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German Pages [369] Year 2023
Andrea Kirchner
Emissär der jüdischen Sache Eine politische Biografie Richard Lichtheims
Schriften des Dubnow-Instituts
Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur – Simon Dubnow
Schriften des Dubnow-Instituts Herausgegeben von Yfaat Weiss Band 35
Andrea Kirchner
Emissär der jüdischen Sache Eine politische Biografie Richard Lichtheims
Vandenhoeck & Ruprecht
Diese Maßnahme wird mitfinanziert durch Steuermittel auf der Grundlage des vom Sächsischen Landtag beschlossenen Haushaltes. Das vorliegende Werk wurde vom GRADE-Center RuTh der Goethe-Universität Frankfurt am Main gefördert.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Richard Lichtheim, 1938. © Central Zionist Archives. Lektorat: André Zimmermann, Leipzig Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2626-4552 ISBN 978-3-666-30211-4
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Einleitung – »Ich bin ein vergessener Mann« . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. Lichtheims Weg zum Zionismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Ein erfolgreiches Kapitel jüdischer Diplomatie (1913–1918) . . . . . 53 Richard Lichtheim in den Botschaften Konstantinopels (53) | Zwischen Imperien und Nationalstaaten – Neuausrichtung der zionistischen Politik in Konstantinopel (57) | Konstruktion einer deutsch-zionistischen Interessengemeinschaft (65) | Eine Anweisung an die deutschen Vertretungen im Osmanischen Reich (79) | Die Unterstützung der amerikanischen Botschafter (88) | Krisenjahr 1917 – Verschiebung politischer Allianzen (95) | Der Schutz des Jischuw während des Kriegs (108) | Nach dem Krieg in Berlin: Die Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen und die »Judenfrage« (114) 3. Revision der zionistischen Politik (1918–1939) . . . . . . . . . . . . . 121 Der Weg in die Opposition (121) | Ursprünge eines Denkens: Lichtheims erste Konfrontation mit der »arabischen Frage« (128) | Anfänge einer politischen Freundschaft: Lichtheim und Jabotinsky in London (138) | Die Auseinandersetzung mit der »arabischen Frage« innerhalb der zionistischen Bewegung zu Beginn der 1920er Jahre (144) | Lichtheims offizieller Anschluss an die revisionistische Bewegung (154) | Der Revisionismus innerhalb der deutschen zionistischen Bewegung (162) | Die innerzionistischen Auseinandersetzungen im Nachgang der arabischen Unruhen 1929 (168) | Der 17. Zionistenkongress 1931 in Basel und die Spaltung der revisionistischen Bewegung (183) | »Leben Sie wohl« – Das Ende einer politischen Freundschaft (200) | In der Judenstaatspartei (203)
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Inhalt
4. Gestrandet in Genf: Versuche jüdischer Diplomatie während des Holocaust (1939–1946) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Im Angesicht der Katastrophe (207) | Wie Noah auf dem Berg Ararat: Die Anfänge des Büros der Jewish Agency in Genf (211) | Aufbau eines Netzwerks (219) | Erste Deutungsversuche nationalsozialistischer Politik (Herbst 1939 bis Sommer 1940) (225) | Die europaweite Anwendung des »Reichsmodells« (Herbst 1940 bis Frühjahr 1941) (231) | Drängen auf einen Protest der Alliierten (Sommer bis Dezember 1941) (235) | Das Sichtbarwerden des Holocaust (Januar bis Juli 1942) (242) | Vermittlung und Akzeptanz der Vernichtungsrealität (August bis Dezember 1942) (248) | Versuche der Rettung (1943–1945) (258) | Eine »Insel in einem Meer von Schmerz und Leid«: Interne Konflikte und die Grenzen jüdischer Einflussnahme (297) | »Ohne Juden braucht es keinen jüdischen Staat«: Desillusionierung eines Zionisten (306) Epilog – Dreifache Rückkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313 Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Archive (331) | Zeitungen und Zeitschriften (333) | Gedruckte Quellen (334) | Forschungsliteratur (338) Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Personenregister (357) | Sachregister (362)
Vorwort Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die von der Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen und am 17. Februar 2021 verteidigt wurde. Zum Gelingen dieser Arbeit, die im Kontext des vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten LOEWEForschungsschwerpunkts »Religiöse Positionierung. Modalitäten und Konstellationen in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten« an der Goethe-Universität Frankfurt und der Justus-Liebig-Universität Gießen entstanden ist, haben zahlreiche Personen und Institutionen beigetragen. Allen voran gilt mein großer Dank meinem Doktorvater Christian Wiese, der mich und das Projekt mit viel Vertrauen und Geduld begleitet und mir gleichzeitig die nötige Freiheit gelassen hat. Seine inhaltliche Expertise und seine kritischen Impulse haben die Konzeption und Durchführung dieser Arbeit entscheidend geprägt. Auch meiner Zweitgutachterin Sybille Steinbacher danke ich herzlich für Ratschläge und Kritik sowie die Möglichkeit, das Projekt im Rahmen ihres Forschungskolloquiums am Fritz Bauer Institut vorstellen und diskutieren zu dürfen. Gleichermaßen danke ich Stefanie Schüler-Springorum für ihre Bereitschaft, das dritte Gutachten zu erstellen. Institutionelle Anbindung fand das Projekt am Franz Rosenzweig M inerva Research Center für deutsch-jüdische Kulturgeschichte und Literatur an der Hebrew University of Jerusalem, wo ich als Gastwissenschaftlerin für viele Jahre einen anregenden intellektuellen Denkraum fand. Der vormaligen Leiterin des Centers, Yfaat Weiss, gebührt für ihre akademische Förderung und Inspiration mein herzlichster Dank, ebenso für die Aufnahme der Studie in die nun von ihr herausgegebene Reihe »Schriften des Dubnow-Instituts«. Über die anregenden Diskussionen im Forschungskolloquium hinaus haben meine Jerusalemer Kolleginnen und Kollegen am Rosenzweig Center meinen Arbeitsalltag mit viel Kaffee, Humor und Solidarität bereichert. Dafür danke ich in freundschaftlicher Verbundenheit Irene Aue-Ben David, H illel Ben-Sasson, Vera Bronn, Rebekka Grossmann, Caroline Jessen, Anna HolzerKawałko, Amit Levy, Adi Livny, Enrico Lucca, Yoni Mendel, Lina N ikou, Anna Pollmann, Keren Sagi, Sebastian Schirrmeister, Ray Schrire, Bilha Shilo, Yonathan Shilo-Dayan und Peter Tietze. Besonders hervorgehoben sei aus diesem Kreis Elisabeth Gallas, die sämtliche Kapitelentwürfe kritisch kommentiert und mit wichtigen Denkanstößen wesentlich zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen hat. Ihre emphatische Unterstützung und stetige Ermutigung halfen, so manche Krise zu überwinden. Auch dafür bin ich ihr in bleibendem Dank verbunden.
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Vorwort
Für wertvolle Ratschläge, lehrreiche Gespräche und kluge Ideen gebührt mein Dank zudem Katrin Antweiler, Frank Bajohr, Yehuda Bauer, Dan Diner, Arie Dubnow, Lutz Fiedler, Katharina Friedla, David Jünger, Walter Laqueur, Anne Lepper, Andrea Löw, Jürgen Matthäus, Francis R. Nicosia, Jörg Osterloh, Felix Pankonin, Igal Sarna, Rafi Siano, Mathias Schütz, Anna Ullrich sowie Daniel Wildmann. Für ihre unermüdliche Hilfe bei der Lokalisierung und Beschaffung wertvollen Materials danke ich den zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der konsultierten Archive und Forschungseinrichtungen, namentlich der Central Zionist Archives in Jerusalem, des Jabotinsky Institute in Tel Aviv, der National Library of Israel, des Archivs für Zeitgeschichte Zürich, der Wiener Holocaust Library in London, des Archivs des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) München, des Stadtarchivs Kronberg sowie des Tefen Open Museum. Ohne die großzügige finanzielle Förderung der Minerva Stiftung Gesellschaft für die Forschung, die ich drei Jahre lang erfahren habe und die mir meinen Gastaufenthalt in Jerusalem zu großen Teilen ermöglichte, wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Ebenso wurde ich durch Stipendien des Franz Rosenzweig Minerva Research Center, des Zentrums für HolocaustStudien am IfZ München sowie der EH Hamburger Stiftung zur Förderung von Hochbegabten unterstützt. Ein EHRI-Stipendium ermöglichte mir zudem einen kurzen Forschungsaufenthalt an der Wiener Holocaust Library in London. Allen Förderern sei an dieser Stelle mein herzlichster Dank dafür ausgesprochen. Für die umsichtige Betreuung des Manuskripts bei der Überführung der Dissertationsschrift in das vorliegende Buch danke ich der Leiterin der wissenschaftlichen Redaktion des Dubnow-Instituts Petra Klara Gamke-Breitschopf und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, besonders Margarita Lerman, Felix Müller und Carolin Piorun, recht herzlich. Das sorgfältige Lektorat besorgte André Zimmermann. Auch ihm gilt großer Dank. Meine Freundinnen und Freunde haben mich über all die Jahre auf ganz unterschiedliche Art begleitet und am Entstehen dieser Arbeit mitgewirkt. Für ihre emotionale Unterstützung möchte ich von Herzen Tom Erdmann, Alon Dinur, Franzi Göpner, Uriel Kashi, David Kowalski, Matthias Prigge, Anna Stocker, Alexandra Tyrolf, Georg Weininger sowie Christian, Martin, Paul und Tobbi vom Team Leipzig Ost danken. Unermessliches hat hier vor allem Hania Dinkelaker geleistet, deren mentaler Beistand unvergessen bleibt. Zuletzt möchte ich meiner Familie danken, die mich mit großem Vertrauen in die Welt ziehen ließ: meinen Eltern Christl und Wolfgang Kirchner sowie meiner Schwester Jana. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Andrea Kirchner
Berlin, Frühjahr 2023
Einleitung – »Ich bin ein vergessener Mann«
Kurz nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 sah der Autor und Journalist Arthur Koestler (1905–1983) seinen einstigen Vorgesetzten Richard Lichtheim (1885–1963) in Tel Aviv wieder. In seinen Anfang der 1950er Jahre verfassten Memoiren schildert Koestler diese Begegnung eindrücklich: »Zwanzig Jahre nach jenen Berliner Tagen traf ich zur Zeit des arabisch-jüdischen Kriegs Lichtheim in Tel-Aviv wieder. Er war mit seiner Familie nach Palästina ausgewandert. Da er nicht der herrschenden Partei oder sonst einem politischen Klüngel angehörte, war ihm jeder Regierungsposten verschlossen, obwohl er in jeder westeuropäischen Hauptstadt einen vorbildlichen Gesandten abgegeben hätte. Wir saßen in einem lärmenden Café am Strand von Tel-Aviv, unterhielten uns über vergangene Zeiten und über unsere damaligen Träume vom künftigen jüdischen Staat, die inzwischen in Erfüllung gegangen waren. Lichtheim sagte still und ohne Bitterkeit: ›Ich bin ein vergessener Mann.‹ Sein Schicksal war typisch für die alte Garde der zionistischen Bewegung.«1
Als der jüdische Staat Wirklichkeit wurde, war der zionistische Politiker und Diplomat Richard Lichtheim am Ende seiner politischen Laufbahn angelangt. Im Jahr 1885 in Berlin geboren und ab 1904 aktives Mitglied der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD), war er mehr als vier Jahrzehnte lang in verschiedenen Funktionen für die jüdische Nationalbewegung tätig und hatte dadurch entscheidend zur Verwirklichung des zionistischen Ziels, des Aufbaus einer jüdischen Heimstätte in Palästina, beigetragen. Der Name Lichtheims ist heute weithin unbekannt, gleichwohl handelt es sich bei seiner politischen Biografie um eine der ungewöhnlichsten und spannungsreichsten, die der deutsche Zionismus in seiner Frühzeit hervorgebracht hat.2 Zum Zeitpunkt seiner Begegnung mit Koestler war Lichtheim noch nicht lange wieder in Jerusalem, wohin er bereits 1933 gemeinsam mit seiner 1 Koestler, Pfeil ins Blaue, 207. Sämtliche Zitate aus dem Hebräischen und paraphrasierte englischsprachige Zitate wurden von der Autorin ins Deutsche übersetzt. Englischsprachige Zitate, die aus vollständigen Sätzen bestehen, wurden im Original belassen. 2 Mit dem Begriff »deutscher Zionismus« wird nachfolgend nicht nur die zionistische Bewegung Deutschlands in geografischem Sinne erfasst, sondern auch deren Beeinflussung durch Akteure aus dem über die Landesgrenzen weit hinausgehenden deutschen Sprachraum. Innerhalb des deutschen Zionismus existierten neben einer Mehrheitsposition stets unterschiedliche Strömungen, die miteinander um die Deutungshoheit der zionistischen Politik und Praxis konkurrierten. In diesem Sinne werden im Folgenden »deutscher Zionismus« und »deutschsprachiger Zionismus« synonym verwandt.
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Einleitung – »Ich bin ein vergessener Mann«
Frau Irene (1890–1960) ausgewandert war. Den Zweiten Weltkrieg hatte das Ehepaar in der Schweiz verbracht, von wo sie erst im Frühjahr 1946 zurückkehrten. In Genf unterhielt Lichtheim ab Herbst 1939 im Auftrag der Jewish Agency3 (JA) ein Büro, das ursprünglich eingerichtet worden war, um während des Kriegs die Kommunikation zwischen den Leitungsbüros der Zionistischen Organisation (ZO) in London, Jerusalem beziehungsweise New York und den zionistischen Landesorganisationen in Europa aufrechtzuerhalten (Abb. 1). Nach dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 war das Büro allerdings schnell zu mehr als einer rein zionistischen Angelegenheit geworden. Vor dem Hintergrund der sich ständig wandelnden Kriegsszenerie entwickelte es sich zu einem zentralen Kommunikationspunkt zwischen den von den Nationalsozialisten verfolgten Judenheiten Europas und den Hauptstädten der westlichen Alliierten. Die außergewöhnliche Lage der Schweiz, die sich aus ihrer unverletzt gebliebenen Neutralität sowie ihrer zentralen geografischen Lage ergab, erlaubte es Lichtheim, aus relativer Nähe die sich stetig radikalisierende Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten zu beobachten, die mit dem Vorrücken der Wehrmacht weite Teile Europas erfasste und schließlich in der Vernichtung des europäischen Judentums mündete. Die ihm zugänglichen Informationen teilte er seinen Kollegen in Palästina, Großbritannien und den Vereinigten Staaten in zahllosen Berichten mit und forderte sie auf, die nationalsozialistischen Verbrechen an den europäischen Judenheiten öffentlich bekannt zu machen und sich gleichzeitig an die alliierten Regierungen zu wenden, um dort auf eine Intervention zur Rettung der Jüdinnen und Juden Europas zu drängen. Er selbst stand in Genf mit alliierten Diplomaten, dem päpstlichen Nuntius sowie den Schweizer Behörden in Kontakt und bemühte sich, zu politischen Lösungen zu gelangen. Gemeinsam mit jüdischen wie nichtjüdischen Hilfsorganisationen wie dem World Jewish Congress (WJC) und dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) organisierte er zudem humanitäre Hilfe in Form von Lebensmittelund Medikamentensendungen, um die Überlebenschancen der Verfolgten zu erhöhen. Durch die Vermittlung von Palästina-Zertifikaten war es ihm zeitweise gar gelungen, internierte Jüdinnen und Juden vor der Deportation in die Vernichtungslager zu schützen und in der Schweiz gestrandeten Geflüchteten nach Ende des Kriegs die Ausreise nach Palästina zu ermöglichen. Angesichts seiner Verdienste hielt Koestler, wie auch viele andere, Lichtheim in den späten 1940er Jahren für prädestiniert, einen leitenden Posten in der Jewish Agency oder im diplomatischen Dienst zu übernehmen. In der 3 Die Jewish Agency war die in Artikel 4 des Völkerbundmandats für Palästina von 1920 vorgesehene Vertretung der vorstaatlichen jüdischen Gemeinschaft Palästinas (Jischuw), die allein befugt war, mit der britischen Mandatsregierung zusammenzuarbeiten. Bis 1929 war sie identisch mit der Exekutive der Zionistischen Organisation.
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Abb. 1: Richard Lichtheim in dem von ihm geleiteten Büro in Genf, 1940. © Central Zionist Archives.
Wahrnehmung seiner Zeitgenossinnen und Zeitgenossen galt er neben Chaim Weizmann4 (1874–1952) und Nahum Sokolow5 (1859–1936) als ein Pionier zionistischer Diplomatie. Laut der Journalistin Gerda Luft (1898–1986) war Lichtheim nicht nur »mit dem Talent gesegnet, einen Fall prägnant und verständlich zu formulieren, er war auch in Sitzungssälen und Empfangshallen zu Hause. Als Spross einer wohlhabenden Familie mit Interesse an Politik fiel es ihm leichter als den meisten deutschen Juden, mit der herrschenden Klasse auf Augenhöhe zu verhandeln, und dieses Talent wurde von einer aufstrebenden nationalen Bewegung, die keinen Staat und keine etablierte Vertretung hatte, dringend benötigt.«6 Der Journalist und Historiker Peter Bloch7 (1921–2008), der Lichtheim 1960 in der schweizerischen Arbeiter4 Chaim Weizmann wurde 1920 zum Präsidenten der ZO gewählt, was er – mit Unterbrechung zwischen 1931 und 1935 – bis 1946 blieb. Von 1949 bis 1952 war er der erste Staatspräsident Israels. Der diplomatische Erfolg der Balfour-Deklaration von 1917 war maßgeblich seinem Antichambrieren bei der britischen Regierung in London zu verdanken. 5 Nahum Sokolow war wesentlich beteiligt an der Sicherung der Balfour-Deklaration. Von 1920 bis 1931 war er Präsident der Exekutive der ZO und von 1931 bis 1935 Präsident der ZO. Außerdem fungierte er von 1931 bis 1933 als Präsident der Jewish Agency. 6 Gerda Luft, Zionism’s First Diplomat, in: The Jerusalem Post, 15. April 1990, 2. 7 Bei Peter Bloch handelt es sich um einen der jüdischen Geflüchteten, die Lichtheim in Genf versorgt hatte. Bloch war 1939 mit seinen Eltern Arthur und Else Bloch zunächst nach London und wenig später nach Belgien geflohen, wo er Geschichte zu studieren begann.
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zeitung als einen der »hervorragendsten Staatsmänner des Zionismus«, als einen Diplomaten »im besten, positivsten Sinne des Wortes« würdigte, war gar überzeugt, dass Lichtheim nach der Staatsgründung Israels die Rolle des Außenministers gebührt hätte, »denn niemand war würdiger und geeigneter, die jüdische Außenpolitik zu lenken«.8 War diese Würdigung auch zu Ehren von Lichtheims 75. Geburtstag erschienen, so handelte es sich doch um mehr als eine dem Anlass geschuldete Schmeichelei: Mit gerade einmal 29 Jahren und ohne je eine entsprechende Ausbildung durchlaufen zu haben, hatte Lichtheim als Quasidiplomat bereits während des Ersten Weltkriegs die Interessen der Zionistischen Organisation in der osmanischen Hauptstadt Konstantinopel vertreten. Eigentlich entsandt, um bei der türkischen Regierung die Abschaffung der für Juden bestehenden Einreise- und Landkaufbeschränkungen zu erwirken, war es nach dem Kriegseintritt des Osmanischen Reichs zu seiner vordringlichsten Aufgabe geworden, die wiederholten antizionistischen Angriffe des regierenden Gouverneurs Cemal Pascha (1872–1922) von der vorstaatlichen jüdischen Gemeinde Palästinas, dem Jischuw, abzuwenden. Zu diesem Zweck war Lichtheim in Konstantinopel in den Botschaften der Großmächte vorstellig geworden und durch geschicktes Antichambrieren war es ihm gelungen, die Unterstützung sowohl der deutschen als auch der amerikanischen Diplomaten für den Jischuw zu gewinnen. Lichtheim hatte hier eine Form der politischen Interessenvertretung verfolgt, die im Sinne der klassischen Definition von Diplomatie als Regelung zwischenstaatlicher Beziehungen sonst souveränen Staaten vorbehalten war. Als Repräsentant der Zionistischen Organisation, die trotz ihrer Minderheitenposition nach außen wie nach innen den Anspruch vertrat, die Gesamtheit der Judenheiten zu repräsentieren, hatte er gegenüber den Diplomaten der Mächte die Interessen des Jischuw wahrgenommen, ohne dafür vom Jischuw selbst oder durch eine völkerrechtliche Instanz legitimiert gewesen zu sein. Lichtheim hatte hier gewissermaßen die moderne, zionistische Mithilfe eines gefälschten Passes gelang ihm im Sommer 1942 die Flucht in die Schweiz, wo ihm schließlich Asyl gewährt wurde. Nach seiner Ankunft setzte er sich umgehend mit Lichtheim in Verbindung, der seit Kindertagen mit Else Bloch befreundet war. Dank Lichtheim, der Blochs Semestergebühren und Unterhaltskosten übernahm, konnte er sein Studium fortsetzen. Nach dem Krieg wanderte Bloch gemeinsam mit seiner Mutter, die in Belgien im Versteck überlebt hatte, nach New York aus, wo er als Journalist für europäische Zeitungen sowie als Historiker und Experte für puerto-ricanische Musik und Kunst tätig war. Blochs Vater Arthur wurde 1943 von der Gestapo festgenommen und von der SS im Sammellager Mechelen ermordet. Vgl. dazu Bloch, When I Was Pierre Boulanger, bes. 54; CZA (Central Zionist Archives), L22/1072, Bloch an Lichtheim, 21. Februar 1944; ebd., Lichtheim an Bloch, 23. Februar 1944. 8 Peter Bloch, Ein Wegbereiter des Staates Israel, in: Arbeiterzeitung, 29. März 1960, 3.
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ariante des traditionellen shtadlan verkörpert, der zwischen der jüdischen V Gemeinschaft und den Machtinstanzen ihrer nichtjüdischen Umwelt zu vermitteln suchte. Diese neue, zionistische Form nichtstaatlicher Einflussnahme hob im Gegensatz zur diasporischen Variante jüdischer Diplomatie, die ab Beginn des 19. Jahrhunderts auf die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Minderheiten in Europa abzielte, dezidiert auf Palästina ab.9 Seitdem Theodor Herzl10 (1860–1904) Ende des 19. Jahrhunderts angesichts nicht eingelöster Emanzipationsversprechen vor allem im östlichen Europa sowie der Zunahme des modernen Antisemitismus in Westeuropa eine souveräne nationale Heimstätte als einzigen Ausweg aus der Schutzlosigkeit der Judenheiten propagiert hatte, bemühten sich zionistische Diplomaten darum, die völkerrechtliche Anerkennung für den Aufbau eines solchen jüdischen Gemeinwesens in Palästina zu erlangen. Dabei waren der zionistischen Diplomatie die gleichen engen Grenzen nichtstaatlicher Einflussnahme gesteckt wie der diasporisch-emanzipatorischen Variante. Neben humanitärer Hilfe und der Unterrichtung der Öffentlichkeit zählte das Vorsprechen jüdischer Interessenvertreter bei den jeweils eigenen Regierungen oder in den Foren internationaler Politik zu den gängigen Instrumenten jüdischer Diplomatie. Die Mittel, derer sich die Vertreter beider Varianten letztlich bedienen konnten, blieben begrenzt und ihre Wirksamkeit abhängig von den Interessen der internationalen Staatengemeinschaft. In Konstantinopel führten sowohl die besondere Konstellation, die sich für Lichtheim als deutschen Staatsbürger aus dem deutsch-türkischen Bündnis ergab, als auch die Interessenlage der deutschen Außenpolitik, die – nicht frei von antisemitischen Projektionen – den Judenheiten weltpolitische Bedeutung beimaß, letztlich dazu, dass seine Bemühungen in der deutschen Botschaft wirksam werden konnten. Im Falle der Vereinigten Staaten korrelierte Lichtheims Anliegen schlichtweg mit den Wertvorstellungen der amerikanischen Außenpolitik, die während des Ersten Weltkriegs eine humanitäre Diplomatie zum Schutz bedrohter Minderheiten verfolgte. Auf sein Drängen hin intervenierten im Laufe des Kriegs die deutschen wie amerikanischen Diplomaten wiederholt bei der jungtürkischen 9 Zur jüdischen Diplomatiegeschichte im 19. Jahrhundert vgl. Diner, »Meines Bruders Wächter«; Kirchhoff, Einfluss ohne Macht; vgl. ebenfalls ders., Diasporische versus zionistische Diplomatie, 1878–1917. 10 In seiner 1896 erschienenen Schrift Der Judenstaat entwickelte Herzl die Vision eines jüdischen Staats, dessen Schaffung aufgrund von Antisemitismus, gesetzlicher Diskriminierung und gescheiterter Emanzipation notwendig sei. 1897 organisierte er zu diesem Zweck den ersten Zionistischen Kongress in Basel, auf dem auch die ZO gegründet wurde. Bis zu seinem Tod im Jahr 1904 war Herzl ihr Präsident. Seine Initiative verhalf der zionistischen Idee zu einer massenhaften Unterstützung vornehmlich unter den Judenheiten des östlichen Europas. Er gilt als der Hauptbegründer des politischen Zionismus, der auf eine diplomatische Absicherung des jüdischen Siedlungsprojekts in Palästina zielte.
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Regierung, um die Rücknahme der antizionistischen Anordnungen Cemal Paschas zu erwirken. Die massenhafte Vertreibung der jüdischen Bevölkerung, die eine empfindliche Störung der zionistischen Aufbauarbeit bedeutet und das zionistische Ziel einer souveränen Heimstätte erheblich in Gefahr gebracht hätte, konnte somit letztlich verhindert werden. Dem Verdienst Lichtheims, in den kritischen Momenten des Kriegs den Schutz des Jischuw mithilfe der Großmächte gewährleistet zu haben, blieb damals wie auch im Nachgang eine breite öffentliche Aufmerksamkeit versagt. Noch während des Kriegs wurden seine in Konstantinopel errungenen Erfolge von der Balfour-Deklaration überstrahlt, dem bis dato größten Triumph zionistischer Diplomatie, der im Wesentlichen den Bemühungen Chaim Weizmanns und Nahum Sokolows zu verdanken war. Am 2. November 1917 hatte der britische Außenminister Arthur James Balfour (1848–1930) in Form eines Briefs an den prominenten britischen Zionisten Baron Lionel Walter Rothschild (1868–1937) der zionistischen Bewegung die Unterstützung der britischen Regierung bei der Errichtung einer »nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina« zugesichert.11 Mit der Aufnahme der Deklaration in das britische Völkerbundmandat für Palästina, das nach der Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Weltkrieg auf der Konferenz von Sanremo im Jahr 1920 an Großbritannien übertragen und 1922 ratifiziert wurde, hatten die Zionisten die völkerrechtlich gesicherte Garantie für die Etablierung eines jüdischen Gemeinwesens erlangt. Damit fand auch die Zionistische Organisation, beziehungsweise ab 1929 die Jewish Agency, Anerkennung als offizielle Vertretung des Jischuw. In der Zwischenkriegszeit konzentrierte sich die zionistische Diplomatie angesichts der britischen Weißbuchpolitik, mit der London die Grundsätze seines Vorgehens in Palästina in den 1920er und 1930er Jahren mehrfach modifizierte, im europäischen Kontext vor allem darauf, sicherzustellen, dass die britische Regierung ihre 1917 gegebenen Versprechen auch einhielt. Bereits mit dem Churchill-Weißbuch von 1922 hatte sie sowohl den Umfang der jüdischen Einwanderung als auch das dafür vorgesehene Territorium stark begrenzt. Damit nahm sie die Balfour-Deklaration zwar nicht zurück, änderte die Bedingungen für deren Umsetzung jedoch deutlich. Mit dem Ziel, die britische Palästinapolitik zu ihren Gunsten zu beeinflussen, betrieb die Zionistische Organisation unter der Führung Chaim Weizmanns Lobbyarbeit in London sowie bei der Ständigen Mandatskommission in Genf, die 1919 durch den Völkerbund eingerichtet worden war, um die nach dem Ersten Weltkrieg auf Großbritannien und Frankreich übertragene Verwaltung der ehemaligen deutschen Kolonien und der Gebiete des zerfallenen Osmanischen Reichs unter internationale Aufsicht zu stellen. 11 Die Balfour-Deklaration ist abgedruckt in: Laqueur / Rubin (Hgg.), The Israeli-Arab Reader, 16.
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Mit der von Weizmann dabei verfolgten Linie, die eine allmähliche Besiedlung Palästinas bei gleichzeitiger diplomatischer Absicherung des Jischuw favorisierte und in Anerkennung der politischen Abhängigkeitsverhältnisse gegenüber London eine Strategie der Flexibilität verfolgte, zeigte sich Lichtheim bereits zu Beginn der 1920er Jahre unzufrieden. Als Mitglied der Exekutive der Zionistischen Organisation hatte er dieses Vorgehen zwischen 1921 und 1923 zwar mitgetragen, aber bereits damals heftig kritisiert. Nachdem er zunächst in einer Art loyaler Opposition zu Weizmann gestanden hatte, entwickelte er sich ab Mitte der 1920er Jahre zu einem der schärfsten Kritiker der offiziellen zionistischen Politik. Im Jahr 1926 schloss er sich schließlich Vladimir Jabotinsky (1880–1940) und dessen Union der Zionisten-Revisionisten an, die der moderaten Politik Weizmanns eine radikale Alternative entgegenzustellen suchte. Die Revisionisten drängten auf eine aktivistischere zionistische Politik, die von den Briten mit Nachdruck die Unterstützung der jüdischen Immigration nach Palästina einfordern sollte, um schnellstmöglich eine jüdische Bevölkerungsmehrheit herzustellen. Langfristig strebten sie nicht nur die Ausgestaltung Palästinas zu einem jüdischen Gemeinwesen an, sondern auch die Transjordaniens, das sie als in historischer, geografischer wie auch wirtschaftlicher Hinsicht untrennbar mit Cisjordanien verknüpft betrachteten. Innerhalb der zunächst vorrangig aus russischen Emigranten bestehenden oppositionellen Bewegung war Lichtheim einer der sehr wenigen namhaften Zionisten Deutschlands. Die Mehrheit der deutschen zionistischen Bewegung zeichnete sich insbesondere in den 1920er Jahren durch einen besonders gemäßigten Nationalismus und eine ausnehmend loyale Haltung gegenüber dem parteilosen Weizmann aus. Als Vorsitzender des deutschen Landesverbands der Zionisten-Revisionisten stand Lichtheim von 1926 bis 1932/33 innerhalb der ZVfD an der Spitze einer kleinen, aber lautstarken Opposition, die erbitterte Angriffe gegen die den deutschen Zionismus dominierende linksliberale Strömung führte. Auch nach seinem Bruch mit Jabotinsky wegen parteiorganisatorischer Fragen und seiner Auswanderung nach Palästina im Jahr 1933 hielt er als Mitglied der von Meir Grossmann (1888–1964) gegründeten Judenstaatspartei an den territorialen und politischen Maximalforderungen der Revisionisten fest. Erst nachdem er in den späten 1930er Jahren begann, sich langsam von der revisionistischen Oppositionspolitik zu lösen, trat Lichtheim erneut in den Dienst der offiziellen zionistischen Diplomatie ein, deren Parameter sich mittlerweile deutlich verschoben hatten. Vor dem Hintergrund der Machtübertragung auf die Nationalsozialisten in Deutschland 1933 und des zunehmenden Zerfalls des 1919 im Rahmen des Völkerbunds etablierten Minderheitenschutzsystems im östlichen Europa hatten zionistische Akteure in den 1930er Jahren ihre Handlungsfelder ver-
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stärkt auf die Evakuierung der jüdischen Bevölkerung aus diesen Ländern12 und die Aushandlung von Kapitaltransferabkommen verlagert.13 Unter der Prämisse, dass der Schutz der Jüdinnen und Juden langfristig nur in einem eigenen Staat gewährleistet werden könne, suchten sie deren Migration nach Westen zu verhindern und ausschließlich nach Palästina zu lenken. Dabei mussten sie vor allem gegen Ende der 1930er Jahre erhebliche Rückschläge in Kauf nehmen. Erfolglos blieben die Versuche der Jewish Agency, beim britischen Mandatar die Erhöhung der Einwanderungsquoten für Palästina durchzusetzen. Auch die internationale Konferenz von Évian im Jahr 1938, die Lösungen für die jüdische Fluchtbewegung aus dem Deutschen Reich und Österreich herbeizuführen suchte, brachte nicht die von den zionistischen Vertretern geforderte Öffnung Palästinas. Mit dem MacDonald-Weißbuch von 1939, das die jüdische Einwanderung ins Mandatsgebiet für die kommenden fünf Jahre nochmals strikt reglementierte, wurde diese Forderung gänzlich konterkariert. Als Lichtheim im September 1939 seinen Posten in Genf antrat, repräsentierte er nun zwar eine völkerrechtlich legitimierte Körperschaft, die ohnehin begrenzten Möglichkeiten jüdischer Einflussnahme waren in den vorange gangenen Jahren allerdings in erheblichem Maße beschnitten worden. Das europäische Mächtegleichgewicht, in dem die zionistische Diplomatie jahrzehntelang operiert hatte, war mit Beginn der 1930er Jahre bilateralen Verträgen und dem Rückzug ins nationale Kollektiv gewichen. Internationale Körperschaften und Mechanismen, die es vermocht hätten, die europäischen 12 So verhandelte Vladimir Jabotinsky ab 1935 im Namen der unabhängig von der ZO agierenden Neuen Zionistischen Organisation (NZO) der Revisionisten mit Vertretern der polnischen Regierung über einen Evakuierungsplan, der eine innerhalb von zehn Jahren durchzuführende geordnete Massenauswanderung von 1,5 Millionen Juden aus Polen nach Palästina vorsah. Der Plan kam freilich nicht zur Umsetzung. Zu Jabotinskys Evakuierungsplan vgl. Schechtman, The Vladimir Jabotinsky Story, Bd. 2: Fighter and Prophet, 334–363; Reinharz / Shavit, The Road to September 1939, 51–56. Die offizielle zionistische Politik regulierte und organisierte die Einreise nach Palästina über die Palästina-Ämter, die in den 1920er und 1930er Jahren in den meisten europäischen Hauptstädten eingerichtet wurden und der Einwanderungsabteilung der Exekutive der ZO unterstanden. In Berlin verhalfen die Mitarbeiter des Palästina-Amts von 1924 bis zur Schließung 1941 etwa 50 000 Menschen zur Auswanderung in das britische Mandatsgebiet, über 18 000 davon allein zwischen 1933 und November 1938. Vgl. dazu Lavsky, Before Catastrophe, 249–253. 13 So handelten die Jewish Agency und die ZVfD 1933 mit dem Wirtschaftsministerium des Deutschen Reichs das sogenannte Ha’avara-Abkommen aus, das deutschen Juden die Ausreise nach Palästina erleichterte, indem es ihnen ermöglichte, einen Teil ihres Vermögens dorthin zu transferieren. Analog dazu unterzeichneten die Jewish Agency und die polnische Regierung 1936 ein »Clearing-Abkommen«, das jüdischen Emigranten aus Polen ermöglichen sollte, ihren Besitz unter Umgehung der polnischen Devisengesetze nach Palästina auszuführen. Zum Ha’avara-Abkommen vgl. Weiss, Art. »Ha’avara-Abkommen«, 490–494; dies., The Transfer Agreement and the Boycott Movement.
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Judenheiten erfolgreich vor der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik zu schützen, existierten praktisch nicht. Seine Bemühungen stellte Lichtheim dennoch nicht ein. Fast sieben Jahre lang versuchte er unermüdlich, das Schweigen der westlichen Öffentlichkeit zu durchbrechen und jede erdenkliche Chance auf Rettung zu nutzen. Überraschenderweise sollte er ausgerechnet vor dem Hintergrund der massenhaften Verschleppung und Ermordung der europäischen Judenheiten, die dem revisionistischen Postulat umgehender Souveränität zu breiter Zustimmung innerhalb der zionistischen Bewegung verholfen hatte, die Idee umgehender jüdischer Staatlichkeit verwerfen. Als sich die zionistische Bewegung 1942 auf der Biltmore-Konferenz einvernehmlich darauf verständigte, die Forderung nach sofortiger Etablierung eines jüdischen Staats nach Kriegsende in ihr Programm aufzunehmen, lehnte Lichtheim erneut die Position der Mehrheit ab. Stattdessen sympathisierte er ab 1943 mit der Agenda der in Palästina agierenden Partei Alija Chadascha (Neue Einwanderung), die vornehmlich aus deutschsprachigen Einwanderinnen und Einwanderern bestand, die wie Lichtheim das Biltmore-Programm kritisierten und sich für einen Kompromiss mit der britischen Kolonialmacht einsetzten. Die Gründe für diesen erneuten Positionswechsel werden im Folgenden ausführlich diskutiert. Nach langem Kampf für die zionistische Sache in Europa siedelte Lichtheim 1946 endgültig nach Palästina über, wo er sich um eine erneute Anstellung im diplomatischen Dienst der Jewish Agency bemühte. Ein neuer Posten sollte ihm allerdings trotz seiner herausgehobenen Stellung verwehrt bleiben. Wenn man den Erinnerungen Koestlers Glauben schenken darf, beschlich Lichtheim offenbar schon recht bald nach der Staatsgründung Israels das Gefühl, dem Vergessen anheimzufallen. Im politischen Leben des Jischuw war sein Schicksal für einen deutschen Zionisten indes kein Ungewöhnliches. Trotz der entscheidenden Rolle, die den deutschen Zionisten in der Frühzeit der Bewegung zukam, sollte es außer Felix Rosenblüth14 (1887–1978), der als Pinchas Rosen erster Justizminister Israels wurde, kaum einem von ihnen 14 Felix Rosenblüth entstammte einer jüdisch-orthodoxen Familie aus Messingwerk bei Eberswalde und studierte Rechts- und Staatswissenschaften in Freiburg im Breisgau und Berlin. Während seines Studiums war er in mehreren zionistischen Studentenorganisationen aktiv. 1910 wurde er Vorsitzender der Jugendkommission der ZVfD und 1911 gehörte er zu den Gründern der jüdischen Jugendorganisation Blau-Weiß. Von 1920 bis 1923 war er der Vorsitzende der ZVfD. Nach seiner Übersiedelung nach Palästina 1926 nahm er die hebraisierte Form seines Namens Pinchas Rosen an. Im selben Jahr wurde er in die Exekutive der ZO gewählt, wo er bis 1931 das Organisationsdepartement leitete. 1932 gehörte er zu den Gründern der Hitachduth Olej Germania, der Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland, und 1942 zu den Gründern der Partei Alija Chadascha. Nach der Staatsgründung Israels war er von 1949 bis 1968 Mitglied der Knesset sowie von 1948 bis 1961 Justizminister unter Ministerpräsident David Ben-Gurion.
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gelingen, nach der Übersiedelung nach Palästina die dortige Politik an prominenter Stelle mitzugestalten.15 Doch im Gegensatz zu anderen führenden Persönlichkeiten wie Rosenblüth, Kurt Blumenfeld16 (1884–1963), Siegfried Moses17 (1887–1974) oder Robert Weltsch18 (1891–1982), deren tragende Rolle in den Gesamtdarstellungen zur Geschichte des deutschen Zionismus ausführliche Würdigung erfährt, scheint sich das »Vergessen« Lichtheims gewissermaßen in der Forschungsliteratur fortzusetzen. Obgleich der Historiografie die zentrale Rolle Lichtheims in der zionistischen Bewegung nicht entgangen ist, wurde ihm bisher nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Abgesehen von einem kleinen Kreis an Holocaustforscherinnen und -forschern, die sich mit der Frage befasst haben, ab wann den Alliierten Informationen zum Vernichtungsgeschehen vorlagen, bringen die meisten Historikerinnen und Historiker des Zionismus seinen Namen vornehmlich mit der zionistisch-revisionistischen Bewegung in Verbindung, in der Lichtheim in der Zwischenkriegszeit aktiv war. Einer der Gründe für das historiografische Desinteresse mag in ebenjener für einen deutschen Zionisten so außergewöhnlichen politischen Entwicklung begründet liegen, die ihn von der bürgerlichen Mitte zunächst ins rechte 15 Die deutschsprachigen Einwanderer nach Palästina in den 1920er und 1930er Jahren prägten den Jischuw v. a. im kulturellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Bereich. Das Feld der Politik sollte ihnen weitestgehend verschlossen bleiben. Zum Einfluss deutschsprachiger Einwanderer im Jischuw vgl. den Sammelband Zimmermann / Hotam (Hgg.), Zweimal Heimat. 16 Kurt Blumenfeld war Sohn einer stark assimilierten ostpreußischen Bürgertumsfamilie. Von 1904 bis 1909 studierte er Rechtswissenschaften in Berlin, Freiburg im Breisgau und Königsberg. 1904 trat er dem Verein Jüdischer Studenten (VJSt) bei und engagierte sich seither in verschiedenen zionistischen Studentenorganisationen. Von 1909 bis 1911 fungierte er als Sekretär der ZVfD und im Anschluss daran von 1911 bis 1914 auch als Generalsekretär der ZO. Von 1913 bis 1914 war er Lichtheims Nachfolger als Redakteur der Zeitschrift Die Welt. Von 1924 bis zu seiner Übersiedelung nach Palästina 1933 war er Präsident der ZVfD. 17 Der Jurist Siegfried Moses entstammte einer assimilierten, der jüdischen Religion entfremdeten Familie aus Westpreußen. Während seines Studiums trat er im Wintersemester 1904/05 der Berliner Sektion des Bunds Jüdischer Corporationen (BJC) bei und war von 1908 bis 1911 der Herausgeber der BJC-Monatsschrift Der Student. Von 1921 bis 1923 war er der geschäftsführende Vorsitzende der Jüdischen Arbeiterhilfe und von 1923 bis 1929 Direktor des Kaufhauskonzerns Schocken. 1933 übernahm er bis zu seiner Flucht aus Deutschland 1937 den Vorsitz der ZVfD und die Vizepräsidentschaft der Reichsvertretung der Deutschen Juden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er maßgeblich an der Formulierung der Wiedergutmachungsforderungen an Deutschland beteiligt. 18 Robert Weltsch stammte aus Prag, wo er Jura studierte und Mitglied der Vereinigung Bar Kochba war. Von 1919 bis 1938 war er der Chefredakteur und Mitherausgeber der Zeitschrift Jüdische Rundschau, des Presseorgans der ZVfD. Gleichzeitig war er von 1925 bis 1933 im Brit Schalom aktiv, einem Zirkel jüdischer Intellektueller, die binationale Lösungen im arabisch-jüdischen Konflikt in Palästina anstrebten. 1938 emigrierte er nach Palästina und war dort von 1939 bis 1940 Chefredakteur der Jüdischen Weltrundschau. Nach dem Krieg siedelte er nach London über und leitete ab 1955 das dortige Leo Baeck Institute.
