Endlich Biochemie verstehen [1. ed.] 3662661934, 9783662661932, 9783662661949

Dieses Buch beantwortet brennende Fragen nach dem (molekularen) Sinn des Lebens und macht Lust auf mehr. Was ist es denn

122 88 11MB

German Pages 202 Year 2023

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Table of contents :
Geleitwort
Disclaimer (Haftungsausschluss)
Vorwort
Danksagung
Inhaltsverzeichnis
1: Spielregeln
1.1 Andere kochen auch nur mit Wasser
1.2 Süßes oder Saures – pH-Wert und Puffersysteme
Exkurs: Der beste pH-Indikator der Welt
Exkurs: „Good old times“ oder warum es die heutige Molekularbiologie überhaupt gibt
Exkurs: Aufregung am pH-Meter
1.3 Die Klimaanlage funktioniert nur bei geschlossenem Fenster – oder – der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik und andere Regeln
1.4 Können sich Naturgesetze ändern?
Exkurs: Könnte Leben existieren, ohne eines der CHNOPS-Elemente zu benutzen?
1.5 Mit Oxidationszahlen und etwas Stereochemie können wir die Biochemie des Lebens deutlich besser verstehen
1.6 Was ist Chiralität?
2: Der LEGO-Baukasten des Lebens
2.1 Zucker und was wir dafür halten
Exkurs: Ein sehr teurer Zucker – Heparin
Exkurs: Süßes und unser Darm
2.2 Aminosäuren, Peptide und Proteine
Exkurs: Wie kann man sich den Ein-Buchstaben-Code der Aminosäuren merken? Ein kleines Schema
Exkurs: Antikörper zeigen fast immer nach Weste(r)n
2.3 Fette, Öle und gute Butter
2.4 Nucleinsäuren
Exkurs: Der Ritterschlag vom Nucleosid zum Nucleotid
Exkurs: Das Wettrennen um die DNA-Struktur – Teil 1
2.5 Isoprenoide, Steroide und sekundäre Naturstoffe
2.6 Ein Ausflug in die präbiotische Chemie
2.7 Wie Chiralität in der Biochemie entstanden sein könnte
Exkurs: Jeremy, die linksgewundene Schnecke
Exkurs: Spieglein, Spieglein im Reagenzglas – Mirror-Image-Phage-Display
3: DNA oder das Buch des Lebens
3.1 Die Struktur der DNA erklärt ihre Funktion
Exkurs: Das Wettrennen um die DNA-Struktur – Teil 2
3.2 DNA ist riesig und chemisch sehr stabil, die ideale Bauanleitung des Lebens
3.3 Besondere DNA-Strukturen
3.4 Wellness für unsere DNA – Gen-Scheren und Pflegespülung
Exkurs: Alte DNA erlaubt einen tiefen Blick in die Vergangenheit
3.5 Der universelle Code – das Alphabet des Lebens
Exkurs: Moskau und die Entschlüsselung des genetischen Codes – ein Exkurs in drei Akten
3.6 Von Code-Varianten und anderen biologischen Codes
Exkurs: Am Ribosom schleusen Halb-Edelsteine weitere Aminosäuren in Proteine ein
3.7 Was war vor der DNA? Die RNA-Welt-Hypothese … und was könnte danach kommen?
Exkurs: Which came first, pubs or canals?
4: Wie entsteht Ordnung aus dem Chaos?
4.1 Die dichteste Kugel-Packung und Self-Assembly-Systeme
4.2 Biologische Membranen – oder – teile und herrsche
4.3 Proteinfaltung und warum kleine Moleküle einen gewaltigen Unterschied machen
4.4 Vorsortierung von Molekülen – Metaboliten-Pools
5: Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie eigentlich nicht will?
5.1 Enzyme und Katalyse – Hexokinase und TIM als Parade-Beispiele von Enzymen
Exkurs: Herr Michaelis, Frau Menten und der Beginn der Enzymkinetik
5.2 Das Ribosom und andere Ribozyme
Exkurs: Das Ribosom ist gut für eine mündliche Prüfung
5.3 Cofaktoren für eine besondere Chemie
5.4 Die Biosynthese der Steroid-Hormone und die Sache mit dem Vitamin D – dreckige Enzyme ohne sonderliche Spezifität, aber mit Lichtblick
Exkurs: Wie transportiert man Steroide
5.5 Viel hilft viel – oder – das Massenwirkungsgesetz, TIM und abgegrenzte Reaktionsräume
5.6 ATP ist ein Molekül wie Dynamit – oder – energetische Kopplung mithilfe von Hoch-Energie-Molekülen
5.7 Koppeln an Gradienten, OxPhos-Kriege und Tricksen vom Feinsten
Exkurs: Dimere der mitochondrialen ATP-Synthase
6: Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen Prüfungsstoff zur modernen Metabolismus- Forschung
6.1 Das Londoner U-Bahn-Netz und verschiedene Ebenen der Emergenz
6.2 Ein Schnelldurchlauf durch Glycolyse, Fermentation, Glycogen und Gluconeogenese
6.3 Die Acetyl-CoA-Einbahnstraße mündet in den Zitratzyklus-Kreisverkehr und darüber schwebt die oxidative Phosphorylierung
6.4 Der Pentose-Phosphat-Pfad und die Abwehr von reaktiven Sauerstoff-Spezies
6.5 Fettsäuren verbrennen, aber auch mal selbst herstellen
6.6 Regulation von Stoffwechselwegen und Metabolit-Netzwerken
6.7 Wie könnte der zentrale Metabolismus entstanden sein?
7: Das einzige wirklich grüne Kapitel
7.1 Pump it, pump it – das Ernten von Photonen führt zum Pumpen von Elektronen
7.2 Es werde Luft – wie entreiße ich Wasser seine heiß geliebten Elektronen
7.3 Das wohl langsamste Enzym der Erde zieht den Kohlenstoff auf die dunkle Seite der Photosynthese
7.4 Pflanzen – Biosynthese-Weltmeister von sekundären Metaboliten und … von HOLZ
7.5 Gesunde und produktive Pflanzen in Zeiten des Klimawandels
8: Was Evolution wirklich ist …
8.1 Vom Überleben des am besten Angepassten
Exkurs: Wie Homo sapiens auf den Hund gekommen ist
8.2 Lamarckismus und Darwinismus müssen nicht im Gegensatz zueinanderstehen
8.3 Evolution ganz praktisch – Proteine optimieren durch Evolution
9: Wie liest (und schreibt) man wissenschaftliche Veröffentlichungen am besten?
9.1 Verschiedene wissenschaftliche Sprachen machen das Lesen schwer
9.2 Und wie sollte man jetzt ein Paper schreiben, damit es möglichst allgemeinverständlich ist und viel gelesen wird?
Exkurs: Von guten und schlechten Veröffentlichungen
9.3 Well, there is one last thing – Englisch als Wissenschaftssprache
Epilog: Mein Lebenslauf anhand meiner Lieblingsmoleküle
Glossar – von Anabolismus bis Zielmolekül
Stichwortverzeichnis
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Endlich Biochemie verstehen [1. ed.]
 3662661934, 9783662661932, 9783662661949

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Jonathan Wolf Mueller

Endlich Biochemie verstehen

Endlich Biochemie verstehen

Jonathan Wolf Mueller

Endlich Biochemie verstehen Mit einem Geleitwort von Werner E. G. Müller-Esterl

Jonathan Wolf Mueller Institute of Metabolism and Systems Research University of Birmingham Birmingham, UK

Geleitwort von  Werner E. G. Müller-Esterl Universität Frankfurt Frankfurt, Deutschland

ISBN 978-3-662-66193-2    ISBN 978-3-662-66194-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Sarah Koch Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Meinen Lehrern und meinen Studierenden.

Geleitwort Dies ist ein ungewöhnliches Buch, und so ist auch das Geleitwort. Jonathan Wolf Mueller hat nämlich mit diesem Werk den lobenswerten Versuch unternommen, die Grundlagen der Biochemie – einer relativ jungen Wissenschaft, die sich erst seit den 1950er-Jahren als eigenständiges Fach entfalten und seither mit spektakulärem Tempo bis hin zu den mRNA-Impfstoffen entwickeln konnte – in verständlichen Worten einer Alltagssprache zu erläutern. Und nicht nur das: Er hat mit zahl­ reichen Abbildungen Neuland betreten und jede chemische Formel mit einem Bild aus dem Alltag ergänzt. So entwickelt sich für den Leser eine spannende Tour durch die Welt der Moleküle, über die Höhen der damit verbundenen Regelwerke und die Tiefen der elementaren Prozesse, die sich – so sei hier angefügt – mit zunehmender Organisation, Differenzierung und Diversifizierung zu den Triebkräften der Evolution entwickelt haben. Bei all dem besticht das persönliche Engagement des Autors – manchmal erscheint es, als führe er Zwiegespräche mit den Grundbausteinen des Lebens: mit Zuckern, Fetten, Nucleinsäuren und Aminosäuren, aber auch mit Proteinen, Enzymen und DNA.  Erfrischend sind die vielen ­Metaphern, Entlehnungen und Analogien, mit denen er versucht, die Komplexität der behandelten Materie so einfach, anschaulich und verständlich wie möglich darzustellen. Und das ganze Potpourri ist gewürzt mit biografischen Anekdoten und trockenem britischem Humor, denn ebendort lebt und arbeitet der Autor. In Exkursen beleuchtet er die Hintergründe einzelner Phänomene und auf ­Bierdeckeln jongliert er virtuos mit verschiedenen Zahlen. So gelingt es ihm scheinbar ­mühelos, aus dem Stoff, der im biochemischen Unterricht mitunter etwas dröge daherkommt, ein Feuerwerk der guten Ideen und zündenden Einfälle zu machen. Er nimmt den Laien und auch den Vorgebildeten an die Hand, weist ihnen den Weg durch den fachlichen Dschungel, gibt Tipps und Winke und macht dabei Appetit auf ein vertieftes Studium dieses spannenden Fachs, der im besten Fall das Tor zu den „klassischen“ Lehrbüchern der Biochemie öffnet. In diesem Sinne kann ich dem geneigten Leser das Buch, das den Titel „Biochemie spielerisch verstehen“ wahrlich verdient hätte, nur mit Nachdruck empfehlen und Jon eine große Gemeinde von Followern wünschen. Werner E. G. Müller-Esterl

Frankfurt Sommer 2022

VII

Disclaimer (Haftungsausschluss) Für dieses Buch habe ich viele alte und neue Quellen recheriert und ausgewertet. Außerdem wurde der Text von mehreren Kollegen und Freunden korrekturgelesen. Trotzdem kann ich keine Garantie für die richtige Wiedergabe einzelner Fakten geben. Dieses Buch lebt von dem, was meine Lektorin „meinen persönlichen Stil“ nennt. Ich hoffe, dass Ihnen meine Art zu schreiben gefällt. Trotzdem kann es sein, dass dem einen Prüfer oder der anderen Prüferin diese Art der Biochemie-Erzählung so gar nicht zusagt. Darum bitte aufpassen, wenn Sie aus diesem Buch mit all seinen komischen Analogien und Vergleichen in einem Aufsatz oder einer Prüfung zitieren. Haftung für so erregte Ärgernisse oder gar Prüfungsdurchfall kann ich nicht übernehmen.

Vorwort Die Natur ist fabelhaft und der menschliche Körper ist faszinierend. Sehr leicht kann diese Faszination in einer herkömmlichen Grundvorlesung durch gähnende Langeweile im Keim erstickt werden, die durch unverständliche Abkürzungen und Fachbegriffe oder abstrakte Begrifflichkeiten und Formeln erzeugt wird. In diesem Buch versuche ich einen Drahtseilakt – ich gebe einen groben Überblick über verschiedene Bereiche der Biochemie, werde aber nicht allzu sehr ins Detail gehen. Dabei will ich jene Faszination bewahren, den Wow-Faktor des Lebens. Die Idee zu diesem Buch kommt von einer Schnuppervorlesung „Interested in the Biochemistry of Life?“, die ich seit 2014 in Birmingham für englische Abiturienten halte. Diese und ähnliche Veranstaltungen machen mir immer sehr viel Spaß. Dort kann ich präsentieren, was ich cool und aufregend an der Biochemie finde, ohne die Last eines bestimmten Lehrplans oder einer bevorstehenden Abschlussprüfung spüren zu müssen. Dafür erhalte ich dann auch noch so positive Kommentare wie:

»» „Nach Ihrer Veranstaltung ist es für mich klar, ich werde Lebenswissenschaften studieren.“

Pfiffige chemische Reaktionen bestimmen die Biochemie ebenso wie unglaublich ausgefeilte molekulare Maschinen. Der Aufbau und die dreidimensionale Struktur dieser Maschinen sind dieser Tage immer besser bekannt. Wir besprechen in diesem Buch ausgewählte Reaktionen und ein paar Merkmale der beteiligten Enzyme. Der Text wird durch viele Abbildungen begleitet. Chemische Strukturen zeige ich immer zusammen mit einem Foto als Merkhilfe. Kurze ergänzende Exkurse werden in Text-Boxen dargestellt. Und dann ist da noch die Sache mit den Bierdeckeln. Viele Studierende der Lebenswissenschaften oder der Medizin scheinen sich vor Zahlen zu scheuen. Dabei kann eine kleine Rechnung sehr viel zum Verständnis beitragen. Darum präsentiere ich ausgewählte Rechenbeispiele kurz und knapp auf Bierdeckeln. Die Bierdeckel verdeutlichen Verhältnismäßigkeiten, die sonst nicht immer ganz offensichtlich sind. Zusammengenommen möchte ich mit all diesen Elementen spielerisches und multimodales Lernen ermöglichen und fördern. Die Idee mit d ­ iesen Bierdeckeln stammt von gelegentlichen Kalkulationen und Skizzen auf gerade ihnen in gewissen Ausflugslokalen. Die Überschlagsrechnungen sind von Ron Milo inspiriert. Hier eine seiner neuesten Rechnungen, auf dem Bierdeckel Nummer I.

IX Vorwort

Bierdeckel I: Wie viele virale Partikel von SARS-CoV-2 gibt es auf der Welt? Die eigentliche Biologie durch möglichst realistische Überschlagsrechnungen anschaulich machen – das ist ein Ziel der Bierdeckel. Dabei sollen sie auch ein kleines bisschen die Angst vor Mathe nehmen. Tolle Rechnungen gibt es immer wieder beispielsweise von Ron Milo und seiner Arbeitsgruppe. 55 Sorgfältig zusammengetragene Literatur zur typischen Viren-Konzentration in verschiedenen Körperflüssigkeiten und -geweben ergibt zum Höhepunkt der Infektion etwa 109 bis 1011 einzelne virale Partikel pro Person 55 Jedes Corona-Virion wiegt etwa 1 Femtogramm oder 1 × 10−15 g 55 Alle Viren pro Person haben also eine Masse von 1 μg bis 100 μg 55 Die Welt-Gesundheitsorganisation WHO hat für die gesamte Pandemie etwa 760 Mio. Infektionen registriert 55 Alle Viren all dieser Menschen sollten also ein Gewicht von 0,76 kg bis 76 kg haben Alle viralen Partikel der gesamten Corona-Pandemie könnten theoretisch in einen Abfall-Eimer oder wenigstens eine Mülltonne passen. Wohl kaum einer hätte was dagegen. Hier mehr zu dieser Zahlenspielerei ➔ Sender et al. 2021. The total number and mass of SARS-CoV-2 virions. PNAS. 118(25): e2024815118. https://doi.org/10.1073/ pnas.2024815118 Die aktuellen Infektionszahlen von der WHO sind von hier ➔ https://covid19. who.int/ [gelesen am 10.03.2023; damals waren es genau 759.408.703 Infektionen]

Im Verlauf dieses Buchs werde ich immer wieder darauf eingehen, wie dieses oder jenes entstanden sein könnte. Immer wieder stelle ich Fragen nach dem Warum und versuche diese dann auch zu beantworten. Warum-Fragen sind schwierig in der Biologie. Kennen Sie den Spruch mit dem Becher, der Werner Heisenberg zugeschrieben wird? Wir wollen in diesem Buch nicht allzu tief in diesen Becher schauen. Die Evolution, die präbiotische Chemie (jene Chemie also, bevor es Leben gab) sowie Ansätze der synthetischen Chemie sollen uns hier auf die großen Fragen nach dem Warum aber wenigstens ein paar Antworten geben, frei nach dem Motto von Richard Feynman:

» „What I cannot create, I do not understand.“

Richard Feynman. Auf deutsch in etwa: „Was ich nicht selbst erschaffen kann, habe ich nicht verstanden.“ Zitiert nach ➔ Way M. 2017. What I cannot create, I do not understand. J Cell Sci. 130(18): 2941–2942. https://doi.org/10.1242/jcs.209791.

Ich möchte Ihnen zahlreiche Konzepte der Biochemie leicht verständlich – eventuell sogar unterhaltsam! – nahebringen. Das ist gar nicht so leicht, da man ja doch um das eine oder andere „schwierige“ Wort nicht drum herum kommt. Mein

X

Vorwort

Ansatz ist, dass ich Ihnen meine Version der Biochemie so persönlich wie nur möglich darbieten will – angereichert mit Anekdoten von anderen Forschern oder aus meinem eigenen Leben in England. Hier ein Beispiel für die vielen Analogien in diesem Buch im Exkurs „Genexpression und Eurovision“ Das Genom ist so etwas wie das gedruckte Heftchen mit der Partitur eines Musikstücks. Allein mit diesem Heft passiert erstmal gar nichts. RNA- und Protein-­Maschinerie (Transkriptom und Proteom) sind wie Musiker und Musikinstrumente, die das Ganze in ihrer Weise interpretieren. Der Klang des Ganzen ist schließlich das Metabolom oder der Phänotyp. Ein Beispiel innerhalb der Analogie: Der Song „Satellite“ wurde 2007 von Julie Frost und John Gordon geschrieben. Die Leute nahmen kaum Notiz von diesen Noten. Erst die musikalische Interpretation von Stefan Raab und die spektakuläre Vorstellung von Lena Mayer-Landrut am 29. Mai 2010 in Oslo machten daraus einen Eurovision-Siegersong. Deutschland gewann den Eurovision Song Contest; zum zweiten Mal überhaupt in der Geschichte dieses Wettbewerbs. Gleichzeitig möchte ich Ihnen auch vermitteln, dass Wissenschaft nie stillsteht. Alles fließt. Die Dogmen von gestern stehen permanent auf dem Prüfstand der Forschung von heute und von morgen. Manche unserer Hypothesen und Überzeugungen werden dann auch irgendwann über den Haufen geworfen und durch neue Regeln ersetzt. Wohlgemerkt, manche. Ich beschließe das Buch mit einem Kapitel über das Lesen und Schreiben von wissenschaftlicher Literatur. Hoffentlich hilft’s, bei der Navigation durch den Urwald wissenschaftlicher Publikationen. ??Schließlich bin ich sehr an Ihrer Meinung interessiert und spreche Sie an einigen Stellen direkt an. Wenn Sie zum Beispiel das Wettrennen um die Aufklärung der DNA-Struktur spannend fanden, über welche anderen wissenschaftlichen Wett­ rennen würden Sie hier wohl gerne mehr erfahren? Ich freue mich, von Ihnen zu lesen.

Und dann sind da noch die K-Sätze, die die allermeisten Kapitel abschließen.

XI

Danksagung Viele, viele Quellen habe ich für dieses Buch kontaktiert. Nur einige davon waren die klassischen Lehrbücher. So einige aktuelle Forschungsarbeiten haben Kollegen von mir in sozialen Netzwerken geteilt, man könnte auch sagen „getwittert“. Gewiss haben meine Beiträge zum JournalClub der Zeitschrift BioSpektrum dieses Buch mitgeprägt. Oh, und dann ist da noch Wikipedia, der McDonald’s der Wissenskommunikation. Jeder Student und jede Dozentin benutzen Wikipedia, wir alle tun aber so, als sei es eine unseriöse Quelle. Vielleicht etwas, über das wir mal etwas ausführlicher diskutieren sollten. Ohne Wikipedia hätte ich jedenfalls nicht so schnell und detailliert unterschiedliche Wissensgebiete der Biochemie aufgefrischt oder gar einen neuen Zugang zu manchen Themen erlangt. Ich bedanke mich für den fachlichen Input von verschiedensten Kollegen. Namentlich erwähnt seien hier Dr. Martin Reich, Prof. Dr. Karin Busch und Dr. Neville „Nev“ Gilhooly. Dieses Buch konzentriert sich zu einem großen Teil auf menschlich und medizinisch relevante Biochemie. Prof. Dr. Stanislav Kopriva möchte ich herzlich dafür danken, dass ich mittlerweile nur noch eingeschränkt an der wissenschaftlichen Rot-Grün-Blindheit leide. Letztere macht, dass wichtige Forschungsergebnisse aus der Pflanzenwelt von biomedizinisch Forschenden immer wieder kaum oder gar nicht wahrgenommen werden. Zusammen mit meiner Lektorin Dr. Sarah Koch wurde das Konzept für dieses Buch entwickelt und ohne meine Projektmanagerinnen Carola Lerch und Dr. Meike Barth wohl auch nicht umgesetzt. Viele Abbildungen stammen aus meinem eigenen Bildarchiv, manche auch von Verwandten und Freunden. Herzlicher Dank gilt meinem Neffen dafür, dass er mich mit seinem Playmobil „spielen“ ließ. Ganz besonders bedanke ich mich bei Angus Davison, Richard Wheeler und dem Archiv der Max-Planck-Gesellschaft für die freundliche Bereitstellung von ein paar außergewöhnlichen Abbildungen. Verschiedene Versionen dieses Buchs wurden von meinen Kollegen und ­Freunden Dr. Konstantinos Manolopoulos, Dr. Julia Ast, Dr. Panagiotis „Dimi“ Papa­theodorou, Hanna Altwein und Oliver Schmitz korrekturgelesen. Dr. ­Christian Ludwig gebührt der Dank fürs Korrekturrechnen aller Bierdeckel. Herzlichen Dank meinen Test-Lesern vom Amplonius-Gymnasium Rheinberg und vom Stadtfeld-Gymnasium Wernigerode. Schließlich noch ein großes Dankeschön an Prof. Dr. Werner Müller-Esterl für seine Bereitschaft, das Geleitwort zu schreiben. z Zum Weiterlesen

Wikipedia formt die Wissenschaftswahrnehmung in einem ungeahnten Ausmaß ➔ Thompson & Hanley. 2018. Science Is Shaped by Wikipedia: Evidence From a Randomized Control Trial. MIT Sloan Research Paper. 5238–17. https://doi. org/10.2139/ssrn.3039505.

XIII

Inhaltsverzeichnis 1

Spielregeln.....................................................................................................................................1

1.1 1.2 1.3

 Andere kochen auch nur mit Wasser.........................................................................................2 Süßes oder Saures – pH-Wert und Puffersysteme.................................................................5 Die Klimaanlage funktioniert nur bei geschlossenem Fenster – oder – der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik und andere Regeln........................ 10 Können sich Naturgesetze ändern?...........................................................................................13 Mit Oxidationszahlen und etwas Stereochemie können wir die Biochemie des Lebens deutlich besser verstehen................................................................ 18 Was ist Chiralität?.............................................................................................................................21

1.4 1.5 1.6 2

Der LEGO-­Baukasten des Lebens....................................................................................23

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7

 Zucker und was wir dafür halten................................................................................................26 Aminosäuren, Peptide und Proteine.........................................................................................32 Fette, Öle und gute Butter.............................................................................................................38 Nucleinsäuren...................................................................................................................................42 Isoprenoide, Steroide und sekundäre Naturstoffe...............................................................47 Ein Ausflug in die präbiotische Chemie....................................................................................50 Wie Chiralität in der Biochemie entstanden sein könnte...................................................53

3

DNA oder das Buch des Lebens........................................................................................59

3.1 3.2

 Struktur der DNA erklärt ihre Funktion............................................................................60 Die DNA ist riesig und chemisch sehr stabil, die ideale Bauanleitung des Lebens.............................................................................................................. 61 Besondere DNA-Strukturen..........................................................................................................63 Wellness für unsere DNA – Gen-Scheren und Pflegespülung...........................................68 Der universelle Code – das Alphabet des Lebens.................................................................71 Von Code-Varianten und anderen biologischen Codes......................................................75 Was war vor der DNA? Die RNA-Welt-Hypothese … und was könnte danach kommen?..................................................................................................... 78

3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

4

Wie entsteht Ordnung aus dem Chaos?......................................................................81

4.1 4.2 4.3

 dichteste Kugel-Packung und Self-Assembly-Systeme...............................................82 Die Biologische Membranen – oder – teile und herrsche..........................................................84 Proteinfaltung und warum kleine Moleküle einen gewaltigen Unterschied machen....................................................................................................................... 87 Vorsortierung von Molekülen – Metaboliten-Pools.............................................................91

4.4

XIV

Inhaltsverzeichnis

5

 ie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, W auch dann, wenn sie eigentlich nicht will?...............................................................93

5.1

 Enzyme und Katalyse – Hexokinase und TIM als Parade-Beispiele von Enzymen............................................................................................. 96 Das Ribosom und andere Ribozyme..........................................................................................99 Cofaktoren für eine besondere Chemie...................................................................................101 Die Biosynthese der Steroid-Hormone und die Sache mit dem Vitamin D – dreckige Enzyme ohne sonderliche Spezifität, aber mit Lichtblick......................... 105 Viel hilft viel – oder – das Massenwirkungsgesetz, TIM und abgegrenzte Reaktionsräume................................................................................................................................ 110 ATP ist ein Molekül wie Dynamit – oder – energetische Kopplung mithilfe von Hoch-Energie-Molekülen..................................................................................... 114 Koppeln an Gradienten, OxPhos-Kriege und Tricksen vom Feinsten.............................117

5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 6

 ie Renaissance des Stoffwech­sels – vom trockenen D Prüfungsstoff zur modernen Metabolismus-Forschung.................................123

6.1 6.2

6.5 6.6 6.7

 Das Londoner U-Bahn-Netz und verschiedene Ebenen der Emergenz.........................127 Ein Schnelldurchlauf durch Glycolyse, Fermentation, Glycogen und Gluconeogenese...................................................................................................................... 129 Die Acetyl-CoA-Einbahnstraße mündet in den Zitratzyklus-Kreisverkehr und darüber schwebt die oxidative Phosphorylierung...................................................... 134 Der Pentose-Phosphat-Pfad und die Abwehr von reaktiven Sauerstoff-Spezies........................................................................................................................... 136 Fettsäuren verbrennen, aber auch mal selbst herstellen...................................................137 Regulation von Stoffwechselwegen und Metabolit-­Netzwerken...................................139 Wie könnte der zentrale Metabolismus entstanden sein?.................................................141

7

Das einzige wirklich grüne Kapitel................................................................................143

7.1

Pump it, pump it – das Ernten von Photonen führt zum Pumpen von Elektronen.................................................................................................................................. 146 Es werde Luft – wie entreiße ich Wasser seine heiß geliebten Elektronen.......................................................................................................................................... 147 Das wohl langsamste Enzym der Erde zieht den Kohlenstoff auf die dunkle Seite der Photosynthese................................................................................................. 148 Pflanzen – Biosynthese-Weltmeister von sekundären Metaboliten und … von HOLZ.............................................................................................................................. 150 Gesunde und produktive Pflanzen in Zeiten des Klimawandels.....................................152

6.3 6.4

7.2 7.3 7.4 7.5 8

Was Evolution wirklich ist …..............................................................................................155

8.1 8.2

 Vom Überleben des am besten Angepassten........................................................................157 Lamarckismus und Darwinismus müssen nicht im Gegensatz zueinanderstehen...................................................................................................... 160 Evolution ganz praktisch – Proteine optimieren durch Evolution..................................162

8.3

XV Inhaltsverzeichnis

9

 ie liest (und schreibt) man wissenschaftliche W Veröffent­lichungen am besten?.......................................................................................165

9.1 9.2

 Verschiedene wissenschaftliche Sprachen machen das Lesen schwer.........................166 Und wie sollte man jetzt ein Paper schreiben, damit es möglichst allgemeinverständlich ist und viel gelesen wird?................................................................. 169 Well, there is one last thing – Englisch als Wissenschaftssprache.....................................171

9.3

Anhang E pilog: Mein Lebenslauf anhand meiner Lieblingsmoleküle.............................................176 Glossar – von Anabolismus bis Zielmolekül.............................................................................178 Stichwortverzeichnis.......................................................................................................................187

1

Spielregeln Inhaltsverzeichnis 1.1

 ndere kochen auch nur mit A Wasser – 2

1.2

 üßes oder Saures – pH-Wert S und Puffersysteme – 5

1.3

 ie Klimaanlage funktioniert D nur bei geschlossenem Fenster – oder – der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik und andere Regeln – 10

1.4

 önnen sich Naturgesetze K ändern? – 13

1.5

 it Oxidationszahlen und etwas M Stereochemie können wir die Biochemie des Lebens deutlich besser verstehen – 18

1.6

Was ist Chiralität? – 21

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 J. W. Mueller, Endlich Biochemie verstehen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9_1

1

2

1

Kapitel 1 · Spielregeln

Spielregeln müssen sein. Ohne sie herrscht Chaos. Spannend ist es immer wieder, wie verschiedene biochemische Prozesse diese Regeln bis aufs Äußerste strapazieren, sie regelrecht austricksen  – im Steuerrecht würde man von „Gestaltungsmissbrauch“ sprechen. Nahezu philosophisch ist es zu fragen, wie es denn wäre, wenn diese Regeln anders wären. Ein solches Szenario könnten wir eventuell in Computersimulationen testen. Die generellen Bedingungen „wären auf einmal“ wie auf einem anderen Planeten oder bei einem besonderen Bakterium aus einem sehr exotischen Milieu – seien es viel Salz, ätzende Lauge oder die tiefsten Tiefen der Weltmeere. 1.1 

Andere kochen auch nur mit Wasser

In den Naturwissenschaften fangen Grundvorlesungen meist mit Wasser an (. Abb. 1.1). Ich fand das damals langweilig. Jetzt fange ich auch mit Wasser an, und zwar, weil Wasser eine Reihe von Eigenschaften hat, die es einzigartig machen. Wasser ist ein Rekordmolekül. Im Vergleich zu allen Wasserstoffverbindungen mit Elementen, die im Periodensystem rund um Sauerstoff zu finden sind (CH4, NH3, HF und H2S), bricht H2O so einige Rekorde: 55 Wasser hat eine extrem hohe Wärmekapazität. 55 Die Schmelz- und Siedepunkte von Wasser sind sehr hoch. 55 Extrem hohe Phasenübergangsenthalpien sind mit Schmelzen und Verdampfen verbunden. 55 Wasser ist Rekordhalter bei der Dielektrizitätskonstante. 55 Wegen unendlich vieler Wasserstoffbrückenbindungen hat Wasser eine hohe Oberflächenspannung. 55 Schließlich kann Wasser in zwei verschiedene Ionen zerfallen und bildet somit die Grundlage für Säure-Base-Reaktionen und Puffersysteme.  

..      Abb.  1.1  Wasser ist einfach toll. Wasser ist Spitzenreiter in so einigen Stoffeigenschaften. Im Bild zu sehen sind Eis aus dem Gartenteich, Wassertropfen auf einem Glasdach und Wasserdampf über einem Topf Nudeln. Mehr zu Wasser und all seinen großartigen Eigenschaften im Haupttext. [Bildnachweis: Eis, JWM 2021; Wassertropfen, JWM 2020; Dampf, JWM 2006]

3 1.1 · Andere kochen auch nur mit Wasser

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Nicht unbedingt rekordverdächtig, sondern eher ein bisschen schräg, ist die merkwürdige Dichte-Anomalie des Wassers. Auch beim Thema Wärmeleitfähigkeit ist Wasser eventuell ein bisschen „schmal“ aufgestellt. Ansonsten ist Wasser einfach super und bildet die Grundlage des Lebens, so wie wir es kennen. Im Folgenden besprechen wir kurz einige dieser Punkte. Wasser hat eine enorme Wärmekapazität, es sind also große Energiebeträge nötig, um Wasser zu erhitzen; diese Energien werden aber auch wieder frei, wenn Wasser abkühlt. Diese Besonderheit hat dazu geführt, dass Wärmemengen durch Wasser definiert wurden: Eine Kalorie – 1 cal – ist die Wärmemenge, die 1 g Wasser um 1  °C erwärmen kann. Geradezu absurd hohe Energiebeträge sind bei den Phasenübergängen von Wasser im Spiel – wenn Eis schmilzt oder Wasser gefriert, genauso, wie wenn Wasser verdampft oder Wasserdampf kondensiert. Eben deshalb bleibt Ihr Gin&Tonic mit ein paar Eiswürfeln drin so lange so schön kalt. Ein Aluminiumklotz dehnt sich bei Wärme aus und zieht sich bei Kälte ­zusammen – ganz so wie sich die meisten Sachen in der Biologie verhalten. Wasser verhält sich aber nicht so. Wenn Wasser abkühlt, zieht es sich erstmal zusammen. Bei 4 °C erreicht Wasser seine größte Dichte, dehnt sich bei geringeren Temperaturen aber wieder aus. Wasser macht das so, da es nicht anders kann. Bei niedrigen Temperaturen bilden sich mehr und mehr regelmäßige Wasserstoffbrücken aus und die brauchen Platz. Eis ist etwa 10 % leichter als kaltes Wasser und schwimmt deshalb. Sehr praktisch für die Arktis, wo riesige Eismassen auf dem Wasser schwimmen  – oder auch schwammen (je nachdem, wann Sie diesen Text lesen). Auch praktisch für größere Seen, in deren Tiefen ganzjährig 4 °C herrschen, sodass Fische dort überwintern können. Diese im wahrsten Sinne „coole“ Eigenschaft des Wassers wird auch als Dichte-Anomalie bezeichnet. Schließlich hat Wasser eine riesige Dielektrizitätskonstante, soll heißen, dass Wasser entgegengesetzte Ladungen sehr gut voneinander abschirmen kann. Somit ist Wasser ein ideales Lösungsmittel für polare Substanzen; zum Beispiel können locker 300 g Kochsalz in 1 l Wasser gelöst werden (bei 358 g Salz liegt bei Raumtemperatur wohl die Obergrenze). Zellen beherbergen ebenfalls bis zu 300 g verschiedener Biopolymere pro Liter. Auch diese hohe Dichte der verschiedenen Biomoleküle wird erst durch das besondere Lösungsmittel Wasser ermöglicht. Wasser kann sich in zwei Ionen aufspalten. Eines ist das Hydroxyl-Ion (OH−), das andere ist ein Proton. Was ist eigentlich ein Proton? Von einem größeren Molekül spaltet sich ein positiv geladener Teil eines Wassermoleküls ab, die negative Ladung bleibt am anderen Molekül zurück. Physiker nennen dieses positive Teilchen Proton; es ist eigentlich ein Kernteilchen und nicht mehr irgendwas, was einem Atom ähnlich ist. Das winzige Ding zeigt Eigenschaften aus der Quantenwelt. Ein Proton kann bei einer chemischen Reaktion schon einmal durch einen Energie-Berg hindurchtunneln. Abgefahren, oder? Auch chemisch kann H+ – das Proton – Kunststücke vollbringen. So ein Proton ist nicht gerne allein. Solange es von Wasser umgeben ist, existiert es faktisch nur als das Wasser-Addukt H3O+, das Hydronium-Ion, oder in noch größeren Clustern, also H9O4+ und mehr. Innerhalb von Wasser kann ein Proton wild hin und her springen (. Abb. 1.2), da das Spalten und erneute Knüpfen von Bindungen zwischen Wassermolekülen energetisch gleichwertig sind. Die Diffusionsgeschwindig 

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Kapitel 1 · Spielregeln

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..      Abb.  1.2  Protonen-Hopsen. Nach dem Mechanismus von Grotthuss „bewegen” sich Protonen, als ob sie bei Hase und Igel seien. Man könnte auch an Schrödingers Katze denken. Ja, wo ist sie denn? Dieses Verhalten macht biochemische Reaktionen, bei denen ein Proton eine Rolle spielt, entweder erst möglich oder aber wahnsinnig schnell. Samuel Cukierman behandelt sehr schön die Geschichte vom deutsch-stämmigen Litauer Theodor Grotthuss und seiner Theorie der Elektronenwanderung ➔ Cukierman S. 2006. Et tu, Grotthuss! and other unfinished stories. Biochim Biophys Acta. 1757(8):876–85. https://doi.org/10.1016/j.bbabio.2005.12.001. [Abbildungsnachweis: beide Igel, © Steve Young, stock.adobe.com; Hasen, JWM, 2022]

keit eines Protons wird dadurch rasant in die Höhe getrieben. Sind Sie vielleicht nachdenklich geworden, was so ein Proton wirklich ist? Man kann es nicht fangen und nicht isolieren… Kapazität: Wasser kann enorme Mengen an Wärme aufnehmen und wieder abgeben. Wegen der Dichte-Anomalie frieren tiefe Seen nie bis zum Grund zu, sodass Leben überwintern kann. Wasser ist ein fantastisches Lösungsmittel für große Mengen an polaren Salzen und Biomolekülen. Und schließlich kann es in Hydroxyl-Ionen und Protonen zerfallen. Was für ein tolles Zeug. Gäbe es Wasser nicht, man müsste es erfinden. Apropos Protonen, gepuffert wird im nächsten Kapitel … z Navigation

Oft werden Eisberge falsch dargestellt. Neun von zehn Teilen davon sind unter dem Wasserspiegel. Hier ist ein Online-Tool zum Üben. Zeichnen Sie einen Eisberg und schauen Sie, wie er schwimmt und ob er sich dreht ➔ 7 https://joshdata.­me/ iceberger.­html [am 03.06.2022 angeschaut].  

5 1.2 · Süßes oder Saures – pH-Wert und Puffersysteme

1.2 

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Süßes oder Saures – pH-Wert und Puffersysteme

Was auch immer diese kleinen, süßen Protonen auch sein mögen, man kann ihre Menge in wässriger Lösung  – ihre Konzentration  – sehr genau messen. Konzentrationsunterschiede von Protonen zwischen Messzelle und einer Referenzelektrode verursachen nämlich einen elektrischen Spannungsunterschied, der nach Kalibrierung in den pH-Wert umgerechnet werden kann. Der pH-Wert gibt die Konzentration von Protonen an. Traditionell wurde der pH-Wert, also der Säuregrad einer wässrigen Lösung, mit Farb-Indikatoren bestimmt. Das sind farbige, organische Substanzen, die bei einem bestimmten pH-Wert einen Farbumschwung zeigen. Ich finde ja, dass einfacher Rotkohl-Saft der beste Farb-Indikator der Welt ist (siehe Exkurs „Der beste pH-Indikator der Welt“). Mehr über Protonen-­Gefälle gibt es in 7 Abschn. 5.7 zur F1FO-ATPase zu lesen.  

Exkurs: Der beste pH-Indikator der Welt

Manche von uns haben schon einmal einen pH-Indikator-Streifen in ein paar Flüssigkeiten gehalten und dabei den Farbumschlag angeschaut. Heutzutage sehen diese pH-Streifen kompliziert aus  – auf einem Plastik-Streifen sind mehrere Farbfelder angebracht, die ganz verschieden auf unterschiedliche pH-Werte reagieren. Ein viel einfacherer pH-Indikator ist Rotkohl-Saft. Ein welkes Außenblatt von einem Kohlkopf ist im lokalen Supermarkt ganzjährig verfügbar, vielleicht sogar kostenfrei. Der Volksmund weiß bereits, dass Rotkraut seine Farbe ändern kann. So ist dieses Gemüse eher im norddeutschen Raum als „Rotkraut“ bekannt; im Süden sagt man stattdessen „Blaukraut“. Das ist nicht nur eine Frage der Geografie, sondern auch des Säuregehalts. Die im Kohl enthaltenen Anthocyane sind pflanzliche Farbstoffe, die sich prächtig in ihrer Farbe ver-

ändern, wenn es sauer oder alkalisch wird. Während Brautkleid Brautkleid bleibt, bleibt Blaukraut eben nicht Blaukraut. Blaukraut wird zu Rotkraut, wenn man ordentlich Essig oder Zitronensaft dazugibt, wegen der enthaltenen Farbstoffe, den Anthocyanen. Weniger bekannt sind die Farbumschläge dieser Anthocyane in alkalischen Laugen. Die Exkurs-Abbildung zeigt die Struktur des Anthocyans Cyanidin bei einem pHWert von etwa 6–7. Die Farbe des Cyanidins verändert sich über die gesamte pH-Skala. Da wird mächtig herumtitriert, Protonen wandern hin und her. Im Alkalischen wird dann auch noch der Ring mit dem Sauerstoff geöffnet. Für Chemie-Experimente geeignet, in der Küche aber eher nicht zu empfehlen: Basisch zu grünem Mus titriertes Kraut schmeckt nicht. Glauben Sie es mir.

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Kapitel 1 · Spielregeln

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[Bildnachweis: Rotkohl, © Olha stock.adobe.com; Rotkohl-pH-Wert-Skala, JWM, 2022]

Viele Biomoleküle beeinflussen den pH-Wert dadurch, dass sie sowohl Säure- als auch Base-Eigenschaften haben und somit eventuelle Änderungen des pH-­Werts mildern können – wir sprechen von biologischen Puffern. Sie alle tragen dazu bei, dass biologische Systeme oft einen sehr fein geregelten und stabilisierten pH-Wert haben. Der pH-Wert von menschlichem Blut liegt bei konstant 7,40. Sollte er auch nur unter 7,35 fallen, so würde dies von Medizinerinnen oder klinischen Chemikern schon als Azidose oder Übersäuerung bezeichnet werden. Meistens würden Sie im biochemischen Labor recht ungewöhnlich klingende Puffer-­Substanzen wie Tris oder MOPS verwenden. Zu deren Entstehungsgeschichte gibt es den Exkurs Good old times oder warum es die heutige Molekularbiologie überhaupt gibt. Exkurs: „Good old times“ oder warum es die heutige Molekularbiologie überhaupt gibt

In der frühen Biochemie wurde praktisch immer und ständig Phosphat-gepufferte Salzlösung (PBS) verwendet. Heute benutzen wir PBS eigentlich nur noch in der Kultur von Säugetier-Zellen. Stattdessen kommen Puffer zum Einsatz mit so merkwürdigen Namen wie MES, HEPES, Tris oder MOPS (bitte zum Thema MOPS auch die Exkurs-Abbildung beachten). Diese und ein paar weitere Puffersubstanzen sind auch als Good-Puffer bekannt. Nicht etwa, weil sie „gut“ puffern, sondern weil sie Norman Good in den

1970er- und 1980er-Jahren synthetisiert und als Puffersubstanzen charakterisiert hat. Good-Puffer enthalten zwei- oder dreiwertige Amine und andere protonierbare Gruppen, deren pKA-Werte allesamt zwischen pH 6 und 8 liegen. Good-Puffer puffern ungefähr im gleichen pH-Bereich wie Phosphat-Puffer, aber eben OHNE Phosphat. Warum ist das wichtig? Wer es etwas dramatisch möchte: Ohne die Good-­ Puffer gäbe es die moderne Molekularbiologie nicht. Ziemlich blöd an Phos-

7 1.2 · Süßes oder Saures – pH-Wert und Puffersysteme

phat-Lösungen ist nämlich, dass darin die zweiwertigen Kationen Mg2+ und Ca2+ quasi unlöslich sind, da sowohl Magnesium- als auch Calcium-Phosphat sehr schwer lösliche Salze sind (na ja, dieser Umstand wiederum ist schon praktisch für unsere Knochen, die hauptsächlich aus verschiedenen Calcium-Phosphaten bestehen). Niemals wäre in PBS eine Polymerase-Kettenreaktion (PCR) gelungen. In den ersten Mixturen von Kary Mullis waren 10 mM freie Magnesium-Ionen zugegen. Heute laufen PCRs in Puffern mit 0,5–4 mM freien Mg2+-Ionen.

Von MOPS und Möpsen. Die Puffersubstanz MOPS (3-[N-Morpholino]Propan-­ Sulfonsäure) ist einer der am häufigsten verwendeten Good-Puffer. Der pKA-Wert des Ring-Stickstoffs beträgt etwa 7,20  – ideal für die biochemische Forschung. Loriot’s Möpse  – seine Waldmöpse, um genau zu sein – sind absolute Klassiker. Loriot zu Ehren zieren Waldmöpse das Straßenbild seiner Geburtsstadt Brandenburg an der Havel. Zurück zum Labor: Loriot-kennende Biochemiker könnten sagen  – „Ein Leben ohne MOPS(-Puffer) ist möglich, aber sinnlos.”

[Foto: Waldmops in Brandenburg an der Havel, Thomas Müller, 2020, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung]

Zum Weiterlesen: Ein wunderbarer Überblicksartikel über Good und seine Puffer ➔ Pielak GJ. 2021. Buffers, Especially the Good Kind. Biochemistry. 60(46): 3436–3440. https://doi. org/10.1021/acs.biochem.1c00200.

Loriot ist frei zitiert nach seinem Buch „Sehr verehrte Damen und Herren…“ (Diogenes Verlag, Zürich, 2005).

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Kapitel 1 · Spielregeln

Das Leben lässt sich im Allgemeinen schwer bis gar nicht vorhersagen. Für das Verhalten einer verdünnten Pufferlösung wäre es aber schon nett, wenn man ihr Verhalten zumindest annährend quantitativ beschreiben könnte. Also schrieb Lawrence Joseph Henderson 1908 eine Gleichung aufs Papier, mit der man den pH-­Wert einer Pufferlösung berechnen kann. Knapp zehn Jahre später, 1917, kam dann Karl Albert Hasselbalch des Wegs und logarithmierte diese Gleichung – die Henderson-Hasselbalch-Gleichung war geboren. Warum es ausgerechnet diese Gleichung danach in zahlreiche Lehrbücher geschafft hat, bleibt bis heute unklar. pH = pK A + log10

( )

c A−

c ( HA )

oder aber auch pH = pK A − log10

c ( HA )

( )

c A−

Zugegeben, auf den ersten Blick sieht die Henderson-Hasselbalch-Gleichung für viele Studierende etwas abschreckend aus – sowohl wegen ihres langen Namens als auch durch ihr „mathematisches“ Daherkommen. Trotzdem beschreibt sie bei mittleren pH-Werten ziemlich genau das, was bei einer experimentellen Titration zu beobachten ist. Die logarithmische Form ist notwendig, da die pH-Skala logarithmisch ist. Bierdeckel II beschreibt die zwei Dinge, die hier gelernt werden können. Bierdeckel II: Was kann die Henderson-Hasselbalch-Gleichung für mich tun? Zwei miteinander verwandte biochemische Dinge kann man hier lernen: (1) wie Puffer quantitativ funktionieren und (2) was der pKA-Wert über eine funktionelle Gruppe aussagt. Lassen Sie uns jetzt über den Teil „log10 [Säure]/[Säure-Rest]“ reden (Säure ist hier immer mit „A“ nach dem englischen acid abgekürzt). 55 Wenn Säure und Säure-Rest 100:1 vorliegen, dann ist der pH = pKA − 2 55 Bei 10:1, ist der pH = pKA − 1 55 Bei 1:1, ist der pH = pKA 55 Bei 1:10, ist der pH = pKA + 1 55 Bei 1:100, ist der pH = pKA + 2 Diese Gleichung ist fantastisch geeignet, um Puffer mit pKA-Werten zwischen 5 und 9 zu beschreiben. Darüber oder darunter wird sie aber zunehmend zu einer groben Näherung. Genau hier kann man auch die logarithmische Darstellung lobend hervorheben. Aus so unbequemen Termen wie 100-zu-1 oder andersherum wird so etwas putziges wie „+ 2“ oder „− 2“. Mit der Henderson-Hasselbalch-Gleichung kann man in diesem Bereich quantitativ verstehen, wie Puffer funktionieren: Am pKA-Wert puffert eine Puffersubstanz am stärksten; vielleicht auch noch eine oder zwei pH-Einheiten darüber oder darunter. Bei pH-Werten in biologischen Kompartimenten puffern nur die funktionellen Gruppen mit, deren pKA nah am lokalen pH-Wert sind – alles was zwei oder gar drei pH-Einheiten entfernt ist, kann als dauerhaft geladen oder ungeladen angenommen werden. Praktisch heißt das, dass in Proteinen in den allermeisten Fällen Histidin und Cystein biologisch interessante Puffer sind. Damit Glutamat, Aspartat, Lysin

9 1.2 · Süßes oder Saures – pH-Wert und Puffersysteme

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und Arginin hier puffernd aktiv werden, bedarf es schon einiger biochemischer Trickserei, die aber gerne in aktiven Zentren von Enzymen oder besonderen Zell-­Organellen stattfindet. Hier noch etwas mehr Hintergrund zur H-H-Gleichung ➔ Po and Senozan. 2001. The Henderson-Hasselbalch equation: its history and limitations. Journal of Chemical Education. 78(11):1499–1503. https://doi.org/10.1021/ed078p1499.

Was macht man mit der Henderson-Hasselbalch-Gleichung? Ich musste sie als Abiturient auswendig lernen. Mittlerweile präsentiere ich sie Studierenden der Medizin und der Lebenswissenschaften. Schick finde ich schon, dass manche Leute diese Gleichung direkt vom Massenwirkungsgesetz ableiten können. Noch viel schicker finde ich, dass ein bisschen Nachdenken über eben diese Gleichung den Labor-Alltag am pH-Meter wirklich erleichtert. Wenn Sie mal selbst einen Puffer im Labor ansetzen: Stellen Sie den mal so fein ein, wie unser Blut – das ist gar nicht so leicht. Man verhaut sich beim Titrieren viel weniger, wenn man den pK-Wert seines Puffers kennt, versprochen! Hierzu gibt es noch einen kleinen Exkurs „Aufregung am pH-Meter“. Auch kann man besser die pKA-Werte von funktionellen Gruppen größerer Biomoleküle beurteilen – welche Gruppe davon „spielt mit“ beim katalytischen Geschehen, welche bleibt stoisch in ihrem Ladungszustand? ??Was war denn Ihre bislang bemerkenswerteste pH-Titration? Schreiben Sie mir, egal ob sie aufregend oder eher peinlich war.

Exkurs: Aufregung am pH-Meter

Wer kennt es nicht. Man steht am pH-Meter, gleich ist Mittagspause oder Feierabend, man gibt mehr und mehr Säure oder Base dazu und es passiert … fast nichts. Also steigere ich das Volumen von Säure oder Base pro Titrationsschritt … und auf einmal liege ich mit dem pH-Wert total daneben – weit drüber oder weit drunter. Also ist Rücktitrieren angesagt, Mittagspause oder Feierabend rücken in weite Ferne. Wer für seinen Puffer den Säureoder Base-Wert (liebevoll pKA- oder pKB-Wert genannt) kennt und auch noch die Henderson-Hasselbalch-Gleichung pragmatisch versteht, verhaut sich seltener am pH-Meter. Wirklich. Deutlich seltener. Dazu gehört auch das

Ansetzen einer EDTA-Lösung: Die freie Säure EDTA ergibt mit Wasser gemischt anfangs einen fiesen, milchigen Schleim. Erst beim Titrieren mit einer Base wird die Lösung klar. Ganz plötzlich. Wohl meine spannendste pH-Titration war jene von zwei kleinen Faltungshelfer-­Proteinen – liebevoll Pin1 und Par14 genannt. In einer sehr hoch aufgelösten Kristallstruktur konnten wir einzelne Wasserstoff-Atome sehen (rote Gitter in der Exkurs-Abbildung). Mittels Kernspin-Resonanz-Spektroskopie (NMR) schauten wir genau auf einzelne Histidin-Seitenketten. Erstaunlicherweise änderte sich der lokale pKA-Wert dann noch bei der Zugabe eines Substrats. Aufregend.

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Kapitel 1 · Spielregeln

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Ende gut, alles gut. Meine mühevoll durchgeführten Titrationen sind irgendwann dann doch veröffentlicht worden ➔ Mueller et al. 2011. Crystallographic proof for an extended hydrogen-bonding network in small prolyl isomerases.

J Am Chem Soc. 133(50): 20096-9. https://doi.org/10.1021/ja2086195. [Bildnachweis: Modifizierte Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Mueller et al., J Am Chem Soc. 2011; 133(50): 200969. © 2011 American Chemical Society]

Kleinkariert: Lokaler pH-Wert und lokaler pKA-Wert  – vieles hängt von der Umgebung ab. Fast in Richtung Magie geht es, wenn in einer winzigen Ecke der Zelle auf einmal ein anderer pH-Wert herrscht als in der Umgebung. Oder wenn sich die SäureBase-Eigenschaften eines katalytischen Aminosäure-Rests gravierend ändern, weil die entsprechende Seitenkette von benachbarten Aminosäuren beeinflusst wird. Ansonsten aber genug von Puffern. Gleich geht es darum, was die Welt wirklich antreibt.

1.3 

 ie Klimaanlage funktioniert nur bei geschlossenem D Fenster – oder – der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik und andere Regeln

Das Leben kann vieles bewegen. Ein merkwürdiges Grundprinzip ist dabei der vielleicht komisch klingende Satz: Um ins Gleichgewicht zu gelangen, muss man weit, weit ab vom Gleichgewicht sein. Dieser Satz macht nur Sinn, wenn wir beim ersten Gleichgewicht an ein Fließgleichgewicht denken; das zweite aber meint ein thermodynamisches Gleichgewicht in einem (fast) geschlossenen System (ein kleiner Denkanstoß ist in . Abb. 1.3 zu sehen). Es ist schon erstaunlich, wie wir Lebewesen bei permanentem Stoff- und Energie-Durchfluss einen recht passablen Grad an Stabilität erreichen können. Manche nennen diesen Zustand auch „normal“ oder den „Normal-Zustand“. Hier wäre aber noch reichlich Platz für Interpretation und Diskussion… Energie kann nicht verschwinden oder aus dem Nichts erzeugt werden. Energie kann einzig in andere Energie-Formen umgewandelt werden. Für uns Menschen geht es also meist mit Sonnenschein los, der irgendwie von Pflanzen und Tieren gespeichert wird und später in Form von Speisen und Getränken zu uns kommt. Damit erzeugt unser Körper dann auf verschiedenen Wegen Hoch-Energie-­ Moleküle wie das ATP, die dann wiederum komplexe Biosynthese-Wege und  

11 1.3 · Die Klimaanlage funktioniert nur bei geschlossenem Fenster –…

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..      Abb.  1.3  Immer schön im Gleichgewicht bleiben. Ein Fließgleichgewicht wurde mit Gießkannen nachgestellt. Permanente Energie-Umwandlung erreicht irgendwann einen stabilen Zustand, einen steady state. Idealerweise wäre ein Raum mit Klimaanlage ein geschlossenes System – wir alle wissen, dass das illusorisch ist. [Foto: Gießkannen im Garten, Birmingham, JWM, 2014, Hinweisschild, Bad Blankenburg, JWM, 2018]

unsere Muskeln antreiben, um hoffentlich halbwegs sinnvolle Arbeit zu verrichten. Am Ende bleibt ein wohliges Gefühl von Wärme übrig. Wärme ist schön, besonders an kalten Tagen. Sie ist noch viel besser, wenn man sich dafür gar nicht anstrengen muss. Die Hummel und das braune Fettgewebe von Neugeborenen sind hier unglaublich faszinierend  – durch Entkoppler-Proteine in der Atmungskette oder andere Tricks können sie ohne Muskelzittern direkt chemische Energie in Wärme umwandeln. An braunem Fettgewebe wird intensiv geforscht. Wenn es irgendwie möglich wäre, in einem erwachsenen Menschen mehr davon zu erzeugen – das überschüssige Fett würde förmlich dahin schmelzen. Kennen Sie das, wenn Sie in eine klare Brühe starren, die Ihnen nicht wirklich schmeckt? Bei gutem Licht lassen sich herrlich die Fettaugen beobachten, wie sie hin und her schwimmen und sich immer mehr zusammenlagern. Angetrieben wird dieser Prozess wohl von der komischsten Kraft in der Biochemie. Eigentlich ist sie gar keine Kraft, sondern ein Effekt, na ja, nur ein indirekter Effekt, nämlich der hydrophobe Effekt. Der hydrophobe Effekt ist wahrscheinlich die wichtigste Triebkraft zur Formenausbildung von Biomolekülen. Erstmal beruht er auf einer weiteren Besonderheit des Wassers, den sehr starken Wasserstoffbrücken-Bindungen. Wasser kann zwar geladene Teilchen sehr gut lösen. Bei ungeladenen, apolaren Molekülen wird Wasser aber etwas zickig – an diesen Teilchen gibt es schließlich gar keine Andockstellen für H-Brücken. Wenn Wasser sich trotzdem um solch ein Teilchen drum herum begeben muss, entsteht eine ungewollte Grenzfläche. Dort muss Wasser eine gewisse Ordnung einnehmen – etwas, was Wasser nicht besonders mag, da die geordneten Wasserteilchen einen energetisch (exakter entropisch) ungünstigen Zustand darstellen. Und jetzt kommt der hydrophobe Effekt ins Spiel: Wenn zwei hydrophobe Teilchen nahe genug aneinandergeraten, dann presst Wasser sie mit einer Kraft zusammen, die der Zahl der dabei freigesetzten

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Kapitel 1 · Spielregeln

Wassermoleküle entspricht. Durch die Minimierung der Anzahl an energetisch ungünstig angeordneten Wassermolekülen entsteht ein Energie-Gewinn. Es gibt weitere Kräfte in der Biochemie, die hier unerwähnt bleiben. Das Volumen-­Oberflächen-Ungleichnis ist etwas völlig anderes; eher ein Trick aus der Mathematik, für den die Biologie eigentlich gar nichts kann (. Abb.  1.4). Man nehme einen Würfel mit der Kantenlänge 1 cm (wobei die Einheit eigentlich wurst ist). Dieser Würfel hat ein Volumen von 1 cm3 und eine Oberfläche von 6 cm2. Jetzt verdoppeln wir die Kantenlänge  – ein recht normaler biologischer Vorgang  – irgendein Tier wächst halt bis zur doppelten Größe heran. Zurück zum Würfel. Er hat jetzt ein Volumen von 8 cm3 und eine Oberfläche von 24 cm2. Jetzt schauen wir uns das Volumen-Oberfläche-Verhältnis an: 1/6 = 0,17 gegenüber 8/24 = 0,33, der größere Würfel hat ein DOPPELT so großes Volumen-Oberfläche-Verhältnis. Dieser Vergleich wird auch Volumen-Oberflächen-Ungleichnis genannt und das Ungleichnis wird mit zunehmendem Größenunterschied immer ungleicher.  

..      Abb.  1.4  Das Volumen-Oberflächen-Ungleichnis. Große Organismen funktionieren ganz anders als kleine. Beim Wasserläufer (vermutlich Gerris lacustris) ist die Oberflächenspannung des Wassers eine lebenswichtige Kraft wichtig. Der Wasserläufer kann auf dem Wasser gehen und findet seine Beute, weil sie Wellen schlägt, wenn sie auf die Wasseroberfläche fällt. Bei seinem stattlichen Gewicht, könnte sich der Elefant eher um die Gravitationskraft sorgen. Auch muss er zusehen, wie er Sauerstoff zu den Geweben schafft und Wärme weg aus dem Körper kriegt  – seine großen Ohren schaffen etwas Abkühlung. [Bildnachweis: Elefant, Südafrika, JWM, 2002; Wasserläufer, Kassel, JWM, 2006, Würfel, Birmingham, JWM 2022]

13 1.4 · Können sich Naturgesetze ändern?

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Kontrast: In der Biochemie ist der hydrophobe Effekt eine Haupt-Triebkraft bei der Formenausbildung von Biomolekülen. So einige physikalische Kräfte wirken sich auf unterschiedlich große Lebewesen verschieden aus. Diese Größenungleichheit mal zusammengefasst: Den gleichen Körperbau mal groß, mal klein auszulegen, heißt noch lange nicht, dass beide gleich gut oder auch nur annährend ähnlich funktionieren. Es ist also gar nicht so leicht, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. z Navigation  Mehr zu Hummeln und verschiedenen Arten von Fettgeweben im Metabolismus-­

Exkurs „Von Hummeln und braunem, weißem und beigem Fettgewebe“ in 7 Abschn. 6.5.  

1.4 

Können sich Naturgesetze ändern?

Schon beeindruckend, dass Wasser so wunderbar ist, dass es Leben möglich macht. Wie es wäre, wenn Wasser eine andere Dielektrizitätskonstante hätte, könnte man wohl in Computersimulationen untersuchen. Wasser sollte aber, genauso wie Wasserstoff und Sauerstoff, universell sein, also so etwas wie eine Naturkonstante. Soll heißen, wenn es Wasser auf einem anderen Planeten gibt, dann verhält es sich auch genau so wie auf der Erde. Irgendwie ist unsere Erde in ihrer Mittelmäßigkeit doch bemerkenswert. Sie ist von der Sonne genau so weit entfernt, dass wir etwa in der Mitte des bewohnbaren Bereichs liegen. Unsere Erde hat einen rotierenden Kern aus Eisen, der ein Magnetfeld erzeugt, das uns gegen schädliche kosmische Strahlung abschirmt. Der Mond hilft dabei, die Orientierung der Erde und des Magnetfelds stabil zu halten. Die Erde ist gerade schwer genug, um sich die Atmosphäre nicht wegpusten zu lassen vom interstellaren Wind, aber leicht genug, dass wir aufrecht gehen können. Astrobiologen beschreiben diese Ansammlung an günstigen Bedingungen auch als die Goldilocks-Bedingungen – alles ist nicht zu viel und nicht zu wenig, sondern genau richtig [. Abb.  1.5]. Die Umweltbedingungen auf unseren Nachbarplaneten Venus, Mars und Jupiter sehen bei Weitem nicht so rosig aus. Bei der Suche nach bewohnbaren Planeten spielen die Goldilocks-Bedingungen eine wichtige Rolle. Für das Verständnis des Lebens, das genau jetzt auf unserem Planeten Erde existiert, scheinen die Goldilocks-Bedingungen aber von untergeordneter Rolle zu sein – sie waren einfach „schon immer“ da. Das trifft nicht ganz zu, denn nichts hält ewig, auch nicht die Umweltbedingungen auf unserem Heimatplaneten. Stellen wir uns mal vor, wir vergeigen völlig die Weltrettung vor der anstehenden Klimakatastrophe. Die Polkappen schmelzen ab und der weltweite Anstieg des Meeresspiegels überflutet große Teile unseres Planeten. Wir wären nicht sooo weit entfernt vom Leben auf einem exotischen Wasserplaneten. Eigentlich ist aber der menschliche Körper sehr gut an ein Leben im Wasser angepasst. Unter den neuen  

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Kapitel 1 · Spielregeln

..      Abb.  1.5  Die Goldilocks-­ Bedingungen. Der komische Name der Goldilocks-Bedingungen kommt von einem britischen Märchen aus dem 19. Jahrhundert. Darin besucht das kleine Mädchen Goldilocks die Hütte dreier Bären, Papa-Bär, Mama-Bär and Baby-Bär, die gerade einen Spaziergang machen. Goldilocks kostet von den drei Brei-Schüsseln und findet, dass die erste zu heiß ist. Die zweite ist zu kalt. Nur die dritte, die ist genau richtig. Genauso testet sie die drei Betten aus, eines ist zu groß, eines zu klein, nur das dritte ist genau richtig, und so weiter. Goldilocks scheint nicht nur bei der Suche nach Leben auf anderen Planeten beliebt zu sein. Eine Suche nach „Goldilocks[title]” bei PubMed. gov ergab 280 Treffer [04.05.2022]. Viel Spaß beim Durchsehen all dieser Literatur. [Abbildung: Holzofen, JWM, 2022]

Bedingungen würde sich unser Körper wohl nach und nach weiter zu Wasseraffen entwickeln. Wie schnell das gehen kann, zeigt eindrucksvoll eine Studie zu Perlentauchern – die haben sich innerhalb von ein paar Generationen bereits deutlich an längere Tauchgänge angepasst (. Abb. 1.6). Eine leicht veränderte Schilddrüsen-­ Funktion hat eine vergrößerte Milz zur Folge. Und da die Milz Sauerstoff-reiches Blut speichert, hilft eine größere Milz dabei, deutlich länger zu tauchen. Etwas sarkastisch gefragt: Wenn wir so leicht zu Wasseraffen werden können, hat da noch irgendjemand Angst vor den Folgen des Klimawandels? Die menschliche Spezies ist sowieso erstaunlich anpassungsfähig. Viel geredet wurde über eine N-terminale Verkürzung im CCR5-Rezeptor. Dieses Protein ist nicht nur bedeutsam für das Andocken von HIV, dem Erreger von AIDS, es soll auch bei der Pest-Epidemie eine Rolle gespielt haben, sodass sich diese positive Mutante innerhalb von wenigen Generationen in westlichen Populationen verbreiten konnte. Ebenso ist der Rezeptor ACE-2 für Covid-19  in verschiedenen Populationen unterschiedlich exprimiert. Diese Unterschiede könnten zumindest teilweise die verschiedene Schwere des Verlaufs der Corona-Infektion erklären, die in verschiedenen Sub-Gruppen der Erdbevölkerung beobachtet wird.  

15 1.4 · Können sich Naturgesetze ändern?

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..      Abb.  1.6  Menschen können sich an lange Tauchgänge anpassen. Das Volk der Bajau sind See-­Normaden, die regelmäßig sehr lange Tauchgänge von mehr als 10 min absolvieren. Dafür sind sehr wahrscheinlich Änderungen in zwei verschiedenen Genen verantwortlich: Die Phosphodiesterase PDE10A, die sowohl cAMP als auch cGMP spalten kann, hat sich bei den Bajau besonders entwickelt. Sie beeinflusst die Milz sowohl direkt an ihrer glatten Muskulatur der Milz, als auch indirekt durch ihren Einfluss auf die Ausschüttung des Schilddrüsenhormons Thyroxin. Die Folge ist eine vergrößerte Milz, die Sauerstoff-reiches Blut speichert. Weitere genetische Anpassung am B2-Rezeptor für das Peptidhormon Bradykinin bewirkt eine optimierte Regulation der Gefäßerweiterung beim Tauchen. Häufiges Tauchen macht eine größere Milz. ➔ Ilardo et al. 2018. Physiological and Genetic Adaptations to Diving in Sea Nomads. Cell. 173(3): 569-580.e15. https://doi.org/10.1016/j.cell.2018.03.054. [Bildnachweis: © Alex Photo stock.adobe.com]

Der menschliche Körper kann sich schon über wenige Wochen und Monate an veränderte Bedingungen anpassen. Haben Sie schon einmal etwas von Höhentraining gehört? Da trainieren Athleten fleißig in den Alpen, auf dem mexikanischen Hochplateau oder sonst wo in den Bergen. In der dünnen Luft da oben soll der Anteil der roten Blutkörperchen ansteigen. Beim Wettkampf im Flachland geht einem dann die Puste nicht so schnell aus. Im Gegensatz zur direkten Behandlung mit dem Hormon Erythropoietin, das die Blutbildung auch im Flachland anregt, ist das Höhentraining eine legale Form der Leistungssteigerung. Viel Erfolg. Die lebensnotwendigen Makro-Elemente werden auch CHNOPS genannt. Mit Ausnahme von Wasserstoff befinden sie sich alle in den Gruppen 14–16 des Periodensystems. Wer mag, kann dort mit zusammengekniffenen Augen „CHNOPS” förmlich lesen. Könnte Leben existieren, ohne eines der CHNOPSMakro­elemente zu benutzen? Gegenfrage: Kann man einen längeren Text schreiben, ohne einen häufig vorkommenden Buchstaben wie zum Beispiel das „R“ zu verwenden? Diese Literaturform wird auch Leipogramm genannt. Ein tolles Leipogramm ist „Die auf ein starckes Ungewitter erfolgte Stille“ des Barock-Dichters Barthold Heinrich Brockes. Das UngewitteR wiRd mit sehR vielen R’s beschRieben, die Stille kommt über Seiten jedoch ganz ohne jenen Buchstaben aus.

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Kapitel 1 · Spielregeln

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..      Abb.  1.7  Kann Leben ohne die CHNOPS-Elemente existieren? Alternativen zu diesen Elementen sollten sich meist innerhalb der Gruppen des Periodensystems der Elemente finden – also darunter. Ein paar Möglichkeiten sind mit Pfeilen markiert und im Haupttext diskutiert. [Abbildungsnachweis: Totes Meer, © Olesya stock.adobe.com]

Zurück zur CHNOPS-Frage. Hier bewegen wir uns auf dem Gebiet der hypothetischen Biochemie  – der Biochemie, wie sie auf fernen Planeten vorkommen könnte oder, wahrscheinlicher, der Biochemie irgendeines noch nicht entdeckten Mikroorganismus auf unserer Erde. Plastik-abbauende Bakterien waren hier vor Kurzem in den Medien. Was denkbar wäre, ist in . Abb. 1.7 dargestellt. Der Austausch von Schwefel durch Selen ist biologischer Alltag in unseren Zellen  – ein paar besondere Redox-Proteine enthalten ein Selenocystein im katalytischen Zentrum. Silizium ist ein Element, das im Periodensystem direkt unter Kohlenstoff steht. Kann also an der einen oder anderen Stelle Silizium statt Kohlenstoff verbaut werden? Oder kann eventuell sogar Phosphor durch Arsen ersetzt werden? Mehr hierzu im Exkurs „Könnte Leben existieren, ohne eines der CHNOPS-­ Elemente zu benutzen?“ über ein Leben ohne Phosphat.  

