Empfinden, was dem Leben dient - Erkenntnisse über den Menschen im Werk von Albert Schweitzer und Heinrich Jacoby [2nd Edition] 9783981111224

Vorwort Vom Vorstand der Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung in Berlin erhielt ich im Jahre 2000 die Einladung zu ein

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Empfinden, was dem Leben dient - Erkenntnisse über den Menschen im Werk von Albert Schweitzer und Heinrich Jacoby [2nd Edition]
 9783981111224

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Georg Ballod

Empfinden, was dem Leben dient

Erkenntnisse über den Menschen im Werk von Albert Schweitzer und Heinrich Jacoby sind hochaktuell Zweite überarbeitete Auflage ISBN 978-3-9811112-2-4

BERG

ERLAG

G E O R G B A L LO D

Georg Ballod

Empfinden, was dem Leben dient Erkenntnisse über den Menschen im Werk von Albert Schweitzer und Heinrich Jacoby sind hochaktuell

Zweite überarbeitete Auflage

ISBN 978-3-9811112-2-4

© 2008

Berg-Verlag-Ballod, Marnheim

Alle Rechte liegen beim Berg-Verlag

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Inhalt Vorwort

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Welches Menschenbild lebte in Albert Schweitzer, welches in Heinrich Jacoby? 1. Der Mensch aus der Sicht Albert Schweitzers 1.1 1.2 1.3 1.4 2

Erfahrungen, die den Menschen prägen Leid mitempfinden Menschlichkeit fördern Fragen zu Schweitzers Menschenbild

4 6 8 9

Der Mensch aus der Sicht Heinrich Jacobys 2.1 Die ,,biologische Ausrüstung“ des Menschen 2.2 Der Mensch als Teil der Gesellschaft 2.3 Die individuelle Entfaltungsaufgabe des Menschen 2.4 Fragen zur Arbeit Jacobys

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3 Unterschiede und Übereinstimmungen beim Menschenbild

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Die Gedanken und Erkenntnisse über den Menschen sind aktuell 4.1 Orientierung am Haben statt am Sein 4.2 Wirklichkeit wahrnehmen, statt Wirklichkeit inszenieren 4.3 Empfinden, was dem Leben dient

5 Ausblick

20 22 25 28

Was fördert unsere Entfaltung? Sechs Thesen zur Praxis der Entfaltung des Menschen nach Heinrich Jacoby

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Jacoby und Sokrates Skizze zum ,,Urbild“ des pädagogischen Bezuges

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Hinweise auf Quellen und Literatur

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Vorwort

Vom Vorstand der Heinrich-Jacoby/Elsa-Gindler-Stiftung in Berlin erhielt ich im Jahre 2000 die Einladung zu einem Vortrag über das Thema “Welches Menschenbild lebte in Albert Schweitzer, welches in Heinrich Jacoby?” Da mich Bezüge zwischen Schweitzers Theologie und Jacobys Pädagogik seit längerem beschäftigen, sagte ich spontan zu. Während der Arbeit zu diesem Beitrag wurde mir erneut bewusst, daß viele Erkenntnisse Schweitzers und Jacobys noch in hohem Maße aktuell sind. Darum beschloss ich, die vorliegende – erweiterte und in der zweiten Auflage überarbeitete und aktualisierte – Fassung zu publizieren. Manche aktuellen Beiträge zu Fragen von Bildung, Lernen und Erziehung erwecken den Eindruck, als sollte dort das Rad neu erfunden werden. Längst ist unstrittig: Da, wo Angst Lernen begleitet, kann nicht zweckmäßig gelernt werden. Was ich verstehen soll, muss ich mir selbst erarbeiten, nicht nur “einpauken”. Werte, die ich anderen vermitteln will, muss ich zuvor selbst verinnerlicht haben. Wenn ich nicht glaubwürdig bin, misslingt meine Erziehungsabsicht. Schweitzer und Jacoby haben zu den angesprochenen Fragen grundlegende Antorten gefunden, die nach meiner Auffassung noch heute hilfreich und bedenkenswert sind. Zwei kürzere Abhandlungen zur Arbeit und zur Bedeutung Heinrich Jacobys füge ich an. Viele neuere Entwicklungen in der pädagogischen Theorie und Praxis bestätigen meine Vermutung, daß Jacobys Vorgehensweise im Sinne eines “empirischen Hermeneutikers”, wie ich ihn charakterisieren würde, und die von dem originellen Beobachter menschlichen Verhaltens zusammengetragenen Erkenntnisse sowohl eine selbstkritische Reflexion von Erziehenden sowie von Berufspädagoginnen und -pädagogen anregen könnte. Es wäre vermessen, wollte ich diese Publikation als Beitrag zum bildungspolitischen Diskurs verstehen.

Bei dieser zweiten Auflage versuche ich zu prüfen, inwiefern es inzwischen zweckmäßig ist, Publikationen online zu veröffentlichen. Darum habe ich auf die Buchform verzichtet.

Meiner Ehefrau Ursula danke ich für sachkundige und kritische Gespräche zum Thema und für ihre Geduld beim Korrekturlesen.