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und schließlich ins linke Spektrum zionistischer Politik führte und es schwerlich erlaubt, Lichtheim fest einer bestimmten politischen Strömung zuzuordnen. Hatte er zu Beginn seiner politischen Karriere zu der Kerngruppe deutscher Zionisten gehört, die ab 1912 bis zu den frühen 1930er Jahren die deutsche Bewegung dominierten, wirkte er ab 1913 gleich in zweifacher Hinsicht in der Peripherie des zionistischen Geschehens: während seiner Missionen in Konstantinopel und Genf im geografischen und als Vertreter von weniger prominenten Spielarten des deutschen Zionismus im politischen Sinne. Aus den gängigen Erzählungen der deutschsprachigen zionistischen Bewegung, die oft allzu homogen porträtiert wird, fällt Lichtheim damit schlichtweg heraus. Verstanden als eine Art epistemischer Sonde, wird der ungewöhnliche Lebensweg Lichtheims hier genutzt, um den Blick vom Rand her auf zentrale Ereignisse und Prozesse der zionistischen wie auch der allgemeinen jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu richten und deren historische Bedeutung neu zu bestimmen. Dazu werden im Folgenden zunächst methodische Überlegungen zum biografischen Arbeiten angestellt sowie Quellenlage und Forschungsstand umrissen, bevor Lichtheims Herkunft und Elternhaus, sein politisches Erwachen während der Studienjahre sowie sein frühes Engagement in der zionistischen Bewegung bis 1913 skizziert werden. Das zweite Kapitel widmet sich seinen diplomatischen Bemühungen in Konstantinopel zwischen 1913 und 1917. Hier wird der Frage nachgegangen, wie es Lichtheim gelang, die zionistische Bewegung trotz ihrer relativen Bedeutungslosigkeit am Vorabend des Ersten Weltkriegs zu einem Faktor deutscher und amerikanischer Außenpolitik zu machen, und welche Auswirkungen dies auf den Jischuw hatte. Im Anschluss daran fragt das dritte Kapitel nach den Motiven für Lichtheims Hinwendung zur zionistischen Rechten und beleuchtet sein Wirken innerhalb der deutschen wie internationalen revisionistischen Bewegung bis 1937. Das letzte Kapitel widmet sich Lichtheims Funktion als Emissär der Jewish Agency in Genf während des Zweiten Weltkriegs. Es richtet damit den Blick auf bisher wenig beachtete Rettungsversuche der Jewish Agency, der im Nachgang des Holocaust oft Untätigkeit vorgeworfen wurde.19 Hier stehen Lichtheims ausführliche Berichterstattung über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik sowie seine Bemühungen im Mittelpunkt, Hilfe für die verfolgten Judenheiten Europas zu organisieren. Es wird nachvollzogen, welche Informationen ihm zugänglich waren und welche Handlungsoptionen sich ihm vor diesem Hintergrund eröffneten. Gleichzeitig wird danach gefragt, wie sich die Konfrontation mit dem Holocaust auf Lichtheims Konzeption des Zionismus ausgewirkt hat. In einem Epilog wird schließlich mit Lichtheims Engagement für die linksliberale Alija Chadascha 19 So zum Beispiel hier: Beit-Zvi, Post-Ugandan Zionism on Trial.
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die letzte Station seiner politischen Karriere beleuchtet, die mit der Gründung des Staats Israel schließlich ihr Ende fand. Geleitet wird die Auseinandersetzung mit der Figur sowohl von der Frage nach dem konkreten Beitrag Lichtheims zur zionistischen Idee und Politik als auch der Frage danach, wie seine eigenen Erfahrungen sein politisches Denken beeinflussten und veränderten. Die unkonventionelle Genese seines zionistischen Denkens und Handelns, das ihn ab Mitte der 1920er Jahre immer wieder in Konflikt mit der zionistischen Mehrheit brachte, lässt sich nur in Zusammenschau mit seinen politischen Erfahrungen verstehen, die er während beider Missionen in Konstantinopel und Genf gemacht hat. Beide Weltkriege brachten nicht nur veränderte Rahmenbedingungen für die zionistische Politik hervor, sie konfrontierten Lichtheim auch mit der existenziellen Bedrohung des zionistischen Projekts in Palästina. Hier liegen sowohl seine Hinwendung zum Revisionismus in den 1920er Jahren als auch seine Interpretation der Ereignisse in Europa während des Zweiten Weltkriegs und die Schlussfolgerungen begründet, die er daraus für die Zukunft des Zionismus zog. Die beiden Wendepunkte Konstantinopel und Genf bilden daher den chronologischen und topografischen Rahmen für die Untersuchung dieser komplexen Verflechtung von Ort, Zeit, Erfahrung und Politik, auf der Lichtheims Biografie basiert. Die zahlreichen Brüche, Wandlungen und Neuausrichtungen in Lichtheims politischem Leben spiegeln nicht zuletzt auch die erratische Entwicklung der Gesamtbewegung wider. Indem diese in vielerlei Hinsicht untypische Figur in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wird, werden auch die etablierten Narrative der zionistischen Geschichte herausgefordert. Zugleich dient sie als Korrektiv für die oftmals allzu teleologisch erzählte Geschichte der jüdischen Nationalbewegung als erfolgreicher Umsetzung der Idee Theodor Herzls, die mit der Unterzeichnung der Unabhängigkeitserklärung des Staats Israel im Jahr 1948 Wirklichkeit wurde.
Methodische Überlegungen Das Konzept der kontextualisierten Biografie, dessen Anliegen es ist, die historische Person nicht ausschließlich aus sich selbst heraus zu erklären, sondern in Beziehung zu setzen zu den sie prägenden gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Bedingungen, bildet mittlerweile das Grundverständnis der modernen Biografieforschung.20 Das Individuum ist dabei – in
20 Zur Entwicklung der Biografieforschung innerhalb der Geschichtswissenschaft vgl. Depkat, Ein schwieriges Genre, bes. 21–28; Lässig, Die historische Biographie auf neuen Wegen?
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den Worten Volker Depkats – »weder als homo clausus noch als bloße Manifestation von Kollektivphänomenen [zu verstehen], sondern als ein in seiner Umwelt eingelassener, durch Familie, Verwandtschaft, peer group, Klasse und andere gesellschaftliche Strukturen geprägter ›Handlungsträger‹, der aber, indem er in seiner gesellschaftlichen Umwelt handelt, auf eben diese Umwelt zurückwirkt und sie dadurch auch wiederum prägt«.21 Die vorliegende Studie sucht daher Ereignisgeschichte mit politik-, kulturund sozialgeschichtlichen Ansätzen sowie den Theorien und Ergebnissen der wissenschaftlichen Psychologie zu verknüpfen. Für die Untersuchung der politischen Biografie Lichtheims bilden die den Sozialisationsprozess konstitutiv bestimmenden Dimensionen wie soziale Klasse, Schicht, Geschlecht, Hautfarbe, regionales Milieu sowie die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe22 wertvolle Analysekategorien. Lichtheim selbst hat in seinen Erinnerungen den enorm prägenden Einfluss aufgezeigt, den der Habitus der vermögenden assimilierten Familie sowie das jüdisch-bürgerliche Milieu des Berliner Westens auf die Entwicklung seiner Persönlichkeit ausgeübt hatten. Darüber hinaus bedarf es interpretatorischer Ansatzpunkte, die über die soziale Verhaftung hinausgehen und es erlauben, überindividuelle Faktoren und zentrale Bezugsereignisse im Sozialisationsprozess zu identifizieren. Hier bieten sich Ansätze aus der wissenssoziologischen Generationenforschung an, mit denen sich herkunftsbedingte Sozialisationsprozesse weiter differenzie21 Depkat, Ein schwieriges Genre, 27. 22 Till van Rahden folgend soll das deutsche Judentum in vorliegender Arbeit nicht als »sozialmoralisches Milieu« im Sinne der politischen Soziologie von Mario Rainer Lepsius verstanden werden, sondern als eine »durch situative Ethnizität gekennzeichnete pluralistische Formation«. Der Milieuansatz, der darauf abzielt, aus einer homogenen lebensweltlichen Prägung korrespondierendes politisches Verhalten abzuleiten, wurde in verschiedenen Arbeiten wie etwa denen von Shulamit Volkov, David Sorkin oder Peter Pulzer angewandt, um das deutsche Judentum als eine soziale Formation zu beschreiben. Till van Rahden spricht sich indessen gegen die Übertragung des Milieukonzepts auf das deutsche Judentum aus. Er argumentiert, dass im Fall der deutschen Juden nicht von einem sozialmoralischen Milieu gesprochen werden kann, da sie keine geschlossene Gruppe mit Loyalitätsforderungen darstellten wie etwa das katholische Milieu. Stattdessen plädiert er dafür, das deutsche Judentum als äußerst heterogene ethnische Gruppe aufzufassen, die ihre Eigenart bewahrte, gleichzeitig politisch, kulturell und sozial am gesamtgesellschaftlichen Leben teilnahm und eben nicht von Moralgrenzen bestimmt war. Die Affinität deutscher Juden zum Liberalismus war laut van Rahden vielmehr dadurch zu erklären, dass sie, die mehrheitlich dem Bürgertum angehörten, »dazu tendierten, sich für eine bürgerliche Partei zu entscheiden, sofern diese nicht offen oder unterschwellig antisemitisch war«. Vgl. dazu Rahden, Weder Milieu noch Konfession, 431. Zur Übertragung des Milieuansatzes auf das deutsche Judentum vgl. u. a. Pulzer, Politische Einstellung und politisches Engagement jüdischer Unternehmer, 314; Sorkin, The Transformation of German Jewry, 1780–1840; Volkov, Die Erfindung einer Tradition, 9–12. Zum Begriff des sozialmoralischen Milieus vgl. Lepsius, Parteiensystem und Sozialstruktur.
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ren lassen. Wilhelm Dilthey vertrat früh die These, dass einschneidende Erlebnisse in der Phase des Heranwachsens besonders prägend sind und einen entscheidenden Einfluss auf das spätere Weltbild eines Menschen haben.23 Daran anknüpfend entwickelte der Soziologe Karl Mannheim in seinem 1928 erschienenen Aufsatz Das Problem der Generationen ein horizontal strukturiertes Generationenmodell, das bis heute die Grundlage für die Generationentheorie bildet.24 Mannheim unterscheidet zwischen Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit, wobei Generationslagerung zunächst lediglich ein altersspezifisches Miteinander von Individuen beschreibt, das nicht durch ein gemeinsames Bewusstsein getragen ist. Die verwandte Lagerung im historisch-sozialen Raum ist jedoch Vorbedingung für die Möglichkeit der Vergemeinschaftung einer Alterskohorte zum Generationszusammenhang. Dieser besteht aus Angehörigen ähnlicher Jahrgänge, die an denselben Ereignissen partizipieren und durch die gleichzeitig erlebte Erfahrung eine gefühlte Verbundenheit – ein Generationsbewusstsein – entwickeln. Innerhalb eines solchen Generationszusammenhangs wiederum formieren sich sogenannte Generationseinheiten, deren Mitglieder ähnliche Deutungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ausbilden, die sie klar von anderen Interpretationen ihrer Generationsgenossen abgrenzen. Die Generationentheorie wurde wiederholt mit Erkenntnisgewinn angewandt, um der Frage auf den Grund zu gehen, warum Menschen verwandter Jahrgänge und ähnlicher sozialer wie kultureller Kontexte ähnliche Perspektiven auf Ereignisse herausbilden.25 Mannheims Konzept einer generationellen Einheit als altersspezifischer Schicksals- und Erlebnisgemeinschaft, deren Mitglieder in Reaktion auf das kollektiv Erlebte ähnliche Denk-, Gefühlsund Verhaltensmuster, einen generationellen Habitus, entwickeln, kann auch herangezogen werden, um Lichtheim mentalitätsgeschichtlich zu verorten. Richard Lichtheim, Jahrgang 1885, gehörte ebenso wie seine Altersgenossen Kurt Blumenfeld, Felix und Martin Rosenblüth26 (1886–1963), Julius27
23 Dilthey, Ueber das Studium der Wissenschaften vom Menschen, der Gesellschaft und dem Staat (1875). 24 Mannheim, Das Problem der Generationen (1928). Für neuere Beiträge zur Diskussion um das Konzept der Generation vgl. Parnes / Vedder / Willer, Das Konzept der Generation; Jureit, Generationenforschung; dies. / Wildt (Hgg.), Generationen. 25 Vgl. zum Beispiel folgende Studien: Herbert, Best; Wildt, Generation des Unbedingten; Mommsen, Generationenkonflikt und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Angewandt auf die Generation »postassimilatorischer Zionisten« vgl. Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias, bes. 23–29. 26 Martin Rosenblüth ist der jüngere Bruder Felix Rosenblüths. 1910 wurde er zum Sekretär David Wolffsohns (ca. 1855–1914), des Präsidenten der ZO. Von 1929 bis 1933 war er Geschäftsführer des Keren Hayesod in Berlin. 27 Julius Berger wurde 1907 Generalsekretär der ZO und wanderte 1923 nach Palästina aus.
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(1883–1948) und Alfred Berger28 (1891–1940), Georg Herlitz29 (1885–1968), Hans Gideon Heymann30 (1882–1918), Elias Auerbach31 (1882–1971), Felix A. Theilhaber32 (1884–1956) und viele andere zu jener zweiten Generation deutscher Zionisten, die um 1900 intellektuell sozialisiert wurde und von Kurt Blumenfeld später als »post-assimilatorisch«33 bezeichnet werden sollte. Vor dem Hintergrund der krisenhaften Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts und der antisemitischen Welle der 1890er Jahre einte sie das Gefühl, dass der »Liberalismus als Integrationsideologie ausgedient hatte – und mit ihm das Assimilationskonzept«.34 Die Assimilationsbestrebungen ihres Elternhauses suchten sie bewusst zu überwinden und in der jüdischen Volksidee erblickten sie einen Weg für die Zukunft, von dem sie sich gleichzeitig die Erneuerung ihres Jüdischseins und die Überwindung des Antisemitismus erhofften. Hannah Arendt (1906–1975) beschrieb diese Gruppe treffend als 28 Alfred Berger leitete von 1923 bis 1929 den Keren Hayesod und wanderte 1933 nach Palästina aus, wo er ab 1936 die Informationsabteilung der Hebräischen Universität Jerusalem leitete. 29 Georg Herlitz studierte von 1904 bis 1908 Geschichte, Philosophie und Semitische Sprachen in Halle / Saale und Berlin und von 1904 bis 1911 Jüdische Theologie und Wissenschaften an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Er schloss sich wie Blumenfeld 1904 dem VJSt an. Von 1911 bis 1916 arbeitete er im Gesamtarchiv der deutschen Juden in Berlin. 1919 wurde er von der ZO mit dem Aufbau und der Leitung eines zionistischen Zentralarchivs beauftragt. Dessen Bestände konnte er 1933 erfolgreich nach Palästina überführen, wo sie den Grundstein der CZA bildeten, deren Direktor er von 1935 bis 1955 war. Er war entscheidend am Aufbau des israelischen Archivwesens beteiligt. 30 Hans Gideon Heymann war der Sohn einer Berliner jüdischen Bankiersfamilie. Er studierte Nationalökonomie und entwickelte sich zu einem der angesehensten Finanzexperten der ZVfD. Er war eines der frühen Todesopfer der von 1918 bis 1920 grassierenden Influenzapandemie. 31 Elias Auerbach studierte Medizin und ließ sich 1909 als einer der ersten deutschen Zionisten in Palästina nieder, wo er in Haifa als Arzt tätig war. 32 Felix Aron Theilhaber studierte Medizin in Berlin und München. Bereits 1900 trat er der zionistischen Ortsgruppe München bei, wo er auch den Sportverein Makkabi gründete. Er gehörte zu den Herausgebern der Zeitschrift Palästina und schrieb für die Jüdische Rundschau und Das Jüdische Echo. Ab 1911 war er als Dermatologe tätig. Unter den Nationalsozialisten verlor er seine Approbation. 1935 wanderte er nach Palästina aus, praktizierte dort als Arzt und gründete die private Krankenversicherung Kupat Cholim Maccabi mit. Er publizierte umfangreich zu den Themen Demografie, Hygiene, Sexualreform und zu jüdischer Geschichte. 33 Die deutsche Bewegung speiste sich aus einer relativ breiten Sicht »post-assimilatorischer Zionisten«. Wie jedoch bereits Jochanan Ginat betonte, waren freilich nicht alle deutschen Zionisten als solche anzusehen. Wie Georg Herlitz und die Gebrüder Rosenblüth entstammte ein Teil von ihnen einem Milieu, in dem jüdische Traditionen in verschiedenen Formen durchaus lebendig waren. Sie fanden ihren Weg zum Zionismus ohne die Notwendigkeit, ihr Jüdischsein neu zu entdecken. Vgl. ders., Kurt Blumenfeld und der deutsche Zionismus, 10. 34 Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias, 20. Lichtheim und Blumenfeld beschreiben diese Erfahrungen eindrücklich in ihren Erinnerungen. Vgl. Lichtheim, Rückkehr, 17–64; Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, 11–48.
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diejenigen jüdischen Intellektuellen, die »nirgendwo« hingehörten, »weder gesellschaftlich noch politisch«,35 »sich den freien Berufen, der Kunst und Wissenschaft widmeten und weder eine geistige noch ideologische Beziehung zur jüdischen Religion hatten«.36 Unter anderem auch deshalb waren sie besonders »schutzlos dem neuen Judenhaß zur Zeit der Jahrhundertwende ausgesetzt«.37 Für sie, so Arendt, »war kein Platz im Haus ihrer Väter. Um überhaupt Juden zu bleiben, mußten sie ein neues Haus errichten.«38 Das Generationenmodell kann also durchaus hilfreich sein, um Lichtheim als »Kind seiner Zeit« in die sozialen und gesellschaftlichen Prozesse des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts einzubetten und seine Hinwendung zum Zionismus nachzuvollziehen. Das Erklärungspotenzial des Modells in Bezug auf individuelle Entwicklungen ist jedoch begrenzt. Nicht zu erklären vermag es die spätere Hinwendung Lichtheims zur zionistischen Rechten, die keineswegs typisch war für die deutsche zionistische Bewegung, die in ihrer Mehrheit wenig Sympathien für den chauvinistischen Nationalismus der Revisionisten aufbringen konnte. Ohne die Bedeutung der frühen prägenden Faktoren – etwa soziale Herkunft, Milieu, gesellschaftliche Mentalitäten und generationsspezifische Erfahrungen – für das Weltbild eines Menschen infrage zu stellen, bedarf es für die Erklärung später individueller Entwicklungen weiterer Werkzeuge. Hier ist es hilfreich, sich der Impulse der Entwicklungspsychologie zu bedienen und den Sozialisationsprozess nicht auf Kindheit und Jugendjahre beschränkt, sondern als fortdauernden Prozess zu verstehen, der das gesamte Leben durchzieht. Biografisches Wissen, das sich aus Lebenserfahrungen generiert, wird so nicht bloß als Ablagerung des Erfahrenen, sondern als dessen fortlaufende Überarbeitung betrachtet.39 Um zu einem Verständnis von Lichtheims Konzeption des Zionismus zu gelangen, die sich im Verlauf seiner Karriere mehrfach wandelte, gilt es also, den Einfluss verschiedener zeitgeschichtlicher Erfahrungen auf sein politisches Denken und Handeln zu entschlüsseln. Es ist nach den jeweils wechselnden Einflüssen zu fragen und die porträtierte Person daher immer wieder in die sich im Laufe eines Lebens stetig wandelnden Kontexte und Diskurse einzubetten. Nur so ist es möglich, einerseits kollektivgeschichtlich prägende Ereignisse als solche zu identifizieren und andererseits individuelle Idiosynkrasien und Dispositionen vom Einfluss der Gesellschaft und des vorherrschenden Diskurses zu unterscheiden. Brüchen und Kontinuitäten kann damit genauso Rechnung getragen werden wie der Individualität, dem 35 Arendt, Der Zionismus aus heutiger Sicht (1945), 158. 36 Ebd., 156. 37 Ebd., 157. 38 Ebd., 158. 39 Hoerning, Biographische Sozialisation, 4.
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Devianten und dem oftmals Zufälligen eines Lebenswegs. Die Idee eines kohärenten und zielgerichtet verlaufenden Lebens ist ohnehin spätestens seit Pierre Bourdieu als »biographische Illusion« entlarvt. Der französische Soziologe hatte bereits 1986 die Vorstellung kritisiert, »dass das Leben ein Ganzes konstituiert, einen kohärenten und orientierten Zusammenhang, der als ein einheitlicher Ausdruck einer subjektiven und objektiven ›Intention‹ eines Projektes aufgefasst werden kann und muss«.40 Stattdessen sei die Wechselbeziehung von Individuum und sozialem Raum kritisch zu rekonstruieren. Dabei ist im Falle jüdischer Biografien des 19. und 20. Jahrhunderts freilich der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die Stellung des Individuums wie des diasporischen Kollektivs im und zum sozialen Raum eine prekäre und ungeschützte war, deren Koordinaten von den gesellschaftlichen, politischideologischen und antisemitischen Zuschreibungen durch die Mehrheitsgesellschaft determiniert wurden.41 Gleichwohl erlaubt es die Komplexität eines Lebenswegs Biografinnen und Biografen – die zudem in ihren Untersuchungen durch das zugängliche Quellenkorpus begrenzt sind – nur schwerlich, sämtliche das Individuum im Laufe seines Lebens prägenden Einflussfaktoren zu identifizieren. Ohnehin soll hier nicht eine lückenlose Biografie im klassischen Sinne präsentiert werden. Die Intention ist keineswegs, einem »vernachlässigten großen Mann« zu seinem Recht zu verhelfen und sämtliche Lebensabschnitte vollständig auszuleuchten. Vielmehr soll mithilfe eines biografischen Zugriffs zur Deutung historischer Ereignisse und Prozesse beigetragen werden, deren Schnittpunkt die Lebensgeschichte Lichtheims bildet. Diese ist eng verbunden mit den Verwerfungen des 19. und 20. Jahrhunderts sowie dem Entstehen und dem Aufbau der jüdischen Nationalbewegung. Sie gibt Einblicke in die zionistischen Diskussionen der Zeit und eröffnet den Blick auf gleich zwei zentrale Episoden jüdischer Interessenvertretung. Neben seinen diplomatischen Diensten ist Lichtheim als deutscher Zionist vor allem hinsichtlich seiner ungewöhnlichen intellektuellen Entwicklung interessant, die es erlaubt, verschiedene Fraktionen des linken und rechten Spektrums der zionistischen Politik in den Fokus zu rücken und sich der Geschichte des Zionismus aus dem Blickwinkel der Opposition zu nähern. Ein solcher Ansatz muss zwangsläufig fragmentiert und lückenhaft bleiben, ein Anspruch auf Vollständigkeit wird nicht erhoben. Daraus ergibt sich auch die weitestgehende Auslassung des Privaten. Ohnehin ist kaum Material erhalten, das Rückschlüsse auf Lichtheims Privatleben zulassen würde. In sei40 Bourdieu, Die biographische Illusion (1990), 75. Der Aufsatz erschien erstmals 1986 in französischer Sprache. 41 Auf die Besonderheiten jüdischer biografischer Erfahrungen wiesen bereits hin: Knellessen / Pankonin, Einführung, Schwerpunkt Jüdische Lebenswege im 20. Jahrhundert, 291–302.
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nem Nachlass in den Central Zionist Archives (CZA) in Jerusalem befinden sich nur sehr wenige private Korrespondenzen und die meisten von ihnen sind verknüpft mit Lichtheims politischen Aktivitäten. So fehlen zum Beispiel die Briefwechsel der Lichtheims mit ihren Kindern George42 (1912–1973) und Miriam43 (1914–2004), mit denen sie jahrzehntelang vornehmlich in postalischem Kontakt standen, vollkommen. Auch seine Memoiren schrieb Lichtheim unter weitestgehender Auslassung seines Familienlebens. Diese bewusste Entscheidung, das Private nicht in den Vordergrund zu stellen, wird auch im Folgenden respektiert. Der Anspruch »biografischer Wahrheit« wird dabei nicht verfolgt – wie alle historische Narration ist auch die biografische konstruiert. Die vorliegende Arbeit versteht sich daher als Versuch einer Annäherung an die politische Biografie Richard Lichtheims.
Quellenlage und Forschungsstand »Wir haben von Ihnen und über Sie so viel Gutes und Schöpferisches in den Akten, dass ich Ihnen nicht besonders sagen muss, wie gut bekannt Ihre Leistungen für den Zionismus bei uns sind. Und dadurch, dass es bei uns vorhanden ist, wird es auch späteren Zeiten übermittelt werden. Da wir ja alle nach ein bisschen Unsterblichkeit streben, darf Ihnen das doch eine gewisse Genugtuung sein.«44
Das hier gezeichnete Porträt Lichtheims basiert hauptsächlich auf diesen bisher weitgehend unbeachtet gebliebenen Beständen der Central Zionist 42 George Lichtheim wurde als erstes Kind der Lichtheims in Berlin geboren. 1932 begann er, in Heidelberg Jura zu studieren. 1933 ging er zunächst nach London, später nach Jerusalem, wo er ab 1935 für die Palestine Post schrieb. Er gehörte zum Intellektuellenkreis um Gershom Scholem, dessen Hauptwerk Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (engl. Major Trends in Jewish Mysticism, 1941) er ins Englische übersetzte. 1945 reiste er als Berichterstatter für die Palestine Post zu den Kriegsverbrecherprozessen nach Nürnberg und ließ sich anschließend in London nieder, wo er ausgiebig zur Geschichte und Theorie des Sozialismus und Marxismus publizierte. 1973 nahm er sich in London das Leben. Vgl. Laqueur, George Lichtheim, 1912–1973; Sparr, Grunewald im Orient, 106–108, Balint, George Lichtheim’s Marxmanship. 43 Miriam Lichtheim wurde in Konstantinopel geboren. Im Sommer 1933 siedelte sie gemeinsam mit ihren Eltern nach Jerusalem über, wo sie bis 1939 Altorientalische Sprachen, Ägyptologie und Gräzistik an der Hebräischen Universität studierte. 1940 folgte sie ihren Eltern nach Genf, bevor sie 1941 in die Vereinigten Staaten weiterreiste, um an der University of Chicago zu promovieren. Hier arbeitete sie von 1944 bis 1952 als Forschungsassistentin. Bis zu ihrer Pensionierung 1974 war sie als Ägyptologin an verschiedenen amerikanischen Einrichtungen tätig und publizierte umfassend zu altägyptischer Literatur. 1982 kehrte sie nach Israel zurück und lehrte dort bis 1988 an der Hebräischen Universität. Vgl. Miriam Lichtheim, Telling It Briefly. Für die Zeit ihrer Tätigkeit als Dozentin in Jerusalem existiert eine Personalakte im Archiv der Hebräischen Universität. 44 CZA, A56/5, Alex Bein, Direktor der Central Zionist Archives, an Lichtheim zu dessen 75. Geburtstag, 22. Februar 1960.
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Archives in Jerusalem. Darüber hinaus wurde Material anderer israelischer Institutionen wie der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem und des Jabotinsky Institute in Tel Aviv sowie deutscher, schweizerischer und britischer Archive genutzt. Zentral für den Zugriff auf die Person Lichtheim war die Auswertung seines persönlichen Nachlasses, der den Central Zionist Archives durch die Tochter Miriam Lichtheim übergeben und bisher nur wenig für wissenschaftliche Untersuchungen herangezogen wurde.45 Dieser beinhaltet neben verschiedenen privaten wie geschäftlichen Korrespondenzen auch einen Teil seiner politischen Denkschriften, Redemanuskripte, Notizbücher sowie eine umfangreiche Sammlung seiner Zeitungsartikel, an denen sich ablesen lässt, welche politischen Fragen Lichtheim im Laufe seines Lebens beschäftigten und wie er zu ihnen Stellung bezog. Die verschiedenen Aktivitäten Lichtheims innerhalb der ausführenden Organe der zionistischen Bewegung sind ebenfalls umfangreich dokumentiert. Für seine Tätigkeit als Repräsentant der Zionistischen Organisation im Osmanischen Reich von 1913 bis 1917 war in erster Linie die Auswertung der Korrespondenzen der involvierten zionistischen Vertretungen in Konstantinopel, Jaffa und Berlin von Bedeutung, die sich ebenfalls in den CZA einsehen lassen.46 Eine erneute Sichtung des für diese Episode relevanten Archivmaterials des deutschen Auswärtigen Amts wurde nicht vorgenommen. Soweit dies notwendig war, wurde diesbezüglich auf die Ergebnisse der Unter suchungen von Edmund Zechlin und Isaiah Friedman zurückgegriffen.47 Ebenso befinden sich in den CZA einige der wenigen erhalten gebliebenen Bestände der Zionistischen Vereinigung für Deutschland,48 deren Archiv von den Nationalsozialisten fast vollständig zerstört wurde, sowie die Akten der Partei Alija Chadascha.49 Die revisionistische Bewegung betreffendes 45 CZA, A56: Lichtheim. 46 CZA, L2: Palästina-Amt in Jaffa (1908–1920), L5: ZO-Büro Konstantinopel (1909–1917), Z3: ZO-Zentralbüro Berlin (1911–1920). 47 Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg (1969); Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918 (1977); vgl. auch die Dokumentensammlung zum Thema: ders. (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918 (1987). 48 Das Archiv der ZVfD wurde 1938 von der Gestapo konfisziert und gegen Ende des Kriegs fast vollständig zerstört. Einige Bestände sind in den CZA in Jerusalem erhalten (F4), andere im Moskauer Sonderarchiv. Die Rekonstruktion der Geschichte des deutschen Zionismus ist daher auf die Nachlässe, Korrespondenzen und Erinnerungen seiner Akteure sowie die Erzeugnisse seiner Presseorgane wie Die Welt und die Jüdische Rundschau angewiesen. Für eine Übersicht über die Bestände im Moskauer Sonderarchiv vgl. Panwitz, Die Judaica im Sonderarchiv Moskau (2015). 49 Die Sammlung zur Alija Chadascha (J18) enthält in der Hauptsache die parteiinterne Korrespondenz und Sitzungsprotokolle sowie die Publikationen der Partei, v. a. das sogenannte Mitteilungsblatt (MB), für das Lichtheim regelmäßig schrieb.
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Material befindet sich im Archiv des Jabotinsky Institute (JI) in Tel Aviv. Hier wurden die für die Jahre 1925 bis 1933 erhalten gebliebenen Akten der Union der Zionisten-Revisionisten, der internationalen Dachorganisation der Revisionisten, sowie die des deutschen Landesverbands gesichtet.50 Diese umfangreichen Bestände, die unter anderem Rundschreiben, Sitzungsprotokolle der leitenden Gremien, politische Grundsatzpapiere sowie die Korrespondenzen Lichtheims mit verschiedenen revisionistischen Funktionären wie Meir Grossmann beinhalten, geben Auskunft sowohl über die politische Agenda der Revisionisten und deren Positionierung nach außen als auch über interne Machtkämpfe. Im Archiv des Jabotinsky Institute ist auch ein Teil der Briefe Lichtheims an Vladimir Jabotinsky erhalten, die eine Reihe vor allem aus den frühen 1930er Jahren stammender Briefe Jabotinskys an Lichtheim, die in den CZA in Jerusalem aufbewahrt werden, ergänzen.51 Die Korrespondenz ist jedoch nur unvollständig erhalten. Ebenfalls im Archiv des JI befinden sich die Akten der Judenstaatspartei, die zwischen 1933 und 1948 bestand.52 Auch die Rekonstruktion der diplomatischen und humanitären Aktivitäten Lichtheims in Genf während des Zweiten Weltkriegs beruht in der Hauptsache auf den Sammlungen der CZA. Die zentralen Quellen bildeten hier die Akten der verschiedenen Büros der Zionistischen Organisation in Genf, London, Jerusalem und New York, die Lichtheims umfangreiche Korrespondenz dokumentieren.53 Allein an das Büro in Jerusalem sandte Lichtheim zwischen 1939 und 1946 mehr als 1 500 Briefe, die zum großen Teil erhalten geblieben sind und wertvolle Hinweise über seine Arbeit, die Situation in Europa und seine persönliche Sicht geben.54 Ergänzend wurde der Nachlass seines langjährigen Mitarbeiters Fritz Ullmann (1902–1972) konsultiert.55 Aufschlussreich sind auch die Akten der von Gerhart M. Riegner (1911–2001) geleiteten Vertretung des World Jewish Congress in Genf, die in enger Verbindung mit dem Büro Lichtheims stand.56 Die Rekonstruktion dieser Zusammenarbeit muss allerdings fragmentarisch bleiben. Aufgrund der räumlichen Nähe – zeitweise unterhielten beide Organisationen Büros im selben Gebäude in Genf – tauschten Lichtheim und 50 A: Archiv Vladimir Jabotinskys und der Jabotinsky Familie, G: Archive und Sammlungen der Union der Zionisten-Revisionisten und der Neuen Zionistischen Organisation, P: Personenbezogene Sammlungen von Mitgliedern der revisionistischen Bewegung. 51 Für die Briefe Jabotinskys an Lichtheim vgl. CZA, A56/20. Diese Briefe befinden sich in Kopie auch im JI. 52 JI, L6: Judenstaatspartei (Weltexekutive), L7: Judenstaatspartei (Zentralkomitee). 53 CZA, L22: Büro der Jewish Agency in Genf (1925–1948), S5: ZO-Büro Jerusalem, Z4: ZO-Büro London (1917–1955), Z5: ZO-Büro New York (1939–1991). 54 CZA, A56/29, Lichtheim, Das Genfer Büro 1939–1946, 10. April 1946, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 513–525. 55 CZA, A320: Ullmann. 56 CZA, C3: WJC-Büro in Genf (1936–1986).
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Riegner viele Informationen in persönlichen Treffen oder Telefongesprächen aus, deren Inhalt freilich nicht dokumentiert ist. Um weitere Kooperationen und die in Genf auf Initiative oder mit Beteiligung Lichtheims angestrengten Hilfs- und Rettungsversuche besser nachvollziehen zu können, wurden zusätzlich Bestände anderer in der Schweiz operierender jüdischer beziehungsweise zionistischer Akteure und Institutionen ausgewertet, zum Beispiel die Sammlungen der von Abraham Silberschein (1882–1951) geführten RELICO, des von Chaim Posner (Pazner, 1899–1981) geleiteten Palästina-Amts57 sowie des von Nathan Schwalb (Schwalb-Dror, 1908–2004) geführten Dachverbands der zionistischen Jugendbewegungen He-Ḥ aluẓ.58 Darüber hinaus wurden Bestände unter anderem des Archivs für Zeitgeschichte in Zürich und der Wiener Holocaust Library in London konsultiert. Neben unveröffentlichtem Archivmaterial wurden veröffentlichte Quellen herangezogen. So geben die Protokolle der Zionistenkongresse nicht nur Auskunft über die zentralen Streitfragen der Bewegung und das dort ausgehandelte zionistische Programm, sondern auch über Lichtheims politische Haltung. Unerlässlich vor allem für die Rekonstruktion der Entwicklungen innerhalb der ZVfD war eine systematische Durchsicht der Zeitung Die Welt, deren Chefredakteur Lichtheim von 1911 bis 1913 war, sowie der Tages zeitung Jüdische Rundschau (JR). Für die Position des deutschen Revisionismus waren vor allem revisionistische Publikationen wie Hed-Bethar und die Revisionistischen Blätter aufschlussreich. Auskunft über Lichtheims geänderte Haltung in den späten 1940er Jahren geben besonders seine Artikel im Mitteilungsblatt (MB), dem Organ der Alija Chadascha. Gerade die Gegenüberstellung von Lichtheims eigenen Publikationen und der im Schriftverkehr mit Kollegen zum Ausdruck gebrachten Auffassung bestimmter Probleme macht deutlich, dass Letztere nicht immer mit den von Lichtheim nach außen vertretenen Ansichten übereinstimmten. Wie gezeigt werden wird, trifft dies im Besonderen für Lichtheims Einschätzung der sogenannten arabischen Frage zu, einen der zentralen Streitpunkte zionistischer Politik. Eine weitere enorm wichtige Quelle insbesondere für Lichtheims frühes Engagement in der zionistischen Bewegung und seine Tätigkeit in Konstantinopel stellen seine 1953 auf Hebräisch, 1970 auf Deutsch erschienenen Erinnerungen dar.59 Diese können zumindest in Bezug auf seine Schilderung der Geschehnisse in Konstantinopel als zwar stark subjektiv gefärbt, aber allgemein verlässlich gelten. Lichtheim verließ sich beim Verfassen seiner 57 Yad Vashem Archives (YVA), M.20: Abraham Silberschein Archive; P.12: Chaim Pazner – War Refugee Board Archive. 58 Lavon Institute for Labour Research, Tel Aviv, III-37A-1. 59 Lichtheim, Sche’ar Jaschuv [Ein Rest wird zurückkehren] (1953; dt. Rückkehr, 1970).
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Memoiren nicht nur auf sein Gedächtnis, sondern hat auch die in den CZA zugänglichen Dokumente und Korrespondenzen des von ihm geführten Konstantinopler Büros konsultiert. Auf diesen Umstand weist Lichtheim nicht nur in seinen Erinnerungen selbst hin, auch ein in den CZA aufbewahrter Stoß an Notizblöcken zeugt davon, dass er für die Niederschrift der Kapitel über seine diplomatische Mission in Konstantinopel die damaligen Geschäftskorrespondenzen systematisch sichtete.60 Detaillierte Beschreibungen wie zum Beispiel die einer 1910 unternommenen Palästinareise legen die Vermutung nahe, dass er außerdem von Tagebuchaufzeichnungen zehrte, die allerdings nicht Bestandteil des Nachlasses sind. Dass Lichtheim bei seinem Versuch der Selbsthistorisierung – ebenso wie Historikerinnen und Historiker heute – auf relativ umfangreiche Bestände zurückgreifen konnte und sich nicht wie etwa Kurt Blumenfeld61 einzig auf sein Gedächtnis verlassen musste, ist zum Teil sein eigenes Verdienst. Ein ausgeprägtes Nachlassbewusstsein und ein anerzogener Drang zur Ordnung hielten ihn zur akribischen Sammlung und Archivierung der meisten seiner geschäftlichen Korrespondenzen wie auch anderer schriftlicher Zeugnisse an.62 Dies gilt sowohl für die Zeit in Konstantinopel als auch für die in Genf. So sandte er zu Beginn seiner Tätigkeit in Konstantinopel zum Leidwesen seiner Kollegen lediglich die schwer lesbaren Briefdurchschläge nach Berlin und behielt die Originale selbst.63 Nicht selten erbat er die Rücksendung von Originalbriefen. In Anbetracht des Verlusts der Akten der ZVfD und vieler anderer Archive sind diese Bestände enorm wertvoll. Zur Ergänzung von Lichtheims Perspektive wurden die veröffentlichten Memoiren und Tagebücher anderer für den Kontext relevanter Akteure wie
60 Lichtheim, Rückkehr, 213; Die Notizblöcke sind archiviert unter: CZA, A56/8. 61 In seiner Einführung zu Blumenfelds Memoiren zitiert Hans Tramer ihn mit folgender Aussage: »Das, was ich an Akten und Dokumenten besaß, die naturgemäß eine Fülle von Material enthielten, ist zum großen Teil verloren gegangen. Daher wurde mein Gedächtnis mein Führer.« Blumenfeld, Erlebte Judenfrage (1962), 22. 62 In seinen Memoiren heißt es dazu: »Ein pedantischer Zug meines Wesens – wohl väterliches Erbteil – hat mir stets verboten, Rechnungen unbezahlt und Briefe unbeantwortet liegenzulassen. In den verschiedenen Büros, die ich im Laufe meines Lebens geleitet habe, blieb die Zahl der ›unerledigten Aktenstücke‹ immer auf das unerläßliche Mindestmaß beschränkt. Was erledigt werden konnte, mußte innerhalb [von] vierundzwanzig Stunden erledigt werden.« Lichtheim, Rückkehr, 93. 63 Im März 1914 forderte die Leitung in Berlin Lichtheim auf, die Originale statt der Durchschläge zu senden: »Sie waren bisher so liebenswürdig, immer das Original bei sich zu behalten und uns eine schwer lesbare Kopie zu schicken und waren hierzu offenbar durch die falsche Perforierung Ihrer Durchschreibebücher veranlasst. In Zukunft wollen Sie uns bitte das mit Tinte geschriebene Original einschicken und den Durchschlag als Kopie bei Ihren Akten behalten.« CZA, Z3/48, Aktionskomitee (AK) der Zionistischen Organisation an Lichtheim, 17. März 1914.
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Kurt Blumenfeld,64 Henry Morgenthau Sen.65 (1856–1946), Arthur Ruppin66 (1876–1943), Arthur Koestler,67 Gerhart M. Riegner68 oder Miriam Lichtheim69 herangezogen. Trotz der Subjektivität von Selbstzeugnissen, die teils zu Idealisierungen, Stereotypisierung und Einseitigkeit neigen, geben diese Memoiren bei quellenkritischer Betrachtung nicht nur über das Selbstbild der Autorinnen und Autoren wertvolle Auskunft, sondern bieten auch Einblicke in bestimmte Milieus sowie in politische Affinitäten und Rivalitäten. Da Lichtheims Biografie ein Mosaik aus verschiedenen Untersuchungsgegenständen vereint, soll aus Gründen der Übersichtlichkeit hier ausschließlich der Stand der Forschung zum deutschen Zionismus und zu Lichtheims Person skizziert werden. Die für den historischen Kontext der verschiedenen Teilaspekte relevante Forschungsliteratur wird jeweils zu Beginn der entsprechenden Kapitel diskutiert. Mittlerweile ist die Geschichte der deutschen zionistischen Bewegung vergleichsweise gut aufgearbeitet.70 Die Grundlage für die historische Untersuchung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland hat Lichtheim mit seiner 1954 erschienenen Geschichte des deutschen Zionismus71 selbst gelegt. Trotz autobiografischer Färbung kann die Darstellung als verlässliche Quelle gelten. In den darauffolgenden Jahrzehnten hat die Veröffentlichung von Autobiografien, Memoiren, Tagebüchern und Briefbänden das Gesamtbild wesentlich erweitert und die Auseinandersetzung mit der Geschichte des deutschen Zionismus um eine persönliche Dimension bereichert.72 Hinzu kamen – als Mischformen aus Primär- und Sekundärliteratur – Festschriften
64 Blumenfeld, Erlebte Judenfrage; ders., Im Kampf um den Zionismus (1976). 65 Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus (2004). 66 Ruppin, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen (1985). 67 Koestler, Pfeil ins Blaue (1952). 68 Riegner, Niemals verzweifeln (2001). 69 Miriam Lichtheim, Telling It Briefly (1999). 70 Für Gesamtdarstellungen vgl. Vital, The Origins of Zionism (1975); ders., Zionism. The Formative Years (1982); ders., Zionism. The Crucial Phase; Laqueur, A History of Zionism (1972; dt. Der Weg zum Staat Israel, 1975); Rubinstein, Geschichte des Zionismus (1975); Michael Brenner, Die Geschichte des Zionismus (2002); Engel, Zionism. Eine unschätzbare Quelle für die institutionelle Geschichte der zionistischen Organisation bis zum Ersten Weltkrieg ist: Böhm, Die zionistische Bewegung (1935/1937). 71 Lichtheim, Toldot ha-ẓijonut be-Germanja [Geschichte des Zionismus in Deutschland] (1951; dt. Die Geschichte des deutschen Zionismus, 1954). 72 Gronemann, Zichronot schel Jekke [Erinnerungen eines Jecken] (1944); Rosenblüth, Go Forth and Serve (1961); Blumenfeld, Erlebte Judenfrage; Herlitz, Mein Weg nach Jerusalem (1964); Oppenheimer, Erlebtes, Erstrebtes, Erreichtes (1964); Auerbach, Pionier der Verwirklichung (1969); Lichtheim, Rückkehr; Blumenfeld, Im Kampf um den Zionismus; Weltsch, Die deutsche Judenfrage (1981); Bodenheimer (Hg.), So wurde Israel (1958); Ruppin, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen.