Exkurs: Könnte Leben existieren, ohne eines der CHNOPS-Elemente zu benutzen?

Im Jahre 2011 kam die Sensationsmeldung. Ein Forschungsteam der NASA behauptete, ein Bakterium gefunden zu haben, dass statt Phosphat das sonst giftige Arsenat zum Leben verwendete. Es gab Presse-Meldungen ab Dezember 2010, diverse Presse-

konferenzen und dann die Veröffentlichung der Forschungsdaten in der Zeitschrift Science im Juni 2011. Die Leute von der NASA, allen voran Dr. Felisa Wolfe-Simon, hatten sich mächtig aus dem Fenster gelehnt und viel Staub aufgewirbelt. Die Dresche, also die

17 1.4 · Können sich Naturgesetze ändern?

angemessene wissenschaftliche Kritik, kam schnell und heftig. Eine Veröffentlichung, die direkt von elf (!!!) widersprechenden Kommentaren begleitet wurde. Gleichzeitig wurde das Paper selbst fleißig zitiert – auch in der Wissenschaft scheint jegliche Publicity besser als keine Publicity zu sein. Gefunden im Mono-See in Kalifornien, einem knackig salzigen Natron-See (denken Sie jetzt ruhig an Laugengebäck), soll der neu isolierte Bakterienstamm unter sehr hohen, sonst immer giftigen Konzentrationen von Arsenat wachsen können, und das Ganze auch noch in Abwesenheit von Phosphat. Was genau macht dieses Bakterium denn nun? Irgendwie konnten die Autoren den Eindruck vermitteln, dass dieser Mikroorganismus Arsen als Phosphor-Ersatz verwendet. Was für eine Sensation, dass scheinbar an den CHNOPS-Elementen gerüttelt wurde. Zwischen 2010 und 2012 wurde um dieses Thema viel gestritten. Etwas davon kann man auch heute noch online nachlesen, wenn man dem Hashtag #ArsenicLife folgt. Manche lobten, dass das Internet es möglich mache, die wissenschaftliche Methode selbst als lobenswert zu loben. Andere meinten, dass es eventuell der Wissenschaft nicht

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so gut stünde, wenn man sie gleich am Anfang einer neuen Entwicklung reißerischer Berichterstattung opfern würde. Der Stein des Anstoßes ➔ Wolfe-­ Simon et al. 2011. A bacterium that can grow by using arsenic instead of phosphorus. Science. 332(6034): 1163–6. https://doi.org/10.1126/science.1197258. Zu Grabe getragen wurde das Märchen des Arsen-liebenden Bakteriums dann durch zwei Paper im Jahre 2012. Nett anmoderiert hier ➔ Rosen RJ, 2012. The Case (Study) of Arsenic Life: How the Internet Can Make Science Better, 7 https://www.­theatlantic.­com/technology/archive/2012/07/the-case-study-ofarsenic-life-how-the-internet-can-make-science-better/259581/ [Zugriff am 15. März 2022]. Diese beiden Sargnagel-Studien sagen, dass das neue Isolat sehr gut Arsen vertragen kann, dass aber nix, wirklich GAR nix davon in die eigene DNA verbaut wird ➔ Erb et al. 2012. GFAJ-1 is an arsenate-resistant, phos­ phate-dependent organism. Science. 337 (6093):467–70. https://doi.org/10.1126/ science.1218455 ➔➔ Reaves et al. 2012. Absence of detectable arsenate in DNA from arsenate-grown GFAJ-1 cells. Science. 337(6093):470–3. https://doi. org/10.1126/science.1219861.  

Kanon: Zwar ist es immer mal gut, an alten Dogmen zu rütteln. Vorerst bleibt es aber dabei, dass der allergrößte Teil der Biochemie mit den CHNOPS-Elementen bewerkstelligt wird. Wie wir später noch besprechen werden, wird darüber hinaus außergewöhnliche Chemie von erstaunlichen Cofaktoren gemeistert. z Zum Weiterlesen

Eines von sehr, sehr vielen Corona-Papern, allerdings eines, das auf den unterschiedlichen Verlauf einer Corona-Infektion relativ zur ethnischen Abstammung schaut ➔ Raisi-Estabragh et al. 2020. Greater risk of severe COVID-19 in Black,

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Kapitel 1 · Spielregeln

Asian and Minority Ethnic populations is not explained by cardiometabolic, socioeconomic or behavioural factors, or by 25(OH)-vitamin D status: study of 1326 cases from the UK Biobank. J Public Health (Oxf). 42(3):451–460. https:// doi.org/10.1093/pubmed/fdaa095. Wie Selen in Proteine kommt, besprechen wir bei den Besonderheiten des genetischen Codes in 7 Abschn. 3.6.  

1.5 

 it Oxidationszahlen und etwas Stereochemie können wir M die Biochemie des Lebens deutlich besser verstehen

Wasser, Thermodynamik und die essenzielle Makroelemente CHNOPS haben wir jetzt besprochen. Was brauchen wir noch, um Naturstoffe besser zu verstehen? Oxidationszahlen wären schon etwas sehr Praktisches – immer schön Elektronen zählen nach der oil rig-Eselsbrücke. Im Deutschen soll das für das englische „oxidation is loss, reduction is gain“ stehen, die wahre Bedeutung habe ich noch nicht verstanden – Assoziationen zur Schifffahrt oder zur Ölförderung sind denkbar. Jedenfalls werden Oxidationszahlen bei einer Oxidation kleiner, bei einer Reduktion größer. In der Biochemie geht es zum großen Teil darum, erst Kohlenstoff zu reduzieren und dann wieder zu oxidieren. Schon Abiturienten lernen die z­ entrale biochemische Gleichung: C6 H12O6 + 6 O 2  6 CO 2 + 6 H 2O Oxidationszahlen helfen zu bestimmen, wo bei diesen Reduktions-/Oxidations-­ Reaktionen (Red-Ox- oder einfach Redox-Reaktionen) Elektronen abgezogen und wo hinzugefügt werden. Oxidationszahlen vereinfachen die Ladungsverteilung in Molekülen so weit, als ob es nur einatomige Ionen gäbe. Wasserstoff und Sauerstoff werden bei der Glucose als H+I und O−II geführt, wodurch der Kohlenstoff eine Oxidationszahl von 0 erhält – das gesamte Molekül ist auf einmal elektrisch ausgeglichen. Etwas fortgeschrittene Regeln sagen, dass Bindungen zwischen zwei Atomen desselben Elements gleichberechtigt geteilt werden. So kriegt der Sauerstoff im Wasserstoff-­ Peroxid ausnahmsweise mal eine −I als Oxidationszahl. C06 H + I12O − II 6 + 6 O 0 2  6 C+IV O − II 2 + 6 H + I 2O − II Kreislauf: Ein Großteil des Lebens auf der Erde besteht darin, Kohlenstoff zwischen den Oxidationsstufen −IV und +IV hin und her zu oxidieren und zu reduzieren und dabei elementaren Sauerstoff aufzubrauchen bzw. ihn neu zu bilden. Nebenbei gibt es viel stickige und feuchte Luft, CO2 und H2O eben. Oxidationszahlen sind mäßig schwierig, dafür aber ziemlich praktisch – sie besitzen eine große Vorhersagekraft. Mit Oxidationszahlen können wir getrost all die Redox-­ Reaktionen näher anschauen, die in der Zelle zu jedem Zeitpunkt ablaufen und in diesem Buch behandelt werden. Und dann ist da noch die Erkenntnis, dass die „Welt der Moleküle“ keine flache Scheibe ist, sie ist dreidimensional! Ein kleines bisschen dreidimensionale Chemie

19 1.5 · Mit Oxidationszahlen und etwas Stereochemie können wir die…

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ist so, als würde man eine erlernte 3D-Brille aufsetzen. Auf einmal ist die Stereochemie nur noch halb so schwer. Hoffentlich hilft diese Anleitung, in den platt auf Papier gedruckten Molekülstrukturen die dreidimensionale Wirklichkeit in ihrer ganzen Pracht zu sehen. Orbitale sind ganz besonders geformte Wolken von Elektronendichte, die um Atomkerne herum wabern. Sie haben so schicke Namen wie s-, p- oder d-Orbitale. Wir wollen jetzt aber keine politischen Assoziationen provozieren. Elemente aus der zweiten und dritten Periode des Periodensystems haben außen ein kugelförmiges s-Orbital und drei hantelförmige p-Orbitale, die im 90°-Winkel zueinanderstehen. Sie sollten vor allem über diese p-Orbitale Bindungen eingehen, also rechtwinklige Bindungen. Mindestens Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff aus der zweiten Periode des Periodensystems machen aber etwas anderes. Für ihre Wasserstoff-Verbindungen Methan (CH4), Ammoniak (NH3) und Wasser (H2O) sind jeweils Bindungswinkel von 109,5°, 106,7° und 104,5° experimentell gemessen worden. Das ist so! Es kann in Chemie-Büchern, gedruckt oder online, nachgelesen werden. Warum ist das so? Hier können wir zwei Theorien heranziehen. Die eine ist das VSEPR-Modell, im Deutschen etwa „Elektronenpaar-Abstoßungs-Modell für Elektronen in der äußersten Elektronenschale“. Dieses Modell meint: Erstmal ist es einem Elektronenpaar in der äußeren Elektronenhülle wurst, ob es von einem s-, einem p- oder sonst einem Orbital abstammt; es ist doppelt negativ geladen und versucht, auf größtmöglichen Abstand zu den anderen Elektronenpaaren zu gehen – so etwa wie bei einer Dinnerparty während Corona – a socially distanced electron pair. Wenn alle Elektronenpaare genau gleiche Bindungspartner haben, wie etwa im Methan (CH4), dann kommen wir bei dem idealen Tetraeder-­ Bindungswinkel von 109,5° raus. Freie Elektronenpaare brauchen aber etwas mehr Platz, ist ja klar, die haben ja nix zu tun. Sie drücken Elektronenpaare in kovalenten Bindungen zusammen; so kriegt das Wasser-Molekül seinen kleineren Bindungswinkel. Alternativ kann man sagen, dass mindestens die Elemente C, N und O ihre runden s- und hantelförmigen p-Orbitale der zweiten Elektronenhülle miteinander mischen können. Die Hybridisierung von einem s-Orbital und drei p-Orbitalen, also eine sp3-Hybridisierung, macht dann, dass sie nahezu perfekte Einfachbindungen wie aus der Mitte eines Tetraeders heraus ausbilden können. Und sofort sind wir beim Kohlenstoff im Methan wieder bei einem Bindungswinkel von 109,5°. Doppelbindungen sehen ganz anders aus. Sie können anschaulich durch die sp2-Hybridisierung erklärt werden. Was auch immer zur Erklärung herangezogen wird, klar zu sehen ist die Stereochemie des Kohlenstoffs am Essigsäurerest, dem Acetat-Ion CH3-COO− in . Abb. 1.8. Kohlenstoff in Reinform, also als Element, zeigt bereits diese beiden Bindungsformen. Im Graphit ist der Kohlenstoff sp2-hybridisiert  – das Material leitet elektrischen Strom, da die nicht-hybridisierten p-Orbitale miteinander überlappen. Jener Kohlenstoff, in dem alle Atome sp3-hybridisiert sind, ist als Diamant bekannt. Hier bildet jedes Atom mit jedem Nachbar-Atom knüppelharte, kovalente Einfachbindungen aus. Es gibt keine überlappenden p-Orbitale – darum können Diamanten auch keinen elektrischen Strom leiten. Trotzdem sehen Diamanten meist hübscher aus als Bleistiftminen aus Graphit.  

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Kapitel 1 · Spielregeln

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..      Abb.  1.8  Acetat – ein Tetraeder und eine kleine Ansammlung von trigonalen Bipyramiden. Links: Die CH3-Methyl-Gruppe kommt wunderschön tetraedrisch daher. Hier ist sie dem Tetraeder in Bottrop zur Seite gestellt. Das C-Atom säße in der Mitte des Tetraeders – irgendwo unterhalb der oberen Aussichtsplattform. Der Tetraeder aus Stahl ist mit 60 m Seitenlänge ganz schön groß; ein paar Menschen im Bild dienen als Größenvergleich. Rechts: Die Carboxyl-Gruppe ist eine plattgedrückte, planare Ansammlung von drei kleinen trigonalen Bipyramiden, je eine für jedes Sauerstoff-­ Atom und eine für das Kohlenstoff-Atom. Eine dieser Doppel-Pyramiden ist als Strukturobst dargestellt. Der Kohlenstoff wäre die Weintraube, die beiden Sauerstoffatome sind die beiden Blaubeeren zur rechten Seite, die beiden Lappen des p-Orbitals sind durch Tomaten dargestellt. Mitte: Die Einfachbindung, die beide Teile verbindet, ist frei drehbar. [Bildnachweis: Tetraeder, JWM, 2006; Strukturobst, JWM, 2021]

Klarsicht: Solange es um Einfachbindungen geht, zeigen die Elemente C, N und O im realen Leben Bindungsgeometrien von fast perfekten Tetraedern. Bei Doppelbindungen schalten diese Elemente aber zu trigonalen Bipyramiden um, bei denen alle Bindungspartner flach in einer Ebene angeordnet sind. Senkrecht dazu stehen die p-Orbitale und verleihen den Charakter einer echten Doppelbindung. Praktisch heißt das, dass eine Kohlenstoff-Einfachbindung frei drehbar ist, eine Doppelbindung jedoch nicht. Mehrere Kohlenstoff-Einfachbindungen winden sich in Zick-Zack-Mustern auf, während Ansammlungen von Doppelbindungen, so wie Carboxylgruppen oder gar Aromaten, meist völlig flach angeordnet sind. z Navigation

Mehr zu Diamanten und Molekülen, die Diamanten ähnlich sehen, in 7 Abschn. 2.5.   

21 1.6 · Was ist Chiralität?

1.6 

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Was ist Chiralität?

On the one hand … einerseits bilden Oxidationszahlen und dreidimensionale Chemie schon eine gute Grundlage, um Naturstoffe zu verstehen. On the other hand … anderseits fehlt noch eine entscheidende Zutat, die Chiralität. Bitte schauen Sie sich doch mal Ihre Hände an – die verhalten sich wie Bild und Spiegelbild zueinander. Man kann sich noch so verrenken, es gelingt nicht, beide Hände perfekt übereinander zu legen. Treffenderweise bedeutet das Wort Chiralität auch Händigkeit. Vierbindiger Kohlenstoff, der vier unterschiedliche Dinge gebunden hat, ist ebenfalls chiral oder händig. Auch hier gibt es zwei Versionen, die sich durch Drehen und Verschieben nicht gleichwertig überlagern lassen. Solche Spiegelbild-Paare werden auch Enantiomere genannt. Die meisten Enantiomeren-Paare haben die lustige Eigenart, polarisiertes Licht entweder linksrum oder rechtsherum zu drehen. Darum werden sie nach den lateinischen Wörtern laevus für links und dexter für rechts auch L- und D-Enantiomere genannt. Manche Enantiomeren-Pärchen haben dann auch noch unterschiedliche biochemische Eigenschaften – so wie der unterschiedliche Geschmack der Aminosäuren D- und L-Valin. Also sind in der . Abb. 1.9 jenes Valin-Aminosäure-Paar und der Schauspieler Samuel Jackson zu sehen. Herrn Jackson gab es wegen der Abkürzung für seinen zweiten Vornamen Leroy vor einiger Zeit als chemisch-chirales Meme in den sozialen Medien zu sehen. Sowohl L- als auch D-Valin kann man als weißlich-gelbe Pulver kaufen. Beide haben dieselbe molare Masse, denselben Schmelzpunkt, dieselbe Löslichkeit in Wasser und so weiter. Biologisch aber unterscheiden sich diese Moleküle gewaltig voneinander. Erster großer Unterschied: Sie haben einen völlig unterschiedlichen Geschmack (natürlich nur theoretisch, da wir im Labor ja nie Chemikalien kosten würden): L-Valin schmeckt bitter, D-Valin dagegen schmeckt eher süß. Zweiter großer Unterschied: Eiweiße, die vom Ribosom eines jeden Lebewesens stammen,  

..      Abb.  1.9  Eine Aminosäure und ein frühes chemisches Meme. L- und D-Valin sind ein Paar von Enantiomeren, die sich wie Bild und Spiegelbild verhalten. Chemiker können sie, anders als unsere Zunge, nur schwer auseinanderhalten. L-Valin ist bitter, D-Valin schmeckt süß. In der Zelle wird nur L-Valin in Proteine eingebaut. Samuel-L-Jackson und sein Spiegelbild Samuel-D-Jackson sind ein Meme, das schon vor einigen Jahren die Runde machte. Mittlerweile gibt es davon viele Abwandlungen. Ein Klassiker, der nun auch in einem Lehrbuch seinen Platz gefunden hat. [Bildnachweis: Tweet von @Salonium_34, 09.07.2017; Retweet von JWM bei Twitter]

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Kapitel 1 · Spielregeln

enthalten ausschließlich L-Valin. Eine Ausnahme sind kurze bakterielle Peptide, die nicht am Ribosom, sondern von speziellen Peptid-Stricklieseln – sogenannten nicht-ribosomalen Peptid-Synthetasen – gemacht werden. Sie basteln kompliziert gebaute Abwehrstoffe und D-Aminosäuren tragen dabei zur chemischen Stabilität bei. Kompliziert: Im Gegensatz zu den meisten organischen Synthesen laufen die allermeisten enzymatischen Reaktionen hochgradig stereochemisch kontrolliert ab, sie sind stereoselektiv. Biochemische Bausteine existieren oft als Bild und Spiegelbild. Diese Varianten werden als Enantiomere bezeichnet. Es ist nicht egal, welches davon verwendet wird. In der Zelle gibt es meist eine sortenreine Trennung der Enantiomere. Nur jeweils eines davon wird in Biomoleküle eingebaut, so zum Beispiel L-Aminosäuren und D-Zucker. z Navigation  Warum wir welche Bausteine biochemisch in Biomolekülen verbauen, versuchen

wir in 7 Abschn. 2.7 zu verstehen.  Hummeln und das braune Fettgewebe von Neugeborenen sind gleichsam unglaublich faszinierend: Sie können ohne Muskelzittern chemische Energie direkt in Wärme umwandeln. Es gibt einen Exkurs „Von Hummeln und braunem, weißem und beigem Fettgewebe“ in 7 Abschn. 6.5.  



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Der LEGO-­Baukasten des Lebens Inhaltsverzeichnis 2.1

 ucker und was wir dafür Z halten – 26

2.2

 minosäuren, Peptide und A Proteine – 32

2.3

 ette, Öle und gute F Butter – 38

2.4

Nucleinsäuren – 42

2.5

I soprenoide, Steroide und sekundäre Naturstoffe – 47

2.6

 in Ausflug in die präbiotische E Chemie – 50

2.7

 ie Chiralität in der Biochemie W entstanden sein könnte – 53

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 J. W. Mueller, Endlich Biochemie verstehen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9_2

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Es gibt erstaunlich viele Möglichkeiten, ein paar Atome der Elemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff miteinander zu kombinieren. Schon für recht wenige Atome von C, H, N und O hält der theoretisch mögliche „chemische Raum“ enorm viele Kombinationsmöglichkeiten bereit. Darum muss eine Substanz-­ Klassifizierung leider sein. Wie man die maximal mögliche Anzahl an Kombinationen berechnet, den „chemischen Raum“, wird auf Bierdeckel III erläutert. Noch viel mehr Möglichkeiten werden es, wenn man Schwefel und Phosphor dazu tut. Diese sechs Elemente, gemeinsam auch CHNOPS genannt, machen den allergrößten Anteil der lebenden Materie aus. Wir sprachen bereits darüber in 7 Abschn. 1.4.  

Bierdeckel III: Berechnung des Chemischen Raumes C-, N- und O-Atome werden mit ihrer „normalen“ Bindigkeit 4, 3 und 2 veranschlagt. H mit Bindigkeit 1 zählt nicht und wird später dazu gefügt. Sterische Hinderung wird erst einmal vernachlässigt. C2N1O2Hx = wären also 42 × 31 × 22 oder bereits 192 Möglichkeiten, diese paar Atome zu arrangieren. Wohl nur EINE davon ist die Aminosäure Glycin, die kleinste Aminosäure, die in Eiweißen verbaut ist. Der Name leitet sich vom süßen Geschmack reinen Glycins her und vom griechischen Wort für süß – „glykys“. Darum hier eine Abbildung mit etwas Kristallzucker und der chemischen Struktur von Glycin.

Nach diesem Bierdeckel geht es mit Glucose weiter. Nur nebenbei: Mit der Summenformel C6H12O6, also 46 ×  26, wären wir bei diesem „einfachen“ Zucker schon bei 262.144 Möglichkeiten. [Bildnachweis: Kristallzucker, JWM, 2022]

Gut wäre es, die chemische Vielfalt in sinnvolle Einheiten einzuteilen. Aber was ist sinnvoll? Was habe ich zum Beispiel davon zu wissen, dass Glucose ein reduzierender Zucker ist? Hier ist bereits sehr viel Information verborgen (die Auflösung ist in . Abb. 2.1 zu sehen). Vergleichbar ist die Einteilung von Autos in Diesel, Benziner und Elektro, in Kleinwagen und Mittelklassewagen und so weiter. Hier wollen wir die Einteilung nach biochemischen Stoffklassen vornehmen. Wir fangen mit Zuckern an (Glucose und Co) und diskutieren dann die besonderen Merkmale von Eiweißen, Fetten, Nucleinsäuren und Isoprenoiden. Mehr spannende  

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25 Der LEGO-Baukasten des Lebens

..      Abb.  2.1  Glucose – erster Teil: ein reduzierender Zucker. Die Ringform des Zuckers Glucose steht im Gleichgewicht mit der offenen Form mit klar erkennbarer Aldehyd-Gruppe. Aus diesem Grund ist eine Glucose-Lösung auch positiv in der Silberspiegelprobe – man könnte mit ihrer Hilfe hübsch verspiegelten Weihnachtsbaum-Schmuck herstellen. Im Blutplasma reagiert Glucose spontan mit freien Aminogruppen des Hämoglobins. Meist ist hier das freie N-terminale Ende des Proteins beteiligt; interne Lysin-Seitenketten gingen aber auch. Erst bildet sich eine Schiff-Base R-C(H)=N-R´, die sich dann in einer Amadori-Umlagerung stabilisiert. Dabei entsteht glyciertes Hämoglobin  – HbA1c. HbA1c wird auch Langzeit-Blutzucker genannt. Jener Wert informiert über den durchschnittlichen Blutzucker der letzten 8–12 Wochen – das ist ungefähr die Lebenszeit unserer roten Blutkörperchen. [Fotoinformation: Polierte Metallkugeln, Wernigerode, JWM, 2006; HbA1c-Testergebnis, JWM, 2022]

Substanz-Klassifizierungen sind nach biochemisch relevanten Merkmalen möglich, zum Beispiel nach Molekülmasse, Polarität oder An- und Abwesenheit von bestimmten funktionellen Gruppen. Man kann Naturstoffe nach ihrer biogenetischen Herkunft, so wie endogen (Körper-eigen) oder exogen (Körper-fremd), oder schließlich nach ihrer Funktion oder Wirkung, so wie Antibiotika, Enzyme, Hormone oder Vitamine, einteilen. Ganz wie bei Autos – manche Klassifizierungen sind sinnvoller oder brauchbarer als andere. Verglichen mit der organischen Chemie wird Biochemie mit recht wenigen Substanzen gemacht. Diese „paar“ Substanzen in der Biochemie haben im Deutschen und Englischen oft unterschiedliche Namen. Denken wir mal an die Brenztraubensäure (auch α-Ketopropionsäure), die im Englischen pyruvic acid oder auch pyruvate genannt wird. Bei der α-Ketopropionsäure sieht man noch eine Besonderheit in der Biochemie  – Carbonsäuren werden althergebracht durchnummeriert. Wir Biochemiker zählen das Kohlenstoffatom der Carboxylgruppe eben nicht mit. So kommen wir zu den schönen α-Aminosäuren (in 7 Abschn. 2.2) und zur β-Oxidation von Fettsäuren (in 7 Abschn. 7.5). Die guten alten Zeiten.  



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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Kondensat: In der Biochemie beschäftigen wir uns nur mit einer kleinen, doch immer noch stattlichen Auswahl an Formeln, Substanzen und Metaboliten. Diese haben meist eine lange Geschichte  – sowohl evolutionär als auch wissenschaftsgeschichtlich. Deshalb tragen diese Substanzen fast immer historisch gewachsene Trivialnamen. Eventuell erleichtert diese Kombination aus Fakten und Formeln das sonst oft als kompliziert erlebte biochemische Lernen. z Navigation

Wir vergleichen so einige Aminosäuren mit leckeren Sachen. Tryptophan und Schokolade kommen in . Abb. 2.5 dran. 



2.1 

Zucker und was wir dafür halten

Jeder weiß, dass Zucker süß ist. Moment mal, eigentlich wissen wir nur, dass genau zwei Zucker süß sind, nämlich der Kristallzucker Saccharose und der Traubenzucker Glucose. Nach ein paar generellen Bemerkungen zu Zuckern, zu ihrer Summenformel und der Einteilung von Zuckern in reduzierende und nicht-­ reduzierende Zucker, werden wir verschiedene Bindungsarten besprechen und in einem Exkurs einen der teuersten Zucker vorstellen  – Heparin. Schließlich behandeln wir Ballaststoffe, die aus Zuckern bestehen, aber nicht süß sind, und Süßstoffe, die süß, aber meist keine Zucker sind. Generell folgen die meisten Zucker der Summenformel (CH2O)n. Zucker sind genau das, was ihr anderer Name „Kohlenhydrate“ bedeutet  – Zucker sind „Kohlen-Hydrate“, hydratisierter Kohlenstoff. Pro Kohlenstoff-Atom ist genau ein Wasser-Molekül gebunden, womit wir wieder bei (C  +  H2O)n wären (. Abb.  2.2). Zucker ähneln also chemisch polymerisiertem Formaldehyd, dem Para-­Formaldehyd. Klingt lecker, nicht wahr?  

..      Abb.  2.2  Kohlenhydrate sind Kohlen-Hydrate. Ein bisschen Holzkohle und ein Schluck Wasser, fertig sind die chemischen Zutaten für Zucker. Von der Summenformel her ähneln Zucker dem Formaldehyd oder seiner verketteten Form, dem Para-Formaldehyd. [Fotoinformation: Kohle mit Wasser, JWM, 2022]

27 2.1 · Zucker und was wir dafür halten

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Bei der Oxidation eines Aldehyds zur Carbonsäure springt schon ziemlich viel Energie heraus – der Kohlenstoff steigt von der Oxidationszahl 0 auf die Oxidationszahl +II, auch wenn das noch weit hinter dem Energiegehalt von Fetten liegt. Zucker sind mit ihren vielen Hydroxylgruppen generell recht polar und gut in Wasser löslich, was sie im Cytoplasma gut verfügbar macht. Gleichzeitig wird ihre kompakte Lagerung dadurch jedoch erschwert. Der Vielfach-Zucker Glycogen schafft Abhilfe. Glycogen-Knäulchen sind – schön verästelt – eine prima Lagerform von Glucose. Zucker werden in die Kategorien „reduzierend“ und „nicht-reduzierend“ eingeteilt. Reduzierende Zucker enthalten eine Aldehyd-Gruppe, also eine endständige Keto-Gruppe. Die Aldehyd-Gruppe kann etwas anderes reduzieren, wenn sie selbst zur Carbonsäure oxidiert wird. Die Aldehyd-Gruppe kann chemisch in der Silberspiegelprobe nachgewiesen werden  – wenn alles klappt, schlägt sich ein dünner Silberspiegel nieder, super, um Weihnachtsbaumschmuck selbst zu machen (bitte noch einmal . Abb. 2.1 anschauen). Unser Traubenzucker Glucose ist in dieser Kategorie enthalten, auch wenn man die Aldehyd-Gruppe nicht auf den ersten Blick sieht. Nicht reduzierende Zucker, zum Beispiel Fructose, enthalten stattdessen eine mittelständige Keto-Gruppe, die nicht so leicht oxidiert werden kann. Nochmal die Frage vom Kapitelanfang: Was habe ich davon zu wissen, dass Glucose ein reduzierender Zucker ist? Traubenzucker ist nicht zum Früchte-­ Einkochen geeignet. Die Aldehyd-Gruppe würde unappetitlich mit Aminogruppen von allerlei Biomolekülen reagieren  – es käme zu Farb- und Geschmacksveränderungen. Zum Einkochen ist Saccharose besser! Chemisch ist es genau die gleiche Reaktion, die Glucose auch im Blut mit dem Hämoglobin eingeht, wenn der Blutzuckerspiegel über einen längeren Zeitraum erhöht ist. Glucose schädigt dann die Gefäße  – unangenehme Begleiterscheinungen von Diabetes mellitus sind Augen- und Gefäßerkrankungen. Analytisch ist die Reaktion von Glucose mit Hämoglobin interessant, da dabei glyciertes HbA1c entsteht (und bitte noch ein weiteres Mal auf . Abb. 2.1 schauen). Diese spontane Reaktion ist irreversibel. Der HbA1c-­Wert wird auch Langzeit-Blutzucker genannt, da er dem durchschnittlichen Blutzucker der letzten paar Wochen entspricht. All das kann man damit begründen, dass Glucose ein reduzierender Zucker ist. Es gibt noch so einige andere Wege, die vielen Zucker in der Natur einzuteilen. Nach der Anzahl der Kohlenstoffatome kann man Dreier, Vierer, Fünfer, Sechser und Siebener-Zucker in der Biochemie beobachten. Dabei sind alle Zucker außer den Fünfern und Sechsern ziemliche Exoten. Man kann Zucker danach einteilen, welche Ringgrößen sie bilden können, und natürlich, ob sie L- oder D-Zucker sind. In der Biochemie werden nahezu ausschließlich D-Zucker verbaut. Komplexe Zucker kann man auch noch nach der Anzahl der Zuckereinheiten in Mono-, Di-, Oligo- und Polysaccharide einteilen. Die vielen Hydroxylgruppen machen Zucker nicht nur gut löslich in Wasser, sie sorgen auch für eine hohe strukturelle Vielfalt von längeren Zuckerketten, sogenannten Polysacchariden oder auch Glycanen. Folgende Bindungsarten kann man darin beobachten: Die glycosidische Bindung ist eine Verbindung aus der OH-­ Gruppe, die eigentlich mal ein Aldehyd war, mit irgendetwas anderem – zum Beispiel einer Kernbase. Dabei entsteht ein Nucleosid (siehe 7 Abschn.  2.4 über Nucleinsäuren).  





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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Clever ist der als Saccharose bekannte Kristallzucker. Hier sind die reaktivsten OH-Gruppen der Glucose und der Fructose miteinander verknüpft. Diese doppelte glycosidische Bindung versteckt die reaktiven Gruppen regelrecht. Es entsteht ein äußerst robuster Zucker, der sehr gut zum Marmelade-Einkochen verwendet werden kann. Saccharose wird chemisch dem eingekochten Obst ganz bestimmt nichts anhaben. Nur am Rande bemerkt: Die Struktur von Saccharose wurde von Sir Walter Norman Haworth im englischen Birmingham aufgeklärt. Haworth hat sich so um Zucker verdient gemacht, dass eine der Darstellungsweisen von Zuckern seinen Namen erhalten hat. Weitere Bindungsarten in Zuckern: Eine Ester-Bindung ist eine Verbindung aus einer „normalen“ OH-Gruppe des Zuckers mit einer Säure  – zum Beispiel der Phosphorsäure oder einer Carbonsäure. „Normale“ OH-Gruppen in diesem Sinne sind alle Hydroxylgruppen, die eben nicht die oben erwähnte halb-acetalische OHGruppe sind. Glucose-6-Phosphat (Glc-6-P) ist hier ein gutes Beispiel. Diese „einfache“ Ester-Bindung und auch die glycosidische Bindung sind recht leicht hydrolytisch spaltbar. Etwas außergewöhnlicher sind Desoxy-­ Zucker, also Zucker-Einheiten, an denen an einer gewissen Stelle ein Sauerstoffatom fehlt. Wir sprechen beim Thema DNA in 7 Kap. 3 darüber. Theoretisch könnte man auch noch Ether-Bindungen in Glycanen erwarten  – also Bindungen zwischen zwei „normalen“ Alkoholen. Dieser Bindungstyp ist chemisch aber wohl zu stabil, um biochemisch eine Rolle zu spielen. So einen Ether hydrolysiert man nicht so einfach. Zucker können also verschiedene Arten von kovalenten Bindungen eingehen. Und das Ganze dann auch noch oft mehrmals. Dieser Bindungsreichtum macht Glycane biochemisch so vielfältig, er ist aber gleichzeitig auch ein Albtraum für den synthetischen Chemiker. Es ist immer noch sehr schwierig, längere und eventuell sogar modifizierte Zucker chemisch herzustellen. Wohl auch deswegen ist Heparin ein sehr teurer Zucker (siehe Exkurs „Ein sehr teurer Zucker – Heparin“).  

Exkurs: Ein sehr teurer Zucker – Heparin

Heparin ist ein Zucker, genauer gesagt, ein ziemlich großes Zuckermolekül  – ein Polysaccharid. Noch genauer gesagt ist Heparin ein komplexer Zucker mit eingebauten Aminogruppen, einer, der auch noch überall mit Sulfatgruppen bedeckt ist – so wie ein Kuchen mit Glasur überzogen ist. Heparin wird aber nicht benutzt, um Tee zu süßen … Heparin ist ein sehr effektiver Hemmstoff der Blutgerinnung und wird als solcher weltweit verwendet. Der globale Umsatz von Heparin-Produkten betrug im Jahr 2020 ungefähr 7,0 Mrd.

US$. Wir werden älter, wir verletzen uns häufiger, wir wollen uns vor Thrombose, Schlaganfall und Herzinfarkt schützen – darum wird der Gebrauch von Heparin eher zu- als abnehmen. Wir könnten diesen Umsatz dem gesamten, weltweiten Zucker-Markt gegenüberstellen. Zucker meint hier nur den Kristallzucker Saccharose. Bei 187,3  Mio. t Zuckerproduktion in der Saison 2019/2020 zu etwa 0,24  US$/kg kommen wir dort auf 44,9  Mrd. US$, nur etwa siebenmal so viel wie Heparin … Es ist ziemlich schwierig, eine Masse für das global verwendete Heparin zu

29 2.1 · Zucker und was wir dafür halten

schätzen, da es normalerweise in physiologisch wirksamen Units verabreicht wird, nicht aber in Gramm oder Milli-

gramm. Sicher ist aber, dass es sich um einen deutlich kleineren Haufen handelt als jenes Kristallzucker-Riesengebirge.

Ein ganz spezieller Teil des Heparins, ein Motif aus fünf Zucker-­Einheiten bindet an einen Faktor der Blutgerinnung; dieses Motiv enthält reichlich Sulfat  – sozusagen als

Zuckerguss (Exkurs-Abbildung). GlcA steht für β-D-­Glucuron-Säure und IdoA für α-LIduron-Säure, die anderen Zucker sind wohl eher etwas für Fans

[Abbildungsnachweis: Heparin, © Sherry Young stock.adobe.com; Kuchen, © Nata

Bene stock.adobe.com]

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Süßer als süß – Teil I. Unbewusst erwarten wir, dass alle Zucker süß sind und alles Süße Zucker ist. Dabei denken wir erstmal an Saccharose, den normalen Speise- und Kristallzucker. Geht es denn eventuell noch etwas süßer? Ein eher altmodischer Weg zu mehr Süßkraft ist die Erzeugung von Invert-Zucker. Dabei wird Saccharose entweder chemisch oder enzymatisch in seine Bestandteile Glucose und Fructose gespalten. Der Name Invert-Zucker kommt daher, dass sich durch diese Reaktion die Lichtdrehung umkehrt. Glucose ist zwar etwas weniger süß als Saccharose, die freigesetzte Fructose kompensiert das aber allemal. Fertig ist ein Süßstoff, der auch heute noch viel in der Lebensmittelindustrie verwendet wird. Auch Bienen spalten Saccharose in ihre Bestandteile während der Honig-­Herstellung. Nicht alle Zucker sind süß. Zucker, die so gar nicht süß sind, sind Cellulose und andere pflanzliche Fasern, die wir als Ballaststoffe bezeichnen. Sie sind unverdauliche Bestandteile von pflanzlichen Lebensmitteln, die bei der Verdauung helfen. Sie binden Wasser und tragen durch das so erzeugte Volumen zum Sättigungsgefühl bei. Der geschmeidigere Nahrungsbrei wird besser durch unser Gedärm transportiert. Auch hat das eine oder andere Darmbakterium an Ballaststoffen seine helle Freude. Ballaststoffe sind in zahlreichen Gemüse-Sorten enthalten. Ohne Ernährungsexperte zu sein, empfehle ich, ab und zu etwas Grünzeug zu sich zu nehmen.

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Süßer als süß – Teil II. Nicht alles was süß ist, ist ein Zucker. Wir kennen so einige Substanzen, die eine viel stärkere Süßkraft haben als Saccharose. Diese Zucker-Ersatzstoffe sind chemisch divers. Hier sind nur drei Substanzen genannt – der Naturstoff Stevia, das Dipeptid Aspartam und Zuckeralkohole, die meist in Kaugummis Verwendung finden. Zuckeralkohle wie Mannitol oder Sorbitol können durch Hydrierung von Zuckern hergestellt werden. Sie sind oft nicht ganz so süß wie Kristallzucker, enthalten dafür aber fast keine Kalorien. Da diese Zuckeralkohole auch für Karies-bildende Bakterien im Mund praktisch unverdaulich sind, sind sie so gut für unsere Zähne und massenhaft in Kaugummis enthalten. Aspartam ist ein Dipeptid aus Asparaginsäure und Phenylalanin, das am C-­Terminus mit Methanol verestert ist. Als Phenylalanin-Quelle ist Aspartam nicht geeignet für Menschen mit Phenylketonurie, einer erblichen Stoffwechselkrankheit, bei der der Phenylalanin-Stoffwechsel blockiert ist. Ansonsten ist Aspartam etwa 200-mal süßer als Zucker und wird weit verbreitet als Süßstoff in Speisen und Getränken verwendet. Schließlich haben wir noch Stevia, ein Extrakt aus der Stevia-Pflanze (Stevia rebaudiana), die auch Süßkraut oder Honigkraut genannt wird. Hauptzutat ist Steviosid, eines von mehreren Steviolglycosiden  – allesamt bestehen diese Substanzen aus einem Drei-RingSystem, das dann mehrfach glycosyliert sind. Obwohl Stevia schon lange in Lateinamerika bekannt ist, versüßt es in Deutschland erst seit gut einem Jahrzehnt unser Leben  – im Jahre 2011 wurden Steviolglycoside als Lebensmittel-Zusatzstoff in der EU zugelassen (. Abb. 2.3).  

..      Abb.  2.3  Süßstoffe sind chemisch divers – hier eine kleine Auswahl. Links: Zucker-Alkohole werden häufig in Kaugummi verwendet. Die Struktur von Sorbitol ist hier zu sehen. Mitte: Abgebildet ist die Struktur des Dipeptids Aspartam – Asp-Phe-Me – und ein Softdrink. Rechts: Eine der Hauptzutaten des süßen Safts der Stevia-Pflanze ist Steviosid – hier habe ich die Zucker-Reste nur schematisch dargestellt. [Bildnachweis: Kaugummi, © ALF photo, stock.adobe.com; Softdrink, © Lemonsoup14, stock.adobe.com; Stevia, © Daniele Depascale, stock.adobe.com]

31 2.1 · Zucker und was wir dafür halten

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Kandiert: Zucker sind zentrale Energiespeicher, können aber schlecht gelagert werden. Es gibt verschiedene Arten, Zucker einzuteilen. In Mehrfach-Zuckern kann man glycosidische Bindungen und Esterbindungen beobachten. Schließlich haben wir die besonderen Zucker Saccharose, Glucose und Heparin sowie Ballaststoffe und Zuckerersatzstoffe besprochen. Das Leben war noch nie süßer.

Exkurs: Süßes und unser Darm

Wir alle wissen, dass wir uns gesund ernähren und regelmäßig bewegen sollen … sollten. Angeblich schützt das vor Krankheiten und schenkt ein langes Leben. Warum aber ist das so viel leichter gesagt als getan? Warum haben so viele Menschen Übergewicht? Und warum schmecken so viele Gerichte, Knabberzeug und Süßigkeiten so lecker, dass viele von uns gar nicht genug davon bekommen können. Fragen, auf die es viele, aber keine leichten Antworten gibt. Das zu essen, was für uns gesund ist, ist eine uralte Überlebensstrategie – viel älter als wir Menschen selbst. Die Regelkreise dafür sind tief in unser Gehirn eingebrannt. Das allermeiste davon läuft unterbewusst ab und muss nicht erlernt werden. Einer dieser Mechanismen ist das Bevorzugen von Süßem und das Meiden von Bitterem, steht doch süß meist für Kalorien und bitter für ungenießbare und giftige Pflanzen. Schlecht nur, dass sich unsere Ernährung ungefähr in der Mitte des 20. Jahrhunderts radikal umgestellt hat. Auf einmal gab es in den Industrie-Nationen Nahrung in Hülle und Fülle. Wir haben

gelernt, dass das, was am besten schmeckt, nicht unbedingt satt macht. Dann kamen die künstlichen Süßstoffe. Neueste Forschung hat gezeigt, dass die Zunge diese Kalorien-leeren Substanzen noch nicht von Zucker unterscheiden kann. Einmal runtergeschluckt, schlägt aber sofort der Darm Alarm, wenn sich die von der Zunge angekündigten Kalorien als hohl entpuppen. Ob wir wollen oder nicht, unser Bauch zwingt uns quasi das Essen von Süßem auf. Nur nebenbei, unser Gehirn ist das Organ, das mit Abstand den größten Appetit auf Zucker hat. Zum Weiterlesen: Die Zunge kann Süßstoffe von echtem Zucker nicht unterscheiden, unser Darm schon  – ➔ Buchanan et al. 2022. The preference for sugar over sweetener depends on a gut sensor cell. Nat Neurosci. 25(2):191-200. https://doi.org/10.1038/s41593-02100982-7. Erwähnenswert: Süß-Rezeptoren gibt es nicht nur auf der Zunge, sondern überall im Körper, auch im Darm und im Hypothalamus ➔ Lee & Owyang. 2017. Sugars, Sweet Taste Receptors, and Brain Responses. Nutrients. 9(7):653. Review. https://doi.org/10.3390/nu9070653.

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

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Mehr zu Glucose in 7 Abschn. 2.7.  Zum Vielfach-Zucker Glycogen gibt es einen Bierdeckel XIII „Glycogen ist ein hoch effizienter Energie-Speicher“ im 7 Abschn. 6.2. Piero Andrea Temussi ist ein Feinschmecker, wenn es um die sardische Küche geht. Außerdem untersucht er den Geschmack von Peptiden und Proteinen; Aspartam ist nur ein süßes Peptid von vielen ➔ Temussi PA. 2012. The good taste of peptides. J Pept Sci. 18(2):73-82. Review. https://doi.org/10.1002/psc.1428. 

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2.2 

Aminosäuren, Peptide und Proteine

Eine Aminosäure ist eine Carbonsäure mit mindestens einer Aminogruppe. In der organischen Chemie gäbe es wieder eine riesige Auswahl an Aminosäuren (bitte noch einmal an den Bierdeckel III zum chemischen Raum denken). Proteine werden hingegen fast ausschließlich aus nur 20 Aminosäuren zusammengesetzt. Der dazugehörige genetische Code ist universell und hält immer wieder Überraschungen bereit – es gibt durchaus Abweichungen vom Universalcode; die Aminosäuren Selenocystein und Pyrrolysin sind solche Ausnahmen, die in 7 Abschn. 3.6 beschrieben werden. Alle Aminosäuren in Proteinen haben eine Aminogruppe an dem Kohlenstoffatom gebunden, das direkt der Carboxylgruppe nachfolgt, dieses C-Atom wird α-CAtom oder auch kurz Cα genannt. Das α-C-Atom hat mit der Carboxylgruppe und einer Aminogruppe bereits zwei verschiedene Gruppen gebunden. Wenn sich die beiden weiteren Gruppen auch noch unterscheiden, ist dieses α-C-Atom chiral. Es gibt von dieser Aminosäure dann eine D- und eine L-Version. Für die Proteinproduktion am Ribosom benutzen alle bekannten Lebewesen ausschließlich L-Aminosäuren. In der Zelle läuft nichts ohne Proteine, also kann man die 20 proteinogenen Aminosäuren auch als das Alphabet des Lebens betrachten. Studierende müssen oft die Seitenketten, die Abkürzungen und eventuell auch noch die pKA-Werte besonderer Seitenketten auswendig lernen. Dabei ist jede dieser 20 Aminosäuren etwas Besonderes. Über jede gibt es etwas zu ihrer Entdeckungsgeschichte und zu allerlei Besonderheiten zu berichten. Womöglich helfen diese Geschichten beim Lernen? Asparagin beispielsweise ist viel in Spargel vorhanden und wurde erstmalig aus Spargelsaft isoliert (. Abb. 2.4), daher stammt der Name dieser Aminosäure. Der typische Geruch des Urins nach einer ordentlichen Portion Spargel wird aber wohl von Schwefel-haltigen Verbindungen verursacht. In diesem Buch werden auch noch ein paar andere Aminosäuren etwas genauer vorgestellt. Um sich die Abkürzungen der Protein-bildenden Aminosäuren zu merken, kann vielleicht der Exkurs zum Ein-Buchstaben-Code weiterhelfen - „Wie kann man sich den EinBuchstaben-Code der Aminosäuren merken? Ein kleines Schema“.  



33 2.2 · Aminosäuren, Peptide und Proteine

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..      Abb.  2.4  Asparagin und Spargel gehören zusammen. Als erste Aminosäure überhaupt wurde Asparagin in Reinform isoliert. Das gelang aus Spargelsaft, denn da ist diese Aminosäure reichlich enthalten. Nach einer guten Portion Spargel stellt sich ein komisches Aroma im Urin ein. Das kommt allerdings nicht von Asparagin, sondern vom Abbau Schwefel-haltiger Verbindungen, allen voran die Asparagusin-Säure, die ebenfalls in der Abbildung dargestellt ist (rechts). Eine witzige Studie zeigt, dass es Menschen mit und ohne „Nase“ für das besondere Spargel-Aroma im Urin gibt. Der Autor dieses Buchs hat jedenfalls jene Nase und ist auch sonst ein Spargel-Freund ➔ Markt et al. 2016. Sniffing out significant „Pee values“: genome wide association study of asparagus anosmia. BMJ. 355:i6071. https://doi.org/10.1136/bmj.i6071. [Bildnachweis: Spargel, © emuck stock.adobe.com]

 xkurs: Wie kann man sich den Ein-Buchstaben-Code der Aminosäuren merken? Ein E kleines Schema

Es ist wohl am besten, wenn man sich hier seine ganz eigene Lösung erarbeitet. Ich habe damals die Aminosäuren in verschiedene Gruppen eingeteilt und mir dann eigene Eselsbrücken ausgedacht. Bitte das Alphabet durchgehen und die Buchstaben in drei Gruppen sortieren: die Aminosäuren, die ihren Anfangsbuchstaben als Abkürzung haben; die, die einen anderen Buchstaben als Abkürzung haben; und die Buchstaben, die für keine Aminosäure stehen. Wenn man das so macht, dann ist es bemerkenswert, dass in der ersten

Gruppe fast nur die „einfachen“, aliphatischen Aminosäuren sind. Die etwas „komplizierteren“ sind in der zweiten Gruppe – es sind alle geladenen und aromatischen Aminosäuren sowie die polaren Säureamide. Jetzt ist die Chance für Kreativität. Während man auf diese Strukturen schaut, kann man sich Eselsbrücken ausdenken. So können der Name, der jeweilige Ein-Buchstaben-Code und die Strukturformel dieser Aminosäuren alle gleichzeitig gelernt und miteinander verknüpft werden.

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Die Abkürzung ist der Anfangsbuchstabe

Abkürzung ist NICHT der Anfangsbuchstabe

Keine AA

A – Alanin

D – Aspartat – vier C-Atome, vierter Buchstabe im Alphabet

B

C – Cystein

E – Glutamat – fünf C-Atome, fünfter Buchstabe im Alphabet

J

G – Glycin

F – Phenylalanin – Fenylalanin

O

H – Histidin

K – Lysin – K ist der Buchstabe vor L

U

I – Isoleucin

N – Asparagin – asparagi N ist kleiner als Qlutamin – N kommt vor Q im Alphabet

X

L – Leucin

Q – Glutamin – Qlutamin ist größer als asparagiN – Q kommt nach N

Z

M – Methionin

R – Arginin – aRRRRRRginin

P – Prolin

W – Tryptophan – tryptoWan, die einzige Aminosäure mit zWei Ringen

S – Serin

Y – Tyrosin – tYrosin

T – Threonin V – Valin

Provokante Gegenfrage: Warum soll man sich den Ein-Buchstaben-Code überhaupt merken? Antwort: Es kommt darauf an, was man machen will. Wenn man Bioinformatik betreibt, ist es ungeheuer praktisch, das Aminosäure-Alphabet auswendig zu können. Es ist die gängige Art, wie Proteinsequenzen

in verschiedensten Datenbanken zu finden sind. Noch viel praktischer ist es, in den einzelnen Buchstaben auch gleich biochemische Eigenschaften zu „sehen“. LFLVLILL sieht doch schon ziemlich hydrophob aus, dagegen ist EDEERDSD ganz schön sauer und hoch geladen. Sehen Sie das eventuell auch so?

Von den 20 Standard-Aminosäuren sind so einige Neurotransmitter und Hormone abgeleitet. So wird das Schilddrüsenhormon Thyroxin aus zwei mit Iodid beladenen Tyrosin-Resten gebastelt. Erst vor Kurzem wurden molekulare Details dieser furchtbar aufwendigen Biosynthese bekannt – sie findet in der Schilddrüse am Thyroglobulin-Protein statt, einem mehr als 600 kDa schweren Eiweiß-Riesen; in einem Dimer dieses Kolosses gibt es nur sieben Positionen, an denen Thyroxin gebildet wird, der Rest des Proteins wird später abgebaut. Aus Tyrosin werden auch noch so einige andere sekundäre Naturstoffe gemacht – manche im menschlichen Metabolismus, andere exklusiv von Pflanzen. Was man aus der Aminosäure Tryptophan machen kann, ist in . Abb. 2.5 zu sehen. Aminosäuren sind über „-CO-NH-“-Peptidbindungen miteinander verknüpft. Eine Peptidbindung befindet sich immer zwischen dem C-Terminus der einen  

35 2.2 · Aminosäuren, Peptide und Proteine

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..      Abb.  2.5  Tryptophan und Schokolade und Serotonin. Aus der Aminosäure Tryptophan macht der Körper unter anderem den Neurotransmitter Serotonin, der Wohlgefühl und Glücksmomente vermittelt. Dies könnte mit ein Grund dafür sein, dass viele von uns Tryptophan-reiche Lebensmittel mögen, zum Beispiel Schokolade. Eventuell ist es aber auch nur der Stoff, aus dem eine gute Eselsbrücke gebaut ist – es gibt keine wissenschaftlichen Beweise, dass zusätzliches Tryptophan in Tablettenform gegen Depression und Stimmungsschwankungen hilft. Nur nebenbei, ich habe Tryptophan etwas verdreht dargestellt, damit der Vergleich mit Serotonin leichter fällt. Ist es denn in dieser Darstellung immer noch eine L-Aminosäure? [Foto: Schokolade, © Lumos sp, stock.adobe.com]

Aminosäure und dem N-Terminus der nächsten. Sie ist nicht starrsinnig, aber doch merkwürdig starr  – sie ist einfach nicht so frei drehbar wie andere Bindungen (. Abb. 2.6). Auf den ersten Blick ist das unerwartet, schließlich wird ja die Bindung zwischen dem Kohlenstoff der Carbonylgruppe und dem Stickstoff der Aminogruppe als Einfachbindung dargestellt. Somit sollte sie frei drehbar sein. Die Peptidbindung ist aber keine Einfachbindung, denn ab und an klappen ein paar Elektronenpaare hin und her und verleihen der Peptidbindung den Charakter einer echten Doppelbindung. Der macht, dass in einem Peptid nur die Einfachbindungen rund um das α-C-Atom frei drehbar sind. Anfang und Ende von Peptiden: Bei einem längeren Peptid bleiben zwangsläufig eine Aminogruppe und eine Carboxylgruppe frei. Es gibt ganz eindeutig einen Anfang und ein Ende in einem Protein. Für Biochemiker ist der Anfang der N-­Terminus und das Ende der C-Terminus; genau in dieser Reihenfolge entstehen Peptide am Ribosom, der großen Proteinfabrik der Zelle. Passen Sie aber auf, wenn Sie mit Synthese-Chemikern über Peptide sprechen. Deren Standard-Synthese an kleinen Kügelchen oder Membranen, die Synthese an der festen Phase, beginnt nämlich am C-Terminus. Oligo- und Polypeptide sowie Proteine: Wir sind bei Peptiden angekommen, den aus zwei bis unendlich vielen Aminosäuren zusammengesetzten Polypeptidketten. Peptide sind im menschlichen Körper wichtige Signalstoffe. So besteht das menschliche Peptidhormon Insulin aus 51 Aminosäuren. Es ist ein zentraler Regulator des Blutzuckerspiegels und des Metabolismus insgesamt. Längere Peptide nennt man irgendwann Proteine. Ich persönlich halte nicht viel davon, hier willkürlich eine bestimmte Grenze festzulegen. Es ist wohl besser, ein Protein als ein längeres Peptid zu definieren, das eine geordnete, dreidimensionale Struktur annehmen kann. Aber auch diese Definition hat ihre Tücken. Wenn wir von 3D-Peptiden reden, also von Proteinen, dann gibt es allerlei Wege, wie sich jene Peptid-­Spaghetti aufwinden können. An hübschen Korkenziehern und Pfeil-Mustern kommt man aber wohl nicht vorbei – wir besprechen α-Helices und β-Faltblätter ausführlich in 7 Abschn. 4.3.  



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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

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..      Abb.  2.6  Die Peptidbindung ist nicht frei drehbar, sondern flach wie ein Brett. Oben: Hier habe ich die Peptidbindung ausgedruckt und perspektivisch fotografiert; ein paar Kichererbsen sollen an Eiweiß erinnern. Die Peptidbindung ist flach wie ein Brett. Alle vier Atome der eigentlichen Peptidbindung sowie die beiden α-C-Atome (C1 und C2) der beteiligten Aminosäuren liegen in einer Ebene. Erst einmal schieben wir ein paar Elektronen hin und her. Das freie Elektronenpaar des Stickstoffs (nicht dargestellt) lehnt sich gerne mal hinüber zum Carbonyl-Kohlenstoff, nur damit der elektronenhungrige Sauerstoff auch noch das geteilte Elektronenpaar der Carbonyl-Gruppe ganz an sich ziehen kann. Es entsteht eine negative Teilladung am O und eine positive am N. Das in der Mitte ist kein Reaktionspfeil. Das Ding soll Mesomerie andeuten  – die Peptidbindung pendelt im realen Leben zwischen beiden Zuständen hin und her. Die Peptidbindung ist zu einem gewissen Teil eine Doppelbindung – nicht ganz, aber auch nicht gar nicht. Sie ist nur sehr eingeschränkt ­drehbar. Unten: Und darum gibt es hier wiederum zwei Zustände. Wenn beide α-C-Atome auf einer Seite der Bindung sind, dann spricht man von einer cis-Peptid-Bindung. Wenn sie auf gegenüberliegenden Seiten sind, dann ist das eine trans-Bindung. Bei Peptiden ist die Bindung in trans die Regel; cis-­Bindungen sind die absolute Ausnahme. [Bildquelle: Peptidbindung, JWM, 2022]

Protein-Exoten: Eine besondere Klasse von Proteinen wurde kürzlich in einem Meteoriten entdeckt. Diese Proteine bestehen aus zwei Peptidketten aus Glycin-­ Resten, jeweils 15, 16 oder 17 Aminosäuren lang, die ein antiparalleles, doppel­ strängiges β-Faltblatt bilden. Die beiden Enden des Faltblatts enthalten jeweils einen Brückenkopf aus Eisen, Sauerstoff und Lithium, eine Konstruktion, die so noch nicht bekannt war. Nach den beiden Metallen wurden diese Proteine Hämolithine genannt. Noch haben wir keinen Schimmer, wer oder was Hämolithine zusammensetzt. Sehr wahrscheinlich sind sie nicht zufällig entstanden. Besondere mikrobielle Peptide: Nicht nur in Meteoriten, auch in Bakterien gibt es außergewöhnliche Peptide. Ganz besondere bakterielle Naturstoffe werden sogar teilweise aus den ungewöhnlichen D-Aminosäuren zusammengesetzt. Die Biosynthese findet noch nicht einmal am Ribosom statt, sondern an gigantischen Stricklieseln  – manche nennen sie nicht-ribosomale Peptidsynthetasen. Mikroorganismen führen teils unerbittliche chemische Kriege. Da ist es von Vorteil, solche Synthesemaschinerien zu haben, die Peptid-basierte Sekundärstoffe und peptido­ mimetische Medikamente ausspucken. Wir Menschen sind immer noch dabei, dieses riesige chemische Arsenal zu sichten und für unser Wohlergehen nutzbar zu machen.

37 2.2 · Aminosäuren, Peptide und Proteine

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Kurzanleitung: Alles bekannte Leben benutzt α-Aminosäuren in ihrer L-Form, um Peptide und Proteine am Ribosom zusammenzusetzen. Die Peptidbindung ist die besondere Bindung, die Peptide im Innersten zusammenhält. Sie ist nicht frei drehbar. Im Körper werden Aminosäuren manchmal als Baumaterial für Hormone und Signalstoffe verwendet. Wir haben auch den Ein-Buchstaben-Code der Aminosäuren kennengelernt. Jetzt gibt es noch einen Exkurs zu Antikörpern in der Analytik. Exkurs: Antikörper zeigen fast immer nach Weste(r)n

Antikörper sind Y-förmige Proteine aus unserem Immunsystem. „Oben“ an den beiden kurzen Enden des Ypsilons sind die Bindestellen für Antigene. Die biochemischen und genetischen Prozesse bei der Reifung von Antikörpern würden mehrere Vorlesungsstunden füllen. Hier nur so viel: Durch cleveres DNA-Schneiden und etwas schlampiges Reparieren beim Rekombinieren entsteht eine nahezu beliebige Sequenzvielfalt in den Bindeschleifen (binding loops) der Antikörper. Antikörper können fast alles binden. Diese hohe Spezifität macht Antikörper sehr interessant für die biochemische Analytik  – zum Beispiel beim Western Blot. Dabei trennt man ein Proteingemisch – aus einer Zelle oder einer Gewebeprobe  – in einem Gel auf (wir nennen diesen Teil einfach mal SDSPAGE). Die Proteine werden dann auf eine Membran übertragen. Hier begegnen wir dem schönen deutschen Verb „blotten“ (Haben Sie heute schon „geblottet“?). Auf dieser Membran ist das entfaltete Protein von der Oberfläche her zugänglich und von dort kann der spezifische Antikörper binden. Dieser spezifische Antikörper wird dann durch einen zweiten, etwas generelleren Antikörper erkannt, der an irgendetwas, zum Beispiel ein Enzym, ein Radioisotop oder eine kleine Gold-Kugel, gekoppelt ist, damit man ihn sichtbar machen kann. Et voilà, nichts könnte einfacher sein.

Der Western ist in nahezu allen biochemischen Laboren dieser Welt eine „Standard“-Methode. Trotzdem gibt es wohl keine zwei Arbeitsgruppen, die ihn komplett identisch durchführen. Das ist so ungefähr wie beim Kochen: Kartoffelklöße, ein indisches Curry oder Sauerkraut sind auch solche absoluten Standards, die aber für den Anfänger nicht besonders gelingsicher sind. Viele Studierende leiden an ­schlechten Western Blots. Irgendwann werden sie dann aber besser, die Westerns. Ganz bestimmt. Sagt man zumindest so. Wirklich. Diese Methode wird Western Blot genannt – und der Western Blot wurde indirekt nach Edwin Southern benannt. Das ist kein Witz. Dr. Southern hat damals die Molekularbiologie revolutioniert, indem er spezifische DNA-Abschnitte mit markierten DNA-Schnipseln nachwies  – er hatte den Southern Blot erfunden. Ihm zu Ehren wurde der entsprechende Blot mit RNA dann Northern Blot genannt und dann kamen auch die Proteine mit den Antikörpern für den Western. Es soll auch Far-Westerns mit mindestens einem weiteren Protein dazwischen geben – in Sandwich-Anordnung. Dann sind da noch South-Westerns für DNA-­ bindende Proteine und vielerlei Spielarten mehr. (Eastern) bleibt aber dem Oster-Fest und der Familie vorbehalten.

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

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Die meisten Antikörper zeigen nach Weste(r)n. [Bildnachweis: Windrose aus

dem Midlands Art Centrum in Birmingham, JWM, 2021]

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Mehr zum genetischen Code gibt es in den 7 Abschn. 3.5 und 3.6 zu lesen. Hämolithin – ein Protein aus dem Weltall ➔ Mueller JW. 2020. Protein X: ein Eiweiß mit Eisen und Lithium aus einem Meteoriten. BIOspektrum Journal Club. 26(4):411. https://doi.org/10.1007/s12268-020-1402-6; und hier dann auch noch das eigentliche Manuskript ➔ McGeoch et al. 2020. Hemolithin: a Meteoritic Protein containing Iron and Lithium. arXiv Astrophysics. https://doi.org/10.48550/ arXiv.2002.11688. Wer es kompliziert haben will, hier ein Vorgeschmack auf die Struktur des Proteinriesen Thyroglobulin und gleich dazu noch eine Thyroglobulin-Struktur aus dem Jahre 2022 ➔ Mueller JW. 2020. Die Struktur eines Proteinriesen – Thyroglobulin. BIOspektrum Journal Club. 26(2):180. https://doi.org/10.1007/s12268020-1352-z. ➔➔ Adaixo et al. 2022. Cryo-EM structure of native human thyroglobulin. Nat Commun. 13(1):61. https://doi.org/10.1038/s41467-021-27693-8. 

2.3 



Fette, Öle und gute Butter

Dieser Abschnitt handelt von biologischen Ölen und Fetten, von Wachsen und schließlich von Margarine und guter Butter. Ein Ausblick erwähnt weitere Lipide, aus denen wir in 7 Abschn. 4.2 ganze Membranen zusammensetzen werden. Erstmal fangen wir aber mit Erdöl oder Mineralöl an. Um zu zeigen, wie viel Energie in Fetten steckt, verbrennen wir dann eine Erdnuss, eine herrlich rußende Schweinerei. Mineralöl oder Erdöl ist flüssiges Gold. Die industrielle Welt kann gar nicht genug davon kriegen, es werden dafür Kriege geführt. Erdöl ist bei fossilen Umwandlungsprozessen organischer Überreste von Algen, Zooplankton und anderem Zeugs entstanden. Es besteht aus linearen oder verzweigten Alkanen, Cycloalkanen und Aromaten, selten sind Alkene enthalten, fast nie aber Alkine (hier die entsprechende . Abb. 2.7 zur Erklärung dieser Begriffe). In biochemischen Fetten  



39 2.3 · Fette, Öle und gute Butter

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..      Abb.  2.7  Was sind Alkane, Alkene und Alkine noch mal? Eine Begriffsklärung mithilfe von Schwänen. Meist handelt es sich bei all diesen Kohlenwasserstoffen um langkettige Verbindungen mit mehreren C-Atomen. Im englischen Sprachraum gibt es in diesem Bereich so einige witzige Meme. Kennen Sie eventuell auch im Deutschen noch andere Eselsbrücken? [Bildnachweis: Zeichnung, JWM 2022; Weihnachtshuhn, JWM, 2021]

steckt Wasser vor Allem in den Ester-Bindungen zwischen Fettsäuren und speziellen Gerüstbausteinen. Ein denkbarer Weg von biologischen Fetten zum Erdöl ist das Austreiben von Wasser aus diesen Strukturen. Fette bestehen aus einem Gerüstbaustein, meist Glycerin, und mehreren Carboxylsäuren mit langen Kohlenwasserstoffketten und vielen Einfachbindungen, ein paar Doppelbindungen, aber keinen Dreifachbindungen (ganz wie beim Erdöl: viele Alkane, selten Alkene, keine Alkine). Diese Fettsäuren haben nur sehr selten Verzweigungen in den langen, fettigen Alkan- oder Alken-Ketten und meistens bestehen sie aus einer geraden Anzahl an Kohlenstoffatomen. All dies wird durch ihre Biosynthese verständlich, die wir in 7 Abschn.  6.5 besprechen. Über ihre Carboxylgruppe sind Fettsäuren in Neutralfetten mit einer der drei OH-Gruppen des Glycerins verestert – eine stabile, aber immer noch gut spaltbare Verbindung. Trotz der endständigen Carboxylgruppe und den ab und zu vorkommenden Doppelbindungen kommt die Summenformel von Neutralfetten mit längeren Fettsäuren einem Alkan mit (CH2)n immernoch ziemlich nah. Der Kohlenstoff ist hier auf seiner größtmöglichen Reduktionsstufe ist. Man kann schon ahnen, dass  

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Fettsäuren sehr viel Energie speichern - dass es da also viel zu oxidieren oder zu verbrennen gibt. Wieviel Energie steckt eigentlich in einer Erdnuss? Dies ist ein Experiment, das es in vielfältiger Ausführung im Internet zu sehen gibt. Eine herrlich rußende Schweinerei. Vergleichbare Versuche sind auch mit allerlei anderen Naturstoffen oder Nahrungsmitteln verfügbar. Wie das geht, ist eigentlich kinderleicht. Wieviel Energie das sein kann, das zeigt die Überschlagsrechnung auf Bierdeckel IV auch. Bierdeckel IV: Wie viel Energie steckt in einer Erdnuss Eine Erdnuss muss fixiert werden, vielleicht mit einer Zange, einem Drahtgestell oder einer umgebogenen Büroklammer. Darüber wird ein Reagenzglas angebracht, in dem 10 g Wasser sind. Vorher und hinterher die Temperatur und die Menge des Wassers messen (wiegen!) und niederschreiben. Zum Entzünden eignen sich Bunsenbrenner oder Lötlampe wohl etwas besser als ein Streichholz.

