuan,Yi-Fu 144, 212, 411 Tverski, B. 192, 195 Uexküll, Jakob von 165 Uhlig, Harald 17, 18, 19 Urbanik, Julie 412 Vascovics, Laszlo A. 61, 99 Vidal de la Blache, P. 26 Wardenga, Ute 15, 80, 345, 346, 363 Wastl-Walter, Doris 115 Watson, John B. 147, 153, 154 Watzlawick, Paul 267 Weber, Max 25, 121, 245, 278, 285 Weichhart, P. 415, 418 Weichhart, Peter 12, 15, 65, 69, 70, 83, 89, 166, 204, 205, 206, 209, 232, 234, 236, 245, 246, 260, 274, 280, 289, 290, 306, 316, 318, 320, 321, 344, 373, 399, 403, 404 Weiske, C. 204, 289, 290, 321 Weiß, A. 425 Weixlbaumer, N. 206 Werlen, B. 419

Werlen, Benno 11, 15, 77, 78, 87, 151, 204, 245, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 254, 257, 263, 273, 277, 286, 289, 290, 295, 302, 308, 311, 316, 321, 322, 323, 324, 338, 341, 342, 343, 344, 402, 410 Wertheimer, Max 154 Wezemael, Joris Ernest Van 302, 303, 304, 343 White, Gilbert F. 164, 165 White, Rodney 229, 230, 231, 232, 233 Wirth, Eugen 40, 55, 56, 57, 59, 245 Wirth, T. 290 Wolkersdorfer, Günter 363, 372, 373, 381, 382, 383, 385, 386, 387 Wood, Gerald 373, 415 Wright, James K. 163, 164 Wulf, C. 371 Zelinsky, Wilbur 204 Zierhofer, Wolfgang 70, 74, 75, 80, 84, 373 Zima, P.V. 353

465

Doris Wastl-Walter

Gender Geographien Geschlecht und Raum als soziale Konstruktionen

sozialgeographie kompakt – BanD 2 Die autorin Doris Wastl-Walter, Professorin für Humangeographie, Direktorin des Geographischen Instituts Bern und Mitbegründerin und Direktorin des Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung der Universität Bern, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit feministischer Geographie und Gender Geogaphien. Sie ist auch Co-Leiterin einer Doktorierendenschule zu „Gender: Scripts and Prescripts“. Ihre weiteren Forschungsschwerpunkte sind Migrations- und Grenzforschung sowie Politische Geographie.

Geschlecht ist heute als Analysekategorie auch in der Geographie etabliert. Daher sollen in diesem einführenden Band der Reihe „Sozialgeographie kompakt“ die wesentlichen theoretischen Grundlagen, die relevanten Methoden und die wichtigsten Forschungsfelder und Forschungsergebnisse vorgestellt werden. Dabei steht nicht das biologische Geschlecht (Sex) im Zentrum der Überlegungen, sondern Gender, das soziale Geschlecht, das als Kategorie diskursiv und in der alltäglichen Praxis hergestellt wird. Eine geschlechtsbezogene Geographie widmet sich den raumrelevanten Aspekten von Geschlechterrollen und Geschlechterrelationen, beschreibt und analysiert die Handlungsspielräume und Restriktionen durch die Konstrukte „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ und diskutiert Möglichkeiten, diese oft einschränkenden Konzepte zu verändern. Viele empirische Beispiele geben einen Einblick in die deutschsprachige und internationale Geschlechterforschung in der Geographie.

rezensionen „Doris Wastl-Walter hat damit ein Buch vorgelegt, dem durch seine durchgängig sehr gut verständliche Darstellung theoretischer und empirischer Grundlagen und Konzepte von Geschlecht und Raum eine hohe Bedeutung für die geographische Lehre und Forschung – d.h. für Studierende, Lehrende und Forschende – beizumessen ist.“ Darja Reuschke, Erdkunde 65, 2011/1

242 Seiten mit 2 Tabellen, 28 s/w-Abbildungen und 13 Karten 978-3-515-08783-4 kart.

Hier bestellen: www.steiner-verlag.de

Manfred Rolfes

Kriminalität, Sicherheit und Raum Humangeographische Perspektiven der Sicherheits- und Kriminalitätsforschung

sozialgeographie kompakt – Band 3 der autor Manfred Rolfes studierte Geographie, Germanistik und Pädagogik in Osnabrück, wo er 1995 zum Thema „Regionale Mobilität von Hochschulabsolventen“ promovierte. Er lehrte und forschte in Osnabrück, Kassel, Potsdam und Toulouse. Seit 2004 ist er Hochschullehrer für Angewandte Humangeographie und Regionalwissenschaften am Institut für Geographie der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der raumbezogenen Kriminalitäts- und Unsicherheitsforschung, der angewandten Stadt(teil) forschung sowie dem Slumtourismus.