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für einzelne Zionisten und Organisationen73 sowie gegenseitige Würdigungen der Akteure selbst.74 Mit dem zunehmenden Interesse der Zionismusforschung an den verschiedenen nationalen Ausprägungen setzte ab den 1970er Jahren allmählich auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Bewegung ein.75 Frühe Arbeiten widmeten sich zunächst den Zionistinnen und Zionisten als Teilgruppe innerhalb der deutschen Judenheiten und untersuchten dabei insbesondere den Konflikt zwischen Zionisten und den Anhängern des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs und der Weimarer Republik.76 Mit der Monografie des amerikanischen Historikers Stephen M. Poppel aus dem Jahr 1977, die sich eingehend mit dem Selbstverständnis deutscher Zionisten beschäftigte, rückte die deutsche Bewegung erstmals ins Zentrum einer wissenschaftlichen Untersuchung.77 Seither sind zahlreiche weitere Arbeiten erschienen. Der Frühgeschichte bis 1914 hat sich insbesondere Yehuda Eloni gewidmet.78 Eine organisationsgeschichtliche Gesamtdarstellung, die bis heute als Standardwerk gelten kann, legte 1996 Hagit Lavsky vor.79 Dank Carsten Teichert und Francis R. Nicosia existieren zwei umfangreiche Studien zur Geschichte des Zionismus in Deutschland nach 1933 und der Auseinandersetzung der Zionisten mit dem Nationalsozialismus.80 Auch der Einfluss der deutschen 73 Tramer (Hg.), Robert Weltsch zum 70. Geburtstag von seinen Freunden (1961); ders. (Hg.), In zwei Welten (1962); Rothschild (Hg.), Meilensteine (1971). 74 Kreutzberger, Georg Landauer (1957); Weltsch (Hg.), Deutsches Judentum (1963); ders., Siegfried Moses (1974); Ginat, Kurt Blumenfeld und der deutsche Zionismus (1976); Simon, Robert Weltsch als Politiker, Historiker und Erzieher im Vergleich mit Buber und Scholem (1983); Schlomo Krolik, Einführung. Arthur Ruppin – Deutscher Jude und humanistischer Zionist, in: Ruppin, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, 9–25; Strauss, Robert Weltsch und die Jüdische Rundschau (1991). 75 Bis dahin waren v. a. Überblicksdarstellungen der Gesamtbewegung erschienen. Zu den Fragen der frühen Forschung vgl. Friesel, Criteria and Conception in the Historiography of German and American Zionism (1980). 76 Schorsch, Jewish Reactions to German Anti-Semitism, 1870–1914 (1972); Reinharz, Fa therland or Promised Land (1975); Niewyk, The Jews in Weimar Germany (1980); Reinharz, The Zionist Response to Antisemitism in Germany (1985). 77 Poppel, Zionism in Germany 1897–1933 (1977). 78 Eloni, Zionismus in Deutschland (1987). Zur Frühzeit der Bewegung vgl. auch Eliav, Zur Vorgeschichte der jüdischen Nationalbewegung in Deutschland (1969); Petry, Ländliche Kolonisation in Palästina (2014). 79 Lavsky, Before Catastrophe (1998). Vgl. auch Reinharz, Three Generations of German Zionism (1978); ders., Ideology and Structure in German Zionism, 1882–1933 (1980). 80 Teichert, Chasak! (2000); Nicosia, Zionism and Anti-Semitism in Nazi Germany (2008; dt. Zionismus und Antisemitismus im Dritten Reich, 2012). Vgl. auch Fraenkel, Die Reaktion des deutschen Zionismus auf die nationalsozialistische Verfolgungspolitik (2006); Barkai, Zionist and Non-Zionist Reactions to the Rise of the Nazi Party in Germany’s September 1930 Election (2009).
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Einwanderinnen und Einwanderer in Palästina in den Jahren vor und nach der Staatsgründung Israels wurde bereits aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.81 Zudem sind zahlreiche weitere Arbeiten erschienen, die sich mit verschiedenen Aspekten des deutschen Zionismus, etwa seiner kulturzionistischen Prägung,82 der zionistischen Studentenbewegung,83 Aktivistinnen,84 der Auseinandersetzung des deutschsprachigen Zionismus mit der sogenannten arabischen Frage,85 sowie der Verflechtung von zionistischen und deutschen nationalistischen Diskursen86 befassen. Des Weiteren hat die Forschung zwei Dokumentensammlungen zum Thema hervorgebracht.87 Dagegen bilden biografische Studien innerhalb der deutschsprachigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem deutschen Zionismus bisher eher die Ausnahme. Ein Grund hierfür mag in der innerhalb der Historiografie lange Zeit vorherrschenden Skepsis gegenüber dem Genre liegen. So existieren für die meisten der führenden deutschen Zionisten wie Arthur Hantke (1874–1955), Alfred Klee (1875–1943), Georg Landauer (1895–1954), Kurt Blumenfeld, Siegfried Moses oder Robert Weltsch bisher keine wissenschaftlichen Biografien. Für einige von ihnen liegen immerhin eine Reihe wissenschaftlicher Aufsätze vor.88 Einzig Felix Rosenblüth89 und Arthur
81 Gelber, Deutsche Juden im politischen Leben des jüdischen Palästina 1933–1948 (1987); Zimmermann / Hotam (Hgg.), Zweimal Heimat (2005). 82 Berkowitz, Palästina-Bilder (2006); Lavsky, Realpolitik und gemäßigter Zionismus (2006). 83 Schindler, Studentischer Antisemitismus und jüdische Studentenverbindungen 1880–1933 (1988); Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias; Schäfer, Berliner Zionistenkreise (2003); Rürup, Ehrensache (2008). 84 Prestel, Frauen und Zionistische Bewegung (1897–1933) (1994); Or, Vorkämpferinnen und Mütter des Zionismus (2009). 85 Klein, Der deutsche Zionismus und die Araber Palästinas (1982); Walter, Kein Sonderweg des deutschen Zionismus (2019). Grundlegend zur frühen Auseinandersetzung der Zionisten mit der in Palästina ansässigen arabischen Bevölkerung ist Gorny, Zionism and the Arabs, 1882–1948 (1987). 86 Mosse, The Influence of the Volkish Idea on German Jewry (1971); Vogt, Subalterne Positionierungen (2016); ders., Zionismus und Weltpolitik (2012); Schütz, Die Konstruktion einer hybriden »jüdischen Nation« (2019). Speziell zur Verschränkung des zionistischen Diskurses mit dem Rassediskurs vgl. Doron, Rassenbewusstsein und naturwissenschaftliches Denken im deutschen Zionismus während der Wilhelminischen Ära (1980). 87 Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1882–1933 (1981); Nicosia (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1933–1941 (2018). 88 Für Siegfried Moses: Heuberger, Siegfried Moses (2005). Für Robert Weltsch: Wiese, »Doppelgesichtigkeit des Nationalismus« (2006); ders., Das »dämonische Antlitz des Nationalismus« (2012); Paucker, Robert Weltsch, the Enigmatic Zionist (2009). 89 Für Felix Rosenblüth liegt eine hebräischsprachige Biografie vor: Bondy, Felix (hebr., 1990). Ein deutschsprachiger Ausschnitt ist abgedruckt in: dies., Der Dornenweg deutscher Zionisten in die Politik (1998).
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Ruppin90 haben breitere Aufmerksamkeit erfahren – allerdings innerhalb der Geschichtswissenschaft Israels. In Deutschland hat die Beschäftigung mit den Biografien einzelner Zionisten erst kürzlich eingesetzt. Dabei zeigt sich ein neuer Trend in der wissenschaftlichen Biografieforschung, nicht in erster Linie ein kohärentes Gesamtbild der porträtierten Person zu liefern, sondern vielmehr die individuelle Lebensgeschichte als methodische Sonde zu nutzen, um komplexeren Fragestellungen nachzugehen.91 Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich der biografische Ansatz innerhalb der angloamerikanischen Geschichtswissenschaft im Allgemeinen und in den Jewish Studies im Speziellen größerer Beliebtheit erfreut als hierzulande.92 In den letzten Jahren sind dort zahlreiche biografische Studien führender Zionisten erschienen.93 So ist es wenig verwunderlich, dass bisher kein Versuch einer Zusammenschau von Lichtheims Wirken unternommen wurde. In den meisten Gesamtdarstellungen wird zwar auf die Bedeutung Lichtheims hingewiesen, größere Aufmerksamkeit wird ihm indes nicht geschenkt. Er wird meist als einer der talentiertesten Redner und Propagandisten in der Frühphase der deutschen zionistischen Bewegung und als deren Historiker gewürdigt oder als Beispiel für einen klassischen »post-assimilatorischen« Zionisten herangezogen.94 Seine Rolle als Wortführer der Opposition wird zwar meist erwähnt, nähere Betrachtung erfuhr sie bisher indes nicht. Einen ersten Gesamtüberblick über die Stationen in Lichtheims Karriere lieferte sein Weggefährte Ludwig Pinner95 (1890–1983). Mit den Aufsätzen des amerikanischen Historikers Francis R. Nicosia, der Lichtheim und den deutschen Landesverband der Zionisten-Revisionisten in den Blick nahm,96 sowie der israelischen Historikerin Raya Cohen, die sich mit Lichtheims Tätigkeit als Emissär in Genf auseinandergesetzt hat,97 widmeten sich bis 90 Bein, Arthur Ruppin (1972); Bertisch, A Study of the Political Economic Philosophy of Arthur Ruppin and His Role in the Economic Development of the Zionist Settlement in Palestine from 1907–1943 (Diss., 1980); Friedlander, Arthur Ruppin and the Zionist Policy of Building the National Home in the Years 1919–1926 (hebr., 1989); Goren, Arthur Ruppin (hebr., 2005); Bloom, The »Administrative Knight« (2007); ders., Arthur Ruppin and the Production of Pre-Israeli Culture (2011). 91 Schlöffel, Heinrich Loewe (2018); Suffrin, Pflanzen für Palästina (2019); Spranger, Theodor Zlocisti (2020); Gebhard, Davis Trietsch – Der vergessene Visionär (2022). Im Entstehen befinden sich u. a. Studien zu Robert Weltsch (Christian Wiese, Frankfurt a. M.) und Georg Landauer (Nancy Walter, Berlin). 92 Vgl. z. B. die bei der Yale University Press erscheinende Reihe Jewish Lives. 93 So z. B. Halkin, Jabotinsky (2014); Shapira, Ben-Gurion (2014); Rosen, Louis D. Brandeis (2016); Hayton, Conservative Revolutionary (2019); Penslar, Theodor Herzl (2020). 94 Poppel, Zionism in Germany 1897–1933; Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias; Eloni, Zionismus in Deutschland. 95 Pinner, Richard Lichtheim (Nachruf) (1972). 96 Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I) (1986). 97 Raya Cohen, Confronting the Reality of the Holocaust (1993).
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dato lediglich zwei wissenschaftliche Aufsätze explizit Teilaspekten der Biografie Lichtheims. Dabei ist die ungewöhnliche Genese seines zionistischen Denkens und Handelns eng verzahnt mit den politischen Erfahrungen, die er in Konstantinopel und Genf machte. Für den Zeitraum des Ersten Weltkriegs dominieren diplomatiegeschichtliche Darstellungen, die sich mit der Person Chaim Weizmanns und der Entstehung der Balfour-Deklaration von 1917 beschäftigen.98 Lichtheims Rolle als treibende Kraft im jahrelangen Werben um die Gunst der deutschen Regierung für die zionistische Sache wurde indes in Arbeiten zu den deutschtürkisch-zionistischen Dreiecksbeziehungen während des Ersten Weltkriegs berührt, allen voran bei Egmont Zechlin und Isaiah Friedman.99 Die Frage nach den Auswirkungen dieser konkreten Erfahrung der Bedrohung auf Lichtheims Deutung des Zionismus blieb bisher jedoch unbeantwortet. Ebenso unterbelichtet blieb bislang auch die Rolle Lichtheims innerhalb des mehr als zwei Jahrzehnte später in Genf agierenden Netzwerks jüdischer wie nichtjüdischer Hilfsorganisationen und Einzelpersonen. Lediglich die bereits erwähnte Raya Cohen widmete sich im Rahmen ihrer Forschung zur Arbeit der jüdischen Körperschaften während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz auch explizit Lichtheim als jüdischem Emissär in Genf, allerdings betrachtete sie allein die Jahre 1939 bis 1942.100 Ferner geben eine Reihe anderer Publikationen, die der Frage nachgehen, wann und wie die Alliierten vom systematischen Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden erfuhren, punktuell Auskunft über Lichtheims Funktion als Repräsentant der Jewish Agency während des Zweiten Weltkriegs.101 Zuletzt wurde den Aktivitäten Lichtheims in diesem Kontext mit der von Jürgen Matthäus zusammengestellten und mit einem Vorwort versehenen Dokumentensammlung Predicting the Holocaust breitere Aufmerksamkeit geschenkt.102 Deutlich prominentere Beachtung fanden dagegen bisher die Hintergründe um die Entstehung des Riegner-Telegramms, das heute als eine der ersten Nachrichten über einen auf höchster Ebene gefassten 98 Leonard Stein, The Balfour-Declaration (1961); Friedman, The Question of Palestine (1973); Schneer, The Balfour-Declaration (2010). 99 Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg; Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918; ders. (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918. 100 Raya Cohen, Between »Here« and »There« (hebr., 1999); dies., A Test of Jewish Solidarity (Diss.; hebr., 1991). 101 Bauer, »When did They Know?« (1968); Gilbert, Auschwitz and the Allies (1991); Pelt, The Case for Auschwitz (2002); Laqueur, The First News of the Holocaust (1979); ders., The Terrible Secret (1980); Wyman, The Abandonment of the Jews (1998). 102 Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust (2019). Einige der Briefe Lichtheims finden sich auch in der älteren, von Francis R. Nicosia herausgegebenen Dokumentensammlung Archives of the Holocaust (AotH), Bd. 4: Central Zionist Archives, Jerusalem. 1939–1945 (1990).
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Plan zur systematischen Vernichtung der europäischen Judenheiten gilt.103 Dasselbe ist für die Arbeiten zu jüdischen Reaktionen auf den Holocaust zu konstatieren.104 Lichtheims diplomatische und humanitäre Aktivitäten nach 1942 blieben bisher gänzlich unerwähnt. Ebenso unzureichend aufgearbeitet ist bisher der deutsche zionistische Revisionismus. Überhaupt beschäftigen sich nur wenige Arbeiten eingehend mit den verschiedenen Fraktionen abseits der linksliberalen Mehrheitsposition der ZVfD.105 Anders als der bereits erwähnte Artikel von Nicosia konzentrieren sich die meisten Forschungsarbeiten auf den kontroversen deutschen Revisionisten Georg Kareski (1878–1947) und die Entwicklungen innerhalb des deutschen Revisionismus unter der Herrschaft der Nationalsozialisten in den 1930er Jahren.106 Die Mehrzahl der Beiträge, die sich der Gesamtheit des deutschen Zionismus widmen, unterlassen mit dem Hinweis auf die Marginalität der Gruppe eine nähere Beschäftigung mit der revisionistischen Fraktion.107 Selbst Lichtheim deutete sie in seiner Darstellung zur Geschichte des deutschen Zionismus lediglich an.108 Innerhalb der israelischen und angloamerikanischen Historiografie hat das Interesse an Vladimir Jabotinsky und der stark von ihm geprägten revisionistischen Bewegung in den letzten drei Jahrzehnten deutlich zugenommen.109 Den deutschen Landesverband klammern allerdings sämtliche jüngst erschienenen Arbeiten aus. Auch zu der 1933 von Meir Grossmann etablierten Judenstaatspartei gibt es bis dato praktisch keine Forschung. Die in Palästina agierende Alija Chadascha, die ebenso wie der 1925 in Jerusalem gegründete und auf eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas zielende Intellektuellenzirkel Brit Schalom als ein Phänomen des deutschsprachigen Zionismus verstanden
103 Penkower, The Jews Were Expendable (1983); Laqueur / Breitman, Breaking the Silence (1986); Breitman, Official Secrets (1998). 104 Bauer, Jewish Reactions to the Holocaust (1989); Porat, The Blue and the Yellow Stars of David (1990); Gelber, Zionist Policy and the Fate of European Jewry, 1939–1942 (1979); ders., Zionist Policy and the Fate of European Jewry, 1943–1944 (1983); Nicosia, The »Yishuv« and the Holocaust (1992); Ofer, Israel (1996). 105 Für einen Überblick über die Vielfalt des deutschen Zionismus vgl. Kaufmann, Kultur und »Selbstverwirklichung« (2006). 106 Levine, A Jewish Collaborator in Nazi Germany (1975); Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (II) (1987); Cochavi, Georg Kareski’s Nomination as Head of the Kulturbund (1989). 107 So z. B. Vogt, Subalterne Positionierungen, 24; Lavsky, Before Catastrophe, 171 f. und 261. 108 Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, 241. 109 Vgl. z. B. Shavit, Jabotinsky and the Revisionist Movement, 1925–1948 (1988); Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle (2001); Shimoni, The Zionist Ideology (1995); Kaplan, The Jewish Radical Right (2005); Shindler, The Triumph of Military Zionism (2010); Halkin, Jabotinsky (2014); Shindler, The Rise of the Israeli Right (2015); Daniel Kupfert Heller, Jabotinsky’s Children (2017); Bergamin, The Making of the Israeli Far-Right (2019).
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werden kann, erfuhr hingegen einige Beachtung innerhalb der Geschichtswissenschaft Israels.110 So ist Lichtheims politisches Engagement erst durch die Autorin umfassend erforscht worden; das Ergebnis sind neben zwei Artikeln auch eine 2022 erschienene Edition ausgewählter Quellen zu seinem Wirken111 sowie die vorliegende biografische Studie, die die bisherigen Forschungsperspektiven der Ideen-, Diplomatie- und Mentalitätsgeschichte des Zionismus zu erweitern und zu einer facettenreicheren Darstellung des jüdischen Nationalismus beizutragen sucht.
110 Getter, Hit’argenut ha-politit ha-nifredet schel ole Germanja [Die eigenständige politische Organisation der deutschen Einwanderer] (1981); Lavsky, From the »Aliya Chadasha« Party to the Progressive Party (hebr., 2014). Vgl. auch Schlör, Alija Chadascha und öffentliche Meinung (1997). Wertvolle Hinweise finden sich ebenfalls in der Reportagensammlung Fremde im neuen Land von Hillenbrand (2015), bes. 64–70. 111 Kirchner, Ein vergessenes Kapitel jüdischer Diplomatie (2015); dies., Wie Noah auf dem Berg Ararat (2017); dies. (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf (2022).
1. Lichtheims Weg zum Zionismus
1885 als Sohn einer assimilierten, bildungsbürgerlich-liberalen, der jüdischen Religion stark entfremdeten Berliner Familie geboren, gehörte Lichtheim zu jener wohlhabenden und urban geprägten Gruppe innerhalb des deutschen Judentums, die einen Prozess intensiver Assimilation durchlaufen hatte und einen integralen Bestandteil des deutschen liberalen Bürgertums ausmachte.1 Die aus Ostpreußen stammende Familie des Vaters Georg (1849–1908) hatte wie die Mehrheit der deutschen Jüdinnen und Juden die durch Emanzipation und Säkularisierung ausgelöste Entfremdung von jüdischer Religion und Tradition und die damit verbundenen Identitätskrisen und Unsicherheiten durch die Eingliederung in die christlich geprägte Umgebungsgesellschaft aufzufangen versucht. Das Streben nach vollständiger Assimilation war hier »seit den Tagen Johann Jacobys«2 – des 1805 geborenen Urgroßonkels von Richard Lichtheim, der in Preußen für die staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Juden gekämpft hatte – »beinahe als eine sittliche Forderung angesehen worden«.3 Die Familie der mit nur 39 Jahren verstorbenen Mutter Clara (1857–1896, geb. Pollack) war zwar ebenso assimiliert und weit entfernt von jüdischer Tradition und Religion, allerdings war man hier überzeugt, »das 1 Der Begriff der Assimilation bezeichnete um die Wende zum 20. Jahrhundert die verschiedenen Dimensionen eines Prozesses der kulturellen und gesellschaftlichen Angleichung der jüdischen Minderheit an die christliche Mehrheitsgesellschaft. In der Auseinandersetzung zwischen Zionisten und liberalen Juden wurde der Begriff zunehmend negativ gebraucht und mit Werturteilen beladen. Aus zionistischer Sicht beschrieb der Begriff einen Prozess, dessen Ziel die Aufgabe ethnischer und religiöser Partikularität und ein spurloses Aufgehen in der Umgebungsgesellschaft sei. Shulamit Volkov folgend wird Assimilation hier nicht als ein lineares, einseitiges Angleichen verstanden, sondern als eine Entwicklung, bei der die Mehrheit der deutschen Juden zwar die alten Merkmale einer traditionellen jüdischen Lebensart aufgab und eine andere, moderne soziokulturelle Existenz entwickelte, die aber dennoch eine spezifisch jüdische war. Vgl. dies., Jüdische Assimilation und jüdische Eigenart im Deutschen Kaiserreich. 2 Johann Jacoby (1805–1877) war ein aus Königsberg stammender Arzt, Politiker, Publizist und Radikaldemokrat. Als Vertreter des preußischen Liberalismus setzte er sich ab 1830 für die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden in Preußen ein und trat als Organisator der preußischen demokratischen Bewegung hervor. Lichtheims Großvater Heinrich Lichtheim (1819–1902) wuchs im Haushalt seines Onkels Johann Jacoby auf, nachdem sein Vater Simon Lichtheim (1790–?), Ehemann von Jacobys Schwester Sara (1793–1860), 1830 nach Amerika ausgereist war, wo sich seine Spur verlor. Lichtheim, Rückkehr, 19. Zu Jacoby vgl. Silberner, Johann Jacoby. 3 Lichtheim, Rückkehr, 36.
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volle Recht zu haben, das zu sein, was man nun eben war: Jude und Deutscher zugleich«.4 Der Übertritt zum Christentum wurde entschieden abgelehnt und stattdessen ein bewusstes, säkular gehaltenes jüdisches Selbstverständnis kultiviert. In seinen Memoiren fasste Lichtheim die unterschiedlichen Auffassungen seines Elternhauses wie folgt zusammen: »Die Haltung meiner Mutter und ihrer Familie war urwüchsiger, aber auch naiver als die Haltung meiner väterlichen Familie. Rationalismus, aufklärerische Gesinnung und Abkehr von der Religion waren beiden Familien gemeinsam. Auf mütterlicher Seite war der größere Reichtum und ein robusteres Selbstgefühl, auf väterlicher Seite die ältere und festere Verknüpfung mit dem geistigen und politischen Leben Deutschlands und daher die Überzeugung, daß der Assimilationsprozeß, nachdem er einmal begonnen und man sich für ihn entschieden hatte, konsequent und in würdiger Haltung zu Ende geführt werden müsse.«5
So erhielten Richard Lichtheim und seine zwei Jahre ältere Schwester Eva6 (1883–?) in ihrer Kindheit und Jugend keinerlei jüdische Erziehung (Abb. 2). Vielmehr wurde Lichtheim auf dem Bismarck-Gymnasium in Berlin-Wilmersdorf vom klassischen deutschen Bildungskanon geprägt. Zeit seines Lebens bezog er sich auf Goethe als den Dichter des deutschen Denkens. In die Synagoge ging die Familie, wenn überhaupt, nur an den hohen Feiertagen. Stattdessen begingen sie das christliche Weihnachtsfest, bei dem auch ein Baum nicht fehlte. Dennoch spielte sich das gesellschaftliche Leben der Lichtheims fast ausschließlich in dem sehr kleinen assimilierten jüdischen Milieu Berlins ab.7 In seinen Memoiren evozierte er rückblickend das Bild einer »unsichtbaren Glaswand«, die die jüdische von der christlichen Sphäre trennte. Durch sie konnte man zwar in das politische und gesellschaftliche Leben der christlichen Mehrheitsgesellschaft hineinblicken, sie verwehrte der jüdischen Bevölkerung jedoch die vollständige Partizipation.8 Fernab jeglicher Verbindung zu jüdischer Religion und Tradition bestand für Lichtheim wie für viele andere seiner Generation das eigene Jüdischsein vorrangig in der sozialen Stigmatisierung, die damit einherging. Die Ausgrenzung aus gewissen gesellschaftlichen Bereichen oder Diskriminierungsformen wie der sogenannte Bäder-Antisemitismus gehörten für sie zu den 4 Ebd. 5 Ebd., 37. 6 Über das Schicksal Eva Lichtheims ist wenig bekannt. Sie heiratete den 1880 in Antwerpen geborenen Arzt Georges Joseph Emile Wiener und lebte später mit ihm und den gemeinsamen Kindern in Brüssel, wo die Familie den Holocaust überlebte. 7 Der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Berlins betrug zu Beginn des 20. Jahrhunderts rund 4,5 Prozent. Volkov, Waren die deutschen Juden ein Musterbeispiel der Assimilation?, 27. 8 Lichtheim, Rückkehr, 51.
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Abb. 2: Lichtheim als Jugendlicher, undatiert. © Central Zionist Archives.
kränkenden Sozialisationserfahrungen.9 Dass ihm aufgrund seiner Herkunft ein Aufstieg in Beamtentum oder Militär verwehrt geblieben wäre, empfand er geradezu als »peinigend«, obgleich er keine solche Karriere anstrebte.10 Insbesondere die Lektüre antisemitischer Schriften, wie Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher oder Houston Stewart Chamberlains Grundlagen des 19. Jahrhunderts, verstärkten in ihm bereits während seiner Schulzeit den Eindruck, »daß der Antisemitismus eine sehr viel stärkere und dauerhaftere Macht war, als die Generation meiner Großeltern vermutet hätte«.11 Der 9 In seinen Memoiren schreibt Lichtheim vom »Gefühl der Kränkung, niemals ganz und gar als Gleicher unter Gleichen leben zu können.« Ebd., 62. 10 Ebd., 61. 11 Ebd., 38–50, Zitat: 38.
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Unwille des elterlichen Milieus, den antiliberalen Trend der Zeit als solchen zu begreifen, und die erfahrene gesellschaftliche Trennung von Juden und Christen, die sich auch mit der errungenen rechtlichen Gleichstellung nur schwer aufbrechen ließ, führten dazu, dass sich Lichtheim bereits in seiner Jugend vom assimilatorischen Lebensstil seiner Familie abzukehren begann. Unter dem Eindruck der krisenhaften Entwicklungen des 19. Jahrhunderts und des zunehmenden Antisemitismus neu mit seiner jüdischen Herkunft konfrontiert, stellte sich ihm die Frage, wo Jüdinnen und Juden wie er, für die es weder die Möglichkeit zur vollständigen Integration in die nichtjüdische Mehrheitsgesellschaft noch einen Weg zurück zur jüdischen Religion gab, ihren Platz finden sollten.12 Ohne feste jüdische Lebensform und dennoch nicht bereit, seine jüdische Herkunft preiszugeben, lehnte er den Vorschlag des Vaters, sich taufen zu lassen, bereits mit 14 Jahren ab.13 Die diffusen Gefühle jüdischer Zugehörigkeit, die er laut seinen Memoiren vor allem in der Begegnung mit jüdischer Kultur und Geschichte empfand,14 fanden während seiner Studienjahre schließlich im jüdischen Nationalismus konkreten Ausdruck.15 Im Herbst 1904, während des ersten Semesters seines Medizinstudiums in Berlin, lernte er im Seziersaal der Alten Anatomie seinen Kommilitonen Felix A. Theilhaber kennen, der ihm zum ersten Mal von der zionistischen Idee berichtete und ihn mit den Schriften des erst kurz zuvor verstorbenen Theodor Herzl sowie Leon Pinskers16 (1821–1891), Zvi Hirsch Kalischers17 (1795–1874) und anderer vertraut machte.18 Auf der Suche nach einer neuen Form jüdischer Zu- und Zusammengehörigkeit erlebte er in der Auseinandersetzung mit diesen Schriften eine regelrechte Konversion zum Zionismus, der ihm die Möglichkeit bot, das eigene Jüdischsein auf einer nationalen Grund12 Vgl. ebd., 51. 13 Ebd., 27. 14 Ebd., 62. 15 Nach dem Abitur 1903 entschied sich Lichtheim, der als Primaner eine starke Leidenschaft für Philosophie und Geschichte entwickelt hatte, auf väterlichen Rat hin gegen ein Studium der Geisteswissenschaften und stattdessen für das Studium der Medizin, dem er zwei Jahre lang (1904–1906) mit wenig Interesse nachging. Auch ein nachfolgendes Studium der Nationalökonomie (1906–1909) blieb nach fünf Semestern letztlich unabgeschlossen. Eine als Dissertation geplante Schrift wurde zwar angefertigt, aber nicht eingereicht. In vielen der späteren Korrespondenzen wurde Lichtheim dennoch ganz selbstverständlich als Doktor adressiert. Universitätsarchiv der Humboldt Universität Berlin, Abgangszeugnis 10. März 1908 (RS.01, AZ, Nr. 1653); Universitätsarchiv der Universität Freiburg, Studien- und Sittenzeugnisse vom 17. August 1905 (B 44/88/213) und vom 5. Februar 1909 (B 44/40/364). Lichtheims auf den 5. Februar 1909 datierte Abschlussarbeit mit dem Titel Psychologie und Werttheorie findet sich hier: CZA, A56/10. 16 Pinsker, Auto-Emancipation. 17 Kalischer, Drischath Zion, oder Zions Herstellung. 18 Lichtheim, Rückkehr, 65 f.
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lage neu und vor allem positiv zu definieren. Größten Eindruck machte Herzls Schrift Der Judenstaat, die ihn endgültig zu der Überzeugung brachte, dass allein nationale Selbstbestimmung die wirtschaftliche und soziale Situation der jüdischen Bevölkerung verbessern und Antisemitismus und gesellschaftliche Diskriminierung beseitigen würde. Lichtheim war fortan überzeugt, nicht Taufe und Assimilation, sondern allein die durch ein eigenes Gemeinwesen garantierte Souveränität biete Jüdinnen und Juden adäquaten Schutz.19 Nur wenige Wochen nach der Begegnung mit Theilhaber schloss sich Lichtheim der zionistischen Studentenverbindung Hasmonäa an, wenig später auch dem Bund Jüdischer Corporationen (BJC).20 In den zionistischen Kreisen Berlins, das sich nach 1904 allmählich zur »Hauptstadt des Zionismus«21 entwickelte, sollte unter dem maßgeblichen Einfluss erfahrener Zionisten wie Arthur Hantke und Alfred Klee schließlich sein zionistisches Denken geformt werden.22 Dabei ging es der jungen Bewegung zunächst weniger um die Vorbereitung der tatsächlichen Auswanderung nach Palästina, sondern vielmehr um die Belebung eines sich nicht religiös, sondern kulturell und politisch verstehenden Judentums. Wie bereits Hackeschmidt feststellte, bildeten kulturzionistische Ideen, wie sie in den Publikationen des 1902 von Martin Buber (1878–1965) und Berthold Feiwel (1875–1937) gegründeten Jüdischen Verlags oder in der 1900 gegründeten Kulturzeitschrift Ost und West vertreten wurden, zumindest die intellektuelle Folie für das Selbstverständnis der explizit politisch denkenden jungen Elite, die sich ab 1904 in den zionistischen Studentenverbindungen formierte.23 19 Ebd., 67 f. 20 Der BJC wurde 1901 gegründet und verfolgte als zentrale Programmatik jüdische Erziehung und Selbstbehauptung. Die Verbindung Hasmonäa wurde ein Jahr später von dem aus Wien stammenden Egon Rosenberg ins Leben gerufen, der 1901 für die Fortsetzung seines Chemiestudiums nach Berlin kam. Sie war nach dem Vorbild deutscher Korporationen organisiert und verfolgte ein dezidiert zionistisch ausgerichtetes Programm. Der Name der Verbindung leitet sich von der jüdischen Priester- und Herrscherdynastie der Hasmonäer ab. Vgl. dazu Schäfer, Berliner Zionistenkreise, 32–36. 21 Schlöffel, Heinrich Loewe, 219. 22 Lichtheim, Rückkehr, 85. Auf die Bedeutung der zionistischen und nationaljüdischen Studentenverbindungen für die Entwicklung des deutschen Zionismus hat bereits Eloni hingewiesen: Sie »lag nicht nur darin, daß die führenden Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung in Deutschland ihren Reihen entsprangen, sondern daß sie ›der eigentlich bewegte Teil‹ der Bewegung waren. Durch die Intensität des studentischen Lebens, durch die menschlichen Bindungen, die sich zu ›Bundesbrüderschaft‹ entwickelten, die jahrzehntelang alle Krisen überlebte, fand in den Studentenverbindungen was ›deutsch‹ am deutschen Zionismus war, seinen kristallisiertesten Ausdruck: der Bewußtseinswandel des postassimilierten Juden.« Ders., Die umkämpfte nationaljüdische Idee, 684. 23 Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias, 26. Vgl. auch Reinharz, Martin Buber’s Impact on German Zionism before World War I. Ausführlich zum deutschsprachigen Kulturzionismus Vogt, Subalterne Positionierungen, 41–112.
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Zu diesen jungen Zionisten gehörten auch Kurt Blumenfeld und Felix Rosenblüth, mit denen sich Lichtheim während des Sommersemesters 1905, das die drei gemeinsam an der Freiburger Universität verbrachten, eng anfreundete. Diese Freundschaft brachte ihm nicht nur den Spitznamen »Lux« ein, mit dem ihn fortan seine Verbindungsbrüder ansprachen, sondern auch seine erste Begegnung mit jüdischer Religiosität. Bei einem Besuch in Messing werk, dem Wohnort der streng orthodoxen Eltern Rosenblüths, wohnte er in der Haussynagoge der Familie erstmals einem jüdischen Gottesdienst bei.24 Im selben Sommer fuhren die drei Freunde gemeinsam nach Basel zum siebten Zionistenkongress, dem ersten nach Herzls Tod. Hier halfen sie als Ordner und hörten die Reden der führenden Persönlichkeiten der Gesamtbewegung wie Max Nordau (1849–1923), Menachem Ussishkin (1863–1941), Chaim Weizmann und Vladimir Jabotinsky. Der Kongress stand ganz im Zeichen der Auseinandersetzung zwischen den sogenannten Territorialisten, die im Gefolge des britischen Uganda-Plans territoriale Lösungen außerhalb Palästinas diskutierten, und ihren von Menachem Ussishkin angeführten Gegnern, die ein solches Vorhaben strikt ablehnten.25 Gleichzeitig rangen die »politischen« und die »praktischen« Zionisten um Deutungshoheit über die Ausrichtung der Bewegung:26 Die Fraktion der politischen Zionisten, auf dem Kongress führend vertreten durch Max Nordau, hing dem herzlschen Grundprinzip an, der Zionismus solle zunächst die Zustimmung der Mächte erhalten, bevor die systematische Kleinkolonisation in Palästina beginnen könne. Die praktischen Zionisten vertraten hingegen den Standpunkt, dass parallel zur politisch-diplomatischen Tätigkeit die bereits begonnene Kolonisationsarbeit vorangetrieben werden müsse. Die auf dem Kongress vorgetragenen Argumente und Gegenargumente imponierten dem jungen Lichtheim nachhaltig, ohne dass er damals bereits 24 Lichtheim, Rückkehr, 144–146. Zur Freundschaft Blumenfelds zu Rosenblüth vgl. Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, 39. 25 1903 wurde Theodor Herzl vom britischen Kolonialsekretär Joseph Chamberlain ( 1836–1914) das Angebot unterbreitet, in einem Teil Britisch-Ostafrikas einen Zufluchtsort für verfolgte Juden zu etablieren. Das Angebot löste innerhalb der zionistischen Bewegung heftige Diskussionen aus. Eine Minderheit befürwortete die Idee, zum Schutz der osteuropäischen Juden vorübergehend auch Territorien außerhalb Palästinas für die Ansiedlung in Betracht zu ziehen. Die Mehrheit fürchtete, damit den Aufbau einer jüdischen Heimstätte in Palästina zu erschweren, wenn nicht gar zu vereiteln. Der siebte Zionistenkongress lehnte das Angebot schließlich ab. 26 Yvonne Meybohm hat in ihrer biografischen Studie zu David Wolffsohn bereits darauf hingewiesen, dass sich die Positionen der »politischen« und »praktischen« Zionisten oft nicht eindeutig abgrenzen lassen und diese Bezeichnungen daher als historische Analysekategorien wenig nützlich sind. Sie sind vielmehr als gegenseitige Zuschreibungen in einem Autoritätskonflikt um die Deutungshoheit über den Zionismus zu verstehen. Dies., David Wolffsohn, 25.
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für eine der jeweiligen Richtungen Partei ergriff. Erst in den darauffolgenden Jahren und maßgeblich beeinflusst von führenden Zionisten wie Otto Warburg (1883–1970), Arthur Ruppin und Chaim Weizmann entwickelten sich Lichtheim wie auch Blumenfeld und Rosenblüth zu Vertretern des synthetischen Zionismus, der die politische und praktische Arbeit zu vereinen suchte.27 Dieser aufstrebende Kreis junger Zionisten drängte allmählich in die Führungsebene der ZVfD und mit ihm sollten die praktisch-zionistischen und kulturnationalistischen Tendenzen innerhalb der deutschen Bewegung wie auch der Gesamtbewegung schon bald kursbestimmend sein. Mit ihrer Orientierung auf Palästina brachte die junge Elite neue, radikale Impulse in die deutsche Bewegung. Während das Programm der ersten Generation deutscher Zionisten unter der Leitung Max Bodenheimers (1865–1940) und Adolf Friedemanns (1871–1932) noch stark philanthropischen Charakter gehabt und vor allem auf eine diplomatische Lösung für die Not leidenden jüdischen Massen Osteuropas abgezielt hatte, erklärte diese zweite Generation die Erneuerung der jüdischen Nation in einem eigenen Gemeinwesen in Palästina zum Ziel aller Juden. Die zionistisch eingeprägte Idee der »Verneinung der Diaspora« (shlilat ha’gola) legte sie in besonders rigoroser Weise aus.28 Sie betrachtete die Diasporaexistenz nur als Übergangsstadium auf dem Weg zu einem eigenen Gemeinwesen und forderte die Konzentration der zionistischen Arbeit auf die praktische Kolonisation in Palästina. Im Jahr 1912 setzte sich diese junge, radikale Gruppe mit der Resolution des 13. Delegiertentags29 der ZVfD in Posen, die die Aufnahme der Auswanderung nach Palästina ins Lebensprogramm eines jeden Zionisten forderte, erstmals programmatisch auf höchster Ebene durch.30 Gleichwohl realisierten vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr als 30 deutsche Zionistinnen und Zionisten 27 Lichtheim, Rückkehr, 106. 28 Barkai, Der Sonderweg des Zionismus in Deutschland, 66. 29 Auf den Delegiertentagen traten die Vertreter der verschiedenen Ortsgruppen zusammen, um Programm und Budget der Exekutive festzulegen und die Leitung der ZVfD zu wählen. 30 Vgl. Resolution des Posener Delegiertentages der ZVfD, Juni 1912, abgedruckt in: Jüdische Rundschau (JR), 14. Juni 1912. Jehuda Reinharz zufolge lassen sich im deutschen Zionismus drei Generationen unterscheiden: Eine erste Generation deutscher Zionisten, die in den 1860er und 1870er Jahren geboren wurde und überwiegend dem politischen Zionismus Herzls anhing; eine zweite von in den 1880er Jahren Geborenen, die stark von kulturzionistischen und praktisch-zionistischen Ideen geprägt war und die Bewegung spätestens ab dem Delegiertentag in Posen 1912 dominierte, sowie eine dritte Generation, die v. a. in den Jugendbewegungen der Weimarer Republik zionistisch sozialisiert wurde und sich auch praktisch auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitete. Vgl. dazu ders., Three Generations of German Zionism. Vogt bemerkte dazu, dass die Differenzen zwischen diesen Generationen für die internen Debatten um den Charakter des jüdischen Nationalismus oft entscheidender waren als die Kämpfe zwischen den verschiedenen Fraktionen. Ders., Subalterne Positionierungen, 24.
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dieses Vorhaben.31 Selbst Kurt Blumenfeld musste rückblickend eingestehen: »Es war auch für uns nicht einfach, uns selbst klarzumachen, daß Palästina der Ort der Verwirklichung sein müsse.«32 Einher ging dieser Generationenkonflikt mit scharfen Auseinandersetzungen um die Auffassung jüdischer Nationalität, wie sie sich vor allem im Zuge des 14. Delegiertentags im Sommer 1914 entfalteten. Während sich die ältere Generation, in der Debatte wortführend durch Franz Oppenheimer (1864–1943) und Adolf Friedemann vertreten, als der deutschen Nation zugehörig begriff und die Schaffung einer hebräischen Kultur erst in Palästina für notwendig erachtete,33 erstrebte die junge Gruppe um Blumenfeld und Lichtheim den Aufbau einer jüdischen Nation, der durch eine nationaljüdische Erziehung der Jugend und die Ablösung des deutschen Zionismus von der soziokulturellen Umwelt des Diasporajudentums bereits vor der Auswanderung nach Palästina beginnen sollte.34 Wie bereits die Historikerin Sabrina Schütz konstatierte, zielte die von ihnen erhobene Forderung kultureller Exklusivität allerdings »nicht auf die rechtsnationalistische Überhöhung der eigenen, so definierten jüdischen ›Volks- und Kulturnation‹ und auf eine eigene Überlegenheitsposition, sondern auf nationale Selbstbehauptung kraft der Begründung einer kulturellen Erneuerungsbewegung und der Betonung der Alleinstellungsmerkmale von Zionismus in seinem Bezug auf ›Zion‹ bzw. ›Palästina‹«.35 Für diese von der zweiten Generation vorgenommene Neubewertung der zionistischen Politik waren nicht nur die enttäuschten Erwartungen angesichts der geringen Erfolge des politischen Zionismus ausschlaggebend – weder hatten sich die Hoffnungen auf Erlangung eines Charters erfüllt noch war die Kolonisationsarbeit in Palästina wesentlich vorangeschritten. Auch die diskursive Auseinandersetzung mit dem sich gleichzeitig radikalisierenden deutschen Nationalismus beeinflusste in widersprüchlicher Weise die nationalen Selbstentwürfe des deutschen Zionismus. Schütz legt in ihrer Studie nahe, dass die Radikalisierung des deutschen Nationalismus auch bei den 31 Reinharz, Zur Einführung, in: ders. (Hg.), Dokumente zur Geschichte des Deutschen Zionismus, 1882–1933, XLI. 32 Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, 51. 33 Adolf Friedemann, Sachlicher Radikalismus oder endlich radikale Sachlichkeit, in: JR, 17. Juli 1914, 311 f.; Franz Oppenheimer, Radikalismus. Antwort auf den offenen Brief von Richard Lichtheim, in: JR, 24. Juli 1914, 323–325. 34 Kurt Blumenfeld, Rede auf dem 14. Delegiertentag in Leipzig, 14. Juni 1914 (Protokoll des 14. Delegiertentags in Leipzig am 14. und 15. Juni), in: JR, 19. Juni 1914, 268 f.; Lichtheim, Das Märchen vom Radikalismus. Offener Brief an Herrn Dr. Franz Oppenheimer, in: JR, 3. Juli 1914, 199 f.; ders., Die Verwirklichung des Zionismus. Zweiter offener Brief an Herrn Dr. Franz Oppenheimer, in: JR, 31. Juli 1914, 333–336. 35 Ausführlich zu dieser Debatte vgl. Schütz, Die Konstruktion einer hybriden »jüdischen Nation«, 425–439, hier 437 f.
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jungen deutschen Zionistinnen und Zionisten zu einer stärkeren Betonung eines auf Palästina bezogenen jüdischen Nationalismus führte. Gleichzeitig bemühten sie sich jedoch um Abgrenzung von den chauvinistischen Tendenzen des deutschen Nationalismus, indem sie ihre Nationalismuskonzeption auf ein ethisch-humanistisches und universalistisches Fundament zu stellen suchten.36 Lichtheim war sowohl Produkt als auch Träger dieser Entwicklung weg vom ausschließlich politischen hin zum synthetischen Zionismus, die sich innerhalb der deutschen Bewegung parallel zur Gesamtbewegung vollzog. In der Hasmonäa gehörte er schon bald dem führenden Zirkel an und verteidigte bei Diskussionsveranstaltungen in den Ortsgruppen der ZVfD und in ersten Artikeln in der Jüdischen Rundschau das Primat der Palästinaarbeit gegen den politischen Zionismus.37 Lichtheim trug maßgeblich dazu bei, dass sich die palästinazentrische Richtung innerhalb der deutschen Bewegung durchsetzte, und avancierte dank seines rhetorischen Geschicks und seiner agitatorischen Fähigkeiten bald zu einem der führenden Propagandisten der Bewegung. Ein erstes offizielles Amt übernahm er Ende 1907, 22-jährig und seit zwei Jahren Student der Nationalökonomie, mit seiner Wahl in das Präsidium des Kartells Zionistischer Verbindungen.38 Im Juni 1908 nahm er erstmals als gewählter Delegierter am Delegiertentag der ZVfD teil, 1909 am neunten Zionistenkongress in Hamburg. Nach dem Tod des Vaters, der es als Getreidemakler an der Berliner Börse zu einigem Wohlstand gebracht hatte, verhalf ihm ein beträchtliches Erbe zu finanzieller Unabhängigkeit, die es ihm erlaubte, sich ab 1909 gänzlich in den Dienst der zionistischen Bewegung zu stellen. Ab Ende Januar 1910 übernahm er ehrenamtlich den Vorsitz der Nationalfondskommission für Deutschland.39 Eine im Frühjahr desselben Jahrs unternommene Reise durch die seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Palästina bestehenden neuen jüdischen Ortschaften bestärkte laut seinem Reisegefährten Ludwig Pinner in Lichtheim den Wunsch, »unmittelbarer mitzuarbeiten an der Überwindung der Schwierigkeiten, die ihm vor Augen traten«,40 und nach Palästina über-
36 Ausführlich dazu vgl. ebd., 439–445. 37 Lichtheim, Das Problem der Gegenwartsarbeit, in: JR, 3. Mai 1907, 180–182; ders., Verein oder Bewegung, in: JR, 3. Juli 1908, 256 f.; ders., Die Forderung des Tages, in: JR, 19. Juni 1908, 234 f.; ders., Entwirrung I. Führerpflicht, in: JR, 5. Oktober 1909, 450; ders., Entwirrung II. Politischer Zionismus, in: JR, 15. Oktober 1909, 461. 38 Das Kartell Zionistischer Verbindungen ging 1906 aus der Hasmonäa hervor und fusionierte 1914 mit dem Bund Jüdischer Corporationen zum Kartell Jüdischer Verbindungen (KJV). Schäfer, Berliner Zionistenkreise, 35 f. 39 Lichtheim, Rückkehr, 122. 40 Pinner, Richard Lichtheim, 380.