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Welches Menschenbild lebte in Albert Schweitzer, welches in Heinrich Jacoby?‘ ,,(Mir kommt es) immer vor, als ob wir alle geistig von dem lebten, was uns Menschen in bedeutungsvollen Stunden unseres Lebens gegeben haben. Ich glaube nicht, daß man in einen Menschen Gedanken hineinbringen kann, die nicht in ihm sind. Gewöhnlich sind in den Menschen alle guten Gedanken als Brennstoffe vorhanden“ (Schweitzer 1985:52). ,,Es ist unmöglich, irgendetwas zu lernen, wofür nicht jeder Mensch die Voraussetzungen ,längst‘ in sich trägt“ (Jacoby 1950: ASB). Jeder Mensch ist ,,biologisch ausreichend ausgerüstet, um sich auf positive Weise mit allen Kulturgütem auseinandersetzen zu können“ (Jacoby 1991: 77). Die ersten Sätze schrieb Albert Schweitzer im Rückblick auf seine Kindheit und Jugendzeit. Die beiden letzten Sätze äußerte Heinrich Jacoby. Mit diesen Zitaten sind wir beim Thema: die besondere und selbst gelebte Auffassung vom Menschen zweier bedeutender Geister des vergangenen Jahrhunderts. Eine Gliederung des Themas liegt somit auf der Hand: Der Mensch aus der Sicht Albert Schweitzers (1) und Heinrich Jacobys (2), Unterschiede und Übereinstimmungen beider Positionen (3) sowie Überlegungen zur Aktualität der Gedanken und Erkenntnisse über den Menschen (4) mit einem Fazit (5). 1 Der Mensch aus der Sicht Albert Schweitzers 1.1 Erfahrungen, die den Menschen prägen Zwei Erlebnisse, so bekennt Schweitzer, waren für ihn prägend: a) Das Ergriffensein von dem Weh, das um uns herum in der Welt herrscht. Er litt unter dem Elend, das er in der Welt sah. Insbesondere bewegte ihn, ,,daß die armen Tiere so viel Schmerz und Not auszustehen hatten“. Wochenlang verfolgte ihn der ,,Anblick eines alten hinkenden Pferdes, das ein Mann hinter sich herzerrte, während ein anderer mit einem Stecken auf es einschlug - es wurde nach Kolmar ins Schlachthaus getrieben“ (Schweitzer 1985: 24). Einen tiefen Eindruck aus seinem siebten oder achten Jahr hinterließ das Erlebnis des Vogelschießens. Ein Schulkamerad wollte ihn an einem Sonntagmorgen überreden, mit einer Schleuder aus Gummischnüren auf zutraulich im Baum sitzende Vögel zu schießen. Aus Angst, ausgelacht zu werden, duckte sich Schweitzer ,,mit furchtbaren Gewissensbissen ... fest gelobend, daneben zu schießen. In demselben Augenblicke fingen die Kirchenglocken an, in den Sonnenschein und in den Gesang der Vögel

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hineinzuläuten (ebd. 24). Schweitzer warf die Schleuder weg, scheuchte die Vögel auf, der Kamerad blieb erfolglos. Ergriffen und dankbar blickte er später zurück: “Damals haben mir die Glocken der Passionszeit ,,das Gebot: ,Du sollst nicht töten‘ ins Herz geläutet“ (ebd. 25). b) Die andere prägende Erfahrung war die Frage nach dem Recht auf Glück. ,,Immer klarer wurde mir, dass ich nicht das innerliche Recht habe, meine glückliche Jugend, meine Gesundheit und meine Arbeitskraft als etwas Selbstverständliches hinzunehmen“ (ebd. 47). ,,Diese beiden Erlebnisse (Erlebniszusammenhänge) schoben sich langsam ineinander. Damit entschied sich meine Auffassung des Lebens und das Schicksal meines Lebens“ (ebd. 47). Schweitzer fasst zusammen: ,,Aus dem tiefsten Glücksgefühl erwuchs mir nach und nach das Verständnis für das Wort Jesu, daß wir unser Leben nicht für uns behalten dürfen. Wer viel Schönes im Leben erhalten hat, muss entsprechend viel dafür hingeben. Wer von eigenem Leid verschont ist, hat sich berufen zu fühlen, zu helfen, das Leid der anderen zu lindern. Alle müssen wir an der Last von Weh, die auf der Welt liegt, mittragen“ (ebd. 47). Gleich einer Wolke am Horizont war dieser Gedanke lebendig und bedeckte schließlich ,,den ganzen Himmel“. Die Entscheidung fiel für den Einundzwanzigjährigen. Als “Student in den Pfingstferien beschloss ich“, referiert Schweitzer, ,,bis zum dreissigsten Jahre dem Predigtamt, der Wissenschaft und der Musik zu leben. Dann, wenn ich in Wissenschaft und Kunst geleistet hätte, was ich darin vorhatte, wollte ich einen Weg des unmittelbaren Dienens als Mensch betreten“ (ebd. 47). Welcher Weg es sein sollte, würden die Umstände ergeben. Die Beschäftigung mit Vagabunden und entlassenen Strafgefangenen machte deutlich, daß diesen Menschen nur viele engagierte Einzelpersonen im Zusammenwirken mit Organisationen zweckmäßig helfen könnten. Schweitzer wollte allerdings ,,absolut persönlich und unabhängig“ handeln (Schweitzer 1931: 81). Daß sich diese Sehnsucht erfüllte, empfand Schweitzer als ,,eine große, stets auf neue erlebte Gnade“ (ebd. 81). Im Herbst 1904 fand der Privatdozent und Direktor des theologischen Studienstifts eines Morgens ein Monatsheft der Pariser Missionsgesellschaft auf seinem Schreibtisch. Mehr zufällig fiel sein Blick auf einen Artikel mit der Überschrift ,,Les besoins de la Mission du Congo“ (Was der Kongomission nottut). Er vernahm die Klage, dass es der Mission an Leuten fehle für die Arbeit in Gabun, damals die Nordprovinz der Kongokolonie. Der Schlußsatz des Artikels lautete: ,,Menschen, die auf den Wink des Meisters einfach mit: Herr, ich mache mich auf den Weg antworten, dieser bedarf die Kirche“. Nach der Lektüre nimmt Schweitzer