211 Seiten mit 40 s/w-Abbildungen 978-3-515-10635-1 kart. 978-3-515-10870-6 e-Book

Erstmals für den deutschsprachigen Raum liegt ein geographisches Lehrbuch vor, das sich in kompakter Form mit den Zusammenhängen von (Un-) Sicherheit, Kriminalität und Raum befasst. Auf Basis einer umfassenden Quellenrecherche skizziert und diskutiert Manfred Rolfes aus einer konstruktivistischen Perspektive die zentralen Aspekte einer humangeographischen Sicherheits- und Kriminalitätsforschung. Traditionelle und zeitgenössische Ansätze der Kriminalgeographie werden ebenso kritisch in den Blick genommen wie Methoden zur Beobachtung und Analyse des Zusammenhangs von Sicherheit, Kriminalität und Raum, raumorientierte Präventionspolitiken und Sicherheitsproduktionen oder Beobachtungen über urbane (Un-) Sicherheiten. Ein Blick auf das Forschungsfeld aus globaler und geopolitischer Perspektive rundet die Einführung ab. Alle behandelten Themenbereiche werden (raum-) theoretisch durchleuchtet und mit anschaulichen Fallbeispielen verdeutlicht.

rezensionen „[D]er vorliegende Band [kann] als Einstieg ins Thema insbesondere für Studierende nur empfohlen werden.“ Bernd Belina, Erdkunde 69, 2015/3 „Sein Buch eignet sich […] besonders für Studierende als Einstieg in das Themenfeld. Die zahlreichen Illustrationen und die Durchstrukturierung in viele Unterkapitel erleichtern die Orientierung im Text. Für die Prämisse, Räume als gesellschaftlich produziert aufzufassen, leistet das Buch einen wertvollen Beitrag, weil es die theoretischen Überlegungen immer wieder mit sehr praktischen Problemen in Beziehung setzt.“

Marius Otto, Geographische Zeitschrift 104, 2017/2

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Felicitas Hillmann

Migration Eine Einführung aus sozialgeographischer Perspektive

sozialgeographie kompakt – banD 4 Die autorin Felicitas Hillmann, Promotion 1994 im Rahmen des Promotionskollegs „Sozialer und Räumlicher Wandel“ der Universitäten Bremen und Oldenburg. Seit 2015 ist sie am IRS (Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung) als Abteilungsleiterin in der Abteilung „Regenerierung von Städten“ tätig und außerdem Professorin mit dem Fachgebiet „Urbane Transformation im internationalen Kontext“ an der TU Berlin, Institut für Stadt- und Regionalplanung.

Migration stellt ein zentrales Thema in der Geographie dar: Dieses Lehrbuch führt in die grundlegenden theoretischen Konzepte seit Beginn der Fachgeschichte bis zur Herausbildung der „neuen Geographien der Migration“ ein. Historische und aktuelle regionale Beispiele zeigen, wie Migration als Ausdruck und Triebkraft sozialen und räumlichen Wandels wirkte und heute einen elementaren Bestandteil der globalisierten Welt bildet. Lange wurde „Migration“ als Teil der Bevölkerungsgeographie diskutiert, neuerdings finden zunehmend auch international diskutierte Konzepte der Migrationsforschung Eingang in die Sozialgeographie. Das Lehrbuch greift diese neueren Entwicklungslinien beispielhaft auf und stellt die unterschiedlichen Forschungsfelder und Forschungsansätze vor. Empirische Beispiele illustrieren, wie Migration mit globalen Dynamiken, beispielsweise Klimawandel und Urbanisierung, interagiert.

rezensionen „Felicitas Hillmann fällt mit dem vorliegenden Lehrbuch das Verdienst zu, die geographische Migrationsforschung für die Lehre aus der Bevölkerungsgeographie herausgelöst, ja gar befreit zu haben.“ Pascal Goeke, raumnachrichten.de, 2016

245 Seiten mit 7 s/w-Fotos, 19 s/w-Abbildungen, 5 farbigen Schaubildern und 7 Übersichten 978-3-515-10636-8 kart. 978-3-515-10871-3 e-book

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Peter Weichhart skizziert mit vielen Beispielen aus der Forschung die verschiedenen sozialgeographischen Ansätze von der Begründung der Sozialgeographie durch Hans Bobek in den 1940er Jahren über die Wien-Münchener Schule zur handlungstheoretischen Sozialgeographie Benno Werlens. Auch poststrukturalistische Ansätze und die Neue Kulturgeographie werden als jüngste Entwicklungslinien des Faches diskutiert.

isbn 978-3-515-11393-9

Das mit reichhaltigem Anschauungsmaterial ausgestattete Lehrbuch stellt so in prägnanter Form die wichtigsten Konzepte und Denkmodelle der Sozialgeographie vor und bietet Studierenden eine übersichtliche Einführung in Entwicklung und neue Forschungsansätze der Disziplin.

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