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zusiedeln.41 Der Ankauf von Land scheint die Ernsthaftigkeit des Anliegens zu unterstreichen.42 Seine Wahl in das Zentralkomitee der ZVfD auf dem Delegiertentag in Frankfurt am Main im September 1910 brachte dieses Vorhaben jedoch vorerst zum Erliegen. Als jüngstes Mitglied arbeitete er hier in den Finanz- und Kolonisationsausschüssen mit.43 Damit war er endgültig in die Führungsebene der deutschen zionistischen Bewegung aufgestiegen. Sein 1911 erschienenes Programm des Zionismus, das lange Zeit als beste Einführung in dessen Gedankenwelt galt, lenkte auch die Aufmerksamkeit der Zionistischen Organisation auf ihn.44 Im Nachgang des zehnten Zionistenkongresses im August 1911 in Basel wurde er von der neu gewählten Leitung der Zionistischen Organisation, dem sogenannten Engeren Aktionskomitee, zum politischen Sekretär ernannt. Gleichzeitig wurde ihm die Redaktionsleitung der Zeitung Die Welt übertragen,45 des Presseorgans der Zionistischen Organisation, auf dessen Seiten neben weltpolitischen Ereignissen vor allem die damals drängenden Probleme des Zionismus verhandelt wurden. Bis 1913 trat Lichtheim in seinen Leitartikeln vehement für das PalästinaPrimat der zionistischen Bewegung ein und schrieb gegen Territorialismus und die Programmatik des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens an. Die Mitglieder des 1893 gegründeten Vereins, der die Mehrheit der assimilierten bürgerlich-liberalen Jüdinnen und Juden repräsentierte, waren in derselben Gesellschafts- und Kulturschicht aufgewachsen wie ihre zionistischen Generationsgenossen, hatten aber gänzlich andere Antworten auf die sogenannte Judenfrage entwickelt. Sie betrachteten ihr Judentum ausschließlich als Religion und traten für ihre Bürgerrechte und gesellschaftliche Gleichstellung in Deutschland ein. In der Hoffnung, das gesellschaftspolitische Klima ändern zu können, suchten sie den Antisemitismus durch Aufklärungsarbeit zu bekämpfen. Die Zionistinnen und Zionisten hielten die Abwehrkämpfe des CV für verfehlt und lieferten sich heftige Wortgefechte
41 Lichtheim unternahm die Reise gemeinsam mit Wilhelm Brünn, einem alten Freund aus Hasmonäa-Tagen, dem Nationalökonomen Franz Oppenheimer, dem Arzt Theodor Zlocisti (1874–1943), Ludwig Pinner sowie Gideon Heymann. Lichtheim hat diese Reise ausführlich in seinen Memoiren beschrieben. Vgl. dazu ders., Rückkehr, 147–177. 42 Ebd., 174. Vgl. dazu auch CZA, A56/32: Korrespondenz mit Elias Auerbach im Nachgang der Reise. Auerbach ließ sich bereits 1909 in Haifa nieder, wo auch Lichtheim mit der Hilfe Arthur Ruppins einen Bauplatz erworben hatte. 43 Lichtheim, Rückkehr, 178. 44 Lichtheim, Das Programm des Zionismus, Berlin 1911. Da die Schrift beliebt und schnell vergriffen war, erschien bereits 1913 eine zweite Auflage, die auch den jungen Gershom Scholem (1897–1982) in seiner Hinwendung zum Zionismus geprägt hat. Vgl. Scholem, Von Berlin nach Jerusalem, 45. 45 Lichtheim, Rückkehr, 197.
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mit seinen Vertreterinnen und Vertretern.46 Der Konflikt zwischen den liberalen und zionistischen Strömungen des deutschen Judentums offenbarte eine innerjüdische Kluft, die im Verlauf der Debatten um Werner Sombart47 (1863–1941) und Moritz Goldstein48 (1880–1977) noch verstärkt wurde. Im Zuge Letzterer hatte sich auch Lichtheim vor allem im Jahr 1913 in Leitartikeln in der Welt zu Wort gemeldet und mit scharfen Polemiken gegen die Ansichten des CV zur Befeuerung des Konflikts beigetragen.49 Beeindruckt von seiner Hingabe an die zionistische Idee und seinem politischen Scharfsinn, beschloss das Engere Aktionskomitee 1913, Lichtheim auf seine erste diplomatische Mission nach Konstantinopel zu entsenden,50 wo er die Arbeit des russischen Zionisten Victor Jacobson51 (1869–1934)
46 Zu den vorrangig in der Jüdischen Rundschau und den Pressepublikationen des CV ausgetragenen Debatten zwischen ZVfD und CV vgl. Schütz, Die Konstruktion einer hybriden »jüdischen Nation«, 413–425. 47 Der Nationalökonom Werner Sombart hatte sich in zwei Vortragsreihen 1909 und 1911 sowie den daraus resultierenden Publikationen Die Juden und das Wirtschaftsleben (1911) und Die Zukunft der Juden (1912) damals gängiger antisemitischer Stereotypen bedient. Während der CV auf die antisemitischen Thesen Sombarts mit Protest reagierte, sahen gerade die jüngeren Zionisten in Sombarts sich als wissenschaftlich fundiert gerierender Rede von »jüdischen Rasseeigenschaften« und »jüdischem Volk« ihre eigene Auffassung von der Unvereinbarkeit von Deutschtum und Judentum bestätigt. Die mediale Aufmerksamkeit für die Vorträge und Veröffentlichungen Sombarts, der sich stellenweise auch auf Lichtheims Programm des Zionismus berief, nutzten die Zionisten dazu, ihre Positionen in die liberale jüdische Presse hineinzutragen. Ausführlich dazu Hackeschmidt, Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias, 26–29; Reinharz, Fatherland or Promised Land, 191–195; Vogt, Subalterne Positionierungen, 377–387. Ausführlich zu Sombarts Publikationen vgl. Berg, Juden und Kapitalismus in der Nationalökonomie um 1900. 48 Goldstein, Deutsch-Jüdischer Parnass. Der jüdische Autor Goldstein äußerte nicht nur Zweifel an den Möglichkeiten einer vollständigen Integration und Assimilation der jüdischen Bevölkerung Deutschlands, sondern vertrat auch die These einer Dominanz der Juden in der deutschen Kultur, Literatur und Presse und löste damit eine Kontroverse aus, die weit über die jüdische Öffentlichkeit hinausging. Die Zionisten sahen ihre Positionen bestätigt und forderten eine deutliche Abgrenzung der Juden von ihrer deutschen Umwelt. Der CV warf den Zionisten staatsbürgerliche Illoyalität vor und verabschiedete im März 1913 eine Resolution, die ihren Mitgliedern eine gleichzeitige Mitgliedschaft in der ZVfD untersagte. Im Mai 1913 zog die ZVfD nach und untersagte ihrerseits ihren Mitgliedern eine Mitgliedschaft im CV. Ausführlich zur Kunstwart-Debatte vgl. Aschheim, 1912. 49 Richard Lichtheim, Die grosse Lüge, in: Die Welt, 21. Februar 1913; ders., Das Assimilantentum auf dem Kriegspfad, in: Die Welt, 4. April 1913; ders., Goluspolitik, in: Die Welt, 28. März 1913; ders., Mauschel revidus, in: Die Welt, 30. Mai 1913; ders., Assimilation und Zionismus, in: Die Welt, 1. August 1913. 50 Lichtheim, Rückkehr, 212. 51 Der 1869 im russischen Simferopol geborene Victor Jacobson war Chemiker und Bankier. Von 1908 bis 1914 leitete er die zionistische Vertretung in Konstantinopel. Von 1911 bis 1920 war er Mitglied des Engeren Aktionskomitees der ZO und von 1925 bis 1934 stand er der Repräsentanz der ZO beim Völkerbund in Genf vor.
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Abb. 3: Lichtheim mit Ehefrau Irene und Onkel Bernhard Pollack (1865–1928) während der Hochzeitsreise, 1911. © Central Zionist Archives.
unterstützen sollte, der schon seit 1908 die zionistischen Interessen im Osmanischen Reich vertrat. Bereits mehr als zwei Jahre zuvor, im April 1911, hatte Jacobson Lichtheim zu einer Studienreise nach Konstantinopel eingeladen und gehofft, ihn als Mitarbeiter anwerben zu können. In den wenigen Wochen seines Aufenthalts hatte er sich nicht nur mit der Arbeit der dortigen Vertretung vertraut gemacht, sondern auch seine zukünftige Ehefrau Irene Hefter kennengelernt, eine Kaufmannstochter aus den angesehenen Kreisen Konstan-
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tinopels (Abb. 3). Im September 1913 trat das mittlerweile verheiratete Paar gemeinsam mit dem einjährigen Sohn George die Reise in die osmanische Hauptstadt an. Für Lichtheim hatte die zionistische Arbeit in Deutschland im Wesentlichen Öffentlichkeitsarbeit, Erziehung und theoretische Auseinandersetzung bedeutet – weitgehend unbelastet von Problemen der Verwirklichung der zionistischen Idee in Palästina. Der Erste Weltkrieg stellte ihn zum ersten Mal vor Aufgaben, die wirklich politischen Charakter hatten, indem sie Verhandlungen mit nichtjüdischen Staatsvertretern und damit die Durchsetzung zionistischer Interessen nach außen erforderten. Eine erste Herausforderung dieser neuen Arbeit stellte die geplante Ausweisung der russischen Jüdinnen und Juden aus Palästina im Dezember 1914 dar.
2. Ein erfolgreiches Kapitel jüdischer Diplomatie (1913–1918)
Richard Lichtheim in den Botschaften Konstantinopels Am 17. Dezember 1914 ordnete der türkische Militärgouverneur Cemal P ascha ohne jede Vorwarnung die Deportation sämtlicher russischen Jüdinnen und Juden aus Palästina an,1 die ab dem Kriegseintritt des Osmanischen Reichs auf der Seite der Mittelmächte als feindliche Ausländer galten. Noch am selben Tag durchkämmten türkische Polizeibeamte die Straßen und Wohnhäuser Jaffas, um möglichst viele von ihnen aufzuspüren. Es gelang ihnen, mehrere Hundert Personen aufzugreifen, am Hafen der Stadt zu versammeln und von dort zwangsweise nach Ägypten zu verschiffen.2 Dabei wurden Dutzende Familien gewaltsam auseinandergerissen und Eigentum besitzerlos zurückgelassen. Von dem Befehl Cemal Paschas erfuhr Richard Lichtheim in Konstantinopel erst am folgenden Tag durch ein Telegramm Arthur Ruppins, der das Palästina-Amt in der palästinensischen Hafenstadt leitete und die dramatischen Ereignisse vor Ort beobachtet hatte. Alarmiert von der Willkür der türkischen Beamten und den Implikationen eines solchen Vorgehens für die jüdische Gemeinde Palästinas, war für Lichtheim sofort klar, dass eine schnelle Reaktion von außerordentlicher Dringlichkeit war. Umgehend begab er sich daher in die Botschaften der Großmächte: Zunächst drängte er den deutschen Botschafter Hans Freiherr von Wangenheim (1859–1915), 1 Unter osmanischer Herrschaft bildete Palästina keine eigenständige politische oder Verwaltungseinheit. 1914 umfasste es die beiden südlichen Sandschaks Nablus und Akko des Vilâyets Beirut im Norden und den direkt von Konstantinopel regierten Sandschak Jerusalem im Süden. 2 In der Literatur finden sich unterschiedliche Zahlenangaben. Benny Morris gibt 700 Deportierte an. Vgl. ders., Righteous Victims, 85. Laut Justin McCarthy wurden 600 russische Juden ausgewiesen. Vgl. ders., The Population of Palestine, 20. Lichtheim selbst berichtete zunächst von der Verschickung von 800 russischen Juden. Vgl. CZA, Z3/50, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, Berlin, 24. Dezember 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 132–136. Er korrigierte seine Angabe in späteren Briefen auf 600 deportierte russische Juden nach unten. Vgl. CZA, Z3/52, Lichtheim an Isaac Straus in New York, 27. März 1915, abgedruckt in: ebd., 146–155. Die erste Angabe Lichtheims von 800 wurde von Egmont Zechlin unkritisch übernommen. Vgl. ders., Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 319.
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schnellstens bei der türkischen Zentralregierung gegen das Vorgehen der Lokalverwaltung Jaffas zu protestieren. Immerhin machten die mit den ersten beiden Einwanderungswellen aus Russland Immigrierten rund ein Drittel der circa 60 000 palästinensischen Jüdinnen und Juden aus und bildeten damit das Rückgrat des Jischuw.3 Tatsächlich gelang es dem deutschen Botschafter noch am selben Abend, mit dem türkischen Innenminister Talât Pascha (1874–1921) zusammenzukommen und die Aufhebung des Deportationsbefehls durch den Großwesir Said Halim Pascha (1864–1921) zu bewirken.4 Im Anschluss an seinen Besuch in der deutschen Botschaft suchte Lichtheim den amerikanischen Botschafter Henry Morgenthau Sen. auf und unterrichtete auch ihn von den Vorfällen in Palästina.5 Ohne Zögern stellte Morgenthau das amerikanische Kriegsschiff USS Tennessee für den Abtransport derjenigen nichtosmanischen Jüdinnen und Juden zur Verfügung, die im Nachgang der gewaltsamen Ereignisse in Jaffa nicht länger in Palästina bleiben oder sich mit ihren ausgewiesenen Familienangehörigen in Ägypten vereinen wollten.6 Laut Morgenthau wurde bis Ende Januar 1915 so nicht weniger als 2 700 Jüdinnen und Juden die sichere Ausreise ermöglicht.7 Es ist dem schnellen Handeln Lichtheims und dem unverzüglichen Eingreifen der beiden Botschafter zu verdanken, dass die Ausweisung gestoppt und Schlimmeres verhindert werden konnte. Seit 1913 wurde das Osmanische Reich durch das jungtürkische Triumvirat, bestehend aus Innenminister Talât Pascha, Kriegsminister Enver Pascha (1881–1922) sowie dem Marineminister Cemal Pascha, in einem diktato3 Benny Morris nennt mit Verweis auf eine Studie Justin McCarthys für 1881 13 000 bis 20 000 und für 1914 rund 60 000 jüdische Bewohner Palästinas. Vgl. ders., Righteous Victims, 4 und 37. In der Historiografie haben sich weitgehend die von Arthur Ruppin in Syrien als Wirtschaftsgebiet (1916) gemachten Angaben durchgesetzt. Laut Ruppin lebten 1914 rund 85 000 jüdische Einwohner in Palästina. McCarthy vermutet, Ruppin habe – in seiner Funktion als Leiter des Palästina-Amts in Jaffa verantwortlich für das zionistische Kolonisationsprogramm – aus politischen Gründen bewusst die Statistik geschönt und v. a. für die Städte Jerusalem und Jaffa erhöhte Angaben gemacht. McCarthy zeigt plausibel, dass von einer deutlich geringeren jüdischen Bevölkerung am Vorabend des Kriegs ausgegangen werden muss. Die Arabisch sprechende christliche wie muslimische Bevölkerung Palästinas schätzt McCarthy für 1914/15 auf 600 000 bis 700 000 Personen. Vgl. ders., The Population of Palestine, 1–24. Zur Bedeutung von Statistiken für zionistische Zwecke vgl. Bloom, The »Administrative Knight«. 4 CZA, Z3/50, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 18. Dezember 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 128–131; CZA, Z3/50, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 19. Dezember 1914. Vgl. auch Lichtheim, Rückkehr, 278. 5 Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus, Eintrag vom 18. Dezember 1914, 152. 6 Vgl. Lichtheim, Rückkehr, 280; Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus, Eintrag vom 25. Dezember 1914, 156. Vgl. dazu auch Manuel, The Realities of AmericanPalestine Relations, 123. 7 Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus, Eintrag vom 20. Januar 1915, 168.
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rischen System regiert.8 Der Beginn des Ersten Weltkriegs führte zu einer Radikalisierung der türkischen Minderheitenpolitik, die in den darauffolgen den Jahren im Völkermord an den Armeniern sowie in der Vertreibung der griechisch-orthodoxen Christen aus Kleinasien gipfeln sollte,9 aber auch den Jischuw immer wieder existenziell bedrohte. Bei den gegen die jüdische Bevölkerung Palästinas gerichteten Maßnahmen handelte es sich allerdings weniger um eine von der Zentralregierung in Konstantinopel gelenkte Politik, sondern vielmehr um das willkürliche Vorgehen des für Palästina verantwortlichen Gouverneurs Cemal Pascha, der bis zu seiner Abberufung im Jahr 1917 ein vehement antizionistisches Programm verfolgte. Ähnlich wie andere nichttürkische Minderheiten des Vielvölkerstaats wurde auch die jüdische Bevölkerung Palästinas des Separatismus verdächtigt. Für das Osmanische Reich – in seiner Einheit von außen durch die europäischen Großmächte bedroht und an seinen Rändern zunehmend durch nationale Bewegungen von innen destabilisiert – war die Treue seiner religiösen wie ethnischen Minderheiten zur Hohen Pforte von größter Wichtigkeit.10 Cemal Pascha zweifelte vor allem an der Loyalität der aus Europa kommenden jüdischen Neueinwanderinnen und -einwanderer und fürchtete die Entstehung eines neuen nationalen Minderheitenproblems in Palästina. Im Laufe des Kriegs ordnete er mehrfach die Verhaftung oder Ausweisung führender Zionisten wie hochrangiger Parteimitglieder, Intellektueller, Pädagogen oder Vorsitzender zionistischer Institutionen an. So drängte er zum Beispiel im Herbst 1915 Arthur Ruppin dazu, die Leitung des Palästina-Amts niederzulegen, um ihn schließlich im September 1916 aus Palästina nach Konstantinopel auszuweisen.11 Auch veranlassten die türkischen Militärbehörden zeitweise die Schließung von jüdischen Schulen und Zeitungen oder Einrichtungen wie der Anglo-Palestine Bank, dem für das jüdische Palästina wichtigsten Kreditinstitut. Die kriegsbedingte Evakuierung Jaffas im Frühjahr 1917, die mit der Deportation sämtlicher jüdischen Einwohnerinnen und Einwohner des Be-
8 Nach der jungtürkischen Revolution 1908 wurde der seit 1876 amtierende Sultan Abdülhamid II. (1842–1918) abgesetzt und eine parlamentarisch-konstitutionelle Regierung eingeführt, die allerdings von einer einzigen Partei, dem Komitee für Einheit und Fortschritt, dominiert wurde. Die erfolglosen Versuche, das Reich zu reformieren, sowie Gebietsverluste in Europa und dem nördlichen Afrika führten allerdings 1912 zum Sturz der jungtürkischen Regierung. Im Zuge der Niederlage des Osmanischen Reichs im Ersten Balkankrieg 1913 gelang es dem Triumvirat durch einen Staatsstreich, die Macht zurückzuerobern und bis 1918 zu regieren. Zur Geschichte des späten Osmanischen Reichs vgl. Hanioğlu, A Brief History of the Late Ottoman Empire. 9 Vgl. dazu Morris / Ze’evi, The Thirty-Year Genocide; Suny, »They Can Live in the Desert but Nowhere Else«. 10 Suny, »They Can Live in the Desert but Nowhere Else«, 67–69. 11 Ruppin, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, 265 f.
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zirks ins Landesinnere einen schweren Rückschlag für den Jischuw darstellte, muss zumindest teilweise ebenfalls im Licht dieser Politik gesehen werden.12 Für Lichtheim wurde es daher schon bald nach seiner Ankunft in Konstantinopel im September 1913 zum dringlichsten Anliegen, einflussreiche Fürsprecher zum Schutz des Jischuw zu gewinnen. Dabei war er meist auf sich allein gestellt, da Victor Jacobson als Mitglied des Engeren Aktionskomitees seine Zeit zwischen Berlin und Konstantinopel aufteilen musste und nur sporadisch anwesend sein konnte. Im April 1915 wurde Jacobson als russischem Staatsbürger die Einreise ins Osmanische Reich schließlich gänzlich verwehrt.13 Ohne jegliche Erfahrung auf diplomatischem Parkett und trotz seines verhältnismäßig jungen Alters gelang es Lichtheim, die Unterstützung des deutschen und des amerikanischen Botschafters zu gewinnen, die im Laufe des Kriegs wiederholt bei der Hohen Pforte gegen die Anordnungen Cemal Paschas intervenieren sollten. Deren fortgesetzten Protesten ist es letztlich zu verdanken, dass die jüdische Gemeinde Palästinas weniger als jede andere Minderheit des Reichs unter der repressiven Verfolgungspolitik der Jungtürken zu leiden hatte.14 Innerhalb der Forschung zur politischen Geschichte der Juden vor und während des Ersten Weltkriegs wird dieser Episode zionistischer Diplomatie indes erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt.15 Die existierenden Arbeiten nähern sich den zionistischen Akteuren in Berlin und Konstantinopel ausschließlich im Kontext der deutschen Weltkriegspolitik und legen daher den Fokus auf das instrumentelle Verhältnis der deutschen Regierung zur jüdischen Nationalbewegung.16 Auch in Beiträgen zur amerikanischen Nahostpolitik, in deren Rahmen die Unterstützung der Regierung Woodrow Wilsons (1856–1924) für den Jischuw verhandelt wird, finden die Aktivitäten Lichtheims kaum Erwähnung.17 Dabei ist es im Wesentlichen dem unermüd 12 Vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 6 dieses Kapitels. 13 Jacobson verbrachte die meiste Zeit des Kriegs in Berlin und Kopenhagen. Vgl. Lichtheim, Rückkehr, 322 f. 14 Vgl. Efrati, The Jewish Community in Eretz-Israel during World War I (hebr.), 42 f. 15 Zur jüdischen Diplomatie vor und während des Ersten Weltkriegs vgl. Fink, Jewish Diplo macy and the Policy of War and Peace; dies., Defending the Rights of Others; Kirchhoff, Diasporische versus zionistische Diplomatie, 1878–1917; Meybohm, David Wolffsohn, 253–333. 16 So versucht Zechlin in dem Kapitel »Deutschland und der Zionismus«, ausschließlich anhand des deutschen Aktenmaterials die deutsch-zionistischen Beziehungen zu rekonstruieren. Dabei lässt er die Abhängigkeiten, die sich für die zionistische Bewegung aus der Mächtekonstellation ergaben, unberücksichtigt. Ders., Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 285–448. Eine ausgewogenere Darstellung der zionistischen Position im deutsch-türkischen Verhältnis findet sich bei Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918. 17 Adler / Margalith, With Firmness in the Right; Manuel, The Realities of American-Palestine Relations; Urofsky, American Zionism from Herzl to the Holocaust; Bryson, American Diplomatic Relations with the Middle East, 1784–1975; Oren, Power, Faith, and Fantasy.
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lichen Antichambrieren Lichtheims zu verdanken, dass die jüdische Gemeinschaft Palästinas über die Wirren des Kriegs hinweggerettet werden konnte. Sein Agieren in den Botschaften der Großmächte während des Ersten Weltkriegs und davor stellt ohne Zweifel ein erfolgreiches Beispiel dieser Form nichtstaatlicher Einflussnahme dar und wird im Folgenden ausführlich rekonstruiert.
Zwischen Imperien und Nationalstaaten – Neuausrichtung der zionistischen Politik in Konstantinopel Angesichts des fortschreitenden Verfalls des Osmanischen Reichs und seiner Auswirkungen auf das Verhältnis der europäischen Großmächte zueinander, bot sich für die Arbeit Lichtheims in Konstantinopel eine besonders günstige Konstellation. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die osmanische Hauptstadt Brennpunkt der internationalen Politik, in dem sich die Konfliktlinien des europäischen Mächtekonzerts des 18. und 19. Jahrhunderts geografisch manifestiert hatten. Mit Blick auf die Meerengen, in denen Russlands einziger Zugang zu Mittelmeer und Atlantik auf den zentralen Landweg zwischen Asien und Europa traf, rangen die europäischen Staaten um Einflusssphären im osmanischen Vielvölkerstaat. »Dort kreuzten sich die Interessen fast aller europäischen Großmächte«, konstatierte der österreichisch-ungarische Militärbevollmächtigte Josef Pomiankowski (1866–1929), »und es hatte den Anschein, als ob die eventuelle Erwerbung dieser Stadt samt den zugehörigen Meerengen für die Gestaltung der zukünftigen politischen Konstellation, ja sogar die Frage der Welthegemonie entscheidend werden müßte.«18 Auch im Stadtbild manifestierten sich der europäische Einfluss und das ambivalente Verhältnis der Hohen Pforte zu den Großmächten. Als Epizentrum der sogenannten Orientalischen Frage zeichnete sich Konstantinopel durch eine ungewöhnliche Dichte an ausländischen Vertretungen aus, die sich jenseits des Goldenen Horns, in dem modernen, europäisch geprägten Wohn- und Geschäftsviertel Pera (dem heutigen Stadtteil Beyoğlu) konzentrierten. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte sich das Viertel, das sich rund um den Taksim-Platz bis hinunter zum Goldenen Horn erstreckte, zum kulturellen und diplomatischen Herzen der Stadt entwickelt, in dem nicht nur die Mittelschicht der armenischen, griechischen und jüdischen Minderheit ansässig war, sondern auch jedes wichtigere Kultur- und Finanzzentrum. Mit seinen Jugendstilhäusern, teuren Restaurants, Kaffeehäusern, Klubs und Bordellen war Pera durchdrungen von einer Atmosphäre des modernen, westlichen Europas. Hier spielte sich auch das gesellschaftliche Leben der politischen 18 Pomiankowski, Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches, 11 f.
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Elite des Reichs ab. Im Klub Cercle d’Orient, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur deutschen Botschaft auf der Hauptgeschäftsstraße Grand Rue de Péra, der heutigen İstiklâl Caddesi, befand, trafen die westlichen Diplomaten auf ihre türkischen Kollegen. Reisende aus Europa, die mit dem Orientexpress nach Konstantinopel kamen, übernachteten im Pera Palace Hotel, das 1892 als erstes Gästehaus im Osmanischen Reich mit Elektrizität und fließend Wasser eröffnet wurde und bis heute als das älteste »europäische« Hotel der Türkei gilt.19 Im Gegensatz dazu wirkte das südliche Ufer des Goldenen Horns geradezu rückständig und konservativ. Der Blick auf Stambul, der heute als Sarayburnu bekannten Halbinsel zwischen Goldenem Horn und Marmarameer, bot ein von Minaretten, Türmen und Kuppeln dominiertes Panorama. Mit seinen Basaren und historischen Gebäuden wie der Hagia Sofia, der Blauen Moschee und dem Topkapı-Palast, der den osmanischen Sultanen jahrhundertelang als Wohn- und Regierungssitz gedient hatte, erinnerte Stambul nur mehr an den Glanz längst vergangener Tage, in denen Konstantinopel als einst größte und mächtigste Metropole Europas über ein Imperium herrschte, das sich in seiner Blütezeit von Südosteuropa über große Teile Vorderasiens bis weit nach Nordafrika erstreckte. Trotz Revolution und Modernisierung blieb die Hohe Pforte bis zum Untergang des Reichs auch Sitz und Verwaltungszentrum der jungtürkischen Regierung. Geografisch liegen die beiden durch die Galata-Brücke miteinander verbundenen Ufer des Goldenen Horns auf der europäischen Seite der Stadt, in politisch-kultureller Hinsicht jedoch hätten die Gegensätze zwischen dem modernen Stadtviertel Pera im Norden und der traditionell geprägten Altstadt im Süden kaum größer sein können. Auch dem Neuankömmling Lichtheim, der für sich, seine Frau Irene und den damals einjährigen Sohn George in Nişantaşı, einem vornehmen Stadtteil mit stillen Alleen und reich geschmückten Mehrfamilienhäusern im Stil des Fin de Siècle im moderneuropäischen Zentrum Konstantinopels, eine Wohnung mit Aussicht auf den Bosporus und unweit der ausländischen Botschaften mietete,20 fiel der gravierende Kontrast schnell auf: »Wer mit offenen Augen durch Konstantinopel ging, mußte bald erkennen, wie schlecht es um die Zukunft des Reiches stand. Voll Haß starrte Stambul nach Pera hinüber, und voll Verachtung starrte Pera zurück.«21 In diesem politischen Klima versuchte Lichtheim, die Interessen der zionistischen Bewegung mit jenen der Großmächte zu verknüpfen und deren 19 Für eine Geschichte des modernen Istanbul, die entlang des Pera Palace Hotels erzählt wird, vgl. King, Mitternacht im Pera Palace. 20 Lichtheim, Rückkehr, 212. 21 Ebd., 184.
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Unterstützung gegenüber der türkischen Regierung zu gewinnen. Die Stadt am Bosporus ermöglichte Lichtheim nicht nur den direkten Zugang zur türkischen Regierung, sondern über die sich dort konzentrierenden Diplomatenkreise auch zu den Großmächten, die aufgrund der Schwäche des Osmanischen Reichs und der damit verbundenen wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten gewisse Einflussmöglichkeiten auf die türkische Innenpolitik hatten. Diese Instabilität wurde noch verstärkt durch die sogenannten Kapitulationen, die den im Reich residierenden Europäerinnen und Europäern exterritoriale Privilegien garantierten und es den europäischen Regierungen ermöglichten, als Schutzmacht ihrer jeweiligen Staatsbürger aufzutreten und damit die osmanische Souveränität zu unterminieren. So entwickelte sich Konstantinopel in den Jahren des Ersten Weltkriegs zu einem der wichtigsten Wirkungsorte der offiziellen zionistischen Politik, bis infolge der Balfour-Deklaration und der Eroberung Palästinas durch die britische Armee 1917 die englische Außenpolitik zur bestimmenden Partnerin für die Durchsetzung zionistischer Interessen wurde und sich der Fokus der zionistischen Bewegung dementsprechend nach London verlagerte. Die ersten Anstrengungen zionistischer Politiker, die osmanische oder eine der europäischen Regierungen für ihr Anliegen zu gewinnen, hatten mit dem Scheitern der Charterpolitik Theodor Herzls zunächst ein Ende gefunden. Um die Jahrhundertwende hatte sich Herzl sowohl beim osmanischen Sultan Abdülhamid II. und dem diesem nahestehenden deutschen Kaiser Wilhelm II. als auch bei der britischen Regierung um eine amtliche Zustimmung zur Schaffung einer jüdischen Heimstätte in Palästina bemüht, doch keine dieser Verhandlungen hatte die gewünschte Garantie erwirkt.22 Zerrissen von inneren Richtungskämpfen, hatte sich die zionistische Bewegung nach Herzls Tod 1904 zunächst auf die wirtschaftliche, kulturelle und politische Arbeit in Palästina konzentriert. Erst 1907 versuchte Herzls Nachfolger David Wolffsohn noch einmal, mit verschiedenen hochrangigen Mitgliedern der osmanischen Regierung über den Charter ins Gespräch zu kommen – allerdings ergebnislos. Erneute Hoffnung schöpfte die Zionistische Organisation nach der jungtürkischen Revolution von 1908 und dem mit ihr unternommenen Versuch, eine parlamentarisch-konstitutionelle Regierung einzuführen. Das Versprechen der Jungtürken, künftig auch die Mitbestimmung ethnischer und religiöser Minderheiten zu garantieren, veranlasste die Zionistische Organisation dazu, parallel zur praktischen Arbeit in Palästina auch die politische Agitation in Konstantinopel wieder aufzunehmen. Zu diesem Zweck entsandte sie Jacobson als ihren ständigen Vertreter mit dem Auftrag dorthin, die öffentliche Meinung, die lokale jüdische Gemeinde und die türkische Regierung positiv für den Zionismus einzuneh22 Zu den diplomatischen Bemühungen Herzls vgl. Meybohm, David Wolffsohn, 278–297.
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men.23 Den Chartergedanken gab die Bewegung letztlich ein Jahr später, auf dem neunten Zionistenkongress in Hamburg, offiziell auf. In der Hoffnung, eine sprachliche und kulturelle Autonomie in Palästina unter der Souveränität des Osmanischen Reichs verwirklichen zu können, erklärte sie ihre völlige Loyalität gegenüber der neuen türkischen Regierung: »Die ottomanische Staatseinheit, die Weltmachtstellung und die innere Wohlfahrt dieser Monarchie, ihr Schutz und die gedeihliche Entwicklung ihrer Gesamteinrichtungen sind die selbstverständliche Voraussetzung all unserer Arbeiten. Die ottomanischen Gesetze werden die Richtschnur sein für all unsere Unternehmungen und auf der freiheitlichen türkischen Verfassung werden sich all unsere Pläne aufbauen. Denn in der nunmehrigen Rechtsstellung, in den staatsgrundgesetzlich gewährleisteten und in einer fortschrittlichen Entwicklung begriffenen Einrichtungen erblicken wir die Garantien unserer persönlichen und nationalen Sicherheit.«24
In den Jahren bis zum Beginn des Kriegs war es die vordringlichste Aufgabe der Konstantinopler Zionisten, mit den Jungtürken über die Abschaffung der für Jüdinnen und Juden bestehenden Restriktionen hinsichtlich Einwanderung und Landkauf zu verhandeln. Bereits die erste Einwanderungswelle osteuropäischer Jüdinnen und Juden in den 1880er Jahren hatte den Widerstand der Hohen Pforte hervorgerufen. Die osmanischen Behörden befürchteten zum einen das Anwachsen einer weiteren potenziell nach Unabhängigkeit strebenden Minderheit innerhalb des ohnehin geschwächten Vielvölkerstaats, zum anderen die Zunahme vor allem des europäischen Einflusses durch die steigende Zahl nichtosmanischer Einwohnerinnen und Einwohner, die durch das System der Kapitulationen eine rechtliche Sonder stellung gegenüber der einheimischen Bevölkerung genossen. Um eine Ausweitung jüdischer Präsenz in Palästina zu verhindern, hatte die Hohe Pforte bereits 1882 erste Einreisebeschränkungen gegen Jüdinnen und Juden verhängt und ab 1892 auch deren Möglichkeiten des Bodenerwerbs limitiert. In den folgenden Jahren wurden diese Restriktionen mehrfach erneuert und modifiziert.25 Um die Grundvoraussetzungen für die Verwirklichung des zionistischen Programms zu schaffen und die Jungtürken von den Vorteilen der jüdischen Einwanderung zu überzeugen, konzentrierte Jacobson seine Aktivitäten in Konstantinopel auf die dortigen Regierungskreise, arabische Parlamentsabgeordnete sowie einflussreiche Persönlichkeiten der jüdischen Gemeinde wie den Oberrabbiner Chaim Nahum26 (1873–1960), der gute 23 Ebd., 300–309. 24 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des IX. Zionisten-Kongresses in Hamburg vom 26.–30. Dezember 1909, 7 f. 25 Vgl. Mandel, Ottoman Practice as Regards Jewish Settlement in Palestine, 1881–1908. 26 Chaim Nahum entstammte einer verarmten osmanisch-sephardischen Familie. Mithilfe eines Stipendiums der Alliance Israélite Universelle studierte er von 1891 bis 1892 an der
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Kontakte zur Regierung pflegte. Ebenso knüpfte Jacobson erste Beziehungen zu den ausländischen Botschaftern, in denen er nützliche Unterstützer zu finden hoffte. Er war jedoch von der Möglichkeit überzeugt, in direkten Verhandlungen mit der türkischen Regierung zu einer für die Zionistische Organisation befriedigenden Lösung zu gelangen. Er glaubte an die jungtürkischen Reformversprechen und eine Modernisierung des Osmanischen Reichs, in dem zukünftig auch die jüdische Minderheit ihren Platz als Nation finden würde.27 Lichtheim entwarf jedoch schon bald nach seiner Ankunft in Konstantinopel eine politische Agenda, die von der bis dahin verfolgten Linie der zionistischen Bewegung abwich. Zwar unterstützte auch er die von Jacobson initiierten Verhandlungen mit den Jungtürken, jedoch erkannte er schnell die begrenzten Erfolgsaussichten dieser Versuche. Bereits während seiner ersten Reise nach Konstantinopel im April 1911 war Lichtheim zu der Überzeugung gelangt, dass die Lösung der Palästinafrage nicht ohne die Beteiligung der europäischen Großmächte erfolgen würde. Im türkischen Parlament hatte im Frühjahr 1911 eine hitzige Debatte über den Zionismus und seine Ziele stattgefunden, die eine ähnlich starke Abneigung gegen eine jüdische Einwanderung nach Palästina innerhalb der jungtürkischen Regierung offenbarte, wie sie schon das alte Regime bekundet hatte. Die ablehnende Haltung der Jungtürken wurde zusätzlich befeuert von der zunehmenden Opposition der arabischen Bevölkerung und dem damit einhergehenden Erstarken des arabischen Nationalismus.28 Zurück in Berlin, hatte Lichtheim an das Zentralkomitee der Zionistischen Vereinigung für Deutschland berichtet, dass die von den Zionisten erhoffte und geforderte Gewährung nationaler Autonomie für »die einzelnen Nationen des Reiches […] vorläufig unausführbar« sei, einige Großmächte jedoch »an uns ein Interesse nehmen und in einem bestimmten Juristischen Fakultät der Pariser Sorbonne sowie von 1893 bis 1897 am dortigen Rabbiner seminar. Zeitgleich studierte er Arabisch, Persisch und Islamische Studien. In Paris knüpfte er erste Kontakte zu Mitgliedern der jungtürkischen Bewegung, mit denen er auch nach seiner Rückkehr nach Konstantinopel in enger Verbindung blieb. Nach der Revolution wurde er 1909 zum Oberrabbiner (Hahambaşı) im Osmanischen Reich ernannt. Dieses Amt bekleidete er bis 1920. Nahum galt als frankophil und stand einer Zusammenarbeit der Hohen Pforte mit dem Deutschen Reich skeptisch gegenüber. Auch stand er in offenem Konflikt mit den Bestrebungen der Zionisten, eine jüdische Heimstätte in Palästina zu etablieren. Unter den jüdischen Neueinwanderern warb er mit Nachdruck für deren Naturalisierung, gleichzeitig bemühte er sich bei den türkischen Behörden um Erleichterung der Einbürgerungsbestimmungen. Aufgrund seines hohen Amts und seiner guten Kontakte zur türkischen Regierung warben Jacobson und Lichtheim dennoch um eine gute Zusammenarbeit mit Nahum. Vgl. dazu Lichtheim, Rückkehr, 221 f. Für eine Biografie Nahums vgl. Benbassa, Haim Nahum. 27 Vgl. Lichtheim, Rückkehr, 219. 28 Zur Debatte vgl. Fishman, Understanding the 1911 Ottoman Parliament Debate on Zionism in Light of the Emergence of a »Jewish Question«.
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Fall unsere Arbeit oder unsere Institutionen in Palästina und Konstantinopel unterstützen könnten«.29 Kurz nach der Aufnahme seiner Arbeit in Konstantinopel im Herbst 1913 konkretisierte er seine Ideen in einem Brief an das Aktionskomitee der Zionistischen Organisation in Berlin: »Ich habe in den 2 Monaten, seit ich hier bin, die entschiedenste Befestigung meiner seit 3 Jahren festgehaltenen Anschauung erfahren, dass wir eine Anlehnung an die Mächte, vor allem an England erstreben müssen. […] Unsere fünfjährige Arbeit hier war nicht vergeblich. Die Stimmung in den türkischen Regierungskreisen ist ganz günstig. Aber ich glaube nicht, dass wir mit den Türken viel mehr erreichen werden, als wir schon erreicht haben.«30
Und weiter schrieb er: »Ich glaube, dass wir mit England, Russland, Amerika, vielleicht auch mit Deutschland und Österreich dahin gelangen können, dass uns die Vertreter dieser Staaten im Orient wohlwollend fördern. Mit Russland ist es wohl am besten, nur durch die hiesige Botschaft zu arbeiten, bei welcher die Protektion der Juden in Palästina bereits eine Tradition ist. Mit Amerika können wir vielleicht auch in einzelnen Fragen, wie beim R[oten] Z[ettel]31 oder Landkauf, dahin gelangen, dass die Botschaft uns unterstützt. Mit England aber müssen wir in einem umfassenderen Sinne verhandeln. Die Arbeit muss in London gemacht werden, und erst, wenn die Centrale günstig gestimmt ist, können wir von der hiesigen Botschaft etwas erwarten. Diese Politik mit den Grossmächten ist gewiss nicht geeignet, uns einen Charter für Palästina zu bringen. Den werden wir auf keine Weise erhalten. Aber eine positive Unterstützung unserer Forderungen bei der türkischen Regierung und – was noch wichtiger ist – eine Rückendeckung für künftige politische Ereignisse können sich sehr wohl aus solchen Bemühungen ergeben.«32
Im Gegensatz zu Jacobson plädierte Lichtheim hier also für eine stärkere Anlehnung der Bewegung an die europäischen Großmächte, die, wie er richtig 29 CZA, A15/517, Protokoll der Plenarsitzung des Zentralkomitees der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, 25. Mai 1911. 30 CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, 20. November 1913, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 78–85, hier 83. 31 Jüdinnen und Juden erhielten bei der Einreise nach Palästina eine temporäre Aufenthaltsgenehmigung von drei Monaten, die aufgrund der roten Farbe des Papiers als »roter Zettel« bekannt wurde. Nach Ablauf der Frist drohte den Reisenden die Ausweisung. Diese Bestimmung wurde allerdings kaum angewandt, da ausländische Personen dank des Systems der Kapitulationen unter dem Schutz ihrer Konsuln standen und nicht ohne deren Zustimmung ausgewiesen werden konnten. Dennoch arbeiteten die Zionisten auf die Abschaffung des roten Zettels hin, da es sich um eine dezidiert antijüdische Maßnahme handelte. Zu den Regulierungen für jüdische Reisende zwischen 1881 und 1908 vgl. Mandel, Ottoman Practice as Regards Jewish Settlement in Palestine. Zur allmählichen Lockerung dieser Maßnahmen vgl. ders., The Arabs and Zionism before World War I, 169 f. 32 CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, 20. November 1913, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 78–85, hier 84 f.