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sein Tagewerk auf. ,,Das Suchen hatte ein Ende“ (ebd. 82). Schweitzer beschließt, als Arzt und nicht als Missionar im Kongo zu wirken. ,,Arzt wollte ich werden, um ohne irgendein Reden wirken zu können. Jahrelang hatte ich mich in Worten ausgegeben. Mit Freudigkeit hatte ich im Beruf des theologischen Lehrers und des Predigers gestanden. Das neue Tun konnte ich mir nicht als Reden von der Religion der Liebe, sondern nur als ein reines Verwirklichen derselben vorstellen“ (ebd. 87f.). Das 1905 begonnene Medizinstudium beendet er mit seiner Promotion im März 1913. Unmittelbar danach bricht er mit seiner Ehefrau Helene, die er im Juni des Vorjahres geheiratet hat, nach Afrika auf. Vor diesem lebensgeschichtlichen Hintergrund läßt sich Schweitzers Auffassung vom Menschen plausibel näher bestimmen. Die prägenden Erfahrungen der eigenen Biographie schärfen seine Auffassung vom Menschen: Zwei Grundzüge sind demnach bestimmend: a) das Miterleben allen Leides, und b) das Tätigwerden für mehr Menschlichkeit. 1.2 Leid mitempfinden Ein elementares Erleben, das wir mit jedem Atemzug wahrnehmen können, fasst Schweitzer in den Satz: ,,Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“ (1931:145). ,,Denken“ heißt immer ,,etwas denken“. Das ist jedem unmittelbar bewusst. Auf diese Weise erfasst und erkennt sich der Mensch unablässig, sobald er über sich selbst und die Umwelt nachdenkt. Nicht angehäuftes Wissen oder gespeicherte Gedanken helfen dem Menschen, über sich und die Welt ins Reine zu kommen, sondern daß er sich auf die unmittelbare Grundlage besinnt. ,,Es ist das Ich Albert Schweitzers, es ist aber auch das Ich eines jeden Menschen, der sich auf den Boden dieses Bekenntnisses zu stellen vermag. Schweitzer hat immer unterschieden zwischen einer angelernten äußeren Sittlichkeit und einer Sittlichkeit, die der Ausdruck meiner eigenen inneren Identität ist. Und die ist hier gemeint (Altner 1995: 123).

Dieser Wille zum Leben ist von Sehnsucht erfüllt, nach Weiterleben und Lust sowie von Angst vor Vernichtung und Schmerz. Das gilt auch für den mich umgebenden Willen zum Leben, ,,ob er sich mir gegenüber nun äußern kann oder stumm bleibt“ (1931: 145).

Nach diesem Ansatzpunkt für seine Ethik hatte Schweitzer lange gesucht. Im September 1915 hatte er auf dem Ogowestrom sein Schlüsselerlebnis: Langsam kroch der kleine Dampfer mit einem überladenen Schleppkahn

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dahin. Er erinnert sich: ,,Geistesabwesend saß ich auf dem Deck des Schleppkahnes, um den elementaren und universellen Begriff des Ethischen ringend, den ich in keiner Philosophie gefunden hatte. Blatt um Blatt beschrieb ich mit unzusammenhängenden Sätzen, nur um auf das Problem konzentriert zu bleiben. Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurchfuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und gesucht, das Wort ,Ehrfurcht vor dem Leben‘ vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben; der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden. Nun war ich zu der Idee vorgedrungen, in der Welt- und Lebensbejahung und Ethik miteinander enthalten sind! Nun wußte ich, daß die Weltanschauung ethischer Welt- und Lebensbejahung samt ihren Kulturidealen im Denken begründet ist“ (ebd. 144).

Was ist von diesem Ansatz aus ,,gut“? Was ist ,,böse“? Nach Schweitzer ,,erlebt der denkend gewordene Mensch ... das andere Leben in dem seinen. Als gut gilt ihm: Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen; als böse: Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben nieder halten. Dies ist das denknotwendige, absolute Grundprinzip des Sittlichen“ (1931: 146). Ganz konsequent ist Schweitzers Lebenspraxis: Eine Kröte, die in einem Loch für einen Zaunpfahl sitzt, wird herausgehoben. Die Fenster des Arbeitszimmers bleiben abends geschlossen. Insekten könnten sich an der Tischlampe versengen. Die Tochter Schweitzers erinnert sich an die Kindheit: ,,Vater bestand darauf, daß ich einen Wurm am Wege aufhob. Es ekelte mich“. Schweitzer möchte eine neue Ethik formulieren: ,,Der große Fehler aller bisherigen Ethik ist, daß sie nur mit dem Verhalten des Menschen zum Menschen zu tun zu haben glaubte. In Wirklichkeit handelt es sich darum, wie er sich zur Welt und allem Leben, das in seinen Bereich tritt, verhält“ (ebd.). Auch pflanzliches und tierisches Leben sind heilig. Wenn der Mensch von der Welt nur wissen kann, ,,daß alles, was ist, Erscheinung vom Willen zum Leben ist, wie er selber“ (ebd. 207), so erkennt er einen Spannungsbogen: Im Weltbezug wird er sowohl zur Aktivität als auch zur Passivität herausgefordert. Er ist einerseits der Gesamtheit aller Lebensäußerungen unterworfen, er ist andererseits in der Lage, ,,hemmend oder fördernd, vernichtend oder erhaltend auf Leben, das in seinen Bereich kommt, einzuwirken”. Die einzige Möglichkeit, seinem Dasein einen Sinn zu geben, besteht darin, daß er sein natürliches Verhältnis zur Welt zu einem geistigen erhebt“ (ebd. 207).