Was wird passieren? Wir schauen mal genauer auf die Nährwert-Tabelle auf einer Erdnussdose, die vom letzten Partyabend übrig gebliebenen ist. 100 g geröstete, ungesalzene Erdnüsse enthalten demnach 23,7 g Eiweiß, 21,5 g Kohlenhydrate, 8,0 g Ballaststoffe und fast die Hälfte, also 49,7  g, Fett. Für 100  g Erdnuss werden als Brennwert etwa 585 kcal oder 2449 kJ aufgeführt. Eine einzelne Erdnuss wiegt ungefähr 1,4 g, es stehen uns also maximal 8,19 kcal (34,3 kJ) zur Verfügung. Der Definition der Kilo-Kalorie entsprechend, kann diese

41 2.3 · Fette, Öle und gute Butter

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Energie 8,19 kg Wasser um ein Grad Celsius erwärmen. Anders gesagt, wäre eine einzige kcal davon ausreichend, um unsere 10 g Wasser von Raumtempertatur bis zum Kochen zu erwärmen. Bleiben noch etwa 7  kcal übrig. Die Verdampfungswärme von Wasser ist 539 kcal/kg oder 2257 kJ/kg. Gute 5 kcal wären also nötig, um unsere 10 g Wasser völlig zu verdampfen. Natürlich ist die Verbrennung der Erdnuss sowie der Wärmetransfer von der frei brennenden Nuss zum Reagenzröhrchen nicht optimal. Sehr wahrscheinlich wird das Ergebnis eher sein, dass die Flüssigkeit um vielleicht 60 Grad Celsius erwärmt wurde und dass nur 1–2 ml Wasser verdampft sind. Trotzdem, es ist schon stattlich, was in so einer kleinen Erdnuss steckt. [Schema: JWM, 2022]

Von Fetten und Ölen: Was ein Fett und was ein Öl ist, hängt hauptsächlich von der Schmelztemperatur des jeweiligen Fetts und der Umgebungstemperatur ab. Dass ein Öl fest wird, das kann auch mit gutem Olivenöl im Kühlschrank oder im kalten Auto passieren – ein völlig harmloser Vorgang, im warmen Wohnzimmer wird das Öl genauso schnell wieder flüssig. Ansonsten gilt wie bei Alkanen die Beziehung: Je länger die Kohlenstoffkette, desto höher die Schmelztemperatur. Auch die Anzahl der Doppelbindungen beeinflusst die Schmelztemperatur von Fetten. Doppelbindungen machen einen Knick in den sonst recht geraden Schwanz der Fettsäuren und verhindern somit eine dichtere Packung. Viele Doppelbindungen setzen die Schmelztemperatur herab – es entsteht ein Öl. Und dann ist da noch die endlose Diskussion, ob die „gute“ Butter gesund ist oder doch Margarine. Butter ist ein natürliches Produkt mit einer großen Vielfalt an verschiedenen Fettsäuren, die meisten davon sind aber gesättigt. Butter enthält natürlicherweise einen hohen Anteil an den fettlöslichen Vitaminen A, D und E. Margarine ist ein industrielles Produkt, das früher ziemlich fies war. Die chemische Härtung von Pflanzenölen führte zu einem hohen Anteil an ungesunden trans-Fettsäuren. Mittlerweile ist Margarine besser geworden und wird auch mit Vitaminen versetzt. Welche der beiden wirklich besser ist, ist schwer zu sagen – als Fette sind beide immer noch hoch-kalorisch. Beide wohl eher sparsam verwenden. Warum nicht auch mal Hummus, Frischkäse oder Tomatenmark als Brotaufstrich verwenden? Eine besondere Art von Fetten sind Wachse. Das sind ziemlich langkettige Fettsäuren, mittels Ester-Bindung verknüpft mit ebenso langkettigen Alkoholen. Diesmal sind das aber Alkohole mit nur einer OH-Gruppe; Glycerin darf hier nicht mitspielen. Wachse sind perfekt, um Gefieder und andere Oberflächen zu wachsen. Viele Vögel haben ihre Wachsproduktion in der Bürzeldrüse konzentriert. Für manche Insekten sind Wachse auch Baumaterial. Eine Hauptzutat im Bienenwachs ist Palmitinsäure-Myricyl-Ester CH3-(CH2)14-C(O)O-(CH2)29-CH3, der aus der C16-Fettsäure Palmitinsäure und diesem eeewig langen C30-Alkohol Myricin besteht – dieses Wachs ist ein hydrophober Riese mit 46 C-Atomen!

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Weitere Lipid-Arten: Wer es jetzt sehr genau haben will, der sollte „Lipide“ als den Sammelbegriff für alles Fettige im menschlichen Körper verwenden. Mit „Fetten“ sind dann eigentlich nur eine Gruppe von Lipiden gemeint, nämlich die Neutralfette. Weitere Gruppen von Lipiden sind jene Neutralfette, die eine Fettsäure gegen eine Phosphat-Gruppe getauscht haben  – die Glycerophospholipide. Genau wie eine freie Fettsäure sind sie amphipathisch. Sie haben einen wasserliebenden und einen fettliebenden Teil. Diese Lipide können Mizellen oder gar Membranen formen. Bitte jetzt an Seifenblasen denken (7 Abb. 4.3). Etwas Besonderes sind Spingolipide, die statt Glycerin einen etwas längeren Alkohol enthalten, das Sphingosin. Schließlich gibt es noch Sterole, die die Festigkeit von Membranen regulieren – Cholesterin ist wohl das bekannteste Sterol. Klärende Worte: Fette sind eine große Klasse von Naturstoffen. Die meisten sind Bau- und Isolierstoffe sowie unerlässlicher Energiespeicher. Der Sammelbegriff „Lipide“ schließt auch amphipathische Moleküle ein, die als Seifen fungieren und Vesikel und Membranen formen können. Fettsäuren sind lange, unverzweigte α-Carbonsäuren.  

z Navigation

Über biologische Membranen und die Rolle von Cholesterin sprechen wir bei den Isoprenoiden in 7 Abschn.  2.5 und dann noch einmal bei den Membranen selbst in 7 Abschn. 4.2.  In 7 Abschn. 5.4 werde ich auf fettlösliche Vitamine und Cofaktoren eingehen und auch Vitamin D erwähnen.  So einige Eigenarten der langen, unverzweigten α-Carbonsäuren werden wir besser verstehen, wenn wir uns in 7 Abschn. 6.5 die Biosynthese dieser Fettsäuren ansehen. Ganze Klassen von Lipiden besprechen wir hier jedoch nicht, zum Beispiel die an verschiedenen Signalübertragungsprozessen beteiligten Inositole, die im Gehirn wichtigen Sulfatide oder gar sulfatierte (Neuro-)Steroide. 









2.4 

Nucleinsäuren

Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette sind landläufig als Naturstoff-Klassen bekannt. Hier geht es um die vierte große Klasse von Naturstoffen, die Nucleinsäuren, und ihre vielfältigen biologischen Funktionen. Biochemisch gibt es einen großen Unterschied zwischen Nucleosiden und Nucleotiden. Und es folgt ein Teil der Entdeckungsgeschichte der DNA, eine deutsche Erfolgsgeschichte. Von DNA hat jeder und jede schon einmal gehört. Die Abkürzungen DNA und ATP sind in der allgemeinen Bevölkerung ebenso bekannt sind wie die Formel H2O für Wasser oder Einsteins Formel E  =  m·c2. Trotzdem sind Nucleinsäuren als Naturstoffklasse weniger im allgemeinen Bewusstsein. Vielleicht, weil es sich um zusammengesetzte Naturstoffe handelt. Das ist aber ein schwaches Argument, schließlich sind Neutralfette auch zusammengesetzt. Eventuell auch deshalb, weil

43 2.4 · Nucleinsäuren

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Nucleinsäuren in heutigen Nährwert-Ampeln auf Lebensmitteln nicht auftauchen. Dabei sind Nucleinsäuren ein wichtiger Bestandteil unserer Nahrung. Sie stecken in jedem Lebensmittel. Bierdeckel V zeigt, wie viel Nucleinsäuren wir so jeden Tag essen. Und ja, in Nucleinsäuren stecken auch Kalorien.

Bierdeckel V: Wie viel DNA essen wir eigentlich pro Tag? Vorab, jedes, aber auch wirklich jedes in der Natur gewachsene Nahrungsmittel enthält Nucleinsäuren. Sollten Sie irgendwo einen Aufkleber „ohne DNA“ oder „genfrei“ auf Lebensmitteln sehen, lassen Sie bloß die Finger davon. Innereien können recht viel DNA enthalten. Leber kann es bis auf 20  g/kg Trockengewicht bringen. Muskelfleisch hingegen hat mit 7–9 g/kg Trockengewicht deutlich weniger DNA. Fische liegen im Ganzen bei unter 1 g/kg Trockengewicht Ganz ähnliche DNA-Gehalte haben Bäckerhefe (6 g/kg) und verschiedene Kohlsorten – der gesunde Brokkoli hat für einen Kohl mit 5 g/kg Trockengewicht einen recht hohen Gehalt an Nucleinsäuren. Ich habe nicht elf Jahre im Ruhrgebiet gewohnt, ohne eine ordentliche Currywurst schätzen zu lernen. Eine Portion dieses Küchenklassikers kann 150 g Currywurst, 150 g Pommes und beliebig viel leckere Sauce enthalten. Wir übersetzen das mal in mehr oder weniger feines Schweinefleisch, beste Kartoffeln und Sauce nach Familienrezept, also Tomate, Zwiebel, Zucker und allerlei leckere Gewürze. Für unsere DNA-diätischen Betrachtungen lassen wir mal die Sauce in Ruhe und konzentrieren uns auf das Fleisch und die Pommes. 7 g DNA pro kg Trockengewicht für Muskelfleisch, etwas weniger könnten es sogar bei Bauchstücken sein. Die Wurst hat einen optimistisch geschätzten Wassergehalt von 20 %. Bei frischen Kartoffeln sind wir bei 1 g DNA pro kg Trockengewicht und einem Wassergehalt von 80 %. Alles zusammengerechnet kommen wir für eine Portion Currywurst nur auf 0,87 g DNA. Das bisschen DNA im Vergleich zu den anderen Nährstoffen kann ja wohl nicht wirklich bei Gicht entscheidend sein, oder? Auch macht es nicht besonders viel Sinn, für die paar Nucleinsäuren Kalorien auszurechnen. Hier kommt es wohl wieder auf die Menge an. Im Vergleich mit pflanzlicher Nahrung scheinen tierische Nahrungsmittel immernoch recht viele Nucleinsäuren zu enthalten. Und da der Abbau der Purine Adenin und Guanin in unserem Körper nun einmal recht langsam ist, könnte etwas mehr Salat, Obst oder Gemüse dem Gicht-Patienten vielleicht nicht wirklich schaden… Eine wunderbare Tabelle zum Gehalt an Nucleinsäuren in unseren Lebensmitteln gibt es hier ➔ Jonas et al. 2001. Safety considerations of DNA in food. Ann Nutr Metab. 45(6):235–54. Review. https://doi.org/10.1159/000046734 Menschen mit vegetarischer Ernährung haben seltener Gicht ➔ Chiu et al. 2020. Vegetarian diet and risk of gout in two separate prospective cohort studies. Clin Nutr. 39(3):837–844. https://doi.org/10.1016/j.clnu.2019.03.016

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Es gibt Nucleinsäuren in zwei „Geschmacksrichtungen“, Nucleoside und Nucleotide. Ein Nucleosid besteht aus einer Kernbase und einem C5-Zucker oder etwas Ähnlichem; Nucleotide enthalten zusätzlich eine beliebige Anzahl von Phosphat-­ Resten. Ich versuch es mal anders zu sagen: Kennen Sie die Begriffe Stalaktit und Stalagmit? Oder haben Sie sich schon einmal gefragt, warum ein Normal-­ Sterblicher sich unterschiedliche Wörter für herabhängende und aufrecht stehende Tropfsteine merken soll? Na ja, mit verschiedenen Eselsbrücken ist es ja nicht so schwierig, diese beiden Begriffe auseinander zu halten, z.  B. mit dieser hier: „StalakTiten hängen von der Tecke und StalagMiten stehen auf der Matte“. Zurück zur Biochemie. Warum die Unterteilung in Nucleoside und Nucleotide biologisch Sinn macht, untersucht der dazugehörige Exkurs „Der Ritterschlag vom Nucleosid zum Nucleotid“. Nur Nucleotide, nicht Nucleoside, sind Bestandteil der Nucleinsäuren DNA und RNA. Ein Nucleosid ist ein Zucker oder so etwas Ähnliches, verknüpft mit einer Kernbase oder so etwas Ähnlichem. Solche Kombinationen gibt es viele, weit mehr als jene Bausteine, die in RNA und DNA verbaut werden. Die Chemikerin kann hier wieder an den gesamten chemischen Raum denken. Bedeutende Nucleoside sind hochwirksame Medikamente gegen Krebs oder bei Virusinfektionen. Viele von uns haben sicher schon einmal Aciclovir gegen Lippenherpes angewendet, ein wahres Zaubermittel, nicht wahr? Exkurs: Der Ritterschlag vom Nucleosid zum Nucleotid

Erst die Phosphorylierung macht dieses „Ding“, also das wie auch immer geartete Nucleosid, zum Nucleotid, zu etwas, was irgendwann in DNA eingebaut werden könnte. In der Zelle ist diese initiale Phosphorylierung eines Nucleosids oft langsam und mühevoll  – der Ritterschlag zum Nucleotid kommt nicht so ohne Weiteres. Ganz so wie weitere Orden und Würdigungen, kommen auch weitere Phosphorylierungen fast zwangsläufig, da Phosphate quasi verlustfrei zwischen verschiedenen Nucleotiden hin- und hergeschoben werden können. Wie gut der Ritterschlag vom Nucleosid zum Nucleotid für ein Medikament funktioniert, bestimmt also dessen Wirksamkeit. Teilweise führte diese Tatsache zu so verzweifelt anmutenden Lösungsansätzen wie dem Versuch, ein

Gen für eine Nucleosid-Kinase gleich mit dem Nucleosid in die Zielzellen einzuschleusen. Einfach gleich ein NucleoTid-­ Analogon, also nicht nur das NucleoSid, als Medikament in die Zelle einzuschleusen, wurde lange für unmöglich gehalten. Diese mehrfach negativ geladenen Moleküle können doch nicht membrangängig sein, oder? Eine neue clevere Art, dieses erste Phosphat zu verpacken, hat das ganze Feld der Nucleosid-Analoga revolutioniert. Die Verpackung heißt ProTide und erlaubt das direkte Einschleusen eines NucleoTid-Analogons, quasi ein Ritter in Verkleidung – dabei steht ProTide für PROdrug & nucleoTIDE.  Für viele Nucleosid-­ Analoga führte die ProTide-Technologie zu riesigen Effektivitätssteigerungen. Um Aciclovir und Co

45 2.4 · Nucleinsäuren

wächst nun eine Substanzklasse heran, die deutlich effektiver gegen Viren oder Tumoren ist. Mich stimmt das hoffnungsvoll. Und mal ehrlich, wer braucht heute noch Ritter. Zum Weiterlesen: Manfred Konrad versucht, ein Nucleosid zusammen mit einer Nucleosid-Kinase in die Zelle zu bringen ➔ McSorley et al. 2014. A designed equine herpes thymidine kinase

(EHV4 TK) Biochem Pharmacol. 87(3):435-44. https://doi.org/10.1016/j. bcp.2013.11.011. Youcef Mehellou ist der ProTide-Prodrug-Technologie sehr verbunden ➔ Mehellou et a. 2018. The ProTide Prodrug Technology: From the Concept to the Clinic. J Med Chem. 61(6):22112226. Review. https://doi.org/10.1021/ acs.jmedchem.7b00734.

Die Exkurs-Abbildung zeigt das antivirale Medikament Aciclovir und das normale Nucleosid Adenosin. Die Szene in Playmobil soll

deutlich machen, dass der Ritterschlag manchmal keine leichte Angelegenheit ist. [Bildinformation: Ritterschlag, JWM, 2022]

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Nucleotide haben vielfältige Funktionen: Nucleotide dienen als Energie-­Währung der Zelle  – allen voran ATP, aber auch andere Nucleotide wie GTP und UTP. Nucleotide vermitteln zwischen Anabolismus und Katabolismus. Chemisch ist die Energie des ATP in seinen Anhydrid-Bindungen zwischen den einzelnen Phospho-Einheiten versteckt. Nucleotide sind Bestandteil von verschiedenen

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Enzym-Cofaktoren (NAD, FAD) und aktivierten Vorläufern (SAM, CoA, PAPS, UDP-Glucose, CDP-Diacylglycerin). Der Nucleotid-Rest kann hier getrost als molekularer Griff bezeichnet werden. Nucleotide sind wichtige intrazelluläre Botenstoffe, sogenannte Second Messenger, die die Zelle produziert, wenn sie durch Hormone oder andere extrazelluläre Signale gekitzelt wird. Einer dieser Second Messenger ist das zyklische Adenosin-Monophosphat cAMP. Es wird von der Adenylat-Cyclase aus ATP hergestellt und kann schnell von Phosphodiesterase-Enzymen abgebaut werden – ideale Voraussetzungen für ein effektives Signal-System mit chemischem An/Aus-Schalter. Schließlich sind Nucleotide Bestandteil der Nucleinsäuren DNA und RNA. Mit denen beschäftigt sich 7 Kap. 3 ausführlich. Die Entdeckungsgeschichte der DNA ist spannend und teils in Roman-Format niedergeschrieben worden. Eine Kurzversion des ersten Teils ist im historischen Exkurs „Das Wettrennen um die DNA-­ Struktur – Teil 1“ zu lesen.  

Exkurs: Das Wettrennen um die DNA-Struktur – Teil 1

Beim Urschleim beginnt es, also bei dem ekeligen Schleim, den Friedrich Miescher 1869  in der Tübinger Schlossküche aus eitrigen Wundauflagen isolierte. Heute isoliert fast jeder Besucher einer langen Nacht der Wissenschaft DNA, aber nicht aus nässend triefenden Bandagen, sondern aus so freundlichem Obst wie Banane, Erdbeere oder Kiwi – moderner Wissenschaftskommuni­kation sei Dank. Miescher nannte den ollen Schleim „Nuclein“ und beschrieb ihn als den sauren Teil des Zellkerns. Er wies außerdem nach, dass im Nuclein Phosphor enthalten ist. DER Entdecker der Erbsubstanz beschrieb seinen experimentellen Erfolg in dieser Zeit aber so: „Der Zufall hat mich während der Zeit meiner Untersuchung nicht gerade begünstigt.“ (Friedrich Miescher) Nicht viele, die eine experimentelle Abschlussarbeit angefertigt haben, können für sich selbst wohl das Gegenteil sagen. Was für eine Fehleinschätzung aber von Doktor Miescher! Die Entdeckung der DNA  – erst einmal eine deutsche Erfolgsgeschichte.

Die Funktion des Nucleins blieb Miescher dann aber verborgen  – er dachte, dass Eiweiße für die Vererbung verantwortlich sind. Miescher war mit dieser Meinung nicht allein. Eiweißen mit ihrer komplexen Zusammensetzung traute man noch in den 1930ern eher die verantwortungsvolle Aufgabe der Vererbung zu als dem „langweiligen“, homogen zusammengesetzten Nuclein. Dann aber lieferten verschiedene Entdeckungen mehr Informationen über die eigentliche Natur des Nucleins, das mittlerweile in DNA umbenannt war. Recht prosaisch, teils aber auch langatmig erzählt Friedrich Miescher von der Entdeckung der DNA ➔ Miescher. Ueber die chemische Zusammensetzung der Eiterzellen. In: Hoppe-Seyler (Hrsg) Medicinisch-chemische Untersuchungen, 1871; Heft 4: 441–460. Zitiert nach: Hall & Sankaran. 2021. DNA translated: Friedrich Miescher‘s discovery of nuclein in its original context. Br J Hist Sci. 54(1):99–107. https:// doi.org/10.1017/S000708742000062X.

47 2.5 · Isoprenoide, Steroide und sekundäre Naturstoffe

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z Navigation

7 Kap. 3 beschäftigt sich ausführlich mit DNA und RNA.  Die Idee vom Nucleotid als molekularer Griff lässt uns nicht so leicht los. Mehr zu Cofaktoren und der besonderen Chemie, die sie ermöglichen, in 7 Abschn. 5.3.  Mehr zu ATP und Hoch-Energie-Verbindungen dann in 7 Abschn. 5.6. 







2.5 

Isoprenoide, Steroide und sekundäre Naturstoffe

Isoprenoide sind zunächst die letzte Kategorie von Naturstoffen, die wir besprechen. Kohlenstoff-C5-Einheiten werden hier aus nur zwei Ausgangsstoffen (wir nennen sie einfach mal IPP und DMAPP) zu scheinbar beliebig komplizierten Molekülen zusammengefügt. Pflanzen sind wahre Meister darin, auf Isopren-­Basis Duft- oder auch Abwehrstoffe zu produzieren; auch wenn Bakterien und Tiere auch ein paar Iso­ prenoide herstellen können. Das C10-Molekül Menthol zum Beispiel sieht ja erstmal nach nicht viel aus. Menthol ist allerdings sehr erfrischend, wenn man an der Pfefferminze riecht, einen Tee davon macht oder einen Menthol-­Drops lutscht. Lecker. Die Meisterklasse der Isoprenoide sind wohl die Steroide. Aus zweimal drei C5-Einheiten wird eine Kohlenstoffkette mit 30 C-Atomen zusammengebaut, das Squalen (. Abb. 2.8). Squalen wird dann durch Oxidation aktiviert und es passiert etwas Erstaunliches: Katalysiert vom Enzym Lanosterol-Synthase (auch Oxidosqualen-­Cyclase genannt) bildet sich Lanosterol, ein Molekül mit vier Ringen und sieben chiralen Zentren. Die stark exergone Reaktion läuft ganz von allein ab, die Lanosterol-Synthase behält dabei lediglich die Stereochemie im Auge – ganz so wie ein Waffeleisen den Teig in die Form drückt. Jetzt ist bereits der Steroid-­Grundkörper erkennbar – drei Sechser-Ringe und ein Fünfer-Ring. Mit „fast fünf“ Ringen könnte man meinen, das „Backen“ von Lanosterol(-„Waffeln“) sei eine olympische Disziplin. Der Rohling aus Carbon-Verbundmaterial ist fertig. Jetzt sind es „nur noch“ ein paar Reaktionen für den Feinschliff. Hier wird noch eine Methyl-Gruppe entfernt, da noch eine Doppelbindung verschoben. Nach schlappen 19 Reaktionsschritten ist das erste Meisterwerk fertig, das Cholesterin. Cholesterin ist enorm wichtig  – als Bestandteil von Membranen. Mit ihm können Membranen gleichzeitig stabilisiert und geschmeidig gehalten werden. Cholesterin ist außerdem das Ausgangsmaterial zur Herstellung von Steroid-Hormonen. Obwohl wir ständig Cholesterin aus der Nahrung aufnehmen, haben wir Menschen immer noch die Fähigkeit behalten, Cholesterin selbst herzustellen. Biochemisch ist es uns eben sehr wichtig. Fast alle Kohlenstoff-Atome im Lanosterol sind sp3-hybridisiert, soll heißen, von ihnen gehen vier Einfachbindungen in Tetraederform aus. Genau diese Anordnung findet man auch im Diamanten. Das Steroid-Grundgerüst kann also als einschichtiger Diamant bezeichnet werden. Vielleicht ist die Stabilität des Diamanten „- ein energetisches Minimum -“ ja eine Erklärung dafür, warum es Steroide oder Steroid-ähnliche Verbindungen in vielen Lebewesen gibt. Sind sie eventuell sogar ein Beispiel für konvergente chemische Evolution? Im Folgenden noch eine kleine Übersicht. Einzelne Vertreter der verschiedenen Stoffklassen sind in . Abb. 2.9 dargestellt.  



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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

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..      Abb.  2.8  Aus Squalen wird Lanosterol „gebacken“ und aus Lanosterol wird Cholesterin ­„geschnitzt“. Oben: Squalen ist ein Isoprenoid. In einer einzigen Reaktion wird es präzise in Lanosterol umgewandelt (links). 19 weitere Reaktionen sind nötig, um Cholesterin zu erzeugen (rechts). Sehen Sie die Unterschiede in den beiden Formeln? Ein Waffeleisen soll die Lanosterol-Synthase symbolisieren. All die kleinen Reaktionen erinnern entfernt an Holzschnitzen. In 7 Abb. 5.7 geht es weiter mit der „mechanischen“ Bearbeitung von Cholesterin. [Abbildungsnachweis: Waffeln, © TwilightArtPictures stock.adobe.com; Holz schnitzen, © Marko Duca stock.adobe.com]  

Auch wenn die meisten Bakterien Steroide nicht selbst herstellen können, können viele von ihnen Steroide wenigstens verstoffwechseln  – so wird unser Darm selbst zur Steroid-Fabrik. Ausgerechnet Mycoplasmen können Steroide selbst produzieren – allerdings besteht der Verdacht, dass sie die nötigen Gene dafür von uns Säugetieren geklaut haben. Ach, und dann gibt es noch bakterielle Hopanoide. Die sehen fast wie Steroide aus, haben aber fünf, statt vier Ringe. Dann haben wir Pilze. Sie synthetisieren Ergosterin, um ihre Membranen stabiler zu machen. Ganz ähnlich zum Cholesterin in unseren Membranen. Insekten sind lustig. Allein können sie nur selten Cholesterin synthetisieren. Trotzdem sind sie von Cholesterin abhängig, da sie daraus das kostbare Häutungs-

49 2.5 · Isoprenoide, Steroide und sekundäre Naturstoffe

2

..      Abb.  2.9  Steroide sind überall. Oben links: Zu sehen ist der Steroid-Grundkörper, einmal allein, einmal dreifach übereinandergeschichtet. Man kann diesen Baustein gut und gerne als einschichtigen Diamanten bezeichnen. Steroide gibt es überall. Abgebildet sind: Mitte links: Diplopterol, ein bakterielles Hopanoid. Mitte rechts: Ergosterin aus Pilzen. Unten links: Ecdyson aus Insekten. Unten rechts: Brassinolid, ein pflanzliches Brassinosteroid. Bereits besprochen haben wir das tierische Cholesterin. Menschliche Steroid-Hormone und Vitamin D3 kommen in 7 Abschn. 5.4 dran. [Bildnachweis: Diamant, © www3d stock.adobe.com]  

hormon Ecdyson herstellen. Also müssen sie Cholesterin mit der Nahrung aufnehmen – oder wenigstens irgendein Sterol, das sie dann in Cholesterin umwandeln können. In diesem Sinne seien Pflanzen-fressende Raupen und abendlich umherschwirrende kleine Blutsauger erwähnt. Und dann sind da die Pflanzen selbst. Die können ja meist machen, was sie wollen, zumindest biochemisch-synthetisch gesehen. Pflanzen nehmen den Steroid-­

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Grundkörper, den mit den drei Sechser-Ringen und dem Fünfer-Ring, und basteln daraus etwas Neues. Der mittlere Sechser-Ring, der „B-Ring“, wird oxidiert und nochmal oxidiert und auf einmal ist daraus ein Siebener-Ring geworden. Die Brassinosteroide sind eine größere Stoffklasse. Die meisten haben im B-Ring diese komische interne Esterbindung, die auch Lacton genannt wird. HochKarätig: Fast alle Kohlenstoff-Atome in den hier besprochenen Sterol- oder Sterol-ähnlichen Verbindungen sind sp3-hybridisiert, soll heißen, von ihnen gehen vier Einfachbindungen in Tetraederform aus. Genau diese Anordnung findet man auch im Diamanten. Das Steroid-Grundgerüst kann also als einschichtiger Diamant bezeichnet werden. Wenn wir an die Stabilität des Diamanten denken, sind wir recht schnell bei energetischen Minima, um zu erklären, warum wir genau die Steroid-­ Gerüste in der Natur finden, die wir finden. Davon mehr im folgenden Abschnitt. z Navigation  Cholesterin ist ein Sterol und ähnelt dem Ergosterin aus Pilzen. Cholesterin wird

auch in unseren Membranen verbaut (siehe 7 Abschn. 4.2).  Aus Cholesterin kann unser Körper biologisch hochwirksame Steroid-­ Hormone machen. Zu denen kommen wir in 7 Abschn. 5.5. Eine beeindruckende Arbeit zum Vorhandensein von verschiedenen Sterol-­ verarbeitenden Enzymen in verschiedensten Spezies ➔ Desmond & Gribaldo. Phylogenomics of sterol synthesis: insights into the origin, evolution, and diversity of a key eukaryotic feature. Genome Biol Evol. 2009; 1: 364–81. https://doi.org/10.1093/gbe/evp036.  



2.6 

Ein Ausflug in die präbiotische Chemie

Die Natur ist vielfältig. Bis hierher haben wir Zucker, Eiweiße, Fette, Nucleinsäuren und Isoprenoide besprochen. Für alle diese Kategorien haben wir generelle Eigenschaften und ein paar typische Vertreter behandelt. So einige Naturstoffe sind durch diese fünf Kategorien aber noch nicht abgedeckt. Ein prominentes Molekül, das durch dieses Raster fällt, ist Alkohol, also Ethanol. Ist das jetzt ein Zucker, da es ein Zucker-Abbauprodukt ist, oder wegen seiner Oxidationsstufe doch eine Fettsäure, oder vielleicht ein Isoprenoid, da die CH3-CH2-Einheit ganz entfernt daran erinnert? Dafür müssten wir dann doch die organische Chemie zu Rate ziehen. Hier wollen wir zwei Fragen diskutieren. Erstens: Warum verwenden wir (diesmal meine ich mit „wir“ alle lebenden Organismen auf dieser Erde) genau die Bausteine in der Biochemie, die wir verwenden? Und zweitens: Warum verwenden wir genau jene Bausteine oft auch nur in einer Version– also nur als linkshändige oder nur als rechtshändige Version? So viel vorweg: Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Wir besprechen energetische Minima, spontan entstehende Verbindungen und den vielleicht eingefrorenen Zufall. All diese Prozesse haben das Leben zu einer Zeit geformt, bevor es ein Leben gab, auf das wir durch Fossilien oder DNA-­ Sequenzen zurückblicken könnten. Die präbiotische Chemie, also die Chemie vor der Biologie, ermöglicht es, näher am Ursprung des Lebens zu forschen. Sie versucht, den Zutatencocktail und die Reaktionsbedingungen so zu gestalten, wie sie vor 3,5 Mrd. Jahren wohl mal gewesen sein könnten. Dann wird gekocht, manch-

51 2.6 · Ein Ausflug in die präbiotische Chemie

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mal kurz und heiß, manchmal nicht so heiß, dafür aber länger. Schließlich wird nachgeschaut, was im Topf spontan so passiert ist. Dieser Zweig der synthetischen Chemie liefert manchmal erstaunliche Antworten. Fangen wir einfach bei der Glucose an. Relativ zu allen anderen reduzierenden Sechser-Zuckern (manche nennen die auch Hexo-Aldosen) ist Glucose das stabilste Molekül. Glucose hat alle OH-Gruppen gut ausgestreckt in äquatorialer Position angeordnet, keine OH-Gruppe steht sperrig axial nach oben oder unten. Insgesamt müsste man einfach alle möglichen reduzierenden Hexosen herbeten, sie sich in der einen oder anderen Projektion anschauen und man könnte selbst darauf kommen, dass Glucose eine gute Wahl ist, vielleicht sogar die beste. Selbst die Verwendung von α- und β-Glucose ist erklärbar. Die etwas weniger stabile α-Glucose ist in den kurzlebigeren Vielfachzuckern Stärke und Glycogen vorhanden. Die stabilere β-Glucose hingegen gibt es in Zellulose und anderen Fasern, haltbar fast für die Ewigkeit. Aus einem begrenzen Bewerberfeld ist Glucose einfach die stabilste Alternative, ein lokales, energetisches Minimum (. Abb. 2.10). Dann sind da die Verbindungen, die einfach so entstehen, wenn man ein paar Zutaten zusammenrührt und ordentlich lange wartet oder zünftig einheizt oder beides. Manchmal hilft es auch, wenn ein Blitz einschlägt. Na ja, eigentlich ja wieder stabilste Alternativen, diesmal aber aus einem riesigen Eintopf an chemischen Möglichkeiten. Ein modernes Beispiel ist dies: etwas Kristallzucker in der Pfanne schmelzen lassen oder wenigstens etwas Fett erhitzen und dann Tomatenmark oder gewürfeltes Suppengrün darin erhitzen – es zischt und wunderbare Braten-­ Aromen entstehen. Es sind Verbindungen von Zuckern und Aminosäuren. Wenn man diese Zutaten in dieser Kombination mischt, entstehen immer wieder recht  

..      Abb.  2.10  Glucose  – zweiter Teil: ein lokales, energetisches Minimum. Etwas voll wirkt das Kugel-und-Stäbchen-Modell der β-D-Glucose. Ganz rechts ist die OH-Gruppe zu sehen, die eine glycosidische Bindung eingehen könnte  – die halbacetalische OH-Gruppe (für Fans). Wichtig ist, dass in diesem Modell ALLE OH-Gruppen und auch die sechser CH2OH-Einheit äquatorial stehen – sie alle zeigen fast flach, aber auf jeden Fall bequem nach außen. Keine einzige Gruppe ist in axialer Position; nichts zeigt also in Richtung der Pole. Wenn man sich alle denkbaren C6-Zucker anschaut, dann könnte man darauf kommen, dass Glucose eine gute Wahl ist; ein energetisches Minimum eben aus einem begrenzten Feld von Kandidaten. [Abbildungsverzeichnis: Modell eines Zuckers, JWM, 2022; Globus, © Composer stock.adobe.com]

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

ähnliche Aromen. Wer auf den Geschmack gekommen ist, kann sich unter dem Stichwort Maillard-Reaktion weiter informieren. Für viele andere biochemische Bausteine ist eine dieser Erklärungen schwierig oder schlicht nicht möglich. Dann vielleicht „eingefrorener Zufall“? Was auch immer LUCA, der letzte gemeinsame Vorfahre all unseres Lebens, biochemisch verbaut hat – alle Nachkommen benutzen seitdem genau diese Bausteine. Ein möglicherweise passender Vergleich: 1949 begann die Firma LEGO ihre berühmten Bausteine zu produzieren. ALLE je hergestellten Bausteine passen auf alle anderen LEGO-Bausteine, sogar mit perfekten Passmöglichkeiten zu einer Baustein-­Serie, die genau doppelt so groß ist, die aber eben nicht die längsten Bauklötze der Welt sind. Es ist undenkbar, diese Bauklötze heute auf einmal ganz anders zu produzieren! Und zurück zu unserem Thema, können wir wirklich kausal verstehen, warum der Standard-4×2-Bauklotz genau die Abmessungen hat, die er hat? Eingefrorener Zufall müssen wir vermuten, wenn sich eine Variante vor völlig gleichwertigen Alternativen durchgesetzt hat. Das erste spektakuläre Experiment der präbiotischen Chemie war das Ursuppenexperiment von Miller und Urey (1953). In einem Gemisch aus Wasser, Methan, Ammoniak und Wasserstoff wurden eine Menge Miniblitze zwischen zwei Elektroden abgefeuert. Danach konnten die Autoren die Aminosäuren Glycin, α-Alanin und β-Alanin eindeutig nachweisen; bei Aspartat und α-Amino-Buttersäure waren sie sich nicht ganz so sicher. Die Nachricht des Experiments war deutlich: So einige Aminosäuren, eventuell auch andere biochemische Bausteine, bilden sich spontan und abiotisch (also ohne Lebewesen) aus einfacheren Bestandteilen. Seitdem diskutieren Forscher, ob dieses Experiment nun wirklich die frühe Erde nachahmte oder ob es nicht realistischere Bedingungen geben könnte. Chemikerinnen versuchen auch, immer mehr biochemische Bausteine bei plausiblen primordialen Reaktionsbedingungen zu erzeugen. Zur Herstellung von komplexen Stickstoff-haltigen Heterozyklen scheint Blausäure zum Einsatz gekommen zu sein. Irgendwie ironisch, dass etwas bei der Entstehung des Lebens eine sehr wichtige Rolle gespielt haben könnte, was wir heute nur als Gift kennen. Kaleidoskop: Die präbiotische Forschung feiert immer wieder Meilensteine. So zum Beispiel einen möglichen abiotischen Syntheseweg zu Pyrimidin-Nucleotiden unter Bedingungen, wie sie wohl auf der frühen Erde geherrscht haben. Eine große Herausforderung ist weiterhin, all diese Studien mit teils recht speziellen Bedingungen in einer einzigen Ursuppe zu vereinen und dann die Entstehung von komplexen Biopolymeren und einfachen Zellen nachzuvollziehen. z Navigation

Herr Sutherland fasst jede Menge Forschungsergebnisse zusammen und schlussfolgert, dass das Leben aus dem Blauen heraus entstanden ist, also aus Blausäure ➔ Sutherland JD. 2016. The Origin of Life - Out of the Blue. Angew Chem Int Ed Engl. 55(1):104-21. Review. https://doi.org/10.1002/anie.201506585. Einem Forscherteam aus England, Polen und Tschechien ist es gelungen, „präbiotisch plausibel“ nicht nur Pyrimidin-Nucleoside, sondern sogar Pyrimidin-­ Nucleotide herzustellen ➔ Xu et al. 2017. A prebiotically plausible synthesis of

53 2.7 · Wie Chiralität in der Biochemie entstanden sein könnte

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pyrimidine β-ribonucleosides and their phosphate derivatives involving photoanomerization. Nat Chem. 9(4):303-309. https://doi.org/10.1038/nchem.2664. Schließlich ein paar Gedanken, wie die allerersten Biopolymere entstanden sein könnten … ➔ Adamala et al. 2014. Open questions in origin of life: experimental studies on the origin of nucleic acids and proteins with specific and functional sequences by a chemical synthetic biology approach. Comput Struct Biotechnol J. 9:e201402004. Review. https://doi.org/10.5936/csbj.201402004. … und wie wir synthetisch immer besser Zellen selbst bauen könnten ➔ Gaut & Adamala. 2021. Reconstituting Natural Cell Elements in Synthetic Cells. Adv Biol (Weinh). 5(3):e2000188. Review. https://doi.org/10.1002/adbi.202000188.

2.7 

Wie Chiralität in der Biochemie entstanden sein könnte

Im vorangegangenen 7 Abschn. 2.6 gab es keine groß geschriebenen „D“s und „L“s bei all den Substanzen, anders als in den Abschnitten davor. Deutlich schwieriger wird die präbiotische Chemie nämlich, wenn wir fragen, warum wir das eine Spiegelbild benutzen, nicht aber das andere sogenannte Enantiomer. Mögliche Antworten sind, dass leichte Enantio-Überschüsse bei ansonsten völlig L/D-­durchmischten Mixturen (sogenannten Racematen) bereits durch Auskristallisieren entstehen können: Wir sind in einer kleinen Pfütze am vulkanischen Meeresstrand bei Ebbe, es scheint die Sonne und auf einmal kristallisieren zum Beispiel die L-Aminosäuren ein kleines bisschen besser als ihre D-Gegenstücke, die dann bei der nächsten Flut weggewaschen werden. So könnten sich über eine gewisse Zeit sogar reine Enantiomere angereichert haben. Ich versuche ja, den Gebrauch von Fachchinesisch in diesem Buch auf ein Mindestmaß zu begrenzen. Hier werde ich aber schwach: Wir wollen in Ansätzen erklären, wie wohl homochirale Biopolymere entstanden sein könnten. Klingt das nicht nach wunderbarem Fachchinesisch, oder? Fast wie 同手性生物聚合物. Sowie ich aus einem Gemisch an Grundbausteinen längere Ketten (Polymere) zusammensetze und mit diesen Ketten auch irgendetwas mache (z.  B. ein Protein daraus falte), wird klar, dass das ganz schlecht mit einem zufälligen Gemisch aus D- und L-­Bausteinen geht. Eine einzelne D-Aminosäure würde die Faltung eines Proteins in ähnlichem Maße stören, wie ein einzelnes umgedrehtes Kettenglied – das passt einfach nicht. Wir haben also schon zwei Quellen von Homochiralität – einen möglichen Enantiomeren-­Überschuss bei der Entstehung der Grundbausteine und einen funktionellen Grund beim Zusammenbau von längeren Biopolymeren. Eine wunderbare Geschichte über Schneckenhäuser liefert einen dritten Grund für Homochiralität. Schon in der Schule habe ich von rechts- und linksgewundenen Schneckenhäusern bei der Weinbergschnecke und anderen Gehäuseschnecken gelesen – Sie eventuell auch? Eine von etwa 1 Mio. Schnecken soll linksherum gewunden sein. Der deutsche Volksmund nennt so einen Sonderling auch Schneckenkönig. Immer auf der Suche nach einem Schneckenkönig, habe ich mir viele, viele Schneckengewinde angesehen (. Abb. 2.11) Nie habe ich eine solche Schnecke – einen Schneckenkönig – gefunden.  



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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

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..      Abb.  2.11  Rechtsgängige DNA – oder – auf der Suche nach einem Schneckenkönig. Unsere Hände sind das beste Werkszeug, um die Laufrichtung von Gewinden, Treppen, Schneckenhäusern oder sonstigen Helices zu bestimmen. Ob das abgebildete Treppenhaus rechtsherum oder linksherum gewunden ist, ist damit leicht zu bestimmen. Immer gedanklich mit der rechten Hand hineinfahren. Zeigt der Daumen dann in die gleiche Richtung (hoch) wie die Treppenstufen? Dann ist es eine rechtsgängige Treppe/Schnecke/DNA/Helix. Wenn nicht (also runter), dann mit der linken Hand probieren. Immer noch nicht? Dann noch einmal mit der rechten. Besser? Ganz wichtig. Unsere DNA ist eine rechtsgängige Helix. Für linksgängige DNA einfach mal nach lefthanded DNA im Internet suchen. Manche Leute zelebrieren es nahezu, falsch dargestellte (also versehentlich gespiegelte) DNA an den Pranger zu stellen. [Fotonachweis: Treppe in Duisburg, JWM, 2018; Hand, JWM, 2022]

Jeremy sollte diesen Tatbestand gehörig ändern (siehe Exkurs „Jeremy, die linkshändige Schnecke“). Was aber bitte ist an Jeremy jetzt der dritte Grund für Homochiralität? Es ist wohl der Gedanke, dass das andere Formin-Protein eine andere Biomineralisation erzeugt. Anders gesagt, eine Art homopolymeres Biopolymer beeinflusst ein anderes. Etwas um die Ecke gedacht ähnelt das den Argumenten des Evolutionswissenschaftlers Koji Tamura. Er meint, ein Homopolymer folgt dem anderen – erst gab es homopolymere Transfer-RNAs. Denen „schmeckte“ eine gewisse Art von Aminosäuren besser und aus diesen Aminosäuren sind dann homopolymere Proteine entstanden. In welcher Reihenfolge die verschiedenen Biomoleküle auch entstanden sind, ich hoffe, Ihnen gefällt die Geschichte von ­Jeremy.

55 2.7 · Wie Chiralität in der Biochemie entstanden sein könnte

Exkurs: Jeremy, die linksgewundene Schnecke

Jeremy war ein Schneckenkönig. Als Schnecke mit linksherum statt rechts­ herum gewundenem Schneckenhaus wurde er nach dem englischen sozialdemokratischen Politiker Jeremy

Corbyn benannt. Wohl weil Corbyn zur politischen Linken zu zählen ist; manche meinen aber, wegen der Langsamkeit in der Bewegung.

Auf den Fotos ist Jeremy erst rechts, dann oben zu sehen.

Wegen seines linksgewundenen Hauses konnte sich Jeremy nicht mit „normalen“ Schnecken der gleichen Spezies paaren. Also startete Jeremys Ziehvater Angus einen Aufruf, einen Partner für Jeremy zu finden. Jeremy war eine Zeit lang sehr populär in der Presse und in den sozialen

Medien. Bis 2018 hat Jeremy unter dem Handle @leftysnail getwittert  – eine Schnecke mit eigenem Twitter-Account. Mindestens zwei weitere linkshändige Schnecken wurden daraufhin gefunden – gut für Jeremy. Im Alter von mindestens zwei dokumentierten Jahren starb Jeremy

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

friedlich. Er hinterlässt 56 direkte Nachkommen, die aber alle ein rechtsgewundenes Schneckenhaus tragen. Das ist nicht nur eine rührende Geschichte, sondern veranschaulicht auch im molekularen Detail, wie eine genetische Änderung einen makroskopisch sichtbaren Phänotyp hervorbringt. Bei Jeremy war eine Mutation in einem Gen, welches das Protein Formin codiert, verantwortlich (Formin richtet Aktinfäden aus). Die Forschung an Jeremy und Co sollte auch das Dunkel um embryonale Entwicklungsmechanismen des Menschen erhellen. Schließlich ist der Situs inversus eine immer noch wenig verstandene anatomische Besonderheit, bei der die unpaarigen Organe eines Menschen gespiegelt vorliegen. Der spanische Sänger und Schauspieler Enrique

Iglesias ist ein Promi mit einem bekannten Situs inversus. Diese anatomische Besonderheit macht immer wieder deutlich, dass wir noch längst nicht alles über unsere früheste Entwicklung wissen. Zum Weiterlesen: Nicht besonders viele Schnecken haben eine eigene Wikipedia-­Seite ➔ 7 https://en.­wikipedia.­ org/wiki/Jeremy_(snail). Ein toller Übersichts-Artikel, geschrieben von Jeremys Ziehvater ➔ Davison A. 2020. Flipping Shells! Unwinding LR Asymmetry in Mirror-Image Molluscs. Trends Genet. 36(3):189-202. Review. https://doi. org/10.1016/j.tig.2019.12.003. [Bildnachweis: Jeremy und eine andere Schnecke, Angus Davison, 2020; Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung]  

Schnecken mit linksgängigen Häusern sind schon sehr interessant. Für den anwendungsorientierten Leser ist aber wohl von größerem Interesse, wie man Chiralität biotechnologisch oder pharmakologisch ausnutzen kann. Spätestens die zu Beginn dieses Abschnitts erwähnten Mischungs-Experimente, jene mit verschiedenen Anteilen an D- und L-Aminosäuren, zeigten, dass sowohl Proteine komplett aus D-Aminosäuren als auch Proteine komplett aus L-Formen funktionsfähige Makromoleküle sind. Die D-Formen stehen den biologischen L-Proteinen in Stabilität oder Aktivität in keinster Weise nach. Allerdings haben sie einen großen Vorteil – sie sind deutlich stabiler in biologischen Systemen. Wenn wir ein D-Protein-Shake zu uns nehmen würden (oder ein D-Steak oder einen D-Tofuburger), dann wäre unser Verdauungssystem davon ziemlich irritiert und wohl auch überfordert. Was passieren würde, wenn man dieses Prinzip auf Peptid-basierende Wirkstoffforschung anwendet, ist im folgenden Exkurs „Spieglein, Spieglein im Reagenzglas – Mirror-Image-Phage-Display“ dargestellt. Exkurs: Spieglein, Spieglein im Reagenzglas – Mirror-Image-Phage-Display

Es gibt therapeutische Proteine, therapeutische Antikörper und andere proteinogene Bindeproteine sowie pharmakologisch wirksame Peptide, z. B. Insulin. Sie alle bestehen aus L-Aminosäuren;

sie alle werden ziemlich schnell im Körper abgebaut. Wie könnte man die Vielseitigkeit von Peptiden und Proteinen weiter nutzen, aber ihre Stabilität im Körper gravierend steigern?

57 2.7 · Wie Chiralität in der Biochemie entstanden sein könnte

Bisher gab es Methoden, zum Beispiel das Phage-Display, mit denen beliebige L-Peptide selektiert werden können, die wiederum an L-Targetmoleküle binden können. Die Arbeitsgruppe von Peter Kim hatte hier den entscheidenden Einfall: Was, wenn das Zielmolekül gespiegelt als D-Protein vorläge? Dann würde ein L-Binder selektiert. Dieser Binder dann wiederum gespiegelt als D-Protein müsste doch das natürliche L-Protein binden, gleichzeitig aber eine viel höhere physiologische Haltbarkeit haben. Klingt merkwürdig, funktioniert aber großartig. Noch einmal: Binde-Moleküle wie Antikörper und Co können gegen jedes beliebige Zielmolekül erzeugt werden. Wie wäre es also, wenn man das Zielmolekül nicht mit L-Aminosäuren oder D-Zuckern baut, sondern mit den Spiegelbildern davon, den ­D-Aminosäuren oder L-Zuckern? Wenn dann die eigentliche ­ Prozedur Binde-­Molekül-­Machens vor-

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bei ist (man kann hier zum Beispiel an Ribosomenoder Phage-Display-­ Verfahren denken), dann muss nur noch dieses Binde-Molekül als Spiegelbild seiner selbst synthetisiert werden. Fertig ist ein molekularer Binder, der eben nicht mehr vom Körper erkannt wird und somit eine viel höhere Verweildauer haben sollte. Das allererste Paper zum Mirror-Image-Phage-Display ➔ Schumacher et al. 1996. Identification of D-peptide ligands through mirror-image phage display. Science. 271(5257): 1854-7. https://doi.org/10.1126/science. 271.5257.1854. Und eine Übersicht von 2021: Wie weit sind wir, das ganze Leben zu spiegeln? ➔ Rohden et al. 2021. Through the looking glass: milestones on the road towards mirroring life. Trends Biochem Sci. 46(11):931-943. Review. https://doi. org/10.1016/j.tibs.2021.06.006.

Konvertiert: Für den Erfolg des Spiegelbild-Prinzips musste zunächst die chemische Synthese von Proteinen besser werden. Mittlerweile stellen Proteine mit 100 Aminosäuren längst nicht mehr die Herausforderung von damals da. Das pfiffige Verknüpfen von vorgefertigten Peptid-Fragmenten macht die Herstellung von immer größeren Peptidketten möglich. Warum aber bei Proteinen aufhören? Auch RNAund DNA-Binder sind möglich. Auch die könnten durch Mirror-Image-­ PhageDisplay optimiert werden. Also ist auch das Interesse gewachsen, Nucleinsäuren mit L-Ribose, statt D-Ribose, zu synthetisieren und auch sequenzieren zu können. z Navigation

Mittels Computer-Simulation wurden Proteine nur aus D-Aminosäuren, nur aus L-Aminosäuren und aus verschiedenen D/L-Gemischen miteinander verglichen. Gemischte Proteine hatten wohl auch eine gewisse Aktivität, Homopolymere (egal ob nur D oder nur L) waren aber stabiler ➔ Skolnick et al. 2019. On the possible origin of protein homochirality, structure, and biochemical function. PNAS. 116(52):26571-26579. https://doi.org/10.1073/pnas.1908241116. Ein homochirales Biopolymer sollte das nächste beeinflusst haben. Erst gab es wohl homopolymere tRNAs, die dann L-Aminosäuren bevorzugt haben ➔ Tamura K. 2019. Perspectives on the Origin of Biological Homochirality on Earth. J Mol Evol. 87(4-6):143-146. https://doi.org/10.1007/s00239-019-09897-1.

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Kapitel 2 · Der LEGO-Baukasten des Lebens

Hier gleich zweimal die chemische Totalsynthese vom Ras-Protein, eine aus Dortmund und eine gespiegelt aus New York ➔ Becker et al. 2003. Total chemical synthesis of a functional interacting protein pair: the protooncogene H-Ras and the Ras-binding domain of its effector c-Raf1. PNAS. 100(9):5075-80. https://doi. org/10.1073/pnas.0831227100. ➔➔ Levinson et al. 2017. Total Chemical Synthesis and Folding of All-L and All-D Variants of Oncogenic KRas(G12V). J Am Chem Soc. 139(22):7632-7639. https://doi.org/10.1021/jacs.7b02988. Spiegelbild-bakterielle Zielmoleküle und D-Peptid-Antibiotika ➔ Adaligil et al. 2019. Discovery of Peptide Antibiotics Composed of D-Amino Acids. ACS Chem Biol. 14(7):1498-1506. https://doi.org/10.1021/acschembio.9b00234. Spiegelbildliche Rezeptor-Antagonisten ➔ Diaz-Perlas et al. 2019. Protein Chemical Synthesis Combined with Mirror-Image Phage Display Yields D-Peptide EGF Ligands that Block the EGF-EGFR Interaction. Chembiochem. 20(16):2079-2084. https://doi.org/10.1002/cbic.201900355. Die Geschichte geht schon in die nächste Runde. Wissenschaftler haben das Spiegelbild einer ziemlich genau arbeitenden DNA-Polymerase erschaffen. Damit könnte massenhaft Spiegelbild-DNA erzeugt werden ➔ Fan et al. 2021. Bioorthogonal information storage in L-DNA with a high-fidelity mirror-image Pfu DNA polymerase. Nat Biotechnol. 39(12):1548-1555. https://doi.org/10.1038/s41587021-00969-6. Normale D-DNA-Aptamere und spiegelbildliche L-DNA-Aptamere. Auch die Sequenzierung von L-DNA sollte man können ➔ Liu & Zhu. 2018. Sequencing Mirror-Image DNA Chemically. Cell Chem Biol. 25(9):1151-1156.e3. https://doi. org/10.1016/j.chembiol.2018.06.005.

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DNA oder das Buch des Lebens Inhaltsverzeichnis 3.1

 ie Struktur der DNA erklärt D ihre Funktion – 60

3.2

 NA ist riesig und chemisch D sehr stabil, die ideale Bauanleitung des Lebens – 61

3.3

Besondere DNA-Strukturen – 63

3.4

 ellness für unsere W DNA – Gen-Scheren und Pflegespülung – 68

3.5

 er universelle Code – das D Alphabet des Lebens – 71

3.6

 on Code-Varianten und V anderen biologischen Codes – 75

3.7

 as war vor der DNA? W Die RNA-Welt-Hypothese … und was könnte danach kommen? – 78

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 J. W. Mueller, Endlich Biochemie verstehen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9_3

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Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

Über DNA ist schon so einiges geschrieben worden. Vieles davon kann man in Lehrbüchern der Genetik nachlesen. Hier beleuchten wir, was DNA so einzig macht. Wir wollen wichtige Größenverhältnisse verdeutlichen, die an anderer Stelle oft missverständlich dargestellt werden. Schließlich stellen wir ein paar Enzyme vor, die beim ewigen Auf- und Abwickeln des „Fadens des Lebens“ unerlässlich sind. DNA ist das erste etwas längere Biopolymer, das wir aus unserem LEGO-­ Baukasten des Lebens zusammenbauen, die Desoxy-Ribonucleinsaure. „Länger“ trifft es dabei nicht ganz. Eventuell ist DNA sogar das längste Biopolymer der Welt.

3.1 

Die Struktur der DNA erklärt ihre Funktion

Der Name Desoxy-Ribonucleinsäure (DNA) beschreibt direkt den Aufbau des DNA-Einzelstrangs: Dem C5-Zucker Desoxy-Ribose fehlt eine Hydroxylgruppe am 2′-Kohlenstoffatom. Gemeinsam mit einer Kernbase (oder Nucleobase) bildet dieser Zucker ein Nucleosid. Diese Einheit geht dann mit Phosphor-Säure (Säure, engl. acid – daher das A von DNA) eine ganz besondere Doppel-Ester-Bindung ein, bei der die dritte negative Ladung über allem schwebt und eine schnelle Spaltung durch Wasser verhindert. Die Magie beginnt spätestens, wenn sich zum DNA-­ Einzelstrang einer gewissen Länge ein entsprechender, komplementärer Strang hinzugesellt. Innerhalb von Augenblicken formen die beiden einen antiparallelen Doppelstrang – eine rechtsgängige Doppelhelix. Exkurs: Das Wettrennen um die DNA-Struktur – Teil 2

In den 1930ern war DNA als Biomolekül bekannt, jedoch noch ohne Funktion. 1943 lieferte dann Oswald Avery, 1952 bestätigt von Alfred Hershey und Martha Chase, handfeste Beweise, dass DNA das Molekül der Vererbung ist. Das!!! Molekül der Vererbung wollten nun einige Forscher in seiner Struktur entschlüsseln und es entbrannte ein Wettrennen um die Aufklärung seiner dreidimensionalen Struktur. Maurice Wilkins bezeichnete die DNA als das Gold von König Midas: Jeder der daran arbeite, wurde verrückt [1]. Sehr lesens-

wert, wenn auch wohl nicht sonderlich objektiv, sind die Schilderungen von James Watson in seinem Buch „The Double Helix“ [2]. Darin erweckt Watson den Eindruck, dass Wissenschaft nahezu ausschließlich in Pubs und auf Konferenzen stattfindet. Die wohl „aktuellste“ Quelle über jene Zeit ist eine Zusammenfassung der Brief-­ Sammlung von Francis Crick, die lange als verschollen galt [3]. Darin wird deutlich, dass Crick und Wilkins ein sehr freundschaftliches Verhältnis hatten, trotz ihrer sehr unterschiedlichen Charaktere.

61 3.2 · DNA ist riesig und chemisch sehr stabil, die ideale…

Was auch immer zwischen all diesen Menschen passiert ist, am 25. April 1953 publizierten unabhängig voneinander Watson und Crick, Wilkins und sein Team sowie Rosalind Franklin gemeinsam mit ihrem Doktoranden alle im selben Heft der Zeitschrift Nature. 1958 starb Franklin. 1962 waren Crick, Watson und Wilkins gemeinsam zu irgendeiner Preisübergabe in Stockholm geladen. Über die Entdeckung der DNA ist auch sonst viel geschrieben worden, sodass wir es bei diesen Ausführungen belassen wollen.

3.2 

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1) Maurice Wilkins – zitiert nach Judson HF. The Eight Day of Creation, 1996, Cold Spring Harbor Laboratory Press 2) James Watson. The Double Helix, A personal account of the discovery of the structure of DNA. 1968, Atheneum 3) Gann & Witkowski. 2010. The lost correspondence of Francis Crick. Nature. 467(7315):519-24. https:// doi.org/10.1038/467519a In 7 Kap. 9 werde ich noch einmal auf die eigentlichen drei Original-­ Publikationen zu sprechen kommen.  

 NA ist riesig und chemisch sehr stabil, die ideale D Bauanleitung des Lebens

Ohne DNA wüssten unsere Zellen nicht, wie Proteine korrekt zusammengesetzt werden. Die natürliche DNA besteht nur aus den vier Buchstaben A, C, G und T.  Immer drei Kernbasen bilden ein Codon, ein Aminosäure-Wort sozusagen. Deren Sicherheitskopie auf dem anderen Strang legt fest, welche der 20 Aminosäuren, aus denen Proteine gemacht sind, im aktuellen Protein an der aktuellen Stelle verbaut wird. Dieser Code kennt keine Abbildungen und auch keine Leerzeichen. Vier Codons stehen für die vier Satzzeichen Start, Stopp, Stopp und Stopp – man geht beim Anhalten also besser auf Nummer sicher. Ein Codon ist also die Einbauanleitung für eine Aminosäure. Verhält es sich dabei größenmäßig wie eine IKEA-Bauanleitung aus Papier und das entsprechende Regal aus schwerem, laminiertem Pressholz? Die Rechnung auf Bierdeckel VI zeigt, dass DNA riesig ist im Vergleich zu Proteinen. In schematischen Abbildungen von Lehrbüchern werden die Größenverhältnisse zwischen DNA und Protein oft ignoriert. Weniger wie Papier oder Post-its®, sondern eher wie die Steintafeln mit sumerischer Keilschrift verhält es sich mit der DNA und der in ihr enthaltenen Information (. Abb. 3.1).  

62

Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

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..      Abb.  3.1  RNA ist die Blaupause oder der Durchschlag von DNA. Wenn DNA so etwas wie in Stein gemeißelte Keilschrift ist und RNA die abgepauste oder abgerubbelte Kopie davon, dann können wir uns ebenso gut britische Münzen anschauen. Die Penny-Münzen, die seit 2008 im Umlauf sind, zeigen komische Puzzle-Teile auf der Rückseite. Erst in der finalen „RNA“ (hier ein Rubbelbild) wird klar, dass es sich um das königliche Wappen handelt. Der Bleistift wäre in dieser Analogie dann wohl die RNA-Polymerase. [Fotos: Münzen, JWM, 2022]

Bierdeckel VI: Wie schwer ist DNA? 55 Das durchschnittliche Basenpaar wiegt 660 Dalton (Da)* 55 Ein Codon aus 3 Basenpaaren wiegt also 1980 Da 55 Ein Codon steht für eine Aminosäure mit einer durchschnittlichen Molekülmasse von 110 Da 55 Die Bauanleitung ist also 18-mal schwerer als das, was dann verbaut wird Bitte in Erinnerung behalten beim nächsten Einkauf im schwedischen Einrichtungshaus. *Was ist eigentlich ein Dalton? Schauen Sie dies und auch einiges andere mehr im Glossar dieses Buches nach.

DNA ist groß und robust. Damit sie aber fast eine Ewigkeit hält, sind noch ein paar chemische Tricks erforderlich. DNA hat im Vergleich zu RNA ein paar entscheidende chemische Unterschiede. Erstens findet sich in ihr nicht Ribose als Zucker-Rückgrat. Die 2′-OH-Gruppe der Ribose kann nämlich problemlos die Phospho-Diester-Bindung angreifen. Somit ist RNA immer in Gefahr, sich einfach selbst zu zersetzen. Das Produkt ist ein gespaltener RNA-Strang mit freiem 5′-OH-­Ende und einem zyklischen 3′-2′-Phosphat. Wird stattdessen 2′-Desoxy-

63 3.3 · Besondere DNA-Strukturen

3

ribose als Rückgrat benutzt, also so wie in der DNA, ist diese Reaktion unterbunden. Darum ist DNA in wässriger Lösung um ein Vielfaches stabiler als RNA. Zweitens wird eine andere Kernbase verwendet – statt Uracil kommt 5-Methyl-­ Uracil zum Einsatz, das auch Thymin genannt wird. Diese Maßnahme ist nicht direkt verständlich. Erst indirekt bietet diese Modifikation die Gelegenheit, eine kleine chemische Schwäche einer anderen Kernbase auszubügeln. Im Cytosin löst sich die Aminogruppe an der vierten Ringposition nur allzu gerne in Wasser auf, sie hydrolysiert und es entsteht Uracil. Wenn Uracil eine normale DNA-Kernbase wäre, wäre jetzt schon eine Mutation in der DNA entstanden. Da aber Thymin in die DNA gehört, gibt es Reparaturenzyme, die fortwährend Uracil aus DNA herausschneiden und es wieder durch Cytosin ersetzen. Kernig: DNA ist ziemlich groß im Vergleich zu anderen Biomolekülen. Sie ist mechanisch relativ robust. Wegen ein paar chemischer Tricks hält DNA fast ewig. Ideale Eigenschaften also für das Buch des Lebens. z Navigation

Beim Zusammenbauen des DNA-Faltbogens aus Papier, heruntergeladen von der Strukturdatenbank PDB, merkt man schnell, dass DNA-Falten gar nicht so leicht ist ➜ Goodsell D. 2001. Molecule of the Month: DNA. RCSB PDB-101. https:// doi.org/10.2210/rcsb_pdb/mom_2001_11.  Das Auslassen eines ganz bestimmten Stoppsignals wird manchmal benutzt, um die besondere Aminosäure Selenocystein in Proteine einzuschleusen, eine kleine Ausnahme im genetischen Code, die wir in 7 Abschn. 3.6 noch etwas genauer besprechen.  Mögliche Auswirkungen von Cytosin-Methylierung innerhalb von DNA besprechen wir in 7 Abschn. 8.2.  



3.3 

Besondere DNA-Strukturen

B-DNA, so wie sie von Watson und Crick der Welt vorgeführt wurde, ist die Idealvorstellung der DNA.  Sie ist das DNA-Top-Model. Wir alle lieben sie. B-DNA kann man auf allen möglichen und unmöglichen Logos von Biotech-Firmen und universitären Instituten auf der ganzen Welt finden. Suchen Sie mal in einer gängigen Suchmaschine nach Bildern unter dem Stichwort „DNA Logo“. Wie real ist B-DNA aber wirklich? Hier sollen DNA-Strukturen besprochen werden, die von diesem Idealbild abweichen. Im Angebot haben wir die AT-reiche, gebogene B-DNA. Dann gibt es die etwas gesetztere A-DNA. Schließlich haben wir die ungewöhnliche Z-DNA, G-Quadrupel-Stapel, i-Motive und die dreisträngige DNA aus Mitochondrien und von den Telomeren (. Abb. 3.2). Zum ersten können AT-reiche B-DNA-Sequenzen recht leicht gebogen werden. Das spielt zum Beispiel zu Beginn der Transkription eine große Rolle: „TA-TAA“ ist kein Witz im Sinne von „Daaa bin ich“, sondern elementarer Bestandteil der allermeisten Transkriptionsstarts. Nur am TATA-Box-Knick der DNA kann die  

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Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

3

..      Abb.  3.2  Ein kleiner Ausschnitt aus der Formenvielfalt der DNA. Links: Zu sehen ist die 8,5 m hohe DNA-Skulptur To the Future des Künstlers Richard Thornton, die vor dem Queen-Elisabeth-­ Krankenhaus in Birmingham steht. Mitte oben: Ein Stück schlanker B-DNA. Oben rechts: Zwei Ansichten eines Stücks A-DNA. A-DNA ist viel gesetzter als B-DNA. Mitte unten: Etwas B-DNA (rot), die durch Bindung an ein Protein ganz schön geknickt wirkt. Unten rechts: Ganz unten geht es los mit langweiliger B-DNA, dann geht der Doppelstrang aber in Z-DNA (rot) über, die durch Z-DNA-­ bindende Proteine (teilweise gezeigt) stabilisiert wird. Am Übergang zwischen B- und Z-DNA gibt es ein Basenpaar, das nach außen zeigt (gelb). [Bildnachweis: DNA-Skulptur in Birmingham, JWM, 2016; eigene Strukturvisualisierungen von B-DNA nach https://doi.org/10.2210/pdb1BNA/pdb; von A-DNA nach https://doi.org/10.2210/pdb1D13/pdb; von AT-reicher und gebogener B-DNA, gebunden an das menschliche Protein TFIIB-related factor 2 (Brf2) nach https://doi.org/10.2210/ pdb4ROC/pdb; sowie einer Kristallstruktur des B/Z-Übergangs in DNA, stabilisiert durch Z-DNA-bindende Proteine nach https://doi.org/10.2210/pdb2ACJ/pdb]

Transkriptionsmaschinerie vernünftig zusammengebaut werden und das Abschreiben eines Gens beginnen. Zum zweiten kann DNA mehrere andere Konfirmationen einnehmen. Die häufigste ist wohl A-DNA. Die gedrungene und breite A-DNA kommt in Pflanzensamen bei Trockenheit und auch in ausgetrockneten Bakterien-Sporen vor. Es wird vermutet, dass A-DNA eine stabilere Verpackungsform von DNA darstellt. Die Verkürzung des Doppelstrangs beim Übergang von B- zur A-DNA ist wohl auch treibende Kraft bei der Verpackung von Virus-Partikeln. Schließlich nimmt auch doppelsträngige RNA lieber die A-Konfirmation ein – da die 2′-OH-Gruppe der Ribose etwas mehr Platz braucht als das „schlankere“ 2′-H-Atom der Desoxy-­ Ribose der DNA.  A-DNA ist wohl die komfortable Alternative zur pflichtbewussten B-DNA.

65 3.3 · Besondere DNA-Strukturen

3

Total ausgeflippt ist Z-DNA. Unter äußerster Unterwindung von längeren Abschnitten von B-DNA entstehen spontan kurze Stückchen Z-DNA zum Spannungsausgleich, und zwar gerne dann, wenn es in direkter Nachbarschaft bei Trans­ kription oder Replikation hoch hergeht und normale B-DNA schnell entwunden wird. Dazu gibt es dann spezielle Z-DNA-bindende Proteine. Am Übergang von der einen in die andere Form und auch von der anderen in die eine ist ein besonderes Basenpaar zu sehen – wegen der Verzerrungen im Rückgrat stehen dort zwei Kernbasen weit nach außen. Neben diesem Spannungsausgleich gibt es bestimmt noch weitere Funktionen von Z-DNA zu entdecken. Ein Strang DNA kann ein kleines Kunststück vollführen, wenn er halbwegs reich an der Kernbase Guanin ist. Na ja, manchmal können es auch zwei oder vier DNA-Stränge sein. Guanin-reiche DNA kann sich nämlich zu G-Quadruplex-­ Stapeln zusammenlagern (. Abb.  3.3). Klingt schick, oder? In diesen G-Quadruplexen binden vier Guanine dann versetzt aneinander, immer einmal mit ihrer Watson-­Crick- und einmal mit der Hoogsteen-Seite. Fertig. Erstmal jedenfalls. Völlig überzogen erscheint dann aber dreisträngige DNA. Wie aus einem Hollywood-­Film. Im Kinofilm „Das fünfte Element“ (1997) jedenfalls besucht eine extraterrestrische Lebensform, die aus dreisträngiger DNA besteht, die Erde. Haben Sie schonmal etwas von dreisträngiger DNA gehört? Nun ja, eigentlich ist dreisträngige DNA gar nicht so selten. In unserem eigenen Körper gibt es ziemlich viel davon. Da ist zum einen der D-Loop in der mitochondrialen DNA. Rund um den Replikationsstart ist ein Bereich von etwa 700 Basen dauerhaft dreisträngig, also ein kleines bisschen „an“-repliziert.  

..      Abb.  3.3  G-Quadruplexe und der Vier-Hände-Griff. Wie die anderen Kernbasen auch hat Guanin eine „Watson-Crick-Seite“. Das ist der Teil, der normalerweise an Cytidin bindet. Allerdings hat Guanin noch eine andere Seite zu bieten, durch die es mit sich selbst G-Quadruplexe bilden kann. Ein Herr Hoogsteen hat diese Bindungsart erstmalig beschrieben. Dadurch wächst die strukturelle Vielfalt von DNA enorm, auch wenn nicht alle DNA-Forscher G-Quadruplexe mögen. Ein G-­Quadruplex ist eventuell mit einem Vier-Hände-Griff vergleichbar. [Bildnachweis: Vier-Hände-­Griff, © Jacob Lund stock.adobe.com]

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Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

Wirklich das Letzte, das Allerletzte an den Enden unserer Chromosomen, ist der T-Loop der Telomere. Wenn wir annehmen, dass sowohl D-Loop als auch T-Loop aus dreisträngiger DNA bestehen, dann zeigt Bierdeckel VII, wie viel von dieser ungewöhnlichen DNA in uns steckt. Warum haben wir eigentlich Telomere? „Wir“ sind in diesem Fall alle Eukaryoten und ein paar ganz besondere Bakterien. Telomere sind die Schutzkappen für lineare Chromosomen, ganz so wie das kurze, verstärkte Stück am Ende eines Schnürsenkels. Ohne diese Schutzkappe würden sich die Chromosomen-Enden bei jeder Zellteilung etwas verkürzen (zu dieser Thematik wurde unter end-replication problem so einiges geschrieben). Offene Chromosomen-­ Enden wären auch leicht zugänglich für gefräßige Exonucleasen, die nur zu gerne an so einem Strang knabbern würden, und für Reparaturenzyme, die eher zwei Chromosomen fusionieren würden, als offene Enden in Ruhe zu lassen.