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voraussah, nach dem sich bereits abzeichnenden Zerfall des Osmanischen Reichs über die Zukunft der Region mitentscheiden würden. Er knüpfte dabei in gewisser Weise an die Strategie Herzls an. Lichtheim intendierte zwar keinen Charter im herzlschen Sinne, da dieser in seinen Augen erst dann Berechtigung hätte, »wenn es uns zuvor gelänge, eine Million Juden nach Palästina zu bringen«.33 Wie Herzl erkannte jedoch auch Lichtheim, dass die zionistische Politik nicht ohne den Rückhalt einflussreicher nichtjüdischer Fürsprecher durchgesetzt werden konnte. Machte Herzl eine politische Unterstützung noch zur Vorbedingung für die praktische Arbeit in Palästina, sah Lichtheim in ihr eine Möglichkeit, diese gegen äußere Widerstände abzusichern. Eine solche Unterstützung war freilich immer auch von den außenpolitischen Agenden der Großmächte abhängig, die von ökonomischen, politischen und geostrategischen Zielen bestimmt waren oder, wie im Falle Amerikas, auch die Durchsetzung freiheitlich-demokratischer Grundsätze zu realisieren suchten. Wie auch Herzl rund zehn Jahre zuvor, erhoffte sich Lichtheim zunächst von der britischen Regierung das größte Entgegenkommen, schließlich verfolgte das Empire geostrategische Interessen in Palästina. Zudem beeinflusste eine bis in das 17. Jahrhundert zurückgehende Tradition von christlichem Zionismus, der eine Rückkehr des jüdischen Volks in das Heilige Land befürwortete, die britische Gesellschaft und Politik.34 Vor allem aber hatte die britische Regierung bereits 1903 den Zionisten mit dem Uganda-Plan ein ernsthaftes Angebot unterbreitet und sich damit als erste europäische Macht als potenzielle Partnerin erwiesen. Auch Nahum Sokolow, der im Sommer 1914 für einige Wochen in Konstantinopel weilte, war nach einer Unterhaltung mit dem britischen Botschafter Louis du Pan Mallet (1864–1936) optimistisch gestimmt.35 Dagegen spielten Frankreich und Italien in Lichtheims Überlegungen keine Rolle, da es ihm besonders schwierig erschien, die Botschaften dieser Länder für den Zionismus zu gewinnen. Sowohl in Frankreich als auch in Italien hatte die zionistische Bewegung zu jener Zeit nur eine kleine Anhängerschaft und die Einwanderung aus diesen Ländern nach Palästina blieb vorerst gering.36 Ebenso wenig zeigte die österreichisch-ungarische Regierung besonderes Interesse am Zionismus.37 Mit Russland hingegen war bis zum Ausbruch des Kriegs eine begrenzte Zusammenarbeit zum Schutz der osteuropäischen Neueinwanderinnen und -einwanderer nach Palästina 33 Lichtheim, Rückkehr, 193. 34 Zur Gemengelage britischer Interessen in Palästina vgl. Kent, Great Britain and the End of the Ottoman Empire, 1900–23. 35 CZA, L5/10, Lichtheim an das AK der ZO, 18. Juni 1914. 36 Vgl. Lichtheim, Rückkehr, 231 f. 37 Friedman, The Austro-Hungarian Government and Zionism, 1897–1918, 157.
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möglich. Wie in seinem Brief vom November 1913 angedeutet, hatte er mit der russischen Vertretung bereits kurz nach seiner Ankunft in Konstantinopel Kontakt aufgenommen, um deren Aufmerksamkeit auf die unrechtmäßige Verurteilung zweier russischer Juden zu mehreren Jahren Zwangsarbeit zu lenken. Ihre Befreiung konnte schließlich durch die russische Botschaft erwirkt werden.38 Über die Bedenken der Zionisten, um »Unterstützung einer so antisemitischen Regierung wie der russischen nachzusuchen«, auf deren Hilfe man jedoch aus rein praktischen Gründen nicht verzichten konnte, reflektierte Lichtheim in seinen Lebenserinnerungen. Seinen Aufzeichnungen zufolge hoffte man sogar, über die Botschaft in Konstantinopel möglicherweise auch die Bedingungen für die zionistische Bewegung in Russland selbst erleichtern zu können.39 Eine Hoffnung freilich, für die es nicht den geringsten Anlass gab. Mit dem Eintritt des Osmanischen Reichs in den Krieg aufseiten der Mittelmächte sah sich Lichtheim in Konstantinopel jedoch gezwungen, sich auf die Vertreter Deutschlands und der neutralen Vereinigten Staaten zu konzentrieren, die bis zum amerikanischen Kriegseintritt 1917 ebenfalls bis zu einem gewissen Grad Einfluss auf die Politik der Jungtürken nehmen konnten. Auch in Berlin intensivierten mit Beginn des Kriegs sowohl die ZO-Vertreter Arthur Hantke und Kurt Blumenfeld als auch das von Max Bodenheimer, Adolf Friedemann und Franz Oppenheimer im August 1914 gegründete Deutsche Komitee zur Befreiung der russischen Juden ihre Bemühungen, sich bei der deutschen Regierung Gehör für ihre Anliegen zu verschaffen. Mehrfach sprachen sie im Auswärtigen Amt vor und erbaten den Schutz der deutschen Regierung für die bereits bestehenden jüdischen Ortschaften in Palästina.40
38 CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, 20. November 1913, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 78–85. 39 Lichtheim, Rückkehr, 233 f. 40 Das Deutsche Komitee zur Befreiung der russischen Juden (ab Herbst 1914: Komitee für den Osten, KfdO) war ein zu Beginn des Ersten Weltkriegs u. a. von Max Bodenheimer, Franz Oppenheimer und Adolf Friedemann gegründetes Hilfskomitee, das die Verbesserung der Lage der Jüdinnen und Juden in den vom Deutschen Reich und Österreich-Ungarn besetzten Gebieten in Osteuropa zum Ziel hatte. Das Komitee suchte eine Kongruenz von deutschen Kriegszielen und den Interessen der osteuropäischen Judenheiten herzustellen, um die Unterstützung deutscher Regierungsstellen zu sichern. Nach anfänglicher Unterstützung distanzierte sich die deutsche Regierung im Laufe des Kriegs zunehmend von dem Komitee. Zu den Bemühungen des KfdO vgl. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, bes. Kap. 7: Die Konzeption des Deutschen Komitees zur Befreiung der russischen Juden, 126–138. Vgl. dazu auch Vogt, Subalterne Positionierungen, 220 f.
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Konstruktion einer deutsch-zionistischen Interessengemeinschaft Das Deutsche Reich entwickelte relativ spät Ambitionen, sich innerhalb des europäischen Mächtekonzerts als Imperialmacht zu etablieren. In den 1880er und 1890er Jahren intensivierte es seine seit Mitte des Jahrhunderts bestehenden wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen mit dem Osmanischen Reich und begann allmählich, Großbritannien als einflussreichste europäische Macht in der Region abzulösen. Die Regierung in Berlin galt dem türkischen Sultan Abdülhamid II. als gern gesehene Partnerin, da sie im Gegensatz zu England und Frankreich, die seit den frühen 1880er Jahren weite Territorien des Osmanischen Reichs besetzt hielten und eine Aufteilung des Vielvölkerstaats anstrebten, lediglich wirtschaftliche Interessen in der Region verfolgte. Durch eine Zusammenarbeit mit Berlin versuchte Abdülhamid, den englischen, französischen und russischen Zugriff auf das Reich zu schwächen und gleichzeitig deutsche Investitionen und Militärmissionen für die Modernisierung des Lands und die Reform des Staatsapparats zu nutzen.41 Im Jahr 1890 wurde das erste Freundschafts- und Handelsabkommen zwischen Berlin und der Hohen Pforte unterzeichnet. Auf den Besuch Kaiser Wilhelms II. in Konstantinopel 1898 folgte ein Jahr später die Vereinbarung über den Bau der Bagdadbahn, in der sich geradezu symbolhaft das aggressive Eindringen des Deutschen Reichs in die etablierten Einflusssphären manifestierte.42 Auch intensivierte sich seit 1882 die deutsche Beteiligung an den osmanischen Heeresreformen stetig; sie fand 1913 ihren Höhepunkt in der Entsendung deutscher Militärexperten unter der Leitung von Generalleutnant Otto Liman von Sanders (1855–1929). Darüber hinaus hatte Palästina aufgrund seiner religiösen Bedeutung seit jeher auch deutsche Missionare, Wissenschaftler und Archäologen angezogen. Vor allem die pietistische Templergesellschaft gründete ab dem späten 19. Jahrhundert landwirtschaftliche Kolonien in Palästina. Ein Großteil der jungtürkischen Revolutionäre lehnte jedoch im Sommer 1914 aufgrund der deutschen Unterstützung des hamidischen Despoten ein Zusammengehen mit dem Deutschen Reich zunächst ab. Erst nachdem die Bemühungen der türkischen Regierung um ein Bündnis mit den Ententemächten erfolglos geblieben waren, unterzeichneten die Türken am 2. August ein Geheimabkommen mit Berlin, das das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg zum Bündnispartner der Mittelmächte machte.43 Mit dem Angriff der türkischen Flotte auf die russischen Schwarzmeerhäfen Odessa und Sewastopol trat das Osmanische Reich schließlich am 41 Vgl. Ahmad, The Late Ottoman Empire, 11. 42 Vgl. Trumpener, Germany and the End of the Ottoman Empire, 117. 43 Vgl. Ahmad, The Late Ottoman Empire, 13–16.
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29. Oktober 1914 an der Seite des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg ein. Der jüdischen Nationalbewegung hatte die deutsche Regierung nach den gescheiterten Verhandlungen Herzls zunächst keine weitere Beachtung geschenkt. Erst die 1913 entbrannte innerjüdische Auseinandersetzung zwischen den Zionisten und dem 1901 gegründeten antizionistischen Hilfsverein der deutschen Juden um die Frage nach der zukünftigen Lehrsprache des entstehenden jüdischen Erziehungswesens in Palästina lenkte die Aufmerksamkeit der deutschen Regierung wieder verstärkt auf den Zionismus. Der philanthropische Hilfsverein, der sich vorrangig der wirtschaftlichen und kulturellen Förderung der Juden in Osteuropa und dem Aufbau des jüdischen Bildungssystems in Palästina widmete, beschloss, Deutsch als Unterrichtssprache am neu gegründeten Technikum in Haifa zu verwenden. Dagegen hatten die Zionisten, die die Einführung des Hebräischen als Verkehrs- und Unterrichtssprache in sämtlichen jüdischen Lehranstalten als Teil einer umfassenden nationalen Agenda begriffen, vehement der Verbreitung von Fremdsprachen durch Einrichtungen in jüdischer Trägerschaft widersprochen. Auch die Beziehungen des zionistischen Büros zur deutschen Botschaft in Konstantinopel waren zunächst überschattet vom sogenannten Sprachenstreit. Die dortigen deutschen Beamten sahen wie ihre Kollegen in Berlin in der deutschen Sprache ein effektives Mittel friedlicher Einflussnahme und unterstützten die Position des Hilfsvereins, der mit seiner bildungspolitischen Programmatik der deutschen Außenpolitik dienlicher war als die nationale Zielsetzung der zionistischen Bewegung. Lichtheim konstatierte rückblickend für jene Jahre: »Ein amtliches Interesse Deutschlands am Zionismus bestand nicht.«44 Der deutsche Botschafter von Wangenheim, der seit 1912 die Interessen Berlins in Konstantinopel vertrat, weigerte sich gar, Vertreter der Zionistischen Organisation zu empfangen. Laut Lichtheim hatte die Auseinandersetzung mit dem Hilfsverein 1913 dazu geführt, »daß die Indifferenz der deutschen Behörden sich in eine ausgesprochene Gegnerschaft gegen den Zionismus« verwandelt habe.45 Lichtheim erkannte, welche Gefahren sich für die zionistische Arbeit in Palästina aus einer feindseligen Haltung Berlins ergeben konnten, und plädierte gerade vor dem Hintergrund des zunehmenden deutschen Einflusses im Osmanischen Reich für eine Intensivierung der Kontakte zu deutschen Regierungskreisen.46 In der Sprachenfrage blieb er jedoch unnachgiebig: »Wir müssen jetzt mit der deutschen Regierung Fühlung behalten, dagegen wäre es ein Fehler, wenn wir etwa nun unsererseits, um die deutsche Re44 Lichtheim, Rückkehr, 239. 45 Ebd. 46 Vgl. ebd., 340.
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gierung zu gewinnen, Versprechungen bezüglich unseres Schulprogramms machen würden.«47 Im Dezember 1913 war Victor Jacobson vom Ersten Botschaftsrat und Geschäftsträger des Deutschen Reichs, Gerhard von Mutius (1872–1934), erstmals in der Botschaft empfangen worden. Ihm war es allerdings nicht gelungen, von Mutius für den Zionismus zu gewinnen.48 Auch Otto Warburg, seit 1911 Präsident der Zionistischen Organisation, hatte sich in Berlin vergeblich um die Gunst des Auswärtigen Amts bemüht.49 Erst nachdem der Streit im Februar 1914 zum Nachteil des Hilfsvereins beigelegt worden war, gelang es den Zionisten allmählich, den deutschen Beamten ihre Position näherzubringen. Vor allem der Agitation Lichtheims war es zu verdanken, dass sich die deutsche Botschaft in den folgenden Wochen gegenüber der zionistischen Bewegung zunehmend offen zeigte. In zahlreichen Gesprächen und ausführlichen Denkschriften machte er die Mitarbeiter der deutschen Botschaft und des Auswärtigen Amts im Laufe des Frühjahrs 1914 mit der zionistischen Idee vertraut. Zu einem ersten Besuch Lichtheims in der deutschen Botschaft kam es am 27. Februar 1914.50 Auf Anregung Victor Jacobsons hatte Arthur Ruppin ein Memorandum verfasst und von 27 in Palästina lebenden deutschen Jüdinnen und Juden unterschreiben lassen, in dem er die zionistische Haltung im Sprachenstreit erläuterte und gegen die Anfeindungen des Hilfsvereins verteidigte. Die Übergabe dieses Memorandums an die deutschen Diplomaten bot Lichtheim die Gelegenheit zu einem ersten ausführlichen Gespräch mit dem Botschaftsrat von Mutius, der den krankheitsbedingt abwesenden Botschafter von Wangenheim vertrat.51 Auch wenn die wenige Tage zuvor vom Kuratorium des Technikums verfassten Beschlüsse,52 die eine Beilegung des Sprachenstreits im Sinne der zionistischen Bewegung bedeuteten, in der deutschen Botschaft mit Skepsis betrachtet wurden, hatte Lichtheim den Eindruck, »dass man uns jetzt – nach dem Siege – ernster als bisher betrachtet« und von Mutius »jedenfalls Entgegenkommen zeigen will«. Dennoch sei es »schwer, so einem blonden Goy das richtige Verständnis beizubringen«.53 47 CZA, Z3/798, Protokoll der Plenarsitzung des Zentralkomitees der ZVfD, 25. Januar 1914. 48 CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, 30. Dezember 1913, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 85–88. 49 Vgl. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 305 f.; CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, 30. Dezember 1913, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 85–88. 50 CZA, Z3/48, Lichtheim an das AK der ZO, 27. Februar 1914. 51 Vgl. CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, 30. Dezember 1913, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 85–88. Eine Auflistung der Unterzeichner findet sich bei Lichtheim, Rückkehr, 241. 52 O. A., Die Hebraisierung des Technikums, in: Die Welt, 27. Februar 1914. 53 CZA, Z3/48, Lichtheim an das AK der ZO, 27. Februar 1914. Vgl. Lichtheim, Rückkehr, 242.
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Erfolgreicher verlief ein Treffen der beiden im April. Mit der Absicht, eine »gewisse moralische Unterstützung unserer Sache«54 zu gewinnen und den ungünstigen Eindruck zu berichtigen, den die Zionisten im Zuge des Sprachenstreits bei den deutschen Behörden hinterlassen hatten, versuchte er, von Mutius davon zu überzeugen, dass die jüdische Besiedlung Palästinas auch den imperialistischen Zielen des Deutschen Reichs dienlich sei.55 Lichtheim setzte von Mutius auseinander, dass aufgrund einer besonderen historischen deutsch-jüdischen Beziehung die Mehrheit der nach Palästina einwandernden Jüdinnen und Juden sprachlich, kulturell oder wirtschaftlich mit Deutschland verbunden sei. Zudem befände sich das intellektuelle wie politische Zentrum der zionistischen Bewegung in Deutschland und auch ihre Institutionen in Palästina seien von deutschsprachigen Jüdinnen und Juden dominiert. Die Förderung der jüdischen Besiedlung Palästinas würde daher nicht nur einen Absatzmarkt für deutsche Waren eröffnen, sondern über die Verbreitung der deutschen Sprache und Kultur den Einfluss Berlins in der Region insgesamt stärken. Auch seien der deutschen Regierung bei einer prozionistischen Haltung die Sympathien der Judenheiten weltweit sicher.56 Eine jüdische Besiedlung Palästinas liege überdies im Interesse der türkischen Regierung. Als Beweis dafür nannte Lichtheim die in den voran gegangenen Monaten erfolgte Lockerung einiger für Jüdinnen und Juden geltender Einwanderungsbeschränkungen. Lediglich die Scheu vor der arabischen Bevölkerung hindere die Hohe Pforte an einer offenen Anerkennung der zionistischen Bewegung, die wesentlich zur Verbesserung der ökonomischen und kulturellen Entwicklung der türkischen Provinz beitragen werde. Als eine gegenüber dem Osmanischen Reich loyale Bevölkerung bilde der Jischuw zudem nicht nur ein Gegengewicht zu arabischen Unabhängigkeitsbestrebungen, sondern würde auch den Einfluss derjenigen europäischen Mächte schwächen, die nach Aufteilung des Vielvölkerreichs trachteten.57 54 CZA, L5/8, Lichtheim an das AK der ZO, 19. April 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 96–99, hier 99. 55 Ebd. 56 Lichtheims Argumentation war nicht neu. Max Bodenheimer versuchte bereits 1902 in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der ZVfD, das Auswärtige Amt von den wirtschaftlichen und kulturellen Vorteilen zu überzeugen, die sich für Deutschland aus einer Unterstützung der Zionisten ergeben würden. Er blieb letztendlich jedoch weit weniger erfolgreich als Lichtheim. Vgl. Denkschrift über die gegenwärtig in der deutschen Judenheit herrschenden Zustände und die durch den Zionismus angebahnte Lösung der damit im Zusammenhang stehenden Fragen, abgedruckt in: Bodenheimer (Hg.), Im Anfang der zionistischen Bewegung, 219–227. 57 CZA, Z3/48, Memorandum Lichtheims an die deutsche Botschaft in Konstantinopel, 16. April 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 89–95. Im Laufe der folgenden Wochen und Monate wiederholte Lichtheim diese Argumentation mehrfach in zahlreichen Briefen und Memoranden an die deutsche Botschaft in Konstan-
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Aber auch aus der längerfristigen nationalen Zielsetzung der zionistischen Bewegung machte Lichtheim gegenüber den deutschen Beamten von Anfang an keinen Hehl: »Die Juden gehen nicht nur zur Verbesserung ihrer ökonomischen Lage, sondern auch aus nationalreligiösen Gründen nach Palästina«, erklärte er in einem im Anschluss an das Gespräch mit von Mutius verfassten Memorandum den Kampf der Zionisten für das Hebräische als Muttersprache des Jischuw. Er versicherte jedoch, dass das Deutsche die favorisierte Hauptfremdsprache der neuen jüdischen Gemeinde bleiben werde.58 Noch deutlicher wurde Lichtheim gegenüber dem Ersten Dragoman59 der deutschen Botschaft Theodor Weber (1872–1956), dem er erklärte, »dass wir keine deutsche, sondern eine internationale, rein jüdische Bewegung sind; dass es sich bei uns nicht (wie bei Alliance oder Hilfsverein) um die Gründung einiger Schulen handelt, die zugleich als politisches Instrument einer Macht dienen sollen; dass es sich vielmehr um etwas grosses und zukunftsreiches handelt, das zunächst mit deutschen Interessen nichts zu tun hat, von einem höheren politischen Standpunkt aber das grösste Interesse der deutschen Regierung finden sollte. Wir wollen am Ostrande des Mittelmeeres ein modernes Kultur- und Wirtschaftszentrum schaffen, das direkt u. indirekt eine Stütze des Deutschtums sein wird; ich habe alle Argumente angeführt (deutsche Sprach- u. Wirtschaftsbeziehungen der Juden, ihre türkenfreundliche Gesinnung, Gegengewicht gegen die Araber, internationaler Einfluss auf Presse u. Finanzen, Dankbarkeit aller Juden, z. B. in Amerika, gegen Deutschland, wenn dieses uns stützt, politische Bedeutung eines Kulturstützpunktes für Deutschland als der künftigen Vormacht im nahen Orient).«60
Lichtheim konstruierte hier eine »politische Gemeinschaft der an sich verschiedenen [deutschen, türkischen und zionistischen] Interessen«, die freilich den Fortbestand sowohl des Osmanischen Reichs als auch der osmanischdeutschen Allianz zur Vorbedingung hatte.61 Im Grunde griff Lichtheim dabei einen von Max Nordau in den Diskussionen des siebten Zionistenkongresses von 1905 vorgebrachten Gedanken auf. Angesichts erster Anzeichen tinopel oder das Auswärtige Amt in Berlin. Vgl. auch Memorandum Lichtheims an das Auswärtige Amt, 3. November 1914, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 73–75. Lichtheim war nicht der einzige deutsche Zionist, der aus taktischen Gründen eine Verbindung zwischen Zionismus und deutschen außenpolitischen Zielen herzustellen suchte. Ähnlich wie Lichtheim argumentierte auch Kurt Blumenfeld in seiner Schrift Der Zionismus. Eine Frage der deutschen Orientpolitik (1915). 58 CZA, Z3/48, Memorandum Lichtheims an die deutsche Botschaft in Konstantinopel, 16. April 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 89–95, Zitat: 92. 59 Dragomane waren die in den Botschaften und Konsulaten der westlichen Länder im Osmanischen Reich tätigen Dolmetscher und Übersetzer. 60 CZA, Z3/50, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 29. November 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 124–128, hier 125. 61 Ebd., 126.
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nationaler Aspirationen der arabischen Bevölkerung hatte er bereits damals eine Interessengemeinschaft zwischen der Hohen Pforte und der zionistischen Bewegung sowohl gegen das die territoriale Integrität des Imperiums bedrohende Unabhängigkeitsstreben der Araber als auch gegen eine mögliche europäische Intervention postuliert.62 Lichtheim versuchte in seiner Argumentation darüber hinwegzutäuschen, dass das zionistische Ziel einer nationalen Autonomie innerhalb des Osmanischen Reichs den Interessen der jungtürkischen Regierung diametral entgegenstand. Die parlamentarischen Reformansätze zur Gleichstellung von Minderheiten waren mittlerweile einem radikalen Nationalismus gewichen, der eine ethnische Homogenisierung des Reichs anstrebte. Deutlich wurde dies vor allem im Umgang der Jungtürken mit der griechischen und armenischen Minderheit, deren Situation sich bereits im Zuge der Niederlagen des Osmanischen Reichs im Italienisch-Türkischen Krieg (1911−1912) sowie in den Balkankriegen (1912−1913) verschärft hatte.63 Auch die Vereinfachung der Naturalisationsbestimmungen für nichtosmanische Jüdinnen und Juden und die Abschaffung der Aufenthaltsbeschränkung für jüdische Palästinareisende auf drei Monate, des sogenannten roten Zettels, die Ende 1913 und in den ersten Monaten des Jahrs 1914 erfolgt waren und von Lichtheim gegenüber von Mutius als Zeichen des Wohlwollens angeführt wurden, konnten nicht als Ausdruck einer veränderten Grundhaltung gewertet werden.64 Vielmehr waren sie der Versuch, die Einwandernden zum Erwerb der osmanischen Staatsbürgerschaft zu drängen und damit den Einfluss der Großmächte einzuschränken. Auch hatte die türkische Regierung fälschlicherweise darauf spekuliert, über die zionistische Einwanderung an für die Sanierung des Reichs dringend benötigtes Kapital zu gelangen. Schon im Juli 1914, nachdem der türkischen Regierung klar wurde, dass diese Hoffnungen unbegründet waren, musste Lichtheim die Exekutive
62 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VII. Zionisten-Kongresses und des Ausserordentlichen Kongresses in Basel, 27. Juli – 2. August 1905, 25. 63 Vgl. Ahmad, Unionist Relations with the Greek, Armenian, and Jewish Communities of the Ottoman Empire, 1908–1914; McCarthy, The Ottoman Peoples and the End of the Empire, 89–93. 64 Die Beschränkung des Aufenthalts für jüdische Palästinareisende auf drei Monate wurde Ende Januar 1914 von den türkischen Behörden aufgehoben. Stattdessen wurde in der Folge versucht, die Neuankömmlinge zur Aufgabe ihrer Staatsbürgerschaft zu bewegen, um so einerseits die Einflussmöglichkeiten der europäischen Konsuln einzuschränken und andererseits den arabischen Widerstand gegen die jüdische Einwanderung abzuschwächen. Im Zuge dessen ordnete der türkische Innenminister Talât Pascha am 2. März 1914 die Erleichterung der Einbürgerungsbestimmungen für Juden an. Das Verbot des Landkaufs blieb für Juden weiterhin bestehen. Vgl. dazu Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, 171.
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der Zionistischen Organisation in Berlin über die Erneuerung der Aufenthaltsbeschränkungen informieren.65 In der deutschen Botschaft stießen Lichtheims Argumente vor allem bei Gerhard von Mutius auf großes Interesse und Lichtheim musste schon bald seinen ersten, wenig günstigen Eindruck von dem deutschen Botschaftsrat revidieren. Lichtheim war es gelungen, ihn nicht nur von den Vorteilen einer jüdischen Besiedlung Palästinas für das Deutsche Reich, sondern auch von der Notwendigkeit einer jüdischen Nationalbewegung zu überzeugen.66 Nach der ausführlichen Unterhaltung im April versprach von Mutius, der Regierung in Berlin über das Anliegen der zionistischen Bewegung und die vorgebrachten Vorteile einer deutschen Unterstützung zu berichten.67 Er machte Lichtheim jedoch klar, dass ein mögliches Engagement aus Rücksicht auf die jüdische Bevölkerung Deutschlands, die der zionistischen Idee mehrheitlich ablehnend gegenüberstand, nur begrenzt bleiben könne. Vor allem jedoch würde die türkische Regierung einer Fürsprache Berlins mit Misstrauen begegnen.68 Lichtheim versicherte, dass die Zionisten – sich der Grenzen einer möglichen deutschen Einflussnahme bewusst – lediglich »ein gewisses Wohlwollen, das sich vielleicht gelegentlich gegenüber den Türken äussern könne«, anstrebten.69 Schließlich kam auch für die Zionistische Organisation eine offizielle Bindung an das Deutsche Reich nicht infrage. Zum einen bestand stets die Gefahr einer Aufteilung des fragilen Vielvölkerstaats unter den europäischen Großmächten. Zum anderen konnte sich die zionistische Bewegung schon allein aufgrund ihrer internationalen Anhängerschaft nicht ohne Weiteres an eine bestimmte Regierung binden. Der für den Zionismus gewonnene Botschaftsrat von Mutius war es auch, der Lichtheim schließlich mit dem deutschen Botschafter zusammenbrachte. Mehr als 30 Jahre später erinnerte sich Lichtheim noch sehr genau an dieses erste Zusammentreffen mit Hans Freiherr von Wangenheim: Ein Dampfer hatte ihn am Morgen des 29. Juni 1914 den Bosporus hinauf in Richtung Schwarzes Meer nach Tarabya gebracht, wo sich die Sommerresidenzen der europäischen Botschaften befanden. Dort kam ihm auf der Uferpromenade ein in Schwarz gekleideter Reiter entgegen, der ihm einen fragenden Blick zuwarf. Und auch von Mutius, der das Treffen arrangiert hatte, schien über65 CZA, L5/11, Lichtheim an das AK der ZO, 14. Juli 1914. Bereits Anfang Juni 1914 hatte die türkische Regierung die zuvor abgeschaffte Aufenthaltsbeschränkung für jüdische Palästinareisende wieder in Kraft gesetzt. Vgl. Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, 208. 66 CZA, Z3/11, Lichtheim an das AK der ZO, 29. Juni 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 113–119. 67 CZA, L5/8, Lichtheim an das AK der ZO, 19. April 1914, abgedruckt in: ebd., 96–99. 68 CZA, Z3/11, Lichtheim an das AK der ZO, 29. Juni 1914, abgedruckt in: ebd., 113–119. 69 Ebd., 115.
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rascht beim Anblick Lichtheims, als dieser den Sommersitz der Botschaft betrat. Er registrierte das Befremden Lichtheims angesichts der reservierten Begrüßung und klärte den ahnungslosen Besucher auf: In Sarajevo waren am Tag zuvor der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand (1863–1914) und seine Frau, Herzogin Sophie Chotek (1868–1914), von Gavrilo Princip (1894–1918) ermordet worden. Bei dem Reiter, dem Lichtheim kurz zuvor begegnet war, hatte es sich um keinen Geringeren als den deutschen Botschafter gehandelt, der sich auf den Weg gemacht hatte, seinem österreichischen Kollegen zu kondolieren.70 Trotz des folgenschweren Ereignisses, dessen welthistorische Bedeutung in diesem Moment noch nicht zu erahnen war, empfing von Wangenheim den Vertreter der Zionistischen Organisation noch am selben Tag. Seinen Kollegen in Berlin berichtete Lichtheim später vom »Eindruck eines ganz aufrichtigen Wohlwollens«.71 Zwar machte auch von Wangenheim deutlich, dass sich Deutschland aus Rücksicht auf die türkische Regierung nicht offiziell engagieren könne. Er versicherte Lichtheim jedoch bereits in diesem ersten Gespräch, dass er persönlich die zionistische Bewegung »inoffiziell in seinem Wirkungskreis […] stets zu fördern suchen« wolle, und sagte ihm im Falle einer Verfolgung seine Unterstützung zu.72 Welche Bedeutung den Worten von Wangenheims zukommen sollte, zeigte sich schon bald nach Beginn des Kriegs in Europa. Obwohl das Osmanische Reich zunächst neutral blieb und erst im Oktober 1914 offiziell in den Krieg eintrat, verkündete die türkische Regierung bereits Ende Juli den Belagerungszustand in Palästina. Schon im August musste Lichtheim den deutschen Botschafter ein erstes Mal um Hilfe bitten, als die türkischen Behörden in Jaffa rund 200 russischen Jüdinnen und Juden die Einreise nach Palästina verwehrten. Zeitgleich hatte die russische Botschaft in Konstantinopel bei der türkischen Regierung interveniert und den Reisenden wurde schließlich gestattet, in Jaffa an Land zu gehen.73 Die deutsche Botschaft verwandte sich dabei von Anfang an für den Schutz sämtlicher Jüdinnen und Juden ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit. Im Falle der jüdischen Russinnen und Russen handelte es sich aus deutscher Sicht sogar um Angehörige eines Feindstaats. Rückendeckung erhielt von Wangenheim hierfür vom Auswärtigen Amt. Wie bereits erwähnt, hatten sich dort sowohl das Berliner Büro der Zionistischen Organisation als auch das Deutsche Komitee zur Befreiung der russischen Juden seit Beginn des Kriegs darum bemüht, die Unterstützung deutscher Regierungsstellen zu gewinnen. 70 Lichtheim, Rückkehr, 243. 71 CZA, Z3/11, Lichtheim an das AK der ZO, 29. Juni 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 113–119, hier 116. 72 Ebd. 73 Lichtheim, Rückkehr, 251 f.
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Letztere betrachteten die zionistische Bewegung als potenzielles Werkzeug, mit dessen Hilfe die Sympathien der Judenheiten weltweit gewonnen werden konnten.74 Dahinter verbarg sich freilich die von antisemitischen Motiven getragene Annahme eines international agierenden, die Geschicke der Weltpolitik beeinflussenden »Weltjudentums«, dessen Gunst zu gewinnen sei. Unterstaatssekretär Arthur Zimmermann (1864–1940) telegrafierte daher bereits am 30. August nach Konstantinopel, dass im Falle eines Kriegs zwischen Russland und dem Osmanischen Reich eine schonende Behandlung der russischen Jüdinnen und Juden im Interesse der türkischen Regierung läge.75 In den ersten Kriegsmonaten wiederholte er mehrfach in seinen Instruktionen an die Botschaft in Konstantinopel, dass in Hinblick auf jüdische Sympathien weltweit, vor allem jedoch auf die der Vereinigten Staaten, eine entgegenkommende Behandlung aller Jüdinnen und Juden ungeachtet ihrer Nationalität ratsam sei.76 Offiziell verschlechterte sich die rechtliche Situation der jüdischen Im migrierenden im September 1914, als die türkischen Behörden mit den Kapitulationen jene Privilegien für Nichtosmanen abschafften, die den neuen Jischuw bisher vor Anfeindungen geschützt hatten. Dennoch blieb es zunächst ruhig in Palästina. Um Loyalitätskonflikten entgegenzutreten, hatte Groß rabbiner Chaim Nahum unter den jüdischen Neuankömmlingen, insbesondere unter denen aus Russland, für die Naturalisation geworben und sich bei den türkischen Behörden für die Vereinfachung der Einbürgerungsbestimmungen eingesetzt. Im Gegenzug versicherte Innenminister Talât Pascha, dass die jüdische Bevölkerung Palästinas während des Kriegs unbehelligt bleibe.77 Mit der Ernennung Cemal Paschas zum Oberkommandierenden der Vierten Türkischen Armee und Militärgouverneur Syriens im Dezember desselben Jahrs radikalisierte sich die türkische Minderheitenpolitik in Palästina 74 Vgl. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 200–207. 75 Zimmermann an Wangenheim, 30. August 1914, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 67 f. 76 Am 1. November 1914 wies Zimmermann von Wangenheim an, dahin zu wirken, »daß Juden ohne Rücksicht auf Nationalität unbelästigt bleiben«. Nach einem Besuch Lichtheims im Auswärtigen Amt am 2. November bekräftigte Zimmermann diese Anweisung erneut. Vgl. Zimmermann an Wangenheim, 1. November 1914, in: ebd., 71 f.; Zimmermann an Wangenheim, 3. November 1914, in: ebd., 76 f. Lichtheim hatte sich nach Kriegsbeginn zunächst nach Berlin begeben, da er sich als Wehrpflichtiger zum Kriegsdienst melden musste. Nachdem er von den deutschen Behörden freigestellt worden war, kehrte er Mitte November 1914 nach Konstantinopel zurück. 77 Bereits Ende August hatte das türkische Innenministerium auf Betreiben des Oberrabbiners Chaim Nahum den Zionisten zugesagt, die unverzügliche Masseneinbürgerung aller nichtosmanischen Juden zu ermöglichen. Auch die Bestimmung, dass ein mindestens fünfjähriger Aufenthalt im Osmanischen Reich der Einbürgerung vorausgehen müsse, wurde suspendiert. Vgl. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 318.
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jedoch dramatisch. Unter Cemal Paschas Regierungsgewalt wurde eine Politik der Verfolgung sowohl gegenüber der arabischen Bevölkerung Palästinas als auch gegenüber dem wachsenden Jischuw eingeleitet, der einerseits selbst separatistischer Bestrebungen verdächtigt, andererseits als potenzieller Katalysator arabischer Unabhängigkeitsbestrebungen gefürchtet wurde.78 Den ersten Höhepunkt dieser Politik bildete der eingangs beschriebene Befehl Cemal Paschas vom 17. Dezember 1914 zur Ausweisung aller – seit der am 2. November erfolgten Kriegserklärung Russlands an das Osmanische Reich als feindliche Ausländer geltenden – russischen Jüdinnen und Juden aus Palästina, die dank der schnellen Reaktion Lichtheims und des unverzüglichen Eingreifens des deutschen und des amerikanischen Botschafters verhindert werden konnte. Nur zwei Tage später, am 19. Dezember 1914, hatte Cemal Pascha sogar die Deportation sämtlicher nichtosmanischen Jüdinnen und Juden angekündigt, sah aber wahrscheinlich aufgrund der erfolgreichen Intervention der Großmächte von der Umsetzung dieses Befehls ab.79 Auch im Nachgang der Dezemberereignisse bemühten sich von Wangenheim und Morgenthau, die unsichere Lage in Palästina zu entschärfen. In Verhandlungen mit der türkischen Zentralregierung gelang es ihnen zu Beginn des Jahrs 1915, weitere Vereinfachungen der für die Einbürgerung nichtosmanischer Jüdinnen und Juden geltenden Bestimmungen durchzusetzen. Fortan sollten alle, die dies wünschten, ungeachtet ihrer Nationalität und der Dauer ihres bisherigen Aufenthalts im Land, osmanische Staatsbürger werden können. Die Gebühren hierfür wurden gesenkt, bestehende Fristen wurden aufgehoben und naturalisierte Juden für ein Jahr vom Militärdienst in der osmanischen Armee befreit.80 Auf die Bemühungen der beiden Botschafter zurückblickend, resümierte Lichtheim: »Im Ganzen kann man sagen, dass wir seit Bestehen der Bewegung noch nie eine so starke Unterstützung hatten.«81 Auch Arthur Ruppin, der die Ereignisse in Jaffa vor Ort beobachtet und Lichtheim alarmiert hatte, würdigte anerkennend das Verdienst Lichtheims: »Es kann kein Zweifel darüber herrschen, dass unsere Lage hier ganz unhaltbar geworden wäre, wenn es Ihnen dank der energischen Unterstützung, die Sie dort bei der amerikanischen und deutschen Botschaft gefunden haben, nicht gelungen wäre, Cemal Pascha zum Einlenken zu veranlassen.«82 78 Vgl. Morris, Righteous Victims, 60. 79 Vgl. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 319. 80 Lichtheim, Die Naturalisation der Juden in der Türkei und die Lage in Palästina, in: JR, 19. Februar 1915. 81 CZA, Z3/51, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 6. Januar 1915, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 139–143, hier 143. 82 CZA, Z3/52, Ruppin an Lichtheim, 26. März 1915.
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Trotz des deutlichen Signals der Botschafter, sich im Falle einer Bedrohung für den Jischuw zu verwenden, blieb die Haltung der türkischen Lokalbehörden in Palästina zum Zionismus auch weiterhin offen feindselig. Am 22. Januar 1915 befahl Cemal Pascha die Schließung der Anglo-Palestine Bank und forderte deren Liquidierung, da sie als zionistisches Finanzinstitut das Notenprivileg der türkischen Banque Ottomane verletzen würde. Eine dauerhafte Schließung konnte nur dank der Vermittlung des amerikanischen Botschafters Morgenthau verhindert werden.83 Wenige Tage später, am 25. Januar 1915, ließ der Kaymakam84 von Jaffa Beha-ed-Din85 eine Proklamation in der hebräischsprachigen Zeitschrift Ha-Ḥ erut abdrucken, in der weitere gegen die zionistische Bewegung gerichtete Maßnahmen angekündigt wurden: Symbolische Manifestationen der nationaljüdischen Bewegung wie die blau-weiße Flagge oder die Marken des Jüdischen Nationalfonds sollten konfisziert und sämtliche zionistischen Organisationen aufgelöst werden. Der Besitz der Nationalfondsmarken sollte sogar mit dem Tod bestraft werden und auch die Verwendung des Hebräischen im Schriftverkehr wurde verboten. Gleichzeitig betonte die Erklärung, dass es sich ausschließlich um Maßnahmen gegen das die Einheit des Osmanischen Reichs bedrohende separatistische Streben der Zionistinnen und Zionisten handelte und sich keinesfalls gegen die jüdische Minderheit als solche richtete: »Die ehrwürdige Regierung hat in ihrem Widerstand gegen das gefährliche Element bekannt als Zionismus, der für die Errichtung einer jüdischen Regierung in dem palästinensischen Bezirk des Osmanischen Reichs kämpft und damit sein eigenes Volk in Gefahr bringt, die Konfiszierung sämtlicher Marken, zionistischen Flaggen, Geldscheine, Banknoten etc. angeordnet und die Auflösung aller zionistischen Organisationen und Vereinigungen, die heimlich gegründet wurden, angewiesen. Es ist uns nun bekannt geworden, dass andere Störenfriede in böswilliger Absicht verleumderisch behaupten, dass sich unsere Anordnungen gegen alle Juden richteten. Diese haben keine Geltung für all jene Juden, die an unserer Vereinbarung festhalten. Wir hoffen und beten, dass sie in Zukunft sicher sein werden, wie sie es auch in der Vergangenheit waren. Lediglich die Zionisten und der Zionismus, dieses korrupte, aufrührerische und rebellische Element, müssen zusammen mit anderen Gruppen mit solch illusorischen Bestrebungen bezwungen werden.«86
83 Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 321 f. 84 Ein Kaymakam war der oberste Beamte eines Bezirks im Osmanischen Reich. 85 Zu Beha-ed-Din ist nicht viel bekannt. Er war ab Oktober 1914 Kaymakam von Jaffa und der jüdischen Einwanderung nach Palästina äußerst feindlich gesinnt. Schon bei seinem Amtsantritt erklärte er seine Gegnerschaft zum Zionismus. Vgl. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 197 f. 86 Ha-Ḥ erut, 25. Januar 1915 (hebr.). Für eine englische Version des Zitats vgl. Auron, The Banality of Indifference, 64 f.
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Meldungen über die besorgniserregenden Ereignisse in Palästina gelangten über die jüdische Exilgemeinde in Alexandria schnell auch in die amerikanische Presse, die die deutsche Regierung als Bündnispartnerin des Osmanischen Reichs zumindest mitverantwortlich machte für die türkische Politik. Der deutsche Botschafter in Washington, Johann Heinrich Graf von Bernstorff (1862–1939), zeigte sich vor allem besorgt über die antideutsche Stimmung innerhalb der amerikanisch-jüdischen Öffentlichkeit und drängte Ende Januar in einem Brief an das Auswärtige Amt darauf, die Vorwürfe schnellstmöglich zu entkräften.87 Ähnlich wie in anderen europäischen Hauptstädten war man auch in Berlin davon überzeugt, dass die amerikanischen Judenheiten entscheidenden Einfluss auf die außenpolitische Linie Washingtons nehmen könnten. Eine Berichterstattung zugunsten des Deutschen Reichs in der jüdischen Presse der Vereinigten Staaten, so die Überzeugung der deutschen Diplomaten, würde einen amerikanischen Kriegseintritt aufseiten der Entente verhindern. In Konstantinopel forderte von Wangenheim daher mit Nachdruck von der türkischen Zentralregierung, Cemal Pascha und dessen Verbündete – den Kaymakam von Jaffa Beha-ed-Din und den örtlichen Militärkommandanten Hassan Bey – zu Zurückhaltung zu gemahnen. »Diese beiden Kerls, diese Halunken müssen weg, länger sehe ich mir die Schweinerei nicht an«, soll er in Bezug auf die beiden Letztgenannten sogar gegenüber Lichtheim geäußert haben.88 Auch dieser war der Überzeugung, dass die Hauptverantwortung für die antizionistische Politik in Palästina bei Cemal Pascha und den beiden Lokalpolitikern Beha-ed-Din und Hassan Bey lag und nicht der Hohen Pforte angelastet werden könne. Im Gegenteil hatte sich diese in der Vergangenheit bereits mehrfach gefällig gezeigt. Gegenüber der Berliner Leitung der Zionistischen Organisation erklärte Lichtheim im Februar 1915: »Vorläufig muss anerkannt werden, dass die Zentralregierung durch die Erlaubnis der Naturalisation die Lage der russischen Juden sehr erleichtert hat. Der Druck, der durch die angedrohte Ausweisung der Nichtottomanisierten ausgeübt wurde, war unklug, aber die tatsächliche Ausweisung der 600 Leute in Jaffa ist ohne Wissen der Zentralregierung erfolgt und diese hat auch in vielen anderen Beschwerdefällen Entgegenkommen gezeigt.«89
Tatsächlich war Konstantinopel auch diesmal kooperativ. Bereits wenige Tage später konnte Lichtheim nach Berlin berichten, dass der Ministerrat sich anscheinend »grundsätzlich für eine Änderung der bisherigen Politik in
87 Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 323. 88 CZA, Z3/51, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 5. Februar 1915. 89 Ebd.