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1.3 Menschlichkeit fördern Für alle Menschen geht es darum, ,,daß sie immer menschlichere Menschen werden“ (Brüllmann 1986: 153). Auf keinen Fall dürfen wir uns dazu verleiten lassen, daß ,,die Stimme der Menschlichkeit in uns“ verstummt (Brüllmann ebd.). Rastlos war der Einsatz für sein Urwaldhospital. Auslandsreisen mit Vorträgen und Orgelkonzerten; Spenden sammeln, harte Arbeit vor Ort. Nach Empfang des Friedensnobelpreises 1954, der ihm rückwirkend für 1952 verliehen worden war, erreichte Schweitzer die Weltöffentlichkeit auch mit engagierten Radioappellen (1958) gegen Atomwaffenversuche und Abschreckungspolitik. Er fand Prominente als Bundesgenossen im Einsatz für den Weltfrieden. Ein Brief an einen Jugendleiter in Stuttgart bringt Schweitzers Anliegen anschaulich und ansprechend zum Ausdruck: ,,Lambarene 17.3.59 Lieber Herr Steinwascher, Sie haben sicher die Erwartung schon aufgegeben, jemals eine Antwort auf Ihren so herzlichen Brief vom 8.6.58 zu erhalten. Aber es ist mir ein Bedürfnis, zu antworten. -- Aus diesem Miterleben mit der heutigen Jugend, insbesondere mit der, die es besonders schwer hat, mache ich mir Sorgen, dass Ihr den Glauben an die Menschen bewahrt. Darum wage ich Euch zu sagen: Haltet ihn fest. Die Menschen können das menschliche Empfinden nicht ablegen. Kommt ihnen in schlichtem Vertrauen entgegen, wo Ihr mit ihnen zu tun habt. Dann werden sie anders als sie scheinen. Wir müssen das Menschliche in denen, mit denen wir zu tun haben, erwecken. Das ist meine Erfahrung. Dadurch wird vieles umgestaltet ... Urteilt nicht über andere, sondern nehmt Euch vor, ein rechter, natürlicher Mensch zu sein, unter welchen Verhältnissen es auch sei. In unserer so dunklen und in vieler Hinsicht so trostlosen Zeit muss es in uns Licht sein, dass wieder Helligkeit und Wärme aufkommt. Zu dieser Natürlichkeit gehört, dass Ihr alle Empfindlichkeit fahren lasst. Nicht mit den Menschen rechten, nicht ihr Verhalten in vorgefasster Meinung beanstanden und deuten, sondern sie ertragen und warten, dass Freundlichkeit und Herzlichkeit irgendwie aufkommen. Wenn die Menschheit nach allem Furchtbaren, das sie begangen und durchgemacht hat, nicht zugrunde gehen soll, muss ein neuer Geist aufkommen. Und der kommt nicht mit Brausen, sondern in stillem Wehen, nicht in grossen Massnahmen und Worten, sondern in unmerklicher Veränderung der Atmosphäre, an der jeder von uns beteiligt ist und die jeder als stille

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Wohltat empfindet. Haltet Euch an, stille, tüchtige, gütige Menschen zu werden -- nach der innerlichen Frömmigkeit strebend, zu der uns Jesus in seinen Worten den Weg weist. Ich schreibe Ihren Jünglingen dies tief in der Nacht, nach einem schweren Tag. Wenn ich es ungeschickt angefangen habe, möge man meiner Müdigkeit verzeihen. -- Mit lieben Gedanken an Sie und Ihre Jünglinge, Ihr ergebener Albert Schweitzer.“ (Schweitzer 1987: 278f.

Jeder kann sein Lambarene bauen! ,,Schafft euch ein Nebenamt. Tut die Augen auf und suchet, wo ein Mensch oder ein Menschen gewidmetes Werk ein bißchen Zeit, ein bißchen Freundlichkeit, ein bißchen Teilnahme, ein bißchen Gesellschaft, ein bißchen Arbeit eines Menschen braucht“ (Brüllmann 1986: 149). Schweitzer selbst ist für seine robuste Gesundheit dankbar. Aber er war zeitweise auch sehr ermüdet, bis zur Erschöpfung. Beispielsweise im Sommer 1925, als das Hospital von einer Ruhrepidemie heimgesucht wurde: Schweitzer mußte mit dem Unverstand und dem Leichtsinn seiner Patienten fertig werden. ,,Eines Tages, in der Verzweiflung über Leute, die eben wieder unreines Wasser geschöpft haben, lasse ich mich im Konsultationszimmer auf einen Stuhl fallen und stöhne: ,Was bin ich doch für ein Dummkopf, daß ich der Doktor solcher Wilden geworden bin!‘ Mild läßt sich Joseph (ein langjähriger, alter Heilgehilfe) vernehmen: ,Ja, auf Erden bist du ein großer Dummkopf, aber nicht im Himmel“‘.