Bierdeckel VII: Wie viel dreisträngige DNA in uns steckt... 55 Der D-Loop der mitochondrialen DNA ist etwa 700 bp lang 55 Etwa 1000 Mitochondrien gibt es pro Zelle, also grob geschätzt ≈ 700.000  bp D-Loop DNA 55 Die Telomer-Repeat-Sequenz sind 6  bp mit etwa 2500 Wiederholungen pro einzelnem Telomer 15.000 bp 55 Im diploiden Chromosomensatz haben wir 46 Chromosomen mit je 4 solcher Enden. Das ergibt dann 2.760.000 bp Telomer-DNA 55 An dreisträngiger DNA sind das zusammengenommen pro Zelle ≈ 3.460.000 bp 55 Mit 1013 Körperzellen multipliziert ist das eine ziemliche Menge! Kern-Aussage: Eine stattliche Menge an dreisträngiger DNA steckt in unserem Körper. Sie hält das Nucleoid im Mitochondrium fit und schützt unsere Telomere vor unbeabsichtigtem Abbau. Wer mag, kann von all dieser DNA noch die Länge und/ oder das Gewicht ausrechnen. „bp“ steht hier aus aktuellem Anlass sowohl für ein Basenpaar als auch für ein Basentriplett. Nur für diesen Bierdeckel wollte ich das „bt“ nicht definieren. Sehr schick: Die Bildung von dreisträngiger DNA, beobachtet in Echtzeit ➔ Yamagata et al. 2016. Triple Helix Formation in a Topologically Controlled DNA Nanosystem. Chemistry. 22(16):5494–8. https://doi.org/10.1002/chem.201505030

Die eigentliche Frage ist wohl: Warum haben wir überhaupt lineare Chromosomen? Schließlich lebten Bakterien und Archaeen für ungefähr 2  Mrd. Jahre friedlich und glücklich auf unserer Erde – und das alles nur mit ihren niedlichen zirkulären Chromosomen. Doch dann kamen Eukaryoten auf und mit ihren diese komischen linearen Chromosomen, die deutlich weniger stabil waren und beim DNA-Vervielfältigen Probleme verursachten. Erstmal machen lineare Chromosomen das Verhuddeln von DNA deutlich weniger problematisch. Immer können durch Drehen am Ende sowohl Über- als auch Unterwindung ausgeglichen werden. Besonders wichtig wird dieser Aspekt, wenn wir DNA-Lockenwickler-Proteine  – die Histone  – mitberücksichtigen.

67 3.3 · Besondere DNA-Strukturen

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Versuchen Sie mal, ein Plasmid mit Histonen aufzuwickeln und dann das Gewirr wieder auseinander zu puzzeln. Viel Spaß dabei. Man kann wohl vermuten, dass zirkulärer DNA irgendwann Grenzen gesetzt sind. Lineare DNA kann hingegen absurd groß werden – unser Chromosom 1 zum Beispiel umfasst knapp 250 Mio. bp. Größere Speicherkapazität könnte also ein Vorteil von linearen Chromosomen sein. Lineare Chromosomen haben noch mehr Gutes, schon allein beim Sex. Na ja, hier ist die sexuelle Rekombination gemeint. Mit linearen Chromosomen kann man deutlich einfacher Meiose machen  – das ist das Erzeugen von Samenzellen aus Stammzellen. Dabei werden Chromosomen väterlichen und mütterlichen Ursprungs schon einmal gut gemischt. Dann werden auch noch Chromosomenteile beim sogenannten Crossing Over vertauscht  – als ob man Spielkarten nicht nur mischt, sondern auch noch einen Teil von einer Karte abschneidet und an eine andere klebt. Schließlich fusionieren später die dabei entstandenen Samenzellen, die Gameten, auch irgendwie leichter miteinander. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Bakterien rekombinieren ihre Erbinformation auch, … aber eben irgendwie anders. Dann gibt es noch den verwirrenden Fakt, dass nicht alle Bakterien zirkuläre DNA besitzen. Lineare Chromosomen können mal hier, mal da entstehen, so zum Beispiel in den nicht miteinander verwandten Bakterien Borrelia burgdorferi und den Streptomyceten. Zumindest in Streptomyces entstehen sie durch Integration von linearen Plasmiden. Wirklich klar ist es anscheinend nicht, was jetzt besser ist – lineare oder zirkuläre Chromosomen. Wie sehen Telomere denn nun wirklich aus? Bei der Struktur der Telomere selbst gibt es ein gehöriges Problem – hier treffen zwei akademische Welten aufeinander. Fangen wir in der D-Loop-Welt an. 1999 lieferte Dr. Titia de Lange die ersten elektronenmikroskopischen Bilder von Telomeren – echte Fotos, die am Ende unserer Chromosomen eine stattliche Schleife zeigen – den T-Loop. Der ist wohl wirklich da, man kann ihn ja sehen. Es gibt allerlei Proteine, die den T-Loop stabilisieren. Auf der anderen Seite gibt es das verrückte Enzym Telomerase, das irgendwie eine DNA-Polymerase ist. Die Kopiervorlage ist allerdings kein entsprechender DNA-Doppelstrang, sondern ein Stück RNA. Die Telomerase schiebt dieses k ­ leine Stück immer wieder vor sich her und macht – zumindest in Säugetieren – immer nur die Sequenz TTAGGG in einem laaangen 3′-Überhang; ein bisschen wie Bart Simson, der immer wieder einen Satz an die Tafel schreiben muss. TTAGGG wiederum ist eine fantastische Sequenz, um G-Quadruplexe zu bilden; ganz besonders dann, wenn es sich um einen DNA-Einzelstrang handelt. Und der Telomer-­3′-Überhang ist ein Einzelstrang. Gibt es dort am Telomer nun G-Quadruplexe und/oder D-Loops. Neuere Strukturen von parallelen G-Quadruplexen verschärften diese Diskussion noch. Vorher bekannte G-Stapel waren eher Sackgassen oder gar Knoten in der DNA-­ Topologie. Jetzt aber sind die G-Stapel beliebig stapelbar geworden. Wissenschaftler, die am T-Loop arbeiten, mögen T-Loops. G-Quadruplex-Forscher lieben G-Quadruplexe. Zwischen den Lagern gibt es kaum Überlappungen. Wenn man G-Quadruplexe mag, dann ist man wohl zwangsläufig kein Fan von dreisträngiger DNA. Etwas versöhnlicher kann man vielleicht sagen, dass G-Quadruplexe etwas Besonderes sind. Daran verschluckt sich eine landläufige DNA-Polymerase schon

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Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

einmal. Also gibt es so einige Proteine, deren Job es ist, die Bildung von G-Stapeln innerhalb der Zelle zu verhindern. Versöhnliche Töne kommen von einer anderen Stelle des Chromosoms  – G-Stapel könnten das molekulare Erkennungszeichen für den Beginn der DNA-Vervielfältigung sein. Kappiert: Wir haben also lineare Chromosomen, die an ihren Enden durch Telomer-Kappen geschützt werden. Diese Telomere besitzen Guanin-reiche Sequenzen, die G-Quadruplexe bilden können. In der Zelle liegen Telomere aber wohl eher als T-Loop vor. Wie auch immer sie letztendlich aussehen, wer seine Telomere im Griff hat, der braucht sich nicht um deren Verkürzung sorgen. Ansonsten wird genau dieser Prozess mit der biologischen Alterung in Verbindung gebracht. z Begleitende Literatur

Frau de Lange liefert die ersten Fotos von Telomer-Schleifen. Damals war das ein Knaller ➜ Griffith et al. 1999. Mammalian telomeres end in a large duplex loop. Cell. 97(4):503-14. https://doi.org/10.1016/s0092-8674(00)80760-6. Herr Neidle beschreibt parallele G-Quadruplexe  – endlich können G-Stapel aufeinandergestapelt werden ➜ Parkinson et al. 2002. Crystal structure of parallel quadruplexes from human telomeric DNA. Nature. 417(6891):876-80. https://doi. org/10.1038/nature755. Nur ein Beispiel für den Telomer-Zwist. Ein Übersichtsartikel aus dem Jahr 2019 zitiert 27-mal Frau de Lange, erwähnt aber G-Quadruplexe überhaupt nicht ➜ Smith et al. 2020. Structural biology of telomeres and telomerase. Cell Mol Life Sci. 77(1):61-79. Review. https://doi.org/10.1007/s00018-019-03369-x. Eine interessante Idee zu G-Quadruplexen – sie könnten eine Rolle bei der Initiation der DNA-Replikation haben ➜ Prioleau MN. 2017. G-Quadruplexes and DNA Replication Origins. Adv Exp Med Biol. 1042:273-286. Review. https://doi. org/10.1007/978-981-10-6955-0_13. Verwirrend: Manche Bakterien haben lineare Chromosomen; das scheint ihnen aber nicht besonders zu bekommen ➜ Galperin MY. 2007. Linear chromosomes in bacteria: no straight edge advantage? Environ Microbiol. 9(6):1357-62. https://doi. org/10.1111/j.1462-2920.2007.01328.x. Ein Stück Wahrheit: B-DNA verwandelt sich in Z-DNA und dann wieder zurück in B-DNA ➜ Sinden RR. 2005. Molecular biology: DNA twists and flips. Nature. 437(7062):1097-8. Comment. https://doi.org/10.1038/4371097a.

3.4 

Wellness für unsere DNA – Gen-Scheren und Pflegespülung

Wie viele Haare haben wir? Vor ein paar Jahren hatte ich wohl etwas mehr als 100.000 Haare auf dem Kopf. Bei etwa 5 cm Länge sind das 5000 m. Bei Rapunzel aus dem Märchen wären es dann 100-mal so viel, also 500 km. Klingt viel, oder? Ist es aber nicht, wenn wir an die tausenden und abertausenden Kilometer von DNA denken, die in all unseren Körperzellen stecken (Bierdeckel VIII).

69 3.4 · Wellness für unsere DNA – Gen-Scheren und Pflegespülung

3

Bierdeckel VIII: Wie lang ist eigentlich unser Genom? 55 DNA in ihrer B-Form ist pro Basenpaar (bp) 3,4 Ångström hoch, das sind 3,4 × 10−10 m 55 Das menschliche Genom (2n) besteht aus 3 Mrd. Basenpaaren (3 × 109 bp) 55 3,4  ×  10−10  m  ×  3  ×  109 ➔ (kürzen wir mal ein paar Potenzen weg) ➔ 0,34 × 3 m ≈ 1,02 m 55 Unser haploides Genom (2n) ist 1 m lang. Das Genom einer diploiden Zelle ist etwa 2 m lang Das ist der DNA-Faden einer einzelnen Zelle. Der menschliche Körper besteht aus etwa 1013 Zellen. Genau darum muss es Chromatin und allerlei DNA-Massage-Proteine geben. Sonst wäre der Zellkern ein hoffnungsloses Durcheinander. Als Faden ausgestreckt, würde all unsere DNA etwa 67-mal von der Erde bis zur Sonne und zurück reichen. Können Sie meinen Rechenweg nachverfolgen?

Es ist klar, dass wir etwas für unsere haarfeine DNA tun müssen. Wir, das sind in diesem Fall alle lebenden Zellen mit der ganzen Maschinerie, die unsere DNA fit hält. Eine großartige Erfindung von Eukaryoten, zu denen zählen auch wir, war so etwas wie Lockenwickler: Histon-Proteine bilden einen Kern, um den dann etwa 146  bp DNA gewickelt werden. Fertig ist ein Nucleosom. Dabei haben Histon-­ Proteine einen festen, strukturierten Teil, der als Lockenwickler fungiert. Der N-Terminus der Histone allerdings schaut lose aus dem Knäuel heraus. Dort können später noch Informationen draufgeschrieben werden, die Wissenschaft davon heißt Epigenetik. Es gibt tolle Strukturen von Histonen mit darum gewickelter DNA, zum Beispiel diese hier: PDB-Datei 1KX5 (https://doi.org/10.2210/pdb1KX5/pdbN). In dieser Struktur sind 147 bp (∙ 3,4 Å ➜ etwa 500 Å lang) um einen Kern aus Histonen gewunden. Dabei sind die beiden Enden des aufgewickelten DNA-Stücks etwa 70 Å voneinander entfernt. Das Locken-Wickeln ergibt also ungefähr eine siebenfache Verkürzung  – es entsteht ein DNA-Faden mit einem Nucleosom hier und da – die 10-nm-Faser. Dann kommt ein ganz besonderer Lockenwickler ins Spiel, das Histon H1 – eventuell wohl eher eine Haarklammer. H1 verbindet Nucleosomen miteinander; es entsteht die 30-nm-Faser. Danach kommen noch ein paar höhere Tricks des Lockenwickelns, die teilweise noch nicht ganz verstanden sind. Et voilà, fertig ist das Metaphasen-Chromosom, das man sogar im Lichtmikroskop sehen kann. Knackig: Bacteria und Archaea haben ringförmige Chromosomen – Eukaryoten dagegen haben lineare Chromosomen-Monster, die jedes für sich teils deutlich größer und länger sind als jegliches Erbmaterial aus Bakterien. Manche Bakterien haben aber auch lineare Chromosomen. Dafür haben Eukaryoten zumindest in ihren Organellen – wir denken an Mitochondrien und Chloroplasten – auch ringförmige DNA. So einfach ist das. Alles klar!?

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Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

Exkurs: Alte DNA erlaubt einen tiefen Blick in die Vergangenheit

3

Die große Stabilität von DNA sowie eine große Auswahl an robusten und fast industrialisierten Methoden (PCR und moderne Sequenzier-Methoden nur als Beispiel) haben die Analyse von DNA aus verschiedensten Quellen ermöglicht. Was tun mit der „mords“-stabilen DNA? Wohl am bekanntesten ist die forensische DNA-­Analyse. Kleinste am Tatort zurückgelassene Spuren von Haut, Haar, Blut oder anderen Zell-haltigen Körperflüssigkeiten können dazu dienen, den Kreis der in Verdacht kommenden Personen einzugrenzen. Traditionell wurden hierfür bestimmte DNA-Abschnitte untersucht, die bei verschiedenen Menschen unterschiedlich häufig vorkommen. Mittlerweile werden gerne auch mal eben ganze Genome sequenziert. Hollywood hat die Möglichkeiten antiker DNA aus Knochen oder gar in

Bernstein konservierten Bluts ein ganz kleines bisschen überschätzt. 65  Mio. Jahre alte Saurier-­DNA gibt es nicht. Da DNA dann doch irgendwann zerfällt, ist es wohl eher realistisch, 100.000 Jahre oder eventuell auch eine halbe Millionen Jahre zurückzublicken. Da dabei „je frischer, desto besser“ gilt, konzentriert sich die Forschung um antike DNA eher auf den Menschen selbst oder auch auf seine besten Freunde. Die Analyse von alter oder gar antiker DNA (ancient DNA) ergänzt bereits bestehende, hoch analytische Methoden der Archäologie. Durch sie wurde die Geschichte der Mensch-Werdung und der menschlichen Wanderungen völlig neu geschrieben. Etwas mehr in unsere Zeit reichend, wurden durch die Analyse von antiker DNA auch Erbstreitigkeiten geklärt  – Disney „berichtete“ über den Fall von Anastasia.

71 3.5 · Der universelle Code – das Alphabet des Lebens

Die Abbildung in diesem Exkurs zeigt Prinzessin Anastasia, die Tochter des letzten Zaren Russlands, das Skelett eines Allosaurus mit dem Namen Rowry aus dem Lapworth Museum of Geology (University of Birmingham) und einen Neandertaler. Ein weiteres bisschen antike DNA ist im Kapitel über Evolution enthalten (7 Kap. 8). Dort diskutieren wir, wann der Mensch so richtig auf den Hund gekommen ist. [Bildnachweis: Links: Foto von Anastasia, der russischen Zarenprinzessin  

3.5 

3

Anastasia Nikolajewna Romanowa. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Archivs der Library of Congress der Vereinigten Staaten von Amerika. Rechts oben: Skelett eines fleischfressenden Allosaurus-Dinosauriers. Aufgenommen zu einer langen Nacht der Wissenschaft „Lapworth Lates“ im Lapworth Museum of Geology, University of Birmingham. Der Allosaurus trägt den Spitznamen Rowry. Foto, JWM, 2020. Rechts unten: Abbildung eines Neandertalers, © Federico ­Gambarini / dpa / picture alliance]

Der universelle Code – das Alphabet des Lebens

Jedes Lebewesen verwendet dasselbe Alphabet, um DNA in Aminosäuren zu übersetzen. Die wenigen Ausnahmen beschränken sich auf ein Zellorganell hier oder da sowie ein paar sehr spezielle Spezies. Sie können eindeutig als nachgelagerte Entwicklungen angesehen werden. Handelt es sich bei diesem Code nun einfach wieder um einen evolutionär fixierten („eingefrorenen“) Zufall oder war hier so einige Optimierung im Spiel beim Übergang von der präbiotischen in die mittels DNA codierte Welt? Ich empfehle Ihnen, sich den Code mal etwas genauer anzuschauen. Eine Codon-Tabelle oder Codon-Sonne sollte irgendwo zu finden sein. Interessant wird es, wenn man schaut, was durch den Austausch einer einzelnen Base passiert – ein realistisches Szenario für eine DNA-Mutation. Ganz oft passiert dabei nichts  – nämlich meist dann, wenn die dritte Position des Codons getroffen wurde. Bei etwas anders gelagerten Mutationen passiert nicht nichts, aber erstaunlich wenig – Aminosäuren mit ähnlichen Eigenschaften sind meist durch ähnliche Codons repräsentiert. Das alles suggeriert, dass es sich um einen optimierten Code handelt, der nicht alle, aber viele Mutationen neutralisiert oder wenigstens abmildert. Einen frischen Blick auf den universellen Code hat Milton Saier im Jahre 2019 geliefert (meine Version seines Schemas ist in . Abb. 3.4 zu sehen). Saier zeigt eindrucksvoll, dass der Code erst von der zweiten Position, dann von der ersten und zuletzt von der dritten Stelle aus zu lesen ist. Die zweite Position legt die Art von Aminosäure fest; die erste spezifiziert die eigentliche Aminosäure und dann kommt die dritte Position – meist ist sie völlig irrelevant. Manchmal ist hier die Art der Kernbase (Purin oder Pyrimidin) entscheidend. In nur zwei Fällen ist die eigentliche Kernbase wichtig.  

72

Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

Phe Ser

U

3

Erste Position

Leu C

Tyr

Cys

Stopp Stopp

Stopp Trp

His Leu

Pro

Arg Gln

A

IIe

Asn

Ser

Lys

Arg

Thr

Met

Asp G

Val

Gly

Ala Glu

U

C

A

U C A G U C A G U C A G U C A G

Dritte Position

Zweite Position

G

..      Abb.  3.4  Im universellen Code richtet sich fast alles nach der zweiten Kernbase. Hier eine Darstellung des genetischen Codes, sortiert nach der zweiten Kernbase, ganz nach Dr. Saiers Abhandlungen aus dem Jahr 2019. Die Hydrophobizität der Seitenketten aller 20 Aminosäuren, die in Proteinen normalerweise vorkommen, wurde der Studie von Zhu et  al. (2016) entnommen. Diese Werte wurden zwischen gelb und blau farb-kodiert und auf die Code-Darstellung von Saier (2019) übertragen. Mehr dazu siehe Haupttext. Clevere Hydrophopizitätsmessung durch Berechnung von kleinsten Wassertröpfchen ➜ Zhu et al. 2016. Characterizing hydrophobicity of amino acid side chains in a protein environment via measuring contact angle of a water nanodroplet on planar peptide network. PNAS. 113(46):12946-12951. https://doi.org/10.1073/pnas.1616138113. [Abbildungen: Codetabelle in Ukraine-Farben, JWM, 2022]

Mit dieser Lesart des Codes (haha, was für ein Wortwitz) eröffnet Saier auch einen Weg, wie die Entwicklung des Codes eventuell vorangeschritten sein könnte. Zunächst könnte es einen Ein-Buchstaben-Code für sehr simple Proteine gegeben haben, der dann über einen Zwei-Buchstaben-Code zum Drei-Buchstaben-Code erweitert worden ist. Diese modulare Erweiterung erklärt auch, dass so oft ähnliche Aminosäuren von nah verwandten Codons codiert werden; was den Code nebenbei auch noch weniger anfällig für Mutationen macht – eine ­Win-Win-­Situation. Kodiert: Darstellungen des genetischen Codes sind so häufig in allerlei Lehrbüchern zu finden, dass wir gerne vergessen, dass auch die Aufklärung des universellen Codes ein wissenschaftliches Wettrennen erster Klasse war. Hierzu gibt es einen Exkurs „Moskau und die Entschlüsselung des genetischen Codes – ein Exkurs in drei Akten“. Schließlich bleibt der genetische Code ein Code ohne Punkt und Komma. Sinn machen die vielen Nucleotide erst, wenn ein Leserahmen festgelegt wird  – dies geschieht mithilfe der Start-tRNA, die mit der Aminosäure Methionin beladen ist. Dieses Leseraster wird dann stur auf den Rest der mRNA übertragen, seien es nun 50–70 oder 2000–5000 Aminosäuren. Bierdeckel IX schließt dieses Kapitel mit ein paar Überlegungen zu Leserahmen ab.

73 3.5 · Der universelle Code – das Alphabet des Lebens

Exkurs: Moskau und die Entschlüsselung des genetischen Codes – ein Exkurs in drei Akten

Erster Akt: Die Struktur der DNA-Doppelhelix erklärt ziemlich gut die Vervielfältigung der DNA selbst – die Replikation. Wie aber Proteine entstehen, blieb verborgen. Also gründeten ein paar ehrgeizige Herren, einschließlich James Watson und Francis Crick, den „RNA Tie Club“. Die 20 Mitglieder waren nach den einzelnen Aminosäuren benannt, Watson war Prolin und Crick Tyrosin. Der Club traf sich ein- bis zweimal jährlich zum wissenschaftlichen Austausch. Die große Entdeckung in Bezug auf den genetischen Code machte allerdings niemand aus dem Club. Zweiter Akt: Um 1960 tüftelte Heinz-Günter Wittmann in Tübingen an der Entschlüsselung des genetischen Codes. Er arbeitete an chemisch induzierten Mutanten des Tabakmosaikvirus. Ganz wenige der untersuchten Varianten enthielten zwei andere Aminosäuren, so einige hatten eine andere Aminosäure, die allermeisten zeigten aber gar keine Änderung der Aminosäuren. Wittmann versuchte, die beobachteten Änderungen in der Aminosäure-Zusammensetzung mit den theoretisch möglichen RNA-Mutationen zu korrelieren. Wittmann präsentierte seine Daten auf dem 5. Internationalen Biochemie-Kongress 1961 in Moskau  – bei einem von Crick organisierten ad hoc-Kolloquium. Dritter und letzter Akt: Marshall Nirenberg war frisch gebackener NIH-­ Arbeitsgruppenleiter in Bethesda, Maryland, bei Washington, D.C.  Gemeinsam mit seinem aus Bonn stammenden PostDoc Heinrich Matthaei entwickelte er ein Zell-­ freies Translationssystem. Der

Heureka-Moment war, als die beiden RNA dazugaben, die nur aus Uracil-Buchstaben bestand – heraus kam eine Kette von Phenylalaninen. „UUU“ war somit das erste entschlüsselte Codon. Dieses System war deutlich einfacher zu handhaben als Wittmanns Virus-Varianten. Weitere Codons folgten, Wort für Wort. 1961 in Moskau – auf demselben ad hoc-Kolloq  – wurde Nirenberg für seine Arbeiten gefeiert und später vielfach ausgezeichnet. Wittmann wandte sich anderen Themen zu. Für den Faktencheck: Der RNASchlips-Club hat nie sonderlich öffentlich „agiert“. Darum hier der Link zum Kapitel „The RNA Tie Club JDW/2/7/2“ der James D.  Watson Collection des Archivs des Wellcome Trusts ➜ 7 https://wellcomecollection.org/works/ jwycznfk  – und zur englischen Wikipedia-Seite ➜ 7 https://en.­wikipedia.­ org/wiki/RNA_Tie_Club [gelesen am 16. April 2022]. Hans-Jörg Rheinberger schaut auf den deutschen Teil der Geschichte um den Universal-­Code ➜ Rheinberger HJ. 2018. Heinz-Günter Wittmann – ein Pionier des genetischen Codes. BioSpektrum. 24:754–755. https://doi. org/10.1007/s12268-018-0989-3. Ein Interview mit Dr. Nirenberg aus dem Jahre 2009 ist in diesem erfrischenden Artikel beschrieben ➜ Ginsberg. 2009. Deciphering the Genetic Code. A National Historic Chemical Landmark. 7 https://www.­acs.­org/content/acs/en/education/whatischemistry/ landmarks/geneticcode.­html [gelesen am 16. April 2022].  





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Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

Bierdeckel IX: Was ist denn so besonders an einem offenen Leserahmen?

3

Ganz einfach: Zufällig gäbe es ihn gar nicht. Nehmen wir eine völlig zusammengewürfelte Sequenz. Wenn da irgendwo ein ATG-Start-Codon wäre, wie schnell würde dieser Leserahmen von einem der drei Stop-Codons wieder terminiert werden? 55 1 Codon aus 64 – 1,5 % Wahrscheinlichkeit für das Methionin-Start-Codon 55 Weiter geht es. Wenn kein Stop-Codon kommt, also bei 61 aus 64 Codons, sind das etwa 95 % 55 Bei jedem neuen Codon gilt die gleiche Wahrscheinlichkeit, die mit der ersten multipliziert wird 55 Schließlich muss der Leserahmen auch noch enden – 4,7  % für eines der drei Stop-Codon Die Wahrscheinlichkeiten für Methionin * (Wahrscheinlichkeit für alles außer Stop)n * Wahrscheinlichkeit für irgendein Stop-Codon müssen am Ende noch miteinder multipliziert werden, dabei ist n die Anzahl der Aminosäuren zuzüglich zum N-terminalen Methionin. Für so ein kleines Gen wie Insulin (110 Aminosäuren einschließlich Methionin-Start-Codon, Präpeptid und noch herauszuschneidenem C-Peptid), sind wir dann bei 0,000‘003‘9 % Wahrscheinlichkeit für IRGENDEINEN Leserahmen mit 110 Aminosäuren Länge und ordentlichem Start und Stop. Dabei sind wir gerade mal bei einer Zufallssequenz, bisher noch ohne jeglichen biologischen Sinn. Konsequent: Wenn man einen längeren Leserahmen in einer DNA-Sequenz sieht, dann ist das immer etwas besonderes. Wenn man allerdings die sehr kleine Wahrscheinlichkeit für einen Leserahmen mit der riesengroßen Zahl an Nucleotiden in dem einen oder anderen Genom multipliziert, könnte dann doch hier oder dort ein „scheinbarer“ Leserahmen auftauchen. Wohl eher was für Fans: Eine neue Definition eines offenen Leserahmens. ➔ Sieber et al. 2018. The Definition of Open Reading Frame Revisited. Trends Genet. 34(3):167–170. https://doi.org/10.1016/j.tig.2017.12.009

z Zum Weiterlesen

Wer viel zum Thema lesen möchte, kann gerne nach „Eugene Koonin“ und „Code“ suchen. Herr Koonin hat zu diesem Thema so einiges geschrieben, zum Beispiel das hier ➜ Koonin & Novozhilov. 2017. Origin and Evolution of the Universal Genetic Code. Annu Rev Genet. 51:45-62. Review. https://doi.org/10.1146/annurev-genet-120116-024713. Zu Unrecht wurde dieser frische Blick auf den universellen genetischen Code recht wenig beachtet ➜ Saier MH. 2019. Understanding the Genetic Code. J Bacteriol. 201(15):e00091-19. Review. https://doi.org/10.1128/JB.00091-19.

75 3.6 · Von Code-Varianten und anderen biologischen Codes

3.6 

3

Von Code-Varianten und anderen biologischen Codes

Wem der genetische Code noch nicht kompliziert genug ist, dem drängt sich doch förmlich folgende Frage auf: Gibt es auch noch andere biologische Codes? – Die Antwort ist natürlich: „Ja, aber …“ Erst einmal geht es noch um ein paar Details des Universalcodes, bevor wir uns anderen Codes zuwenden. Das Dogma der Molekularbiologie ist der überall präsente Code, der DNA in RNA und dann in Proteine übersetzt: DNA ➜ RNA ➜ Protein. Eigentlich hat der universelle Code aber zwei Teile. Der eine Teil ist mit DNA ➜ mRNA ➜ tRNA ➜ Protein schon einmal etwas komplizierter als es eben noch aussah. Der andere Teil ist aber das dazugehörige Arsenal an Aminosäure-tRNA-Synthetasen, die die reaktionsträgen Aminosäuren aktivieren und mit den dazugehörigen, also immer nur mit den richtigen (!) tRNAs verknüpfen. Auch innerhalb dieses konservierten Korsetts kann man innovativ sein. So gibt es mindestens zwei Aminosäuren, die manchmal – aber wirklich nur manchmal – am Ribosom verbaut werden. In beiden Fällen wird dazu ein Stopp-Codon uminterpretiert, das sich in einem besonderen Kontext befindet (Exkurs „Am Ribosom schleusen Halb-Edelsteine weitere Aminosäuren in Proteine ein“).

Exkurs: Am Ribosom schleusen Halb-Edelsteine weitere Aminosäuren in Proteine ein

Pyrrolysin ist eine ganz komische Aminosäure, die in Archaebakterien und manchen Bakterien an ganz besonderen Opal-UGA-Stoppcodons eingebaut wird. In fast allen Lebewesen  – auch im Menschen  – werden manche Amber-UAG-Stoppcodons als Signal für den Einbau von Selenocystein interpretiert. Warum tragen Stoppcodons die Namen von Halb-Edelsteinen? Die Entdecker von Suppressor-Mutanten hatten

einen fleißigen Studenten im Labor  – Harris Bernstein  – und Bernstein heißt im Englischen amber. Statt ihn als Co-Autor der entsprechenden Veröffentlichungen zu benehmen, versprachen sie ihm für seine Mühen, von nun an alle UAG-Suppressor-Mutanten ihm zu Ehren amber mutants zu nennen. Entsprechende Mutanten bei den beiden anderen Stoppcodons wurden daraufhin Opal (UGA) und Ocre (UAA) getauft – ebenso in seinem Sinne.

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3

Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

Nun bot sich also an, eines dieser beiden Systeme auszunutzen, um alternative Aminosäuren am Protein zu verbauen. Nur „etwas“ komplizierter schien es, einer Zelle  – meist E. coli  – die Verwendung einer neuen Kernbase beizubringen. All diese Ansätze der synthetischen Biologie, den genetischen Code umzuprogrammieren, werden derzeit verfolgt. Man kann nur gespannt sein, was für komplexe Naturstoffe diese semi-synthetischen Ansätze hervorbringen werden. Und dann ist da noch ein völlig anderer Code abgebildet. Es sind die alten Hausmarken der Fischerfamilien auf der Insel Hiddensee. Mit diesen meist einfach einzuritzenden Zeichen wurde Eigentum gekennzeichnet, sei es Haus und Hof oder Netz und Boot. Meist

sind sie uralt, dann erst einmal in ihrer Form erhalten geblieben, später dann aber verändert worden  – vielleicht spätestens dann, als es zwei oder fünf Familien mit dem Namen Müller gab. Zum Weiterlesen: Chin JW. 2017. Expanding and reprogramming the genetic code. Nature. 550(7674):53-60. Review. https://doi.org/10.1038/nature24031. Hatfield & Gladyshev. 2002. How selenium has altered our understanding of the genetic code. Mol Cell Biol. 22(11):3565-76. Review. https://doi. org/10.1128/MCB.22.11.3565-3576.2002. [Bildinfo: Opal, © marcel stock. adobe.com; Bernstein mit Insekteneinschluss, © Minakryn Ruslan stock.adobe. com; Küchenhandtuch mit den Hausmarken von Hiddensee, JWM, 2018]

Etwas genereller gefragt: Was ist nötig für einen biologisch brauchbaren Code? Neben einem geeigneten Schreibmaterial sind es Schreiber, Lesegerät und ein Löschstift. Im Büro könnten diese vier Dinge Papier, Bleistift, das Auge des Lesers und der Radiergummi sein. Bei der Diskussion um biologische Codes kann es nicht schaden, immer wieder auf den genetischen Code, den universellen Code, zu schauen. Das hilft bei der Beurteilung, ob woanders nun ein echter biologischer Code existiert oder nicht. Wie einfach Codes im Grunde sein können, macht uns die (Bio-)Informatik vor. In binärer Sprache reicht die An- oder Abwesenheit von irgendwas, um eine „Eins“ oder eine „Null“ auszudrücken. Und jenes „irgendwas“ kann molekular wiederum sehr vielfältig sein. Einsen und Nullen könnten dann zu komplexeren Einheiten zusammengefasst werden. In der Informatik hat man sich sehr früh dazu entschlossen, Einheiten von 8 Bits in einem Oktett zusammenzufassen; das Byte war geboren. Wie diese Einsen und Nullen von Magnetbändern oder von rotierenden Plastikscheiben gelesen wurden, erschließt sich dem ein oder anderen Leser noch irgendwie – im Prinzip. Wie aber das Speichern, Lesen und Löschen in den hoch- und höchstverdichteten USB-Flash-Speichern oder in der Cloud funktioniert, bleibt für den Autor erstaunlich. In biologischen Systemen sind Informationen selten durch Einsen und Nullen codiert. Oft sind Informationen recht komplexe Abfolgen von molekularen Informationen. Hier nenne ich nur drei Beispiele: Epigenetik und der Histon-Code: Viel wird über Epigenetik und den Histon-­ Code geschrieben. Fakt ist, dass die flexiblen N-Termini der einzelnen Histon-­

77 3.6 · Von Code-Varianten und anderen biologischen Codes

3

Proteine von verschiedensten Enzymen präzise chemisch modifiziert werden. Wir haben mindestens Methylierungen (sowohl von DNA als auch von Histon-­ Proteinen), Phosphorylierungen, Acetylierungen und Ubiquitinierungen. Bestimmt existiert da noch eine Menge andere Chemie, die wir der DNA und/oder den Histon-­ Fahnen anhängen können. Ebenfalls steht fest, dass diese Modifikationen nur teilweise vererbt werden – sie sind sozusagen plastisch, können manchmal also gelöscht werden. Eigentlich doch toll, um dem Nachwuchs auch vorübergehende Informationen mitzugeben, oder? Kompartimentierungscode: Dieser Code ist eher leichte Kost. Er entspricht der Idee von Postleitzahlen oder Adressaufklebern auf Proteinen. Es gibt allerlei Signale, seien sie am N- oder am C-Terminus eines Proteins oder sonst wo, die von einer komplexen Sortiermaschinerie interpretiert werden. Hoffentlich kommt zumindest ein gewisser Anteil der Menge eines exprimierten Proteins dort an, wo es gebraucht wird. Dieser Prozess ist nicht perfekt – so können es gut und gerne auch mal nur 1 % irgendeines kompliziert gefalteten und modifizierten Proteins sein, die es am Ende als Rezeptor an die Oberfläche einer Zelle schaffen. Sulfatierungscode im Heparan-Sulfat: Proteoglycane sind langkettige Zucker, die an Proteine angehängt werden. Oft bestehen sie aus zwei verschiedenen Zuckereinheiten, die immer abwechselnd aufeinanderfolgen. Heparan-Sulfat ist so ein Proteoglycan. Eigentlich ist es mit einer gewissen Länge und verschiedenen Anknüpfungspunkten am Protein-Gerüst schon kompliziert genug. Dann werden die Zucker aber noch gezielt verändert. Die gravierendste Modifikation ist hier sicherlich die Sulfatierung der Zucker an ausgewählten OH-Gruppen. Pfiffig dabei ist, dass die beteiligten Sulfotransferasen irgendwie „soziale“ Enzyme sind – sie hören aufeinander: Nur wenn einmal ein Sulfat-Rest „hier“ hinzugefügt wurde, dann kommt ein weiterer „dort“ hinzu, sonst bleibt der ganze Bereich unsulfatiert. So entstehen Muster entlang eines Heparan-Strangs – mit Gebieten fast völlig ohne Sulfate und anderen Gebieten, die von Sulfaten überzogen sind. Diese Strichcodes können dann Bindestellen für ganz besondere Signalstoffe darstellen. Kryptisch: Neben den genannten Codes gibt es noch den Code der Hormone und Signalstoffe, wie also Nachrichten erst von Zelle zu Zelle übermittelt werden und dann noch innerhalb der empfangenen Zelle in sinnvolle biologische Antworten übersetzt werden. … und die Bauanleitung dafür, wie aus einem lang(weilig)en ersten RNA-Transkript eines Gens die fertige mRNA maßgeschneidert wird, der Splicing-Code und so weiter, etc. … Bei diesen Beispielen für biologische Codes wollen wir es für dieses Buch belassen. Bitte lesen Sie an anderer Stelle über Code-­ Theorien oder andere spannende biologische Codes. z Zum Weiterlesen

Erst einmal etwas DNA-Methylierung für den Anfang ➜ Aliaga et al. 2019. Universality of the DNA methylation codes in Eucaryotes. Sci Rep. 9(1):173. https://doi. org/10.1038/s41598-018-37407-8. Ein Klassiker, einer der „Begründer“ des Histon-Codes, Bryan Turner aus Birmingham, definiert den epigenetischen Code im Jahr 2007 ➜ Turner BM. 2007. Defining an epigenetic code. Nat Cell Biol. 9(1):2-6. https://doi.org/10.1038/ ncb0107-2.

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Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

Es wird aber schnell spannend, wenn derselbe Dr. Turner noch im Jahr 2017 schreibt, dass ein epigenetischer Code „might exist, … but we are not there yet!“ – er könnte existieren, wirklich gezeigt haben wir das aber nicht! Noch nicht! ➜ Turner B. 2017. Epigenetics can free us from the tyranny of selfish DNA. The Biochemist (Lond). 39(5):4–7. https://doi.org/10.1042/BIO03905004. Heparan-Sulfate – sind es jetzt Zucker- oder Sulfatierungscodes? ➜ Poulain & Yost. 2015. Heparan sulfate proteoglycans: a sugar code for vertebrate development? Development. 142(20):3456-67. Review. https://doi.org/10.1242/dev.098178. Und noch eine Ebene an Komplexität dazu – jetzt sind Heparan-Sulfate als Corezeptoren auch noch an allerlei Signal-Weiterleitungen beteiligt ➜ Hayashida et al. 2022. Coreceptor functions of cell surface heparan sulfate proteoglycans. Am J Physiol Cell Physiol. 322(5):C896-C912. Review. https://doi.org/10.1152/ajpcell.00050.2022.

3.7 

 as war vor der DNA? Die RNA-Welt-Hypothese … und W was könnte danach kommen?

Was war zuerst da – die Henne oder das Ei? Diese Frage ist weltbekannt. Sie hat es sogar geschafft, zu einem Überbegriff zu werden (wer es mag: zu einem „Hyperonym“) – es gibt die Fragenkategorie „Henne-oder-Ei-Fragen“. DNA ist also so ein toller Informationsspeicher, dann gibt es RNA – irgendwie – und Proteine, die unbestrittene Katalyse-Weltmeister sind. DIE Henne-oder-Ei-Frage der Molekularbiologie ist also: Wie kann das alles gleichzeitig entstanden sein? Eine einfache Antwort scheint unmöglich. Zunächst aber einmal ein Exkurs „Which came first, pubs or canals?“ zu einer sehr englischen Henne-oder-Ei-Frage: Was war zuerst da, die Pubs an den Kanälen oder die Kanäle an den Pubs. Exkurs: Which came first, pubs or canals?

Als die industrielle Revolution Mitte des 18. Jahrhunderts langsam Fahrt aufnahm, wurden überall in Großbritannien Kanäle gebaut; so einige davon sind auch heute noch in Betrieb. Die Kanäle mit Schaufeln auszuheben, war absolute Schwerst-­ Arbeit. Gut, dass es entlang der Kanäle zahlreiche Pubs gab, die die Arbeiter mit dem Nötigsten versorgten, also einfachem Essen und Bier.

Was war aber zuerst da  – die Pubs oder die Kanäle? Ohne Pubs keine Kanäle. Ohne Kanäle kein Nachschub für Pubs. Keine leichte Frage. Aber man kann gut darüber nachdenken, wenn man entlang der Kanäle wandert und in einen dieser Pubs einkehrt. Man kann natürlich auch auf einem der Kanäle mit einem Narrowboat fahren und dann an einem dieser Pubs anlegen.

79 3.7 · Was war vor der DNA? Die RNA-Welt-Hypothese … und…

[Bildinformation: Kanal und Informationsschild ganz in der Nähe des Pubs The Navigation, nicht weit

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entfernt vom Kanalkreuz Kingswood Junction im Südosten von Birmingham, JWM, 2016]

Fast schon immer war DNA ein idealer Informationsspeicher und Proteine waren ziemlich gute Biokatalysatoren. Wenn mehrere Dinge gleichzeitig ziemlich gut funktionieren, dann ist es oft schwierig sich vorzustellen, was vorher gewesen sein könnte. Aber was war denn nun vorher da? Ein Erklärungsversuch ist die Hypothese einer RNA-Welt  – einer vorzeitlichen Welt, in der RNA sowohl Speichermedium als auch Biokatalysator war. Vorrübergehend ist RNA ja sowieso der Informationsspeicher für Proteine – als mRNA nämlich. Im Vergleich zur DNA ist sie natürlich durch ihre geringere chemische Stabilität etwas begrenzt; aber: Ja, RNA könnte in einem gewissen Maße als Informationsspeicher für sich selbst dienen. Und dann hat Tom Cech (mehr zu ihm in 7 Abschn. 5.2) die ersten selbstspleißenden Introns beschrieben. Auf einmal gab es also auch irgendwie geartete katalytische RNAs. Fertig sind fast alle Zutaten für die RNA-Welt, es fehlen wohl „nur noch“ ein paar Kleinigkeiten – einige davon diskutieren wir am Ende von ein paar anderen Kapiteln. Vom Prinzip her war aber diese Henne-oder-Ei-Frage gelöst – es war nicht mehr zwingend notwendig, dass DNA und Proteine von Anfang an mit dabei waren. Das war auch gut so, denn die heutige Biosynthese von DNA verursachte noch mehr Kopfzerbrechen bei den präbiotischen Chemikern. Die Reduktion von Ribonucleotiden zu echten DNA-Bausteinen, den Desoxy-Ribonucleotiden ist eine der zentralsten Reaktionen unseres Stoffwechsels. Wir leisten uns hier einen abenteuerlichen radikalischen Mechanismus; nichts was man sonst gerne in seinen eigenen Zellen ablaufen lassen möchte. Könnte also die Entwicklungsgeschichte des beteiligten Enzyms Aufschlüsse über den Ursprung des DNA-basierenden Lebens geben? Eine nette Idee, an der sich so einige Forscher schon versucht haben. Es scheint drei verschiedene Typen dieser sogenannten Ribonucleotid-Reduktase zu geben, die alle einen unterschiedlichen Weg gefunden haben, um jene gefährlichen Radikale zu erzeugen. Fürs erste geht der Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis hier nicht weiter. Mal schauen, was die Zukunft so bringt.  

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Kapitel 3 · DNA oder das Buch des Lebens

Und was bringt die Zukunft? Die DNA-Technologie hat längst die Molekularbiologie-­Labore dieser Erde verlassen. Sie ist in sehr viele Bereiche der Forschung und des täglichen Lebens eingedrungen. Forensische DNA-Analyse, DNA-Origami und moderne Tier- und Pflanzenzüchtung seien nur als Eckpfeiler genannt. Modifizierte Wirtszellen können allerlei pharmazeutisch wertvolle Stoffe erzeugen und in der Informatik ist DNA selbst als Datenspeicher in den Fokus gerutscht. Oben hätte man noch fragen können, warum sich das Leben auf die Kernbasen A, G, T und C festgelegt hat. Vor vielen Jahren gab es dazu die lapidare Antwort: „Weil es halt nicht anders ging.“ Diese Antwort ist mittlerweile vom Tisch. Es gibt immer mehr Alternativen für das Rückgrat aus Desoxy-Ribose und Phosphat. Auch sind bereits mehrere neue Basen und Basenpaare entwickelt worden, die perfekt in den DNA-Doppelstrang hineinpassen. Kernbasen-Innovation: Diese Forschungsrichtung hat als absolute Spielerei der präbiotischen Chemie oder der theoretischen Biochemie angefangen. Mittlerweile sind biotechnologische Anwendungen aber entweder schon marktreif oder zumindest zum Greifen nahe, bei denen Proteine durch den Einbau von alternativen DNA-­Bausteinen oder neuen Kernbasen noch besser gemacht werden. z Denkanstöße

DNA-Bausteine werden von der Ribonucleotid-Reduktase gemacht. In der Publikation erklären viele Seiten Text, dass es gar nicht so leicht ist, das eigentliche Alter von DNA zu bestimmen ➜ Lundin et al. 2015. The origin and evolution of ribonucleotide reduction. Life (Basel). 5(1):604-36. Review. https://doi.org/10.3390/ life5010604. Hier werden alternative Rückgrate für Nucleinsäuren besprochen ➜ Handal-Marquez & Pinheiro. 2021. Life orthogonal. The Biochemist (Lond). 43(6):40– 43. https://doi.org/10.1042/bio_2021_191. Wenn am Ribosom alles chemisch Mögliche verbaut werden kann, sind die Optionen sehr vielfältig ➜ Ledbetter & Romesberg. 2018. Editorial overview: Expanding the genetic alphabet and code. Curr Opin Chem Biol. 2018 Oct;46:A1-A2. Editorial. https://doi.org/10.1016/j.cbpa.2018.09.007. Ein paar außergewöhnliche Geschichten zu DNA gibt es auch hier ➜ Mueller JW. 2022. 11 ½ ungewöhnliche Fakten über DNA oder was man auch mit DNA machen kann. Springer essentials. Springer Fachmedien, Wiesbaden. https://doi. org/10.1007/978-3-658-37770-0. Mehr über DNA in Lehrbüchern der Genetik.

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Wie entsteht Ordnung aus dem Chaos? Inhaltsverzeichnis 4.1

 ie dichteste Kugel-Packung D und Self-Assembly-Systeme – 82

4.2

 iologische Membranen – B oder – teile und herrsche – 84

4.3

 roteinfaltung und warum P kleine Moleküle einen gewaltigen Unterschied machen – 87

4.4

 orsortierung von V Molekülen – MetabolitenPools – 91

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 J. W. Mueller, Endlich Biochemie verstehen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9_4

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Kapitel 4 · Wie entsteht Ordnung aus dem Chaos?

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..      Abb.  4.1  Die Struktur einer Büroklammer bestimmt ihre Funktion. Ein Stück Draht kann nur als Büroklammer benutzt werden, wenn es auch wie eine Büroklammer geformt ist – die Struktur bestimmt die Funktion. Gute Analogien sind solche, in denen man noch weitergehen kann. Hier habe ich noch eine Büroklammer aus oxidierendem Milieu gezeigt und eine, die noch weitere Domänen erhalten hat. Dieses Beispiel habe ich von der Kristallografin Ada Yonath mal auf einem Vortrag in Birmingham gehört. [Bildnachweis: JWM, 2020]

Einfach ein paar Nucleotide zu einer endlosen DNA-Kette aufzureihen, war bereits erstaunlich kompliziert. Diese endlose DNA-Kette hat ihre ganz eigenen Probleme. Die Chromatin-bildenden Histone, die Topoisomerasen und viele weitere Proteine passen aber gut auf die langen DNA-Fäden auf. Jetzt wollen wir uns anschauen, wie sich manche biologische Systeme überhaupt anordnen, ganz ohne kovalente Bindungen einzugehen wie bei der DNA. Wie ist das zum Beispiel, wenn ein paar langweilig erscheinende Lipide stabile und komplexe Biomembranen bilden? Schließlich wollen wir im Ansatz verstehen, wie sich Peptid-Ketten spontan zu hoch komplizierten Proteinen zusammenklumpen. Aus relativ einfachen Bauteilen können sehr schnell ziemlich komplizierte Systeme entstehen. Die Struktur bestimmt die Funktion (. Abb. 4.1). Aber wer bestimmt denn jetzt die Struktur?  

4.1 

Die dichteste Kugel-Packung und Self-Assembly-Systeme

Der Kosmos steuert unaufhaltsam auf das Chaos zu. Das ist zumindest das, was wir im Bezug auf die Entropie und den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik lernen und lehren. Warum ist dann nicht alles um uns herum (und uns eingeschlossen) total chaotisch und ungeordnet? Jegliche Anspielung auf meinen Schreibtisch im Büro oder auch an das aktuelle Tagesgeschehen in der Welt ist an dieser Stelle unangebracht.

83 4.1 · Die dichteste Kugel-Packung und Self-Assembly-Systeme

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Scheinbar wollen manche besonderen Systeme einfach in eine gewisse Ordnung fallen. Sehr schön anzusehen ist, wie ein Bienenvolk in einer geeigneten Höhle perfekt geformte sechseckige Waben baut. „Warum sind es nicht fünf- oder siebeneckige Waben?“, könnte man sich fragen. Erklärbar ist das Bienen-Hexagon durch eine Schicht der dichtesten Kugelpackung: Wenn ich eine Handvoll Kugeln in einen flachen Behälter gebe, diesen dann leicht kippe und vielleicht noch ein kleines ­bisschen rüttele, dann werden sich diese Kugeln größtenteils hexagonal anordnen – die runde Form der Kugeln gibt das so vor. Sie können an dieser Stelle auch gerne an einen Haufen aufgestapelter Orangen oder Äpfel im Supermarkt denken. Wir sind bei Self-Assembly-Systemen angelangt, bei Systemen, die von sich heraus eine Ordnung annehmen. Ein riesiges Self-Assembly-System ist in . Abb. 4.2 zu sehen – Giant‘s Causeway (der Damm des Riesen) aus dem nördlichsten Nordirland – und gleich daneben noch ein molekularer Riese. Das riesige Capsid ist aus vielen Kopien eines unschuldig wirkenden viralen Proteins zusammengesetzt. Das VP1-Protein wird in infizierten Zellen in großer Zahl gebildet. Zack, lagern sich auf einmal 60 Kopien davon zu einem Ikosaeder zusammen, der virale Nucleinsäuren und noch ein paar andere Zutaten enthält. Fertig ist ein ­Virus-Partikel. Ein Ikosaeder hat 20 Seitenflächen, die alle aus schön gleichmäßig geformten Fünfecken bestehen. Jenes kleine Hüllprotein vom Anfang gibt diese Form vor. Wohl immer streben Self-Assembly-Systeme danach, möglichst viele interne Andock- oder Bindestellen zu verstecken und sich dabei auch möglichst kompakt zusammenzukuscheln. Die Anziehungskräfte müssen dabei gar nicht so groß sein  – eine Vielzahl von auch nur schwachen Interaktionen kann kooperative ­Effekte bewirken.  

..      Abb.  4.2  Giant’s Causeway und ein virales Capsid. Im nördlichen Norden von Nordirland haben sich vor etwa 60 Mio. Jahren Tausende Basaltsäulen gebildet. Das Naturschauspiel ist etwa 5 km lang, die Gesteinsschicht ist bis zu 25 m dick. Die allermeisten Säulen sind sechseckig, manche haben aber auch vier, fünf, sieben oder acht Ecken. Es ranken sich Legenden um diesen besonderen Ort. Und dann haben wir so ein kleines, unscheinbares, virales Hüllprotein, zum Beispiel das VP1-­Protein BatAAV-10HB des Adeno-assoziierten Virus aus der Fledermaus. Das Ding ist 58 kDa schwer. Wenn die chemischen Bedingungen stimmen, dann formen 60 solche Bausteine einen molekularen Fußball  – eine Virus-Hülle, die etwa 3,5 MDa (Mega-Dalton) schwer ist; das ist knapp die Masse eines 80S-Ribosom-Riesen. [Bildinformation: Sonnenuntergang am Giant‘s Causeway, © VanderWolf Images stock. adobe.com; eigene Strukturvisualisierung nach https://doi.org/10.2210/pdb6WFU/pdb]

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Kapitel 4 · Wie entsteht Ordnung aus dem Chaos?

Durch solche schwachen Self-Assembly-Effekte kann es durchaus in wässriger Lösung zu spontaner Entmischung kommen, die dann auch Flüssig-Flüssig-­ Phasentrennung genannt wird. Wasser-Öl-Gemische sind einfache Vertreter dieser Kategorie, zum Beispiel ein Essig-Öl-Salatdressing. Durch kräftiges Mischen wird das Dressing ziemlich gleichmäßig; das ändert sich aber wieder, wenn die Mischung eine Weile stehen bleibt. Wasser beziehungsweise Öl bleiben halt doch gerne unter sich. Ohne Phasentrennung gäbe es wohl zelluläre Organellen ohne Zellmembran nicht in dem Maße – wir denken hier an den Nucleolus, an Stress-­Granula oder gar an das Heterochromatin. Phasentrennung ist derzeit hip. Immer wieder wird von neuen Beispielen für eine Phasentrennung berichtet. Konglomerat: So einige biologische Systeme sind Self-Assembly-Systeme. Aufgrund von vielen schwachen Wechselwirkungen entsteht Ordnung – scheinbar aus dem Nichts. Manchmal entstehen diese Wechselwirkungen durch Packungseffekte (dichteste Kugel-Packung) oder durch schwache Interaktionen unter vielen Monomeren, meist begünstigt durch den hydrophoben Effekt. Die Ausbildung von Zellorganellen ohne Zellmembran ist wohl auf Entmischung zurückzuführen, die wir Phasentrennung nennen. z Navigation

Außer dem richtigen Puffer braucht das Capsid-Protein keinerlei Hilfe, um einen perfekten Ikosaeder zu formen. Eine handwerklich schöne Arbeit über ein virales Hüllprotein in isolierter Form. ➜ Schmidt et al. 2000. Mechanism of assembly of recombinant murine polyomavirus-like particles. J Virol. 74(4):1658–62. https:// doi.org/10.1128/jvi.74.4.1658-1662.2000. Andere schreiben Übersichtsartikel, die Kollegen hier präsentieren im Gegensatz dazu einen „Leading Edge Primer“ über Phasentrennung. Na ja, wer’s mag ➜ Alberti et al. 2019. Considerations and Challenges in Studying Liquid-Liquid Phase Separation and Biomolecular Condensates. Cell. 176(3):419–434. Review. https://doi.org/10.1016/j.cell.2018.12.035. Zu den hippen Phasentrennungen hier dann aber auch noch eine etwas kritischere Stimme aus Dortmund ➜ Musacchio A. 2022. On the role of phase separation in the biogenesis of membraneless compartments. EMBO J. 41(5):e109952. https://doi.org/10.15252/embj.2021109952.

4.2 

Biologische Membranen – oder – teile und herrsche

Nach der Devise „teile und herrsche“ haben Cäsar und Napoleon immer wieder große Gebiete in kleinere Zonen aufgeteilt, um sie besser zu beherrschen. Übrigens machen Politiker der Neuzeit von dieser Strategie ebenfalls gerne Gebrauch. Wir wollen die kleinen, aufgeteilten Zonen in einer normalen eukaryotischen Zelle mal Kompartimente nennen. Für manche dieser Kompartimente ist die eben erwähnte Phasentrennung verantwortlich. Der überwiegende Teil der verschiedenen Kompartimente wird aber durch Membranen vom Rest der Zelle abgetrennt. ­Woraus bestehen Membranen denn überhaupt?

85 4.2 · Biologische Membranen – oder – teile und herrsche

4

..      Abb.  4.3  Von Seifenblasen und Doppelmembranen. Schön sehen sie aus, jene Seifenblasen in der Abendsonne. Seifen sind vornehmlich die Natriumsalze von Fettsäuren, so wie das daneben abgebildete Palmitat, die Seife der C16-Fettsäure Palmitinsäure. In einer Seifenhaut oder einer Seifenblase lagern sich einzelne Seifenmoleküle zu einer ziemlich dünnen Doppelschicht zusammen, in deren Innerem Wasser und die geladenen Kopfgruppen sind, während die hydrophoben Seitenketten nach außen zeigen. Eine kleine Denkaufgabe sind Membranen aus Eiweiß – sei es steif geschlagener Ei-Schnee oder die eine oder andere Schaumkrone am Meer. Die Lipide von Membranen sind da etwas komplexer. Weit verbreitet sind hier Phospho-Lipide auf Glycerin-Basis. Sie bilden in wässriger Umgebung Doppelmembranen, in denen die polaren Kopfgruppen nach außen zeigen. Das dargestellte Lipid hat einen C16-Palmitinsäure-Rest und einen C18-Ölsäure-Rest gebunden. Genau diese Ölsäure enthält eine Doppelbindung vom neunten zum zehnten C-Atom. [Fotonachweis: Seifenblasen, © Lumppini stock.adobe.com]

Seifenblasen (. Abb. 4.3), ist die erste Antwort. Woraus diese Blasen aber gemacht sind, wollen wir etwas ausführlicher behandeln. Wir kennen bereits Neutralfette, also Moleküle, die elektrisch ausgeglichen sind, da die beteiligten Fettsäuren mit verschiedenen Alkoholen verestert sind. Dadurch sind die sauren und negativ geladenen Carboxylgruppen der Fettsäuren „versteckt“. Allerdings kann eine Esterbindung auch relativ leicht wieder gespalten werden. Wenn man Olivenöl mit etwas Natronlauge kocht, dann entsteht eine Seife. Ja, „Seife“ nennt man auch das Salz freier Fettsäuren. Diese Seifen haben zwei völlig unterschiedliche Seiten  – einen Wasser-abstoßenden (hydrophoben) und einen Wasser-liebenden (hydrophilen) Teil, ganz so wie viele andere Bestandteile von Fetten. Seifen können Seifenblasen bilden. Dabei lagern sich die wasserlöslichen Bestandteile im Inneren einer doppelten Membran zusammen; die hydrophoben Teile sind zur Luft gerichtet. Schön sind diese doppelten Membranen anzusehen. Sie  

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Kapitel 4 · Wie entsteht Ordnung aus dem Chaos?

sind ein paar hundert Nanometer dick und erscheinen durch kohärente Lichtphänomene regenbogenfarbig. Manchmal sind Seifenblasen auch erstaunlich stabil, na ja, über viele Augenblicke wenigstens. Die gleichen Bausteine, die eine Seifenblase entstehen lassen, können sich in wässriger Umgebung auch zu Doppelmembranen zusammenlagern. Dann aber umgekehrt – die hydrophoben Schwänze nach innen, die hydrophilen Kopfgruppen nach außen (. Abb. 4.3). Wer formt Membranen eigentlich? Gute Frage. Erstmal sind das die zweiteiligen, amphiphatischen Lipide selbst, immer versuchen sie, den gerade nicht zur Umgebung passenden Teil intern zu verstecken. Triebkraft ist hier zu einem großen Teil wieder der hydrophobe Effekt. Ob langer Lipid-Rest oder nicht, ob Doppelmembran oder nicht, ob Phospho-Kopfgruppe oder was anderes – all diese Faktoren beeinflussen, wie beweglich die Membran ist. Wenn die Lipidzusammensetzung dann auch noch in den beiden Hälfen der Doppelmembran unterschiedlich ist, dann kann sich so eine Membran auch schnell mal selbst einbeulen und spontan komplexere Formen bilden. Wenn eine Membran zu wabbelig wird, dann droht sie aber auch schnell zu reißen. Auf die Schnelle ist dann das Längere-Lipide-Machen keine Lösung. Abhilfe schafft Cholesterin. Bei höheren Temperaturen dickt Cholesterin Membranen an, es stabilisiert sie. Cholesterin kann aber noch mehr. Bei niedrigen Temperaturen hält es Membranen auch länger flüssig. Ohne das gute Schmiermittel Cholesterin würden Membranen förmlich auskristalliseren und dann – ganz steif – reißen oder brechen. Doch dann gibt es auch noch einen Haufen von Proteinen, um unsere Mem­ branen in Schach zu halten. Eine biologische Membran besteht eben nicht nur aus Lipiden, sondern enthält bis zu 50 % Proteine. Da gibt es Flipasen, also Enzyme, die einen Bestandteil der Membran von einer Seite auf die andere zerren. Es gibt Protein-Apparaturen für die Fusion und die gezielte Abschnürung von kleinen Membran-Bläschen, auch Vesikel genannt, und auch noch jede Menge Transporter und Translokasen, die alles Mögliche und Unmögliche zwischen Kompartimenten hin und her pumpen. Und schließlich gibt es noch die Kernpore, einen Koloss von Proteinkomplex mit einem Hightech-Polymer im Inneren. Für all diese spannenden molekularen Maschinen muss ich hier leider auf weiterführende Literatur verweisen. Wenn alles Lebende einfach nur in Fett- oder Seifenblasen steckt, warum verschmilzt es dann nicht nach einer gewissen Zeit zu einem einzigen riesigen Fettkloß (gerade in Zeiten von weit verbreitetem Übergewicht – eigentlich ein unangebrachter Querverweis)? Die Zellen halten mit dem Cytoskelett dagegen. Das ist eine Gruppe von länglichen Proteinen oder Proteinketten, die Festigkeit verleihen. Ein paar dieser Proteine sind auch an Anhaft-Komplexen beteiligt, mit denen sich eine Zelle am Untergrund festhält. Actin ist so ein Gerüstprotein. Merkwürdigerweise kann am Actin-Gerüst auch unter Belastung gebaut und umgebaut werden. Das machen wir auf einer Baustelle in der makroskopischen Welt mit unserem Gerüst lieber nicht.  

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87 4.3 · Proteinfaltung und warum kleine Moleküle einen gewaltigen…

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??Wie stabil sind Doppelmembranen? Und wie groß ist die Kraft, die ein Protein in der Membran hält? Beim Schreiben dieses Buchs ist mir aufgefallen, dass „wir“ Lebenswissenschaftler uns an dieser Stelle bemerkenswert zurückhalten. Schreiben Sie mir bitte, wenn Sie mehr dazu wissen oder wissen wollen.

Kompartimentiert: Biologische Membranen sind eine Besonderheit von Self-­ Assembly-­Systemen. Sie werden durch den hydrophoben Effekt stabilisiert. Die Fluidität („Wabbeligkeit“) von Membranen wird durch ihre Lipidzusammensetzung und Packungseffekte bestimmt. Verschiedene Membranen wollen sich zu einem unterschiedlichen Grad selbst beugen. Cholesterin und viele, viele Proteine beeinflussen maßgeblich die Eigenschaften von Biomembranen. Schließlich sind von Membranen abgeschlossene Reaktionsräume eines der Erfolgsgeheimnisse der eukaryotischen Zelle – „teile und herrsche“ eben. z Navigation

Den hydrophoben Effekt haben wir als besondere biochemische Triebkraft in 7 Abschn. 1.3 besprochen. Neutralfette kennen wir bereits aus 7 Abschn. 2.3. Isoprenoide und Cholesterin wurden kurz in 7 Abschn. 2.5 erwähnt.  Auch ATPase-Paare biegen Membranen – siehe 7 Abschn. 5.7. Ein umfassender Übersichtsartikel über Membranformen. Die Autoren meinen, dass Membranen durch unterschiedliche Lipidzusammensetzungen ihre Form weit mehr selbst bestimmen als bisher angenommen ➜ Bozelli Jr & Epand. 2020. Membrane Shape and the Regulation of Biological Processes. J Mol Biol. 432(18):5124–5136. Review. https://doi.org/10.1016/j.jmb.2020.03.028.  







4.3 

 roteinfaltung und warum kleine Moleküle einen P gewaltigen Unterschied machen

Wir können Aminosäuren chemisch durch Peptidbindungen zu Peptiden verketten. Das Ribosom kann diese Fummelarbeit weit besser verrichten, es ist eine echte Peptidfabrik. Ein langes Peptid, also ein Polypeptid-Kette, verlässt das Ribosom und dann passiert scheinbar ein Wunder: In weniger als einem Augenblick nimmt diese Kette die Gestalt eines funktionierenden Enzyms oder eines fast reifen Antikörpers an. Die Frage, wie das gehen soll, hat schon ziemlich viele Köpfe verzweifeln lassen. Es geht um die schiere Vielzahl an Möglichkeiten bei der Proteinfaltung und die Frage: Probiert das Polypeptid jede mögliche Konformation aus, bis eine passt und einrastet? Schon bei recht kurzen Peptidketten steigt die Anzahl der Möglichkeiten astronomisch an. Bierdeckel X zeigt ein einfaches Holzmodell eines Proteins und die dazugehörige Überschlagsrechnung.

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Kapitel 4 · Wie entsteht Ordnung aus dem Chaos?

Bierdeckel X: Proteinfaltung am Holzklotz-Modell Hier ist ein kleines Holzpuzzle. Ich verwende es schon seit vielen Jahren in der Lehre. 27 kleine Würfel sind an einer Schnur aufgereiht. Es gibt nur eine Möglichkeit, wie daraus ein großer Würfel entsteht.

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Zwischen 27 Würfeln gibt es 26 Verbindungen Da alles vierkantig ist, kann jede Verbindung 4 Zustände einnehmen Das sind dann 426 oder etwa 4,5 × 1015 Möglichkeiten Wenn ich also bloß einen Lidschlag lang - etwa 0,3 s - an jeder Möglichkeit rumprobieren würde, brauchte ich für alle Möglichkeiten etwa 43 Mio. Jahre

Vor so langer Zeit war gerade die Braunkohle dabei zu entstehen. Im Geiseltal bei Halle an der Saale wurden aus dieser Zeit so einige Fossilien gefunden. Natürlich kann man auch schneller an den Möglichkeiten arbeiten. Trotzdem wird bei dieser Modellrechnung klar, dass Proteinfaltung nicht so funktionieren kann, indem alle Möglichkeiten ausprobiert werden. Bereits 1969 hat Cyrus Levinthal das erkannt. Schon bemerkenswert, seinen Namen „nur“ durch so ein Gedankenexperiment durch ein Paradox - verewigt zu haben. [Fotoinformation: Holzmodell, JWM, 2017]

Auf gar keinen Fall findet ein Polypeptid durch stures Ausprobieren zu seiner biologischen Struktur. Aber wie dann? Vielleicht fangen wir am besten mit ­Energien an. „Normale“ Proteine, zum Beispiel aus einer menschlichen Zelle, sind nicht besonders stabil. Nur ein paar kcal/mol stabilisieren Proteine bei 37 °C Körpertemperatur – und schon bei hohem Fieber entfalten sich einige. Proteine sind evolutionär eben aufs Funktionieren getrimmt worden, nicht aber dazu gemacht, so hart wie Beton oder Stein zu sein. Diese Erkenntnis kann durch verschiedene Analogien beschrieben werden: Proteine sind wie Glas – eine erstarrte, amorphe Schmelze. Wem das zu technisch ist: Proteine sind wie gekochte Spaghetti – sie bilden eine weiche, aber doch recht stabile Masse, wenn sie ihre Form gefunden haben und etwas abkühlen. Und wer schon mal ein Protein zum Kristallisieren gebracht hat, weiß, wie sich Proteinkristalle beim Zerquetschen verhalten – wie Götterspeise. Aber wie finden Proteine ihre Form? Wenn sich Proteine lokal falten, rutschen sie in einer virtuellen Energielandschaft einen Abhang runter. Das kann in einer Sackgasse enden. Wenn die zerklüftete Energielandschaft geformt ist wie ein ­Trichter – der Faltungstrichter, dann kann ein Protein nur durchs Rutschen durch den Faltungstrichter seine native Form annehmen. Als Triebkraft dieser Talfahrt steckt neben ein paar anderen Energie-Beiträgen wieder einmal der hydrophobe

89 4.3 · Proteinfaltung und warum kleine Moleküle einen gewaltigen…

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Effekt. Ein Polypeptid versucht möglichst, seine großen, hydrophoben Aminosäure-­ Seitenketten im Inneren zu verstecken und sich nach außen von seiner besten ­polaren und geladenen Seite zu zeigen. Bei so einigen Proteinen klappt die autarke Protein-Faltung selbst in wässriger Pufferlösung. Bei vielen anderen Proteinen funktioniert das aber nicht. Da fehlen wohl die guten Zutaten der zellulären Umgebung. Zunächst sind das viele andere Proteine, darunter auch Faltungsspezialisten, die Faltungshelfer-Proteine. Kleine Moleküle können destabilisierend (als chaotrope Reagenzien) oder stabilisierend (als Osmostabilisatoren) wirken. Eine überraschende Erkenntnis der letzten Jahre war wohl, dass das Nucleotid ATP selbst Proteine stabilisiert. Viele Proteine brauchen auch besondere Liganden oder Cofaktoren, um ihre native Struktur einzunehmen und um ordentlich zu funktionieren. Die Abhängigkeit von einem Liganden, also einem kleinen, binde-willigen M ­ olekül, wird von nucleären Rezeptoren als Funktionsprinzip genutzt. Klingt etwas kompliziert, oder? Erstmal sind nucleäre Rezeptoren Empfänger für Steroid-­Hormone und andere hydrophobe Substanzen. Sie wirken im Nucleus als Transkriptionsfaktoren. Ohne Ligand werden sie aber meist schlaff und labberig im Cytoplasma von Faltungshelfern festgehalten. Wenn nun der passende Ligand vorbeidiffundiert, dann faltet sich der Rezeptor – na ja, eigentlich nur seine Liganden-­Binde-­Domäne – um den Liganden drum herum. Der Rezeptor löst sich vom Faltungshelferprotein, wandert in den Kern und kann endlich jede Menge Gene in ihrer Aktivität beeinflussen. Gefaltet oder nicht gefaltet sein ist hier die Basis für einen wichtigen molekularen Schalter. Schließlich noch etwas zu Proteinstrukturen. Ich persönlich finde sie wunderschön. Die bisher aufgeklärten Protein-Strukturen sind in der Protein Data Bank, der PDB, zu finden. Der Name ist irreführend, da auch sehr viele Liganden, ein paar Lipide und immer mehr Strukturen von Nucleinsäuren darin enthalten sind. Sichtbar werden Proteinstrukturen in PDB-Viewern oder -Browsern. Genauso wie bei Web-Browsern gibt es hier bei dem einen oder der anderen Vorlieben. Toll ist es, wenn man spielerisch Protein-Faltung erklären kann. Da gibt es die Fold.it-Spiele, die von David Baker begründet wurden. Gemeinsam oder auch gegeneinander faltet man Proteine, sammelt Punkte und lernt auch noch etwas über deren Struktur. Gleichzeitig kommt diese kreative Energie Proteinstruktur-Vorhersagen zugute – Zocken für die Wissenschaft. Beim Anschauen von Proteinen oder spätestens beim Spielen mit Protein-­ Strukturen lernt man sehr schnell drei Strukturbereiche in Proteinen kennen. Die einen Strukturen sind geformt wie ein Korkenzieher, die anderen sehen aus wie gebogene und aneinandergelagerte Pfeile (. Abb. 4.4), die dritte Kategorie besprechen wir gleich. Korkenzieher und Pfeile sind Symboldarstellungen für die beiden häufigsten Strukturen von Peptiden. Ein Peptid kann sich aufwickeln und dabei eine α-Helix bilden. Mehrere Peptidstränge können sich aneinanderlagern und ein β-Faltblatt bilden. Wenn die Abfolge der Aminosäuren die Primärstruktur darstellt, dann sind diese Verknäulungen eben die Sekundärstruktur. Moment, eben war doch von drei Strukturelementen die Rede? Es gibt da noch die vielen Loops, Schleifen und Bögen. Sie sind nicht ungeordnet, aber meist hoch individuell für ein Protein; deshalb ist die Vorhersage dieser Strukturen meist unglaublich schwer. Und dann ist da noch die Ausbildung von Tertiär-, Quartär- und Quintär-­Strukturen, auf die wir hier nicht eingehen. Korkenzieher: Proteine und Enzyme sind so etwas wie mäßig stabile Faden­ knäule aus langen Peptidketten, die aber wahre Katalyse-Weltmeister sein können.  