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Palästina entschieden« habe.90 Er vermutete, dass der deutsche Botschafter von Wangenheim diesmal gegenüber der türkischen Zentralregierung »sehr energisch aufgetreten ist«.91 Kurze Zeit später wurde Beha-ed-Din seines Postens in Jaffa enthoben und nach Konstantinopel versetzt, der Anglo-Palestine Bank wurde die Wiedereröffnung gestattet und den noch nicht naturalisierten, als feindliche Ausländer geltenden Jüdinnen und Juden wurde zugesichert, dass sie keine weiteren Repressalien zu befürchten hätten. Die Marken des Nationalfonds blieben verboten, ihr Besitz sollte jedoch nicht wie angedroht mit dem Tode, sondern lediglich mit einer Geldbuße geahndet werden.92 Sichtlich angeschlagen von den turbulenten Ereignissen, wandte sich Lichtheim scherzhaft an Berlin: »Ein Vergnügen ist die hiesige Position zur Zeit nicht. Nach meiner gestrigen diplomatischen Tour war ich ganz kaputt. Senden Sie mir bitte ein Haarfärbemittel, denn wenn es so weiter geht, werde ich bald graue Haare haben.«93 Trotz aller Versicherungen der türkischen Zentralregierung kam es in Palästina zu weiteren Zwischenfällen. Um den Jischuw weiter zu schwächen, ließ Cemal Pascha im Februar 1915 in jüdischem Besitz befindliche Waffen konfiszieren und übergab sie zum Teil an die arabische Bevölkerung. Nicht gewillt, die jüdischen Gemeinden den türkischen Behörden und einer feindlich gesinnten arabischen Umgebung gänzlich schutzlos auszusetzen, weigerten sich Israel Shochat (1886–1961) und seine Ehefrau Mania (1880–1961), die Begründer des jüdischen Wachbunds Ha-Shomer, die Waffen an die türkischen Behörden zu übergeben. Cemal Pascha nutzte die Gelegenheit, um einmal mehr gegen einflussreiche Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung vorzugehen.94 So wurden das Ehepaar Shochat sowie Yehoshua Hankin (1864–1945), der die meisten der umfangreicheren Landkäufe in Palästina für die Zionistische Organisation getätigt hatte, verhaftet und nach Bursa verbannt.95 Auch die beiden führenden Mitglieder der Po’ale-Ẓion-Bewegung Yitzhak Ben-Zvi (1884–1963) und David Ben-Gurion (1886–1973), später beide hochrangige israelische Politiker, wurden unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer geheimen Verbindung, deren Interessen denen des Staats entgegenstünden, verhaftet und mussten im März 1915 schließlich das
90 CZA, Z3/51, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 9. Februar 1915. 91 Ebd. 92 CZA, Z3/52, Lichtheim an Isaac Straus, 27. März 1915, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 146–155. 93 CZA, Z3/51, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 8. Februar 1915. 94 Auron, The Banality of Indifference, 65. 95 CZA, Z3/52, Lichtheim an Isaac Straus, 27. März 1915, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 146–155.
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Osmanische Reich verlassen.96 Zu Beginn des Monats hatte Cemal Pascha auch von der deutschen Botschaft gefordert, Arthur Ruppin als Leiter des Palästina-Amts in Jaffa abzusetzen. Lichtheim hatte sich daraufhin mit drastischen Worten an den Ersten Dragoman Theodor Weber gewandt und gebeten, dem Wunsch Cemal Paschas nicht nachzugeben. Dabei erwiesen sich die deutschen Bemühungen, in der amerikanischen Öffentlichkeit eine prodeutsche Stimmung zu erzeugen und auf keinen Fall mit der antizionistischen Politik der türkischen Regierung in Verbindung gebracht zu werden, in diesem wie in vielen anderen Fällen als wirkungsvolles Druckmittel. Die antisemitischen Vorurteile ausnutzend, warnte Lichtheim, dass die Ausweisung Ruppins in jüdischen Kreisen den größten Unwillen hervorrufen würde. »Sie würde mehr als alles andere, was bisher geschehen ist, als Kriegserklärung gegen den Zionismus aufgefasst werden und würde die Wirkung aller unserer beruhigenden Versicherungen aufheben.«97 Lichtheims Einwand wurde verstanden. Im Auftrag von Wangenheims ließ Weber den türkischen Innenminister Talât Pascha davon in Kenntnis setzen, dass die deutsche Botschaft der Bitte Cemal Paschas nicht nachkommen werde.98 Zu einem tatsächlichen Politikwechsel in Palästina kam es erst im Frühjahr 1915. Während sich das Vorgehen gegen die armenische Bevölkerung des Osmanischen Reichs zu dieser Zeit deutlich radikalisierte, entspannte sich die Lage der palästinensischen Juden vorerst wieder.99 Cemal Pascha schlug einen demonstrativ versöhnlichen Ton an. Bei einem Besuch des hebräischen Gymnasiums in Jaffa Anfang März, laut Lichtheim »der von Behaeddin [Beha-ed-Din] besonders gehaßten Hochburg des Zionismus«,100 würdigte er die »Treue und […] die guten Eigenschaften des jüdischen Elements«.101 Zeitgleich erließ er eine Proklamation, die die Loyalität aller in Palästina lebenden Jüdinnen und Juden feststellte und anderslautende Anschuldigungen gar unter Strafe stellte. Berichtete Arthur Ruppin im Februar noch von einer »Art Zionistenverfolgung«,102 vermeldete er Ende März »völlige Ruhe« aus Palästi-
96 CZA, Z3/52, Jacobson an Lichtheim, 9. März 1915; Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1914, 224. Ben-Zvi und Ben-Gurion gelangten über Afrika in die Vereinigten Staaten und kehrten beide 1918 mit den amerikanischen Freiwilligen der Jüdischen Legion Jabotinskys nach Palästina zurück. Vgl. Watts, The Jewish Legion and the First World War, 147. 97 CZA, Z3/52, Lichtheim an Weber, 6. März 1915, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 144 f., hier 145. 98 CZA, Z3/52, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 9. März 1915. 99 Zum Völkermord an den Armeniern vgl. Suny, »They Can Live in the Desert but Nowhere Else«. 100 Lichtheim, Rückkehr, 298. 101 O. A., Ein Besuch von Djemal Pascha in Tel Awiw, in: JR, 16. April 1915, 122. 102 CZA, Z3/51, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 8. Februar 1915.
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na.103 »Wir sind heute schon in dem für uns ganz ungewohnten Zustand, dass augenblicklich niemand verhaftet, niemand von der Ausweisung bedroht ist und keine Untersuchungen politischen Charakters im Gange sind«,104 schrieb er Ende März 1915 nach Konstantinopel. Im Namen des Jischuw bedankte sich Lichtheim persönlich bei den beiden Botschaftern, deren Interventionen maßgeblich zur Entspannung der Lage in Palästina beigetragen hatten. Auch Otto Warburg sandte aus Berlin ein Dankesschreiben, das Morgenthau mit der Versicherung beantwortete, auch in Zukunft keinen Aufwand zu scheuen, »allen jüdischen Institutionen in Palästina zu dienen und sie stets zu unterstützen«.105 Doch trotz des energischen Beistands, den die zionistische Bewegung durch die deutsche Botschaft seit Beginn des Kriegs erfahren hatte, ahnte Lichtheim, dass Berlin nicht gewillt war, offen für den Zionismus einzutre ten.106 Egmont Zechlin bestätigt Lichtheims Eindruck nach Auswertung der Akten im Archiv des Auswärtigen Amts. Die prozionistische Politik der deutschen Regierung in Palästina zielte vor allem auf die Gunst der amerikanischen Judenheiten, denen enormer Einfluss auf die öffentliche Meinung und die politischen Kreise Amerikas zugeschrieben wurde. Um in ebenjenen Kreisen eine prodeutsche Haltung zu erwirken, war sie bereit, gelegentlich zugunsten des Jischuw bei der Hohen Pforte zu intervenieren – jedoch nur, solange es nicht das kriegswichtige deutsch-türkische Verhältnis gefährdete, und »ohne eine eigene positive Konzeption in der Palästinafrage zu verfolgen«.107 Innerhalb des deutsch-türkisch-zionistischen Interessengeflechts blieb für die deutsche Regierung ein ungestörtes Verhältnis zum türkischen Bündnispartner bis zum Ende des Ersten Weltkriegs oberste Priorität, schließlich hielt das türkische Heer, solange es gegen die russischen und britischen Armeen kämpfte, bedeutende alliierte Kräfte von den europäischen Kriegsschauplätzen fern.108
Eine Anweisung an die deutschen Vertretungen im Osmanischen Reich Das willkürliche Vorgehen der türkischen Militärbehörden im Dezember 1914 und in den ersten Monaten des folgenden Jahrs hatte Lichtheim die Abhängigkeit zionistischer Interessen von den europäischen Großmächten 103 CZA, Z3/52, Ruppin an Lichtheim, 24. März 1915. 104 Ebd., Ruppin an Lichtheim, 26. März 1915. 105 Ebd., Henry Morgenthau an Otto Warburg, 31. März 1915. 106 Ebd., Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 9. März 1915. 107 Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 325. 108 Ebd., 326.
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vor Augen geführt und ihn veranlasst, sich trotz der relativen Ruhe, die sich im Frühjahr 1915 einzustellen schien, bei der deutschen Botschaft nicht nur um eine Unterstützung »von Fall zu Fall«, sondern um eine grundsätzliche Schutzzusage zu bemühen.109 In den folgenden Monaten bekräftigte Lichtheim in Gesprächen mit dem deutschen Botschaftspersonal mehrfach die Annahme einer deutsch-jüdischen Interessengemeinschaft in Palästina. Er brachte dabei dieselben Argumente vor wie in einem der ersten Gespräche mit Botschaftsrat von Mutius im Jahr zuvor: Eine Besiedlung Palästinas durch europäische Juden würde den Einfluss des Deutschen Reichs in der Region stärken und käme über die Aufwertung der Provinz durch Fortschritt auch der osmanischen Regierung zugute. Darüber hinaus verwies Lichtheim immer wieder darauf, dass die internationale, insbesondere die amerikanische Presse die deutsche Regierung als Bündnispartnerin des Osmanischen Reichs für die türkischen Gewaltakte mitverantwortlich machen würde.110 Gegenüber Richard von Kühlmann (1873–1948), der bereits im November 1914 von Mutius als Botschaftsrat abgelöst hatte, erklärte Lichtheim, dass der »bisher gewährte Schutz nicht ausreicht« und die Zionisten deshalb ihre Zusage, »den deutschen Schutz im Ausland hervorzuheben, auf die Dauer nicht halten können«.111 Angesichts des deutschen Werbens um die Gunst der amerikanischen Öffentlichkeit sollte sich dies als schlagkräftiges Argument erweisen. Gleichzeitig sprachen auch die Berliner Mitglieder des Engeren Aktionskomitees, Otto Warburg und Arthur Hantke, im Auswärtigen Amt vor, nachdem Lichtheim sie instruiert hatte, dort »vorzuschlagen, dass die deutschen Konsuln darüber informiert werden, dass die Regierung uns sympathisch gegenübersteht u. dass sie grundsätzlich unsere Sache im Rahmen ihrer Amtsbefugnisse fördern sollen«.112 Zugute kamen Lichtheim und seinen Kollegen in Berlin auch die Expansionsvorstellungen der deutschen Außenpolitik. Bereits in den letzten beiden Vorkriegsjahren hatten Südosteuropa und der Nahe Osten als Zielgebiete des deutschen Imperialismus an Bedeutung gewonnen. Die Idee eines »deutschen Wirtschaftsraums Berlin-Bagdad« erfreute sich unter deutschen Publizisten, Politikern und Ökonomen großer Popularität. Insbesondere in national109 CZA, Z3/50, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 24. und 26. Dezember 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 132–139. 110 CZA, Z3/51, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 6. Januar 1915, abgedruckt in: ebd., 139–143; CZA, Z3/52, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 13. März 1915; CZA, Z3/54, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 13. August 1915, abgedruckt in: ebd., 160–163; CZA, Z3/55, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 21. Oktober 1915. 111 CZA, Z3/52, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 13. März 1915. 112 CZA, Z3/53, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 30. Juli 1915, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 158–160, hier 159.
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liberalen Kreisen zirkulierte die Vision eines von Deutschland politisch und wirtschaftlich dominierten »Mitteleuropas«, das sich in den verschiedenen vorgebrachten Varianten über weite Teile Zentral-, Ost- und Südosteuropas sowie zum Teil in den Nahen und Mittleren Osten erstreckte.113 In diesem Zusammenhang rückte auch der Zionismus zunehmend in den Fokus der einflussreichen politischen Kreise des Reichs. Angesehene Publikationen wie die von Friedrich Naumann (1860–1919) herausgegebene Zeitschrift Die Hilfe, Hans Delbrücks (1848–1929) Preußische Jahrbücher oder die von Paul Rohrbach (1869–1956) und Ernst Jäckh (1875–1959) herausgegebene Wochenschrift Das grössere Deutschland, die auch in Regierungskreisen rezipiert wurden, diskutierten seit Kriegsbeginn wiederholt die politische Bedeutung des Zionismus für die auswärtige Politik des Kaiserreichs.114 Gleichzeitig verstärkten auch die deutschen Zionisten im Laufe des Jahrs 1915 ihre Öffentlichkeitsarbeit in den politischen Kreisen des Reichs.115 Das Kartell Jüdischer Verbindungen, der zionistisch geprägte Dachverband jüdischer Studentenverbindungen im Deutschen Reich, veranstaltete im März eine Reihe wöchentlich stattfindender Vorträge im Preußischen Abgeordnetenhaus über die Nützlichkeit des Zionismus für die deutsche Außenpolitik. Den Auftakt machte der Publizist Paul Rohrbach mit einem Vortrag über Die Zukunft des Orients. Er propagierte Palästina als Ansiedlungsgebiet für die zu erwartenden Massen jüdischer Flüchtender aus Osteuropa, die sich durch die deutschen Gebietsgewinne an der Ostfront nun unter deutscher Herrschaft befanden und eine Chance sahen, den Pogromen im zaristischen Russland Richtung Westen zu entfliehen116 – ein Vorschlag, den Paul de Lagarde (1827–1891) im Zusammenhang mit deutschen Kolonisationsplänen in Ostund Südosteuropa bereits 1853 vorgebracht hatte117 und den um die Jahrhundertwende auch völkisch-antisemitische Vereinigungen wie der Deutschbund oder der Alldeutsche Verband wieder aufgriffen.118 Darüber hinaus, so Rohrbach, würde eine jüdische Besiedlung Palästinas den kulturellen und
113 Für eine zusammenhängende Darstellung verschiedener deutscher Südosteuropakonzepte vom Kaiserreich bis zur Zeit des Nationalsozialismus vgl. Thörner, »Der ganze Südosten ist unser Hinterland«. 114 Vgl. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 253–255. 115 Dazu ausführlich auch Weber, Projektionen auf den Zionismus, 83–90. 116 O. A., Die Zukunft des Orients, in: JR, 12. März 1915, 86 f. 117 De Lagarde, Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik, 34 f. 118 Zur Programmatik des Deutschbunds vgl. die Schrift des Gründers Lange, Reines Deutschtum. Zum Alldeutschen Verband vgl. die Schrift des Vorsitzenden Claß, Denkschrift betreffend die national-, wirtschafts-, und sozialpolitischen Ziele des deutschen Volkes im gegenwärtigen Kriege. Zur Geschichte des Verbands vgl. Kruck, Geschichte des Alldeutschen Verbandes 1890–1939. Zur Person Heinrich Claß vgl. Leicht, Heinrich Claß 1868–1953.
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wirtschaftlichen Einfluss des Deutschen Reichs im Nahen Osten festigen.119 Weitere Referenten im Preußischen Abgeordnetenhaus waren der jüdische Philosoph Martin Buber mit einer Rede über Die Juden als Volk des Orients120 und die Besonderheiten des jüdischen Nationalismus, der bis 1918 einflussreichste Vertreter der sogenannten deutschen Orientpolitik, Ernst Jäckh, der die Juden Palästinas als ideales Bindeglied zwischen »Orient« und »Okzident« betrachtete,121 sowie der Schriftsteller Alfons Paquet (1881–1944), der über Erlebnisse in jüdischen Kolonien122 berichtete. Gleichzeitig erschien eine Reihe von Schriften deutscher Zionisten, die die Bedeutung des Zionismus im Lichte deutscher Kriegsziele betrachteten.123 In der 1915 erschienenen Broschüre Die Juden der Türkei argumentierte Davis Trietsch124 (1870–1935), zionistischer Schriftsteller und Mitglied des Deutschen Levante-Vereins zur Förderung der deutschen Wirtschaftsinteressen im Orient, dass »die Juden in gewissem Sinne in Deutschland ein vorderasiatisches« und umgekehrt »in der Türkei ein deutsches Element« wären und gerade daher die jüdische Gemeinde in Palästina der Unterstützung des Deutschen Reichs bedürfe.125 Kurt Blumenfeld erläuterte im selben Jahr und mit denselben pragmatischen Argumenten, mit denen Lichtheim die deutschen Diplomaten in Konstantinopel zu gewinnen suchte, in den Preußischen Jahrbüchern und in Das größere Deutschland die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Vorteile einer jüdischen Besiedlung Palästinas für die deutsche Außenpolitik im Nahen
119 Vgl. o. A., Die Zukunft des Orients, in: JR, 12. März 1915, 86 f. 120 Vgl. o. A., Die Juden als Volk des Orients, in: JR, 19. März 1915, 95. 121 Vgl. o. A., Deutsche Weltpolitik und Türkische Entwicklung, in: JR, 26. März 1915, 105. 122 Vgl. o. A., Erlebnisse in jüdischen Kolonien, in: JR, 9. April 1915, 117. 123 Laut Stefan Vogt beruhte die von den deutschen Zionisten konstruierte deutsch-zionistische Interessengemeinschaft auf einer Fehleinschätzung des Wesens des deutschen Imperialismus: »Die Zionisten sahen sich also weder als direkte Protagonisten oder Verbündete eines deutschen Imperialismus, noch unterstützten sie einfach dessen aggressive Politik. Vielmehr projektierten sie das Judentum und das jüdische Gemeinwesen in Palästina als Partner einer als gutartig und human imaginierten deutschen Weltmacht.« Ders., Subalterne Positionierungen, 211. 124 Davis Trietsch war ein zionistischer Wirtschaftspolitiker und Mitbegründer des Jüdischen Verlags. Er beteiligte sich intensiv an den Debatten um die deutschen Kriegsziele und identifizierte sich im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen zionistischen Bewegung offen und in besonders radikaler Form mit den imperialistischen Zielen der deutschen Außenpolitik. Für die meisten deutschen Zionisten war eine offene Unterstützung deutscher Kriegsziele undenkbar. Zum einen schloss die Neutralitätserklärung der ZO vom Dezember 1914 eine offizielle Parteinahme für das Deutsche Reich aus, zum anderen konnte der Großteil von ihnen ohnehin keine Sympathien für die imperialistischen Ziele des Deutsches Reichs aufbringen. Vgl. ders., Die Welt nach dem Kriege. Zu Trietsch vgl. auch Vogt, Subalterne Positionierungen, 200–211; Gebhard, Davis Trietsch – Der vergessene Visionär. 125 Trietsch, Die Juden der Türkei, 3.
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Osten.126 Auch Nahum Goldmann (1895–1982), der während des Kriegs unter anderem für die deutsche Nachrichtenstelle für den Orient127 tätig war, berief sich in seiner Schrift Von der weltkulturellen Bedeutung und Aufgabe des Judentums auf eine Wesensverwandtschaft von Deutschtum und Judentum, aufgrund derer ein jüdisches Palästina den deutschen Interessen diene und daher von Berlin zu unterstützen sei.128 Erheblichen Einfluss auf den Entscheidungsprozess im Auswärtigen Amt, das sich im September 1915 prinzipiell mit der von Lichtheim gewünschten Direktive einverstanden erklärte, hatte auch eine antisemitische Denkschrift des deutschen Konsuls in Jaffa, Heinrich Brode (1874–1936), genommen.129 Trotz der für ihn unzweifelhaft nationalistischen, auf einen separaten Staat zielenden Agenda der Bewegung, die nicht im Interesse der türkischen Regierung sein könne, sprach sich Brode für eine Unterstützung der zionistischen Aspirationen aus. Auch er betonte die wirtschaftlichen Vorteile einer jüdischen Besiedlung Palästinas für das Deutsche Reich, unterstrich die Wichtigkeit der jüdischen Sympathien bei der Gewinnung der öffentlichen Meinung und verwies auf den »Nutzen« des Zionismus für die »deutsche Nation«. Zwar werde er nicht die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden nach Palästina ziehen, aber »er wird bewirken, dass die Millionen Juden, denen der Boden in Russland zu heiss wird, nicht mehr wie bisher den Westen überfluten«.130 In einer streng vertraulichen Ergänzung zum Memorandum wurde er noch deutlicher: Der Zionismus verdiene schon deshalb Beachtung, weil er einen »wesentlichen Beitrag zur Lösung der Judenfrage in Deutschland« biete. »Ja, vom Standpunkt des zielbewussten Antisemiten sollte man sogar wünschen, dass möglichst jeder Jude die Konsequenzen des Zionismus zieht, damit unser Volk von [sic] einer zu starken Durchdringung mit orienta lischem Blute bewahrt wird.«131 Die von ihm vorgebrachten Argumente waren nicht neu, vielmehr spiegeln sie die vorausgegangenen Debatten und zeigen, wie sehr der politische 126 Blumenfeld, Der Zionismus; ders., Die politische Bedeutung des Zionismus, in: Das größere Deutschland, 27. Februar 1915, 290–298. 127 Die deutsche Nachrichtenstelle für den Orient (NfO) war eine Einrichtung des deutschen Militärs und des Auswärtigen Amts, die während des Ersten Weltkriegs im Nahen Osten tätig war. Dort führte sie prodeutsche Propagandaaktivitäten und nachrichtendienstliche Aufgaben durch. Ausführlich zur NfO Bragulla, Die Nachrichtenstelle für den Orient. 128 Goldmann, Von der weltkulturellen Bedeutung und Aufgabe des Judentums (erschienen in der von Ernst Jäckh herausgegebenen Reihe Weltkultur und Weltpolitik). 129 Vgl. CZA, Z3/55, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 19. September 1915; Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 257–259. 130 Brode, Der Zionismus und der Weltkrieg, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 136–171, hier 171. 131 Ders., Geheime Bemerkungen zu dem Memorandum Der Zionismus und der Weltkrieg, abgedruckt in: ebd., 172–182, hier 181.
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Diskurs jener Jahre von antisemitischen Denkweisen durchdrungen war. Sicher ist die außenpolitische Linie Berlins in Bezug auf Palästina nicht ausschließlich auf antisemitische Motive zurückzuführen, ihre Wirkung auf die Entscheidungsprozesse jedoch auch nicht zu unterschätzen. Die Anweisung erging schließlich am 22. November 1915. Der neue deutsche Botschafter in Konstantinopel, Paul Graf Wolff Metternich (1853–1934), unterrichtete mit ihr sämtliche deutschen Konsularbehörden im Osmanischen Reich, dass die »Kaiserliche Regierung den gedachten Bestrebungen des Judentums freundlich gegenübersteht und ihre wohlwollende Haltung auch zu bestätigen bereit ist«.132 Darüber hinaus ermächtigte das Schreiben die Konsuln, eigenständig zugunsten jüdischer Interessen bei den türkischen Regierungsstellen zu intervenieren, und intendierte explizit den Schutz aller im Osmanischen Reich lebenden Jüdinnen und Juden ungeachtet ihrer Nationalität.133 Die Zionisten wurden dazu verpflichtet, den Inhalt des Schreibens nicht an die Öffentlichkeit oder an die Presse weiterzuleiten. Zum einen schreckte die deutsche Regierung vor einer offiziellen Verbindung mit der zionistischen Bewegung nach wie vor zurück. Zum anderen musste sie sowohl auf die Interessen des türkischen Bündnispartners als auch auf die antizionistische Stimmung der deutschen jüdischen wie nichtjüdischen Öffentlichkeit Rücksicht nehmen. Bezeichnenderweise war jedoch eine Zirkulation des Texts innerhalb zionistischer Kreise, vor allem in den Vereinigten Staaten, ausdrücklich erwünscht. Das Schreiben sollte die amerikanischen Juden von der Ernsthaftigkeit des deutschen Engagements überzeugen und so für eine positive Berichterstattung sorgen.134 Ein geheimes, nur an das Konsulat in Jerusalem versandtes Zusatzschreiben,135 das auch Lichtheim bis in die 1960er Jahre hinein nicht kannte,136 erklärte sogar ausdrücklich eine »freundliche Haltung gegenüber dem Zionismus und seinen Bestrebungen«.137 Auch wenn es sich hier nur um ein für den internen Gebrauch bestimmtes Arbeitspapier handelte, so verdeutlichte 132 Anweisung der deutschen Botschaft in Konstantinopel an das Konsulat in Jerusalem, 22. November 1915, abgedruckt in: Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 422 f. 133 Ebd. 134 Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 341; Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 267. 135 Ebd., 265. 136 Lichtheim erfuhr erst im Zuge der Forschung Isaiah Friedmans von der Existenz des geheimen Zusatzdokuments. Vgl. die Korrespondenz der beiden: CZA, A56/28. 137 Anweisung der deutschen Botschaft in Konstantinopel an das Konsulat in Jerusalem, 22. November 1915, abgedruckt in: Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 422 f.
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es doch, wie weit die Unterstützung der deutschen Regierung zu jener Zeit ging. Überdies würdigte das Zusatzschreiben mit dem Hinweis, die Anweisung sei »durch Schritte veranlasst worden, die die Leitung der zionistischen Bewegung im Auswärtigen Amt, sowie der hiesige Vertreter der Zionisten bei der Kaiserlichen Botschaft bereits seit geraumer Zeit wiederholt unternommen haben«, explizit die zentrale Rolle Lichtheims beim Zustandekommen der Anweisung.138 Vor dem Hintergrund der wirkmächtigen historischen Ereignisse in den kommenden Jahren, allen voran der Balfour-Deklaration, wurde der von der deutschen Botschaft erlassenen Anweisung von der Historiografie nur wenig Bedeutung beigemessen.139 Dabei spielte die Annäherung der Zionisten an die deutsche Regierung auch bei der Entstehung der Balfour-Deklaration und ihrer Bestätigung im englischen Kabinett eine nicht unwesentliche Rolle, befürchtete die britische Regierung doch eine ähnliche offizielle Deklaration von deutscher Seite und wollte dieser zuvorkommen.140 Vor allem innerhalb englischsprachiger zionistischer Publikationen wurde die Balfour-Deklaration im Nachgang als Wendepunkt in der jüdischen Geschichte porträtiert, der die Rückkehr des jüdischen Volks ins Heilige Land ermöglichte und seine nationale Wiedergeburt in Palästina unmittelbar zur Folge hatte. Die britische Regierung wurde nicht nur zur Erlöserin des jüdischen Volks aus dem 2 000-jährigen Exil verklärt, sondern auch zur Befreierin von der vier Jahrhunderte währenden, als Tyrannei stilisierten Herrschaft des Osmanischen Reichs.141 Die Bemühungen der deutschen Regierung zum Schutz des Jischuw in den kritischen Momenten während des Ersten Weltkriegs wurden dagegen kaum thematisiert und gerieten letztendlich in Vergessenheit. In seiner Wirkung ist der deutsche Erlass an die Konsuln von 1915 sicher nicht mit der Erklärung der britischen Regierung zu vergleichen, dennoch erwies er sich in den Jahren des Kriegs von unschätzbarem praktischem Wert für die zionistische Bewegung. Auch ist die Anweisung nicht als grundlegender Richtungswechsel im Verhältnis der deutschen Regierung zum Zionismus zu betrachten – nach wie vor war Berlin nicht gewillt, offizielle Verbindungen mit der zionistischen Bewegung zu unterhalten. Sie ist jedoch mehr als nur die Formalisierung der bereits seit Beginn des Kriegs praktizierten Interventionspolitik. Sie erweiterte den Handlungsspielraum der einzelnen Konsuln und ermöglichte im Notfall deren direktes Eingreifen, ohne dass es 138 Ebd. 139 Zechlin bezeichnet sie als in ihrer »praktischen Auswirkung begrenzt« und »offenbar nicht sehr wirksam«. Ders., Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 339 und 351. 140 Stein, The Balfour Declaration, 216. 141 Vgl. Renton, The Zionist Masquerade, 81–89.
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einer Rücksprache mit der Botschaft in Konstantinopel bedurft hätte – eine nicht zu unterschätzende Erleichterung in Anbetracht der oftmals unsicheren und langwierigen Kommunikationswege jener Zeit. Die im Dezember 1914 von Cemal Pascha angeordnete Deportation der russischen Jüdinnen und Juden hatte gezeigt, dass ein unverzügliches Eingreifen entscheidend sein konnte. Das Telegramm Arthur Ruppins, in dem er Lichtheim über den Befehl des türkischen Gouverneurs informierte, erreichte seinen Adressaten erst am Folgetag, sodass trotz der von Lichtheim angestoßenen Intervention der deutschen und amerikanischen Botschafter mehrere Hundert Personen nach Ägypten verschifft worden waren. Auch von den später noch ausführlicher beschriebenen Entwicklungen in Palästina im Frühjahr 1917, als Cemal Pascha angesichts der herannahenden britischen Armee die Evakuierung Jaffas und Jerusalems anordnete, erlangte Lichtheim nur im Nachhinein in vollem Umfang Kenntnis, da ihn die Briefe und Telegramme aus Jaffa mit erheblicher Verspätung erreichten.142 Es waren Heinrich Brode, seit 1916 Generalkonsul in Jerusalem, und Karl Emil Schabinger (1877–1967), der Nachfolger Brodes als Konsul in Jaffa, die nach eigenem Ermessen bei den türkischen Behörden Einspruch gegen diese Anordnungen einlegten. Auch wenn die Deportation der jüdischen Bevölkerung Jaffas ins Landesinnere nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte, so gelang es doch, die Evakuierung Jerusalems zu verhindern.143 Es bleibt festzuhalten, dass die Anweisung – ungeachtet aller im Laufe des Kriegs erfolgten Personalwechsel innerhalb der Botschaft – eine politische Linie Berlins festschrieb, die maßgeblich zum Schutz des Jischuw beitrug. Wenn sie auch kein offizielles Bündnis zwischen der deutschen Regierung und der Zionistischen Organisation bedeutete, so stellte sie doch die bis dahin weitreichendste politische Unterstützung einer europäischen Regierung für die zionistische Bewegung dar. Darüber hinaus hatte die Anweisung der deutschen Botschaft auch Implikationen für die seit Beginn des Kriegs tobenden innerzionistischen Richtungskämpfe. Angesichts ihres internationalen Charakters hatte die Zionistische Organisation im Dezember 1914 ihre Neutralität erklärt; das Zentralbüro war jedoch unter der Leitung von Warburg und Hantke in Deutschland verblieben. Während ein Großteil der kontinental-europäischen Zionisten diese Entscheidung trug, plädierten sowohl die amerikanischen Anhänger der Bewegung als auch einige russische Zionisten für eine Verlegung der Leitung ins neutrale Ausland. Allen voran hatten Chaim Weizmann und Vladimir Jabotinsky für eine probritische Ausrichtung plädiert und gefürchtet, eine einseitig an Deutschland orientierte Politik könne der Bewegung perspektivisch 142 CZA, Z3/63, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 11. Mai 1917, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 187–190. 143 Vgl. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 347–353.
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zum Nachteil gereichen. Als Kompromiss wurde beschlossen, Vertretungen auch in Kopenhagen und London einzurichten, um gleichzeitig politische Lobbyarbeit in den neutralen und den Ententestaaten betreiben zu können.144 Der Erlass bestätigte den offiziellen Kurs der Zionistischen Organisation und legitimierte die innerhalb der Bewegung umstrittene Entscheidung, die Leitung in Berlin zu belassen, wodurch ein enger Kontakt zu den deutschen Behörden überhaupt erst möglich wurde. Gewiss mögen bei dieser Entscheidung auch patriotische Sentimentalitäten einzelner deutscher Zionisten eine Rolle gespielt haben, entscheidend waren jedoch pragmatische Überlegungen. Im Dezember 1914 hielt es ein Großteil von ihnen für wahrscheinlich, dass Deutschland siegreich aus dem Krieg hervorgehen und über die Zukunft Palästinas mitentscheiden würde. Gegenüber dem in New York ansässigen Provisional Executive Committee for General Zionist Affairs (PEC),145 das während des Kriegs als beratende Instanz neben das Engere Aktionskomitee trat, rechtfertigte Lichtheim die Entscheidung folgendermaßen: »Diese Neutralität bedeutet nicht, dass wir gar keine Politik treiben dürfen. Im Gegenteil! Wir haben die Pflicht, mit Rücksicht auf die politischen Zukunftsmöglichkeiten schon jetzt politische Vorbereitungen zu treffen und die nötigen Verbindungen anzuknüpfen. Wir haben das Recht, mit jeder Macht in Verbindung zu treten, die an der Zukunft des näheren Orients und besonders an der Zukunft Palästinas interessiert ist, um für unsere Bewegung Interesse und Wohlwollen zu erwecken.«146
Auch in seinen Memoiren reflektierte er nachträglich über das Dilemma, das sich für die zionistische Bewegung im Ersten Weltkrieg ergab: »Für die zionistische Politik war es gewiß ein Problem, wieweit sie sich mit der deutschen Regierung einlassen sollte. Wir durften uns nicht in den Dienst der deutschen Propaganda stellen und die Grundsätze unserer Bewegung nicht verleugnen. Andererseits blieb uns in jenen gefährlichen Kriegszeiten gar nichts anderes übrig, als mit der deutschen Regierung Fühlung zu halten und ihren Schutz für die jüdische Siedlung in Palästina zu erwirken.«147 144 Vgl. ebd., 236 f. 145 Das PEC wurde Ende August 1914 auf Initiative von Louis Brandeis (1856–1941) und Shmaryahu Levin (1867–1936) gegründet und trat temporär als beratende Instanz neben die Exekutive der ZO in Berlin. Ursprüngliches Anliegen der Neugründung war es, ein zionistisches Leitungsgremium in einem neutralen Land zu schaffen. Mit der Umstrukturierung der Exekutive im Dezember 1914 und der Eröffnung eines weiteren Leitungsbüros in Kopenhagen blieben die Aktivitäten des PEC jedoch auf die Vereinigten Staaten beschränkt, wo es parallel zur bestehenden Federation of American Zionists (FAZ) operierte. Mit dem Zusammenschluss von PEC und FAZ Mitte 1918 wurde diese institutionelle Doppelung aufgelöst. Vgl. Friesel, The Zionist Leadership of Louis D. Brandeis, 113. 146 CZA, L5/14, Lichtheim an PEC, 31. Dezember 1914. 147 Lichtheim, Rückkehr, 276.
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Über die Grenzen der deutschen Unterstützung machte sich Lichtheim jedoch schon während seiner Zeit in Konstantinopel keine Illusionen. Mag die Regierung in Berlin im Schutz des jüdischen Palästina eine Möglichkeit der Einflussnahme im Nahen Osten gesehen haben, so war der Zionismus innerhalb der deutschen Weltkriegspolitik jedoch kein so gewichtiger Faktor, dass sie deshalb einen Bruch des für sie kriegswichtigen Bündnisses mit dem Osmanischen Reich riskiert hätte. In Anspielung auf die an der armenischen Bevölkerung verübten Verbrechen konstatierte Lichtheim: »Dass Deutschland […] sein Bündnis mit der Türkei nicht lösen kann und wird, selbst wenn es den Türken einfallen sollte, alle Zionisten aufzuhängen, dürfte ohne weiteres klar sein.«148 Dennoch war es maßgeblich dem Eingreifen der deutschen Staatsvertreter zu verdanken, dass die Befehle Cemal Paschas oftmals nicht zur vollständigen Umsetzung kamen. Neben den wiederholten Interventionen bei der türkischen Zentralregierung erleichterten die deutschen Behörden die Arbeit der Zionisten enorm, indem sie die Befreiung der deutschen Mitglieder der Zionistischen Exekutive vom Militärdienst erwirkten149 und Lichtheim in Konstantinopel die Benutzung ihres telegrafischen Codes und des diplomatischen Kurierdienstes gestatteten.150 Letzteres hatte sicher seine ganz eigene Wirkung auf die türkischen Behörden. Arthur Ruppin bewertete die Nutzung der Kommunikationskanäle der Botschaft in seinen Memoiren folgendermaßen: »Die Tatsache, dass Djemal Pascha wusste, dass die Deutsche Botschaft von jüdischer Seite über sein Verhalten zu den Juden immer informiert wurde, mag ihn von mancher geplanten Maßnahme abgehalten haben. Er war zwar ein Freund der Franzosen und hasste die Deutschen, aber er fürchtete sie und wollte Konflikte mit ihnen vermeiden.«151
Die Unterstützung der amerikanischen Botschafter Im Gegensatz zu den europäischen Großmächten verfolgten die Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts keine übergeordneten wirtschaftlichen oder territorialen Interessen im Osmanischen Reich. Beeinflusst von der evangelischen Missionsbewegung des 19. Jahrhunderts, waren die Leitmotive seiner Nahostpolitik am Vorabend des Kriegs vorrangig religiöser und karitativer Natur. Vor dem Hintergrund der Pogrome im zaristischen Russland und der Massaker an der armenischen Bevölkerung suchte sich Amerika dort zunehmend als Schutzmacht der religiösen Minderheiten zu 148 CZA, Z3/53, Lichtheim an Isaak Straus, 6. Juli 1915. 149 Vgl. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 270. 150 Vgl. Lichtheim, Rückkehr, 283. 151 Ruppin, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, 277.
Die Unterstützung der amerikanischen Botschafter
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etablieren.152 Bereits in den 1880er Jahren war die amerikanische Botschaft in Konstantinopel für viele der gestrandeten jüdischen Geflüchteten aus Osteuropa die erste Anlaufstelle.153 Mit der Präsidentschaft Woodrow Wilsons (1913–1921) rückte Palästina verstärkt ins Blickfeld amerikanischer Regierungspolitik. Schon im Wahlkampf hatte Wilson der jüdischen Wählerschaft versprochen: »If ever I have the occasion to help in the restoration of the Jewish People to Palestine I shall surely do so.«154 Als frommem Presbyterianer galt Wilson die Rückkehr des jüdischen Volks nach Palästina als Erfüllung biblischer Prophezeiungen.155 Wilson hatte, stark beeinflusst von amerikanischen Zionisten wie Louis Brandeis und Stephen S. Wise (1874–1949), allmählich auch politisches Interesse an der zionistischen Bewegung und der Idee einer jüdischen Heimstätte in Palästina entwickelt.156 Zum Ausdruck kam diese Haltung auch in seinen Instruktionen an Henry Morgenthau, als dieser im November 1913 das Amt des amerikanischen Botschafters in Konstantinopel antrat: »Anything that you can do to improve the lot of your co-religionists is an act that will reflect credit upon America, and you may count on the full power of this Administration to back you up.«157 Dabei hatte der 1856 in Mannheim geborene Morgenthau den Posten zunächst abgelehnt, da er ihn als einen dezidiert jüdischen, praktisch als den einzigen im diplomatischen Dienst für Juden erreichbaren, begriff.158 Erst Stephen S. Wise gelang es, Morgenthau von der Bedeutung dieses Amts angesichts der Situation des Jischuw zu überzeugen.159 Am Tag seiner Abreise aus Amerika, dem 1. November 1913, notierte Morgenthau in seinem Tagebuch erkennbar versöhnt: »I am delighted to go.«160 Erste Kontakte zum neuen amerikanischen Botschafter knüpften die Konstantinopler Zionisten bereits Ende Dezember 1913.161 Schnell erkann152 Vgl. Oren, Power, Faith, and Fantasy, 325–329; Bryson, American Diplomatic Relations with the Middle East, 1784–1975, 58–74. 153 Adler / Margalith, With Firmness in the Right, 42–44. 154 Zit. nach Oren, Power, Faith, and Fantasy, 357. 155 Christison, Perceptions of Palestine, 26. 156 Manuel, The Realities of American-Palestine Relations, 116. 157 Morgenthau, All in a Life-Time, 175. 158 Seit der Präsidentschaft Grover Clevelands dienten zwei amerikanische Diplomaten jüdischer Herkunft wiederholt in Konstantinopel: Oscar S. Straus (1887/88; 1898/99; 1909/10) und Solomon Hirsch (1889–1892). Wilson rechtfertigte seine Entscheidung gegenüber Morgenthau folgendermaßen: »Constantinople is the point at which the interest of American Jews in the welfare of the Jews of Palestine is focused, and it is almost indispensable that I have a Jew at that post.« Zit. nach Henry Morgenthau III., Mostly Morgenthaus, 103. 159 Urofsky, A Voice that Spoke for Justice, 113 f. 160 Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus, Eintrag vom 1. November 1913, 1. 161 Lichtheim, Rückkehr, 235; Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus, Eintrag vom 29. Dezember 1913, 12.
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ten sie, dass Morgenthau dem Zionismus als nationaler Bewegung sehr reserviert gegenüberstand. Dennoch pflegten Lichtheim und Jacobson – »the zionist twins«, wie Morgenthau sie nicht ohne Spott in seinen Tagebüchern nannte – enge Beziehungen zur amerikanischen Botschaft.162 Sie unterrichteten Morgenthau nicht nur stets über die neuesten Entwicklungen in Palästina, sondern setzten ihm auch regelmäßig in ausführlichen Gesprächen die Ideen der jüdischen Nationalbewegung auseinander und versorgten ihn mit zionistischer Literatur.163 Lichtheim schaffte es so zumindest zeitweise, die Gunst Morgenthaus zu gewinnen, und wurde schon bald zu dessen »Berater in allen jüdischen Fragen«.164 Dennoch hielt es Lichtheim für »sehr wertvoll, wenn Morgenthau von Amerika aus beeinflusst würde«, und bat das Berliner Büro, »hierüber sogleich nach Amerika zu schreiben oder besser zu telegraphieren. Wenn [Judah L.] Magnes, [Solomon] Schechter, Nathan Straus oder andere geeignete Personen ihn von der Richtigkeit unseres Standpunktes zu überzeugen suchen, so wäre dies von grossem Nutzen.«165 Im Frühjahr 1914 gelang es Lichtheim außerdem, den amerikanischen Konsul in Jerusalem Samuel Edelmann, der für Morgenthau eine Reise mit der American Bible Society nach Kairo, Jerusalem und Damaskus plante, davon zu überzeugen, auch einen Zwischenstopp in Tel Aviv und Petah Tikwa in Morgenthaus Reisepläne aufzunehmen.166 Dort führte ihn Arthur Ruppin durch die jüdischen Neugründungen und machte ihn mit den Zielen der zionistischen Bewegung vertraut. Auch besuchte Morgenthau Einrichtungen des Hilfsvereins der deutschen Juden, der Alliance Israélite Universelle und des B’nai B’rith und kam mit anderen prominenten Persönlichkeiten des Jischuw 162 Lowry, The Young Turk Triumvirate, Ambassador Henry Morgenthau, and the Future of Palestine, December 1913–January 1916, 158. 163 Morgenthau vermerkt in einem Tagebucheintrag vom 2. Juni 1914, dass Lichtheim ihm u. a. Arthur Ruppins Die Juden der Gegenwart vorbeigebracht hatte. Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus, 63. 164 Lichtheim, Rückkehr, 235. In seinen Memoiren beschreibt Lichtheim ein fast freundschaftliches Verhältnis zu Morgenthau. Erstaunlicherweise finden sich in Morgenthaus autobiografischen Schriften, die zu seinen Lebzeiten erschienen sind, keine Hinweise auf eine Verbindung zu den Konstantinopler Zionisten, was sich sicher zum Teil mit dem dezidiert antizionistischen Standpunkt erklären lässt, den er nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten einnahm. Morgenthau hielt den Zionismus für »a surrender, not a solution«. Vgl. ders., All in a Life-Time, 385. Lowry, der Morgenthaus Tagebücher und Korrespondenzen ausgewertet hat, zeichnet ein anderes Bild, nach dem durchaus sehr enge Verbindungen zwischen Lichtheim und Morgenthau bestanden. Ders., The Young Turk Triumvirate, Ambassador Henry Morgenthau, and the Future of Palestine, December 1913–January 1916, 158. Zu Morgenthaus Antizionismus vgl. auch ders., Morgenthau on Zionism and Palestine. 165 CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, 30. Dezember 1913, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 85–88, hier 88. 166 Lichtheim, Rückkehr, 236.