1.4 Fragen zu Schweitzers Menschenbild Schweitzer bemühte sich zu beweisen, dass sein Ethikentwurf denknotwendig ist. Er machte dazu mehrere Anläufe. Ist ihm das gelungen? Nein, dass Ethik denknotwendig ist, kann keiner plausibel begründen. ,,Indem Albert Schweitzer seine Ethik zu einer systematischen Doktrin ausbauen wollte, überforderte er offenbar die Möglichkeiten der Erkenntnistheorie und Methodologie im Kreuzungsbereich normativer und kognitiv-deskriptiver Theoriebildungen“ (Lenk 1990: 49). In einer Predigt bekannte Schweitzer: ,,Ich kann nicht anders, als Ehrfurcht haben vor allem, was Leben heißt, ich kann nicht anders, als mitempfinden mit allem, was Leben heißt: Das ist der Anfang und das Fundament aller Sittlichkeit“. Dieses Empfinden kann nicht Letztbegründung und allgemeingültige Norm für sittliches Handeln sein. Schweitzer rang mit dem Problem, aber schaffte die Lösung nicht. (Günzler 1990: 31ff.). Schweitzer korrigierte sich ungern und konnte sich nicht für eine klare Begrifflichkeit begeistern. Er hätte

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mancher Sackgasse ausweichen können, wenn er beispielsweise so zentrale Begriffe wie ,,Ethik“ und ,,Sittlichkeit“ für seine Argumentation präziser definiert hätte. Zum 125. Geburtstag widmete das ZDF dem Urwalddoktor einen Beitrag unter dem Titel: ,,Die Welt braucht Dickschädel“. Sendezeit: Von 0.30 bis 1.00 Uhr. Was besagt das wohl über die Erwartungen hinsichtlich der Einschaltquoten? Schweitzers Enkelin ließ durchblicken, daß die Familie viel entbehren mußte. Ein ,,menschenfreundlicher Patriarch“, war eine lebensnahe Bezeichnung. ,,Das, was die Basis ihrer Ehe war, das gemeinsame Engagement, gerichtet auf ein großes Ziel“ (Röhr 1998: 126), entglitt seiner Frau Helene mehr und mehr. Die einstige starke Gemeinschaft verdorrte. ,,Helene empfindet bitter, daß sie verdrängt wurde“ (ebd. 127).

2 Der Mensch aus der Sicht Heinrich Jacobys Auch Jacoby empfindet: Benachteiligte verdienen es, dass man sich um sie kümmert. Als Musiker interessiert er sich für das ,,Problem der vermeintlich Unbegabten, um es zu erweitern auf die gesamte Verhaltensproblematik in ihrer Bedeutung für die Entfaltung des Menschen“ (Jacoby 1986: 12). In Anlehnung an Pestalozzis ,,Dreistufenoptik“ (Biedermann 1991: 217): läßt sich die folgende Skizze zweckmäßig gliedern: ,,Was bin ich als Werk der Natur? Als Werk meines Geschlechts? Als Werk meiner selbst?“ 2.1 Die ,,biologische Ausrüstung“ des Menschen Jeder gesunde Mensch ist hinlänglich ausgerüstet zur Bewältigung aller Kulturaufgaben: ,,Es ist nüchterne, naturwissenschaftlich bestätigte Erfahrung, daß die ,biologische Ausrüstung‘ des Menschen für den Kontakt mit der Umwelt physiologisch so organisiert ist, daß durch ihr bloßes Spielenlassen ohne ,aktives Dazutun‘ die Möglichkeit zu unmittelbarem Kontakt gesichert ist. Der zwanghafte Wunsch wahrzunehmen, ist dabei nicht nur überflüssig, sondern wie sich experimentell nachweisen läßt, unzweckmäßig. Er wirkt störend. Hier ist der Schlüssel zum Verständnis des Entstehens vieler Leistungshinderungen und Leistungsminderungen, deretwegen wir einen Menschen als ,unbegabt‘ werten; zum Verständnis der Störungen, die durch praktisches Überprüfen der elementaren Zusammenhänge zwischen Verhalten und den Qualitäten des Erfahrens und der Leistung und durch anschließende Umdisziplinierung sogar noch im Alter behoben werden

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können. So ist z. B. die biologisch und physiologisch gegebene Voraussetzung für den Wahrnehmungs-, Erfahrungsprozeß beim Sehen die Empfangsbereitschaft für das ,Einfallen des Lichtes‘, die Bereitschaft, auf Helligkeitsschwankungen zu reagieren, und nicht ,aktives‘, analysierenwollendes Ansehen und Betrachten der Gegenstände. Beim Hören ist es die ,Empfangsbereitschaft für den Schall‘ und nicht das mehr oder weniger angestrengte, analysieren-wollende Zu-hören und ,Ohrenspitzen‘. Beim Tasten und Greifen ist es das tastende, erfahrungsbereite In-Kontakt-Kommen mit dem Objekt und nicht ein Anfassen und Begreifen mit überflüssigem Druck.“ (JBU: 12) Schon ab 1909 kam Jacoby als Kapellmeister und Regievolontär in Straßburg zu der Erkenntnis, daß bei Sängern und Musikern Schwierigkeiten bei Intonation, Darstellung oder Gedächtnis nicht auf den Mangel an besonderen Begabung zurückzuführen sein konnten.