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Kapitel 4 · Wie entsteht Ordnung aus dem Chaos?

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..      Abb.  4.4  Korkenzieher und Pfeile sind häufige Sekundär-Strukturen in Proteinen. Oben: 3D-Strukturen von Proteinen bestehen zu einem großen Teil aus gewundenen Abschnitten, die Korkenziehern ähneln  – die α-Helices. Unten: Andere Teile des Proteins lagern sich flach nebeneinander  – aus β-Strängen werden β-Faltblätter. Diese können entweder in gleicher Ausrichtung verlaufen, ein ­paralleles Faltblatt (unten links), oder aber in entgegengesetzter Richtung, ein anti-paralleles ­Faltblatt (unten rechts). [Abbildungsnachweis: Korkenzieher, JWM, 2020; Faltblätter, Teil der Strukturen 1XNJ (links, https://doi.org/10.2210/pdb1XNJ/pdb) und 1GFL (rechts, https://doi.org/10.2210/ pdb1GFL/pdb); Visualisierung, JWM, 2022]

Der hydrophobe Effekt ist eine Haupttriebkraft der Faltung. Lokale Interaktionen im Polypeptid lassen das Protein schnell in energetische Minima hineinrutschen. In ihrer nativen Faltung haben Proteine meist einen hydrophoben Kern und eine polare, geladene Oberfläche. Viele Proteine wären nichts ohne ihre Cofaktoren, Liganden und sonstige Modifikationen. z Navigation

Aminosäuren und Peptidbindungen wurden in 7 Abschn. 2.2. behandelt. Über Katalyse-Weltmeister und andere Proteine sprechen wir in 7 Abschn.  5.1. Mehr zum Ribosom gibt es in 7 Abschn.  5.2 zu erfahren. Cofaktoren und ihre innige Beziehung zu Proteinen beleuchten wir näher in 7 Abschn. 5.3. ATP selbst ist nicht nur ein Nucleotid, sondern stabilisiert auch Proteine ➜ Patel et al. 2017. ATP as a biological hydrotrope. Science. 356(6339):753–756. https://doi.org/10.1126/science.aaf6846.  









91 4.4 · Vorsortierung von Molekülen – Metaboliten-Pools

4

Mehr über Kinasen und ihr inniges Verhältnis zu ihrem Lieblingssubstrat ➜ Brylski et al. 2021. Cellular ATP Levels Determine the Stability of a Nucleotide Kinase. Front Mol Biosci. 8:790304. https://doi.org/10.3389/fmolb.2021.790304. Verwirrend, ein Protein und sein Cofaktor gelangen wohl getrennt ins mitochondriale Kraftwerk ➜ Klein & Schwarz. 2012. Cofactor-dependent maturation of mammalian sulfite oxidase links two mitochondrial import pathways. J Cell Sci. 125(Pt 20):4876–85. https://doi.org/10.1242/jcs.110114. Proteine zu falten kann Spaß machen, sogar in einer Seminargruppe. Mehr zu dem verwendeten Programm auf Fold.it ➜ Achterman RR. 2019. Minds at Play: Using an Online Protein Folding Game, FoldIt, To Support Student Learning about Protein Folding, Structure, and the Scientific Process. J Microbiol Biol Educ. 20(3):20.3.63. https://doi.org/10.1128/jmbe.v20i3.1797.

4.4 

Vorsortierung von Molekülen – Metaboliten-Pools

Recycelte Glas-Scherben und frisch geernteter Reis werden maschinell sehr aufwendig Stückchen für Stückchen sortiert. Etwas Ähnliches machen wir im Labor auch, wenn wir FACSen. Das ist nicht mehr das Versenden eines gescannten Schriftstücks (das hieß früher faxen), sondern die Fluoreszenz-assistierte Zell(cell-)Sortierung (FACS). Wenn man jedes einzelne Teilchen in die Hand nehmen muss, klingt das mühevoll. Das muss es aber nicht sein. Innerhalb der Zelle ist eine Vorsortierung von Metaboliten eher Standard. Das Paradebeispiel dafür sind NAD und NADPH. Biochemische Arbeitsteilung ist hier angesagt - NAD treibt Oxidationsreaktionen an und NADPH unterstützt reduktive Biosynthesen. Beide Cofaktoren sind Überträger von Elektronenpaaren in vielen, vielen biochemischen Redox-Reaktionen und das bewerkstelligen sie mit ihrem Nicotinsäure-Rest. Die ungleichen Zwillinge NAD und NADPH unterscheiden sich chemisch einzig und allein durch eine unscheinbare kleine Phosphat-Gruppe. Dieser Phosphat-Rest sitzt dann auch noch ganz hinten – weit weg vom Nicotinsäure-Amid entfernt, dem eigentlichen Elektronenüberträger. In der Zelle macht dieses kleine Phosphat einen gewaltigen Unterschied. Proteine, die im Elektronentransfer-Geschäft tätig sind, können sehr genau zwischen NAD und NADPH unterscheiden. So gibt es eher oxidierende Proteine, die nur NAD verwenden, und eher reduzierende, die nur NADPH verwenden. Eigentlich sind all diese Proteine Redox-Proteine, egal ob hin oder her, sie werden oft Dehydrogenasen genannt. Da aber die Zelle konstant NAD in einem hohen Überschuss über NADH und NADPH über NADP hält, werden diese Gleichgewichtsreaktionen praktisch zu Einweg-Reaktionen. Die Zelle enthält chemisch sehr ähnliche, aber biochemisch komplett verschiedene Elektronen-Nehmer und -Geber auf sehr hohem UND auf sehr niedrigem Energieniveau – gleichzeitig! Ganz so als ob man in einem Becher gleichzeitig kochendes Wasser und Eiswürfel aufbewahren könnte (. Abb. 4.5). Ganz schön pfiffig, so eine Zelle. Koexistenz: NAD und NADPH sind Elektronenüberträger. Sie haben fast eine identische chemische Struktur, unterscheiden sich aber in einer Phosphatgruppe an ihrem Nucleotid-Griff. Die Zelle stellt dadurch eine fast komplette Trennung  

92

Kapitel 4 · Wie entsteht Ordnung aus dem Chaos?

4

..      Abb.  4.5  NAD und NADPH sind wie kochendes Wasser und Eiswürfel gleichzeitig. Das Nicotinsäure-­ Amid erlaubt den beiden Cofaktoren, Elektronen aufzunehmen, „zwischenzuspeichern“ und wieder abzugeben. Chemisch funktionieren die beiden Cofaktor-Geschwister exakt identisch. Biochemisch macht der Phosphat-Rest am 2´-OH der Ribose des NADPH – weit, weit weg vom ­aktiven Teil des Cofaktors – einen riesigen Unterschied. Die Zelle kann die beiden Cofaktoren sehr genau auseinanderhalten – ganz so, als ob man heißen Kaffee und mit Eis gekühlten Gin&Tonic in einem Gefäß hätte, beides aber voneinander getrennt trinken könnte. [Bildnachweis: Erfrischungsgetränk mit Eis, JWM, 2017, Dampflock in Minehead, Somerset, UK, JWM, 2018]

zweier Pools von Redox-Äquivalenten sicher. Eine ähnliche Trennung von anderen ­Metaboliten wird durch unterschiedliche Modifikationen oder durch die Sortierung in unterschiedliche Kompartimente erreicht. In einer Zelle herrscht eben keinerlei ­Einheitsbrei. z Navigation

Bei den Cofaktoren in 7 Abschn. 5.3 besprechen wir NAD und NADPH aus einer weiteren Perspektive. 



93

Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie eigentlich nicht will? Inhaltsverzeichnis 5.1

 nzyme und Katalyse – HexokiE nase und TIM als ParadeBeispiele von Enzymen – 96

5.2

 as Ribosom und andere D Ribozyme – 99

5.3

 ofaktoren für eine besondere C Chemie – 101

5.4

 ie Biosynthese der SteroidD Hormone und die Sache mit dem Vitamin D – dreckige Enzyme ohne sonderliche Spezifität, aber mit Lichtblick – 105

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 J. W. Mueller, Endlich Biochemie verstehen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9_5

5

5.5

 iel hilft viel – oder – das V Massenwirkungsgesetz, TIM und abgegrenzte Reaktionsräume – 110

5.6

 TP ist ein Molekül wie DynaA mit – oder – energetische Kopplung mithilfe von Hoch-Energie-Molekülen – 114

5.7

 oppeln an Gradienten, K OxPhos-Kriege und Tricksen vom Feinsten – 117

5

95

Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann,…

Sowohl die Kinetik von Enzymen als auch die Thermodynamik von biochemischen Reaktionen soll in diesem Kapitel angesprochen werden. Der Grill ist mit Kohle bestückt, das Grillgut steht bereit, allein das Feuer will sich nicht so recht entzünden lassen. Irgendwie steckt der Wurm drin. Eigentlich ist das nicht verständlich. In der Kohle steckt ja eine enorme Menge an Energie. Thermodynamisch ­gesehen „will“ sie doch brennen, die Kohle. Unbedingt will sie die chemische ­Reaktion mit dem Sauerstoff der Luft eingehen. Kohleanzünder, Papier, dünne Holzstücke, eine Pappe zum Wedeln, ein Heißluftfön oder sogar ein Gasbrenner – diese Hilfsmittel benutzen wir dann, um die Reaktion in Schwung zu bringen, also ihren Verlauf oder ihre Kinetik zu beschleunigen. Im obigen Absatz sind zwei größere Denkweisen enthalten. Die Thermodynamik beschreibt den Energie-Unterschied zwischen dem Ausgangs- und dem Endpunkt. Sie gibt also an, ob bei einer Reaktion überhaupt Energie herausspringen kann – ob sich diese Reaktion also lohnt. Die Kinetik gibt dagegen an, wie schnell eine Reaktion abläuft. Sie hängt stark davon ab, wie hoch der Berg aus Aktivierungsenergie ist, den es zu überwinden gilt. Die Kinetik macht, dass ein Haufen Holzschnipsel innerhalb von Tagen nur mäßig dahinschwelt, dabei aber leckeres Raucharoma erzeugt. Die Kinetik macht aber auch, dass einer Handvoll Mehl oder Holzstaub in gerade dem richtigen Mischungsverhältnis mit Luft einfach explodiert! Enzyme können, wie alle anderen Katalysatoren auch, erstmal nichts an der Thermodynamik tun. Sie können aber gehörig den Verlauf einer Reaktion beeinflussen. Entweder etablieren sie einen anderen Reaktionsverlauf und bohren sich damit einen neuen Weg durch den Berg der Aktivierungsenergie, oder sie stellen auf andere pfiffige Weise blitzartig das chemische Gleichgewicht her (. Abb. 5.1).  

..      Abb. 5.1  Was passiert bei der Katalyse? Zwei Wissenschaftler unterhalten sich über enzymatische Katalyse. Der eine hat jede Menge Formeln an die Tafel geschrieben. Der andere zeigt auf die Stelle mit dem Wunder und sagt: „Could you be a bit more explicit at this point …“ (Könnten Sie eventuell an dieser Stelle etwas detaillierter werden?) Ich habe diesen Witz 2007 auf der FEBS-Tagung in Wien gesehen. Was genau bei der Katalyse passiert, kann schon manchmal als Wunder bezeichnet werden. [Bildnachweis: JWM 2022]

96

5.1 

5

Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

 nzyme und Katalyse – Hexokinase und TIM als E Parade-Beispiele von Enzymen

Ein Enzym ist ein biologischer Katalysator. Es verkürzt die Zeit, bis das Gleichgewicht einer Reaktion eingestellt ist. Das Enzym „spielt“ also mit der Reaktionskinetik; es kann aber nicht die Lage des Gleichgewichts beeinflussen, also an der Thermodynamik kratzen. Unser Vorzeige-Enzym ist die Hexokinase. Unter ATP-Verbrauch katalysiert sie die Phosphorylierung von Glucose und auch noch von ein paar anderen ­Zuckern. Die Hexokinase bietet eine Säure-Base-Katalyse vom Feinsten. Erstmal bindet sie ATP recht fest. Eigentlich bindet sie nicht ATP allein, sondern einen ATP-­ Magnesium-­Komplex. Dann kommt der Zucker dazu und das Enzym scheint sich wie eine Gewindepresse in den katalytischen Zustand hineinzudrehen (. Abb. 5.2). Deckel und Bodenplatte drehen sich aufeinander zu. Das Magnesium-Ion ist wohl bei jeder Phosphorylierung dabei. In seiner direkten Koordinationssphäre passiert der Transfer des Phosphat-Rests; Magnesium-Ionen wirken hier also wie ein ­geschmiertes Gelenk. In Nullkommanix ist der phosphorylierte Zucker fertig. TIM, also das Enzym Triose-Phosphat-Isomerase treibt‘s noch deftiger. TIM ist ein β-Fass, also eine Tonne aus β-Strängen, die außen herum mit α-Helices verziert sind – das ist ganz hübsch anzusehen. Ähnlich gebaute Proteine werden auch TIM-Fässer genannt. TIM kommt ausschließlich mit der Orientierung der Substrate und einem kleinen Trick als Katalyse-Mechanismus aus. Zwischen ­ ­Aldehyd und Keton stabilisiert TIM einen En-Diol-Zwischenzustand – ganz so, als  

..      Abb. 5.2  Die Hexokinase arbeitet wie eine Gewindepresse. Zwei sehr ähnliche Strukturen des Enzyms Hexokinase sind einzig anhand des „unteren“ Teils übereinandergelegt worden. Die Struktur (blau; PDB: 1BDG) mit Glucose in der Mitte (blaues Kugelmodell) ist deutlich gekrümmter als die offene Struktur (grau; PDB: 1IG8) ohne gebundenes Substrat. Das Enzym umschließt also aktiv das Substrat für die Katalyse  – vielleicht vergleichbar mit einer Dreh-Presse. [Bildnachweis: eigene Strukturvisualisierung einer Struktur der Hexokinase aus Hefe (https://doi.org/10.2210/pdb1IG8/ pdb) und einer Hexokinase-Struktur aus dem Parasiten Schistosoma mansoni (https://doi.org/10.2210/ pdb1BDG/pdb); Dreh-Presse, © aquatarkus, stock.adobe.com]

5

97 5.1 · Enzyme und Katalyse – Hexokinase und TIM als…

ob man beim Münzwurf den Zustand stabilisiert, bei dem die Münze auf der Kante steht (eine Abbildung zu TIM gibt es aber erst in 7 Abschn. 5.5). Schon erreicht TIM atemberaubende Geschwindigkeiten. TIM gilt als ein perfektes Enzym. Die Geschwindigkeit von TIM ist von nichts anderem als der Diffusion seiner Substrate und Produkte begrenzt. Um bei einem Enzym die Zeit zu stoppen, ist ein Assay oder Aktivitätstest notwendig, der das Substrat-Umsetzen in irgendetwas Messbares verwandelt. ­Prinzipiell kann das erstmal alles sein. Traditionell wurden hier Farb-Reaktionen bevorzugt. So wie Zwiebeln sich beim Braten in der Pfanne verändern – von weiß, über glasig gelb, zu braun und hoffentlich nicht allzu schwarz  – kann man den ­Verlauf solcher Farbreaktion mit dem Auge so ungefähr verfolgen. Mit einem Photometer, also mit einem Gerät, das Licht misst, sind diese Messungen oft schon sehr genau. Wenn wir jetzt den Assay mit steigender Menge an Substrat bei gleichbleibender Menge Enzym durchführen, sehen wir etwas Ungewöhnliches  – das Enzym ist irgendwann satt und setzt nicht noch mehr Substrat um, auch wenn es in Substrat förmlich gebadet wird (. Abb. 5.3). Die Michaelis-Menten-Gleichung beschreibt die Kurve ziemlich gut, die wir eben (virtuell) selbst gemessen haben. Das ist ziemlich cool und sooo viel steckt nun auch nicht drin in dieser Gleichung. Zu v könnten wir auch einfach y sagen; vmax ist ein Enzym-spezifischer Faktor. Übrig bleibt [S] geteilt durch KM + [S]. In diesem Term liegt der Trick; dieser Term repräsentiert eine Hyperbel, die bei KM die Hälfte ihres Maximums erreicht.  



Geschwindigkeit

sigmoid

m

m

Hyperbel

vmax

K

K

Geschwindigkeit

vmax

[Substrat]

1

10

100 1000 10.000 log [Substrat]

..      Abb. 5.3  Der Verlauf einer „normalen“ enzymatischen Reaktion. Wenn wenig Substrat da ist, führt jedes bisschen mehr Substrat zu einer höheren Geschwindigkeit der Reaktion. Irgendwann ist damit aber Schluss. Das Enzym ist gesättigt. Manchmal spricht man statt KM auch von EC50, also von der Substrat-Konzentration, bei der das Enzym genau die Hälfte seiner Geschwindigkeit erreicht hat. Die beiden Darstellungsformen beschreiben dieSELBE Reaktion. Einzig die x-Achse hat sich leicht verändert. [Bildnachweis: JWM, 2022]

98

Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

v=

5

vmax · [ S ] Km + [S ]

Die Theorie dahinter lieferten Leonor Michaelis und Maud Menten (siehe Exkurs „Herr Michaelis, Frau Menten und der Beginn der Enzymkinetik“). Sie postulierten einen Substrat-Enzym-Komplex, der sich erst einmal bilden muss, bevor der Umsatz erfolgen kann: E + S ⇌ ES → E + P. Diese Komplexbildung ist eine normale Gleichgewichtsreaktion, auf die man das Massenwirkungsgesetz anwenden kann. Wer möchte, kann jetzt tief in die Zaubertrickkiste des Gleichungsumstellens greifen – und das geht auch noch über einen thermodynamischen und einen kinetischen Weg. Das braucht aber kein Mensch. Trotzdem wird in Vorlesungen mit schöner Regelmäßigkeit abgelitten. Oder doch abgeleidet? Egal, wie man dort ankommt – tataaa – da ist sie, die Michaelis-Menten-Gleichung in all ihrer Pracht.

Exkurs: Herr Michaelis, Frau Menten und der Beginn der Enzymkinetik

Gerade hatte sie 1911 ihren Doktor der Medizin im kanadischen Toronto erhalten, da entschloss sich Maud Menten, nach Berlin zu gehen und mit Leonor Michaelis an „Enzymen“ zu ­ arbeiten, einem sehr jungen Forschungsgebiet. Michaelis war zu dieser Zeit einer der weltführenden Experten für pHWerte und gepufferte Lösungen. Sicherlich war die Reise für Menten nicht leicht. Sie machte sich kurz nach dem Sinken der Titanic 1912 auf den Weg über den Atlantik und das wohl auch noch auf ihre eigenen Kosten. Sie lernte etwas Deutsch und jobbte im Krankenhaus, um über die Runden zu kommen. Dass sie für ihre Arbeiten zur Quantifizierung der Enzymaktivität am Ende vielleicht einmal für ewig in Biochemie-Lehrbüchern erwähnt werden würde, hätte sich die kanadische Medizinerin wohl nicht gedacht. Fest steht, dass die Powerfrau Menten ihrem Kollegen Michaelis einen ordentlichen Schubs gegeben hat. Auch nach ihrem Aufenthalt in Berlin war sie biochemisch gesehen ziem-

lich umtriebig. Menten galt als nicht aufzuhalten; sie wurde auch „Dynamo“ genannt. Erzählungen zufolge wusste das an ihrem späteren Schaffensort Pittsburg jeder. Darum ging man ihr lieber aus dem Weg, wenn sie mit dem Auto unterwegs war. Lesenswert ist diese Artikelsammlung über das Leben von Frau Professor Menten ➜ The Canadian Medical Hall of Fame. „Dr. Maud Menten“. 7 https:// cdnmedhall.­ca/laureates/maudmenten [Gelesen am 3. Juni 2022]. Besonders bemerkenswert ist die Übersetzung einer alt-ehrwürdigen, deutschsprachigen Veröffentlichung eines Berliners und einer Kanadierin ins Englische, angefertigt vom Dortmunder Briten Roger Goody, der früher im englischen Birmingham gelebt hat ➜ Michaelis & Menten et al. 2011. The original Michaelis constant: translation of the 1913 Michaelis-Menten paper. Biochemistry. 50(39):8264–9. https://doi.org/10.1021/ bi201284u.  

99 5.2 · Das Ribosom und andere Ribozyme

5

Die M-M-Gleichung beschreibt eigentlich nur eine Bindung  – und das muss ja nicht immer ein Substrat sein. Darum wird eine sehr ähnliche Formel in der Pharmakologie auch zur Beschreibung der Wechselwirkung zwischen Rezeptor und einem entsprechenden Medikament verwendet, sei es nun ein Agonist oder ein Antagonist. Ein Vorteil der Michaelis-Menten-Gleichung ist also ihre Allgemeingültigkeit. Die Beschreibung eines Bindungsgleichgewichts ist aber gleichzeitig der Nachteil dieser Gleichung: Wenn es auf einmal nicht mehr „nur“ um einen Substrat-Enzym-Komplex geht, also zum Beispiel Substrat-Inhibition oder ­ ­allosterische Effekte dazu kommen, dann sieht diese Gleichung schnell alt aus. Konstante: Wir haben gesehen, dass Enzyme toll sind. Sie kommen daher mit teils aberwitzigen Katalyse-Raten, unglaublicher Präzision und 100 %iger Stereoselektivität. Teils. Bei hohen Substratkonzentrationen, die eventuell nie in der Zelle vorkommen, werden Enzyme gesättigt. Dieses Verhalten lässt sich mit der Michaelis-Menten-Gleichung oft sehr gut beschreiben. z Navigation

Über TIM gibt es mehr in 7 Abschn. 5.5 zu lesen. Auch ist dort zu sehen, wie TIM Münzen wirft (. Abb. 5.9). Forsch wollen zwei Dänen die Enzymkinetik revolutioniert haben, beschreiben dann aber verlinkte Enzym-Substrat-Komplexe wieder als Michaelis-Menten-­ ähnlich ➜ Dyla & Kjaergaard. 2020. Intrinsically disordered linkers control tethered kinases via effective concentration. PNAS. 117(35):21413–21419. https://doi. org/10.1073/pnas.2006382117. 





5.2 

Das Ribosom und andere Ribozyme

Jaja, Proteine sind toll, können alles, und das auch nur sie, sie alleine. Das glaubte man für eine Weile – bis Tom Cech 1982 die ersten katalytischen RNAs beschrieb – ein paar selbst-spleißende Introns. Cool, aber doch irgendwie ziemlich exotisch. Spätestens im Jahr 2000 änderte sich die Datenlage rund um Enzyme aus RNA, sogenannte ­Ribozyme, aber gewaltig. Nach Vorarbeiten von Ada Yonath und weiteren Laboren, vermeldeten die Arbeitsgruppen von Venki Ramakrishnan und Tom Steitz nach ­Jahrzehnte-langer Anstrengung die geglückte Strukturaufklärung des Ribosoms. Nur nebenbei, das Ribosom ist der Ort der Proteinproduktion und ein zentraler Bestandteil wirklich jeder Zelle, egal ob aus Bakterium, Menschenaffe oder Pflanze. Es ist mit mehr als 2 Mio. Dalton riesengroß. Das Ribosom ist aus ribosomaler RNA und zahlreichen ribosomalen Proteinen aufgebaut. Diese Proteine tragen so schöne Namen wie L3 oder S6, je nachdem, ob sie in der großen (large) oder kleinen (small) Untereinheit verbaut wurden. RNA und Proteine sind mengenmäßig etwa gleich verteilt, eventuell gibt es einen kleinen Überschuss an RNA. Das Ribosom ist uralt. Es ist wirklich in absolut jeder prokaryotischen und eukaryotischen Zelle vorhanden. Das Innere des Ribosoms ist fast überall gleich. Das legt nahe, dass ein Proto-Ribosom fester Bestandteil von LUCA gewesen sein muss. Beim Blick auf das Ribosom schauen wir somit Milliarden von Jahren in die Vergangenheit. LUCA steht für last universal common ancestor. LUCA ist der Ur-Vorfahre

100

Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

5 ..      Abb. 5.4  Das Ribosom ist ein Krokodil. Hier ist das menschliche Ribosom bei 3,6 Å Auflösung zu sehen. Die ribosomale RNA ist blau dargestellt. Die ganzen ribosomalen Proteine haben einen grau-grünen Farbton. Eventuell sieht man ab und zu kleine, lose Punkte – das sollen dann Magnesium-­ Ionen sein. Die beiden Modelle zur Funktionsweise des Ribosoms sind schematisch dargestellt – d ­ amals ging es darum, ob die ribosomale RNA (blaue Freihand-Figur) oder die Proteine (graue Dreiecke) im Zentrum sind. Sämtliche bisher bekannte 3D-Strukturen von Ribosomen bestätigen, dass die ribosomale RNA im katalytischen Zentrum ist. Das Ribosom ist ein Ribozym – und zwar ein sehr altes. Irgendwie vergleichbar mit einem Krokodil, das ebenfalls gut und gerne als lebendes Fossil bezeichnet werden kann. [Bildnachweis: Ribosom, eigene Strukturvisualisierung nach https://doi.org/10.2210/ pdb4UG0/pdb, JWM, 2022; Modelle, JWM, 2022; Krokodil © John Kasawa stock.adobe.com]

aller Lebewesen auf der Erde. In unseren Zellen lebt ein Teil von LUCA immer noch – das Ribosom zum Beispiel, ein lebendes Fossil. Krokodile gelten als lebende Fossilien, auch wenn sie sich „bloß“ in den letzten 200 Mio. Jahren kaum verändert und die Dinosaurier überlebt haben. Das Ribosom und ein Krokodil haben also mehr gemeinsam, als man denkt. Was genau wurde 2000 denn nun berichtet? „Das Ribosom ist ein Ribozym“, war der Titel eines Kommentars von Tom Cech, ja, der von oben mit seinen ­komischen autokatalytischen RNAs. In der Meldung ging es um das Innere des Ribosoms, das katalytische Zentrum, da wo Aminosäuren zu Peptidketten aufgefädelt werden. Die eigentliche Sensation war die Abwesenheit von etwas – innerhalb von 18  Å vom katalytischen Zentrum (eindeutig markiert durch einen gebundenen Inhibitor der Proteinsynthese) war kein Protein. Nix, gar nichts. ­ ­Überall nur ribosomale RNA (. Abb. 5.4). Die ribosomale RNA selbst katalysiert den Peptid-Transfer. Sie richtet die Reaktionspartner präzise zueinander aus. Dann klaut ein hoch konserviertes Adenosin (A2451) noch ein Proton von der Aminogruppe der neu zu verbauenden Aminosäure. Schon kann das bisher fertige Peptid auf den Neuzugang übertragen werden. Das allein ist natürlich schon faszinierend genug. Dazu kommt aber noch, dass verschiedene Klassen von bekannten Antibiotika auf das Ribosom abzielen. Die Wirkstoff-Entwicklung hat durch diese bahnbrechenden Ergebnisse einen deutlichen Anschub bekommen.  

101 5.3 · Cofaktoren für eine besondere Chemie

5

Exkurs: Das Ribosom ist gut für eine mündliche Prüfung

Eine tolle Pressemitteilung, so ein ­schicker Säure-Base-Katalyse-Mechanismus, und das alles bewerkstelligt einzig durch ein paar Kernbasen. Als Student war ich begeistert von der Sensationsmeldung. Genau zu dieser Zeit stand dann auch meine Biochemie-­Prüfung fürs Diplom an. Ich konnte nicht anders und brachte genau dieses Thema mit in die Prüfung. Genauer gesagt: Ich hatte einen Ausdruck des Papers dabei. Der Prüfer hatte davon gerade noch nicht gehört… Was soll ich sagen? Die Prüfung lief guuut.

Ich kann jedem Prüfling und jeder Prüfungskandidatin nur empfehlen, ein top aktuelles Paper mit in die Prüfung zu nehmen, das man selbst total ­spannend findet… natürlich nur, wenn es zum Thema der Prüfung passt … #GeekAlarm Für den Faktencheck: Tom Cech moderiert sie an, die Sensationsmeldung ➜ Cech TR. 2000. The ribosome is a ribozyme. Science. 289(5481):878–9. ­ Comment. https://doi.org/10.1126/science.289.5481.878.

Krokodil: Das Ribosom ist ein waschechtes Ribozym. Es ist die ribosomale RNA, die die neuen Peptidbindungen knüpft. Das Ribosom ist uralt und ermöglicht Einblicke in die frühe Entwicklung des Lebens zu Zeiten einer möglichen RNA-Welt. Die Struktur von Ribosomen zu entschlüsseln, war eine Riesen-­Aufgabe. Strukturelle Unterschiede zwischen Ribosomen verschiedener Lebewesen können nun ausgenutzt werden, um neue Medikamente zu entwickeln. z Navigation

Schicke Sachen kann man mit Ribosomen machen. In 7 Abschn. 2.6 haben wir kurz über Ribosomen-Display gesprochen. Über die RNA-Welt haben wir bereits in 7 Abschn. 3.7 geredet.  In Richtung Protein-Optimierung geht es dann wieder in Abschn. 8.4. Ada Yonath, eine Ribosom-Kristallografin, schreibt über die Zukunft der Antibiotika-­Entwicklung ➜ Matzov et al. 2017. A Bright Future for Antibiotics? Annu Rev Biochem. 86:567–583. Review. https://doi.org/10.1146/annurev-biochem-061516-044617.  



5.3 

Cofaktoren für eine besondere Chemie

Es ist schon erstaunlich, was Proteine und Ribozyme katalytisch so alles leisten können. Allerdings ist die Art der möglichen Chemie doch etwas begrenzt  – vor allem ist das die räumliche Orientierung der Reaktionspartner und etwas Säure-­ Base-­Katalyse. Damit sind wir mit den katalytischen Eigenschaften der vier Kernbasen und der allermeisten der 20 Standard-Aminosäuren wohl durch. Eventuell ist da noch ein bisschen Redox-Chemie an Cystein-Resten. Das war es dann aber auch. Der Rest der vielfältigen Biochemie der Zelle wird durch Cofaktoren ermöglicht. Ein paar dieser Cofaktoren sind Metall-Ionen, wie etwa Mg2+ und Zn2+ oder auch Eisen-Schwefel-Cluster. Die vielfältigsten Cofaktoren sind aber organischer

102

Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

Natur oder enthalten zumindest einen komplexen organischen Teil rund um ein Metall-Ion im Zentrum. Eine nicht repräsentative Auswahl dieser Cofaktoren ist in . Tab. 5.1 aufgeführt. Fast immer bestehen Cofaktoren aus einem Griff und einem Spezial-Teil, der für die eigentliche biologische Funktion verantwortlich ist – ganz wie ein Kombi-­ Werkzeug-­System aus dem Baumarkt, wo es ein mäßig standardisiertes Ladeteil und viele verschiedene Spezial-Teile gibt. Der Griff ist oft ein Nucleotid, manchmal auch zwei Nucleotide … und recht häufig stammt dieses Nucleotid vom ATP ab (. Tab. 5.1). Darum kann der Adenosin-Griff auch als ein Fossil aus der ganz frühen Zeit der Biochemie auf unserem Planeten bezeichnet werden (. Abb. 5.5) – zwangsläufig aus einer Zeit noch VOR der Entstehung des Ribosoms. Jetzt wurde aber genug über den Griff geredet.  





5

.       Tab.  5.1  Einige Cofaktoren in der Biochemie (alphabetisch sortiert) Cofaktor

Spezial-Teil

Griff

Funktion

abgeleitet von

ATP

Phosphat/ Pyrophosphat

ADP/AMP

Phosphat-Transfer

ATP

Coenzym B12

Cobalamin

AMP

Methylgruppen-­ Transfer

Vitamin B12

CDP-­ Diacylglycerin

Diacylglycerin

CDP

Phospholipid-­ Biosynthese

CTP

CoA

Cystein, ­Pantothenat

ADP + 3´-Phosphat

Acetyl-Träger

Vitamin B5

FAD

Riboflavin

ADP

Ein-Elektron-­ Transfer

Vitamin B2

NAD

Niacin

ADP

Zwei-Elektronen-­ Transfer

Vitamin B3

NADPH

Niacin

ADP + 2´-Phosphat

Zwei-Elektronen-­ Transfer

Vitamin B3

PAPS

Sulfat

ADP + 3´-Phosphat

Sulfat-Gruppen-­ Donor

ATP

Pyridoxalphosphat

Pyridoxal

Phosphat

Amino- und Carboxylgruppen

Vitamin B6

SAM

Methionin

Adenosin

Methyl-Donor

ATP

UDP-Glucose

Glucose

UDP

Zucker-Transfer

UTP

Die vollständigen Namen all dieser Substanzen bitte in Standardwerken der Biochemie nachschlagen. Mit Adenosin ist hier immer die Adenin-Kernbase, verknüpft mit einem Ribose-­Zucker gemeint. ATP, UTP und CTP stehen ebenso für die entsprechenden Ribo-Nucleotide. Desoxy-Ribose-Bausteine sind nur in DNA zu finden, nie in Cofaktoren.

103 5.3 · Cofaktoren für eine besondere Chemie

5

..      Abb. 5.5  Adenosin ist ein molekulares Fossil aus präbiotischen Zeiten. Adenosin ist scheinbar überall – in DNA, in RNA, beim Energiestoffwechsel und auch noch Bestandteil von so einigen enzymatischen Cofaktoren. [Bildnachweis: © alice_photo stock.adobe.com]

Auf der anderen Seite, am Spezial-Teil, passieren oft ausgefallene Dinge. Gemeint ist die aktive Stelle eines jeden Cofaktors – das business end, wie es im Englischen so schön heißt. Häufig stammt der Spezial-Teil von einem Vitamin ab (. Tab. 5.1). So wird das Niacin, auch bekannt als Vitamin B3, in den Cofaktoren NAD und NADPH dringend gebraucht. Eigentlich finden alle B-Vitamine als Bestandteil von Cofaktoren Verwendung. Oft geht es bei Cofaktoren darum, irgendetwas Kleines, Schlüpfriges, komisch Biochemisches zu nehmen, zu halten und zielsicher – manchmal auch in aktivierter Form – wieder abzugeben. Bei NAD und NADPH geht es formal darum, ein Hydrid-Ion zu transportieren. Ein was? Das wäre ein negativ geladenes Wasserstoffteilchen. Das gibt es doch gar nicht! Vereinfacht geht es um ein Elektronenpaar und ein lose damit assoziiertes Proton. Weiter vereinfacht sind NAD und NADPH Überträger und Speicher von Elektronenpaaren, das Proton muss selbst sehen, wo es bleibt (. Abb. 5.6). FAD hingegen ist eine Minibatterie für ein einziges Elektron. Coenzym A, Folat, B12 oder S-Adenosylmethionin sind für den Transport von verschieden langen Kohlenstoffeinheiten zuständig und Thiamin-Pyrophosphat hält eine ziemlich reaktive Aldehyd-Funktion bereit und so weiter und so fort. Bitte immer bedenken: Mit den 20 Standard-Aminosäuren wäre all diese Chemie nicht möglich.  



??Cofaktoren machen das biochemische Leben bunt. Mein Lieblings-Cofaktor ist PAPS, ein Molekül auf ATP-Basis, das Sulfat-Gruppen überträgt. Haben Sie auch einen Lieblings-Cofaktor? Und warum? Schreiben Sie mir.

Protein-Domänen, die Adenosin im Allgemeinen und NAD oder NADPH im Speziellen binden, sind uralt und fast unverändert geblieben. Recht „normale“ ­Enzyme können auf einmal zu Katalyse-Weltmeistern werden. Sie müssen nur ihre Liganden-Bindungstasche umwidmen, die sonst irgendein anderes Nucleotid gebunden hatte. Alternativ müssen diese Enzyme sich halt so eine Binde-Domäne

104

Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

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..      Abb. 5.6  Wie NAD und NADPH beim Hydrid-Transfer funktionieren. Chemisch kommt es bei den Cofaktor-Zwillingen NAD/NADPH auf die Kopfgruppe an, das Nicotinamid. Durch den Stickstoff in diesem aromatischen Sechser-Ring gibt es einfach nicht genug Elektronendichte für alle. Durch Mesomerie kann der Stickstoff seine positive Partialladung ausgleichen – die Elektronendichte ist aber wie eine zu kurze Bettdecke  – der Kohlenstoff gegenüber dem Stickstoff wird so teilweise zu einem Carbonyl-­ Kation, etwas sehr, sehr seltenes in der Biochemie. Unter diesen Umständen akzeptiert dieser Kohlenstoff gerne ein Elektronenpaar und ein Proton dazu. Der Ring ist jetzt zwar nicht mehr aromatisch, dafür gibt es jetzt wenigstens genug Elektronen für alle Atome des Rings. [Fotoinfo: AAA-Batterien, JWM, 2022]

besorgen, zum Beispiel dadurch, dass der genetische Zufall Protein-Domänen neu zusammenstellt. Fertig ist eine NAD- oder NADPH-abhängige Dehydrogenase oder gar eine Coenzym-A-abhängige Acetylase. Protein-Redesign dieser Art ist eine Lieblingsspielart der Evolution von Enzymen. Sie ist teilweise auch biotechnologisch möglich. Eine der komischsten Cofaktor-abhängigen Geschichten der letzten Jahre ist, dass selbst Histone jetzt Katalysatoren sein sollen. Lange dachte man, Histon H3 sei ein ganz normales DNA-Aufwickelprotein, ein (Lockenwickler-)Histon halt. Aber nein. Als NAD-abhängige Kupfer-Reduktase, hält H3 die Kupfer-Ionen in Schach – sie werden auf Cu(I)-Niveau gehalten; das toxische Cu(II) wird vermieden. H3 führt ein heimliches Doppel-Leben. Ein Skandal! Komisch, dass es diese Meldung nicht in die Regenbogenpresse geschafft hat. Kooperation: Proteine und RNA sind strukturell vielfältig und zur Katalyse so einiger biochemischer Reaktionen fähig. Teilweise ist diese Katalyse aber etwas fad. Erst ­Cofaktoren bringen das Salz in die biochemische Suppe der enzyma­tischen Katalysen. Cofaktoren sind oft modular aufgebaut mit einem Spezial-Teil und einem Griff. Als Griff werden häufig Nucleotide verwendet. Evolutionär kann ein Protein gravierend seine Funktion ändern, wenn es „lernt“, einen neuen oder einen anderen Cofaktor zu binden.

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105 5.4 · Die Biosynthese der Steroid-Hormone und die Sache mit dem…

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NAD und NADPH wurden bereits in 7 Abschn. 4.4 besprochen.  In Richtung Protein-Optimierung geht es dann wieder in 7 Abschn. 8.4. Adenosin als biochemisches Fossil ➜ Denessiouk et al. 2001. Adenine recognition: a motif present in ATP-, CoA-, NAD-, NADP-, and FAD-dependent proteins. Proteins. 44(3):282–91. https://doi.org/10.1002/prot.1093. Und hier noch ein etwas aktuellerer Nachschlag. Adenosin ist etwas SEHR Altes … ➜ Narunsky et al. 2020. On the evolution of protein-adenine binding. PNAS. 117(9):4701–4709. https://doi.org/10.1073/pnas.1911349117. Hier der News & Views-Artikel vom Doppelleben des Histons H3 als NAD-­ abhängige Kupfer-Reduktase ➜ Rudolph & Luger. 2020. The secret life of histones. Science. 369(6499):33. Comment. https://doi.org/10.1126/science.abc8242.  



5.4 

 ie Biosynthese der Steroid-Hormone und die Sache mit D dem Vitamin D – dreckige Enzyme ohne sonderliche Spezifität, aber mit Lichtblick

In diesem Buch haben wir schon einige Enzyme besprochen  – zum Beispiel die Schraubpresse Hexokinase und das perfekte Enzym TIM.  Das sind schon tolle Biokatalysatoren. Durch perfektes Ausrichten von Aminosäure-Seitenketten und präzise Substratbindung werden sie zu Meistern der Katalyse. Wer glaubt, dass alle Proteine immer so großartig sind, für den gibt es jetzt einen Ausflug in die Steroid-Biochemie. Bei den Steroiden gibt es aus Katalyse-Sicht drei Sachen zu bestaunen: 55 Da sind die „sauberen“ Hydroxysteroid-Dehydrogenasen. Diese auch HSDs genannten Zauberkünstler können, was viele andere Enzyme nicht können. Sie können selektiv entweder nur die Hin- oder nur die Rückreaktion katalysieren. 55 Dann haben wir die „dreckigen“ Cytochrom-P450-Enzyme, auch Cyps genannt. Von 100 % Spezifität ist hier keine Spur. Sauerstoff wird wild umhergeschleudert. Elektronen gehen immer wieder mal verloren. Es wird schmutzig. 55 Steroide führen uns aber auch auf die Sonnenseite des Lebens. Da gibt es nämlich eine Reaktion, an der sich Enzyme die Zähne ausbeißen. Um Vitamin D zu machen, muss der „Blitz“ einschlagen – na ja, ein paar Photonen reichen auch schon. Eigentlich sind Steroide eine tolle Sache. Wir wissen ja bereits, dass der Steroid-­ Grundkörper sehr fest und stabil ist. Ideales Material, um molekulare Informationen darin „einzugravieren“. Dieser Prozess geschieht vor allem durch das Entfernen und/oder Oxidieren von diversen Kohlenstoff-Bausteinen. Dabei entstehen Steroid-Hormone, die viele Sachen in unserem Körper regulieren (. Abb.  5.7). Steroid-Hormone regeln unser Wohlbefinden als Mineralocorticoide (A). In ­kritischen Situationen retten sie uns als Stresshormon Cortisol das Leben (C). Und nun zu den sexy Steroiden: Männer und Frauen haben zu allen Stadien im Leben immer beides, sowohl Androgene (T) als auch Östrogene (E), allerdings in ­verschiedenen Verhältnissen. Auf die Menge kommt es eben an.  

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Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

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..      Abb. 5.7  Aus Cholesterin kann man allerlei Steroid-Hormon-Schlüssel herstellen. Wichtige Steroid-Hormone unterscheiden sich in ihrer Struktur nur an ein paar wenigen, dafür aber entscheidenen Stellen. Zu sehen sind die Strukturen (von oben links) von Aldosteron (A), Testosteron (T), Östradiol (E), Progesteron (P) und Cortisol (C). Übrigens, das „Schmieden“ von Steroid-­Hormonen ist nichts für Zartbesaitete … Gerade die Cyps lassen oft auch mal ein Elektron fallen. Genau deshalb ist die Rinde der Nebenniere mit Anti-Oxidations-Maschinerie vollgestopft. [Bildnachweis: Sicherheitsschlüssel, JWM, 2020]

Die Steroid-Schlüssel-Macher Cyps und HSDs teilen sich eine Gemeinsamkeit – sie sind nicht besonders spezifisch. Sie akzeptieren für „ihre“ jeweilige Reaktion mehrere ähnliche Substrate – man spricht von promisken Enzymen. Außerdem sind diese Enzyme bei ihrer eigentlichen Reaktion auch nicht einmal sooo besonders präzise. Immer wieder entstehen Nebenprodukte. Einige dieser Nebenprodukte wurden lange als Abfall betrachtet. Neuerdings haben manche aber auch eigene biologische Funktionen (zum Beispiel 11-oxo-Androgene). Die Hydroxysteroid-Dehydrogenasen (HSDs) können jeweils präzise an einer bestimmten Stelle einen Schalter umlegen, von Alkohol zur Keto-Gruppe oder andersherum. Im Gegensatz zu den meisten anderen Enzymen, können Hydroxysteroid-­Dehydrogenasen gezielt nur die Hin- oder nur die Rückreaktion katalysieren. Das geht, weil es für so einige Reaktionen immer zwei Gruppen von HSD-Genen gibt. Die einen HSDs sind NADPH-abhängig und katalysieren die Reduktion einer bestimmten funktionellen Gruppe. Die anderen sind NAD-­ abhängig und bewerkstelligen die Umkehrreaktion. Wir wissen ja: Fast immer ist gleichzeitig viel NADPH und NAD in der Zelle vorhanden. So werden diese Re-

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aktionen zu Einweg-Reaktionen, immer davon abhängig, welches HSD-Enzym gerade zur Stelle ist. Schmutzig wird es bei den Cytochrom-P450-Enzymen, die wir hier Cyps ­nennen. Mit ihrer Eisen-Häm-Gruppe binden und aktivieren Cyps Sauerstoff – sie sind wahre Sauerstoff-Schleudern. Cyps machen krasse Sachen mit Steroiden, hier mal eine Seitenkette weg oxidieren oder dort mal einen Sechser-Ring aromatisieren. Die ganze Steroid-Macherei ist ein ziemlich dreckiges Geschäft. Dabei gehen immer mal wieder ein paar Elektronen verloren – es entstehen Sauerstoffradikale (reaktive Sauerstoffspezies, ROS). Sonst gibt es so gefährliche Sauerstoffradikale meist nur bei der zellulären Atmung im Mitochondrium. Gewebe oder Organe mit eigener Steroid-Produktion sind also besonders großen Mengen reaktiver Sauerstoffspezies ausgesetzt, da die Steroidogenese mit ihren ganzen Cyps deren ROS-­ Produktion erheblich steigert. Nicht jedes Gewebe im menschlichen Körper möchte gerne Steroide selbst herstellen; von der Steroid-Signalübertragung würde man aber dann doch gerne profitieren. Wie wäre es da mit einem spezialisierten Körperteil für die Steroid-­ Herstellung, einer spezialisierten Steroid-Fabrik? Wie immer spielt hier die Leber mit. Bei Steroiden geht es aber vor allem in der Rinde der Nebenniere heiß her. Sie wird auch als „redox-privilegiertes“ Organ bezeichnet. Soll heißen: Alles, was der menschliche Körper zur Verfügung hat, um sich gegen freie Radikale zu schützen, ist dort hochgeregelt – zum Beispiel die Produktion von Glutathion und das Enzym Superoxid-Dismutase SOD1. Exkurs: Wie transportiert man Steroide

Eine normale Zelle im menschlichen Körper würde zwar gerne von der Steroid-­Signalübertragung profitieren, Steroide aber selbst herzustellen, würde sie lieber vermeiden. Pfiffig sind da Mechanismen, durch die Steroide im ganzen Körper verteilt werden. Die Sulfatierung und Desulfatierung von Steroiden ist so ein Transport-­Mechanismus (Abbildung im Exkurs). Drei Arten von Enzymen sind für diesen Kreislauf verantwortlich: Ein Enzym, das das faule beziehungsweise stabile Sulfat-Ion aktiviert, ein Enzym zur Sulfat-Übertragung und eines zur Sulfat-­Abspaltung. So einige Steroide kommen nur in sehr geringen Mengen frei in der Blutbahn vor, sulfatiert ist davon aber eine

Menge unterwegs. Die Sulfatierung von Steroiden funktioniert wie eine Transportsicherung. In der Nebennierenrinde sulfatiert  – „verkorkt“  – kommt das Steroid-Sulfat in die Blutbahn. Beim ­ Endverbraucher, das kann ein peripheres Gewebe wie der Dickdarm oder das ­Gehirn sein, wird der „Korken“ dann entfernt. „Entkorkt“ kann das Steroid dann entweder direkt seine biologische Funktion entfalten oder zu anderen Steroid-­ Hormonen weiterverarbeitet werden. Fairerweise muss man hinzufügen, dass auch andere Moleküle an Steroide angeknüpft werden können und dass „freie“ Steroide gar nicht so frei sind. Oft sind sie an bestimmte Proteine gebunden, wie beispielsweise Albumin in der Blutbahn.

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Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

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Ein dicker Übersichtsartikel mit fast allem, was man zum Thema im Jahr 2015 wusste ➜ Mueller et al. 2015. The Regulation of Steroid Action by Sulfation and Desulfation. Endocr Rev. 36(5):526–63. ­ ­Review. https://doi.org/10.1210/er.2015-1036.

[Bildinformation: offene Flaschen, © Rafa Jodar stock.adobe.com; verschlossene Flaschen, © taveesaksri stock.adobe.com]

Jedes Kind weiß, dass Vitamin D und die Sonne etwas miteinander zu tun haben. Doch wie genau ist da der Zusammenhang? Und was ist Vitamin D überhaupt? Vitamin D ist gar kein Vitamin (da wir es auch selbst herstellen können). Vitamin D ist ein Hormon. Außerdem ist Vitamin D keine einzelne Substanz, sondern eine ganze Stoffklasse. Biochemisch sind ein paar Hydroxylierungen in Leber und Niere von Interesse – Cytochrom-450-Enzyme (Cyps) sind wieder mal dafür verantwortlich. Dabei entsteht ein Ligand, der sehr fest an den Vitamin-D-­Rezeptor bindet und dadurch zig Gene reguliert. Im Vitamin-D-Stoffwechsel ist die Reaktion chemisch spannend, die unter die Haut geht. Nur bei genügend Sonnenlicht öffnet sich der B-Ring des Pro-Vitamins D3, das auch 7-Dehydrocholesterin genannt wird. Es handelt sich um eine perizyklische Reaktion, bei der mehrere Elektronenpaare gleichzeitig wandern müssen. Soweit alles gut. Schwierig wird es, da die sechs beteiligten Elektronen keinen Aromaten darstellen  – es ist eine anti-aromatische Reaktion. Die wandernden Elektronenpaare sind nicht so einfach miteinander kompatibel, zwei Elektronen sind in der σ-(sigma-)Bindung beteiligt, die aufgebrochen werden soll; die p-­Orbitale der vier anderen Elektronen stehen dazu senkrecht (. Abb. 5.8). Diese  

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..      Abb. 5.8  Vitamin D – da steckt die Sonne drin. Vitamin D3 – auch Cholecalciferol genannt – ist hier so verschlungen dargestellt, damit es auf die Seite passt. Auch verdeutlicht diese Darstellung sehr gut, dass Vitamin D3 das Endprodukt einer lichtabhängingen Reaktion ist – nämlich der Spaltung des Vitamin-D-Vorläufers 7-Dehydrocholesterin. Unten ist ein Ausschnitt des Vorläufers zu sehen – in einer perspektivischen Darstellung sind auch noch die entscheidenen Elektronenwolken (Orbitale) zu sehen. Hier handelt es sich NICHT um einen Aromaten. Mehr dazu im Text. [Bildnachweis: Vitamin D3 bei Sonnenuntergang, Katwijk aan Zee, NL, 2020; Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung von Regine Niesen]

Reaktion funktioniert einfach nicht enzymatisch, nur einheizen bringt auch nichts. Einzig ein geeignetes Photon aus dem UV-B-Bereich des Lichts kann die Bindung zwischen den Kohlenstoffatomen 7 und 8 aktivieren und diese Reaktion photochemisch vollbringen. Schon beeindruckend, dass unser Körper reichlich Pro-Vitamin D3 in die ­äußersten Hautschichten einlagert und nach und nach das gebildete Vitamin D von dort wieder abtransportiert. In Lebewesen ist die Spaltung von 7-­Dehydrocholesterin vermutlich schon mehr als 1 Mrd. Jahre alt. Zunächst hatte die Reaktion wohl die Funktion eines Sonnenschutzes. Erst als der Vitamin-D-­ Rezeptor etwa vor 550  Mio. Jahren dazu kam, entwickelte sich das hormonelle System rund um Vitamin D. Heute reguliert dieses System das Immunsystem und den Calcium- und Phosphat-Haushalt in unseren Knochen. Der Mensch kann mit mäßiger Sonneneinstrahlung recht gut seinen Vitamin-D-Bedarf decken. Ich muss also nicht jedem und jeder einen Urlaub in sonnenreicheren, südlicheren Gefilden empfehlen. Probleme gibt es aber, wenn die Sonne ganztags nur tief am Himmel steht. Ebenso kann es problematisch werden, wenn man sich komplett in seinem Büro verkriecht oder den Körper dauerhaft vollständig bedeckt hält. Spätestens dann wird eine ausgewogene Ernährung wichtig und eine ergänzende ­Vitamin-D-Gabe sinnvoll. Kapriziös: Ein Blick in den Steroid-Stoffwechsel kann festgefahrene biochemische Denkmuster erfrischend auflockern. Die meisten Enzyme dort sind

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Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

nicht besonders selektiv, fast alle akzeptieren mehrere Substrate. Manche dieser Biokatalysatoren, die HSDs, sind dann auf einmal Einbahnstraßen-Enzyme – sie katalysieren nur die Hin- oder nur die Rückreaktion. Andere Enzyme der Steroidogenese sind weit davon entfernt, perfekt zu sein. Die Cyps zum Beispiel sind regelrechte Rußschleudern, sie machen die Steroidproduktion zu einem dreckigen ­Geschäft. Es gibt auch Lichtblicke – schließlich ist bei den Steroiden eine uralte, lichtgetriebene Reaktion zu finden. Durch diese Reaktion können wir Menschen uns selbst mit Vitamin D versorgen, wenn die Sonne scheint.

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Waffelbäckerin Lanosterol-Synthase beim Steroidbacken  – 7 Abschn.  2.5. Dort ist auch die Struktur von Cholesterin in 7 Abb. 2.8 zu sehen. Schlampigkeit oder Genialität. Über die Bedeutung von Protein-Promiskuität ➜ Atkins WM. 2015. Biological messiness vs. biological genius: Mechanistic aspects and roles of protein promiscuity. J Steroid Biochem Mol Biol. 151:3–11. Review. https://doi.org/10.1016/j.jsbmb.2014.09.010. Sulfatierungswege halten noch viel mehr Interessantes bereit als nur Steroide zu transportieren. Hier ein genereller Überblick ➜ Günal et al. 2019. Sulfation pathways from red to green. J Biol Chem. 294(33):12293–12312. Review. https://doi. org/10.1074/jbc.REV119.007422. Ein wirklich schön geschriebener Übersichtsartikel über die Vitamin-D-­ Synthese aus der evolutionären Perspektive ➜ Hanel & Carlberg. 2020. Vitamin D and evolution: Pharmacologic implications. Biochem Pharmacol. 173:113595. ­Review. https://doi.org/10.1016/j.bcp.2019.07.024.  



5.5 

 iel hilft viel – oder – das Massenwirkungsgesetz, V TIM und abgegrenzte Reaktionsräume

Freiwillig geschieht nicht viel in dieser Welt. Oft muss gehörig nachgeholfen werden – wenn es zum Beispiel um das Aufräumen eines durchschnittlichen Kinderzimmers in deutschen Landen oder auch meines Schreibtischs im Homeoffice geht. Es muss schon so einiges passieren, damit dort endlich mal Ordnung herrscht. Um Thermodynamik und Kinetik wieder ins Spiel zu bringen: Der beste Katalysator, der die Aktivierungsenergie herabsetzt, nutzt nichts. Es geht nicht ohne ein paar Kniffe, mit denen man auch die Thermodynamik austricksen kann, genauer gesagt – ihren Zweiten Hauptsatz. Ein chemisches Gleichgewicht ist wie ein kleines Kind: Es folgt dem kleinsten Zwang. So zumindest beschreibt es das Prinzip von Le Chatelier. Die gleiche Aussage kann im Massenwirkungsgesetz formalisiert werden. „Viel hilft viel“ ist ein Zusammenhang, der spontan einleuchtet. Im Gleichgewicht halten sich Hin- und Rückreaktion die Waage und das Ändern von Rahmenbedingungen kann als Stellschraube benutzt werden, die Waage zu beeinflussen. Chemiker können an Druck und Temperatur drehen. In der Zelle kann man hier aber nicht viel machen, oder? Nur als kleiner Denkanstoß: Wozu genau kriegen wir eigentlich Fieber? (Spoiler: Wohl damit unsere Immunabwehr schneller arbeiten kann!)

111 5.5 · Viel hilft viel – oder – das Massenwirkungsgesetz, TIM und…

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In der Biochemie spielt der eine oder andere Teil von Wasser oft eine wichtige Rolle. Mal ist es ein Proton, mal ein Hydroxyl-Ion und manchmal ist es das H2O-­ Molekül selbst. Diese Wasser-Bestandteile fungieren dann selbst als Metabolit, sind aber meist in mehr als ausreichender Menge verfügbar. In der biochemischen Lehre kann es den einen Studierenden oder die andere aufmerksame Studierende deshalb verärgern, wenn in manchen Lehrbüchern oder an der Tafel in der Vorlesung mal ein Teil des Wassers spontan auftaucht und dann auch wieder mal verschwindet. Oft ist die lapidare Antwort „davon haben wir ja genug“ oder „das kommt jetzt mit in die Konstante“. Ich hoffe, ich habe solche „Wasserfehler“ nicht gemacht. Eine elegante Stellschraube sind die Konzentrationen von Metaboliten, ­eventuell die Stellschraube schlechthin. An der Konzentration eines Metaboliten „­ziehen“, kann eine Reaktion komplett in die andere Richtung umdrehen. Das „­Ziehen“ ist aber nur dann möglich, solange das Gleichgewicht immer wieder hergestellt wird. Ein Beispiel ist eine Reaktion aus der Glycolyse: Gerade hat die Aldolase einen doppelt phosphorylierten Sechser-Zucker in die Bestandteile GAP (Glyceraldehyd-­ 3-­Phosphat) und DHAP (Di-Hydroxy-Aceton-Phosphat) gespalten. Im weiteren Verlauf der Glycolyse wird aber fast nur GAP verwendet. Damit die Hälfte der guten Glucose vom Anfang der Glycolyse nicht einfach ungenutzt verkommt, muss DHAP in GAP umgewandelt werden  – hierfür haben wir TIM, die Triose-­ Phosphat-­Isomerase (manche Menschen kürzen TIM auch als TPI ab, Sachen gibt‘s). Wie alle glycolytischen Enzyme ist das Enzym in nahezu allen Zellen stark exprimiert. TIM fängt also an, das Gleichgewicht zwischen DHAP und GAP herzustellen. Dummerweise liegt dieses Gleichgewicht auf der Seite des DHAP. Das Missverhältnis, also das eigentliche chemische Gleichgewicht von DHAP zu GAP, liegt bei 20:1. Bei der Aldolase-Reaktion entstehen gleiche Mengen DHAP und GAP; TIM wandelt jetzt aber aufgrund des Gleichgewichts das „gute“ GAP in das „nutzlose“ DHAP um. Na toll, das Enzym arbeitet gegen uns!? Dann kommen aber besondere Qualitäten des Enzyms ins Spiel – TIM ist ein perfektes Enzym, soll heißen, dass es DHAP und GAP so schnell ineinander umwandelt, dass seine Geschwindigkeit einzig vom Hin- und Wegdiffundieren seiner Substrate und Produkte limitiert ist. Was TIM da eigentlich biochemisch treibt, ist in . Abb. 5.9 zu sehen. TIM‘s katalytische Konstante kcat/KM liegt oberhalb von 108 s−1 M−1. Das ist ganz schön schnell – aber wie schnell genau? Für ein ­archaeales TIM-Enzym wurden vor nicht allzu langer Zeit Spitzenwerte von 57,5  Mio. ­Umsätzen pro Sekunde für die Umwandlung von GAP zu DHAP gemeldet! Jaaa, sagen jetzt manche, das war ein hitzeliebendes Enzym und es wurde bei einer Temperatur von 90  °C gemessen. Nur zum Vergleich: Das CO2-fixierende Enzym ­RuBisCO aus der Photosynthese katalysiert das Andocken von Kohlendioxid an Ribulose-1,5-bis-Phosphat mit einer Geschwindigkeit von einem bis zu zehn CO2-Molekülen pro katalytischem Zentrum pro Sekunde. Spätestens beim Vergleich mit der RuBisCO wird klar, dass TIM wirklich eine atemberaubende ­Geschwindigkeit an den Tag legt. Zugegeben, der Vergleich hinkt ein bisschen, da das Substrat CO2 der RuBisCO gasförmig ist.  

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Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

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..      Abb. 5.9  Das Enzym TIM übt Münze-Werfen. Die Triose-Phosphat-Isomerase, auch TIM genannt, bringt Di-Hydroxy-Aceton-Phosphat (DHAP, links) und Glycerin-Aldehyd-3-Phosphat (GAP, rechts) blitzschnell ins Gleichgewicht. TIM erreicht enorme Katalyse-Raten eigentlich nur dadurch, dass das Enzym einen Zwischenzustand mit einem En-Diol darin stabilisiert. Ein En-Diol ist eine Doppelbindung, die auf beiden Seiten je eine Hydroxylgruppe enthält. Ganz so, als ob beim ­Münze-Werfen die Münze auf der Kante landet. Von dort klappt die Verbindung dann statistisch dem Gleichgewicht gehorchend, mal hierhin, mal dahin. [Abbildungsinformation: Münzen, JWM, 2020]

Wie TIM zum Katalyse-Weltmeister werden konnte, wird in . Abb. 5.9 ansatzweise erklärt. Das Enzym hält die beiden Dreier-Zucker GAP und DHAP permanent im Gleichgewicht. Dieses Gleichgewicht reagiert deshalb nach dem Prinzip von Le Chatelier auf den noch so kleinen Zwang – wann immer GAP verbraucht wird, wird es sofort aus DHAP nachgebildet. Egal wie viel oder wie wenig DHAP und GAP vorhanden sind, sie stehen immer im Verhältnis 20:1 zueinander. So kann die von der GAP-Dehydrogenase (GAP-DH) katalysierte Folgereaktion zum 1,3-Bis-Phospho-Glycerat (1,3-BPG) nach und nach den gesamten GAP/DHAPPool aufbrauchen. Warum geht das? Für das Ziehen am GAP/DHAP-Gleichgewicht, also damit diese Reaktion quantitativ in Richtung GAP-Bildung abläuft, muss noch energetisch bezahlt werden. Dieser Energiebetrag kommt aus der Folgereaktion  – die GAP-DH-Reaktion ist nämlich stark exotherm. Dort wird der Aldehyd GAP zur Carbonsäure 1,3-BPG oxidiert, teilweise also verbrannt  – da ist richtig Wumms dahinter. Die frei werdende Energie geht nicht verloren, sondern wird in einem pfiffigen Mechanismus dazu benutzt, ein Phosphat-Ion an das „verbrennende“ GAP zu koppeln. Fertig ist 1,3-BPG (1,3-Bis-Phospho-Glycerat). Nebenbei entstehen bei dieser Oxidationsreaktion auch noch Reduktionsäquivalente in Form von NADH. Ganz schön toll, diese GAP-DH-Reaktion. Durch das Abtrennen von Reaktionsräumen kann die Effizienz von gekoppelten Reaktionen erhöht werden. Im Mitochondrium müssen Reaktionen viel gedrängter ablaufen als im Cytoplasma, was thermodynamische Vorteile haben kann.  

113 5.5 · Viel hilft viel – oder – das Massenwirkungsgesetz, TIM und…

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­ rypanosom-Parasiten haben zum Beispiel ein spezielles Organell, das Glycosom, T in dem nahezu ausschließlich die Reaktionen der Glycolyse ablaufen. Die entsprechenden Enzyme, unter anderem TIM, werden mit speziellen Adressaufklebern, sogenannten Sortiersignalen, versehen und ins Glycosom geschickt. Dort eingesperrt verrichten sie dann auf engstem Raum ihre Arbeit. Auch innerhalb desselben Zellkompartiments kann man in größeren Protein-­ Komplexen abgetrennte Reaktionsräume schaffen. Und zwar immer dann, wenn ein Zwischenprodukt in kanalisierter Form von einem zum nächsten Enzym weitergereicht wird. Vermutet wird so eine Interaktion schon seit langem zwischen den Enzymen TIM und GAP-DH.  Experimentell gezeigt wurde kürzlich aber eine Interaktion zwischen GAP-DH und dem nächsten Enzym der Glycolyse, der Phospho-­Glycerat-Kinase (PGK). Deren Affinität zueinander, ausgedrückt durch ihre Dissoziationskonstante KD, lag etwa in dem Größenbereich, in dem die ­Proteine auch selbst in der Zelle vorlagen. Wenn also ein bisschen am Volumen ­getrickst wird, dann kann das diesen Komplex fördern oder aber auch kaputt machen. Am Volumen tricksen könnte so etwas heißen wie aufquellen oder ­ ­zusammenschrumpfen oder auch in die Mitose gehen. All das kann Auswirkungen auf rein thermodynamisch gekoppelte Reaktionen haben. Koexistenz: Eine Reaktion, die nicht so richtig ablaufen will, kann mit einer exothermen Reaktion gekoppelt werden. Das Leben auf der Erde könnte nicht existieren, wenn es solche thermodynamischen Kopplungen nicht gäbe. Eine Art der Kopplung sind gemeinsame Metaboliten, die in Gleichgewichtsreaktionen vorkommen. Die von TIM und GAP-DH katalysierten glycolytischen Reaktionen GAP ⇌ DHAP sowie GAP → 1,3-BPG sind ein Paradebeispiel thermodynamisch gekoppelter Reaktionen. Wenn dann auch noch das Reaktionsvolumen reduziert wird, kann die Effizienz einer solchen Kopplung weiter gesteigert werden. Für zwei Reaktionspartner und das dazugehörige Enzym spielt es eine entscheidende Rolle, ob das Trio weit voneinander weg sind, wie drei Tänzer in einem weitläufigen Ballsaal, oder ob sie von allen Seiten eng aneinandergequetscht werden, wie in einem Birminghamer Nachtclub. z Navigation

Über Wasser haben wir ja schon ausführlich in 7 Abschn. 1.1 geredet. Immer gut, die Besonderheiten von Wasser noch einmal aufzufrischen. Das „Umherspringen“ von Protonen macht zum Beispiel solche Reaktionen enorm schnell, die von einem Protonen-Transfer abhängig sind.  Einen Überblick über die Glycolyse und ihren Autobahn-ähnlichen Charakter gibt es in 7 Abschn. 6.2. Mehr zur Transaldolase, einem mit der Aldolase verwandten Enzym, in 7 Abschn. 6.4.  Mehr zum faulen Enzym RuBisCO gibt es in 7 Abschn. 7.3. Warum Lebewesen schon seit 600 Mio. Jahren Fieber kriegen – hier steht‘s. Das Fieber heizt der Immunabwehr ein ➜ Evans et al. 2015. Fever and the thermal regulation of immunity: the immune system feels the heat. Nat Rev Immunol. 15(6):335–49. Review. https://doi.org/10.1038/nri3843. Es geht immer noch ein bisschen besser, schneller, weiter. Die tollsten TIMs finden Sie hier ➜ Sharma & Guptasarma. 2015. ‚Super-perfect‘ enzymes: Structural stabilities and activities of recombinant triose phosphate isomerases from ­Pyrococcus 









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Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

furiosus and Thermococcus onnurineus produced in Escherichia coli. Biochem ­Biophys Res Commun. 460(3):753–8. https://doi.org/10.1016/j.bbrc.2015.03.102. Gemessen: Die Interaktion von GAP-DH und PGK hängt vom Verstopfungsund Verschleimungsgrad des Cytoplasmas ab ➜ Sukenik et al. 2017. Weak protein-protein interactions in live cells are quantified by cell-volume modulation. PNAS. 114(26):6776–6781. https://doi.org/10.1073/pnas.1700818114. Ron Milo betrachtet Stoffwechselwege thermodynamisch und entdeckt kinetische Schlaglöcher ➜ Noor et al. 2014. Pathway thermodynamics highlights kinetic obstacles in central metabolism. PLoS Comput Biol. 10(2):e1003483. https://doi.org/10.1371/ journal.pcbi.1003483.