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wie David Yellin, Nahum Sokolow, Israel Auerbach und Aaron Aaronsohn ins Gespräch.167 Ebendiese Reise war es, die Morgenthaus Haltung zum Zionismus ändern sollte. Hoch erfreut stellte Stephen S. Wise fest, dass Morgenthau »zu der Ansicht bekehrt wurde, dass den Juden eine Chance zur Verwirklichung ihres Verlangens […] nach einer quasinationalen Existenz gegeben werden müsse«.168 Auch gegenüber Jacobson und Lichtheim bestätigte der Botschafter nach seiner Rückkehr nach Konstantinopel anerkennend »nochmals die guten Eindrücke, die er in Palästina erhalten« habe.169 Er versprach, die Bewegung zu unterstützen, und versicherte, bereits gegenüber dem türkischen Innenminister Talât Pascha und dem türkischen Großwesir Said Halim Pascha seine Wertschätzung für die Arbeit der Zionisten signalisiert zu haben.170 In seinen Erinnerungen fasste Lichtheim Morgenthaus politische Wandlung bis zum Sommer 1914 so zusammen: »Sechs Monate vorher wusste er vom Zionismus so gut wie nichts; im Juni 1914 war er in ständiger Fühlung mit uns, hatte Palästina, wenn auch nur flüchtig, kennengelernt und der türkischen Regierung zu verstehen gegeben, dass er ein Freund der jüdischen Kolonisation sei, und hatte der amerikanischen Regierung einen günstigen Bericht über die Anfänge der zionistischen Arbeit in Palästina erstattet. Ein Zionist war er noch immer nicht, aber doch soweit für die Sache gewonnen, dass wir in der Folgezeit immer auf seine Unterstützung zählen konnten.«171
Signifikant zunehmen sollte die Bedeutung der amerikanischen Botschaft als Schutzherrin der jüdischen Bevölkerung mit dem Eintritt des Osmanischen Reichs in den Krieg. Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen Konstantinopels zu den Ententemächten vertrat sie stellvertretend die Interessen Letzterer und zeichnete somit auch verantwortlich für die im Osmanischen Reich lebenden russischen, französischen und englischen Jüdinnen und Juden.172 Trotz der erfolgreich abgewendeten Ausweisung vom Dezember 1914 drohte ihnen als feindlichen Ausländern auch in den darauffolgenden Monaten die Deportation oder Internierung. Wie bereits erwähnt, erwirkte Morgenthau in gemeinsamer Anstrengung mit dem deutschen Botschafter von Wangenheim zu Beginn des Jahrs 1915 bei den türkischen Behörden eine 167 Diese Reise wird beschrieben in: Lichtheim, Rückkehr, 236; Morgenthau, Mostly Morgenthaus, 135–151; Ruppin, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, 255; Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus, Einträge vom 2. bis 16. April 1914, 40–48. 168 Stephen S. Wise an Henry Morgenthau, 25. Mai 1914, zit. nach Morgenthau, Mostly Morgenthaus, 149. 169 CZA, Z3/49, Lichtheim an das AK der ZO, 12. Mai 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 102 f., hier 102. 170 Ebd. 171 Lichtheim, Rückkehr, 238 f. 172 Adler / Margalith, With Firmness in the Right, 63.
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Erleichterung der Einbürgerungsbestimmungen für diese Personen.173 Darüber hinaus organisierte er die sichere Ausreise für diejenigen, die sich nicht naturalisieren lassen konnten oder wollten. Eigentlich war den Angehörigen feindlicher Staaten während des Kriegs die Ausreise aus dem Osmanischen Reich untersagt. Mit Zustimmung der türkischen Regierung konnten jedoch im Laufe des Sommers 1915 mehrere Tausend englische, russische und französische Jüdinnen und Juden auf amerikanischen Kriegsschiffen Palästina verlassen. Indem Morgenthau es ihnen ermöglichte, zwischen Naturalisation und Ausreise zu wählen, konnte ihre unsichere Lage bis zum Herbst desselben Jahrs abschließend geklärt werden.174 Neben der politischen Unterstützung gelang es Lichtheim über die amerikanische Botschaft und in enger Zusammenarbeit mit jüdischen zionistischen wie nichtzionistischen Kreisen in Amerika, essenzielle finanzielle Hilfe für den Jischuw zu organisieren.175 Die ohnehin angespannte wirtschaftliche Lage Palästinas hatte sich nach Kriegsbeginn erheblich verschlechtert. Vor allem die orthodoxe jüdische Gemeinde, die sich mehrheitlich in den als heilig geltenden Städten Jerusalem, Hebron, Safed und Tiberias konzentrierte, war auf die Halukka, die organisierte Sammlung von Spendengeldern in den Diasporagemeinden, angewiesen. Aber auch die vorrangig aus Osteuropa stammenden Einwanderinnen und Einwanderer, die sich in den landwirtschaftlichen Neugründungen oder den Küstenstädten Jaffa und Haifa niedergelassen hatten, waren wirtschaftlich vom Ausland abhängig. Durch die kriegsbedingte Blockade wichtiger Handelswege wurde der Export von palästinensischen Waren wie Zitrusfrüchten und Wein jedoch unmöglich. Die Spenden aus den Krieg führenden Staaten Europas wiederum konnten nicht mehr nach Palästina transferiert werden. Im Frühjahr und Sommer 1915 wurde die wirtschaftliche Lage durch eine Heuschreckenplage, die einen Großteil der Ernte vernichtete, zusätzlich verschärft. Über Vermittlung der Botschaft der bis 1917 neutralen Vereinigten Staaten gelang es jedoch, die in Amerika gesammelten Hilfsgüter, vor allem die des American Jewish Joint Distribution Committee (Joint)176 und des PEC, auf der USS Vulcan nach Palästina zu verschiffen.177 Im Laufe des Kriegs über173 Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 215. 174 Lichtheim, Rückkehr, 308; Adler / Margalith, With Firmness in the Right, 64 f. 175 CZA, Z3/74, Bericht über die »Unterstützung der palästinensischen Juden im Laufe der Kriegszeit durch die amerikanischen Juden und die amerikanische Regierung«, o. D. [am 26. November 1917 in Berlin eingegangen]. 176 Das American Jewish Joint Distribution Committee ist eine 1914 gegründete Hilfsorganisation der US-amerikanischen Juden, die während des Ersten Weltkriegs Spenden für die Not leidende jüdische Bevölkerung Europas und Palästinas sammelte. 177 Laut Lichtheim brachten im Laufe des Kriegs insgesamt 13 amerikanische Schiffe rund 670 000 Dollar nach Palästina. Vgl. ders., Rückkehr, 250. Morris gibt eine Gesamtsumme von 1,25 Millionen Dollar amerikanischer Hilfsgelder für den Jischuw während des Kriegs
Die Unterstützung der amerikanischen Botschafter
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mittelten zunächst Morgenthau und ab September 1916 sein Nachfolger Abram Elkus178 (1867–1947) wiederholt die Forderungen Ruppins, Jacobsons und Lichtheims an die amerikanischen Zionisten und transferierten die gewünschten Beträge nach Palästina.179 Auch europäische Gelder wurden bald nach Kriegsbeginn über die amerikanische Botschaft an die zionistischen Büros in Konstantinopel und Palästina überführt.180 Auf gleiche Weise konnte der Jischuw im Sommer 1916, als Krankheiten wie Typhus, Cholera und Ruhr grassierten und eine Hungersnot drohte, mit lebensnotwendigen Nahrungsmitteln und medizinischen Hilfsgütern versorgt werden.181 Auch zu Abram Elkus, den Lichtheim als nüchternen, aber freundlichen und hilfsbereiten Selfmademan mittleren Alters beschrieb, mit scharfem Verstand und überzeugt von den wilsonschen Idealen, pflegte er »recht vertrauensvolle und harmonische Beziehungen«.182 Morgenthau war im Sommer nach Amerika zurückgekehrt, um Woodrow Wilson erneut im Präsidentschaftswahlkampf zu unterstützen, jedoch nicht ohne Lichtheim bei Elkus eingeführt zu haben. Morgenthau versicherte gegenüber Lichtheim, auch sein Nachfolger werde »Sie sicherlich mit der gebotenen Aufmerksamkeit behandeln, da er mit allem Jüdischen zutiefst sympathisiert«.183 Elkus ließ sich noch am Tag seiner Ankunft in Konstantinopel, dem 11. September 1916, von Lichtheim über alle »schwebenden jüdischen Angelegenheiten politischer und philanthropischer Art informieren«.184 Während seiner Amtszeit wurden die von Morgenthau eingeleiteten Hilfsaktionen für den Not leidenden Jischuw fortgesetzt.185 Elkus stieß jedoch sehr viel stärker als sein Vorgänger auf den Widerstand Cemal Paschas. Eine von amerikanischen Zionistinnen und Zionisten organisierte Ärztemission, die über die Botschaft abgewickelt werden sollte, wurde von Cemal Pascha boykottiert und kam nicht zustande. Auch verhinderte er wiederholt die Anlandung von mit Lebensmitteln und Medikamenten beladenen Schiffen in Jaffa.186
an. Vgl. ders., Righteous Victims, 85. Laut Bryson brachte die USS Vulcan 700 Tonnen Lebensmittel nach Palästina. Vgl. Bryson, American Diplomatic Relations with the Middle East, 1784–1975, 62. 178 Zu Elkus’ Dienstjahren in Konstantinopel vgl. ders., The Memoirs of Abram Elkus. 179 Vgl. Manuel, The Realities of American-Palestine Relations, 144. 180 Vgl. Lichtheim, Rückkehr, 250. 181 CZA, Z3/61, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 17. November 1916; vgl. auch Manuel, The Realities of American-Palestine Relations, 146. 182 Lichtheim, Rückkehr, 351. 183 Zit. nach ebd., 343. 184 Ebd., 351. 185 Elkus, The Memoirs of Abram Elkus, 82–85. 186 CZA, Z3/63, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 30. März 1917, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 172–177.
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Ebenso wie seinen Amtsvorgänger beschäftigte den letzten amerikanischen Botschafter im Osmanischen Reich jedoch hauptsächlich das Schicksal der armenischen Bevölkerung.187 Er hoffte, auf diesem Gebiet mit den deutschen Diplomaten in Konstantinopel zusammenarbeiten zu können, die als Verbündete der türkischen Regierung gute Kontakte zur Hohen Pforte unterhielten. Anscheinend versuchte er über Lichtheim an erste Informationen darüber zu gelangen, wie es in der deutschen Botschaft um die Bereitschaft zu einer Kooperation bestellt war. In einem Gespräch im November 1916 erkundigte er sich bei ihm nach der deutschen Haltung in der Armenierfrage und wünschte, Lichtheim lasse die deutschen Diplomaten wissen, dass er an einer Zusammenarbeit in jüdischen wie armenischen Belangen interessiert sei. Ungewollt brachte er Lichtheim damit in eine delikate Situation. Erst wenige Wochen zuvor war der deutsche Botschafter Graf Wolff Metternich aufgrund seines Engagements für die armenische Bevölkerung auf Drängen der türkischen Regierung von seinem Posten abberufen worden und Lichtheim war vom Wohlwollen der deutschen Botschaftsmitarbeiter abhängig. Damit er überhaupt im Namen der Zionistischen Organisation die jüdischen Interessen in der osmanischen Hauptstadt vertreten konnte, mussten diese ab Mitte 1916 alle drei Monate neu seine Freistellung vom Kriegsdienst bei den Militärbehörden in Berlin erwirken.188 Lichtheim, der bestens wusste, dass seine Briefe an die Exekutive in Berlin sowohl in der deutschen Botschaft in Konstantinopel als auch im Auswärtigen Amt mit großer Aufmerksamkeit gelesen wurden, berichtete ausführlich über die Unterhaltung mit Elkus, um »den deutschen Regierungsstellen zu zeigen, dass ich mich streng auf meine Aufgabe als Repräsentant der jüdischen Interessen beschränkte, und zugleich die Bitte des amerikanischen Botschafters zu erfüllen, seine Anregungen der deutschen Regierung zur Kenntnis zu bringen«.189 Die von Elkus angestrebte Zusammenarbeit mit der deutschen Botschaft zum Schutz der armenischen Bevölkerung kam bekanntlich nicht zustande. Mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen Washington und Berlin und der wenig später erfolgten Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an das Deutsche Reich am 6. April 1917 wurde sie endgültig obsolet.
187 Vgl. hierzu Elkus, The Memoirs of Abram Elkus. 188 Lichtheim, Rückkehr, 368. Zu Beginn des Jahrs 1915 wurde Lichtheim für die Dauer des Kriegs vom Militärdienst freigestellt. Sämtliche unbefristeten Freistellungen wurden Mitte 1916 aufgehoben und mussten dreimonatlich von der deutschen Botschaft neu in Berlin beantragt werden. Vgl. ebd. 189 Ebd., 353.
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Krisenjahr 1917 – Verschiebung politischer Allianzen Mit dem Wiederaufleben der Kämpfe zwischen der von Ägypten herannahen den britischen Egyptian Expeditionary Force unter General Archibald Murray (1860–1945) und den osmanischen Truppen an der palästinensischen Front Ende März 1917 geriet der Jischuw erneut in Bedrängnis.190 In Erwartung eines Angriffs hatte Cemal Pascha bereits am 1. März die Umsiedlung der fast ausschließlich muslimischen Zivilbevölkerung Gazas angeordnet. Nach Bekanntwerden dieser Anweisung rechnete Lichtheim in Konstantinopel damit, dass auch die Bezirke Jaffa und Jerusalem evakuiert werden könnten, und warnte, dass dies die Zerstörung der gesamten jüdischen Ansiedlung bedeuten würde.191 In der deutschen Botschaft stießen seine Bitten, nach Möglichkeit alles zu tun, um eine ungerechtfertigte Räumung Jaffas und Jerusalems zu verhindern, jedoch nur auf wenig Verständnis. Heinrich Graf von Waldburg zu Wolfegg und Waldsee, der seit März 1917 Botschaftsrat in Konstantinopel war, versprach in einem Gespräch am 31. März zwar, den türkischen Militärbevollmächtigten zu konsultieren, zeigte jedoch insgesamt wenig Bereitschaft, zugunsten des Jischuw zu intervenieren. Stattdessen rechtfertigte er die Anordnungen Cemal Paschas als kriegsbedingt notwendige Maßnahmen, die den türkischen Militärs zu überlassen seien, und verwies Lichtheim in dieser Angelegenheit an den amerikanischen Botschafter.192 »[E]in beschränkter und unwissender Mensch, dem es in seiner hocharistokratischen Borniertheit offenbar unbegreiflich war, daß er sich mit jüdischen Angelegenheiten befassen sollte«, urteilte Lichtheim noch 30 Jahre später sichtlich verärgert über den Botschaftsrat.193 Unterdessen waren die Befürchtungen Lichtheims längst Realität geworden, ohne dass er davon wissen konnte. Tatsächlich hatte der höchste türkische Regierungsbeamte in Palästina, der Mutessarif von Jerusalem Izzet Bey, bereits am 27. März, also einige Tage vor Lichtheims Besuch in der deutschen Botschaft, verkündet, dass Cemal Pascha aufgrund der britischen Versuche, die türkischen Stellungen bei Gaza zu durchbrechen, nun auch die Evakuierung sämtlicher Ortschaften innerhalb des Bezirks Jaffa angeordnet habe.194 190 Zur britischen Palästinaoffensive vgl. Bruce, The Last Crusade. 191 CZA, Z3/63, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 30. März 1917, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 172–177. 192 CZA, Z3/63, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 2. April und 11. Mai 1917, abgedruckt in: ebd., 178–182, 187–190. 193 Lichtheim, Rückkehr, 350. 194 Vgl. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 347; Ben-Bassat / Halevy, A Tale of Two Cities and One Telegram, 8; vgl. dazu auch Thon an die Zionistische Exekutive, 18. April 1917, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 326–332.
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Trotz der erfolgreichen Abwehr des britischen Angriffs auf Gaza am Tag zuvor hielt Cemal Pascha eine Räumung für notwendig: Sämtliche osmanischen Staatsbürger, jüdisch wie arabisch, hatten Jaffa und Tel Aviv zu verlassen und sich an einen Ort im Landesinneren zu begeben. Für Jerusalem, Haifa und andere Küstenstädte galt das nicht. Lediglich nichtjüdischen Angehörigen neutraler oder mit dem Osmanischen Reich verbündeter Staaten, also in der Hauptsache Deutschen und Österreichern, war es gestattet, auf eigene Verantwortung in Jaffa und Tel Aviv zu bleiben. Während die Evakuierung der arabischen Bevölkerung jedoch nur teilweise vollzogen wurde und vor allem diejenigen Araber, die in Militär oder Landwirtschaft tätig waren, von dem Befehl ausgenommen wurden, hatte die jüdische Bevölkerung ausnahmslos, gleich welchen Berufs und welcher Nationalität, Jaffa und die umliegenden Ortschaften zu verlassen.195 Cemal Pascha rechtfertigte sein Vorgehen als kriegsbedingt notwendige Maßnahme zum Schutz der Zivilbevölkerung.196 Lichtheim sowie viele zeitgenössische Beobachter interpretierten die Benachteiligung der jüdischen Bevölkerung jedoch als weiteren Höhepunkt in einer Reihe dezidiert antizionistischer Maßnahmen. So protestierten die Konsuln der neutralen Staaten und Österreichs gegen die Evakuierungsanordnung und auch die deutschen Konsuln in Palästina fühlten sich – im Gegensatz zu Richard von Kühlmann, der im November 1916 Graf Wolff Metternich als Botschafter in Konstantinopel gefolgt war – dazu verpflichtet, gegen die Befehle Cemal Paschas zu intervenieren. Karl Emil Schabinger wurde umgehend beim Mutessarifen persönlich vorstellig und protestierte mit Nachdruck gegen die türkische Willkürpolitik. Eine Ausweisung der deutschen Jüdinnen und Juden würde auch seine Anwesenheit überflüssig machen: »Wenn Sie die deutschen Juden, nur weil sie Juden sind, mit Gewalt entfernen wollen, dann können Sie auch mich mit Gewalt entfernen, dann braucht man keinen deutschen Konsular vertreter mehr […]«,197 drohte er Izzet Bey, der sich jedoch völlig unbeeindruckt zeigte. Im Gegenteil verlangte er eine Entschuldigung für diese Einmischung in innertürkische Angelegenheiten.198 Auch der mittlerweile zum Generalkonsul in Jerusalem berufene Heinrich Brode versuchte Cemal Pascha zum Einlenken zu bewegen. Die Diskrimi195 Vgl. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 348; Ben-Bassat / Halevy, A Tale of Two Cities and One Telegram, 9. 196 In einem Telegramm vom 26. Mai 1917 an Talât Pascha rechtfertigte Cemal Pascha die Evakuierung Tel Avivs und Jaffas unter Hinweis auf militärische Notwendigkeiten. Das ungewöhnlich lange, 17 Seiten umfassende Telegramm wird ausführlich diskutiert in BenBassat / Halevy, A Tale of Two Cities and One Telegram. 197 Schabinger an Brode, 14. Mai 1917, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 333–340, hier 338. 198 Vgl. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 349.
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nierung der jüdischen Bevölkerung, so Brode, würde in erster Linie der feindlichen Propaganda in die Hände spielen; vor allem in jüdischen Kreisen würde die ungleiche Behandlung einen ungünstigen Eindruck hinterlassen.199 Viel konnte auch Brode nicht bewirken. Allerdings versicherte Cemal Pascha im Nachgang des Gesprächs gegenüber Vertretern des Jischuw, dass er »kein Antisemit, nur ein Antizionist« sei und es sich bei der Evakuierung lediglich um eine reine Vorsichtsmaßnahme handle.200 Als Zeichen des Entgegenkommens verschob er die ursprünglich für den 31. März angesetzte Räumungsfrist mit Rücksicht auf die Pessachfeiertage auf den 9. April. Trotz der versöhnlichen Geste bestand er jedoch weiterhin darauf, dass die gesamte jüdische Bevölkerung den Bezirk zu verlassen hätte.201 Mehrere Tausend mussten Hab und Gut in Jaffa und Tel Aviv zurücklassen und sich nach Ablauf der Frist ins Landesinnere begeben. Lediglich einigen wenigen Landarbeitern und Wachmännern, nicht jedoch deren Familien, war es erlaubt, zurückzubleiben. Ein Großteil der neu gegründeten landwirtschaftlichen Kollektive, die sich in der Hauptsache innerhalb des evakuierten Bezirks befanden, blieb schutzlos zurück.202 Auch Jakob Thon203 (1880–1950), der im Herbst 1915 die Leitung des Palästina-Amts übernommen hatte, siedelte mit seiner Familie nach Jerusalem über.204 Der Großteil der Evakuierten fand Zuflucht in nahe gelegenen Siedlungen wie Petah Tikwa und Kfar Saba oder den jüdischen Ortschaften Galiläas. Die Evakuierung verlief jedoch derart ungeordnet, dass infolge fehlenden Wohnraums, der unzureichenden Versorgung mit Nahrungsmitteln und mangelnder Transportmöglichkeiten schon bald Krankheiten und Hunger um sich griffen. Vor allem Kinder und ältere Menschen litten unter den chaotischen Bedingungen und nicht wenige starben in-
199 Ebd. 200 Thon an die Zionistische Exekutive, 18. April 1917, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 326–332. 201 Ebd. 202 Die Jüdische Rundschau berichtete von 8 000 bis 9 000 jüdischen Einwohnern, die Jaffa verlassen mussten. Vgl. JR, 25. Mai 1917, 173. Die Angaben zur jüdischen Bevölkerung Jaffas gehen auf den Leiter des Palästina-Amts, Arthur Ruppin, zurück, sind aber wahrscheinlich überhöht. Verlässliche Angaben existieren nicht. In der Forschung haben sich dennoch weitestgehend die von Ruppin gemachten Angaben durchgesetzt. Zur Problematik vgl. McCarthy, The Population of Palestine, 1–24. Auch Isaiah Friedman gibt die Zahl der im Frühjahr 1917 evakuierten Juden mit rund 9 000 an. Vgl. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 350. 203 Später Yaacov Tahon; Thon wanderte 1907 nach Palästina ein und wurde nach Errichtung des Palästina-Amts Mitarbeiter Ruppins. Im Herbst 1915 übernahm er die Leitung des Büros, nachdem Ruppin, um den Konflikt mit Cemal Pascha zu entschärfen, das Amt niedergelegt hatte und nach Jerusalem übergesiedelt war. 204 Vgl. Thon an die Zionistische Exekutive, 18. April 1917, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 326–332.
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folge der Räumung. Laut dem israelischen Historiker Gur Alroey gab es keine einzige Familie unter den Evakuierten, die nicht den Tod eines Angehörigen zu beklagen hatte.205 Auch ein eigens etabliertes Hilfskomitee, das Wa’ad haHagira, das von Meir Dizengoff (1861–1936), Abraham Lev und Bezalel Jaffe (1868–1925) geleitet wurde, konnte aufgrund fehlender finanzieller Mittel nur wenig zur Linderung der Not der jüdischen Vertriebenen beitragen.206 Die Erinnerung an die Deportationen der armenischen Bevölkerung noch frisch im Gedächtnis, fürchtete der Jischuw ein ähnliches Schicksal.207 Die internationale Presse warnte nach ersten übertriebenen, von zionistischer Stelle verbreiteten Nachrichten vor einer Verfolgung der jüdischen Bevölkerung nach armenischem Muster.208 Auch Lichtheim hatte bereits im Januar 1917 nach Berlin gemeldet, Cemal Pascha drohe, Palästina könne durch die zionistischen Aktivitäten zu einem zweiten Armenien werden.209 Entgegen den Darstellungen in der internationalen Presse, die den Jischuw durch eine antisemitische Politik Cemal Paschas am Rande der Vernichtung sahen, kam es im Frühjahr 1917 jedoch nicht zu pogromartigen Gewaltakten oder gar einer Wiederholung des armenischen Schicksals. Die israelische Historiografie übernahm allerdings lange Zeit kritiklos das zeitgenössische Narrativ als Beweis für die Brutalität Cemal Paschas. Erst jüngst wurden diese Darstellungen zunehmend infrage gestellt. Die Räumungsbefehle für die frontnahen Gebiete wurden nun ausschließlich im Kontext des Kriegsgeschehens interpretiert und mögliche politische Motive Cemal Paschas bestritten.210 Angesichts seiner dezidiert antizionistischen Haltung, die er bereits zuvor immer wieder öffentlich zum Ausdruck gebracht hatte, und der Vehemenz, mit der er auf der Evakuierung ausnahmslos aller jüdischen Bewohnerinnen und
205 Alroey, Exiles in Their Own Land?, 144 (hebr.). 206 Ebd.,138. Das Komitee wurde finanziert durch Spendengelder des Joint. 207 Hacohen, Milḥemet ha-amim [War of the Nations]. 208 Sarah Aaronsohn (1890–1917) beschrieb gegenüber ihrem Bruder, dem Agrarwissenschaftler Aaron Aaronsohn (1876–1919), die Evakuierung als Massaker. Dieser leitete die übertriebenen Darstellungen an das zionistische Büro in London weiter, das wiederum umfassend die Presse informierte. Vgl. hierzu Naor, Trumata schel ha-tikschoret ha-ojenet [The Contribution of the Hostile Press]; Mazza, »We Will Treat You like the Armenians«. 209 CZA, Z3/62, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 2. Januar 1917, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 192–194. 210 Vgl. dazu Ben-Bassat / Halevy, A Tale of Two Cities and One Telegram, 1–19. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass der Anordnung Cemal Paschas in der Tat militärische und nicht politische Gründe zugrunde lagen. Zu demselben Ergebnis kommen auch die folgenden Untersuchungen: Mazza, »We Will Treat You like the Armenians«; Sheffy, The Expulsion of Tel-Aviv Jews in 1917. Sie widersprechen damit v. a. zeitgenössischen Darstellungen, nach denen sich der Jischuw infolge einer dezidiert antisemitischen Politik Cemal Paschas im Frühjahr 1917 am Rand der vollständigen Zerstörung befunden habe. Vgl. z. B. Dizengoff, Im Tel Aviv ba-gola [With Tel Aviv in Exile].
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Bewohner Tel Avivs und Jaffas bestand, kann man jedoch davon ausgehen, dass er im Frühjahr 1917 militärische Notwendigkeiten nutzte, um einmal mehr gegen die zionistische Bewegung vorzugehen. Tatsächlich bedeutete die Evakuierung im März 1917 einen schweren Rückschlag für das jüdische Siedlungsprojekt. Zudem konnte Cemal Pascha, der stets an der Loyalität der Zionistinnen und Zionisten zweifelte und sie als Bedrohung für die Souveränität der Hohen Pforte betrachtete, mit einer vollständigen Evakuierung auch eine etwaige Zusammenarbeit des Jischuw mit den Briten verhindern. Erst nach der Eroberung Palästinas durch die britische Armee konnte der Großteil der Vertriebenen in ihre alten Wohnorte zurückkehren.211 Erfolgreicher waren die deutschen Diplomaten hingegen wenige Wochen später, als Cemal Pascha am 19. April anordnete, dass auch die Zivilbevölkerung Jerusalems innerhalb von 24 Stunden zu evakuieren sei. Es war erneut Konsul Brode, der gegen die Anordnung protestierte.212 Auch der deutsche General Friedrich Freiherr Kreß von Kressenstein (1870–1948) wandte sich mit eindringlichen Worten an die deutsche Botschaft in Konstantinopel. Eine Räumung Jerusalems würde die gesamte Bevölkerung in Gefahr bringen, ohne dass die Stadt auch nur im Geringsten von der britischen Armee bedroht sei.213 Kreß von Kressensteins Stimme hatte Gewicht. Der ranghohe Militär war 1914 mit der von Liman von Sanders kommandierten Militär mission ins Osmanische Reich gekommen und mittlerweile innerhalb der Armee Cemal Paschas für die Verteidigungslinien bei Gaza verantwortlich. Für die erfolgreiche Abwehr der britischen Offensive an der palästinensischen Front im Frühjahr 1917 wurde er sogar mit dem Pour le Mérite ausgezeichnet, dem damals höchsten Tapferkeitsorden der deutschen Armee. Im Auswärtigen Amt in Berlin korrespondierte unterdessen Staatssekretär Zimmermann mit der deutschen Obersten Heeresleitung über die Angelegenheit. Ohne Rücksicht auf diplomatische Höflichkeitsformeln forderten die deutschen Militärs umgehend vom türkischen Kriegsminister Enver Pascha, von Cemal Pascha die Aufhebung des Befehls zu verlangen.214 Dank des energischen Protests von deutscher Seite konnte die Räumung Jerusalems schließlich verhindert werden. Gegenüber dem tatenlos gebliebenen von Kühlmann insistierte Zimmermann im Nachgang der Ereignisse, dass nur die Durchführung der »militärisch unbedingt notwendigen Räumungsmaßnahmen mit tunlichster Schonung ohne Differenzierung der Konfessionen«
211 Vgl. Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 350. 212 Ebd., 351. 213 Ebd. 214 Ebd., 352.
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geduldet werden könne, und forderte ihn auf, zukünftig »eindringlich und mit allem Nachdruck« bei der Hohen Pforte zu intervenieren.215 Einmal mehr konnte mithilfe des umgehenden Eingreifens deutscher Diplomaten und Militärs größerer Schaden vom Jischuw abgewendet werden. Bereits bei der Evakuierung Jaffas hatten die deutschen Beamten die militärische Notwendigkeit der Maßnahme bezweifelt. Die Kämpfe an der Palästinafront, so Brode in einem Brief an den deutschen Botschafter in Konstantinopel, dienten Cemal Pascha lediglich als willkommener Vorwand, um seine lang gehegten politischen Ziele durchzusetzen. Auch Brodes Kollegen im österreichischen Konsulat teilten diese Einschätzung. Aus einem Gespräch mit einem österreichischen Hauptmann namens Moro wusste Brode zu berichten, dass Cemal Pascha bereits seit einiger Zeit auf die Gelegenheit warte, um erneut gegen die zionistische Bewegung vorzugehen. Der Grund hierfür seien vor allem die vom ehemaligen amerikanischen Botschafter Morgenthau gemachten Äußerungen über die Zukunft Palästinas.216 Laut einem Bericht der Times hatte Morgenthau während einer Rede am 21. Mai 1916 in Cincinnati verlauten lassen, die türkische Regierung hätte auf den von ihm angeblich gemachten Vorschlag, Palästina an die zionistische Bewegung zu verkaufen, positiv reagiert und die Verhandlungen über eine jüdische Republik seien bereits angelaufen.217 Die Nachricht sollte sich freilich als falsch erweisen. Morgenthau hatte zu keinem Zeitpunkt mit der türkischen Regierung Gespräche über eine Lostrennung Palästinas vom Osmanischen Reich geführt. Dennoch hatte die Meldung die jungtürkische Regierung verstimmt und besonders Cemal Pascha hatte seine Befürchtungen bestätigt gesehen.218 Von all dem hatte Lichtheim in Konstantinopel erst lange im Nachhinein erfahren. Die an ihn gerichteten Telegramme Jakob Thons erreichten ihn mit erheblicher Verzögerung, da sie ohne ersichtlichen Grund von der deutschen Botschaft zurückgehalten wurden.219 Auch der deutsche Botschaftsrat von Waldburg, der durchaus über die Vorgänge in Palästina im Bilde war, hatte gegenüber Lichtheim bei dessen Besuch in der Botschaft am 31. März die unmittelbar bevorstehende Räumung Jaffas nicht erwähnt. Überhaupt hatten sich die Beziehungen Lichtheims zur Botschaft seit dem Amtsantritt Richard von Kühlmanns erheblich verschlechtert. Von Kühlmann, so Lichtheims Eindruck, stand der zionistischen Bewegung insgesamt eher uninteressiert, 215 Zimmermann an von Kühlmann, 19. Mai 1917, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 349 f.; Zimmermann an von Kühlmann, 24. Mai 1917, abgedruckt in: ebd., 351–353. 216 Brode an von Kühlmann, 5. April 1917, abgedruckt in: ebd., 341–346. 217 O. A., Reported Willingness to Sell Palestine, in: Times, 23. Mai 1916, 7. 218 CZA, Z3/60, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 7. August 1916. 219 CZA, Z3/63, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 11. Mai 1917, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 187–190.
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mitunter misstrauisch gegenüber. Graf von Waldburg begegnete dem Zionismus laut Lichtheim gar mit »versteckter Gegnerschaft«.220 »Seit Wochen habe ich bemerkt, dass die Botschaft mir gegenüber statt des früheren Entgegenkommens grosse Reserve, ja Misstrauen bekundet«, so Lichtheim in einem Report an die Zionistische Exekutive in Berlin im April 1917.221 Er vermutete, dass – neben der persönlichen Haltung der neuen Botschaftsmitarbeiter zum Zionismus – seine guten Kontakte zur amerikanischen Botschaft die deutschen Beamten zu Zurückhaltung veranlassten. Auch nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen dem Deutschen Reich und den Vereinigten Staaten im Februar 1917 hatte Lichtheim mit deren Gesandten verkehrt.222 Noch am Abend vor der offiziellen Kriegserklärung Washingtons an Berlin waren das Ehepaar Lichtheim und Arthur Ruppin zu einem Dinner in der amerikanischen Botschaft geladen. Bewusst hatten sich die beiden Emissäre dafür entschieden, auch nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen weiter mit den Amerikanern zusammenzuarbeiten, da sie auf deren Unterstützung bei der Vermittlung von Hilfsgütern für den Jischuw nicht verzichten konnten.223 Wahrscheinlich waren es ebendiese Beziehungen, die Ende April 1917 schließlich zu Lichtheims Abberufung aus Konstantinopel führten. In der deutschen Botschaft wurde er der Spionage für den amerikanischen Feind verdächtigt und Richard von Kühlmann weigerte sich, eine weitere Freistellung Lichtheims vom Militärdienst zu erwirken.224 Am 18. Mai schrieb Lichtheim einen letzten Brief an den deutschen Botschafter und bedankte sich für die weitreichende Unterstützung während der vorangegangenen Jahre. Am Tag darauf reiste er zunächst ohne seine Familie nach Berlin ab. Er hoffte, mithilfe des Auswärtigen Amts die Entscheidung von Kühlmanns rückgängig machen zu können. Die Berliner Beamten reagierten zwar mit Unverständnis auf den Vertrauensentzug, waren jedoch nicht in der Lage, seine Rückkehr nach Konstantinopel durchzusetzen. Mit dem Hinweis, der Kriegsgott Mars regiere die Stunde, soll der Geheimrat Otto Göppert (1872–1943) die Situation kommentiert und dabei auf die Allmacht der Abteilung für Gegenspionage angespielt haben. In seinen Memoiren vermutete Lichtheim überdies, bei der deutschen Botschaft denunziert worden zu sein.225 220 Lichtheim, Rückkehr, 367. 221 CZA, Z3/63, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 27. April 1917, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 183–187, hier 185. 222 Ebd. 223 CZA, Z3/63, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 30. März 1917, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 172–177; CZA Z3/63, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 27. April 1917, abgedruckt in: ebd., 183–187. 224 CZA, Z3/63, Von Waldburg in Vertretung von Kühlmanns an Lichtheim, 27. April 1917. 225 Lichtheim, Rückkehr, 368 f.
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Doch so einfach gab sich Lichtheim nicht geschlagen. Mithilfe seiner in Konstantinopel verbliebenen Frau Irene versuchte er, seine Wiedereinsetzung zu erwirken. Offenbar mit ähnlichem diplomatischem Geschick gesegnet wie ihr Ehemann, bat sie während einer Bootsfahrt auf dem Marmarameer den türkischen Finanzmister Mehmet Cavit Bey (1875–1926) um Hilfe. Tatsächlich wurde Lichtheim daraufhin Anfang Juli in Berlin zum türkischen Botschafter bestellt, um die Möglichkeiten seiner Rückkehr zu besprechen. Bereits Mitte des Monats wurde der deutschen Regierung mitgeteilt, dass das türkische Finanzministerium die Entsendung Lichtheims nach Konstantinopel als Sachverständiger für wirtschaftliche Angelegenheiten wünsche. Zeitgleich hatten jedoch auch die Mitarbeiter des Auswärtigen Amts, die im Gegensatz zur Botschaft in Konstantinopel keine Zweifel an Lichtheims Loyalität hegten, seine Freistellung vom Kriegsdienst erbeten. Gegenüber Finanzminister Cavit Bey soll Richard von Kühlmann, der kurze Zeit nach Lichtheims Abreise zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt ernannt wurde, triumphierend erklärt haben, Lichtheim könne nicht für zwei Stellen gleichzeitig vom Kriegsdienst entbunden werden. Lichtheim musste einsehen, dass seine Versuche, nach Konstantinopel zurückzukehren, endgültig gescheitert waren, und ließ nun auch seine Familie nach Berlin kommen, wo sie gemeinsam eine Villa im Grunewald bezogen. Bis Kriegsende blieb Lichtheim als Palästina-Sachverständiger der Zionistischen Organisation in der deutschen Hauptstadt und stand als Berater für zionistische Angelegenheiten auch weiterhin in engem Kontakt mit dem Auswärtigen Amt.226 Die Leitung des Büros in Konstantinopel übernahm Arthur Ruppin, der bereits seit seiner Ausweisung aus Palästina im September 1916 die Arbeit Lichtheims unterstützt hatte. Auch privat waren die beiden deutschen Zionisten freundschaftlich verbunden. Für Lichtheim, der seit dem Einreiseverbot Victor Jacobsons allein für die Vertretung zionistischer Interessen in der osmanischen Hauptstadt verantwortlich gewesen war und sich seit jeher recht isoliert gefühlt hatte, war Ruppin schnell zu einem seiner wichtigsten Vertrauten geworden. Fast täglich, so Ruppin, sei er bei der Familie Lichtheim zum Abendessen zu Gast gewesen.227 Ruppin gelang es – auch dank eines Personalwechsels in der deutschen Botschaft – die von Lichtheim initiierte Politik erfolgreich fortzusetzen. Nach dem Wechsel von Kühlmanns nach Berlin wurde Graf von Bernstorff, der bis zum Kriegseintritt Amerikas die deutschen Interessen in Washington vertreten hatte, zu dessen Nachfolger ernannt. In der amerikanischen Hauptstadt war von Bernstorff stets über die Lage des Jischuw und die antizionistische Politik der türkischen Regierung informiert und darum bemüht gewesen, die 226 Ebd., 369 f. 227 Vgl. Ruppin, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, 271.
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daraus resultierende antideutsche Berichterstattung in der amerikanischen Presse zu mildern. In Konstantinopel suchte von Bernstorff nun die jüdische Bevölkerung Palästinas gegen die Anfeindungen der türkischen Regierung zu schützen.228 So konnten unter Ruppins Ägide die in Europa und den Vereinigten Staaten gesammelten Hilfsgelder weiter an den Jischuw transferiert und die Kommunikation mit dem Zionistischen Zentralbüro in Berlin über die Vermittlungsapparate der deutschen Botschaft organisiert werden. Die politische Lage in Palästina blieb indes weiter angespannt. Zwar erklärte Cemal Pascha im August 1917 bei einem Treffen mit Lichtheim und Arthur Hantke in Berlin, dass der jüdischen Bevölkerung keine Gefahr drohe, betonte aber einmal mehr, dass er die zionistische Bewegung als solche strikt ablehne. Weder könne er zulassen, dass ein neues Nationalitätenproblem in der Peripherie des Reichs aufkomme, noch könne er sich gegen den Willen der mehrheitlich arabischen Bevölkerung stellen, die einer jüdischen Einwanderung kritisch gegenüberstehe.229 Erst kurz zuvor hatte er in einem Interview mit dem deutschen Journalisten Ernst Jäckh öffentlich proklamiert, dass er es als seine Pflicht ansehe, »der Erweiterung dieser Bewegung in diesem Lande entgegenzutreten«, da er sie für eine »sehr schädliche« halte.230 An seiner Entschlossenheit ließ Cemal Pascha keinen Zweifel. Nur wenig später fand seine kritische Haltung erneut Ausdruck, als im Oktober 1917 die türkischen Behörden in Palästina den Spionagering NILI um den jüdischen Agrarwissenschaftler Aron Aaronsohn und dessen Schwester Sarah aufdeckten, der die Briten mit kriegswichtigen Informationen versorgt hatte.231 Obwohl nur ein kleiner Personenkreis involviert war, trafen die Vergeltungsmaßnahmen der Türken den gesamten Jischuw. Das Berliner Büro der Zionistischen Organisation vermutete dahinter die Absicht Cemal Paschas, »die schrittweise unternommene Zerstörung des jüdischen Kolonisationswerks in Palästina zu vollenden«, und wandte sich an das Auswärtige Amt, das umgehend die Intervention durch den deutschen Botschafter in Konstantinopel veranlasste.232 Von Bernstorffs Protest konnte erneut ein härteres Durchgreifen der türkischen Behörden verhindern. Verärgert schrieb er an Franz von Papen (1879–1969), der zu dieser Zeit als Major der osmanischen Armee an der Palästinafront eingesetzt war:
228 Vgl. von Bernstorff an Matthias Erzberger, 30. März 1918, abgedruckt in: Bernstorff, Erinnerungen und Briefe, 144. 229 Protokoll über die Unterredung mit Cemal Pascha am 28. August 1917, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 320–323. 230 Das Interview erschien in der Zeitschrift Deutsche Politik vom 8. Juni 1917. 231 Vgl. dazu Wallace, The Woman Who Fought an Empire, 233–236. 232 AK der ZO an das Auswärtige Amt, 15. Oktober 1917, zit. nach Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 370.
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»Diese fortgesetzte Ausweisungspolitik ist rein blödsinnig; sie nützt garnichts in militärischer Hinsicht, verschlimmert den Ruf der Türkei immer noch mehr, und schließlich wird die Sache uns doch angehängt. Ob Armenier, Juden oder Griechen, es bleibt immer die gleiche Dummheit. […] Ich spreche immer wieder mit Talaat, Enver und Nessimi über diese Dinge, aber die Türken sind nun einmal auf diesem Gebiete unbelehrbar.«233
Erst mit der Eroberung Jerusalems und großer Teile Palästinas Anfang Dezember 1917 durch die britische Armee verlor Cemal Pascha seine Macht über den Jischuw. Als er am 24. Dezember 1917 in die Hauptstadt des Osmanischen Reichs zurückkehrte, um dort die Leitung des Marineamts zu übernehmen, blieb er der Bevölkerung Palästinas im Gedächtnis als »Jamal the bloodthirsty, Jamal the fiend, Jamal the tyrant, Jamal the starver of the Land«.234 Im Laufe des Jahrs 1917 hatten sich nicht nur die Beziehungen Lichtheims zur deutschen Botschaft in Konstantinopel verschlechtert, auch hatte die deutsche Politik für die zionistische Bewegung insgesamt an Bedeutung verloren. Im Frühjahr und Sommer des Jahrs 1917 bemühte sich das zionistische Büro in Berlin trotz aller Neutralitätsbekundungen, die Bewegung in das politische Fahrwasser der deutschen Regierung zu lenken, blieb damit aber erfolglos. Zwar verfolgte man in Berlin mit einiger Sorge die Gespräche der britischen Regierung mit den zionistischen Kreisen um Chaim Weizmann, die sich bereits seit Kriegsbeginn um die politische Unterstützung Londons bemüht hatten. Lichtheims Vorschlag jedoch, einer prozionistischen Erklärung Großbritanniens zuvorzukommen, fand im Auswärtigen Amt kein Gehör.235 Ohnehin waren mit dem Kriegseintritt Amerikas, der Revolution in Russland, die bürgerliche Gleichberechtigung versprach, und dem Vorrücken der britischen Truppen in Palästina die Sympathien der Zionisten mehrheitlich in das Lager der Entente gewechselt. Mit der Balfour-Deklaration vom November 1917, die die Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina garantierte, und der Eroberung Jerusalems durch die britische Armee kurze Zeit später, verschob sich der Schwerpunkt zionistischer Politik schließlich endgültig von Berlin nach London. Zwar feierte die deutsche – wie die gesamte – zionistische Bewegung die Balfour-Deklaration als »ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung«, gleichzeitig brachte die britische Erklärung die Berliner Mitglieder der Zio-
233 Von Bernstorff an Franz von Papen, 10. Dezember 1917, abgedruckt in: Bernstorff, Erinnerungen und Briefe, 152. Von Bernstorff und von Papen kannten sich aus ihrer gemeinsamen Zeit in Washington, wo von Papen von 1913 bis 1915 als Militärattaché der deutschen Botschaft tätig war. 234 Morris, Righteous Victims, 84. 235 Vgl. Weltmann, Germany, Turkey, and the Zionist Movement, 1914–1918, 263.