,,Schöpferische Kräfte schlummern in jedem Menschen, sind aber häufig verschüttet. Verschüttet durch ungeeignete Erziehung, durch Entmutigung. Erstaunlich jedoch, dass sich Kreativität bei Erwachsenen auch nach vielen Jahren wieder freilegen lässt. Zu wünschen wäre, dass die schöpferischen Fähigkeiten gar nie zugedeckt würden. Kinder wären — sofern man sie gar nicht erst störte kreativ, d.h. zu Leistungen befähigt, die wir als Ausfluss besonderer Begabungen betrachten. So gesehen haben ,Begabungen‘ — falls man an diesem Ausdruck überhaupt festhalten will — immer auch gesellschaftliche Vorbedingungen und sind nicht einfach angeboren. Letzteres ist einer der Kernpunkte unter Jacobys Thesen.“ (Biedermann 1998: 13)

Die ganzheitliche Sicht des Menschen ist für Jacoby charakteristisch. Physische und geistige Fähigkeiten sind nur in einer Zusammenschau zu bewerten. Jacoby bemerkt: ,,Wo es allein um den ,Geist‘ geht, stimmt etwas nicht, und wo es allein um den ,Körper‘ geht, stimmt ebenfalls etwas nicht. Auch dieses geradezu zur Selbstverständlichkeit gewordene Auseinanderfallen der Ganzheit Mensch ist nicht Zufälliges. Wenn man den Menschen studieren und beschreiben wollte, bestand zunächst die große Schwierigkeit, die außerordentlich komplexen Erscheinungsformen und Lebensäußerungen dieser Ganzheit zu erfassen. Aber jener historisch notwendig gewesene Schritt, das Menschsein dabei in ,Körper‘ und ,Geist‘ aufzuspalten, hat sich mit der Zeit in der ,Wissenschaft‘ vom Menschen geradezu verheerend ausgewirkt. Weder können wir die geistig-seelische

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,Schauseite‘ wirklich verstehen, solange wir den Menschen nicht als Ganzes sehen, noch können wir die körperliche ,Schauseite‘ verstehen, wenn wir den Menschen nicht als Ganzes nehmen.“ (JBU: 60)

Alle Sinne tragen zur Entfaltung bei. Darum ist aus Jacobys Sicht jede isolierte ,,Sinnesschulung“ einzelner Organe unzweckmäßig und für die Gesamtentfaltung unergiebig. Nur zweckmäßiger Gebrauch trägt zur Entfaltung bei. In seinen Kursen demonstrierte Jacoby diesen Tatbestand vornehmlich an der Hell-Dunkel-Problematik und dem zweckmäßigen Erlernen des Schwimmens.

2.2 Der Mensch als Teil der Gesellschaft ,,Das Individuum als einzigartige Persönlichkeit im Sinne des üblichen Persönlichkeitskults gibt es nicht. Der Gehalt des Wortes In-dividuum besagt nur, daß es der nicht mehr teilbare Teil der menschlichen Gesellschaft ist“ (JBU: 25). Ohne andere, so betont Jacoby wiederholt, könnte kein Individuum existieren: ,,Alle Träumereien über Persönlichkeit und über uns selber als Persönlichkeit ändern nichts daran, daß wir, ob wir wollen oder nicht, soziale Wesen sind und ohne andere Menschen, durch die wir in die Welt gesetzt wurden, durch deren Hilfeleistung und Schutz wir existieren, gar nicht da sein könnten. Würde jemand nur an sich selber denken, was praktisch gar nicht möglich ist, würde er trotzdem auf eine ganz bestimmte, unserer IchVerhaftetheit entsprechende spezifische Weise, auch auf seine Umwelt wirken; und wer scheinbar nur an die Umwelt denken würde, würde selbstverständlich dabei wieder auf eine ganz bestimmte Weise auch auf sich selber wirken.“ (ASB II/4: S. 16f.)

Solche Äußerungen Jacobys belegen eindeutig, daß für ihn eine subjektivistische Deutung individueller Entfaltungspotentiale ausgeschlossen ist. Allerdings ist das ,,Schicksal des Menschen nicht ,individuelles‘ Schicksal, sondern das Resultat der Auseinandersetzung mit Forderungen und Möglichkeiten, mit Spannungen und Konflikten, zu deren Entstehen eine Umwelt das Material stellt“ (JBU: 361).