5.6 

 TP ist ein Molekül wie Dynamit – oder – energetische A Kopplung mithilfe von Hoch-Energie-Molekülen

1 g Dynamit (eine Mischung aus Nitroglycerin und Kieselgur im Verhältnis 40:60) setzt etwa 1,7 kJ thermische Energie bei der Detonation frei. Wenn ATP zu ADP und Phosphat gespalten wird, so werden 30,5 kJ/mol an Wärme frei. Diese in Joule pro Gramm umgerechnet (einfach durch die molare Masse von ATP geteilt) sind 60 J/g oder etwa 1/30 der Energie von Dynamit. Eben erwähntes 1,3-BPG bringt es bereits auf 232 J/g oder 1/7 der Energie von Dynamit. Und dabei sind auch nur die Energien gemeint, die beim Spalten besonderer Bindungen frei werden – im Gegensatz zu Dynamit, das komplett in Schall und Rauch aufgeht. Andere Moleküle enthalten zwar viel Energie, unser Metabolismus kann diese aber nicht so schnell freisetzen. So kann der Körper durch Atmung aus 1 g Glucose etwa 16 kJ Energie freisetzen, fast zehnmal mehr als aus 1 g Dynamit. Fette haben einen noch viel höheren Energie-Gehalt. Biochemische Mechanismen stellen s­ icher, dass diese Prozesse sicher ablaufen. In der Zelle knallt nichts und zischt nichts und raucht nichts; na ja, von ein paar Cytochrom-P450-Enzymen mal abgesehen. Häufig wird eine Reaktion dadurch angetrieben, dass ein Hoch-Energie-­Molekül „verbrannt“ wird. Eines dieser Moleküle ist das eben erwähnte 1,3-BPG, das in der GAP-DH-Reaktion gebildet wird (. Abb.  5.10). 1,3-BPG ist ein Säure-­Anhydrid  

..      Abb. 5.10  Das Hoch-Energie-Molekül 1,3-BPG und eine Mausefalle. Eigentlich ist 1,3-Bis-­Phospho-­ Glycerat (1,3-BPG) ein Säure-Anhydrid aus zwei verschiedenen Säuren, der 3-Phospho-­Glycerinsäure einerseits und der Phosphorsäure andererseits. Das Molekül ist fast bis zum Zerreißen gespannt, es ist in der Zelle vierfach negativ geladen. Wenn Wasser die Säure-Anhydrid-Bindung kaputt macht, dann entsteht mindestens eine weitere negative Ladung. Die Molekülteile fliegen regelrecht auseinander; eine Rückreaktion ist quasi unmöglich. [Bildnachweis: Mausefalle © Stillfx stock.adobe.com]

115 5.6 · ATP ist ein Molekül wie Dynamit – oder – energetische…

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aus einem Phosphat-Rest und dem Glycerat-3-Phosphat, ein kleines, stark negativ geladenes, hochgradig gespanntes Molekül. Wenn die Anhydrid-­Bindung getrennt wird, dann fliegen die Einzelteile durch elektrische Abstoßung auseinander. Schließlich reagieren die Spalt-Produkte sofort in Folgereaktionen weiter: sie deprotonieren zum einen, zum anderen haben sie eine stabile Elektronenhülle (sie sind Mesomerie-stabilisiert). All das macht die Rückreaktion SEHR unwahrscheinlich. Somit ist hoffentlich zu erklären, dass es sich hier um ein Hoch-Energie-Molekül handelt. Lapidar sprechen ein paar Biochemiker hier von einer „Hoch-Energie-­ Bindung“. Manche Lehrbücher stellen besondere Bindungen sogar mit einem besonderen Zeichen, einer Tilde (~), dar. In dieser Vorstellung wird eine Bindung gespalten und es wird eine Menge Energie frei – eventuell vergleichbar mit einer ausgelösten Mausefalle. Diese Sichtweise ist etwas irreführend. Die Feder in der Mausefalle konnte die ganze Energie ja nur speichern, weil sie auf einem kleinen Holzbrett festgeschraubt und in einen Auslösemechanismus eingeklinkt war. A ­ llein im Vakuum zurückgelassen, kann die Sprungfeder nicht besonders viel. Das ­Gleiche gilt für die Bindungen zwischen Phosphor, Sauerstoff und einem zweiten Phosphor-­Atom im ATP oder die Phosphor-Sauerstoff-Kohlenstoff-Bindung im 1,3-­BPG.  Nur das Gesamtpaket der Pyrophosphat-Gruppe oder des 1,3-BPG macht das Spalten dieser Bindungen energetisch so lohnend. In diesem Buch reden wir immer von ganzen Hoch-Energie-Verbindungen oder -Molekülen. Ein anderes Hoch-Energie-Molekül ist ATP, das auch als die universelle Energie-­Währung der Zelle angesehen wird. Was aber macht ATP so geeignet für seine Funktion? ATP ist so toll, da es erstens den Adenosin-Rest besitzt. Dieser molekulare Griff kommt in so vielen Cofaktoren vor, dass er für Proteine einfach zum Festhalten geeignet sein muss. Zweitens ist ATP im Vergleich zu 1,3-BPG gar kein so besonderes Hoch-­ Energie-­Molekül – man kann es gerade noch aus anderen Hoch-Energie-­Molekülen herstellen, zum Beispiel aus jenem 1,3-BPG. Zu einem guten Transport-Molekül gehört immer eine „mittlere“ Affinität zum Transportgut. Eine Analogie ist Hämoglobin, das Sauerstoff eben nicht zu fest binden sollte, sondern nur eben so fest, dass der Sauerstoff im Zielgewebe wieder abgegeben werden kann. Drittens kann ATP in verschiedener Weise verwendet werden, genau wie ein Schweizer Taschenmesser (. Abb. 5.11); meist funktioniert die Energie-Kopplung mit ATP durch die Übertragung eines Teils des ATP auf das Molekül, das einen energetischen Kick braucht. Dabei ist es praktisch, dass verschiedene Teile des ATP übertragen werden können: Auf der einen Seite hat ATP die Kette aus drei Phosphaten, α, β und γ genannt. Meist wird nur das γ-Phosphat übertragen, was bereits 31 kJ/mol an Energie beiträgt. Wenn ATP bei der von TIM katalysierten Reaktion mit dabei wäre, wäre jene Reaktion bereits locker „bezahlt“. Mehr Energie kann ATP liefern, wenn zwischen dem α- und dem β-Phosphat gespalten wird und der AMP-Teil (quasi die andere Seite) auf den Reaktionspartner übergeht. Schon diese Reaktion allein liefert mehr Energie als die bloße γ-Phosphat-­ Abspaltung. Noch mehr Energie kommt dadurch zustande, dass anschließend das doppelte Phosphat (auch Pyrophosphat genannt) gespalten wird. Diese Reaktionsart kommt bei der Aktivierung von Fettsäuren, Aminosäuren oder dem äußerst reaktionsträgen Sulfat-Ion zum Einsatz.  

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Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

..      Abb. 5.11  ATP ist das Schweizer Taschenmesser des Metabolismus. ATP ist DER Vermittler zwischen Anabolismus und Katabolismus. Meist wird dabei ein Phosphat-Rest übertragen. Manchmal wird aber auch ein Pyrophosphat abgespalten, ein AMP-Rest übertragen oder gar nur der Adenosin-Rest. In der Flexibilität der Verwendungsweise kann es ATP durchaus mit einem Schweizer Taschenmesser aufnehmen. [Fotoinfo: Eigenes Foto vom Taschenmesser unseres Nachbarns, JWM, 2020]

Weitere Reaktionen des ATP sind bekannt (zum Beispiel die ADP-­Ribosylierung oder die AMPylierung), sollen hier aber nicht besprochen werden. ATP ist ein wirklich vielfältiges Molekül. Universell und auch immer und ständig dabei. Wie groß der Umsatz von ATP im menschlichen Körper ist, wird auf Bierdeckel XI ­abgeschätzt. Bierdeckel XI: Der Umsatz von ATP im Körper ist wirklich bemerkenswert. Die paar Gramm ATP, die wir in uns haben, werden ständig verbraucht und regeneriert. 55 Das geschieht mit einer Geschwindigkeit von etwa 9  ×  1020 Molekülen pro Sekunde 55 Von Molekülen umgerechnet zum Gewicht in Kilogramm und von der Sekunde zum Tag erweitert, ist das ein Umsatz von etwa 65 kg ATP pro Tag Und das alles auch erstmal nur im Ruhezustand, bei körperlicher Aktivität kann der ATP-Umsatz locker auf das Zehnfache steigen. Ich habe diese Zahlen von Peter Rich aus seinem Kommentar aus dem Jahre 2003. Dort hat er diese Rechnung in ihrer Ausführlichkeit wirklich auf die Spitze getrieben. Viel Spaß beim Nachverfolgen ➔ Rich P. 2003. Chemiosmotic coupling: The cost of living. Nature. 421(6923):583. https://doi.org/10.1038/421583a

Konzentrat: Als Hoch-Energie-Moleküle bezeichnen wir Verbindungen, bei denen es richtig knallt, wenn man eine einzelne Bindung spaltet. Diese Energie wird oft zum Gruppentransfer benutzt. Sehr oft handelt es sich bei der übertragenen Gruppe um ein Phosphat, das vom ATP stammt. Neben ATP und 1,3-Bis-­Phospho-Glycerat gibt es weitere Hoch-Energie-Moleküle und einige davon haben richtig Pepp, wie zum Beispiel Phosphoenolpyruvat, kurz PEP. Für den speziellen Kick sind thermodynamisch „unwillige“ Reaktionen sehr oft an die Spaltung von Hoch-Energie-Molekülen im Allgemeinen und von ATP im Besonderen gekoppelt.

117 5.7 · Koppeln an Gradienten, OxPhos-Kriege und Tricksen vom…

5

z Navigation

In 7 Abschn. 5.3 haben wir bereits über den besonderen Adenosin-Griff g­ eredet.  

5.7 

 oppeln an Gradienten, OxPhos-Kriege und Tricksen K vom Feinsten

Bisher haben wir gesehen, dass energieverbrauchende Reaktionen direkt an energieliefernde Reaktionen gekoppelt sein können. Meist wird diese Kopplung vermittelt durch ATP oder ein anderes Hoch-Energie-Molekül. Lange wurde nach jenem Hoch-Energie-Molekül gesucht, dass in der Zelle die ATP-Synthese antreibt. Peter Mitchell postulierte 1961, dass die energieverbrauchende ATP-Synthese wohl auch durch einen Protonengradienten über eine Protonen-dichte Membran angetrieben werden könnte. Mit diesen unorthodoxen Ansichten verursachte ­Mitchell über viele Jahre mächtigen Krawall. Er musste aber auch gewaltig D ­ resche einstecken. Heute wissen wir, dass jeder erdenklich kleine Konzentrationsunterschied ein energetisches Potenzial darstellt, das clever genutzt werden kann. Diese Konzentrationsunterschiede lassen sich mit der Nernst-Gleichung beschreiben (siehe Bierdeckel XII). Zurück zu Mitchell: Den Moment, als er 1978 in Stockholm für seine Ideen ausgezeichnet wurde, bezeichnen manche auch als das Ende der biochemischen Kriege um die oxidative Phosphorylierung. Sie sind auch als die „OxPhos-Wars“ in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen – gar nicht sooo lange her, in einer gar nicht sooo weit entfernten Galaxie. Immer, wenn über irgendeine Diffusionsbarriere (zum Beispiel eine Membran) ein Konzentrationsunterschied an irgendeinem Biomolekül herrscht, dann stellt dieser Gradient ein energetisches Potenzial dar. Diese biologische Batterie muss „lediglich“ clever angezapft werden – man braucht also nur ein spezielles Transportprotein für dieses Biomolekül und muss daran noch einen biologischen ­Dynamo anschließen, fertig. Ein erstaunliches kleines Gerät, das nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert, ist ein Ecofan, der auf Bierdeckel XII dargestellt ist. Bierdeckel XII: Hilft ein Ecofan gegen die Angst vor der Nernst-Gleichung? Die Nernst-Gleichung hat entfernte Ähnlichkeit mit der Henderson-Hasselbalch-Gleichung. Der Autor muss zugeben, dass er durchaus Respekt vor dieser Gleichung hat. E = E0 +

RT [ Zustand 1] ln zF [ Zustand 2]



Aber mal genau hingeschaut: E0 ist das Potential eines Standards (das gerne an der Normal-Wasserstoffelektrode gemessen wird). Relativ dazu wird der Zustandsunterschied bestimmt, um den es gerade geht. RT/zF ist am Ende nur eine Konstante, die eben diesen Unterschied weiter charakterisiert – mehr dazu steht in anderen Lehr-

118

Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

büchern. Übrig bleibt der Quotient des Zustandsunterschieds und davon dann der natürliche Logarithmus. Alles hübsch miteinander multipliziert ergibt die Energie, die möglicherweise rausspringen kann, wenn man eben jenes Gefälle anzapft. War am Ende doch gar nicht so schwer. Die Nernst-Gleichung zeigt, dass jeder – absolut JEDER – Konzentrationsunterschied von irgendwelchen Biomolekülen das Potenzial hat, biologisch zur Energiegewinnung verwertet zu werden. Entfernt irgendwie einem Ecofan ähnlich.

5

Ein Ecofan ist ein erstaunliches Gerät – es besteht aus zwei Aluminium-Teilen, die durch eine dicke Isolierschicht thermisch entkoppelt sind. Wenn der Ecofan nun auf einer Herdplatte steht, wird der untere Teil sehr warm. Der obere Teil aber ist nicht so nah an der Hitze und kühlt durch seine Bauweise auch recht schnell wieder ab. Die Spannungsdifferenz zwischen den beiden Metallteilen kann einen Ventilator antreiben. Viele, die einen Holzofen im Haus haben, besitzen auch so einen Ecofan. [Bildnachweis: Ecofan, JWM, 2021]

Der Ecofan der Zelle ist die ATP-Synthase. Sie besteht aus einem Membranteil, der historisch den Namen FO trägt, und dem F1-Teil, der vom FO-Teil herausragt, fertig ist die F1FO-ATPase. Etwas für Pedanten: der F-„Eins“-Teil hat seinen Namen von einer „Fraktion 1“ irgendeiner biochemischen Aufreinigung, der F-O-­Teil jedoch hat den Buchstaben „O“ – so wie in Oliver – als Namen (nicht die Null), weil die

119 5.7 · Koppeln an Gradienten, OxPhos-Kriege und Tricksen vom…

5

..      Abb. 5.12  Lollipop-ATPase. Komische Kugeln auf Stäbchen müssen das gewesen sein, die da in frühen elektronenmikroskopischen Aufnahmen von Mitochondrien zu sehen waren. Und schon war es passiert, die ATP-Synthase hatte ihren Spitznamen erhalten. Hier abgebildet ist das Enzym aus dem Rind. Der Stator ist nicht dargestellt. [Abbildungsnachweis: eigene Strukturvisualisierung nach DOI: 10.2210/pdb5ARE/pdb; Lollipop, © Gelpi stock.adobe.com]

FO-Aktivität mit Oligomycin inhibierbar ist. Es ist ja so wichtig, eine klare Nomenklatur zu haben. Deutlich leichter zu merken sind die Spitznamen dieses Enzyms Fifo- oder auch Lollipop-­ATPase – Lollipop wegen ihrer 3D-Struktur, die grob an einen Lutscher erinnert (. Abb.  5.12). Die Fifo-ATPase koppelt die energieverbrauchende ­Synthese von ATP an einen Protonen-Gradienten. Im Mitochondrium wird dieser Protonen-­ Gradient bei der oxidativen Phosphorylierung schrittweise über der ­Protonen-dichten inneren Membran aufgebaut (siehe 7 Abschn. 6.3). Als M ­ itchell seine Hypothese aufstellte, war Fifo aber noch lange nicht bekannt. Viel ist seitdem über ATP-­Synthasen geschrieben worden. Eine Eigenschaft von Fifo ist ihre Geselligkeit. Sie lagert sich zu Dimeren zusammen und lange Reihen dieser Dimere falten die innere mitochondriale Membran. Dazu aber mehr im Exkurs.  



Exkurs: Dimere der mitochondrialen ATP-Synthase

Wegen neuester technischer Entwicklungen in der Elektronenmikroskopie schauen wir dieser Tage auf immer größere Protein-Komplexe, teilweise sogar in ihrer natürlichen zellulären Umgebung. Einer dieser Komplexe ist die Fifo-ATPase. Dieses Enzym scheint nicht gerne allein zu sein; sie tritt

lieber in Paaren auf. Eine Kette solcher ATPase-Paare kann mit vereinten Kräften eine Membran krümmen. ­ ATPase-Dimere sind also keine Folge ­ einer Membrankrümmung, sondern die Ursache – sie ermöglichen erst die Ausbildung von gestapelten Membranen in Mitochondrien oder Chloroplasten. Die

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Kapitel 5 · Wie setzt man eine chemische Reaktion in Gang, auch dann, wenn sie…

ATPase hat somit eine zweite, formgebende Funktion. Und warum bilden ATPasen diese Dimere, die dann Membranen krümmen? Eine frühe Publikation von 2008 lehnt sich noch recht weit aus dem F ­ enster: Wohl um möglichst effektiv ­Protonen einzusammeln  – die gekrümmte Membran wirkt wie ein Trichter oder eine Falle, um besonders viele Protonen in Richtung FOTeil der ATPase zu ­ dirigieren. Berechnungen sagten am gekrümmten Rand einer Membranscheibe eine höhere Protonenkonzentration (also einen niedrigeren pH-Wert) voraus als im flachen Teil direkt daneben. 2014 wurde dann aber der pH-Wert in so einer Membranscheibe ­direkt gemessen. Dies wurde dadurch ermöglicht, dass pH-­sensitive Fluorophore an der Cytochrom-c-Oxidase (Komplex IV der Atmungskette) und der ATPase

angebracht wurden. Direkt an der ­ATPase war der pH-Wert um etwa 0,3 pH-Einheiten ­erhöht(!!!), nicht erniedrigt, es gab in jener Senke also weniger Protonen. Eine Sichtweise dazu ist, dass es sich immer noch um eine Art Protonenfalle handelt, die Protonen direkt ins „FO-Maul“ der ATPase führt. Diese Falle ist erstaunlich effizient, sodass die Umgebung der ATPase im laufenden Betrieb 0,3 pH-Einheiten weniger sauer ist als an den Komplexen der Atmungskette. Eventuell hat die ATPase aber auch einfach zwei Funktionen übernommen, die unabhängig voneinander sind – die eine ist, einen Protonengradienten energetisch anzuzapfen und damit ATP zu machen, und die andere ist, bei der Membranfaltung von Mitochondrien und Chloroplasten mit anzupacken. Nichts Genaues weiß man nicht.

ATPase-Dimere krümmen Membranen und fangen so Protonen ein. In der Abbildung ist die Struktur 4B2Q (PDBCode) von Werner Kühlbrandt zu sehen. Die gebogene innere mitochondriale Membran und die Dimer-bildenden Proteinkomplexe e und g sind schematisch angedeutet. Der Winkel der beiden ATP-Synthase-­ Proteine zueinander ist aber experimentell gemessen worden. Zum Vergleich dazu gibt es noch ein paar Trichterfallen eines Ameisenlöwen

zu sehen. Ameisenlöwen sind räuberische Insekten. Selten sind diese Tiere selbst zu sehen, ihre Trichterfallen im feinen Sand dagegen umso häufiger. Eine Trichterfalle ist bis zu handbreit; etwas Laub kann als Maßstab dienen. Das Foto stammt aus dem südafrikanischen Nationalpark De Hoop. Das Paper von 2008 aus der Gruppe von Werner Kühlbrandt ➜ Strauss et al. 2008. Dimer ribbons of ATP synthase shape the inner mitochondrial memb-

121 5.7 · Koppeln an Gradienten, OxPhos-Kriege und Tricksen vom…

rane. EMBO J. 27(7):1154–60. https:// doi.org/10.1038/emboj.2008.35. Sehr speziell  – mithilfe von fluoreszierenden Sonden – hat Karin Busch mit Kollegen die pH-Gradienten im Mitochondrium vermessen ➜ Rieger et al. 2014. Lateral pH gradient between OXPHOS complex IV and F(0)F(1)

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ATP-synthase in folded mitochondrial membranes. Nat Commun. 5:3103. https://doi.org/10.1038/ncomms4103. [Bildnachweis: eigene Strukturvisualisierung nach https://doi. org/10.2210/pdb4B2Q/pdb. Fangtrichter von Ameisenlöwen, Südafrika, JWM, 2015]

Know-how: Der Energiegehalt fast jedes biologischen Gradienten kann mit der Nernst-Gleichung beschrieben werden. Der Löwenanteil der zellulären ATP-­ Synthese wird durch das Enzym ATP-Synthase bewerkstelligt. Dieses Enzym wird von einem Protonen-Gradienten angetrieben, der von der Atmungskette über der inneren mitochondrialen Membran aufgebaut wird. z Navigation

Die Komplexe I, III und IV der Atmungskette wirken als elektronengetriebene Protonenpumpen. Mehr dazu in 7 Abschn. 6.3. Spannend wird beschrieben, was Peter Mitchell lange aushalten musste. Neben guten Ideen gehört wohl auch ein ziemlich dickes Fell zu den Zutaten für den wissenschaftlichen Erfolg ➜ Prebble J. 2002. Peter Mitchell and the OX PHOS wars. Trends Biochem Sci. 27(4):209–12. https://doi.org/10.1016/s09680004(02)02059-5 Was für Fans. Werner Kühlbrandt schreibt alles auf, was er zu ATP-Synthasen zu sagen hat, wirklich alles ➜ Kühlbrandt W. 2019. Structure and Mechanisms of F-Type ATP Synthases. Annu Rev Biochem. 88:515–549. Review. https://doi. org/10.1146/annurev-biochem-013118-110903. 



123

Die Renaissance des Stoff­ wechsels – vom trockenen Prüfungsstoff zur modernen MetabolismusForschung Inhaltsverzeichnis 6.1

 as Londoner U-Bahn-Netz D und verschiedene Ebenen der Emergenz – 127

6.2

Ein Schnelldurchlauf durch Glycolyse, Fermentation, Glycogen und Gluconeogenese – 129

6.3

Die Acetyl-CoA-Einbahnstraße mündet in den Zitratzyklus-Kreisverkehr und darüber schwebt die oxidative Phosphorylierung – 134

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 J. W. Mueller, Endlich Biochemie verstehen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9_6

6

6.4

Der Pentose-Phosphat-Pfad und die Abwehr von reaktiven Sauerstoff-Spezies – 136

6.5

Fettsäuren verbrennen, aber auch mal selbst herstellen – 137

6.6

 egulation von StoffwechselR wegen und Metabolit-­ Netzwerken – 139

6.7

 ie könnte der zentrale W Metabolismus entstanden sein? – 141

125 Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen…

6

Früher haben wir Studierenden der Medizin eingetrichtert, dass sie Biochemie unbedingt ernst nehmen müssten – ansonsten könnten sie niemals die molekularen Grundlagen wichtiger Erkrankungen verstehen. Damals war das wohl eher der Versuch der vorklinischen Fächer, den leicht verstaubten Prüfungsstoff irgendwie interessant erscheinen zu lassen. Das metabolische Syndrom ist eine Kombination aus Blut-Hochdruck, Übergewicht und Diabetes Typ 2. Etwa ein Viertel der erwachsenen Weltbevölkerung zeigt bereits mehrere Indikatoren des metabolischen Syndroms. Tendenz steigend. Auf einmal ist es für einen Mediziner wirklich wichtig, die Regulation einzelner Stoffwechselwege zu verstehen. Wie verändern sich diese Regulationsnetzwerke bei verschiedenen Ernährungsweisen? Wie bei körperlicher Anstrengung? Und erst recht, wie verändern sie sich beim Älterwerden des Organismus? Wie kann man diese Prozesse positiv beeinflussen? Können wir das Altern eventuell sogar umkehren? Wir sind mitten in der modernen Metabolismus-Forschung angekommen. Erst einmal gibt es aber einen Exkurs über den wohl größten Metabolismus-Forscher aller Zeiten. Exkurs: Der größte Metabolismus-Forscher aller Zeiten – Otto Warburg

Wie kaum ein zweiter hat Otto Warburg die Biochemie des frühen 20. Jahrhunderts geprägt. Manche sagen sogar, er sei der größte Biochemiker aller Zeiten gewesen. Warburg hat die Biochemie zur quantitativen Wissenschaft gemacht. Bei bestimmten gekoppelten Enzymreaktionen spricht man noch heute von der Warburg-­ Kopplung. Auch in der Biochemie der Pflanzen hat Warburg so einiges geleistet. 1931 erhielt er eine Medaille aus Stockholm für die Entdeckung des Enzyms Cytochrom-­c-Oxidase, eines Bestandteils der Atmungskette. Heute kennen wir ihn vor allem für seine Entdeckung, dass Krebszellen selbst in Anwesenheit von Sauerstoff lieber sauer vor sich hin gären. Dieses als Warburg-­Effekt bekannte Phänomen hält sich hartnäckig in der heutigen Literatur; auch wenn diskutiert wird, ob die ­aerobe Gärung nun Ursache oder Folge der metabolischen Veränderungen in Krebszellen ist. Die Unterschiede zwischen normalen Zellen und einem Krebsgeschwür dienen mittlerweile der onkologischen Bildgebung und Anti-Meta-

boliten, also Inhibitoren von basalen Stoffwechselreaktionen, werden erfolgreich bei Chemotherapien verwendet. Otto Warburg war ein sehr erfolgreicher und geachteter Wissenschaftler. Legendär ist sein „etwas knapper“ Forschungsantrag aus dem Jahr 1921 an den damaligen Vorläufer der Deutschen Forschungsgemeinschaft: „Antrag. Ich benötige 10.000 (zehntausend) Mark. Otto Warburg.“ In Zeiten von sehr knappen Kassen wurde der Antrag in voller Höhe gefördert. Ansonsten war W ­ arburg wohl kein besonders angenehmer Zeitgenosse. Er ging seiner Forschung mit einer Perfektion und Bedingungslosigkeit nach, die so manchem Angestellten zu schaffen machten. W ­ arburg heiratete nie, lebte mehr oder weniger offen schwul mit seinem Chauffeur zusammen. Das Foto zeigt ihn zusammen mit seinem Pudel Bärchen. Außerdem hatte er jüdische Wurzeln. Trotz alledem setzte er seine Forschung in Berlin während des Zweiten Weltkriegs fast ohne Unterbrechungen fort. Was für ein Biochemiker.

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Kapitel 6 · Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen Prüfungsstoff…

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Weitere spannende Literatur zum Thema: Eigentlich waren Leben und Wirken Otto Warburgs schon lange erstklassiger Stoff für einen Roman. Endlich ist es so weit. Sam Apple hat 2021 folgendes Buch veröffentlicht ➔ Apple 2021. Ravenous  – Otto Warburg, the Nazis, and the Search for the Cancer-Diet Connection. Liveright, NY. Wer’s etwas wissenschaftshistorischer mag, hier ein fundierter Rückblick auf Otto Warburgs Leben und seine wissenschaftlichen Leistungen ➔ Koppenol et al. 2011. Otto Warburg‘s contributions

to current concepts of cancer metabolism. Nat Rev Cancer. 11(5):325–37. Review. https://doi.org/10.1038/nrc3038. Es gibt viele aktuelle Übersichtsartikel, die den Warburg-Effekt in die Neuzeit holen, zum Beispiel diesen hier ➔ Potter et al. 2016. The Warburg effect: 80 years on. Biochem Soc Trans. 44(5):1499–1505. Review. https://doi. org/10.1042/BST20160094. [Foto: Suse Byk, etwa 1925, Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin. Abdruck mit freundlicher Genehmigung]

127 6.1 · Das Londoner U-Bahn-Netz und verschiedene Ebenen…

6.1 

6

 as Londoner U-Bahn-Netz und verschiedene Ebenen D der Emergenz

Um ein guter Metabolismus-Forscher oder eine gute Biochemikerin zu sein, muss man nicht unbedingt wissen, dass TIM (Triose-Phosphat-Isomerase) die ­Isomerisierung von GAP und DHAP über einen Diol-Zwischenschritt katalysiert. Es reicht wohl zu wissen, dass GAP und DHAP in der Zelle quasi gleichwertig sind. Genauso ist es mit dem Londoner U-Bahn-Netz (. Abb. 6.1): Für manche reicht es zu wissen, dass man an der Euston-Station recht kompliziert und mit viel ­Lauferei zwischen verschiedenen U-Bahn-Linien umsteigen kann. Für andere ist es wichtig, dass man dort in den Schnellzug nach Birmingham einsteigen kann. Dass direkt am Bahnhof der traditionsreiche Pub „Euston Tap“ (also der Euston-­ Zapfhahn) eine große Auswahl von internationalen, frisch gezapften Bieren und auch eine recht annehmbare Speisekarte bereithält, ist dagegen wohl entbehrliches Detailwissen, oder? Im Folgenden wollen wir uns an den Hauptlinien des Netzwerks, den großen Umsteigepunkten, also den Knoten im Netzwerk, sowie ein paar wichtigen Informationen zum Betrieb orientieren. Diese sind beispielsweise „Einbahnstraße“ oder „Wegen des Wochenmarkts am Samstag kein Betrieb“. Leider werden wir aber hier nicht dieses kleine Café, jene unglaublich interessante Boutique, die gerade neu eröffnete Galerie oder die bewährte Eckkneipe erwähnen. Für so einige Seitenlinien des Netzwerks  – beispielsweise die Biosynthese-Wege der verschiedenen Aminosäuren oder Kernbasen, der Cofaktoren und anderer Spezialisten  – verweise ich auf die weiterführende Literatur. Für einen Überblick sollte es aber trotzdem ­reichen.  

6

..      Abb.  6.1  Der zentrale Stoffwechsel der Zelle im Stil der Londoner U-Bahn-Karte. Eine Karte, die zum Schmökern anregt, vielleicht auch zum Nachdenken. Wer mag, kann die Farben auch noch mit denen der Londoner U-Bahn-Karte vergleichen – so sind Glycolyse und auch die Northern Line, beides alt-ehrwürdige Pfade, schwarz dargestellt. [Abbildungsnachweis: Richard Wheeler, 2019, Abdruck mit freundlicher Genehmigung]

128 Kapitel 6 · Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen Prüfungsstoff…

129 6.2 · Ein Schnelldurchlauf durch Glycolyse, Fermentation,…

6.2 

6

 in Schnelldurchlauf durch Glycolyse, Fermentation, E Glycogen und Gluconeogenese

In die Glycolyse steigen wir beim Traubenzucker ein, der auch Glucose genannt wird. Glucose wird durch den Dünndarm aus der Nahrung aufgenommen und in fast allen Zellen durch die Hexokinase phosphoryliert. Zack, schon hat Glucose eine negative Ladung abbekommen und kann nicht mehr so einfach aus der Zelle herauskommen. Wie fast immer im Stoffwechselgeschehen, stellt die Leber einen Sonderfall dar. Sie verwendet ein anderes Enzym, um Glucose zu phosphorylieren – die Glucokinase. Glucokinase und Hexokinase sind ein Paradebeispiel für ein Paar von ungleichen Enzym-Cousinen (mehr zu diesem Geschwister-Zwist im ­folgenden Exkurs „Hexokinase und Glucokinase, zwei ungleiche Cousinen“. Beide Enzyme stellen unter ATP-Verbrauch Glucose-6-Phosphat (Glc-6-P) her und ­Glc-6-P stellt den ersten zentralen Umsteigepunkt in unserem Metabolismus-­U-­ Bahn-Netz dar. Exkurs: Hexokinase und Glucokinase, zwei ungleiche Cousinen

Zwei Enzyme, die die gleiche Reaktion katalysieren, nennen wir Isoenzyme. Dabei kommt „iso“ vom griechischen Wort für „gleich“. Menschliche Glucokinase und der katalytische Teil der Hexokinase besitzen 54 % identische Aminosäuren. Die Hexokinase ist in hohen ­Konzentrationen in fast jedem Gewebe zu finden. Sie kann schon mit recht niedrigen Mengen Glucose anständig arbeiten, ist dann aber auch schnell überfordert. ­Biochemiker sprechen von einer niedrigen KM-Konstante und einem ebenfalls niedrigen vmax-Wert (wir haben über diese Werte schon in 7 Abschn. 5.1 gesprochen). Eine Extrawurst, wenn auch keine beleidigte, kriegt die Leber gebraten. Dort ist statt der Hexokinase das Enzym Glucokinase zu finden. Zwar etwas träge bei niedrigen Glucose-Konzentrationen, kommt die Glucokinase bei mehr Zucker so richtig auf Touren und hört dann auch kaum noch auf. Die Biochemikerin würde die Glucokinase mit höherer KM-Konstante und höherem vmax-­Wert kennzeichnen.  

Physiologisch macht diese Zweiteilung Sinn. Jedes Gewebe, das nicht gerade die Leber ist, ist heilfroh über jedes bisschen aufgenommene Glucose. Das kann überlebenswichtig sein, wenn der Blut-Glucose-Spiegel sinkt. Sofort wird phosphoryliert, also biochemisch „festgeklammert“. Irgendwann ist aber der Bedarf gedeckt  – man sollte eben nicht zu gierig sein. Ganz anders die Leber  – sie ist der große Zuckerproduzent (Stichwort Glucogenese) und gleichzeitig auch einer der großen Zuckerspeicher (Stichwort Glycogen). Nach einer Kohlenhydrat-reichen Mahlzeit (zum Beispiel Spaghetti mit leckerer Tomatensauce), „saugt“ sich die Leber mit Glucose förmlich voll  – ganz so wie ein Schwamm. Alles im Sinne unseres Wohlergehens. Physiologisch macht die Arbeitsteilung dieser beiden Enzyme total Sinn  – hier ist Regulation fest in der Funktion der beteiligten Proteine verankert.

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Kapitel 6 · Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen Prüfungsstoff…

z Kleine Umleitung – Glycogen

6

Manchmal ist so viel Glucose unterwegs auf den biochemischen Schienen, dass Teile davon einen kleinen Umweg machen. Leber und Muskel können Glucose gezielt speichern und wieder freisetzen. Die Leber kann das machen, indem sie ­Glucose in Glycogen umwandelt – ebenso wie Muskelgewebe und auch die Nieren zu einem gewissen Teil. Glycogen ist die tierische Entsprechung von pflanzlicher Stärke  – früher wurde sie auch Leberstärke genannt. Stärke und Glycogen sind mehr oder weniger baumartig verzweigt. Somit kann sehr schnell Glucose vom verzweigten Ende abgebaut werden, während die unverzweigte Seite das Gebilde zusammenhält. Na ja, „das“ verzweigte Ende sind in Wirklichkeit sehr, sehr viele Enden. Der Clou dabei: Ein Glycogen-Partikel mit bis zu 50.000 Glucose-­Einheiten verhält sich osmotisch lediglich wie ein einziges Molekül. Eine Leberzelle könnte nie die gleiche Menge an freier Glucose einlagern. Sie würde osmotisch platzen. Sich mit ein paar Hundert Glycogen-Partikeln vollstopfen geht aber problemlos. Synthese und Abbau von Glycogen sind hormonell streng reguliert. Energetisch ist die Speicherung von Energie in Form eines Glycogen-Klumpens unglaublich effizient – wie effizient genau, zeigt Bierdeckel XIII. Der bemerkenswerteste Schritt am Glycogen ist wohl die eigentliche Abspaltung einer Glucose-Einheit, die von einem sehr ungewöhnlichen Enzym bewerkstelligt wird. Die Glycogen-­ Phosphorylase bindet den Cofaktor Pyridoxalphosphat „falsch herum“. Nicht etwa die Aldehyd-Gruppe, sondern die Phosphatgruppe wird in die Bindung ­zwischen der ersten und zweiten Glucose-Einheit gepresst. Fertig ist Glucose-­1-­ Phosphat  – ganz ohne ATP-Verbrauch,  das noch eben in Glucose-6-Phosphat ­umgewandelt werden muss.

Bierdeckel XIII: Glycogen ist ein hoch effizienter Energie-Speicher So ein Glycogen-Speicherkorn ist eine komplizierte Sache. Ganz wie ein riesiger Baum hat es nur einen einzigen Stamm (gebunden an das Glycogenin-Protein), aber fast unendlich viele Enden, auch Zweige genannt. Wie es genau entsteht, steht in anderen Lehrwerken. Die folgende Rechnung gilt speziell für ein Molekül Glucose-6-Phosphat, das an eines dieser vielen Enden angehängt und später wieder abgespalten wird: Glucose anhängen (1) Glc-6-P ➔ Glc-1-P; Enzym: Phosphoglucomutase; energetische Kosten: fast keine (2) Glc-1-P  +  UTP ➔ Glc-1-UDP  +  Pyrophosphat (PPi); Enzym: UDP-glucose-­ Pyrophosphorylase; Kosten: Spaltung einer Phospho-Phospho-Bindung (3) PPi ➔ 2 Phosphate; Enzym: Pyro-Phosphatase; Kosten: Spaltung einer weiteren Phospho-phospho-Bindung (4) (Glycogen)n  +  Glc-1-UDP ➔ (Glycogen)n+1  +  UDP; Enzym: Glycogen-Synthase; Kosten: Spaltung einer Phospho-Kohlenhydrat-Bindung Glucose wieder abspalten (5) (Glycogen)n+1  +  ein stinknormales Phosphat-Ion ➔ (Glycogen)n  +  Glc-1-P; Enzym: Glycogen-Phosphorylase; Kosten: keine (6) Glc-1-P ➔ Glc-6-P; Enzym: Phosphoglucomutase; energetische Kosten: keine

131 6.2 · Ein Schnelldurchlauf durch Glycolyse, Fermentation,…

6

Alles in allem kostet es die Zelle etwa die Spaltung von zwei ATP zu ADP oder die Energie vergleichbarer Reaktionen, um ein Molekül Glucose-6-Phosphat vorübergehend zu speichern. Wenn dieses Molekül später wiederum etwa 34 ATP-Moleküle aus ADP und anorganischem Phosphat erzeugen kann, dann haben wir eine Speichereffizienz von 94 %. Ganz gut für so eine biochemische Batterie. In dieser Beispiel-Rechnung haben wir „nur“ Glucose berücksichtigt, die an das „nicht-reduzierende“ Ende des Glycogen-Körperchens angehängt war. Durch die „dendritische“ Baumstruktur sind das mal eben fast die Hälfte aller Glucose-Moleküle im Glycogen. Das eine, das einzig wahre, reduzierende Ende eines Glycogen-Partikels ist friedlich gebunden an das Glycogenin-Protein.

[Bildnachweis: Schema, JWM 2022; Baum, © Eduard Vladimirovich stock.adobe.com] Glycogen ist einfach spitze. In einem Glycogen-Körnchen werden bis zu 50.000 Glucose-Einheiten nahezu osmotisch neutral gelagert. Die dendritische Struktur ähnelt einem Baum. Fast die Hälfte aller Glucose-Reste befindet sich in der äußersten Hülle; sie sind leicht zugänglich. Somit gilt die obige Rechnung für SEHR viele Glucose-Einheiten. Ein toller Glucose-Speicher! Von Glycogen kann der Körper sehr schnell und auch noch ohne Sauerstoff Energie beziehen – im Gegensatz zum Verheizen von freien Fettsäuren.

z Die Glycolyse-Linie fährt alle drei Minuten

Die Glycolyse-Linie ist im Metabolismus-Diagramm schwarz dargestellt – wie die Northern Line auf der Londoner U-Bahn-Karte. Die Northern Line ist die älteste U-Bahn-Linie des Netzwerks. Ebenso gibt es in nahezu allen Zellen schon immer so viel von den glycolytischen Enzymen, dass diese auch mehrmals verwendet wurden – so ist das Enzym Enolase auch in der Augenlinse als Strukturprotein v­ orhanden. Die hohe Konzentration der glycolytischen Enzyme bedeutet, dass sie fast permanent unterbeschäftigt sind. Eine fast leere Autobahn wäre ein passender Vergleich.

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Kapitel 6 · Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen Prüfungsstoff…

Anders herum gesagt, kann jederzeit auch eine größere Menge Glucose-­6-­Phosphat die Glycolyse hinunterlaufen – ganz wichtig, wenn schnell Energie benötigt wird. Alle Glycolyse-Intermediate sind phosphoryliert, damit sie von den entsprechenden Enzymen gut gebunden werden können. Die Glycolyse ist eine Bergund Talfahrt, zunächst muss Energie hineingesteckt werden, bevor Energie wieder herauskommt. Immer geht es in der Glycolyse darum, aus lahmen Molekülen Hoch-­Energie-­Moleküle zu machen und mit diesen dann ATP zu erzeugen – liebevoll auch Substratkettenphosphorylierung genannt. Die ATP-verbrauchenden Schritte der Glycolyse sind die Erzeugung von Glucose-­ 6-Phosphat und die Phosphorylierung von Fructose-6-Phosphat zu Fructose-­ 1,6-Doppelphosphat (auch Fructose-1,6-bis-Phosphat genannt). Die Energie-liefernden Schritte sind mit 1,3-Bis-Phospho-Glycerat (1,3-BPG) und mit PEP verbunden; hier ist die peppige Abkürzung Programm, sie steht sonst auch für Phospho-Enol-Pyruvat. Warum Moleküle wie PEP und 1,3-BPG mehr Power als ATP in sich tragen, haben wir bereits in 7 Abschn. 5.3 beschrieben. Am Ende der Glycolyse-Linie haben wir pro Glucose-Einheit zwei ATP ­investiert, dafür aber vier ATP herausbekommen. Aus Glucose sind zwei Moleküle Pyruvat entstanden – im Gegensatz zu allen Zwischenprodukten der Glycolyse ist Pyruvat nun nicht mehr phosphoryliert. Schließlich haben wir noch ein Elektronenpaar „geerntet“ und im NADH gespeichert. Das Ganze ging ziemlich fix und ohne Anlaufzeiten. Mit genug Zucker ließe es sich so gut leben, wenn man nur diese ganzen Elektronen loswerden könnte.  

z Das Kurzstreckenticket – die Milchsäuregärung – Sauerstoff auf Kredit

Wenn’s mal schnell gehen soll, dann ist die metabolische U-Bahn-Fahrt am Pyruvat fast zu Ende. Das Enzym Milchsäure- oder Lactat-Dehydrogenase (LDH) nimmt das quasi wertlose Pyruvat und jene entstandenen Elektronen aus dem NADH und macht daraus Lactat und NAD. Das NAD ist damit frei für einen weiteren Durchlauf durch die Glycolyse. Das Lactat kann sich zunächst erst einmal ansammeln (. Abb. 6.2). Was dann passiert, hängt davon ab, wo diese Prozesse stattfinden. Wir Menschen setzen auf schnelle Glycolyse und Abfall-Recycling mittels Milchsäure-Gärung  – immer dann, wenn unsere Muskeln in den anaeroben Bereich kommen. Dann wird vom Muskel mehr Leistung abgefordert, als er durch aerobe Atmung bilden kann. Also erzeugt der Muskel ATP durch Gärung und häuft große Mengen Lactat an. Lactat wird dann ins Blut abgegeben, von der Leber aufgenommen und abgebaut. Der Muskel hat sich also einen Sauerstoff-Kredit bei der Leber genommen – als Zahlungsmittel wird Lactat akzeptiert. Wie im realen Leben, kommt auch dieser Kreditrahmen irgendwann an ein Ende. Im Muskel sammelt sich Lactat an, es kommt zur Übersäuerung des Gewebes. All das geht wohl immer noch mit einer ordentlichen Muskelaktivität einher. Sei es durch die Säure oder mikroskopisch kleine Faserrisse, 24–72 Stunden später gibt es einen ziemlichen Muskelkater. Käse: Durch schnelle Lactat-Gärung wird der Muskel auch bei Sauerstoff-­ Mangel am Laufen gehalten. Manche Mikroorganismen sind wahre und geduldige Meister verschiedener Gärtypen. Hier ist die schnelle ATP-Produktion unwesentlich. Eher geht es darum, die Lebensmittel zu transformieren. Indirekt geht es um dieses Thema im Exkurs zum vernetzten Lernen.  

133 6.2 · Ein Schnelldurchlauf durch Glycolyse, Fermentation,…

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..      Abb.  6.2  Mit der Lactat-Kreditkarte kann der Körper jederzeit Sauerstoff kaufen. Auch in Abwesenheit von Sauerstoff können Glycolyse und Lactat-Gärung im Muskel ATP erzeugen – wenn’s mal schnell gehen muss. Dieser Sauerstoff-Kredit wird dann in Form von Lactat in andere Organe – vor allem in die Leber – transportiert. Wenn genügend Sauerstoff vorhanden ist, wird dort aus Lactat mühsam wieder Glucose zusammengebastelt. Dieses Hin- und Herpumpen von Lactat wird auch Cori-Zyklus genannt. [Bildinfo: JWM, 2021; eigene Strukturvisualisierung menschlicher LDH, nach https://doi.org/10.2210/pdb1I0Z/pdb]

Exkurs: Vernetztes Lernen von biochemischen Gärungstypen – eine wahre Begebenheit

Gemeinsam mit einem Studien-Kollegen bereite ich mich auf eine Biochemie-­ Prüfung vor. Wir büffeln Glycolyse und Fermentation. Nach einiger Zeit öffne ich eine Flasche Bier und sage „ganz schön praktisch, dieser Stoffwechselweg“. Daraufhin schaut er mich mit ­offenem Mund an und fragt: „Warum?“ Dass das „Ethanol“ aus dem Lehrbuch und der in dem Bier enthaltene Alkohol iiiirgendein eventuell mööögliches Verwandschaftsverhältnis haben, gar im landläufigen Gebrauch des Worts miteinander identisch sein könnten, war ihm bis dahin nicht klar geworden … Ich fand und finde es immer noch erstaunlich, wie man so unvernetzt lernen kann. Mir fiel es immer viel leichter,

über Glycolyse und Fermentation mit einem Bier in der Hand zu reden. Zu Milchsäuregärung würde ich einen milden Käse mit Wein empfehlen und zur nachgelagerten Propionatgärung einen kräftigen Schweizer Emmentaler, vielleicht mit einem Obstbrand. Genug Käse gegessen. Auch wenn dies nicht zu allen Zeiten in jedem Studiengang der Lebenswissenschaften anwendbar ist, würde ich persönlich immer versuchen, einen persönlichen Bezug zu den Lern-Zielen herzustellen. Es lernt sich einfach leichter und versteht sich besser, wenn man auch mit dem Unterbewusstsein bei der Sache ist  – eben mit dem Herzen (oder dem Magen).

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Kapitel 6 · Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen Prüfungsstoff…

z Zum Weiterlesen

Einen tollen Überblick über die Glycolyse gibt David Goodsell im Weiterbildungsbereich der Protein Data Bank, der PDB ➔ Goodsell D. 2004. Molecule of the Month: Glycolytic Enzymes. RCSB PDB-101. https://doi.org/10.2210/rcsb_pdb/ mom_2004_2.

6.3 

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 ie Acetyl-CoA-Einbahnstraße mündet in den ZitratzyklusD Kreisverkehr und darüber schwebt die oxidative Phosphorylierung

Nächster Halt: Ein Essigsäure-Rest, der an Coenzym A gebunden ist. Klingt nicht so besonders schwierig, oder? Ist es aber. Diese Reaktion wird in fünf Teilschritten von einem der größten Enzym-Komplexe der Zelle katalysiert  – der Pyruvat-­ Dehydrogenase-­Komplex (PDH), eine gigantische Maschinerie von etwa 9  MDa (Mega-Dalton). Das ist fast das Gewicht von DREI Ribosomen auf einmal! Dieser Komplex enthält die besonderen Cofaktoren TPP, Liponsäure, Coenzym A, FAD und NAD.  Da sich diese und viele andere Cofaktoren von verschiedenen Vita­ minen ableiten, sollten wir stets vitaminreiche Nahrung essen, damit unser Metabolismus immer gut funktioniert. Und nur nebenbei: Während der Umwandlung von Pyruvat in Acetyl-CoA werden noch einmal ein paar Elektronen geerntet. Hefen mögen die PDH nicht besonders, jene Pyruvat-Dehydrogenase – sie benutzen lieber die etwas kompaktere Pyruvat-Decarboxylase (PDC). Mit diesem tollen Enzym erzeugen Hefen aus Pyruvat Ethanol und Kohlendioxid – eine ungemein nützliche Reaktion für den Menschen, sowohl zum Brot- und Pizza-Backen als auch zur Herstellung von Bier und Wein. Übrigens, alle Hefe-haltigen Nahrungsmittel wie etwa Brot und Bier enthalten üppige Mengen der allermeisten Bestandteile des Vitamin-B-Komplexes. In Richtung Acetyl-CoA führt im menschlichen Metabolismus nur eine Einbahn-­Straße. Soll heißen, dass die menschliche Leber (wer auch sonst) aus fast allen C3-Körpern wieder Glucose (C6) bauen kann, aus C2-Körpern und den daraus gemachten Fetten dann aber nicht mehr. z Circle Line – der Zitratzyklus

Wir sind bei der zentralen Drehscheibe des Stoffwechsels angelangt dem Zitratzyklus, der auch nach seinem Entdecker Krebs-Zyklus genannt wird. In der ­Analogie der Verkehrswege sind wir hier völlig frei. Wir können bei der Circle Line bleiben – gerade jetzt, seit sie seit Mai 2022 durch die neue Elisabeth-Line entlastet wird. Wir können aber auch gedanklich ins Auto umsteigen und in einen gigan­ tischen Kreisverkehr einbiegen – denken Sie an den riesigen Kreisverkehr rund um den Arc de Triomphe in Paris. In acht pfiffigen chemischen Umwandlungen wird der kleine Essigsäure-Rest von Acetyl-CoA komplett in Kohlendioxid zerlegt – quasi verraucht. Dabei ­werden

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135 6.3 · Die Acetyl-CoA-Einbahnstraße mündet in den…

jede Menge Elektronen geerntet und es entsteht sogar noch ein GTP-Molekül durch Substratkettenphosphorylierung. Witzbolde sagen, dass der eigentliche Krebs-Zyklus aus Lernen und Vergessen besteht. Da mag schon etwas dran sein. Durch vernetztes Lernen könnte er vielleicht nachhaltiger gelernt werden. Zum einen gibt es eine ausgefeilte Regulation rund um den Zyklus. Dann gibt es in ­Bakterien den Zyklus so herum, aber auch anders herum. Und schließlich gibt es auffüllende Reaktionen, Abkürzungen und jede Menge Abzweigungen in andere Biosynthese-Wege. Hier ist es wohl wichtig, genau auszuloten, wofür man was lernt. Innerhalb des Krebs-Zyklus sind die einzelnen Reaktionen in wirklich allen Lebensformen streng konserviert. Keines der Zwischenprodukte des Krebs-Zyklus ist, im Gegensatz zu denen der Glycolyse, phosphoryliert. Wie soll das alles zufällig und auch noch gleichzeitig entstanden sein? Mögliche Antworten gibt es in 7 Abschn. 6.7. Dort vergleichen wir den Krebs-Zyklus mit einem magischen Kreisverkehr.  

z OxPhos – die oxidative Phosphorylierung

Sollte die oxidative Phosphorylierung (OxPhos) immer noch eine U-Bahn-Linie sein, dann ist sie eine sehr, sehr komische – sie läuft gar nicht mehr auf Kohlenstoffbasis, sondern vor allem durch das Pumpen von Elektronen, was indirekt auch zum Pumpen von Protonen führt. Die OxPhos-Maschinerie besteht aus fünf Superkomplexen, die fantasievoll I, II, III, IV und V genannt wurden. Die Komplexe I, III und IV sind allesamt elektronengetriebene Protonenpumpen. Komplex II ist so eine Art Adapter-­Komplex, der manche Elektronenzwischenspeicher in die Atmungskette quetschen kann, die Komplex I nicht akzeptieren würde. Komplex IV nimmt endlich Sauerstoff zur Hand, um Elektronen loszuwerden und Wasser zu erzeugen. Komplex V schließlich ist die ATPase selbst, die bereits in 7 Abschn. 5.7 vorgestellt wurde. Sie nutzt den Protonengradienten über der inneren mitochondrialen Membran, um ATP zu erzeugen. Die Elektronen sind weg. Die Energie ist in Form von ATP gespeichert. Alle sind zufrieden. Kaskade: Erstmal wird ein C3-Körper recht kompliziert in Acetyl-CoA umgewandelt. Dieser Vorgang ist im Menschen eine Einbahnstraße. Dann wird jenes Acetyl-CoA in acht cleveren Reaktionen vollständig in Hoch-Energie-Moleküle, aufgeladene Elektronenspeicher und CO2 verraucht. Schließlich erzeugen sehr komplexe mitochondriale Atmungskomplexe ein Protonengefälle  – sie werden durch die Elektronen angetrieben, die am Ende von Sauerstoff aufgesaugt werden. Die ATPase nutzt das Protonengefälle, um ATP zu erzeugen. Wer es einfacher ausdrücken kann, möge sich bitte bei mir melden.  

z Zum Weiterstaunen

Der riesige Pyruvat-Dehydrogenase-Komplex im Fokus ➔ Patel et al. 2014. The pyruvate dehydrogenase complexes: structure-based function and regulation. J Biol Chem. 289(24):16615–23. Review. https://doi.org/10.1074/jbc.R114.563148.

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6.4 

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Kapitel 6 · Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen Prüfungsstoff…

 er Pentose-Phosphat-Pfad und die Abwehr von reaktiven D Sauerstoff-Spezies

Warum kriegt der Pentose-Phosphat-Pfad (PPP) einen Abschnitt für sich allein? Da wir all die anderen Stoffwechselwege in ein, zwei Sammelabschnitten abgefrühstückt haben, ist diese Frage wohl gerechtfertigt. Antwort: Weil er es verdient hat. Während wir die Glycolyse mit einer ziemlich gut ausgebauten Autobahn oder der Londoner Northern Line verglichen haben, ist der Pentose-Phosphat-Pfad eher eine Anzahl verschlungener Wege, vielleicht ein Straßenbahn-Netz in einem Wohnund Geschäftsviertel, wo man viele Sachen erledigen kann. Neben der Glycolyse ist der Pentose-Phosphat-„Pfad“ (pathway) oder auch PPP eine zweite Möglichkeit, um Glucose zu verbrennen bzw. zu oxidieren. Erst wird am ersten C-Atom oxidiert. Diese Reaktion findet allerdings an der Glucose in Ringform statt; der Ring bleibt dabei geschlossen. Aus der Aldehyd-Gruppe, die in einer Halbacetal-Bindung steckt, wird eine Carbonsäure. Dabei ändert sich die Bindungsart  – es entsteht ein innerer Ester, ein Lacton. Im zweiten Reaktionsschritt wird der Ring dann von einer spezialisierten Lactonase geknackt. Das Produkt 6-Phospho-Gluconat liegt in Längsform vor. Nun kann jene Oxidation am dritten C-Atom erfolgen, die das Herauskicken der C1-Einheit als Kohlendioxid-­ Dampf ermöglicht. Im Groben sind diese beiden Oxidationsreaktionen von anderen Stoffwechselwegen schon mehr oder weniger bekannt. Der große Unterschied ist, dass die beiden oxidierenden Enzyme, Glucose-6-Phosphat-Dehydrogenase und ­ 6-­Phosphogluconat-­Dehydrogenase, NADP als Cofaktor verwenden und nicht NAD! Die Glucose wird also für einen guten Zweck verraucht, nicht einfach zur Energie-­ Erzeugung, sondern um Reduktionsäquivalente für Biosynthese-Wege oder für die Abwehr von schädlichen reaktiven Sauerstoff-Spezies zu bilden. Dann bleibt da noch dieses Ribulose-5-Phosphat übrig. In schwindelerregender Präzision wird dieser Zucker mit einem anderen Zucker fusioniert, dann wieder getrennt, vor und zurück, hin und her. Die beiden Hauptreaktionen werden hier von der TPP-abhängigen Transketolase und der „Cofaktor-freien“ Transaldolase ausgeführt – C2- und C3-Körper werden zwischen verschiedenen phosphorylierten Zuckern quasi im Gleichgewicht hin und her transferiert. Ein bisschen, wie bei einem Strickmuster – zwei links, drei rechts … Warum Transketolase und Transaldolase so unterschiedlich funktionieren, ist nicht so leicht zu verstehen. Beide greifen nämlich an der gleichen Keto-Gruppe an. Sowohl für einen C2- als auch einen C3-Transfer muss am Kohlenstoff der K ­ eto-Gruppe eine sich anstauende negative Ladung abgebaut werden. Die Transketolase benutzt Thiaminpyrophosphat (TPP), einen Cofaktor, der nie genug Elektronen haben kann und deswegen ganz leicht elektronenziehende Kohlenstoff-Kohlenstoff-Bindungen eingeht. Die Transaldolase hält hingegen eine Lysin-Seitenkette parat, mit der sie den zu transferierenden Zuckerteil in einer Schiff'schen Base bindet  – zwischen jenem Lysin und der Zucker-Carbonyl-Gruppe entsteht eine C=N-Doppelbindung, unter Wasserabspaltung. Elektrische Unterschiede zwischen diesen beiden H ­ erangehensarten sowie eine Anzahl an präzisen Protonierungs- und Deprotonierungsreaktionen drum herum führen dann zu einem C2- beziehungsweise C3-Transfer.

137 6.5 · Fettsäuren verbrennen, aber auch mal selbst herstellen

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Am Ende könnte Ribose-5-Phosphat stehen  – praktisch, wenn man gerade ­ ucleotide synthetisieren will. Es könnte auch Erythrose-4-Phosphat gemacht N werden, das für die Biosynthese von aromatischen Aminosäuren benötigt wird, oder aber Glyceraldehyd-3-Phosphat und Fructose-6-Phosphat, die sich beide nahtlos wieder in die Glycolyse einfügen und noch einmal durch den PPP laufen könnten – so kann ein gesamtes Glucose-Molekül einzig zu NADPH und CO2 veratmet werden. Diese letzte Version des PPP läuft genau so besonders viel in ­Geweben ab, die mit vermehrten reaktiven Sauerstoff-Spezies zu tun haben – so zum Beispiel in roten Blutkörperchen, die das „Gefahrgut“ Sauerstoff transportieren, und auch in den schmutzigen Steroid-Fabriken der Nebennierenrinde. Karussell: Der Pentose-Phosphat-Pfad (PPP) ist eine besondere Form, Glucose zu verwerten. Er kann sehr flexibel gestaltet werden. Produkte können verschiedene C4- oder C5-Zucker sein. Es entstehen auch Reduktionsäquivalente in Form von NADPH. Diese können direkt zur Abwehr von reaktiven Sauerstoffspezies oder für Biosynthesen verwendet werden. Beim PPP geht es etwas gemächlicher zu als bei der Glycolyse. z Zum Weiterlesen

Kai Tittmann mochte schon immer Thiamin-Pyrophosphat-haltige Enzyme. Hier sein Porträt von Transaldolase und Transketolase ➔ Tittmann K. 2014. Sweet ­siblings with different faces: the mechanisms of FBP and F6P aldolase, transaldolase, transketolase and phosphoketolase revisited in light of recent structural data. Bioorg Chem. 57:263–280. https://doi.org/10.1016/j.bioorg.2014.09.001.

6.5 

Fettsäuren verbrennen, aber auch mal selbst herstellen

Fette und Öle sind lecker. Schließlich sind sie Geschmacksträger. Man denke nur an Chili- oder Pfefferminzöl, vielleicht aber auch das Öl aus gerösteter Sesam-Saat. Vor allem sind Fette aber Energiespeicher. Hier denke ich an meinen dicken Bauch – was habe ich dort doch für ein stattliches Energiereservoir. Wir brauchen hier gar keine Rechnung auf einem Bierdeckel anzufangen – ganz bestimmt würde ich eher verdursten als verhungern. Also geht dieser Abschnitt darum, wie in der Zelle Fettsäuren verbrannt, aber auch, wie sie zusammengebaut werden. Die Verbrennung von Fettsäuren in den Mitochondrien der Zelle wird β-Oxidation genannt. Ein komisches Wort, das in der traditionellen α-β-Benennung von Carbonsäuren seinen Ursprung hat. Das Kohlenstoff-Atom der Carboxylgruppe wird nicht gezählt. Das Kohlenstoff-Atom daneben heißt α und das dritte Kohlenstoff-­Atom heißt β. So ist das halt. Wichtiger ist, was an diesem β-Kohlenstoffatom, also dem dritten C-Atom einer Fettsäure, passiert. Dort wird Schritt für Schritt oxidiert. Chemisch ist diese Konstellation etwas Besonderes: Erstmal ist das α-C-Atom durch seine Nähe zur Carboxylgruppe meist ziemlich sauer und formal dazu geneigt, ein Proton abzugeben. Gleichzeitig kriegt der β-Kohlenstoff einen immer positiveren Drall. Am Ende einer Runde β-Oxidation gibt es eine aktivierte Fettsäure, die an der β-Position eine Keto-Gruppe trägt. Diese Verbindung wird durch den Angriff der

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Kapitel 6 · Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen Prüfungsstoff…

Thiolgruppe eines Moleküls Coenzym A am β-C-Atom gespalten – es entstehen eine um zwei Kohlenstoff-Atome verkürzte aktivierte Fettsäure und ein Molekül ­Acetyl-CoA. Lange dachten Metabolismus-Forscher, dass die Synthese von Fettsäuren die ­genaue Rückreaktion der β-Oxidation sei. Irgendwie stimmt das auch fast. Es ist nur so, dass so ziemlich alle Schritte anders laufen – und dann ist da noch dieses „kleine“ Enzym, die Fettsäure-Synthase. Ein riesiges, gut 2500 Aminosäuren umfassendes Polypeptid ist das Herzstück für diese Maschinerie, schon eine tolle Fabrik. Lange bevor die Kristallstruktur der Fettsäuresynthase in den 2000ern aufgeklärt wurde, war sie in Biochemie-Büchern schick als Yin-Yang-Kreislauf dargestellt. Und dann ist da noch das Problem mit dem Lagern von Fettsäuren. Freie Fettsäuren sind nur begrenzt wasserlöslich und haften sich an alle möglichen Oberflächen. Im Körper werden sie hübsch gebunden an Albumin verschickt. Verschiedene Arten von Fettgewebe gibt es im Körper, die im Exkurs „Von Hummeln und braunem, weißem und beigem Fettgewebe“ nur kurz vorgestellt werden.

Exkurs: Von Hummeln und braunem, weißem und beigem Fettgewebe

Es ist kalt draußen und es liegt noch Schnee. Aber schon ab einer Temperatur von 2  °C fliegen Hummeln umher, zum Beispiel im Lavendel draußen in unserem Garten. Wie machen die das? Na klar, sie sind größer und schwerer als Bienen. Auch haben sie ein viel dichteres Haarkleid. Darüber hinaus können sie aber auch Wärme erzeugen  – einfach so  – indem sie die ein oder andere biochemische Reaktion im Kreis laufen lassen, wie eine Art Stand-Heizung für das kalte Auto im Winter. Welche Reaktion das genau ist, wird immer noch hitzig diskutiert. Bisher waren es die gleichzeitig aktiven Enzyme Phosphofructo­ kinase und Fructose-1,6-bis-Phosphatase. Der Mensch kann manchmal auch Wärme erzeugen, meistens im braunen Fettgewebe. Wir alle lieben braunes Fettgewebe. Etwa 5 % des gesamten Körpergewichts eines Neugeborenen besteht daraus. Es hilft Babys zu überleben. Es schützt den Sprössling vor Auskühlung und jeder Papa oder jede stolze Tante kann von der Heizwirkung eines Babys

berichten. In braunem Fettgewebe ist viel des Proteins UCP1 zu finden; UCP1 wird auch Thermogenin genannt. Dieses Protein entkoppelt Atmungskette und ATP-Synthese. Die Protonen können zurückfließen und der Spaß kann erneut beginnen – dabei entsteht Wärme. Erwachsene Menschen haben leider nicht mehr so viel braunes Fettgewebe. Das, wovon viele von uns mehr als genug haben, ist weißes Fettgewebe. Hoffnungsvoll stimmen Erkenntnisse, dass man weißes Fett „anbräunen“ kann – es entsteht beiges Fett, das zu einem gewissen Grad ebenfalls Wärme erzeugen kann. Zwar ist etwas UCP1/Thermogenin auch im b ­ eigen Fett zu finden. So einfach ist dort die Wärme-­Erzeugung dann aber doch nicht. Es scheint, dass Energie ein SEHR kostbares Gut ist, das man nicht durch einen einzigen Kurzschluss aus der Welt schaffen kann. Viel mehr wird im beigen Fett an so einigen Stellschrauben im Metabolismus gedreht, damit uns nicht kalt ist. Zum Weiterlesen: Recht aktuelle Studien sehen die Glycerol-3-Phosphat-­

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139 6.6 · Regulation von Stoffwechselwegen und Metabolit-­Netzwerken

Dehydrogenase bei der Hummel-Standheizung weit vorne ➔ Masson et al. 2017. Mitochondrial glycerol 3-phosphate facilitates bumblebee pre-flight thermogenesis. Sci Rep. 7(1):13107. https://doi. org/10.1038/s41598-017-13454-5. Ein provokanter Artikel zum Thema „Es muss nicht immer UCP1/

Thermogenin sein …“ ➔ Brownstein et al. 2022. ATP-consuming futile cycles as energy dissipating mechanisms to counteract obesity. Rev Endocr Metab Disord. 23(1):121–131. Review. https://doi.org/10.1007/s11154-02109690-w.

Kurz gesagt: Der Abbau einer Fettsäure zu C2-Häppchen – Acetyl-CoA – klappt hervorragend. Ab und zu muss sich unser Metabolismus aber bei verzweigten ­Fettsäuren und auch mit solchen, die eine ungerade Anzahl von Kohlenstoff-Atomen beherbergen, etwas anstrengen. Die Synthese von Fettsäuren läuft im Prinzip genau entgegengerichtet ab, einzig jeder einzelne Schritt ist anders. Die C2-Einheiten sind durch Carboxylierung aktiviert; es wird stets NADPH für Reduktionen verwendet. Insgesamt werden Fettsäuren im Cytosol von einem Monster-Protein-Komplex ­gemacht, der fast so groß wie ein Ribosom ist. Im Mitochondrium dagegen läuft die β-Oxidation ab. z Für den Faktencheck

Hier nur eine kleine Erinnerung an die Abhandlung zu Fetten in 7 Abschn. 2.3. Wohl die würdigste Quelle zur Strukturaufklärung der Fettsäure-Synthase durch die Arbeitsgruppe von Nenad Ban, einem ehemaligen Mitarbeiter des ­Kristallografen Tom Steitz. Manche meinen ja, Ban hätte nur an diesem Protein gearbeitet, da er es von der Größe her mit einem Ribosom verwechselt hatte ➔ Maier et al. 2010. Structure and function of eukaryotic fatty acid synthases. Q Rev Biophys. 43(3):373–422. Review. https://doi.org/10.1017/S0033583510000156.  

6.6 

 egulation von Stoffwechselwegen R und Metabolit-­Netzwerken

Lokale und autonome Regulation ist wie ein Thermostat dazu da, dass ein Stoffwechselweg nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Durchsatz hat. Ein gutes Beispiel ist die Regulation des Pentose-Phosphat-Pfads: Der geschwindigkeitsbestimmende Schritt ist die Oxidation von Glucose-6-Phosphat; die Glc-6-P-Dehydrogenase wird praktischerweise von NADP aktiviert und von NADPH stark gehemmt: Es wird hier also so viel NADPH produziert, wie es das Enzym Glc-6-P-­Dehydrogenase zulässt; sowie NADPH aber verbraucht wird, wird nachproduziert – NADPH on-­demand sozusagen.