Den gesellschaftlichen Hintergrund bezüglich der Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen schätzt Jacoby sehr realistisch ein: ,,Es gibt keine isolierte pädagogische Problematik, abgelöst von der sozialen, ökonomischen, politischen Situation. Die Kopie der preußischen

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Schule läßt sich daraus verstehen, daß es üblich ist, alles, was Erfolg hat, schnell nachzumachen. Wenn jemand oder etwas Erfolg hat, prüft man die Äußerlichkeiten, denen man den Erfolg zuschreibt, und die problematischen Konsequenzen dieses ,Abguckens‘ und ,Nachmachens‘ können selbstverständlich nicht ausbleiben... Je mehr man lernt, desto weiter entfernt man sich von der spontanen Auseinandersetzung mit dem Leben. So wenig erfolgreich in einem tieferen Sinne meistens unsere Erziehung ist, so ausgezeichnete ,Erfolge‘ hat die Abrichtung mit Hilfe der üblichen Lehrmethoden gleichzeitig gezeitigt. Wir leben und denken doch so, wie wir es auf Grund der Aneignung von Fertigware und der Dressur für ,Techniken‘ selbstverständlich tun müssen: voller Vorurteile, — echter Vor-Urteile —, Voraus-Urteile. Selbst die an sich richtigen Urteile anderer bleiben so lange bloß VorUrteile, wie wir uns den Gehalt dieser Urteile nicht selber erarbeitet haben. Auch beim Abgerichtetwerden wird etwas Wesentliches der Menschenwürde verletzt. Ich glaube, daß nicht zuletzt die Lernschule mit daran schuld ist, wenn wir das Empfinden für Menschenwürde verloren haben und keine Ehrfurcht haben vor produktiven Leistungen, die auf Grund von Erarbeiten und von Wachsenkönnen zustande gekommen sind. Schon die Dressurabsicht verletzt die Menschenwürde. Diese Absicht ist auch nur möglich, solange man ein unzutreffendes Bild von den Möglichkeiten des Menschen hat. Die Schule und der schulmeisterlich eingestellte Teil der Lehrerschaft sind nicht ,schuld‘ daran. Die Schule ist nur ein Instrument, dessen sich die jeweilige gesellschaftliche Organisation bedient. Die Wirtschaft und der Verwaltungsapparat haben kaum Bedürfnis nach entfalteten und gebildeten Menschen. Sie brauchen eher Menschen, die auch intellektuell weitgehend für typische Bedürfnisse typisiert sind, — die für bestimmte Zwecke möglichst spezialisiert sind usw. Je komplizierter und differenzierter die Struktur der Wirtschaft wird, desto differenzierter muß auch das intellektuelle Typisieren durchgeführt werden. Wirklich entfaltete, selbständige Menschen sind da nicht erwünscht, weil solche Menschen keine Phrasen und Schlagworte hinnehmen, sondern nachforschen und prüfen. Ein Mensch, der selbständig ist, ist für die große Masse derer, die bloß viel gelernt haben, unbequem. Ist ein Mensch unbequem, so läßt man es ihn fühlen und macht ihm das Leben schwer. Wir sind deswegen nicht berechtigt, in den üblichen Verhältnissen wirkliche Selbständigkeit bei den Menschen zu erwarten. Wir können uns höchstens darüber freuen, wenn sie uns begegnet. Es gibt sie als Ausnahme. Wer wirtschaftlich abhängig ist, kann es sich kaum leisten, selbständig zu sein.

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Deswegen ist überall die kleinbürgerliche Mittelschicht in ihrer Denkweise die unselbständigste Schicht, auch wenn sie zugleich oft in intellektueller Hinsicht gebildet ist. Wer nichts besitzt, kann sich eher leisten, selbständig zu sein, weil er nur gewinnen kann, wenn er sich mobilisiert und einsetzt. Wer viel besitzt, kann sich auch leisten, selbständig zu sein, denn er ist nicht auf die gute Meinung und das Wohlwollen seiner Umgebung angewiesen. All das muß einem gegenwärtig sein, damit man auch von diesen Zusammenhängen aus ein reales Bild von den Verhältnissen bekommt, die die Entfaltung des Menschen behindern. Es stehen noch andere Aufgaben als nur eine Schulreform vor uns, wenn die Möglichkeiten, die jeder Mensch mitbringt, zur Entfaltung kommen sollen. Es müßte viel geschehen, damit aus unseren Entfaltungsmöglichkeiten ganz allgemein auch Entfaltungswirklichkeit werden könnte! Darum scheint es mir notwendig zu sein, immer wieder darauf hinzuweisen, daß die entscheidenden Voraussetzungen für Entfaltung und Selbständigkeit der Menschen schon in den ersten Lebensjahren vor Beginn der Schulpflicht gesichert oder gestört werden können und daß die Sicherung der Entfaltung der Möglichkeiten des kleinen Menschen in breitem Maße auch unter unseren gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen durchgeführt werden könnte. Ich habe schon in anderen Zusammenhängen darauf hingewiesen, daß ein kleiner Mensch, dessen Entfaltung in den ersten Lebensjahren durch die Sicherung zweckmäßiger Auseinandersetzung mit der Umwelt organisch verlaufen ist, von der Schule, wie sie auch sein möge, nicht mehr so beschädigt werden kann! Solche jungen Menschen werden mit der Schule fertig, aber mit den gestörten kleinen Menschen wird die Schule fertig! … Erinnern wir uns, daß ein sinnvoll heranwachsendes Kind schon mit zweieinhalb Jahren im Haushalt mithelfen kann und sich damit selbstverantwortlich in eine Gemeinschaft hineinlebt. Wieviel Wichtiges und Wesentliches könnte sich ein kleiner Mensch schon erarbeiten, bevor er in die Schule geht! Aber was für eine Arbeit an Nacherziehung der Erwachsenen ist notwendig, bis sie bei ihren konventionellen und routinierten Maßnahmen gegenüber dem kleinen Kind rechtzeitig stolpern, — stolpern, sobald sie die kindliche Initiative stören oder abbremsen! Wie bereit sind Kinder für Ausprobieren!“ (JBU: 284f.)