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Kapitel 6 · Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen Prüfungsstoff…

Eine besondere Art, Temperaturschwankungen der Mikroumgebung wahrzunehmen, sind Thermometer aus RNA. In Bakterien und manchen Viren sind diese Strukturen bisher am besten untersucht. Bei niedrigeren Temperaturen verhindert eine Stamm-Schleife in der 5´-untranslatierten Region die Expression eines Gens. Wenn die Temperatur aber steigt, dann schmilzt jene RNA-­Sekundärstruktur hinweg und das betreffende Gen kann transkribiert werden. Diesen Mechanismus benutzen auch humanpathogene Bakterien – wenn’s draußen kalt ist, dann müssen sich die kleinen ja nicht allzu sehr anstrengen. Wenn die Temperatur aber auf 37 °C klettert, ist man sehr wahrscheinlich im Körper eines möglichen Wirts gelandet. Höchste Zeit für die Biester, sich zu vermehren und vielleicht auch noch das ein oder andere Toxin zu bilden. Konform: Die Regulation von einzelnen Stoffwechselwegen ist mit das ­Spannendste in der Biochemie. Im Kleinen sind es Proteine, die von verschiedenen Verbindungen mal gekitzelt und stimuliert, mal gehemmt werden. Im ganzen Organismus kommen Hormone und schließlich auch das Gehirn ins Spiel. Schon faszinierend, dass ein Gedanke oder ein Gefühl einen biochemischen Stoffwechselweg anschalten können. Überall ist Regulation, auch da, wo früher keine vermutet wurde. Für immer mehr „Standard“-Metabolite entdecken wir, dass sie auch Signal-Eigenschaften haben. Ein neuer Trend, der wohl noch eine Weile andauern wird. Dabei geht es nicht nur um Zell-interne Feedback-Loops, sondern auch um Zell-Zell-Kommunikation und das Erspüren von Änderungen in der Mikroumgebung einer Zelle. z Hier gibt es mehr über Regulation

Twittenhoff et al. 2020. An RNA thermometer dictates production of a secreted bacterial toxin. PLoS Pathog. 16(1):e1008184. https://doi.org/10.1371/journal. ppat.1008184. Hier das Konzept, dass aus „langweiligen“ Metaboliten spannende Regulator-­ Moleküle werden können ➔ Haas et al. 2016. Intermediates of Metabolism: From Bystanders to Signalling Molecules. Trends Biochem Sci. 41(5):460–471. Review. https://doi.org/10.1016/j.tibs.2016.02.003. Und wem das noch nicht eindrucksvoll genug ist, hier drei Paper, die als Gemeinsamkeit haben, dass sie allesamt einen bestimmten Metaboliten hochhalten, alle drei aber einen anderen! Claudio Mauro ist Lactat-Fan ➔ Certo et al. 2020. Lactate: Fueling the fire starter. Wiley Interdiscip Rev Syst Biol Med. 12(3):e1474. Review. https://doi. org/10.1002/wsbm.1474. Glc-6-P ist auch etwas Tolles ➔ Rajas et al. 2019. Glucose-6 Phosphate, A Central Hub for Liver Carbohydrate Metabolism. Metabolites. 9(12):282. Review. https://doi.org/10.3390/metabo9120282. Ed Chouchani mag Succinat nur zu gerne ➔ Murphy & Chouchani. 2022. Why succinate? Physiological regulation by a mitochondrial coenzyme Q sentinel. Nat Chem Biol. 18(5):461–469. Review. https://doi.org/10.1038/s41589-022-01004-8.

141 6.7 · Wie könnte der zentrale Metabolismus entstanden sein?

6.7 

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Wie könnte der zentrale Metabolismus entstanden sein?

Noch im Jahr 2000 verglich der englische Biochemiker Leslie Orgel die Entstehung des Krebs-Zyklus einzig mit „Magie“. Ein magischer Zyklus – irgendwie vergleichbar mit dem magischen Kreisverkehr im englischen Städtchen Swindon (. Abb. 6.3). Das Haupt-Argument von Orgel war, dass die acht Reaktionen des Krebs-Zyklus erst zusammengenommen biochemisch wertvoll sind  – es müsste also die gleichzeitige zufällige Entstehung von acht Reaktionszentren in acht ­Enzymen angenommen werden. Ja, da kann man schnell auf Magie als Erklärung ausweichen. Nicht so sehr in Swindon, eher beim Krebs-Zyklus hat sich in den letzten Jahren so einiges geändert. Eine ziemlich neue Theorie zur Entstehungsgeschichte des Krebs-Zyklus hat der Biochemiker Markus Ralser entwickelt. Seine Arbeitsgruppe entdeckte, dass einige der zentralen Metaboliten schon IMMER die jeweiligen Reaktionen gemacht haben  – auch ohne Enzyme und ohne Zellen. Mittlerweile wissen wir, dass ALLE Reaktionen des Krebs-Zyklus auch spontan ­ablaufen, wenn sie durch Sulfat-Radikale gestartet werden.  

..      Abb.  6.3  Der magische Kreisverkehr in Swindon. Im Englischen erhalten besondere Verkehrsformen schnell auch besondere Namen. So zum Beispiel heißt der Riesen-Kreisverkehr im südenglischen Städtchen Swindon magic roundabout. Dieser magische Kreisverkehr ist aus fünf kleineren Kreisverkehren zusammengesetzt und sorgt regelmäßig für verzweifelte Autofahrer und Beziehungskrisen hinterm Lenkrad. Nicht magisch, sondern befeuert durch Sulfat-Radikale, hat sich wohl der Krebs-Zyklus ursprünglich in Gang gesetzt. Sulfat-Radikale entstehen beispielsweise beim Zerfall von Persulfat-Salzen. Den Funken, der überspringt, stellt eine Wunderkerze dar. [Bildnachweis: Verkehrsschild, Stephen, AdobeStock; Wunderkerze, sunakri, AdobeStock]

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Kapitel 6 · Die Renaissance des Stoffwechsels – vom trockenen Prüfungsstoff…

Das macht sehr viel Sinn, oder? Ein paar ganz brauchbare Reaktionen laufen spontan in der Ursuppe ab. Dann entstehen rundherum Enzyme, um diese Reaktionen noch effizienter zu machen. Und dann entstehen Zellmembranen. Fertig ist der eingefrorene Zufall. Dieses Szenario erklärt auch, warum der Krebs-Zyklus so anders ist als die Glycolyse. In der Glycolyse gibt es NUR Metaboliten mit einem oder gar mit zwei Phosphat-Resten. Im Krebs-Zyklus ist KEIN einziges Zwischenprodukt phosphoryliert. Katalysator: Der Krebs-Zyklus gilt als die zentrale Drehscheibe des Stoffwechsels. Lange war unklar, wie er entstanden sein könnte. Neueste Forschung deutet darauf hin, dass die Reaktionen dieses Kreislaufs auch unter Bedingungen ablaufen, wie sie in der Ursuppe hätten herrschen können. Nicht-enzymatische, präbiotische Reaktionen scheinen also neuerdings entscheidend für das Entstehen von Leben gewesen zu sein. z Zum Nachlesen

Das Wort „Magie“ kommt nicht in vielen biochemischen Veröffentlichungen vor. Hier das Originalzitat von Herrn Orgel ➔ Orgel LE. 2000. Self-organizing biochemical cycles. PNAS. 97(23):12503–7. https://doi.org/10.1073/pnas.220406697. Die rhetorische Gegenfrage von Markus Ralser ➔ Ralser M. 2018. An appeal to magic? The discovery of a non-enzymatic metabolism and its role in the origins of life. Biochem J. 475(16):2577–2592. Review. https://doi.org/10.1042/BCJ20160866. Über eine der bahnbrechenden Arbeiten aus dem Hause Ralser hat auch der Autor dieses Buchs berichtet ➔ Mueller JW. 2017. Am Anfang war Sulfat. ­BIOspektrum Journal Club. 23(3):292.

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Das einzige wirklich grüne Kapitel Inhaltsverzeichnis 7.1

 ump it, pump it – das Ernten P von Photonen führt zum Pumpen von Elektronen – 146

7.2

 s werde Luft – wie entreiße E ich Wasser seine heiß geliebten Elektronen – 147

7.3

 as wohl langsamste Enzym D der Erde zieht den Kohlenstoff auf die dunkle Seite der Photosynthese – 148

7.4

 flanzen – BiosyntheseP Weltmeister von sekundären Metaboliten und … von HOLZ – 150

7.5

 esunde und produktive G Pflanzen in Zeiten des Klimawandels – 152

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 J. W. Mueller, Endlich Biochemie verstehen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9_7

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Kapitel 7 · Das einzige wirklich grüne Kapitel

Dieses Buch beschäftigt sich zum allergrößten Teil mit dem beliebtesten Modellorganismus der biomedizinischen Forschung – nämlich dem Menschen selbst. Im Uni-Alltag ist an der Biochemie des menschlichen Körpers zum Beispiel praktisch, dass wir uns nicht mit den ganzen Biosynthese-Wegen einzelner Aminosäuren rumquälen müssen. Es reicht aus, die meisten Aminosäuren als „essenziell“ zu bezeichnen und mit der Nahrung aufzunehmen. Außerdem gilt von dem, was wir bei Glycolyse und Krebs-Zyklus gelernt haben, eh das meiste für alle Organismen, basta. Manche Einschränkung hingegen gibt es nur beim Menschen und seiner Säugetier-­Verwandtschaft. Pflanzen können etwa ganz prima aus Fetten Zucker machen – im sogenannten Glyoxylat-Zyklus, einer anabolen Variante des Krebs-­ Zyklus. Ab und an haben wir in diesem Buch die pflanzlichen Biosynthese-­ Weltmeister bereits erwähnt, so geschehen bei den Isoprenoiden (7 Abschn. 2.5), die „im Grünen“ wesentlich vielfältiger daherkommen als „im Roten“. Ist bei diesen Farben klar, was gemeint ist? Manche Leute teilen verschiedene Bereiche der Biotechnologie in bis zu zehn unterschiedliche Farben ein! Wir wollen uns hier mit der roten Biotechnologie von Tier und Mensch und der grünen der Pflanzen zufriedengeben. Bitte jetzt nicht mit grünen Fröschen oder roten Zimmerpflanzen daherkommen. Vielen Dank. Vitamin C ist ja so gesund  – es kommt zu uns in der Form von Kartoffeln, Zitrusfrüchten oder Brausetabletten (. Abb.  7.1). Ist wirklich kein Tier in der Lage, dieses lebenswichtige Antioxidationsmittel selbst herzustellen? Ganz „einfache“ Antwort aus einer genetischen Studie aus dem Jahre 2011: Sowohl Katz und Maus als auch Schwein und Kuh können ihr Vitamin C immer noch selbst erzeugen. Allerdings haben unabhängig voneinander echte Knochenfische (aber keine anderen Fische), Fledermäuse (aber keine sonstigen nahen Verwandten), Meerschweinchen (aber keine anderen Nager) sowie allen Affen einschließlich des Menschen (aber mit Ausnahme von Lemuren) die Fähigkeit zur Vitamin-­ C-­ Synthese verloren. Total easy, oder?  

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..      Abb. 7.1  Vitamin C schützt uns vor Oxidation, Krankheiten und Altern. Wir nehmen Vitamin C meist in der reduzierten Form (links) auf. Es kann Elektronen absorbieren und dabei oxidiert werden (Mitte). Vitamin C ist mehr oder weniger in jedem frischen Lebensmittel enthalten. Recht viel steckt in Zitrusfrüchten, aber auch in Kartoffeln. Sanddorn – meist an den deutschen Küsten zu finden – ist in Mitteleuropa ein Rekordhalter, zumindest was den Gehalt an Vitamin C angeht. [Fotonachweis: Sanddorn, © emberiza stock.adobe.com]

145 Das einzige wirklich grüne Kapitel

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Mehrfach ist also das erste Gen des Vitamin-C-Biosynthese-Wegs, jenes Gen für die L-Gulono-γ-Lacton-Oxidase, ausgefallen und der Defekt ist beibehalten worden, da manche von uns (in diesem Fall sind „wir“ alle Tiere) ihren Vitamin-C-­ Bedarf auch über die Nahrung decken können (. Abb. 7.1). Na ja, bis der Mensch auf die Idee kam, für viele Tage auf‘s Meer zu fahren, um Neue Welten zu entdecken. In jenen Zeiten gab es dann die mit Vitamin-C-Mangel einhergehende Erkrankung Skorbut. Was Pflanzen können, können nur Pflanzen. Dieser adaptierte Werbespruch ist zwar nicht komplett wahr, soll aber andeuten, dass Pflanzen, neben Algen und einigen Bakterien, Meister in ziemlich exotischen Biosynthese-Wegen sind. Allen voran nehmen sie Wasser aus dem Boden und Kohlendioxid aus der Luft auf und wandeln dies bei Sonnenschein in Zucker und Sauerstoff um:  

6 CO 2 + 6 H 2 O → C6 H12 O6 + 6 O 2 So schlimm sieht sie dann ja doch nicht aus, die Netto-Reaktion der Photosynthese. Viele Details gibt sie aber auch nicht preis. Außerdem will nichts in dieser Gleichung von allein ablaufen. Hier muss ordentlich nachgeholfen werden. Es folgt eine kleine Übersicht über die pflanzliche Photosynthese. Als teilweise lästige Untermieter leisten sich Pflanzenzellen neben Mitochondrien auch noch Chloroplasten. Sie haben dann also gleich zwei teil-­autonome Zellorganellen mit eigenem Genom, eigener Gen-Expression sowie unzähligen Import-Ereignissen auf der einen Seite sowie retrograder Signalübertragung auf der anderen Seite. Irgendwie muss die Gen-Expression der Organellen und ihr sonstiges Verhalten mit dem Kern-Genom abgestimmt werden. Genau so wie Mitochondrien sind Chloroplasten dadurch entstanden, dass sich eine größere Zelle eine geeignete kleinere Zelle einverleibt hat, die dann in der anderen Zelle weiterbestand. Chloroplasten sind der Ort der Photosynthese, sie spielen aber auch bei anderen Biosynthesewegen eine wichtige Rolle. Kooperativ: Schauen Sie sich einmal um. Fast überall auf der Welt sind Pflanzen oder ihre kleineren Verwandten – Algen oder photosynthetische Bakterien – zu finden. Selbst im traurigsten und dunkelsten Büro kann sich die eine oder andere Pflanze halten. Pflanzen betreiben Photosynthese in speziellen Organellen, den Chloroplasten. z Zum Weiterlesen

Iain Johnston sitzt in Norwegen und denkt über unsere Organellen nach ➔ ­Johnston IG. 2019. Tension and Resolution: Dynamic, Evolving Populations of Organelle Genomes within Plant Cells. Mol Plant. 12(6):764–783. Review. https:// doi.org/10.1016/j.molp.2018.11.002. Wer kann, der kann: Vitamin-C-Synthese in verschiedenen Vertebraten ➔ Drouin et al. 2011. The genetics of vitamin C loss in vertebrates. Curr Genomics. 12(5):371–8. https://doi.org/10.2174/138920211796429736. Über den Tellerrand schauen, ist immer gut: von roten und grünen ­Stoffwechselwegen ➔ Günal et al. 2019. Sulfation pathways from red to green. J Biol Chem. 294(33):12293–12312. Review. https://doi.org/10.1074/jbc. REV119.007422.

146

7.1 

Kapitel 7 · Das einzige wirklich grüne Kapitel

 ump it, pump it – das Ernten von Photonen führt zum P Pumpen von Elektronen

Der Großteil des Photosynthese-Apparats besteht aus zwei riesigen Proteinkomplexen, den Photosynthese-Komplexen PSI und PSII. Photosynthese-Komplex I ist eine in der Membran schwimmende, runde Scheibe, die mit farbigen Cofaktoren vollgestopft ist (. Abb.  7.2). Diese Cofaktoren fungieren als Solarpanele und  

7

..      Abb.  7.2  Antennenkomplexe im Grünen und auf dem Dach. Porphyrin ist großartig darin, Metalle festzuhalten. Mit einem Magnesium-Ion und ein paar zusätzlichen Schnörkeln hier und da ist die Struktur des Chlorophylls fertig (hier gezeigt Chlorophyll a). Rechts ist noch Lycopin dargestellt, das zur Gruppe der Carotinoide gehört und reichlich in Tomaten enthalten ist. Die beiden Antennenpigmente verstehen sich blind. Untereinander können sie Energie strahlungsfrei austauschen  – irgendwie so ähnlich wie Induktionsherd und Kochtopf. Lichtsammelkomplexe sind mit vielen weiteren Molekülen vollgestopft, die so ähnlich aussehen. Diese Anlagen können realistisch die Energie der Sonne aufsaugen. [Abbildungsverweis: Antennenwald, © Zsolt Biczó stock.adobe.com]

147 7.2 · Es werde Luft – wie entreiße ich Wasser seine heiß geliebten…

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a­ bsorbieren blaues und rotes Licht – daher der schöne Grünton der meisten Pflanzen. Die Energie kann wegen des Förster-Resonanz-Energie-Transfers quasi verlustfrei zwischen verschiedenen Pigmenten hin und her springen. Die Antennen leisten hier wirklich ganze Arbeit. Sie erhöhen deutlich die Effizienz des gesamten Lichtsammelapparats. Die aktivierten Elektronen gelangen schließlich zur zentralen Elektronen-­ Transportkette, die aus ein paar Chlorophyll-Molekülen, etwas Phyllochinon und drei Eisen-Schwefel-Clustern besteht. Angetrieben von der Energie des Lichts, pumpt diese Maschinerie Elektronen des Plastocyanins im Thylakoid-Lumen zum Ferredoxin auf der Stroma-Seite des Chloroplasten. Das Ganze ist so ähnlich wie Eier trennen beim Backen – immer, wenn Elektronen auf eine Seite der Membran gepumpt werden, wird gleichzeitig ein Protonengradient aufgebaut. Daraus kann am Ende ATP gewonnen werden.

7.2 

 s werde Luft – wie entreiße ich Wasser seine heiß E geliebten Elektronen

Wir wissen, dass sich Wasserstoff und Sauerstoff gegenseitig ganz toll finden. Die Reaktion zwischen den beiden Elementen wird auch als Knallgas-Reaktion bezeichnet. Da ist richtig Bums dahinter! Dabei entsteht Wasser. Diesmal spreche ich aber nicht von den besonderen Eigenschaften des Wassers, mit denen dieses Buch angefangen hat (7 Kap. 1). Nein. Bei der Photosynthese geht es darum, wie man Wasser wieder auseinanderpflückt, also wie man es am besten kaputt macht. Wer Sauerstoff kennt, der weiß, dass dieses Element im Periodensystem nach Fluor die zweithöchste Elektronegativität hat. Sauerstoff gibt also seine einmal gewonnenen Elektronen auf keinen Fall freiwillig wieder her. Chemisch ist es recht einfach, Wasser kaputt zu machen. Man muss „nur“ einen brennenden Magnesium-Span ins Wasser halten. Magnesium verbrennt bei mehr als 2500 °C. Das ist genug thermische Energie, um einen Teil des Wassers zu zersetzen – Pyrolyse ist hier das Zauberwort. Der freigesetzte Sauerstoff fördert die weitere Verbrennung. Pflanzen machen das aber bei Raumtemperatur. Der Spezialist zum Wasser-Kaputt-Machen, der ultimative Wasser-Zerstörer, ist der Photosynthese-Komplex II. Er ist etwas mehr Ei-förmig als Photosynthese-­ Komplex I, hat etwas weniger Antennenpigmente direkt gebunden, interagiert dafür aber mit Antennen-Protein-Komplexen, die ihrerseits mit Antennenpigmenten vollgestopft sind. Photosynthese-Komplex II hat eine bizarre Ansammlung von vier Mangan-, einem Calcium- und fünf Sauerstoff-Atomen an einer Stelle, die auch als Sauerstoff-produzierendes Zentrum bezeichnet wird (. Abb. 7.3). Dieser Mn4CaO5-Cluster mit fast frei herumwabernden (also stark delokalisierten) Elektronen funktioniert wie eine Art Batterie. Sowie Licht auf diesen Komplex scheint, lädt sich die Batterie aber nicht auf, sondern ab. Sie wird systematisch von ­Elekronen leer gepumpt. Dann kommen zwei Moleküle Wasser daher und  – zack! Auf einen Schlag entreißt der hungrige Mangan-­Calcium-­ Cluster den beiden Wasser-­Teilchen vier Elektronen. Die beiden Wasser-Moleküle  



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Kapitel 7 · Das einzige wirklich grüne Kapitel

..      Abb.  7.3  Eine Magnesium-Fackel und das Sauerstoff-erzeugende Zentrum. Eine brennende Wunderkerze muss hier herhalten, an den schönen, hellen Schein eines brennenden Magnesium-­Spans zu erinnern. Daneben ist das Sauerstoff-erzeugende Zentrum OEC (oxygen evolving center) zu sehen – ein schiefer Würfel aus Mangan- (violett), Calcium- (cyan) und Sauerstoff-Atomen (rot). Irgendwo zwischen diesem Ding und dem abgebildeten Rest eines Tyrosins (oben) werden zwei Wasser-Moleküle gebunden. Was dieses Zentrum macht, steht im Haupttext. [Bildnachweis: Wunderkerze, © sunakri stock.adobe.com; OEC, eigene Strukturvisualisierung nach https://doi.org/10.2210/pdb1S5L/pdb]

werden regelrecht zerpflückt. Es entsteht sofort ein Molekül elementarer Sauerstoff, das abdiffundiert. Vier Protonen bleiben übrig, sie werden separat abgeleitet. Komplex: In der sogenannten Licht-Reaktion entstehen Sauerstoff sowie jede Menge ATP und NADPH - tolle Zutaten für allerlei Biosynthesen. Bisher ist aber noch kein einziges Atom Kohlenstoff fixiert. z Zum Weiterlernen

Mittlerweile ist sehr viel zur Struktur der verschiedenen Bestandteile des Photosynthese-­Apparats bekannt. Ich empfehle, bei den Tutorials der Protein Data Bank anzufangen, zum Beispiel mit diesem hier zum Thema Photosynthetische Superkomplexe ➔ Goodsell D. 2020. Molecule of the Month: Photosynthetic Supercomplexes. RCSB PDB-101. https://doi.org/10.2210/rcsb_pdb/mom_2020_4.

7.3 

 as wohl langsamste Enzym der Erde zieht den Kohlenstoff D auf die dunkle Seite der Photosynthese

Erstaunlich, was das Enzym RuBisCO da macht. Im Dunklen zwingt dieses Enzym einem fröhlich frei schwebenden Kohlendioxid-Molekül förmlich die Konformation einer Carboxylgruppe auf und bindet diese dann auch noch an das Empfängermolekül Ribulose-1,5-bis-Phosphat. Manche von uns denken jetzt an irgendwelche Herren und Ringe – „Ein Akzeptor, sie zu knechten, sie alle zu finden, ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden“. Für andere fixiert Ribulose-1,5-bis-­Phosphat einfach etwas Kohlenstoff.

149 7.3 · Das wohl langsamste Enzym der Erde zieht den Kohlenstoff…

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Wir haben das Kohlendioxid-fixierende Enzym RuBisCO bereits in 7 Abschn. 5.5 kurz erwähnt. Das Enzym ist nun wahrlich nicht das, was man perfekt nennen könnte. Es ist ziemlich langsam und schafft gerade einmal drei Kohlendioxid-­Fixierungen pro Sekunde – darum gibt es von diesem Protein so unglaublich viel auf unserem Planeten (Bierdeckel XIV). Darüber hinaus ist es auch noch fahrlässig schlampig. Ziemlich häufig verwechselt es sein eigentliches ­Substrat CO2 mit dem recht ähnlich aussehenden Sauerstoff. Ein oxygenierter Zucker ­entsteht, der die Pflanzenzelle so einigen Reparatur-Aufwand kostet.  

Bierdeckel XIV: Wie viel RuBisCO gibt es auf der Erde? 55 Netto wird jede Menge Kohlenstoff auf der Erde gebunden, ≈ 100 Gt/Jahr = 1017 g Kohlenstoff/Jahr 55 Wegen pflanzlicher Atmung ist der Faktor brutto zu netto ≈ 2 55 Das Molekülmasse von Kohlenstoff ist 12 g/mol 55 RuBisCO hat ein Molekülmasse (pro Untereinheit) von 70.000 g/mol 55 Ein Jahr besteht aus 60 × 60 × 24 × 365 s ≈ 3 × 107 sec 55 RuBisCO schafft maximal die Fixierung von 2–10 Kohlenstoff-Atomen pro Sekunde 55 Im Durchschnitt fixiert RuBisCO ≈ 1 Kohlenstoff-Atom pro Sekunde 55 Alles zusammen macht 3,9 × 1013 g ≈ 4 × 1010 kg aktive RuBisCO 55 Diese Masse ausgedrückt in Anzahl von Autos (1,4 t Durchschnittsgewicht) ≈ 28 Mio. Pkw 55 Als dieses Buch geschrieben wurde, umfasste die Weltbevölkerung 7,8  Mrd. Menschen = 7,8 × 109 55 Gesamtmasse von aktiver RuBisCO pro Erdenbürger beträgt ≈ 5 kg/Mensch auf der Erde Diesen Bierdeckel habe ich mir nicht selbst ausgedacht. Die Rechnung ist in diesem Paper von Ron Milo zu finden ➔ Phillips & Milo. 2009. A feeling for the numbers in biology. PNAS. 106(51):21465–71. https://doi.org/10.1073/pnas.0907732106.

Trotzdem sind fast alle Lebewesen der Erde von dieser einen Reaktion direkt oder indirekt abhängig. Pflanzen gleichen die extrem schlechte Katalyse-Rate der ­RuBisCO dadurch aus, dass sie von diesem Enzym einfach mehr Kopien herstellen. Viel hilft viel. Das macht RuBisCO zu dem Eiweiß, von dem es auf unserem ­Planeten wohl am allermeisten gibt. RuBisCO macht im Großen und Ganzen Folgendes. Zum Aufwärmen schnappt sich eine bestimmte Lysin-Seitenkette ein CO2-Molekül und wird dadurch zum ­Carbamat. Dieses Molekül Kohlendioxid landet am Ende aber nicht im Zucker, es ist rein katalytisch; eine Art An- und Aus-Schalter. Das Carbamat komplexiert dann gemeinsam mit ein paar anderen Aminosäuren ein Magnesium-Ion. Dann wird das CO2-Akzeptormolekül Ribulose-1,5-bis-Phosphat gebunden und von der Keto- in seine Enol-Form überführt. Schließlich kommt ein CO2-Molekül daher. Es dockt erst

150

Kapitel 7 · Das einzige wirklich grüne Kapitel

an das Magnesium an und wird dann an Ribulose-1,5-bis-Phosphat gebunden. ­Danach zerfällt das Produkt in zwei gleiche Glyceraldehyd-3-Phosphat-­Einheiten. Fertig. Und dann geschieht im Calvin-Zyklus etwas, das wir bereits beim Pentose-­ Phosphat-Pfad kennengelernt haben. Zucker mit drei, vier, fünf, sechs und auch noch sieben Kohlenstoff-Atomen werden nahe am Gleichgewicht hin und her geschubst, bis aus den beiden Dreifach-Zuckern, die die RuBisCO liefert, ordentliche C6-Glucose oder wenigstens halbwegs anständige C5-Ribose geworden ist. All dies katalysieren nur zwei Enzyme – Transaldolase und Transketolase – ganz nach dem Strickmuster „zwei links, drei rechts“. z Tipps zum Weiterlesen

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Ein Vergleich von verschiedenen RuBisCOs und ihren immer noch recht sparsamen Katalyse-Raten ➔ Sage RF. 2002. Variation in the k(cat) of Rubisco in C(3) and C(4) plants and some implications for photosynthetic performance at high and low temperature. J Exp Bot. 53(369):609–20. https://doi.org/10.1093/jexbot/53.369.609. Ein ziemlich pfiffiger Ansatz, schnellere RuBisCOs zu finden  – einfach mal ­genauer nachschauen, was die Natur so zu bieten hat ➔ Davidi et al. 2020. Highly active rubiscos discovered by systematic interrogation of natural sequence ­diversity. EMBO J. 39(18):e104081. https://doi.org/10.15252/embj.2019104081.

 flanzen – Biosynthese-Weltmeister von sekundären P Metaboliten und … von HOLZ

7.4 

Pflanzen können sich bewegen – hier kann man sowohl an tagesrhythmische Bewegungen als auch an die Vermehrung und Verbreitung von Samen denken. Im Großen und Ganzen sind Bewegungen aber begrenzt. Pflanzen können Fressfeinden also nicht weglaufen. Wohl darum sind sie Meister der sekundären Metaboliten geworden – all die Gifte und Bitterstoffe sollen Raupen, Gallwespen und sonstigen „Feinschmeckern“ den Appetit verderben. Eine besondere Klasse dieser sekundären Metaboliten sind Glucosinolate. Sie kommen in fast allen Kreuzblütlern vor  – zum Beispiel in verschiedenen Kohlsorten, in Senf und im Meerrettich. Der generelle Aufbau von Glucosinolaten ist in . Abb. 7.4 dargestellt. Im Zentrum aller Glucosinolate ist ein Kohlenstoff-Atom. Es gehört zu einem organischen Rest, der oft von einer Aminosäure abstammt. Das zentrale C-Atom ist an ein Schwefel-Atom gebunden, das wieder an eine Glucose-­Einheit gebunden ist. Von unserem Kohlenstoff-Mittelpunkt geht eine dritte Bindung, eine Doppelbindung, zu einem Stickstoff-Atom ab, das wiederum mit einer OH-Gruppe verknüpft ist. Diese Struktur nennt man eine Aldoxim-­ Gruppe. Klingt das nicht hübsch? Schließlich ist jene OH-Gruppe mit einem Sulfat-­Rest verestert. Fertig. Die zentrale S-C(R)=N(O)-Gruppe ist typisch für alle Glucosinolate. Chemisch raffiniert, ähneln diese Schwefel-haltigen Aldoxim-Verbindungen kleinen Stinkbomben. Wenn die Pflanze angebissen oder sonstwie beschädigt wird, dann zerfallen diese Verbindungen spontan und es entstehen Senföle, die bitter und/oder scharf schmecken können oder gar gifig sind. Tja, und was machen wir  

151 7.4 · Pflanzen – Biosynthese-Weltmeister von sekundären…

7

..      Abb.  7.4  Glucosinolate zur Verteidigung und für leckeren Senf. Hier ist der generelle Aufbau von Glucosinolaten zu sehen. Um die zentrale S-C(R)=N(O)-Einheit gruppieren sich ein Zucker (allermeistens Glucose), eine Sulfat-Gruppe und verschiedenste organische Reste – an dieser Stelle sind Glucosinolate am vielfältigsten. Es braucht nicht besonders viel, damit Glucosinolate auseinanderfallen; Glucose und Sulfat werden freigesetzt und durch interne Umlagerungen entstehen Isothiocyanate. Hoffentlich schützen diese Senföle vor Fressfeinden. Eventuell sind sie auch gut für unsere Gesundheit. Auf jeden Fall ergeben sie ein leckeres Aroma im Senf oder als Beigeschmack in verschiedenen Kohlsorten. [Bildnachweis: Senfsaat und Senf, © Diana Taliun stock.adobe.com]

jetzt damit? Zum einen machen wir Menschen Senf daraus, zum anderen gilt es, durch Züchtung den Anteil an Glucosinolaten zu verringern und zum dritten werden manchen dieser Verbindungen auch gesundheitsförderne Eigenschaften zugeschrieben. Man könnte jetzt von so vielen pflanzlichen Sekundärstoffen reden – denken Sie nur an Koffein, Morphin, Digitoxin, Tetrahydrocannabinol, Nicotin oder vielleicht von den Naturfasern wie Baumwolle oder Hanf. Bitte lesen Sie darüber an anderer Stelle. Ich schließe dieses Kapitel anders ab. Wenn eine Pflanze mal beschädigt ist, dann sollte die geschädigte Stelle möglichst schnell abgedichtet werden. Dazu haben Pflanzen ein ganz besonderes Polymer entwickelt. So oder so ähnlich könnte der Beginn der evolutionären Erfolgsstory eines weiteren sekundären Metaboliten klingen. Die Rede ist von Holz, na ja, erst einmal von Lignin (. Abb. 7.5). Pflanzen besiedelten das Land unseres Planeten vor etwa 450  Mio. Jahren. Diese ersten Siedler waren Gefäßpflanzen, die auf Lignin angewiesen waren. Wohl erst als Fraßschutz entstanden, diente es bald dazu, die Wasserleitungen innerhalb der Pflanze – die Xyleme – zu verstärken. Erst dadurch wurde der Wassertransport von der Wurzel in die Blätter über längere Strecken möglich. Jene längeren S ­ trecken wurden bald noch länger, als Bäume, durch Lignin und Zellulose gestützt, ihre Kronen in den Himmel streckten. Holz war zu allen Zeiten ein wichtiges Bau-, Konstruktions-, Brenn- und Ausgangsmaterial für so wichtige Sachen wie Papier oder Grillkohle. Dabei wollen wir’s hier belassen.  

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Kapitel 7 · Das einzige wirklich grüne Kapitel

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..      Abb.  7.5  Lignin und Holz. Unten links und oben rechts sind Bausteine des Lignins dreieckig ­eingerahmt hervorgehoben. Radikalisch aktiviert polymerisieren sie rauf und runter. Was für ein Durcheinander. Ether-­Bindungen scheinen am häufigsten zu sein, es gibt aber auch C-C-Bindungen zwischen Alkanen und/oder Aromaten sowie fantasievolle Zyklisierungen. Der Vorteil dieses Kuddelmuddels ist, dass ein einzelnes Enzym, zum Beispiel eine Cellulase, hier nicht viel ausrichten kann. Auch chemisch geht da nicht viel, also beim Kochen in Säure oder Lauge. Nur nebenbei, Lignin vernetzt sich auch mit anderen Biopolymeren und schützt darum andere Bestandteile der Zellwand, allen voran die Cellulose, vor dem Abbau durch Mikroorganismen. Auf lange Sicht gewinnen dann doch immer Pilze und Bakterien, aber nur weil sie schon eine sehr spezielle und vielfältige Enzym-­ Maschinerie auffahren. [Bildnachweis: JWM, 2022]

z Zum Weiterlesen

Etwas mehr zum Landgang von Pflanzen, zum Verholzen und mögliche ­Anwendungen ➔ Renault et al. 2019. Harnessing lignin evolution for biotechnological applications. Curr Opin Biotechnol. 56:105–111. Review. https://doi. org/10.1016/j.copbio.2018.10.011.

7.5 

 esunde und produktive Pflanzen in Zeiten des G Klimawandels

Nicht nur wegen Corona stehen wir vor großen Herausforderungen. Es gilt, eine immer größere Weltbevölkerung mit hochwertigen und nachhaltig produzierten Nahrungsmitteln zu versorgen – eine Mammut-Aufgabe. Gleichzeitig gehen wertvolle Anbaugebiete durch Überschwemmung, Erosion, Bebauung und den Klima-

7

153 7.5 · Gesunde und produktive Pflanzen in Zeiten des ...

wandel verloren. Darüber, was wir hier genau in Zukunft tun sollten, wird  – ­besonders in Mitteleuropa – teils engstirnig gestritten. Aber mal der Reihe nach. Wir schauen live in eine Pflanzenzelle: RuBisCO versucht wieder einmal, CO2 und O2 auseinanderzuhalten. Gerade bei höheren Temperaturen ist RuBisCO damit aber ganz schön überfordert. Das ist ziemlich sub-optimal. Die zunehmende Photorespiration schmälert immer mehr die Ausbeute der Photosynthese. Außerdem wird bei steigenden Temperaturen meist auch noch das Wasser knapp – Pflanzen machen dann die Schotten dicht, also ihre Spaltöffnungen. Die Verdunstung sinkt, dafür kommt aber auch kein Kohlendioxid mehr ins Blatt. Die Natur löste dieses Problem mit dem Aufkommen der C4-Pflanzen (C4 nicht wegen irgendeines französischen Fahrzeugherstellers, sondern wegen einer anderen Art der Kohlenstoff-Fixierung). Dabei entsteht nicht wie in 7 Abschn. 7.3 beschrieben ein erstes Produkt mit drei Kohlenstoff-Atomen (C3) – bei C4-Pflanzen entsteht etwas mit vier Kohlenstoff-Atomen, und das auch noch räumlich getrennt von der eigentlichen Dunkelreaktion. Durch diese Vor-Fixierung von Kohlenstoff kann CO2 ganz in der Nähe von RuBisCO angereichert werden. An warmen Tagen und bei Wasserknappheit kann RuBisCO dadurch deutlich effizienter arbeiten, wobei auch noch die Photorespiration reduziert wird. Mais und Zuckerrohr sind tolle Beispiele für landwirtschaftlich bedeutende C4-Pflanzen. Beim Thema, wie dieser coole Stoffwechselweg wohl entstanden sein könnte, wird es schnell sehr kompliziert (ganz so wie beim Vitamin C in 7 Abschn. 7.1). Zigmal ist der C4-Mechanismus wohl in verschiedenen Pflanzenfamilien unabhängig entstanden – ein Beweis, dass er eine pfiffige Lösung für ein dringendes Problem ist. Experten sprechen von einem der komplexesten polyphyletischen Merkmale, die wir kennen. Doch leider wussten wir Menschen vor Tausenden von Jahren – gerade als wir lernten, ein paar Gras-Samen anzubauen, zu ernten und irgendwie essbar (lecker?) zuzubereiten – weder vom C4-Stoffwechsel noch von unserer morbiden Leidenschaft, das globale Klima zu verändern  – eine Leidenschaft, die Leiden schafft. Fast alle unsere Nutzpflanzen sind deshalb „olle“ C3-Pflanzen. Sie Klima-­ resistenter zu ­machen, kostet sehr viel Kraft. Mal eben wilde C4-Pflanzen auf Ertrag zu züchten, klingt utopisch. Könnten wir nicht unseren vorhandenen C3-­Nutzpflanzen etwas auf die Sprünge helfen – irgendwie die Kartoffel oder den Weizen zu einer C4-Pflanze machen? Eine tolle Idee. Außerdem auch eine Idee, an der sich so mancher Züchtungsforscher und so manche Pflanzenphysiologin bereits die Zähne ausgebissen haben. Könnte man vielleicht nicht auch RuBisCO ein bisschen auf Trapp bringen? Dieses Projekt erscheint fast sogar einfacher. Von vielen (sehr vielen!) Pflanzenarten sind verschiedenste Proteinsequenzen für deren individuelle RuBisCO zusammengetragen worden. Von einigen dieser Enzyme kennen wir auch ihr Verhalten, ihre enzymatische Aktivität. Darauf aufbauend, sollten wir doch eine Supa-RuBisCO entwickeln können. Dann würde es „nur noch“ darum gehen, das faule, alte Enzym durch diese tolle, neue RuBisCO zu ersetzen. Wenn wir schon dabei sind: Pflanzen sind unsere Existenzgrundlage, so technologisiert wir auch immer sein mögen. Nach allem, was ich in der Einleitung zu diesem Kapitel geschrieben habe, ist es geboten, unsere Kulturpflanzen unter dem Einsatz modernster Methoden immer weiter zu optimieren. Ganz wichtig, es geht  



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7

Kapitel 7 · Das einzige wirklich grüne Kapitel

hier NICHT um Eingriffe „in die Natur“. Es geht um die weitere Optimierung von Nutzpflanzen, ein Prozess, den unsere Vorfahren in der Steinzeit begonnen haben. Bisher ging es um höhere Erträge und Klima-Verträglichkeit. Darüber hinaus könnten Pflanzen durchaus resistenter gegen Schädlinge oder auch besser verträglich für Mensch und Tier gemacht werden. Ersteres kann durch das Einbringen von Resistenz-Genen gelingen – das kann zum Beispiel ein molekularer Rezeptor sein, durch den die Pflanze schneller den Befall durch einen Pilz merkt, damit sie zeitnah ihren biochemischen Gegenangriff starten kann. Zweiteres ist durch das Entfernen eines Gens möglich – wäre es nicht toll, das Erdnuss-Allergen aus Erdnüssen zu entfernen oder Gluten-armen Weizen zu erzeugen? Warum sollten wir bei all diesen vielversprechenden Ansätzen unser gesamtes wissenschaftliches Wissen beiseite legen und romantisierend so tun, als ob früher – vielleicht im 19. Jahrhundert oder gar in der Steinzeit – alles besser gewesen wäre. Und dann gib es noch den wirklich biotechnologischen Ansatz. Man könnte doch einfachere Pflanzen nehmen – zum Beispiel einzellige Algen – und in großem Maßstab anbauen und daraus allerlei leckere und hochwertige Produkte erzeugen; man bräuchte nicht einmal wertvollen Ackerboden. Warum nicht von Pflanzen lernen und deren Organisations- und Funktionsprinzipien nachbauen  – dann natürlich von Anfang an mit einer tollen RuBisCO? Wir sind bei der synthetischen Biologie angekommen. Vielleicht könnten wir die Photosynthese in einer künstlichen Zelle nachbilden, oder in zellfreien Systemen. Einige Dinge in diesem Kapitel sind noch Zukunftsmusik, ein paar andere könnten sehr bald Realität werden. Kondensat: Pflanzen sind supA! Sie betreiben nicht nur meisterlich Photosynthese, sondern können auch im Sekundär-Stoffwechsel viele tolle Substanzen machen. Auf Glucosinolate und Lignin sind wir etwas genauer eingegangen. Wir müssen auf unsere Pflanzen aufpassen  – das schließt Natur- und Klimaschutz genauso ein wie einen professioneller Umgang mit unseren Nutzpflanzen. z Navigation

Bereits in 7 Abschn. 2.5 wurden pflanzliche Sekundärstoffe aus Isoprenoiden angesprochen. Sauerstoff hat seine Tücken ➔ Hamilton TL. 2019. The trouble with oxygen: The ecophysiology of extant phototrophs and implications for the evolution of oxygenic photosynthesis. Free Radic Biol Med. 140:233–249. Review. https://doi. org/10.1016/j.freeradbiomed.2019.05.003. Eine aktuelle Phylogenie von C4-Genen, etwas verwirrend, vielleicht doch eher was für Fans ➔ Casola & Li. 2022. Beyond RuBisCO: convergent molecular evolution of multiple chloroplast genes in C4 plants. PeerJ. 10:e12791. https://doi. org/10.7717/peerj.12791. Eine ziemliche Sensationsmeldung: Einem Team aus Marburg ist die künstliche CO2-Fixierung in Xeno-Chloroplasten gelungen, die aus natürlichen und künstlichen Teilen zusammengesetzt waren ➔ Miller et al. 2020. Light-powered CO2 fixation in a chloroplast mimic with natural and synthetic parts. Science. 368(6491):649– 654. https://doi.org/10.1126/science.aaz6802 ➔  ➔ Dazu gibt es auch ein News & Views als Einsteigerlektüre : Gaut & Adamala. 2020. Toward artificial photosynthesis. Science. 368(6491):587–588. Comment. https://doi.org/10.1126/science.abc1226.  

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Was Evolution wirklich ist … Inhaltsverzeichnis 8.1

 om Überleben des am besten V Angepassten – 157

8.2

L amarckismus und Darwinismus müssen nicht im Gegensatz zueinanderstehen – 160

8.3

 volution ganz praktisch – E Proteine optimieren durch Evolution – 162

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 J. W. Mueller, Endlich Biochemie verstehen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9_8

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156

Kapitel 8 · Was Evolution wirklich ist …

Ständig sprechen alle von Evolution. Dabei meinen manche „persönliche Entwicklung“, einige meinen „strategische Entscheidungen“, wieder andere eher „Fortschritt“. All das interpretiert soziologisch ziemlich großzügig, was wir unter biologischer Evolution verstehen. In diesem Sinne sind „wir“ Charles Darwin aus den englischen Midlands und seine geistigen Erben (. Abb. 8.1). Was genau hat Darwin eigentlich gemacht, als er 1859 „Über die Entstehung der Arten“ veröffentlichte. Wenn man nachschaut, was in diesem Buch enthalten ist, dann sieht man eine sehr lange Liste von Beispielen für Evolution, etwa: Hier sieht man sie, und hier sieht man sie, und hier, und hier, und hier auch noch. Überzeugungskraft hat nicht nur der Inhalt des Buchs, sondern auch das schiere Druckerzeugnis. Eine Neuauflage der ersten Auflage hat 540 Seiten. Dieser Klopper ist ein echtes Totschlag-Argument. Das alles klingt eher nach Fleißarbeit, nicht unbedingt nach dem wissenschaftlichen Revolutionär, für den wir ihn derzeit manchmal halten. Eventuell war die Zeit einfach reif für die Gedanken, die Darwin in seinem Buch in zähe Druckerschwärze goss. Das meiste davon war in der einen oder anderen Form sowieso schon da gewesen. Man kann sich mit seinem sehr interessanten Lebenslauf auseinandersetzen, seine Probleme mit Mental Health beleuchten oder auch Kontroversen um sein wissenschaftliches Handeln diskutieren, egal. Mit Darwin begann ein neues Zeitalter. Seine Ideen hatten großen Einfluss auf andere Wissenschaften, auf die Kultur und die Gesellschaft überhaupt; vor allem aber revolutionierten sie die gesamte Biologie. Manche sagen, Darwin hätte die Biologie erst zu einer echten Wissenschaft gemacht.  

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..      Abb. 8.1  Darwin ist überall in den englischen Midlands zu finden. Man ist in England schon mächtig stolz auf Darwin, natürlich zeigt man das aber nicht sooo doll. Darwin ist sehr präsent in seinem Geburtsort Shrewsbury in der Nähe von Birmingham. Auch in Birmingham selbst kann man ihn zum Beispiel an der University of Birmingham sehen, wie er als einer von neun klugen Köpfen auf unsere Studierenden herabschaut. In der Reihe der Gelehrten steht er ganz rechts. Zu Darwins 200. Geburtstag wurde ihm zu Ehren auch ein Bier herausgebracht. Damit lässt sich ausgezeichnet über die Evolutionstheorie grübeln und diskutieren. [Fotonachweis: Fotos der UoB, Shirley Knauser, 2014, Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung; Darwin’s Origin, JWM, 2014]

157 8.1 · Vom Überleben des am besten Angepassten

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Theodosius Dobzhansky sagte 1973 so treffend:

»» „Nichts in der Biologie hat einen Sinn, außer im Licht der Evolution.“ Zitiert nach:

Dobzhansky T., 1973. Nothing in biology makes sense except in the light of evolution. Am. Biol. Teach. 35 (3), 125–129. https://doi.org/10.2307/4444260

Damals waren wohl die Kerngedanken Darwins, dass sich Lebewesen überhaupt weiter entwickeln, dass Evolution also tatsächlich stattfindet. Darum zeigt der Baum aller Lebewesen phylogenetische Verwandtschaft auf. Die eigentliche schöpferische Kraft dabei ist die natürliche Selektion, – „survival of the fittest“. Wie genau diese Selektion funktionieren sollte, war dabei der Knackpunkt, um den sich mit Darwin, aber auch noch sehr lange nach ihm heftig gestritten wurde. Der eine Streitpunkt war dabei, dass Selektion ungerichtet agiert. Es gibt keinen größeren Plan umzusetzen; schon gar nicht sind wir Menschen die Krone der Schöpfung (manch eine besorgte Bürgerin würde wohl dazu irgendetwas brummeln, was wie „eher sind wir der Untergang des Planeten“ klingen könnte). Der andere Streitpunkt war und ist immer noch, auf welchem Organisationslevel Selektion agiert. z Hier zwei Übersichtsartikel zum generellen Thema „Evolution“

Ein ziemlich cooles Paper. Frau Bolker fragt unvoreingenommen, wie man einen ­geeigneten Modellorganismus findet für die jeweilige Forschungsfrage ➜ Bolker JA. 2019. Selection of Models: Evolution and the Choice of Species for Translational Research.BrainBehavEvol.93(2-3):82–91.Review.https://doi.org/10.1159/000500317. Etwas theoretisch, dafür aber sehr umfangreich ➜ Papale et al. 2020. Networks Consolidate the Core Concepts of Evolution by Natural Selection. Trends Microbiol. 28(4):254–265. Review. https://doi.org/10.1016/j.tim.2019.11.006.

8.1 

Vom Überleben des am besten Angepassten

Wie funktioniert Selektion? Fangen wir an bei Population vs. Population – eine Art verdrängt eine andere Art aus ihrer biologischen Nische. Hier kann man zum Beispiel an die Stockenten denken, denen es in vielen mitteleuropäischen Stadtparks mittlerweile nicht mehr so gut geht, da sie immer mehr durch die kanadische Wildgans verdrängt werden. Ähnliche Szenarien gibt es immer wieder, wenn invasive Arten, schick Neobiota genannt, zur Plage werden und einheimische Arten verdrängen. Die norwegische Wanderratte Rattus norvegicus ist eine der ersten weltweiten Plagen der Neuzeit, nur diesmal kam sie aus Europa. Ein weiteres Beispiel von Population vs. Population könnte Homo sapiens gegen Homo neanderthalensis gewesen sein, so wie sie sich am Ufer der Düssel im flachen Neandertal in der Nähe vom späteren Düsseldorf gegenüberstanden. Mittels der Analyse von alter DNA wissen wir mittlerweile, dass der Jetzt-Mensch (H. sapiens) den Neandertaler aus dem Neandertal und aus allen anderen Regionen verdrängt hat. Bei seinem Rückzug hat der Neandertaler aber Reste seiner genomischen DNA in unserem Genom hinterlassen, quasi vergessen … Genetiker könnten uns bestimmt erklären, wie das wohl gegangen ist – wir alle sind mit dem Neantertaler verwandt. In manchen von uns steckt mehr Neandertaler-DNA, in anderen

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Kapitel 8 · Was Evolution wirklich ist …

­ eniger. Irgendwie hatten viele von uns das ja bereits geahnt, spätestens wenn man w am Samstagabend durch die Düsseldorfer Altstadt geht, die auch als die längste Theke der Welt bekannt ist. Wir alle kennen die Version vom Gedankengut Darwins, in der der oder die überlebt, der oder die am stärksten ist, wenn wir also das „fittest“ in „survival of the fittest“ als physische Stärke interpretieren. Wenn wir an das Zebra in der Steppe und den Löwen im Schatten eines Baums denken, dann suggeriert dieses Denken, dass der Löwe mit dem Zebra ums Überleben kämpft. Das ist falsch. Wer im Sinne Darwins wirklich miteinander ums Überleben kämpft, zeigt wohl besser . Abb. 8.2. Es sind die einzelnen Individuen der Zebra-Herde, die um das Weiterreichen ihrer Gene kämpfen. Wir sind also bei einem evolutionären Prozess Individuum vs. Individuum innerhalb einer Population angekommen. Der Evolutionsbiologe ­Richard Dawkins beschrieb die natürliche Selektion als das nicht-zufällige Überleben von zufälligen Varianten. Das eine und das andere Zebra stellen zufällige Varianten einer Population dar, der Löwe ist dann die fleischgewordene natürliche Selektion. Es überlebt das Zebra, das schneller ist, mit seinen komischen Streifen schlechter vom Löwen anzupeilen ist oder sonst irgendeinen Selektionsvorteil hat. Richard Dawkins trieb das Ganze noch weiter und definierte nicht den einzelnen Organismus oder vielleicht eine bestimmte Population von Organismen als die Einheit der Selektion, sondern die darin enthaltenen Gene. Demnach will sich jedes Gen mehr verbreiten als andere Gene. Es sind also die Gene in dem einen und dem anderen Zebra, die miteinander wetteifern. Dienen wir alle nur unseren Genen? Wenn wir an die Corona-Pandemie denken, sind wir alle gerade Zeugen  

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..      Abb. 8.2  Zwei Wissenschaftler im Sahara-Sand. Stehen zwei Wissenschaftler in der Wüste plötzlich einem Löwen gegenüber. Sagt der eine: „Wir müssen rennen und zwar sofort!!!“ Der andere: „Das hat doch keinen Zweck. Wir können doch nicht schneller rennen als der Löwe.“ Der erste: „Ich muss gar nicht schneller als der Löwe sein. Ich muss ja nur schneller sein als Sie, Herr Kollege.“ Fazit: Wer mit wem ums Überleben kämpft, ist nicht immer sofort sichtbar. [Foto: JWM, 2022]

159 8.1 · Vom Überleben des am besten Angepassten

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eines riesigen evolutionären Prozesses viraler Gene geworden– es entstehen so ­unglaublich viele Varianten des Virus durch spontane Mutationen – und ein paar davon „sehen“ wir dann auch öfter – Delta, Omikron und Co lassen grüßen. Die Entstehung von Varianten und natürliche Auswahl in Reinform. Hoffentlich nicht mehr allzu lange und/oder nicht so schnell wieder. Nur mal so nebenbei, die evolutionäre Anthropologie , also die evolutionäre Menschenkunde, hat eine Vielzahl von molekularen Ereignissen zusammengetragen, die während der Entwicklung des Menschen passiert sind – ob sie nun kausal beigetragen haben oder nicht. Ja, da sind so einige Änderungen im Gehirn dabei. Der Verlauf von Kindheit und Pubertät wurde radikal umgemodelt – der Mensch bleibt viel länger ein Kind als die allermeisten Säugetiere. In dieser Rubrik gäbe es noch so einiges zu erzählen oder zu diskutieren, so zum Beispiel die alte Debatte, ob unser Geruchssinn bei der Mensch-Werdung abgenommen hat oder eben nicht. Oder inwieweit alte Krankheiten wie die Pest uns resistenter gegenüber HIV gemacht haben könnten. Auch möchte ich zwei harte Nüsse für Evolutionstheoretiker nicht unerwähnt lassen – die genaue Erklärung, wie sich Schönheit (wir denken mal an das Rad des Pfaues) und Homosexualität evolutionär halten können. Beim Thema Mensch-Werdung gibt es auch das Stichwort Kooperation. Wunderschön ist der Gedanke, dass „the fittest“ in Darwins Theorie eventuell der am besten Kooperierende ist. Gemeinsam sind wir stark! Moderne genomische Forschung zeigt uns mehr und mehr den genauen Zeitstrahl, wann wir, Homo ­sapiens, auf Ochs und Esel gekommen sind. Besonders interessant scheint dabei die Interaktion zwischen Mensch und Hund zu sein (siehe Exkurs „Wie Homo sapiens auf den Hund gekommen ist“). Exkurs: Wie Homo sapiens auf den Hund gekommen ist

Katze, Schwein und Rind wurden von sesshaften Menschengruppen domestiziert, die irgendwann anfingen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben. Der Hund ist das einzige Haustier, das von Jägern und Sammlern schon davor domestiziert wurde. Obwohl Zeit-Abschätzungen in der DNA-basierten Archäologie immer noch schwierig sind, mehren sich die Hinweise, dass der Hund der älteste Begleiter des Jetzt-­Menschen ist. Jene Annährung zwischen Hund und Mensch soll vor 40.000– 15.000 Jahren stattgefunden haben. Doch dann geht die wissenschaftliche Streiterei los: Hat sich der Hund selbst domestiziert, indem er sich daran gewöhnte, vom Menschen zurückgelassene Fleischreste zu verwerten? Oder war es der Mensch, der verwaiste Wolfswelpen auf-

genommen und zärtlich großgezogen hat? Egal wie und wann genau es passiert ist, schon seit mehreren 10.000 von Jahren streifen Mensch und Hund gemeinsam durch die Lande. Man kann annehmen, dass diese Kooperation dem Homo sapiens einen weiteren Vorteil im Verdrängungswettkampf mit anderen Hominiden gebracht hat. Hier könnten wir dann „survival of the fittest“ mal mit „Überleben des besten Teams“ übersetzen. Zum Nachlesen: Als sich der Mensch in der Jung-Steinzeit in Europa ausbreitete, hatte er bereits seinen „besten Freund“ an seiner Seite ➜ Ollivier et al. 2018. Dogs accompanied humans during the Neolithic expansion into Europe. Biol Lett. 14(10):20180286. https://doi. org/10.1098/rsbl.2018.0286.

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Kapitel 8 · Was Evolution wirklich ist …

Eine Diät-, Energie- und Ernährungsrechnung. In einem Eiszeit-Winter hatten unsere Vorfahren bei Jagderfolg wohl mehr Fleisch als sie selbst verwerten konnten. Sie konnten also Ressourcen teilen ➜ Lahtinen et al. 2021. Excess protein enabled dog domestication during severe Ice Age winters. Sci Rep. 11(1):7. https:// doi.org/10.1038/s41598-020-78214-4.

Ein bedeutender Unterschied zwischen Hund und Wolf sind die viel beweglicheren Gesichtsmuskeln des Hunds. Jene Hunde wurden wohl besonders gefördert, die lieb („treu-doof“) gucken konnten ➜ Kaminski et al. 2019. Evolution of facial muscle anatomy in dogs. PNAS. 116(29):14677–14681. https://doi. org/10.1073/pnas.1820653116.

Kreativ: Evolution ist das nicht-zufällige Überleben von zufällig generierten, genetischen Varianten. Sie findet auf allen Ebenen der Biologie statt, also zwischen Genen, zwischen Individuen und auch zwischen Populationen. Wie genau Varianz entsteht, zum Beispiel wenn Transposons, selbst-spleißende Introns und Retroviren ihre Finger im Spiel haben, diskutieren wir ansatzweise im nächsten Abschnitt.

8 8.2 

 Lamarckismus und Darwinismus müssen nicht im Gegensatz zueinanderstehen

Jean-Baptiste Lamarck war sicherlich ein kluger Mann. Er gilt als der Begründer der heutigen Zoologie der wirbellosen Tiere, er trieb die Systematik in der Biologie voran und er tat viele gute Dinge mehr. Vor allem aber ist er dafür bekannt, dass er hoffnungslos daneben lag, als es um die Evolution ging. Die Geschichte lässt ihn als einen armen Trottel erscheinen, verlacht und verspottet. Anhänger von Lamarck lieferten sich einen historischen Streit mit den ­„Darwinisten“ – darüber, wie Varianz entstehen und anschließend vererbt werden konnte. Das darwinistische Kernthema, knackig formuliert von Richard Dawkins – Evolution sei „das nicht-zufällige Überleben von zufälligen Varianten“ –, stand scheinbar in unversöhnlichem Gegensatz zu den Ansichten Lamarcks. Er postulierte die Vererbbarkeit von Veränderungen, die durch die Umgebung hervorgerufenen wurden. So weit ist erstmal nichts Schlimmes an diesen Ansichten. Der Knackpunkt an Lamarcks Ansichten war, dass jene Änderungen angeblich „gewollt“ oder ­„gerichtet“ sein konnten. Etwa so: Die Giraffe wollte immer wieder an die höheren Zweige reichen und hat deshalb den langen Hals bekommen (und vererbt). Dieser Zweck in Lamarcks Ansichten, den Darwin der Biologie ja ausdrücklich ausgetrieben hatte, öffnete ein Hintertürchen für allerlei dubiose Pseudo-­Wissenschaftler, was für Lamarcks Ansehen nicht unbedingt förderlich war. Aus heutiger Sicht war der Streit damals viel heiße Luft – ein Streit, bei dem es eher um Glaubenseinstellungen und Befindlichkeiten ging. Das eigentliche Streitthema, das Material der Vererbung und deren Mechanismen, war ja noch lange nicht entdeckt. Weder DNA im Allgemeinen noch Gene oder gar Kernbasen im Besonderen kannte man. Hatte nun Darwin oder Lamarck recht? Die heutige Antwort auf diese Frage fällt etwas milder aus.

161 8.2 · Lamarckismus und Darwinismus müssen nicht im Gegensatz…

8

Die Natur benutzt sowohl die strenge DNA-abhängige Vererbung von Generation zu Generation ALS AUCH das epigenetische Verändern des Chromatins  – kurzfristige und erst einmal nicht vererbbare Veränderungen des Erbmaterials, genauer gesagt jener Lockenwickler-Histon-Proteine/Nucleosomen, die bereits erwähnt wurden. Komplizierter wird das Ganze, da manche epigenetische Markierungen selbst ziemlich dauerhaft sind; vielmehr beeinflussen sie die Methylierung der DNA – der Cytosin-Basen, um genau zu sein. Eventuell kann dann die spontane Desaminierung des Cytosins nicht mehr repariert werden. Mehr zum empfindlichen Cytosin in 7 Abschn. 3.2 und zu den Lockenwickler-Histonen in 7 Abschn. 3.3 und 3.4. Was als epigenetische „Notiz“ angefangen hat, kann die DNA also manchmal auch dauerhaft verändern. Wie epigenetische Veränderungen entstehen, ist vielfältig. Manchmal sind auch transkriptionelle Vorgänge beteiligt, sodass sich lange, nicht-codierende RNAs anreichern. Oft ist eine Verbindung zum Metabolismus gegeben. Ein Beispiel: Wenn viel von irgendeinem Metaboliten da ist, dann verwendet ein Enzym diesen ­Metaboliten, um damit einen Histon-Schwanz zu modifizieren. Somit repräsentiert oder gar „codiert“ jene Histon-Markierung einen Überfluss eben dieses Metaboliten. Wie DNA sich verändern kann, ist ebenfalls vielfältig; oft meinen wir hier aber pharmakologische oder gar toxikologische Vorgänge. UV-Licht kann DNA regelrecht zerschießen, dabei „kleben“ dann benachbarte Thymidin-Basen aneinander. Auch andere kovalente Bindungen können durch UV-Licht zerstört werden  – darum immer schön Sonnenschutz tragen. Medikamente auf Nucleosid-Basis (wir sprachen darüber im Exkurs in 7 Abschn. 2.4) werden gegen verschiedene Krebs-­ Arten oder virale Infekte angewendet. Sie stören direkt die DNA-Neu-Synthese. Dann gibt es allerlei Chemikalien, die entweder an DNA binden (z. B. alkylierende Chemikalien) oder sich eventuell gar zwischen die Kernbasen schieben. All diese Prozesse erzeugen DNA-Variation auf dem Level der einzelnen Kernbase. Auf der Ebene von Genen oder gar Chromosomen wird DNA dann mal kräftig gemischt – und das auch schon immer, lange vor dem Aufkommen von CRISPR-­ Genscheren. Gene können verloren gehen oder durch Verdopplung oder gar ­horizontalen Gentransfer neu in einem Genom erscheinen. Ganze Chromosomen-­ Abschnitte können deletiert, verdoppelt oder umgedreht werden. Dabei sind oft Retro-Viren oder Transposons beteiligt. Bestimmt die totale Ausnahme, denken Sie vielleicht? Etwa 8 % unseres menschlichen Genoms repräsentiert die Überreste von alten, gar antiken, viralen Infektionen. Und dann haben wir noch etwa 40 % unseres Genoms mit sich wiederholenden Sequenzmotiven, die wohl viralen ­Ursprungs sind. Knapp die Hälfte unseres Genoms ist also gar nicht von uns? Menschen, Tiere und Pflanzen sind keine Bakterien oder Viren. Wir haben Tage, Wochen oder gar Jahre, um uns zu vermehren – im Vergleich zu Minuten oder Stunden bei Bakterien oder Viren. Solange die virale „Hinterlassenschaft“ in unserem Genom also „ruhig“ ist und sich still replizieren lässt, machen wir das gerne. Bei diesen Selektionsprozessen gilt „nicht getadelt ist genug gelobt“ – eine neutrale Mutation oder noch so ein auf stumm geschaltetes Virus wird eben beibehalten, solange die Veränderung nicht sooo doll stört. Manche meinen, dass dieser Mechanismus auch in der Verwaltung von mittleren oder größeren Organisationen zum Tragen kommt. Ausselektiert wird nur das, was wirklich stört. Alles was komisch, aber irgendwie ertragbar ist, wird konsequent beibehalten und weitervererbt.  

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Kapitel 8 · Was Evolution wirklich ist …

Kompromiss: Die Gedanken von Darwin und Lamarck lassen sich mit Genetik und Epigenetik in die Neuzeit übersetzen. Die Natur macht beides – die strenge Weitervererbung der DNA von einer Generation zur nächsten UND das Fixieren von vorübergehenden Informationen am Erbmaterial, hier erst einmal an den flexiblen Enden der Histone; indirekt kann das aber auch zu DNA-Veränderungen führen. Sequenzvariation entsteht ungerichtet und ständig – sie ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel zwischen den Genen in einem Genpool, zwischen Individuen oder gar zwischen Populationen. Selektion und Anpassung werden ganz praktisch und angewandt im folgenden Abschnitt besprochen. z Zum Weiterlesen

8

Was für ein versöhnlicher Titel ➜ Guevara Salazar et al. 2021. What are the origins of growing microbial resistance? Both Lamarck and Darwin were right. Expert Rev Anti Infect Ther. 19(5):563–569. Review. https://doi.org/10.1080/14787210.2021.1839418. Hier zitiere ich gerne noch einmal den Birminghamer Lamarck-Fan und ­Mitbegründer der Epigenetik Bryan Turner ➜ Turner BM. 2013. Lamarck and the nucleosome: evolution and environment across 200 years. Front Life Sci. 7:1–2, 2–11. https://doi.org/10.1080/21553769.2013.835284. 2009 haben wir den 200. Geburtstag von Charles Darwin gefeiert. Sein Hauptwerk ist gleichzeitig 150 Jahre alt geworden. Das große Evolutions-Jubiläum hat Herr Koonin zum Anlass genommen, Gedanken von Darwin und Lamarck auch molekular miteinander zu vergleichen. Prost! ➜ Koonin & Wolf. 2009. Is evolution Darwinian or/ and Lamarckian? Biol Direct. 11;4:42. https://doi.org/10.1186/1745-6150-4-42. Ansonsten findet man selbst aus dem Jahr 2022 noch ziemlich emotionale Kommentare in Publikationsdatenbanken, wenn man gleichzeitig nach „Darwin“ und „Lamarck“ sucht. Diese führe ich hier nicht auf.