Ein Kernproblem, das Jacoby schon 1924 klar erkannt hatte, sind ,,allerlei Gedankenlosigkeiten in der Kinderstube“, die Störungen im Entfaltungsprozeß junger Menschen zur Folge haben. In einem Vortrag auf dem II. Kongreß für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft vor über 80 Jahren in Berlin brachte er das Problem zur Sprache. Ein Kernsatz lautete: ,,Jeder Fall von zu frühzeitig oder falsch gelenkter Aufmerksamkeit kann Ursache

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für erst in späteren Jahren sich bemerkbar machende Hemmungen werden“ (JMU: 44).

Die problematischen Folgen der Verleitung des Kindes zu einem ,,Leben aus zweiter Hand“ beleuchtet die folgende Satire grell: Der Kleine spielt im Matsch. ,Das darfst du nicht“, sagte der Vater. Gläubig blickte der Kleine zu ihm auf und ließ es. ,,Dafür bist zu klein”, erklärte die Mutter. Respektvoll zog er sich zurück. ,,Auch dies ist nicht gut“, erzog ihn der Vater. ,,Und jenes nicht recht“, die Mutter. Die Erwachsenen diskutierten. “Wenn große Leute sprechen, sagen Kinder nichts”, ermahnte man ihn. Also schwieg er bescheiden. ,,Gib dich nicht so dumm!“ rügte der Lehrer. Und der Schüler ließ auch das Fragen und Nachfragen. “Er ist so linkisch und gar nicht gesprächig”, langweilten sich die Mädchen. Das munterte auch nicht auf ,,Sitz nicht im Hause herum!“ rügte der Vater, …”Was suchst du auf der Straße?”, die Mutter. ,,Er scheint mir verklemmt”, meinte der Arzt. ,,Verschlossen!“ sagte der Lehrherr. ,,Verträumt. Was soll aus ihm werden?“ ,,Kann ich nicht brauchen”, urteilt der Chef. ,,Vergrämt mir die Kundschaft. Spricht kaum. Keinen eigenen Kopf. Fragt aber auch nichts. Seltsamer Kauz!“ ,,Organisch gesund!“ sagt der Arzt. ,,Und war so ein hübsches Kind“, flüstern die Nachbarn. ,,Alles kümmerte sich. Familie, Schule, nichts fehlte ihm. Aber wird mit dem Leben nicht fertig. Die armen Eltern”. (Wallrabenstein: 2000: 1;3)

Was kann, soll und muss jeder einzelne für seine Entfaltung tun? Damit kommt der dritte Aspekt der ,,Dreistufenoptik“ in den Blick.

2.3 Die individuelle Entfaltungsaufgabe des Menschen Primär geht es um die Uberwindung von Entfaltungsstörungen. Weil unsere ,,Erfahrungsorganisation antennig“ strukturiert ist, kommt es darauf an, uns entsprechend ,,antennig“ und damit zweckmäßig zu verhalten. ,,Auch das kurzsichtige Auge und das schwerhörige Ohr sind nur Empfangsorgane“ (JBU: 46). Dementsprechend ist auch die Tast-Riech- und Schmeckorganisation ,,für das Getroffenwerden von Reizen und für deren Weiterleitung eingerichtet“ (ebd.). Darum ist es ganz plausibel, wenn Jacoby folgert:

,,Wenn ein Mensch mehr, wenn er differenzierter erfahren will, so ist das

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vor allem ein Problem des Stillerwerdens. Der Gebrauch und die Entfaltung unserer Fähigkeit, still sein, still werden zu können, sind von entscheidender Bedeutung für das Zustandekommen qualifizierter Erfahrungen und Leistungen! Solange man sich anstrengt, verpaßt man trotz aller ,Erfolge‘ das Wesentliche!“ (JBU: 47)

Jeder muß bei sich selbst beginnen! ,,Ich will nicht euer Lehrer sein!“ bemerkt Jacoby häufig. Was führt weiter? Walter Biedermann berichtet aus seiner Erfahrung in der Kursarbeit: ,,Bei sich sein, anwesend sein, stille sein, erfahrbereit, antenniges Verhalten, gelassen sein, sich überlassen, geschehen lassen (anstelle von machen wollen), zu sich kommen lassen (statt glotzen), sich etwas zuwachsen lassen; spüren, ob sich etwas ändern möchte; auf Signale achten, tastendes Verhalten, sich Zeit lassen, stolpern lernen, in Kontakt kommen, sich auf etwas einstellen, Einstellwirkung, Ding, was willst du von mir?, zweckmässiges Verhalten, sich bewegen lassen, Munterkeit, auf Entdeckungsreisen gehen, Entfaltung und Nachentfaltung. Bei diesen Ausdrücken geht es meistens um Verhaltensqualitäten, sie verdeutlichen eine bestimmte Betrachtungsweise. Manche mögen anfänglich befremdlich wirken, im jeweiligen Zusammenhang sind sie jedoch nicht leicht ersetzbar. Durch das ganze Buch >Jenseits von Begabt und Unbegabt< trifft man ununterbrochen auf diese >Fachsprache