8.3 

 volution ganz praktisch – Proteine optimieren durch E Evolution

Egal, wie man jetzt Darwin oder Lamarck interpretiert, die Entstehung von in DNA gegossener Varianz ist kein großes Problem – Varianten entstehen ständig und immer. Warum also nicht die Evolution im Reagenzglas nachstellen? Die Regeln sind einfach. Wir müssen lediglich eine große Anzahl an Protein-Varianten erzeugen und dann in einer Art Auslese oder Selektion die guten Varianten heraussortieren. Diesen Zyklus lassen wir dann ein paar Mal durchlaufen und es entstehen die wunderbarsten Proteinvarianten, auf die wir niemals selbst gekommen wären. Ach ja, wir brauchen auch noch ein Expressionssystem, in dem wir das Protein herstellen können. Toll sind diese drei Faktoren beim Phage-Display miteinander kombiniert. Ein Phage ist ein Virus, der Bakterien befällt. Ein stäbchenförmiger filamentöser Phage kann ein Fremdgen als Fusionsprotein mit einem seiner Hüllproteine exprimieren (Expressionssystem). Somit ist unser zu optimierendes Protein schön exponiert (dis­played). An der codierenden DNA-Sequenz kann man nun allerlei Sachen ­machen: mutagene Chemikalien draufkippen, PCRs mit losen Fragmenten oder

163 8.3 · Evolution ganz praktisch – Proteine optimieren durch Evolution

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eine Gensynthese, wo bestimmte Positionen in den Primern ganz gezielt mit allen vier möglichen Kernbasen versehen werden. Dieses Gemisch mit einer wahnsinnigen Varianz (vielleicht 106 unabhängige Klone oder gar mehr) nennt man auch Bibliothek, wohl wegen ihrer fast unerschöpflichen Reichhaltigkeit. Zurück in den Phagen gebracht, passt die gesamte Bibliothek oft in wenige Tropfen Pufferlösung. Aus dieser Mischung sollen nun die besten Varianten aussortiert werden (Auslese). Wenn ich ein Protein suche, das an ein vorgegebenes Zielmolekül bindet, dann brauche ich das Zielmolekül in möglichst reiner Form, fixiert an einer Oberfläche. Dort wird der Mix mit der Bibliothek drin draufgetropft, anschließend werden die Nicht-Binder weggewaschen und die Binder abgelöst. Diesen Zyklus kann man ein paar Mal machen. Am Ende sequenziert man, was übrig bleibt – früher mittels klassischer Sanger-Sequenzierung ein paar oder ein paar Dutzend Klone, mittlerweile mit neuartigen Sequenziermethoden auch gerne mal die gesamte Bibliothek. Andere Display-Methoden (zum Beispiel auf der Oberfläche von Bakterien oder sogar am Ribosom) funktionieren im Prinzip ähnlich. All diese Methoden verbinden praktischerweise das jeweilige Protein und die dazugehörige codierende Sequenz. Wir können also auf Eigenschaften des Proteins selektieren, dann aber die dazugehörige DNA sequenzieren – ein riesiger Vorteil, da eine Sequenzierung des Proteins sehr mühsam wäre. Therapeutische Antikörper sind mittlerweile aus dem klinischen Alltag nicht mehr wegzudenken. Sie stellen einen Riesenmarkt an sehr erfolgreichen und hochwirksamen Bio-Pharmaka dar. Basierend auf einem universellen Grundgerüst sind Antikörper hochspezifische Binder, die ultra-präzise fast jede Art von Zielmolekül im Patienten adressieren können. Meist sind das Zielmoleküle, die mit herkömmlichen pharmakologischen Methoden nur sehr schwer addressierbar sind. Antikörper sind aber auch sehr teuer in der Herstellung und haben oft keine besonders lange Verweildauer im menschlichen Körper. Unser Körper mag n ­ ämlich Fremdprotein nicht besonders, schon gar nicht frei herumschwimmend in der Blutbahn. Darum werden Antikörper schnell vom Körper verdaut und stückchenweise ausgeschieden. Wir kennen auch noch andere Binde-Moleküle – Proteine mit anderen Grundgerüsten. Oder sogar Binder auf RNA- oder DNA-Basis, diese werden als Aptamere bezeichnet. Theoretisch binden sie genau das, was Antikörper binden – alles. Alle sind sie aber eben auch nur landläufige Biomoleküle und werden deshalb allesamt im Körper recht schnell abgebaut. So viel zu biologischen Bindern. Deutlich komplizierter ist es, wenn man Enzyme auf bessere Aktivität screent. Eine Bibliothek ist noch relativ leicht gemacht  – die oben erwähnten Methoden erzeugen Variabilität. Dann wird es aber schwierig: Jede einzelne Variante muss in ein Expressionssystem gesteckt werden, zum Beispiel in das Bakterium Escherichia coli. Sie muss exprimiert und gereinigt werden. Schließlich muss sie in einem geeigneten Assay-­System auf die gewünschten Eigenschaften hin untersucht werden. Auch wenn all diese Schritte in 96-Loch-Platten durchgeführt werden können, bleibt es eine Heidenarbeit. Selten kann auch nur annährend die gesamte ­Bibliothek „abgearbeitet“ werden, trotzdem werden oft erstaunliche Verbesserungen der

164

Kapitel 8 · Was Evolution wirklich ist …

Enzym-­Eigenschaften erreicht. In diesem Bereich gibt es viele Innovationen – so könnten Enzyme in kleine Tröpfchen verpackt oder auf Hoch-DurchsatzSequenzier-Chips aufgebracht werden. Kollektion: Die Auswirkungen einer einzigen Punktmutation auf das Verhalten eines Enzyms vorherzusagen ist schwierig. Den Verlauf eines groß angelegten Protein-­Selektions-Experiments vorher zu berechnen ist (noch) absolut unmöglich. Durch Display-Systeme kann ein Protein mit seiner codierenden Nucleinsäure (sei es DNA oder RNA) zusammengebracht werden. In so einem System kann Varianz in verschiedener Weise erzeugt werden. Bleibt „nur“ noch die Selektion geeigneter Varianten – oft stellt sie den limitierenden Faktor dar, da ganze Bibliotheken von 106 oder gar 109 Varianten nur mit sehr cleveren und/oder hoch technisierten ­Screening-Methoden vollständig untersucht werden können. Die Evolution im Reagenzglas hat erstaunliche Fortschritte sowohl in der industriellen ­Enzym-­Technologie als auch in der Biomedizin hervorgebracht – wir denken an die chemo-­ enzymatische Katalyse, an hervorragende Waschmittel und an Bindemoleküle, die hochspezifisch an biomedizinische Zielstrukturen andocken.

8

z Navigation

Phage-Display haben wir schon einmal kurz im Exkurs in 7 Abschn. 2.6 erwähnt. Die 7 Abschn. 3.2 und 3.4 zur DNA könnten ebenfalls noch einmal interessant sein.  



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Wie liest (und schreibt) man wissenschaftliche Veröffent­ lichungen am besten? Inhaltsverzeichnis 9.1

Verschiedene wissenschaftliche Sprachen machen das Lesen schwer – 166

9.2

 nd wie sollte man jetzt U ein Paper schreiben, damit es möglichst allgemeinverständlich ist und viel gelesen wird? – 169

9.3

Well, there is one last thing – Englisch als Wissenschaftssprache – 171

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 J. W. Mueller, Endlich Biochemie verstehen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9_9

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Kapitel 9 · Wie liest (und schreibt) man wissenschaftliche Veröffentlichungen am besten?

9.1 

 erschiedene wissenschaftliche Sprachen machen V das Lesen schwer

In diesem Buch hätte ich noch auf so viele Sachen eingehen können: wissenschaftliche Methoden, Techniken, unzählige Unterdisziplinen und so viele bunte Fakten von verschiedensten Enzymen. Das alles kann man aber lernen, wenn man die ­Sprache der Wissenschaft versteht. Eine neue Fachdisziplin zu lernen, ist nämlich genauso wie eine Sprache zu lernen. Na ja, eigentlich sprechen wir in der Wissenschaft innerhalb unserer Spezialisierung nicht nur eine, sondern mindestens drei Sprachen … 55 eine etwas kryptische technische Sprache (Labor-Slang), 55 eine Publikations- oder Paper-Sprache (objektiv und nüchtern) und 55 eine Tagungs- und Antragssprache (blumig und euphorisch), die Sprache von Pressemitteilungen und Twitter-Texten.

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Labor-Slang ist voll von Fachwörtern und unverständlichen Abkürzungen, in etwa: „Wir haben zwar keine Ahnung, was ABC bedeuten soll, was wir hier gerade mit der XYZ-Methode beobachtet haben, aber wir schreiben es erstmal auf – nur für uns im Stillen …“ Die Sprache der wissenschaftlichen Veröffentlichungen ist nüchtern und objektiv, im Sinne von: „Wir wissen sehr genau, wovon wir hier bahnbrechend berichten.“ Traditionell gerne auch in deutlichem Understatement, was vielleicht British anmuten mag. Ein fantastisches Beispiel hierfür ist der letzte Satz der Veröffentlichung von Watson und Crick über die Struktur der DNA:

»» „It has not escaped our notice that the specific pairing we have postulated immediately

suggests a possible copying mechanism for the genetic material.“ Watson & Crick. 1953. A structure for deoxyribose nucleic acid. Nature. 171(4356): 737–8. https:// doi.org/10.1038/171737a0

In etwa: „Man habe sehr wohl gemerkt, dass das Modell SOFORT den Mechanismus der DNA-Replikation und vieles andere mehr der modernen Molekularbiologie erklären kann [das aber muss sich der Leser selber denken; wenn er oder sie es nicht kann, dann sollte bitte auf unsere nächsten Paper gewartet werden, Anm. des Autors]“. Der zweite Teil meiner Übertragung ist im britischen Englisch unterschwellig enthalten – sowohl Watson als auch Crick haben später dazu publiziert. Das ist die gesamte Diskussion der Sensationsmeldung! Weniger ist mehr. Nahezu unabhängig davon ist die Sprache in Tagungsbeiträgen oder Presse-­ Mitteilungen, aber auch Anträgen, die allesamt etwa klingen wie: „Das was wir gerade entdeckt haben ist mindestens (!!!) so toll wie die Erfindung von geschnittenem Brot. Weitergehende Untersuchungen sind dringend erforderlich.“ Leider werden diese Sprachen oft vermischt. So findet sich häufig sehr technisches Vokabular, triefend vor Abkürzungen und Fachwörtern, auch in Veröffentlichungen oder Förderanträgen, was es Wissenschaftlern und Studierenden gleichermaßen oft sehr schwer macht, jene Schriftstücke zu verstehen.

» „There is no form of prose more difficult to understand and more tedious to read than the average scientific paper.” Francis Crick (The Astonishing Hypothesis: The Scientific Search for the Soul (1995), Prentice Hall, Hoboken, New Jersey)

167 9.1 · Verschiedene wissenschaftliche Sprachen machen das Lesen…

9

Manchmal scheint es mir, als benutzten Studierende selbst sehr gerne jene Waffe, die sie sonst vom Verstehen von wissenschaftlichen Veröffentlichungen abhält. Eventuell aus Unsicherheit oder als Abwehrstrategie? Angeblich um Platz zu sparen. Die eine oder andere Abschlussarbeit enthält jede Menge Abkürzungen, die nur nach einer oder zwei Erwähnungen durch weitere Abkürzungen abgelöst werden – nicht unbedingt hilfreich dabei, um die Arbeit zügig durchzulesen. Und wenn die Arbeit nicht lesbar ist, dann ist jegliche Argumentation, irgendwelcher Platz würde gespart, eh fehl am Platz. Bezüglich Abkürzungen ist die Zeitschrift Journal of Biological Chemistry mein Vorbild: Dort kann man Abkürzungen aus einer ­generellen Liste verwenden, die zum Beispiel DNA oder H2O enthält. Wenn man aber eine neue Abkürzung einführt, dann muss diese zehnmal oder häufiger verwendet werden; ansonsten wird sie neunmal oder weniger oft ausgeschrieben. ??Kennen Sie Zeitschriften mit ähnlich strengen Regeln bezüglich ungewöhnlicher Abkürzungen wie das Journal of Biological Chemistry? Ich persönlich würde die Regel bis aufs Dutzend erhöhen! Wie ist Ihre Meinung?

Allerdings habe ich gelernt, dass Studierende große Schwierigkeiten haben, eine „allgemeingültige“ Abkürzung von einer zu unterscheiden, die nur im „eigenen“ Feld ihre Berechtigung hat. Ist hier eventuell dann doch etwas Erfahrung erforderlich? Vielleicht hilft die Regel: Alles, was im Studium gelehrt wurde, sollte zumindest dieser Studierendenkohorte allgemein bekannt sein. Alles, was mit der Abschlussarbeit selbst zu tun hat, betrifft nur einen oder einige wenige Studierende  – Vorsicht also mit diesen speziellen Abkürzungen. Kennen Sie eigentlich den AKüFi der BW? Oder etwa die englischen TLAs? Gerne kommentiere ich an entsprechenden Stellen auch mit IDUYA. Verstehen Sie, wovon ich rede? Der Zweck all dieser Abkürzungen war zu zeigen, wie gefährlich unverständlich Abkürzungen sein können. Wer dennoch ernstes Interesse an der Herkunft obiger Abkürzungen hat, sei an den Abkürzungsfimmel der Bundeswehr, die englischen three-letter-abbreviations und an folgenden Ausspruch erinnert: I don’t understand your abbreviation. Kürzlich hat sich meiner Allergie gegen Jargon und Spezial-­ Abkürzungen auch noch eine große Skepsis gegenüber Konjunktionen hinzugesellt. Wer sind denn genau „sie“ in diesem Fall und was ist „es“ in jenem Fall? Nicht nur die eigentlichen wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind kompliziert. Die Sprache drumherum ist ebenso kryptisch – wir selbst merken das aber oft gar nicht mehr (. Abb. 9.1). Ich vergleiche Paper-Lesen gerne mit Zeitung-Lesen. Sehr, sehr selten würde man eine Zeitung von Anfang bis Ende durchlesen. Eher blättert man durch und überfliegt die Überschriften, bis man einen Absatz oder Artikel findet, der einem relevant erscheint, den liest man dann halbwegs konzentriert oder bookmarkt ihn für später. Was genau für den jeweiligen Studenten oder die jeweilige Forscherin relevant in einem wissenschaftlichen Paper ist, hängt stark vom konkreten wissenschaftlichen Lebenslauf und der aktuellen Karriere-­Situation ab. Als Student galt es für mich, irgendwie zu verstehen, was in den Abbildungen dargestellt ist und was das Paper dazu aussagt. Etwas spezifischer hieß das, die  

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Kapitel 9 · Wie liest (und schreibt) man wissenschaftliche Veröffentlichungen am besten?

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..      Abb. 9.1  Wortspiele und Missverständnisse rund um wissenschaftliche Veröffentlichungen. Oben links ist „Fig 1“ zu sehen, die erste Feige des Jahres aus unserem Garten. Studierende schauen mich manchmal fragend an, wenn ich ihnen empfehle, bei ihrem JournalClub vor allem auf die Figs zu achten. Darunter ist dann auch eine „fig legend“ zu sehen. Oben rechts, ist das eventuell ein Abstract zu einem Paper? Darunter eindeutig eine Zusammenfassung für eine „lay person“, also einen Laien oder doch eine liegende Person? Nicht abgebildet ist einer der produktivsten Wissenschaftler überhaupt, Professor et al. Vielleicht kennen ja auch Sie diese Person, von der überall zu lesen ist. [Bildnachweis: Feige, JWM 2020; Fig-­ Legend, JWM 2021; Lay summary, JWM, 2022; Abstract, John Gage, 2021, mit freundlicher Genehmigung]

­ ehauptung der Autoren mit den Daten, Tabellen und Abbildungen aus derselben B Veröffentlichung abzugleichen, die diese Behauptung unterstützen. Genau hier haben unsere Studierenden in den ersten Studienjahren oft große Probleme. Wohl während des Großteils meiner Doktorarbeit ging es darum, welche Methoden verwendet wurden. Kann ich die zum einen verstehen und zum anderen vielleicht sogar in meinem Projekt verwenden? Im letzten Jahr meiner Doktorarbeit wurde die Adresszeile sehr interessant. Wo auf dieser Erde ist diese Studie gemacht worden? Ist das eventuell ein gutes Labor an einem interessanten Flecken Erde für einen PostDoc-Aufenthalt?

169 9.2 · Und wie sollte man jetzt ein Paper schreiben, damit es…

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Immer fand ich die Autorenliste selbst ziemlich spannend. Was haben diese Herren und Damen bisher publiziert? Wen kenne ich von diesen Leuten, vielleicht sogar persönlich von einer Tagung? Spätestens seit dem Aufkommen des Hirsch-­ Faktors, ist es für die Erfolgschancen einer Wissenschaftskarriere von großem Interesse, wie oft man zitiert wird. Ich habe von Leuten gehört, die als erstes (und manchmal einziges) in einer Veröffentlichung nachschauen, ob sie selbst zitiert wurden. Mittlerweile konzentriere ich mich darauf, die Abbildungen zu verstehen und mit der Aussage des Papers zu vergleichen. Dabei achte ich immer darauf, welches Labor das Paper veröffentlicht hat und was für Methoden verwendet wurden. Beiläufig überprüfe ich auch, ob die Autoren nicht vergessen haben, relevante Arbeiten aus unserer Arbeitsgruppe zu zitieren, ganz nebenbei. Klartext: Niemand liest ein wissenschaftliches Paper von A bis Z, NIEMAND! Für verschiedene Zwecke  – ein Referat zu halten, eine Methode aus dem Paper selbst anzuwenden oder gar auf den Daten aufbauend weiterzuarbeiten  – sind unterschiedliche Teile eines Papers wichtig. Deswegen sollte die Herangehensweise an ein Paper entsprechend angepasst werden.

9.2 

 nd wie sollte man jetzt ein Paper schreiben, damit es U möglichst allgemeinverständlich ist und viel gelesen wird?

Es gibt viele Anleitungen zum wissenschaftlichen Schreiben. Ich kann nur empfehlen, sich in die Rolle des Lesers zu versetzen  – zumindest dann, wenn man das Manuskript noch einmal abschließend liest, vielleicht nachdem es ein, zwei Tage „abgehangen“ hat. Hier gibt es also ein paar Hinweise von oben noch einmal umformuliert für den Prüfer, die Gutachterin oder einfach für interessierte Leser. Bitte seien Sie sehr, sehr vorsichtig mit Ihren besonderen Spezial-Abkürzungen (heute ist mir mal danach, diese mit IBSAs abzukürzen). Wenn Sie sie nicht sehr häufig (zehnmal zum Beispiel, oder mehr) verwenden, schreiben Sie sie lieber jedesmal aus, also ihre IBSAs, Ihre besonderen Spezial-Abkürzungen. Konjunktionen sind gut, um zu häufige Wortwiederholung zu vermeiden. Seien Sie dabei aber immer sehr klar, was oder wen Sie gerade meinen. Wie wäre es mit einer Art Strickmuster: Das Ding beim Namen nennen (z. B. Dörk3) und gleich einen zweiten Begriff damit verbinden (die Kinase Dörk3), dann eine Konjunktion benutzen, dann wieder Dörk3, dann Kinase, dann Konjunktion etc. … So sind sowohl Abwechslung als auch Klarheit gewährleistet. Höchstwahrscheinlich wird der Leser das Paper NICHT von A bis Z lesen. Gestalten Sie also jeden Abschnitt so, dass er größtenteils eigenständig lesbar und verständlich ist. Querverweise zu anderen Abschnitten sind erlaubt, solang sie informieren, das Weiterlesen aber nicht behindern oder gar unmöglich machen. Warum führen Sie nicht Ihre besondere Spezial-Abkürzung (IBSA) in jedem Absatz erneut ein? NICHTS ist selbstverständlich. So scheinbar klare Dinge wie „ER“ können innerhalb der biomedizinischen Forschung für Endoplasmatisches

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Kapitel 9 · Wie liest (und schreibt) man wissenschaftliche Veröffentlichungen am besten?

Reticulum, den Östrogen-Rezeptor oder auch in einer Fallbeschreibung für die Notaufnahme in einem Krankenhaus emergency room stehen – und dabei haben wir noch gar nicht an das chemische Element Erbium gedacht. Idealerweise schreiben Sie DAS Paper, das Sie auch SELBST gerne lesen würden – als Studierender, als Wissenschaftlerin, als Prüfer oder gar als Peer-Review-­ Gutachter. Ihr Schreibstil wird besser, wenn Sie Ihren Text lesen, während Sie sich in ein paar dieser Rollen hineinversetzen. Ach, und dann ist da noch die Sache mit Shakespeares Schreibweise. Ihm wird eine Drittelung nachgesagt – etwa ein Drittel eines jeden Werks war für die Landbevölkerung – platte Witze, derbe Anzüglichkeiten, einfach zu verstehen–, ein Drittel für den Mittelstand  – Intrigen, Beziehungen etc.  – und ein Drittel für irgendwelche weitergebildeten Adligen und Aristokraten – attraktive Prosa, feine Reime und historische Spiegelungen. Warum können wir ein Paper nicht genauso aufbauen: kristallklare Essentials für alle, verständliche Fakten für jene, die es etwas mehr interessiert, ein paar kryptische ­Fakten für Fans. Wäre das was? Kompakt: Niemand liest ein wissenschaftliches Paper komplett vom Anfang bis zum bitteren Ende. Wie man ein Paper lesen sollte, hängt ganz entscheidend davon ab, was man damit vorhat. Unterschiedliche Abschnitte des Papers sind dann unterschiedlich wichtig. Oft stören Abkürzungen oder unklar eingesetzte Konjunktionen. Diese Denkweise sollte auch beim Schreiben eines Papers existieren. Bitte seien Sie sehr vorsichtig mit Abkürzungen und Konjunktionen und gestalten Sie einzelne Abschnitte möglichst eigenständig. Der Exkurs „Von guten und schlechten Veröffentlichungen“ liefert ein eindrückliches Beispiel von guten und schlechten Papern. Exkurs: Von guten und schlechten Veröffentlichungen

Ich bitte um Verzeihung, dass ich jetzt noch einmal auf das Wettrennen um die Strukturaufklärung der DNA komme. Es ist ein Parade-Beispiel für sehr gut und sehr schlecht geschriebene Paper. Ich dachte früher, dass Watson und Crick mit ihrem Paper vorpreschten und dass es Wilkins traurige Rolle war, ihr Modell später schlichtweg zu bestätigen. Franklin wurde dabei aber an den Rand gedrängt. Das stimmt so nicht. Am 25. April 1953 hat die ehrwürdige Zeitschrift Nature drei Paper über DNA publiziert. Wir alle haben von der Veröffentlichung von Watson und Crick gehört. Rücken an Rücken an Rücken (also back to back to back) haben

auch Franklin und ihr Doktorand Gosling sowie Wilkins mit seinen ­ ­Kollegen Stokes und Wilson ihre experimentellen Daten publiziert. Der Zwist zwischen Franklin und Wilkins war zum Wohle aller aufgelöst. Alle haben gleichzeitig publiziert, alle hatten ihr ­Nature-Paper, alle waren happy. ­Franklin hinkte NICHT hinterher. Die Geschichte erzählt ein anderes Bild. Noch nie habe ich von der WatsonCrick-Franklin-Gosling-Wilkins-StokesWilson-Basenpaarung oder einer ähnlich benannten DNA-Struktur gehört. Merkwürdigerweise fanden nur Watson und Crick weitreichende Beachtung für ihr klares und eingängiges Modell.

171 9.3 · Well, there is one last thing – Englisch als Wissenschaftssprache

­ nlässlich des 50. DNA-Jubiläums hat A Martin Tobin in einem Editorial die drei Paper auf ihren Inhalt und ihren Schreibstil miteinander verglichen. Das Paper von Watson und Crick ist kurz, es ist nur 842 Wörter lang. Der Text ist klar und verständlich geschrieben. Keinen Satz muss man umständlich mehrmals lesen, um ihn zu verstehen. Die einzige Abkürzung, die die Autoren neu einführen, ist „DNA“. Die beiden anderen Paper sind hingegen etwa doppelt so lang und überladen mit kryptisch-technischem Jargon. Bei so einer schlechten Präsentation gerieten diese Paper schnell in Vergessenheit  – obwohl sie die eigentlichen experimentellen Daten enthielten! Nicht in Vergessenheit geraten ist dagegen der supercoole Schlusssatz des Watson-Crick-Papers, den wir zu Beginn dieses Kapitels bereits diskutiert haben. Das Modell von Watson und Crick, das Einzug in die Lehrbücher fand,

9.3 

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­ asierte ausschließlich auf experimentelb len Daten der beiden anderen Veröffentlichungen. Deren Autoren „verpassten“ den Einzug in die Geschichtsbücher wohl auch dadurch, dass sie sich nicht kurz und prägnant ausdrücken konnten. Jene drei Paper … Watson & Crick. 1953. A structure for deoxyribose nucleic acid. Nature. 171(4356): 737-8. https://doi.org/10. 1038/171737a0. Franklin & Gosling. 1953. Molecular configuration in sodium thymonucleate. Nature. 171(4356):740–1. https:// doi.org/10.1038/171740a0. Wilkins et al. 1953. Molecular structure of deoxypentose nucleic acids. Nature. 171(4356):738–40. https://doi. org/10.1038/171738a0. … auf die Goldwaage gelegt von: Tobin MJ. 2003. April 25, 1953: three papers, three lessons. Am J Respir Crit Care Med. 167(8):1047–9. Editorial. https://doi.org/10.1164/rccm.2302011.

 ell, there is one last thing – Englisch als W Wissenschaftssprache

Bis eben habe ich ja so getan, als sei es mit dem Lernen einer oder mehrerer Wissenschaftssprachen getan. Nein, es kommt auf jeden Fall auch noch Englisch als Fremdsprache hinzu. Dazu ein paar letzte Gedanken. Wissenschaftssprache Nr. 1 ist definitiv Englisch, zumindest derzeit. Wissenschafts-Englisch ist gar nicht so schwer, wenn man die Wissenschaft dazu verstanden hat. Damit wird Englisch als Lese- und Schriftsprache relativ einfach. Eigentlich ist Englisch gar nicht sooo schwer. Es hat viele Gemeinsamkeiten mit dem Deutschen. Beide Sprachen sind indogermanischen Ursprungs. Viele Wissenschaftsvokabeln sind nahezu identisch in beiden Sprachen. So sind die Texte in „Wissenschaftssprache“ oft relativ leicht zu verstehen – deutlich leichter als vielleicht Texte von William Shakespeare, Jane Austen oder Alan Hollinghurst. Also nichts, vor dem man verschreckt wegzulaufen braucht, wenn, ja wenn, man die Wissenschaftsvokabeln draufhat.

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Kapitel 9 · Wie liest (und schreibt) man wissenschaftliche Veröffentlichungen am besten?

Einer meiner Hochschul-Lehrer hat uns gesagt, dass man sich doch bitte gleich englische Lehrbücher kaufen soll. Die sind meist eine Auflage aktueller und oft auch noch billiger. Nebenbei lernt man außerdem etwas Schrift-Englisch. Eine Win-Win-Win-Situation. Ich kann das nur unterstreichen. Aber dann ist da noch der verbale Teil. Wichtig ist, dass man seinen Gesprächspartner versteht und adäquat antwortet. Am Anfang kann das Verstehen leider sehr schwer sein. Ganz sicher sollte es aber wirklich echt nach einer Weile besser werden, versprochen. Spätestens nach einer gemeinsamen Tasse Tee oder ein, zwei Bier finden sich meist schnell Lösungen. Und dann kommt das Antworten. Ich kann ja nun doch auf ein, zwei Jahre Englisch-Erfahrung zurückblicken, nachdem ich mehr als zehn Jahre in UK gelebt, so einige wissenschaftliche Tagungen besucht und auch organisiert habe. Leider muss ich Sie enttäuschen – NIE wird der deutsche Akzent verschwinden, solange man halbwegs oft auch Deutsch spricht, zum Beispiel mit dem Partner und den Kindern daheim oder beim Videotelefonat mit der Verwandtschaft in Deutschland. Also am besten sportlich nehmen und immer freundlich lächeln, wenn Briten von ihren Erfahrungen vom Oktoberfest, aus Heidelberg, ihrer Stationierung in Osnabrück oder von Colditz berichten. Nicht näher erwähnen möchte ich die morbide Sehnsucht von Briten und Amerikanern nach Überresten der beiden Weltkriege – Stichwort „What did we have a great war“. Bitte also nie die eigenen Sprachfähigkeiten überschätzen, der deutsche Akzent bleibt! Was allerdings verschwindet nach gut einem Jahrzehnt in England, ist das Gefühl für die deutsche Muttersprache. Einer meiner sprachlichen Höhepunkte: Lehrevaluation. Frage: „What aspects of Dr. Jon Mueller’s approach to teaching best helped your learning?“ Antwort: „His accent. It helped revise points because I would try to mimic his soft German accent.“ Einer meiner absoluten Tiefpunkte beim Gestammel auf Englisch: Auf einer Tagung in Tel Aviv (Israel) habe ich der berühmten Kristallografin Ada Yonath ins Gesicht gestammelt: „I’m so … so … happy to see you alive“ (wohl auch noch mit herben deutschen Akzent). Darauf sie: „I’m also very happy to be alive“, und ging weiter. Kommunikation: Die vorrangige Wissenschaftssprache hat sich über die Jahrhunderte immer mal wieder geändert. Nachdem es im Mittelalter eindeutig Latein war, waren Deutsch und Französisch Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus verbreitet. „Wir“ Deutschen haben dann aber viel dafür getan, Deutsch als gängige Wissenschaftssprache wieder abzuschaffen. Wie sieht die Zukunft aus? Englisch wird wohl noch ein paar Jahrzehnte Wissenschaftssprache Nr. 1 bleiben, bevor es abgelöst wird – vielleicht von Mandarin-Chinesisch, aber man weiß ja nie. ??Haben Sie einen tollen Schreib- und/oder Leseratgeber? Schreiben Sie mir. Gerne nehme ich weiteres Material in dieses Kapitel auf.

173 9.3 · Well, there is one last thing – Englisch als Wissenschaftssprache

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z Navigation

Ironie trifft oft ganz gut den Kern der Sache, darum diese Literaturstelle zum Thema „Wie schreibe ich auch garantiert unverständlich und langweilig“ ➜ Sand-Jensen K. 2007. How to write consistently boring scientific literature. Oikos. 116(5):723–727. https://doi.org/10.1111/j.0030-1299.2007.15674.x. Ein etwas klassischerer Ratgeber ➜ Gemayel R. 2016. How to write a scientific paper. FEBS J. 283(21):3882–3885. https://doi.org/10.1111/febs.13918. Auch der Autor dieses Buchs hat sich kurz an Ratgeber-Literatur versucht. Hier ein paar Tipps zum erfolgreichen rebuttal-Schreiben. Ein rebuttal ist jener Brief, den man einer wissenschaftlichen Zeitschrift als Antwort auf die liebevollen und hilfreichen Kommentaren der Fach-Gutachter schickt 7 https://www.­asbmb.­org/ asbmb-­today/careers/102821/how-­to-­reply-­to-­reviewers-­comments.  

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Anhang Epilog: Mein Lebenslauf anhand meiner Lieblingsmoleküle – 176 Glossar – von Anabolismus bis Zielmolekül – 178 Stichwortverzeichnis – 187

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2023 J. W. Mueller, Endlich Biochemie verstehen, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66194-9

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Epilog: Mein Lebenslauf anhand meiner Lieblingsmoleküle

 pilog: Mein Lebenslauf anhand meiner E Lieblingsmoleküle Immer schon war ich von der Natur fasziniert, vor allem von ihren Formen und Farben. Mein Vater war mir ein eindrucksvolles Vorbild als Gelehrter, wenn er über seinen Büchern brütete. Im zweiten Schuljahr wollte ich mich unbedingt als Professor verkleiden, damals war zur Andeutung eines Wohlstandsbauchs sogar noch ein Kissen nötig. Mit etwa elf Jahren zerlegte ich eine Flachbatterie, elektrolysierte mit den zum Vorschein gekommenen Kohle-Elektroden eine Kochsalzlösung und erfreute mich am erfrischenden Geruch des entstehenden C ­ hlorgases.

..      Abbildung Epilog: Der Autor im Barbara-Heppworth-Museum in St. Ives, UK. [Foto: Oliver Schmitz 2021; Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung]

In der siebten Klasse begann der Chemie-Unterricht. Beim Thema Oxidation verbrannten wir einen Magnesiumspan, meiner fiel herunter und brannte eine schöne Brandmarke in den Tisch. Während des Studiums waren zuerst Calixarene aus dem Gebiet der supramolekularen Chemie sehr interessant für mich. Dann begann aber die Biochemie-Vorlesung und ich verliebte mich in TIM. TIM, auch Triose-­Phosphat-Isomerase genannt, ist ein perfektes Enzym  – es ist so schnell, dass es durch das Zu- und Ab-diffundieren seiner Substrate/Produkte limitiert ist. Außerdem sieht TIM auch noch gut aus: Um ein zentrales Fass, das aus acht β-Strängen gebildet wird, laufen acht α-Helices herum. Danach war ich fasziniert von der Pyruvat-Decarboxylase der Hefe, ein Thiamin-­Pyrophosphat-abhängiges Enzym. Es ist nicht nur für einen gelungenen Hefeteig verantwortlich, sondern spielt auch einen entscheidenden Schritt bei der Entstehung von Alkohol. Die Pyruvat-Decarboxylase ist eventuell das Enzym, an dem ich mit dem größten persönlichen Engagement gelernt und gearbeitet habe. Dann kam die Zeit der Diplom-Arbeit, die ich in Kooperation mit einer Pharmafirma angefertigt habe. Das Molekül der Wahl war nun ein Zielmolekül (ein ­molecular target) – es handelte sich um die Proteinkinase DYRK3 aus der hämato-

177 Epilog: Mein Lebenslauf anhand meiner Lieblingsmoleküle

poetischen Signalübertragung. DYRK war ein hartes Stück Arbeit, in dieser Zeit lernte ich weniger über Enzyme, dafür umso mehr über Frustrationstoleranz. DYRK konnte rekombinant in Bakterien nur als schmieriger Klumpen hergestellt werden, ganz im Gegensatz zu kleinen Faltungshelferproteinen, die wir problemlos in großen Mengen exprimieren konnten. Von dieser Enzym-Klasse studierte ich zwei Vertreter während der Doktorarbeit und der Postdoc-Zeit: zum einen den Superstar Pin1 – ein Faltungshelfer, der von Phosphorylierung abhängig ist und der in nahezu jedem, aber auch wirklich jedem Prozess eine Rolle spielt, den man sich anschaute; zum anderen die kleine graue Maus Parvulin14, benannt nach dem lateinischen Wort parvulus für winzig. Irgendwann verstanden wir zelluläre Prozesse, an denen diese Enzyme beteiligt sind, immer besser, und auch die ­Katalyse selbst. Die biologische Funktion dieser Proteine bleibt für mich jedoch weiterhin ein Rätsel. Es kann manchmal gut sein, nicht nur ein Standbein zu haben. Unabhängig von den Faltungshelfern versuchten sich Leute um mich herum an Enzymen, die einen Sulfat-Rest an Tyrosin-Seitenketten von Proteinen anheften. Diese Versuche waren ähnlich frustrierend wie meine Erfahrungen mit DYRK. Allerdings müssen diese Enzyme mit dem Cofaktor für Sulfatierung – dem sogenannten PAPS – versorgt werden und PAPS wird im Menschen einzig und allein von PAPS-Synthasen geliefert. Meine Liebe zu PAPS-Synthasen führte mich schließlich nach England, wo wir Patienten charakterisieren, bei denen das Gen für PAPSS2-Enzym defekt ist. Seitdem denke ich über die Bedeutung des PAPS-Cofaktors selbst nach. Auch schaue ich in den Rollen des Tagungsorganisators und Editors von Sonderbänden etwas breiter und allgemeiner auf Sulfatierungswege. Hatte ich erwähnt, dass biologische Sulfat-Ester ziemlich spannende Moleküle sind?

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Glossar – von Anabolismus bis Zielmolekül

Glossar – von Anabolismus bis Zielmolekül 3D-Chemie ➔ Stereochemie Anabolismus: Die Gesamtheit der Substanz-aufbauenden, der biosynthetischen Reaktionen. Meistens sind damit reduktive Biosynthesen gemeint, bei denen der Körper ATP und NADPH einsetzt. Ångström (Angström): Das Ångström (1  ∙  10−10  m) macht unhandliche und kryptische Angaben zu atomaren Maßstäben wieder zu praktischen Zahlen. So ist der Durchmesser eines Wasserstoff-Atoms dank des Ångströms nicht mehr 1,1  ∙  10−10  m, sondern 1,1 Ångström  – ist doch schöner zu sagen, oder? Das ­Ångström ist nach dem gleichnamigen schwedischen Physiker genannt, der sich mit Atomen beschäftigte. Antike DNA, alte DNA, ancient DNA: DNA ist sehr stabil. Darum kann man mit mäßigem Aufwand DNA aus fast jedem alten Zeug isolieren und sequenzieren. Was „alt“ genau bedeutet, ist dabei wohl Ansichtssache. Das kann DNA aus im 20. Jahrhundert Verstorbenen sein oder auch Erbmaterial von einer längst ausgestorbenen Art vor 500.000 Jahren. Ganz sicher nicht kann es 65 Mio. Jahre alte Dinosaurier-­DNA sein. So stabil ist DNA dann doch nicht. Antikörper: Antikörper sind ein wichtiger Teil unserer Immunabwehr. Es gibt verschiedene Klassen davon. Ihre Struktur erinnert entfernt an ein Ypsilon. Antikörper sind hoch variabel an ihrer Bindestelle; darum gibt es wohl für jedes beliebiges Motiv einen passenden Antikörper. Meistens bestehen sie aus zwei leichten und zwei schweren Proteinen, hier auch „Ketten“ genannt. Große Ausnahme sind die Antikörper von Kamelen  – die bestehen nur aus den schweren Ketten. Der ­Vorläufer von ➔ Aptameren. Aptamer: Ein recht neues Wort, das einen Binder an ein bestimmtes Zielmolekül meint. Ein Aptamer kann aus einem beliebigen Biopolymer bestehen, meist ist dies aber RNA, seltener DNA, manchmal auch ein Peptid. „Apta“ kommt vom lateinischen Wort aptus für passen; wohl am ehesten ist dieser Wortstamm uns aus dem Wort Adapter vertraut. Die Silbe „-mer“ am Ende kennen wir ja schon; wieder also ein „Teil“ oder ein „Anteil“ (➔ Polymer). Aromat: Aromaten sind eine Gruppe von organischen Verbindungen, die einen Ring aus Kohlenstoff-Atomen tragen und nur Doppelbindungen enthalten. Dann wird es divers. Der etwas kantige Ring kann fünf oder sechs Ecken haben und auch gerne mal Sauerstoff- und/oder Stickstoff-Atome enthalten. Aromaten wurden nach dem aromatischen Geruch der ersten entdeckten Vertreter benannt. Wohl eher eine Fehlbenennung  – manche Isoprenoide und Reaktionsprodukte von ­Zuckern mit Aminosäuren duften viel leckerer. Bibliothek: Etwas, wo eine Ansammlung an komplexen biologischen Dingen drin ist. Das kann eine Substanz-Bibliothek sein, in der nach möglichen Arznei-­ Vorläufern gesucht wird. Im Zusammenhang von ➔ Display-Techniken ist hier eine Ansammlung von DNA- oder RNA-Molekülen gemeint, die mögliche Binde-­ Moleküle (➔ Aptamere, ➔ Antikörper) codieren. Es ist hilfreich, die eigentliche Größe der Bibliothek abschätzen zu können.

179 Glossar – von Anabolismus bis Zielmolekül

Bindung 55 Anhydrid-Bindung: Manche Säuren sind Oxo-Säuren  – sie enthalten mindestens ein Sauerstoff-Atom. Wenn man zwei solche Moleküle zur Reaktion zwingt – nein, sie tun das meist nicht freiwillig – dann verbinden sie sich unter Wasserabspaltung. Es entstehen zwei Säure-Reste, die über eine Sauerstoff-­ Brücke miteinander verbunden sind. 55 Doppel-Ester-Bindung: Wer kann, der kann. Phosphat hat eigentlich drei Bindungsmöglichkeiten. Zwei davon werden meist an Zucker vergeben (in RNA und DNA). So entsteht eine Situation, in der eine negative Ladung quasi über der Doppel-Ester-Bindung „schwebt“. Sie erschwert die nucleophile ­Attacke von Substanzen wie Wasser, die diese Bindung sonst kaputt machen würde. 55 Ester-Bindung: Eine Säure und ein Alkohol können unter Wasser-Abspaltung eine Ester-Bindung eingehen. In der Biochemie ist diese Bindung so beliebt bzw. verbreitet, da sie gut knüpfbar, einigermaßen stabil und dann aber auch ganz gut wieder spaltbar ist. Meist ist die Säure eine Carbonsäure, manchmal aber auch etwas anderes wie Phosphat oder Sulfat (oder formal deren protonierte Säuren). Die Alkohole können verschiedenste OH-Gruppen-haltige Substanzen sein. Eine Besonderheit sind Thio-Alkohole – deren prominentester Vertreter ist Coenzym A. 55 Glycosidische Bindung: Wenn man Glucose in seiner Sechser-Ring-Form betrachtet, sehen alle OH-Gruppen erst einmal gleich aus. Eine ist aber „gleicher“, das ist die OH-Gruppe am C-Atom 1. Die ist ja gar keine OH-Gruppe – sie verwandelt sich in eine Aldehyd-Gruppe, wenn wir Glucose in der lang gestreckten Version betrachten. Wenn diese OH-Gruppe eine Bindung mit einem Alkohol eingeht, dann entsteht eine O-glycosidische Bindung; mit einem Amin (eventuell einer Kernbase) entsteht eine N-glycosidische Bindung. 55 Wasserstoffbrücke: Ein absolutes Highlight der Biochemie. Wir Biochemiker sprechen gerne über sie. Die H-Brücke ist irgendwie ein Mischmasch aus p ­ olarer Bindung und einem kleines bisschen kovalenter Bindung. Es gibt H-Brücken-Geber und -Nehmer, also Donatoren oder Donoren und Akzeptoren. In der ­Biochemie sind das fast immer Hydroxyl- und/oder Aminogruppen. Chemischer Raum: In diesem Buch eher dazu benutzt, um zu verdeutlichen, was uns alles erspart bleibt. Ansonsten wird dieses Konzept wohl meistens beim Screening von riesigen Substanzbibliotheken angewendet. Damit kann man ­ ­abschätzen, wie grob das Undersampling im Experiment ist. Meist ist es sehr grob  – nur ein winziger Teil der riesigen Komplexität vieler Bibliotheken nimmt tatsächlich am Experiment teil. Verwandte Konzepte sind Sequenz-Raum oder Struktur-Raum von DNA oder Proteinen. CHNOPS: Eine hübsche Abkürzung für die essenziellen Makroelemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Phosphor und Schwefel. Echtes Leben braucht diese Elemente in hoher Konzentration. Darüber hinaus braucht es aber noch so einige Elemente mehr. Das sind dann die Mikroelemente. Coenzym ➔ Cofaktor

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Glossar – von Anabolismus bis Zielmolekül

Cofaktor: Ein Cofaktor ist ein besonderer Teil an einem Enzym. Nur sehr selten besteht er aus Aminosäuren; meist werden Nucleotide und Vitamin-­ Komponenten verbaut. Ein Cofaktor kann frei vorliegen oder an das Enzym gebunden sein. Meist ist er für eine besondere Chemie verantwortlich oder kann sehr kleine, „glitschige“ Substrate festhalten oder etwas größere, „faule“ Substrate aktivieren. Dieses Buch unterscheidet nicht zwischen Cofaktor, Cosubstrat und Coenzym. Es gibt aber wohl andere Bücher, die das tun. Beispiele für Cofaktoren sind ATP und das Coenzym A. Computersimulation: Erstmal ganz trivial  – etwas, das der Computer nachahmt  – sind Computersimulationen aus der naturwissenschaftlichen Forschung kaum noch wegzudenken. Sie bringen auch heute noch die allerbesten Computer ins Schwitzen, wenn man eben mal Zigtausende oder gar Millionen von Atomen über viele Bruchteile einer Sekunde simulieren will. Cosubstrat ➔ Cofaktor Dichte-Anomalie: Die allermeisten Materialien dehnen sich bei Wärme aus und ziehen sich bei Kälte zusammen. Ein paar Verbindungen verhalten sich aber komisch. Davon ist Wasser der wichtigste Vertreter. Wasser erreicht seine höchste Dichte bei 4 °C. Kugelpackung, dichteste: Ein sehr guter Startpunkt, um ➔ Self-Assembly zu verstehen. Kugeln locker ausgeschüttet und dann etwas gerüttelt werden immer die dichteste Kugelpackung annehmen. Die Kugelform gibt diese Anordnung vor. Irgendwie vergleichbar verhalten sich dann Phospholipide, wenn sie eine biologische Doppelmembran formen. Dielektrizitätskonstante: Schwierig. Heute wird sie auch (relative) Permittivität genannt. Sie bezeichnet die chemische Polarität eines Lösungsmittels. Bei Raumtemperatur hat Wasser einen Wert von 80,1 und Hexan hat einen von 1,9. Wegen des extrem hohen Werts kann Wasser sehr gut polare Substanzen lösen; die Skala ist aber nicht linear. Dimer ➔ Polymer Display, Phage-Display: Das Zur-Schau-Stellen irgendeines Biomoleküls, meist Proteine oder RNA-Moleküle. Gleichzeitig wird dabei die codierende Sequenz pfiffig verpackt und hinten angehängt. Diese Verpackung kann also ein besonderer Phage sein (Phage-Display), ein E. coli-Bakterium, eine Hefe oder sonst etwas ­Robustes und gut Charakterisiertes. ➔ Bibliothek Display-Methoden ➔ Display Dissoziationskonstante: Sie gibt an, wie stark oder schwach anziehend sich zwei Biomoleküle gegenseitig finden. Eigentlich ist sie eine absolut normale Gleichgewichtskonstante für eine Bindung A+B ⇄ AB, also eine biochemische Komplexbildung. Da man sich aber das Leben nicht unnötig schwer machen will, schaut man immer auf die Rückreaktion AB ⇄ A+B; die hat dann als Einheit nur Mol pro Liter, also nichts mehr mit „hoch minus eins“. DNA-Variation: Die genetische Vielfalt ist die Formmasse der Evolution. Die genetischen, chemischen, umweltbedingten und toxikologischen Vorgänge dazu sind ebenfalls vielfältig. Veränderungen einzelner Basenpaare, die spontan entstehen, sind Mutationen; solche, die bereits in einem Teil einer Population verbreitet sind, sind Polymorphismen, hübsch als SNP abgekürzt (von: single nucleotide polymorphism). ➔ Mutation

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Doppel-Ester-Bindung ➔ Bindung Eingefrorener Zufall ➔ präbiotische Chemie Enantiomer: Ein Enantiomeren-Pärchen sind zwei Moleküle, die „gegenteilig“ sind (das zumindest steckt im Wortteil „enantio“). In der Biochemie sind die beiden die Versionen einer chiralen (einer „händischen“) Verbindung. Biochemiker bezeichnen die beiden meist als D- und L-Form. Chemiker mögen eher die R- und S-Nomenklatur. Jeder wie er mag. Entkoppler-Protein: Erst einmal klingt das fies – ein Protein, das all die schöne Arbeit der OxPhos-Atmungskette kaputtmacht und den Protonengradienten zusammenschrumpfen lässt, wie einen (vorsichtig) angepiksten Luftballon. Dann aber wird klar, dass das Entkoppler-Protein und ein paar andere Mechanismen Wärme erzeugen, ohne dass dafür Muskeln schuften müssen. Essenzielle Makroelemente ➔ CHNOPS Ester-Bindung ➔ Bindung Expressionssystem: Es ist so wichtig, sich gut ausdrücken zu können. Das ist bei einem Expressionssystem aber nicht gemeint. Eher geht es darum, Proteine herzustellen (oder auch andere Biomoleküle). Das kann beliebig schwierig werden, da sich Proteine hochgradig „individuell“ verhalten können. Ein einfaches Expressionssystem ist unser Labor-Haustierchen Eschericha coli  – Plasmid mit der codierenden Sequenz rein, E. coli wachsen lassen, ein bisschen kitzeln (induzieren), weiter wachsen lassen, ernten, Zellen kaputt machen, Protein reinigen, fertig. Irgendwie ähnlich geht Protein-Produktion auch in verschiedenen Hefen, in Insekten- oder Säugetier-Zellen, in transgenen Tieren oder Zell-freien Extrakten. Jedes dieser Systeme hat Vorteile, aber auch Tücken. Farb-Indikatoren ➔ Indikator Fließgleichgewicht: Ein „offenes“ System, das einen ständigen Durchsatz an Nährstoffen und/oder Energie hat. Trotzdem erreicht so ein System einen stabilen Zustand, einen steady state. Die meisten Lebewesen kann man als so ein Fließgleichgewicht beschreiben; manche Haushalte auch. Flüssig-Flüssig-Phasentrennung ➔ Phasentrennung Glycosidische Bindung ➔ Bindung Hoch-Energie-Molekül: Ein etwas sperriges Konzept. Biochemisch ist wohl alles gemeint, das irgendwie in der Lage ist, aus ADP ein ATP-Molekül zu machen. Dem Autor dieses Buchs ist aber wichtig, dass es dabei NICHT um eine einzelne „hoch geladene“ Bindung geht; immer ist das gesamte Molekül an der Reaktion beteiligt. Hoch-Energie-Verbindung ➔ Hoch-Energie-Molekül Hydrophober Effekt: Ein Biochemie-Klassiker. Nur weil Wasser nicht geordnet sein will – entropisch gesehen – presst es Moleküle zusammen, die sich ihrerseits weigern, sich in Wasser zu lösen. Irgendwie eine indirekte Kraft, aber eine wichtige. Ikosaeder: Virale Protein-Hüllen haben oft die Form eines Ikosaeders; manch riesengroße Protein-Komplexe ebenso. Genauso wie Tetraeder und Oktaeder besteht ein Ikosaeder aus gleichseitigen Dreiecken, nur eben nicht aus vier („tetra“) oder acht („okta“), sondern aus 20 („ikosa“). Wohl deutlich bekannter als der Ikosaeder selbst ist ein Ding, bei dem die Ecken abgeschnitten sind  – der abgeschnittene Ikosaeder, der allseits bekannte Fußball.

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Glossar – von Anabolismus bis Zielmolekül

Indikator: Indikatoren, Reporter, Sensoren, all das sind Verbindungen oder biotechnologische Konstrukte, die die An- oder Abwesenheit von irgendetwas ­anzeigen sollen. Farbindikatoren sind gut geeignet, um Änderungen im Säure-­ Base-­Verhalten anzuzeigen. Mein Favorit in dieser speziellen Rubrik ist eindeutig Rotkohlsaft. Intrazellulärer Botenstoff ➔ Second Messenger Isoform: Zwei Isoformen eines Proteins oder eines anderen Biomoleküls sind zueinander ähnlich, aber nicht identisch. Mehr steckt in dem Wort nicht drin; es können zwei Punktmutationen eines Proteins gemeint sein, zwei Spleißvarianten oder gar zwei nur entfernt verwandte Gene. Eigentlich ein Wort, auf das man verzichten könnte. Isoprenoid: Eine Naturstoffklasse, die im LEGO-Baukasten des Lebens aus nur zwei C5-Bausteinen zusammengesetzt wird. Spätere Modifikationen erlauben eine quasi unendliche Vielzahl von Verbindungen. Pflanzen sind wohl die Isoprenoid-­ Synthese-­Weltmeister. Katabolismus: Alle Reaktionen zusammengenommen, aus denen der Körper Energie beziehen kann. Wohl auch dazu gehört eine molekulare Müllabfuhr mit ordentlichem Recycling. Konzentrationsunterschied: Es ist schon verblüffend, was da alles als Energiequelle des Lebens dienen kann. So zum Beispiel Konzentrationsunterschiede zwischen benachbarten Bereichen fast jeglicher Art. Ligand: Eine Legierung (von Metallen) kommt vom lateinischen Wort ligare für binden. Genauso wie das Legieren einer feinen Bratensoße. Und da haben wir auch noch das putzige Wort Ligand. Ein Ligand ist so ziemlich alles, was an ein Protein (oder ein anderes Biopolymer) bindet, ein Binder halt, meist kleiner als das, woran der Ligand bindet. Das ist dann das ➔ Zielmolekül oder der ➔ Rezeptor. Lokales energetisches Minimum ➔ präbiotische Chemie Monomer ➔ Polymer Mutation: Eine Änderung in der Abfolge von codierenden Kernbasen (meist DNA, manchmal auch RNA). Je nach Kontext der Mutation und danach, was sie am Ende bewirkt, unterscheidet man verschiedene Arten von Mutationen. Innerhalb von Sequenzen, die Proteine codieren, kann ein anderes Codon entstehen, das aber für die gleiche Aminosäure steht – eine „stille“ (silent) Mutation. Dann kann es zu Änderungen der Aminosäure-Sequenz kommen, eine missense-Mutation, und schließlich kann ein Stoppcodon entstehen, eine non-sense-Mutation. Next-Gen-Seq: Die Sequenzierung von Nucleinsäuren (fast immer DNA) hat mittlerweile ein industrielles Zeitalter erreicht. „Sequencing by Synthesis“ ist hier ein Prinzip, das massiv parallelisiert wurde. Etwas abgefahren ist die Nanopore-­ Sequenzierung. Hier wird eine basenspezifische elektrische Spannung erzeugt, während ein DNA-Einzelstrang durch eine spezielle Protein-Pore gezogen wird. Durch allerlei methodische Fortschritte ist Sequenzieren unglaublich schnell geworden. Anfang 2022 lag der offizielle Weltrekord für die Komplettsequenzierung eines menschlichen Genoms bei 5 Stunden und 2 Minuten. ➔ ­Sequenzierung Oberflächenspannung: Im biochemischen Vergleich hat Wasser eine sehr hohe Oberflächenspannung. Das kommt daher, dass Wasser gerne unter sich bleibt,

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gerne auch ziemlich ungeordnet. An der Oberfläche aber ist Wasser gezwungen, eine gewisse Ordnung anzunehmen. Darum will Wasser immer eine Form mit der kleinst-möglichen Oberfläche pro Volumen einnehmen. Übrigens: Regentropfen sind rund; nie haben sie die „typische“ Regentropfenform – niemals. Orbital: Orbitale von Atomen oder Molekülen sind waberne Elektronenwolken oder auch Aufenthaltswahrscheinlichkeiten von Elektronen. So ein bisschen wie eine schwingende Saite irgendeines Streich-Instruments können Orbitale komische Formen annehmen  – mal sind sie rund, mal ähneln sie einer Hantel aus dem Fitness-­Studio, mal haben sie noch kompliziertere Formen. Biochemisch sind s-, p- und d-Orbitale wichtig sowie verschiedene Mischungen aus s- und p-Orbitalen – die sp3- und sp2-Hybrid-Orbitale. ➔ Stereochemie PDB ➔ Protein Data Bank PDB-Format ➔ Protein Data Bank Phage-Display ➔ Display Phasentrennung, Phasenübergang: Im Zusammenhang mit Wasser sind hier erst einmal das Schmelzen von Eis und das Frieren von Wasser sowie das Verdunsten von Wasser und Kondensieren von Wasserdampf gemeint. Biochemisch können das aber auch andere Phasenübergänge sein, so zum Beispiel in einer Membran von einem kristallinen in einen flüssigen Zustand. Und dann gibt es noch das weite Feld der Flüssig-Flüssig-Phasentrennungen. Die werden mehr und mehr bei allen möglichen biochemischen Prozessen entdeckt. Denken wir mal an das absolut mit Biopolymeren vollgestopfte Innere einer Zelle – alles noch irgendwie in wässriger Lösung – dann kommt es zu einer Phasentrennung und auf einmal verhält sich ein Teil davon wie ein Fett-Tropfen. Polymer: „-mer“ ist eine sehr wichtige Silbe in der Biochemie, sie kommt vom altgriechischen Wort meros, was Teil oder Anteil bedeutet. Also zählen wir durch: Monomer = etwas aus einem Teil, meist etwas Kleines, chemisch oft auch etwas reaktiver; Dimer = eine zweiteilige Substanz; Tetramer = vierteilig; und schließlich Polymer = ein Ding aus vielen (gleichen?) Bestandteilen. Protein Data Bank: Die PDB ist eine internationale Sammelstelle für 3D-­ Strukturen von Biopolymeren, die schon seit 1971 existiert. Die meisten Struk­ turen darin sind von Proteinen. Die PDB enthält aber auch strukturelle Informationen von zahlreichen Liganden, Lipiden und Cofaktoren wie auch von DNA und RNA-Komplexen. PDB steht auch für das PDB-Format, in dem die strukturellen Informationen gespeichert sind. PDB-Dateien kann man mit verschiedenen PDB-­ Viewern oder -Browsern visualisieren. Puffer, Pufferlösung, Puffersysteme: Kleine oder große Biomoleküle, die bei „physiologischen“ pH-Werten ein Proton aufnehmen oder abgeben können. Durch diese Puffer-Funktion werden Änderungen des pH-Werts abgemildert. Reporter ➔ Indikator Rezeptor: In der Endokrinologie ist ein Rezeptor genau das, woran ein bestimmtes Hormon bindet und dadurch seine biologische Wirkung entfaltet. In der Pharmakologie ist dieses Konzept deutlich schwammiger – dort ist es alles, voran ein Wirkstoff bindet, um seinen pharmakologischen Effekt zu entfalten.

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RNA-Welt, Ribozym, Ribosom: Die drei Rs der ➔ präbiotischen Chemie. Die RNA-Welt-Hypothese versucht den Anfang des Lebens zu erklären, als es weder DNA als Informationsspeicher noch Proteine als Biokatalysatoren gab. Schrödingers Katze: Wenige Gedankenexperimente sind wohl bekannter als die Katze des Physikers Erwin Schrödinger. In diesem Gedankenexperiment veranschaulicht Schrödinger die Schwierigkeiten der zu direkten Auslegung der Quantenwelt. Es geht darum, dass zwei Zustände, die sonst nicht miteinander vereinbar sind, in der Quantenwelt sehr wohl überlagert werden können. Vielleicht vergleichbar mit jener Zeit nach dem Abgeben einer schwierigen Klausur, aber vor der Bekanntgabe der Noten – eine komische Zeit, in der man die Klausur irgendwie bestanden hat, gleichzeitig aber auch irgendwie durchgefallen ist. Second Messenger: Die Übertragung einer Botschaft von draußen in die Zelle hinein ist eine Wissenschaft für sich. Danach geht die Signalübertragung mit ­Second Messengern aber erst los. Diese Signal-Moleküle werden innerhalb der Zelle auf einen Stimulus hin erzeugt. Viel diskutierte Second Messenger sind die zyklischen Nucleotide cAMP und cGMP oder Calcium-Ionen. Es gibt viele andere mehr. Fast immer stellt sich am Ende die Frage, wie Spezifität bei dem ganzen Prozess gewährleistet wird. Sekundär-Stoffwechsel: Wer A sagt, muss auch B sagen. So oder so ähnlich sollte der Begriff Sekundär-Stoffwechsel entstanden sein. Vielleicht sogar bei Tieren oder beim Menschen anwendbar, ist es ein feststehender Begriff aus der grünen Biotechnologie. Der zentrale Metabolismus ist so etwas wie „Proteine und Zucker machen“. Alles was darüber hinaus geht, beispielsweise Glucosinolate und Isoprenoide, ist dann der Sekundär-Stoffwechsel. Self-Assembly: Ordnung aus dem Chaos. Kleinere Untereinheiten von größeren Komplexen fügen sich von allein zusammen; meist angetrieben von vielen kleinen Interaktionen und/oder Packungseffekten. Ein sehr schickes Self-Assembly-­ System sind virale Capsid-Proteine – selbst in dünnen, wässrigen Puffern können sie (manchmal) komplette virale Hüllen bilden. ➔ Ikosaeder, ➔ Kugelpackung Sensor ➔ Indikator Sequenzierung: Erst einmal ist Sequenzierung das Bestimmen der Abfolge von irgendwelchen linear zusammengesetzten Biopolymeren. Es könnten also auch Zuckerketten oder Peptide sequenziert werden. Etwas spezieller ist damit (also in 99,999 % der Fälle) die Sequenzierung von DNA gemeint. Das Standard-Verfahren hierzu ist die Di-desoxy-Sequenzierung nach Frederick Sanger. ➔ Next-Gen-Seq Signalübertragung: Ein lebendiger Organismus muss ständig Informationen mit der Außenwelt austauschen – und das auch schon vor den Zeiten von Smartphones. Auch zwischen verschiedenen Organen und/oder Zellen gibt es solch einen Informationsfluss. Oft wird hierfür eine begrenzte Anzahl an chemischen Signalmolekülen verwendet, die wir Hormone nennen. Einmal beim Adressaten angekommen, dockt so ein Hormon an einen entsprechenden ➔ Rezeptor, der dann innerhalb der Zelle die weitere Signalübertragung durch verschiedene ➔ Second Messenger anregt. Stereochemie: Egal, ob das Molekül klein oder groß ist, meist sehen wir es auf einem flachen Bildschirm oder gedruckt auf Papier. Ich kann das Wissen über die wirkliche Geometrie einer chemischen Verbindung dazu benutzen, eben dieses

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Molekül dreidimensional zu sehen – als ob ich eine erlernte 3D-Brille aufsetze. Gleichzeitig kann ich aber auch Hilfsmittel benutzen, um zum selben Ziel zu kommen. Diese Hilfsmittel können Schiele-Bilder (Magic Eye) oder MolekülModellbaukästen sein. Toll sind auch Programme, die dreidimensionale Modelle von Protein-Strukturen darstellen. Ach, und dann gibt es noch 3D-Drucker und so schicke Software, die einen Mix aus Simulation und Wirklichkeit darstellen können; im Englischen heißt das Augmented Reality. Sulfatierung: Es fängt so harmlos an: Einfach einen Ester zwischen Schwefelsäure und irgendeinem Biomolekül mit OH-Gruppe machen (alternativ ein Säure-­ Amid mit einem Ding mit Aminogruppe). Biochemisch geht dann aber der Ärger los beim reaktionsträgen Sulfat – Abhilfe schafft hier ein Enzym, das dem Sulfat mithilfe von ATP auf die Sprünge hilft. Sulfatierende Enzyme tauchen in vielen spezialisierten Stoffwechselwegen auf. Sulfatierung verändert die Funktionsweise von Steroid-Hormonen und vielen anderen Biomolekülen. Und dann gibt es noch die selektive Desulfatierung in peripheren Geweben. Ah, und all das war erst das cytoplasmatische Sulfatierungsgeschehen. Im Golgi werden dann noch pass-­ genaue sulfatierte Glucosaminoglycane gemacht, die wiederum verschiedenste Wachstumsfaktoren binden. Es bleibt spannend. Target ➔ Zielmolekül Tetraeder: Eine wichtige geometrische Form, um die Bindungsgeometrie der Elemente Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff zu verstehen. Sie alle sind Elemente der zweiten Periode des Periodensystems. Ein Molekül Methan besteht aus einem Kohlenstoff-Atom und vier gebundenen Wasserstoff-Atomen. Alle Bindungswinkel sind exakt gleich; der perfekte Bindungswinkel im Tetraeder ist 109,5°. Tetramer ➔ Polymer Thermodynamik: Ein sehr großes Theoriegebäude der Chemie. Biochemisch ist darunter häufig zu verstehen, was man maximal aus einer chemischen Reaktion herausholen könnte. Alternativ, ob eine Reaktion freiwillig ablaufen würde oder ob man mit der Zufütterung von ATP oder Ähnlichem nachhelfen müsste. Thermodynamische Messungen nehmen meist einen Gleichgewichtszustand an, jenen hypothetischen und langweiligen Moment, an dem alles gesagt wurde und alle Hin- und Rückreaktionen keine Änderung mehr bei der Stoffzusammensetzung machen. Thermodynamisches Gleichgewicht ➔ Thermodynamik Trigonale Bipyramide: Eine geometrische Form, um die Bindungsgeometrie der Elemente Kohlenstoff, Stickstoff und Sauerstoff zu verstehen. Sie alle sind Elemente der zweiten Periode des Periodensystems. Hübsch sind die trigonalen ­Bipyramiden anzuschauen. Ein Zentral-Atom und drei gebundene Atome liegen alle in einer Ebene; ober- und unterhalb dieser Ebene wabert ein freies ­Elektronenpaar in einem hantelförmigen p-Orbital herum. Ursuppenexperiment ➔ präbiotische Chemie Volumen-Oberflächen-Ungleichnis: Kleine Sachen sind nicht nur einfach kleiner als Große; teils funktionieren sie ganz ansers. Anders herum ist dieser Satz auch korrekt. Die Masse bzw. das Volumen nehmen halt eben mit der dritten Potenz zu (Länge hoch drei), die Oberfläche wächst dagegen nur linear an. Darum

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hat ein kleines Lebewesen ganz andere „Sorgen“ als ein sehr großes. Erst einmal ist das eine mathematische Abhängigkeit. Davon lässt sich aber auch die eine oder andere biologische Regel ableiten, beispielsweise die Regel von Bergmann, nach der die Körpergröße von nahe verwandten Spezies zu den Polar-Regionen unserer Erde hin zunimmt. Wärmekapazität: Jedes Material ist etwas eigen, wenn es darum geht, ob es leicht erhitzt werden will oder nicht. Wasser ist dabei ein riesiger Wärmeschlucker. Metalle dagegen wirken meist nur kurz kalt oder heiß. Wasserstoffbrücke ➔ Bindung Zielmolekül: Die molekulare Zielscheibe für irgendeine Intervention; meist im Zusammenhang mit der Entwicklung von Medikamenten gebraucht. Das Zielmolekül ist die Struktur im Körper, an die der Wirkstoff in einem Medikament andockt, um seinen pharmakologischen Effekt zu entfalten. Die Zielmoleküle des Wirkstoffs Sildenafil in den komisch geformten, blauen Tabletten sind die Enzyme Phospho-Di-Esterase 5 und 6. ??Würden Sie gerne noch mehr Fachwörter auf meine Art erklärt kriegen? Schreiben Sie mir.

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Stichwortverzeichnis A Abkürzung in wissenschaftlichen Texten  167, 169, 170 Acetat 20 Acetyl-CoA  134, 135, 138, 139 α-helix  35, 89 Aminosäure 37 Anthropologie –– evolutionäre 159 Antikörper  37, 57, 163 Aptamer 163 Archäologie –– DNA-basierte 159 Art –– invasive 157 Asparagin 33 ATP  89, 115, 116 ATPase 135 ATP-synthase  119, 121

B Ballaststoff  29 Bernstein, Harris  75 β-oxidation 137 β-Faltblatt  35, 89 Bibliothek  163, 164 Biopolymer –– homochirales 53 1,3-Bis-Phospho-Glycerat 114 Butter 41

C Calvin-Zyklus 150 Capsid 83 Chaos  2, 82 Chemie –– präbiotische 50 Chloroplast  119, 145 CHNOPS  15–17, 24 Cholesterin  47, 48, 86, 87 Chromosom  66, 67, 69 Code –– genetischer  71, 75 Cofaktor  101, 104 Computersimulation  2, 13 Corona 14

C4-Pflanze 153 C-Terminus 35 Cytochrom-P450-Enzym (Cyp)  107 Cytoskelett 86

D Darwin, Charles  156, 158, 162 Dawkins, Richard  158 Dichte-Anomalie  3, 4 Display-Methode 163 Display-System 164 DNA 60–62 –– A-DNA 64 –– alte 157 –– antike 70 –– B-DNA 63 –– dreisträngige 65 –– Z-DNA 65 DNA-polymerase 67

E Effekt –– hydrophober  11, 86, 89, 90 Ein-Buchstaben-Code 37 Elektronegativität 147 Enolase 131 Enzymaktivität 97 Epigenetik  161, 162 Erdnuss  38, 154 Evolution  104, 157 –– im Reagenzglas  164 Expressionssystem 162

F FAD 103 Fettgewebe 138 Fettsäure-Synthese 138 Fieber 110

G Gärung 132 Genetik 162 Glucokinase 129 Glucose  25, 51

A–G

Stichwortverzeichnis 188

Glucosinolat  150, 151 Glycin 24 Glycogen 130 G-quadruplex  65, 67

H Hämoglobin –– glyciertes 27 Haustier 159 HbA1c 27 Henne-oder-Ei-Frage 78 Heparin 28 Hexokinase  96, 129 Histon  69, 76, 82, 161, 162 Histon-Code 76 Hoch-Energie-Molekül  114, 135 Hydrid-Ion 103 Hydroxysteroid-Dehydrogenase (HSD)  106

I

Leserahmen, offener  72, 74 Levinthal-Paradox 88 Lignin 152

M Magnesium –– Ion  96, 146 –– Salz 7 –– Verbrennung 147 Membran –– biologische  84, 86, 87 Menten, Maud  98 Mesomerie 115 Michaelis, Leonor  98 Michaelis-Menten-Gleichung 98 Miescher, Friedrich  46 Mitochondrium  107, 112, 119 –– DNA  65, 66 MOPS 7 Mutation 159

Ikosaeder 83 Insulin 35

N

J Jeremy Schnecke  55

NAD 91 NADPH 91 Neobiota 157 Neutralfett  42, 85 N-Terminus 35

K

O

Kinetik  95, 96, 98, 110 Klimawandel 152 Knallgas-Reaktion 147 Kohlenhydrat 26 Kompartimentierungscode 77 Kopplung –– biochemische Reaktion  113 Krebszyklus  135, 142 Kugelpackung –– dichteste 83 Kulturpflanze 153

Orbital 19 Oxidationszahl 18

L Lactat 133 Lactat-Dehydrogenase (LDH)  132 Lamarck, Jean-Baptiste  160, 162 Lanosterol-Synthase 47 Leber  107, 129, 132, 134 Lernen –– vernetztes 133

P Pentose-Phosphat-Pfad (PPP)  136, 137 Peptidbindung  34, 36 Pest 14 Phage-Display  57, 162 Phasentrennung 84 Phosphorylierung –– oxidative (OxPhos)  135 Photosynthese 154 Photosynthese-Komplex  146, 147 Polyphylie 153 Prinzip von Le Chatelier  110, 112 Protein  32, 88, 89 Protein Data Bank (PDB)  89 Proteinfaltung 87 Proteinstruktur 89 Pyrolyse 147

189 Stichwortverzeichnis

Pyruvat-Decarboxylase (PDC)  134 Pyruvat-Dehydrogenase (PDH)  134

R Reaktionsraum 113 Regulation 139 Ribosom  37, 87, 99–101 Ribozym 100 RNA-Welt 79 RuBisCO  148, 149, 153, 154

S Saccharose 28 Säure-Base-Katalyse 101 Sekundär-Stoffwechsel 154 Selen –– Element 16 –– Selenocystein  16, 32 Self-assembly  83, 84, 87 Sequenzierung 163 Shakespeare, William  170 Spiegelbild-Prinzip 57 Stereochemie 19 Steroid-Hormon  49, 106 Stopp-Codon –– Amber 75 Substanz-Klassifizierung  24, 25 Sulfatierung –– Steroid 107 Sulfatierungscode 77 Syndrom –– metabolisches 125

T Telomer  66, 68 Telomerase 67 Thermodynamik  95, 96 –– Zweiter Hauptsatz  82, 110 Thyroxin 34 TIM  96, 111, 127 Topoisomerase 82 Tryptophan 35

V Valin 21 Vitamin C  144 Vitamin D  108, 109

W Wachs 41 Warburg, Otto  125 Wärmekapazität 3 Wasser  2, 111 Wasserstoffbrücke  3, 11 Western blot  37 Wissenschaftssprache  166, 171, 172

Z Zielmolekül (Target)  163 Zufall –– eingefrorener 52

H–Z