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nistischen Exekutive in eine ungünstige Lage.236 Jahrelang hatten sie die deutsche Regierung umworben und nicht nur die Neutralität der jüdischen Nationalbewegung beschworen, sondern auch ein geradezu natürliches Bündnis zwischen dem Jischuw als Träger deutscher Kultur im Nahen Osten und den außenpolitischen Interessen des Deutschen Reichs. Mit der Deklaration, die aus deutscher Sicht einer Allianz der zionistischen Bewegung mit der Entente gleichkam, verloren sie an Glaubwürdigkeit. Dennoch begrüßte auch Lichtheim, der Architekt der an Deutschland orientierten Politik in Konstantinopel, die Entscheidung der britischen Regierung als »Sieg der zionistischen Sache«.237 Um einer einseitigen Anbindung der zionistischen Bewegung an Großbritannien jedoch zu entgehen und auch, um dem eigenen Bedeutungsverlust entgegenzuwirken, bemühten sich Lichtheim und das Berliner Büro im Nachgang der Balfour-Deklaration um die Zustimmung sowohl der deutschen als auch der türkischen Regierung zu einer jüdischen Heimstätte in Palästina. Noch war die Zukunft des Osmanischen Reichs schließlich nicht endgültig entschieden und der Ausgang der Friedensverhandlungen offen. Dementsprechend pflegten Lichtheim und seine Kollegen auch weiterhin enge Kontakte zu den Mitarbeitern des Auswärtigen Amts und bemühten sich darüber hinaus nun auch verstärkt, die deutsche öffentliche Meinung für den Zionismus einzunehmen. In seinen Memoiren schildert Lichtheim, wie er versuchte, die bekanntesten jüdischen Journalisten in Deutschland für eine prozionistische Berichterstattung zu gewinnen. Theodor Wolff (1868–1943), Chefredakteur des Berliner Tageblatts, versprach, fortan über die Bewegung zu berichten, auch wenn er selbst nicht von ihrem Erfolg überzeugt war. Anders dagegen Georg Bernhard (1875– 1944) von der Vossischen Zeitung, der als Befürworter des Zionismus seine Zeitung öfter in dessen Dienst stellte und später sogar dem auf Anregung Victor Jacobsons gegründeten Berliner zionistischen Komitee Pro Palästina238 beitrat. Als interessanteste Begegnung im Kreis der deutsch-jüdischen 236 O. A., Eine Erklärung der englischen Regierung für den Zionismus, in: JR, 16. November 1917, 369; o. A., Eine Erklärung der englischen Regierung (II), in: JR, 23. November 1917, 377. In der Jüdischen Rundschau ist kein Autor angegeben, jedoch soll es sich laut Fritz Ullmann beim Verfasser um Lichtheim handeln. CZA, A56/4, Fritz Ullmann zum 70. Geburtstag Lichtheims 1955 (Abschrift). Zur publizistischen Debatte im Nachgang der Erklärung vgl. Brockhaus, »Ein Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung«; dies., »… da es sich bei der Erklärung um einen antideutschen Versuch handelt«. 237 Lichtheim, Rückkehr, 373. 238 Das Komitee Pro Palästina konstituierte sich am 25. April 1918 und machte es sich zur Aufgabe, in der deutschen Öffentlichkeit für den Zionismus zu werben. Es bediente sich des bereits während des Weltkriegs vorgebrachten Arguments, eine jüdische Besiedlung Palästinas würde auch die deutschen Kultur- und Wirtschaftsbeziehungen im Nahen Osten stärken. Neben namhaften Zionisten gehörten dem Komitee auch deutsche Reichstagsabgeordnete aller politischen Richtungen wie etwa Scheidemann und Erzberger sowie
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Journalisten beschrieb Lichtheim die mit Maximilian Harden (1861–1927), dem Herausgeber der Wochenschrift Zukunft und einem der bedeutendsten deutschen Publizisten jener Jahre. Lichtheim hatte den noch in seiner Jugend zum Protestantismus konvertierten Sohn jüdischer Eltern, der dem Zionismus eher skeptisch gegenüberstand, bereits im Sommer 1917 kennengelernt. Schon bald traf er den einflussreichen Journalisten, der ganz in der Nähe der Familie Lichtheim im Grunewald lebte, regelmäßig auch privat und tauschte sich mit ihm über politische Fragen und das aktuelle Kriegsgeschehen aus. Offenbar gelang es Lichtheim, Hardens Haltung zum Zionismus positiv zu beeinflussen. Nach Veröffentlichung der Balfour-Deklaration würdigte Harden ausführlich die Entscheidung der britischen Regierung und begrüßte die jüdische Kolonisation Palästinas.239 Überhaupt war die deutsche öffentliche Meinung, die sich bisher kaum für die zionistische Bewegung interessiert hatte, nun nahezu einhellig der Überzeugung, auch die Mittelmächte müssten sich in Anbetracht nationaler außenpolitischer Interessen öffentlich zur Förderung des Zionismus bekennen, um die kleine, aber mittlerweile zu einiger politischer Bedeutung gelangte jüdische Nationalbewegung nicht als Bündnispartnerin an die Entente zu verlieren.240 Die Regierungen in Berlin und Konstantinopel signalisierten jedoch erst nach der Eroberung Jerusalems und eines großen Teils Palästinas durch die britische Armee stärkeres Interesse an der zionistischen Bewegung. Talât Pascha, mittlerweile Großwesir, erklärte am 12. Dezember 1917 in einem Interview mit dem Korrespondenten der Vossischen Zeitung Julius Becker (1881–1945), die jüdische Einwanderung nach Palästina sei fortan ohne Einschränkungen möglich, solange die Immigrierenden umgehend die osmanische Staatsbürgerschaft annähmen, und stellte dem Jischuw wenn auch keine politische, so doch wirtschaftliche und kulturelle Autonomie in Aussicht.241 Die Erklärung bedeutete jedoch keinesfalls die Anerkennung eines rechtmäßigen jüdischen Anspruchs auf Palästina. In seinem vertraulichen Reisebericht an die Zionistische Organisation bestätigte Becker, dass sich am Misstrauen der Jungtürken gegenüber dem Zionismus nichts geändert habe.242 Dennoch konnte nach der Erklärung ihres Bündnispartners nun Publizisten und Wissenschaftler wie Hans Delbrück, Ernst Jäckh, Max Weber und Werner Sombart an. Die Gründung war im Wesentlichen eine Reaktion auf die englische BalfourDeklaration und suchte mit Blick auf die Nachkriegszeit, den deutschen Einfluss im Nahen Osten gegen Englands Vordringen zu behaupten. Vgl. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 434–436. 239 Maximilian Harden, Zwischen zwei Welten, in: Die Zukunft, 12. Januar 1918. 240 Vgl. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 420. 241 Julius Becker, Die Türkei und der Zionismus, in: Vossische Zeitung, 31. Dezember 1917. 242 CZA, Z3/11, Reisebericht Julius Becker für die Zionistische Organisation, o. D. [Dezember 1917].
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auch die deutsche Regierung öffentlich Stellung nehmen. Am 5. Januar 1918 versicherte der stellvertretende Unterstaatssekretär des Auswärtigen Amts, Hilmar Freiherr von dem Bussche-Haddenhausen (1867–1939), gegenüber einer Delegation bestehend aus Hantke und Warburg von der Zionistischen Organisation und Vertretern des Komitees für den Osten, die zionistischen Bestrebungen im Rahmen der von türkischer Seite gemachten Versprechungen zu unterstützen.243 Letztlich wiederholte die deutsche Regierung lediglich die von Talât Pascha gemachten Zusicherungen für Palästina, das sich jedoch längst nicht mehr unter osmanischer Verfügungsgewalt befand. Von der Mehrheit der deutschen zionistischen Bewegung und der ihr nahestehenden Presseorgane wurden die Verlautbarungen dennoch als »außerordentlich bedeutsam« und als grundsätzliche Zustimmung zu einer jüdischen Heimstätte in Palästina interpretiert.244 Einigen wenigen Kritikern ging die deutsche Erklärung allerdings nicht weit genug. Auch Maximilian Harden forderte eine progressivere Haltung der deutschen Regierung: »Die feierliche Verheißung, dass alles bleiben werde, wie es ist, genügt nicht. […] Deutschland hat die Macht und die Pflicht, den Neubau des Geistes von Zion zu stützen.«245 Wenige Wochen später kam es zu ersten direkten Kontakten zwischen Vertretern der Zionistischen Organisation und der türkischen Regierung. Im Frühjahr 1918 trat Letztere an das Engere Aktionskomitee in Berlin heran, um es gemeinsam mit Vertretern der im Januar gegründeten Vereinigung jüdischer Organisationen Deutschlands und der Freien Vereinigung für die Interessen des orthodoxen Judentums nach Konstantinopel einzuladen, um dort Gespräche über die Palästinafrage zu führen. Wahrscheinlich hoffte sie, damit Sympathien auf jüdischer Seite und mit ihnen Fürsprecher für den Verbleib Palästinas im Osmanischen Reich gewinnen zu können. Bis in den Sommer 1918 hinein verhandelten die Vertreter dieser Gruppierungen mit der türkischen Regierung, um sie zu einer prozionistischen Erklärung zu bewegen. Die Gespräche scheiterten jedoch letztlich an der von jüdischer Seite vorgebrachten Forderung nach Selbstverwaltung und einer zunehmenden Annäherung zwischen der Hohen Pforte und der arabischen Bevölkerung, die starken Widerstand gegen die zionistischen Pläne leistete.246 Von all dem hielt Lichtheim wenig. Die türkische Erklärung kam für ihn schlichtweg zu spät; retrospektiv hielt er sie für einen »Schlag ins Wasser«.247 Die Gespräche mit der türkischen Regierung hielt er gar für ein falsches Signal an die Befürworterinnen und Befürworter des Zionismus in England 243 O. A., Eine Erklärung der deutschen Regierung, in: JR, 11. Januar 1918, 9. 244 Ebd. 245 Harden, Zwischen zwei Welten. 246 Vgl. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 437–444; Weltmann, Germany, Turkey, and the Zionist Movement, 1914–1918, 267 f. 247 Lichtheim, Rückkehr, 377.
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und Amerika. Er plädierte daher für »ruhige Zurückhaltung« der deutschen Bewegung bis zum Kriegsende. »Von der Türkei hatten wir in Zukunft nichts mehr zu erwarten, da Palästina England zufallen mußte und die Judenheit in Rußland wie in Amerika, seit der Balfour-Deklaration einmütig auf der Seite Großbritanniens stand«, erklärte er im Nachhinein seine Haltung.248 Mit der im August 1918 an der Westfront von den Alliierten initiierten Hunderttageoffensive wurde schließlich die militärische Niederlage des Deutschen Kaiserreichs eingeleitet. Der Sieg der britischen Armee in der Palästinaschlacht führte bereits Mitte September 1918 zum Zusammenbruch der osmanischen Front. Mit dem am 11. November von Deutschland, Frankreich und Großbritannien unterzeichneten Waffenstillstand von Compiègne wurden die Kampfhandlungen endgültig beendet. Die Balfour-Erklärung und der Sieg der Entente liefen zumindest aus Sicht der Gesamtbewegung auf eine Niederlage der deutschen Zionisten hinaus: »Unsere Stellung in der zionistischen Bewegung und auch innerhalb des Weltjudentums war völlig verändert. Mit Erstaunen mußten wir erkennen, daß auch die Zionisten der Entente-Länder uns als Mitbesiegte ansahen«, kommentierte Kurt Blumenfeld die veränderte Lage bei Kriegsende.249 In der Folge schwand der Einfluss der deutschen Zionisten merklich. Der diplomatische Erfolg der Balfour-Deklaration hatte Weizmann geradezu automatisch zum neuen Kopf der Bewegung gemacht, noch bevor er 1920 offiziell zum Präsidenten der Zionistischen Organisation gewählt wurde und damit den Deutschen Otto Warburg ablöste.
Der Schutz des Jischuw während des Kriegs Am Vorabend des Ersten Weltkriegs stellte die zionistische Bewegung keineswegs eine gewichtige politische Kraft dar und spielte in den außenpolitischen Konzeptionen der Europäer und Amerikaner kaum eine Rolle. Vielmehr musste deren Interesse erst mühsam gewonnen werden. Wie gezeigt, ergab sich mit Kriegsbeginn in Konstantinopel für Lichtheim eine besondere Konstellation, innerhalb derer es ihm gelang, die Aufmerksamkeit sowohl der deutschen als auch der amerikanischen Diplomatie auf die jüdische Frage Palästinas zu lenken, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts neben anderen ethnischen Fragen im Osmanischen Reich ergeben hatte. Über die Verknüpfung der außenpolitischen Interessen des Deutschen Reichs und der Vereinigten Staaten mit denen der zionistischen Bewegung gelang es Lichtheim, die Unterstützung der Diplomaten beider Staaten zu gewinnen. Deren Proteste 248 Ebd., 379. 249 Blumenfeld, Erlebte Judenfrage, 121.
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bewegten die türkische Regierung in der Mehrheit der Fälle zum Einlenken und bewahrten den Jischuw so möglicherweise vor einem ähnlichen Schicksal, wie es anderen nichttürkischen Minderheiten des Osmanischen Reichs widerfuhr.250 Sowohl in der Forschung als auch im öffentlichen Gedächtnis wird die Auflösung des Osmanischen Reichs fast ausschließlich mit dem Völkermord an den Armeniern und der Vertreibung der Griechen aus Kleinasien assoziiert. Eine Erinnerung auch an die Verfolgung anderer ethnischer und religiöser Minderheiten unterbleibt weitgehend. Die Deportation der armenischen und griechischen Bevölkerung ist jedoch als Teil einer umfassenderen Minderheitenpolitik der jungtürkischen Regierung zu verstehen – selbstverständlich ohne die für jede der verfolgten Minderheiten spezifischen Besonderheiten hinsichtlich Absicht, Umsetzung und Ausmaß zu vernachlässigen. Ziel war die demografische Umstrukturierung des gesamten Reichs hin zu einem homogenen türkisch-muslimischen Gemeinwesen. Neben anderen Minderheiten wie den christlichen Assyrern und Aramäern sowie den muslimischen Kurden und Arabern zielte diese Politik des Misstrauens und der Verfolgung auch auf die jüdische Bevölkerung Palästinas.251 Gleichwohl ist nicht davon auszugehen, dass die türkische Regierung oder einzelne ihrer Vertreter gegenüber der jüdischen Minderheit eine ähnliche genozidale Zielsetzung verfolgten wie gegenüber den nichttürkischen Minderheiten der östlichen Provinzen des Osmanischen Reichs. Cemal Pascha widerstrebte das brutale Vorgehen gegen die armenische Bevölkerung, das weniger auf deren Vertreibung, sondern auf deren physische Vernichtung zielte.252 Vielmehr nutzte er seine Machtfülle, um vor allem die jüdischen Neueinwanderinnen und -einwanderer zu schikanieren, an deren Loyalität er zweifelte und die er als Gefahr für die osmanische Souveränität und die Einheit des Reichs betrachtete. Er plante Maßnahmen wie deren Überwachung, 250 McCarthy folgert aus statistischen Erhebungen, dass im Laufe des Kriegs etwa 3 000 bis 4 000 jüdische Einwanderer und Einwanderinnen ausgewiesen wurden oder freiwillig emigrierten, wobei die meisten von ihnen nach der britischen Eroberung Palästinas zurückgekehrt seien. Laut McCarthy bleiben daher die Angaben für die jüdische Bevölkerung für die Zeit vor und nach dem Krieg verhältnismäßig stabil. Für das Jahr 1914 gibt er eine jüdische Bevölkerung von 60 000 Personen an, für 1918 59 000 Personen. Ders., The Population of Palestine, 21–26. 251 Auch der türkische Politikwissenschaftler und Historiker Fuat Dündar hat in seiner Studie zur Bevölkerungspolitik des Osmanischen Reichs nach Auswertung osmanischer Akten in türkischen Archiven die Politik der türkischen Regierung gegenüber der jüdischen Bevölkerung als »demografische Operation« beschrieben, die als Teil einer allgemeineren Bevölkerungspolitik begriffen werden müsse. Vgl. Dündar, Modern Türkiye’nin Şifresi [Der Schlüssel zur modernen Türkei]. 252 Ausführlich dazu Kaiser, Regional Resistance to Central Government Policies; Kieser u. a. (Hgg.), The End of the Ottomans.
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Verhaftung, Zensur und »begrenzte Vertreibung oder Umsiedlung, wie sie im Osten Kleinasiens bereits zuvor aktuell geworden waren«.253 Selbst wenn er im August 1915 sogar einige der führenden Köpfe der arabischen Nationalbewegung in Beirut hinrichten ließ, war er doch nicht gewillt, in Palästina so weit zu gehen wie im Osten Talât Pascha, der als Hauptverantwortlicher für den Völkermord an den Armeniern gilt.254 Und auch Talât Pascha selbst soll gegenüber Botschafter von Bernstorff versichert haben: »Nous avons fait beaucoup de mal aux Arméniens, mais nous ne ferons rien aux Juifs.«255 Laut dem Historiker Hans-Lukas Kieser war für Talât Pascha, der in der osmanischen Palästinapolitik das letzte Wort hatte, eine ähnliche Verfolgung des Jischuw nicht prioritär.256 Dennoch traf die antizionistische Politik Cemal Paschas im Laufe des Kriegs wiederholt den Jischuw in seiner Gesamtheit und nur die Gegenbefehle der Zentralregierung in Konstantinopel, die oftmals nach einer von Lichtheim mit Nachdruck erbetenen Intervention der deutschen und amerikanischen Botschafter bei Talât Pascha ergingen, zwangen ihn zur Zurückhaltung. Die Unterstützung Berlins beruhte dabei weniger auf echter Sympathie oder einem tatsächlichen Verständnis für die jüdischen Nationalbestrebungen, vielmehr versprach man sich von ihrer Förderung konkrete ökonomische und politische Vorteile. Zum einen wurde der Zionismus als mögliche Lösung der jüdischen Frage in Deutschland und dem östlichen Europa betrachtet. Die Gebietsgewinne der deutschen Armee im Osten hatten Berlin erstmals mit den osteuropäischen Judenheiten in Berührung gebracht. Ende 1915 befanden sich fünf von insgesamt sechseinhalb Millionen russischen Juden unter deutscher Herrschaft. Im Auswärtigen Amt sah man in der Öffnung Palästinas für eine jüdische Immigration einen Weg, die befürchtete jüdische Massenauswanderung aus dem östlichen Europa vom Deutschen Reich fernzuhalten und nach Palästina zu lenken.257 Gleichzeitig hoffte man, ein jüdisches Palästina könne der imperialistischen Durchdringung des Nahen Ostens durch Deutschland dienlich sein. Zum anderen wurde die zionistische Bewegung innerhalb deutscher Regierungskreise als mächtige internationale Organisation wahrgenommen und man hoffte, durch eine prozionistische Nahostpolitik in erster Linie die amerikanischen Judenheiten für sich zu gewinnen, denen entscheidender Einfluss auf die internationale Presse- und Finanzwelt zugeschrieben 253 Kieser, Talât Pascha. 254 Vgl. Suny, »They Can Live in the Desert but Nowhere Else«, 285. 255 »Wir haben den Armeniern viel Böses getan, aber wir werden den Juden nichts tun.« Zit. nach von Bernstorff an das Auswärtige Amt, 30. Oktober 1917, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 358. 256 Kieser, Talât Pascha, 300 f. 257 Friedman, Germany, Turkey, and Zionism, 1897–1918, 252.
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wurde. Eine positive Berichterstattung, so wünschte man in Berlin, würde die amerikanische Öffentlichkeit und Kriegspolitik zugunsten der Mittelmächte beeinflussen und in das Lager Deutschlands ziehen.258 Eine solche – von antisemitischen Projektionen mitbestimmte – Perspektive, die einen jüdischen Einfluss auf die Politik der Krieg führenden Regierungen unterstellte, wurde allerdings zu jener Zeit von den meisten europäischen Großmächten geteilt und spielte etwa beim Zustandekommen der Balfour-Deklaration von 1917 eine entscheidende Rolle.259 Auch bei der Hohen Pforte wurde der mehr imaginierte als real existierende Einfluss jüdischer Lobbyisten auf die amerikanische Außenpolitik gefürchtet, was in nicht unerheblichem Maße dazu beigetragen haben mag, dass die Proteste der deutschen Offiziellen Gehör fanden.260 Gänzlich unbeeindruckt zeigte sich Berlin dagegen vom Schicksal der armenischen Bevölkerung. Zweifellos hatte die deutsche Regierung zumindest Kenntnis von den Geschehnissen, tat jedoch fast nichts, um die Deportationen und den massenhaften Mord zu verhindern. Gegenüber Morgenthau soll der deutsche Botschafter von Wangenheim unmissverständlich klargestellt haben: »I will help the Zionists, but I shall do nothing whatever for the Armenians.«261 Sein Nachfolger Graf Wolff Metternich, der zumindest versuchte, gegen die Gräuel zu protestieren, wurde nach weniger als elf Monaten auf Drängen der türkischen Regierung seines Postens enthoben und durch Richard von Kühlmann ersetzt, einen energischen Unterstützer der jungtürkischen Politik, unter dem sich auch das Verhältnis der deutschen Botschaft zu den Konstantinopler Zionisten deutlich abkühlte. Dabei war das Deutsche Reich wohl die einzige europäische Macht, die unter Umständen etwas für die armenische Bevölkerung hätte tun können, zeigte sich doch gerade der türkische Innenminister Talât Pascha für die Interventionen von deutscher Seite offen. Schließlich war er es, der nach dem Protest deutscher Diplomaten wiederholt Anordnungen Cemal Paschas in Palästina widerrief. Das Ausbleiben deutscher Interventionsversuche ist neben der vielbeschworenen Rücksicht auf ein intaktes deutsch-türkisches Verhältnis sicher auch damit zu erklären, dass der Schutz der armenischen 258 Zu den deutschen Bemühungen um die Gunst des amerikanischen Judentums vgl. Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 449–458. 259 Innerhalb britischer Regierungskreise herrschte die Vorstellung eines einflussreichen »Weltjudentums«, das mehrheitlich mit dem gegen Russland Krieg führenden Deutschland sympathisiere. Nach der russischen Februarrevolution und dem Sturz des Zaren hoffte die britische Regierung mit der Zusage für eine jüdische Heimstätte in Palästina u. a. auch, die Unterstützung v. a. der amerikanischen und russischen Judenheiten für die Kriegsanstrengungen der Alliierten gegen die Mittelmächte zu gewinnen. Vgl. Levene, The Balfour Declaration; Renton, The Zionist Masquerade, 59 f. 260 Vgl. Manuel, The Realities of American-Palestine Relations, 120. 261 Morgenthau, Secrets of the Bosphorus, 244.
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Minderheit nicht mit längerfristigen politischen Vorteilen für die deutsche Regierung verbunden gewesen wäre. Das außenpolitische Handeln Berlins war in den Jahren des Ersten Weltkriegs vorrangig von wohlkalkulierten Kosten-Nutzen-Erwägungen geprägt und nicht – wie Egmont Zechlin zumindest für die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung konstatierte262 – von humanitären Motiven geleitet. So haben die imperialistischen Ambitionen des Deutschen Reichs zwar zur vorsichtigen Förderung zionistischer Interessen in Palästina geführt, gleichzeitig jedoch eine umfassende Unterstützung jüdischer Interessen durch die deutsche Regierung verhindert. Dennoch muss anerkannt werden, dass, wie es der langjährige Chefredakteur der Jüdischen Rundschau Robert Weltsch 1970 rückblickend formulierte, das Deutsche Reich »in einem überaus kritischen Moment […] den damaligen Jischuv in Palästina gerettet hat, ohne den eine Anknüpfung für die weitere Entwicklung nach dem Krieg nicht möglich gewesen wäre. Der Bestand der realen Basis für die Durchführung der BalfourDeklaration nach dem Krieg ist also paradoxerweise Deutschland zu verdanken. Wenn wir die nationalistische Gewaltpolitik der damaligen türkischen Machthaber und z. B. das Los der – auch, ebenso wie die Juden, als unzuverlässiges Element betrachteten – Armenier bedenken, werden wir die Tatsache gebührend zu würdigen wissen.«263
Im Gegensatz zur deutschen Außenpolitik handelte es sich bei den amerikanischen Interventionen zugunsten des Jischuw um eine Diplomatie der Werte. War Morgenthau auch kein glühender Anhänger des zionistischen Ziels – im Gegenteil lehnte er die Idee eines eigenständigen Gemeinwesens als Lösung der jüdischen Frage zeit seines Lebens vehement ab – so war er doch humanistischen Grundwerten verpflichtet und suchte die jüdische Bevölkerung des Osmanischen Reichs ebenso zu schützen wie die christliche.264 Lichtheim erkannte in Morgenthau schnell einen günstig gestimmten und mit den notwendigen Befugnissen seiner Regierung ausgestatteten Botschafter, den es »auszunutzen« galt.265 In einer im Mai 1915 in der Jüdischen Rundschau erschienenen »psychologischen Skizze« Morgenthaus charakterisierte 262 Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, 325. Zechlin erklärt das Eintreten der deutschen Regierung für den Jischuw während des Weltkriegs mit den »Konventionen der europäischen Gesittung«, die ein »Eintreten für bedrängte Zivilpersonen […] auch im Kriege« verlangten. Er folgt hier einer Einschätzung Lichtheims, vernachlässigt jedoch die Ignoranz der deutschen Regierung gegenüber der radikalen türkischen Politik gegen andere ethnische Minderheiten des Reichs. Vgl. Lichtheim, Rückkehr, 275. 263 Robert Weltsch, Deutschlands Judenpolitik im Ersten Weltkrieg, in: MB, 20. März 1970, 3 f., hier 4. 264 Morgenthau, Secrets of the Bosphorus, 131. 265 CZA, Z3/49, Lichtheim an das AK der ZO, 18. Juni 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 110–112.
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er den Botschafter als »ein[en] Mensch[en], dem die Ideale der Humanität kein Feiertagsgewand und auch kein ›überwundener Standpunkt‹, sondern natürliche Gebote sind, die es auf irgendeine Weise – mag dies auch dem schwerbeladenen Geiste Europas zuweilen naiv oder gar grotesk erscheinen – in praktische Wirklichkeit umzusetzen gilt«.266 Die eigene jüdische Herkunft Morgenthaus mag dabei eine entscheidende Rolle gespielt haben. Bezugnehmend auf die an den Armeniern verübten Verbrechen, schrieb er in einem Brief an seinen Sohn Henry Morgenthau Jr.: »The United States as a neutral power have no right to interfere in their [Turkey’s] internal affairs, and as I receive report after report of the inhuman treatment that the Armenians are receiving, it makes me feel most sad, their lot seems to be very much the same as that of the Jews in Russia, and belonging to a persecuted race myself, I have all the more sympathy with them.«267
Auch in Morgenthaus Nachfolger, dem jüdischen Juristen Abram Elkus, fanden die Zionisten einen Botschafter, der – von Wilsons historischer Sendung überzeugt – eine humanitäre Diplomatie zum Schutz der bedrohten Minderheiten verfolgte. Angesichts der politischen Lobbyarbeit Chaim Weizmanns in London, die mit der Balfour-Deklaration zum größten zionistischen Erfolg jener Jahre führte, wurden die Aktivitäten der deutschen Vertreter der Bewegung im Allgemeinen und die Lichtheims im Speziellen weitestgehend vergessen. Wäre die von Cemal Pascha verfolgte Politik allerdings unwidersprochen zur Umsetzung gekommen, wäre die Balfour-Deklaration möglicherweise gegenstandslos geworden. Es ist das große Verdienst Lichtheims, mit seinem bemerkenswerten Geschick für politische Verhandlungen zum physischen, ökonomischen und politischen Überleben des Jischuw beigetragen zu haben, indem es ihm gelang, in den Botschafterkreisen Konstantinopels ein für zionistische Belange günstiges Klima zu schaffen. Rund zwanzig Jahre später führte ein weiterer diplomatischer Auftrag Lichtheim ins schweizerische Genf, wo er verzweifelt versuchte, die Weltöffentlichkeit auf den millionenfachen Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden durch das nationalsozialistische Deutschland aufmerksam zu machen. Vor dem Hintergrund des Holocaust nimmt die deutsche Unterstützung des Jischuw während des Ersten Weltkriegs einen nahezu unwirklichen Charakter an. Wie kaum eine andere spiegelt die politische Biografie Lichtheims diesen Bruch in der Geschichte des 20. Jahrhunderts.
266 Lichtheim, Henry Morgenthau. Eine psychologische Skizze, in: JR, 7. Mai 1915. 267 Henry Morgenthau an Henry Morgenthau Jr., 19. Juli 1915, zit. nach Ara Sarafian, Introduction, in: Morgenthau, United States Diplomacy on the Bosphorus, 6.
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Nach dem Krieg in Berlin: Die Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen und die »Judenfrage« Im Frühjahr 1919 sollte Lichtheim noch ein weiteres Mal die zionistischen Interessen gegenüber der nunmehr neuen deutschen Regierung vertreten. Am Morgen des 9. November 1918 hatte der letzte kaiserliche Reichskanzler Max von Baden (1867–1929) den Thronverzicht Wilhelms II. bekannt gegeben und am Nachmittag war die Ausrufung der Republik durch den SPD-Politiker Philipp Scheidemann (1865–1929) gefolgt. Da die neue Regierung zunächst davon ausging, über die Bestimmungen des künftigen Friedensvertrags mitverhandeln zu können, hatte sie eine besondere Delegation gegründet, die die deutschen Interessen gegenüber den Alliierten vertreten sollte. Unter der Leitung des ehemaligen Botschafters Graf von Bernstorff bereitete in den Monaten März und April des Jahrs 1919 ein besonderes Gremium, die sogenannte Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen, die antizipierten Gespräche vor und erarbeitete mit Regierungsvertretern und Experten einen Leitfaden für die unterschiedlichen in Paris zu verhandelnden Fragen.268 Unter anderem beschäftigte sich dieses Gremium auch mit »jüdischen Angelegenheiten« und bildete dazu eine Expertenkommission, die sämtliche Fraktionen des deutschen Judentums repräsentieren und einen Forderungskatalog für die Friedenskonferenz ausarbeiten sollte. Ein positives Programm zur »Judenfrage«, so hoffte man, würde das geschädigte Ansehen Deutschlands wiederherstellen.269 Die Kommission bestand aus dem Vorsitzenden des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, Eugen Fuchs (1856–1923), Rabbiner Pinchas Cohen (1867–1941) als Vertreter der Orthodoxie und schließlich Richard Lichtheim, der von Graf von Bernstorff eingeladen wurde, die zionistischen Interessen zu vertreten.270 Sein unermüdliches Engagement für den Jischuw in den Jahren des Kriegs hatte ihm nicht nur innerhalb der zionistischen Bewegung zu erheblichem Ansehen verholfen, auch unter den Mitarbeitern des Auswärtigen Amts, von denen viele bereits im Kaiserreich im Dienst des Ministeriums gestanden hatten, genoss er besonderes Vertrauen. Gemeinsam verständigten sich die Repräsentanten des deutschen Judentums darauf, folgende Forderungen vorzubringen: 1. Die Gleichberechtigung und Gleichstellung der jüdischen Bevölkerung und des 268 Vgl. Kabinettssitzung vom 12. März 1919, in: Erdmann (Hg.), Akten der Reichskanzlei, Bd. 1: Das Kabinett Scheidemann (1919), 38 f. Vgl. auch Bernstorff, Erinnerungen und Briefe, 184. 269 Vgl. Matthäus, Tagesordnung: Judenfrage, 91. 270 Auswärtiges Amt an die Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen, 22. März 1919, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 443.
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Judentums in allen Ländern der Welt. 2. Die Beseitigung und das Verbot all jener Gesetze und Verordnungen, die sich ausschließlich gegen Juden richteten. 3. Nationale und kulturelle Autonomie für die jüdische Bevölkerung in den nach dem Krieg neu gebildeten Staaten. 4. Herstellung der politischen, administrativen und ökonomischen Bedingungen, die eine Entwicklung Palästinas zu einem von der gesamten Judenheit getragenen autonomen Gemeinwesen sicherstellen. 5. Staatliche Entschädigung von Pogromopfern. 6. Die Einsetzung eines Kontrollgremiums, das die Umsetzung der die Juden betreffenden Beschlüsse der Friedenskonferenz überwacht. Dieser Forderungskatalog wurde am 31. März 1919 unter der Tagesordnung »Judenfrage« in einer zweistündigen Sitzung gemeinsam mit Vertretern der deutschen Regierung diskutiert.271 Neben von Bernstorff und den Mitgliedern der jüdischen Kommission nahmen unter anderem auch Moritz S. Sobernheim (1872–1933) als Referent für jüdisch-politische Angelegenheiten des Auswärtigen Amts, James Simon (1851–1932), Präsident des Hilfsvereins der deutschen Juden, sowie der Industrielle und spätere Außenminister Walther Rathenau (1867–1922) an der Debatte teil. Wenige Wochen später erklärte sich das Reichsministerium des Innern mit den meisten Punkten »grundsätzlich einverstanden«, hegte jedoch starke Vorbehalte gegen die Forderung nach nationaler Autonomie der osteuropäischen Judenheiten und riet, »von diesem Teil des Programms abzusehen«.272 Die im Auswärtigen Amt getroffenen Vorbereitungen wurden jedoch hinfällig, nachdem es die Alliierten abgelehnt hatten, deutsche Forderungen in Paris zu berücksichtigen. Gänzlich unabhängig von den Beratungen in Berlin gründete sich im März 1919 in Paris unter der Leitung Leo Motzkins (1867–1933) das aus jüdischen Vertretern verschiedener Diasporaländer bestehende Comité des Délégations Juives, um auf der Friedenskonferenz jüdische Kollektivrechte einzufordern; Resultat dieser Bemühungen war schließlich die Stipulierung der Minderheitenschutzverträge. Das Ende März in der Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen abgehaltene Treffen blieb letztlich ohne politische Folgen. Wie Jürgen Matthäus in seiner kurzen Einführung in das Protokoll der Sitzung bereits anmerkte, spiegelt die Besprechung jedoch exemplarisch die Lage der jüdischen Bevölkerung in Deutschland nach Ende des Ersten Weltkriegs und die grundsätzliche Haltung der Regierung ihr gegenüber.273 Der Erste Weltkrieg markierte für die deutschen Jüdinnen und Juden eine Zäsur. Die anfängliche Kriegseuphorie der jüdischen bürgerlichen Öffentlich271 Das Protokoll der Sitzung ist in englischer Sprache abgedruckt in: Matthäus, Tagesordnung: Judenfrage, 87–110. 272 Reichsministerium des Innern an die Geschäftsstelle für die Friedensverhandlungen, 25. April 1919, abgedruckt in: Friedman (Hg.), Germany, Turkey, and Zionism, 1914–1918, 444. 273 Vgl. dazu auch Matthäus, Tagesordnung: Judenfrage.
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keit speiste sich auch aus der Erwartung, die gemeinsam mit nichtjüdischen Deutschen gemachte Kriegserfahrung würde endlich die volle gesellschaftliche Anerkennung bringen. Sie wich jedoch schon bald der Ernüchterung: Antisemitische Diskriminierung alter Manier, die ihren Höhepunkt in der sogenannten Judenzählung vom Herbst 1916 und der Grenzsperre für osteuropäische Jüdinnen und Juden im Frühjahr 1918 fand, hatte sämtliche Hoffnungen auf ein Einlösen des Versprechens auf volle Emanzipation zunichte gemacht. Den jüdischen Vertretern ging es bei dem zweistündigen Treffen Ende März daher vor allem um die künftige Gestaltung jüdischen Lebens in der neuen deutschen Demokratie und um die Sicherung jüdischer Minderheitenrechte weltweit. Waren die organisierten deutschen Judenheiten bis Kriegsbeginn tief gespalten zwischen antizionistischen Positionen, wie sie der CV und der Hilfsverein vertraten, und nationaljüdischen Forderungen der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, so hatten sich die Vertreter der rivalisierenden jüdischen Gruppierungen nun darauf geeinigt, gegenüber der deutschen Regierung als Einheit aufzutreten und gemeinsam sowohl den Status der deutschen und osteuropäischen Judenheiten zu adressieren als auch Palästina im Sinne einer jüdischen Heimstätte zu beanspruchen. Die Zionistische Organisation hatte ohnehin bereits im Oktober 1918 im sogenannten Kopenhagener Manifest öffentlich neben der Anerkennung Palästinas als nationaler Heimstätte des jüdischen Volks auch die volle recht liche Gleichstellung der Judenheiten weltweit sowie nationale, kulturelle, soziale und politische Autonomie für die jüdische Bevölkerung in Osteuropa gefordert.274 Sie war hier zum ersten Mal über das 1897 in Basel auf dem ersten Zionistenkongress festgelegte Programm, das sich ausschließlich auf Palästina bezog, hinausgegangen, indem sie den Grundgedanken des russisch-jüdischen Historikers Simon Dubnow (1860–1941) in ihre Forderungen aufgenommen hatte. Dieser hatte um die Jahrhundertwende die Idee des Diaspora-Nationalismus entwickelt und die Autonomie der osteuropäischen Judenheiten gefordert. Trotz des Verlusts ihrer politischen Souveränität, so Dubnow, bildeten sie ein nationales Kollektiv, das sich durch eine gemeinsame Geschichte, Kultur und Religion konstituiere. Lichtheim stand diesem Entwurf skeptisch gegenüber. Er fürchtete, die Gewährung voller nationaler Autonomie würde zu wirtschaftlichen Nachteilen für die jüdischen Minderheiten führen und zur kulturellen Entfremdung von den jeweiligen Gesellschaften, in denen sie lebten. Jedoch, rechtfertigte Lichtheim das Programm im Treffen mit den deutschen Regierungsvertretern Ende März, könne sich die zionistische Bewegung nicht dem Wunsch von sechs Millionen osteuropäischen Jüdinnen und Juden verschließen, die 274 Vgl. dazu Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1882–1933, 238, Fn. 3.
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darin die einzige Möglichkeit sähen, sich vor antisemitischer Diskriminierung und Übergriffen vonseiten der nichtjüdischen Umgebungsgesellschaft zu schützen.275 Auch die Vertreter des antizionistischen Centralvereins, die bisher eine nationale Definition des Judentums strikt abgelehnt hatten und darum bemüht waren, »Deutschtum« und jüdische Religion miteinander zu vereinbaren, erkannten nun zumindest die osteuropäischen Judenheiten – wenn auch nicht die mittel- und westeuropäischen – als eigenständige Nation an und folgten zudem auch den Zionisten in ihrem Anspruch auf Palästina. »Die erschütternde Wirkung des verlorenen Krieges«, so Lichtheim, »und die Balfour-Deklaration trugen viel dazu bei, die Gegensätze zwischen den jüdischen Organisationen Deutschlands abzuschwächen. Fast alle früher antizionistisch eingestellten Verbände waren jetzt bereit, in der Palästinafrage den Zionisten den Vortritt zu lassen […].«276 Diese Einigkeit sollte jedoch nur eine kurze Episode bleiben. Die Hoffnungen der deutschen Judenheiten, wie sie etwa im Urteil der Jüdischen Rundschau Ausdruck fanden, die die Gespräche als deutlichen Beweis dafür wertete, »daß die leitenden Staatsmänner der neuen deutschen Republik ebenso großes Verständnis wie Interesse für die politische Wichtigkeit der jüdischen Fragen besitzen«, erwiesen sich schon bald als unbegründet.277 Die Gespräche waren nicht allein aufgrund der Ablehnung deutscher Vorschläge durch die Alliierten gegenstandslos geworden, sondern es zeigte sich bereits in der Unterhaltung selbst, dass sich zwar das politische System, nicht jedoch das politische Klima geändert hatte. Gerade in der Diskussion um die Abschaffung und das Verbot sämtlicher ausschließlich die jüdische Bevölkerung betreffenden Maßnahmen – eine Forderung, die direkt aus der im Frühjahr 1918 erfolgten Grenzschließung für osteuropäische Jüdinnen und Juden resultierte – rechtfertigten die deutschen Regierungsvertreter ebenjenes diskriminierende Vorgehen. Hier wurde eine Haltung offenbar, die auch die zukünftige antisemitische Politik ermöglichte und vorzeichnete. Dem virulenten Antisemitismus der deutschen Gesellschaft war mit dem Krieg nicht wie erhofft ein Ende gesetzt worden, im Gegenteil hatte er mit der deutschen Niederlage neuen Auftrieb erhalten. Die ersten Nachkriegsjahre waren geprägt von antisemitischer Hetze und verschwörungstheoretischer Propaganda. Führende Repräsentanten der von rechts per se als jüdisch deklarierten Weimarer Republik wurden als »Novemberverbrecher« diffamiert, die Hauptschuld der deutschen Niederlage »den defätistischen Juden« zuge schrieben. Walther Rathenau, der Inbegriff des assimilierten deutschen 275 Vgl. das Protokoll der Sitzung in: Matthäus, Tagesordnung: Judenfrage, 105. 276 Lichtheim, Rückkehr, 380. 277 O. A., Beratung der jüdischen Fragen im Auswärtigen Amt, in: JR, 1. April 1919, 177.
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Judentums, der es als erster und einziger Jude in den Rang des deutschen Außenministers geschafft hatte, wurde 1922 von Mitgliedern einer rechtsnationalistischen Terrorgruppe ermordet. Die formale Gleichstellung verkümmerte mehr und mehr »zum blutleeren Abbild des liberal-humanistischen Emanzipationselans«.278 Die beiden konkurrierenden Fraktionen des deutschen Judentums kehrten schon bald zur ausgeprägten Rivalität der Vorkriegsjahre zurück und konzentrierten sich während der Weimarer Republik vornehmlich auf ihre je eigene Antwort auf die antisemitische Ausschlusspolitik der deutschen Gesellschaft: der CV auf die Assimilation unter Wahrung eines jüdisch-religiösen Selbstbewusstseins und die Abwehr des Antisemitismus, die Zionisten auf die Stärkung einer jüdisch-nationalen Zugehörigkeit und die Propagierung Palästinas als Heimstätte des jüdischen Volks. Die Sitzung im Auswärtigen Amt markierte das endgültige Ende der diplomatischen Mission Lichtheims, die 1913 in Konstantinopel begonnen hatte: die Vertretung jüdischer Interessen gegenüber der deutschen Regierung. Bereits kurz nach Kriegsende hatte Lichtheim, dem 15 Jahre zuvor die Möglichkeit einer Auswanderung nach Palästina noch beinahe »verrückt« erschienen war, gemeinsam mit seiner Frau Irene beschlossen, Deutschland zu verlassen.279 Anders als der Mehrheit deutscher Zionistinnen und Zionisten war es Lichtheim ernst damit, aus dem 1912 in Posen gefassten Beschluss, die Übersiedlung nach Palästina sei Lebensaufgabe eines jeden Zionisten, auch praktische Konsequenzen zu ziehen.280 Ab Frühjahr 1919 bemühte sich Lichtheim für sich und seine Familie um Visa für die neutralen Niederlande in der Hoffnung, von dort aus leichter eine Einreisegenehmigung in das nun von den Briten kontrollierte Palästina zu organisieren. Schon im Mai liquidierte er das Vermögen der Familie, transferierte es nach Holland und reiste mit seiner Frau Irene und den beiden Kinder George und Miriam nach Den Haag. Der Versuch, über die Niederlande nach Palästina auszureisen, blieb jedoch erfolglos, da die britische Regierung den Lichtheims die entsprechenden Papiere verwehrte.281 Im Dezember 1919 kehrte die Familie nach Deutschland zurück und ließ sich im Sommer des 278 Klein, Der deutsche Zionismus und die Araber Palästinas, 24. 279 Lichtheim, Rückkehr, 66 f. 280 Bis 1933 scheuten die meisten deutschen Zionisten vor der Auswanderung nach Palästina zurück. Klein schreibt dazu: »Der deutsche Zionismus blieb vor 1933 weitgehend auf die Funktion beschränkt, seinen Anhängern psychologische und soziale Stabilität in Deutschland selbst zu gewähren, den ideologischen und organisatorischen Apparat aufzubauen und finanzielle Mittel zu beschaffen.« Dies., Der deutsche Zionismus und die Araber Palästinas, 29. Laut Reinharz wanderten zwischen 1920 und 1933 nicht mehr als 2 000 deutsche Zionisten nach Palästina aus. Vgl. ders., Three Generations of German Zionism, 107. 281 Vgl. Lichtheim, Rückkehr, 381 f. Vgl. dazu auch CZA, Z3/64, Korrespondenz Lichtheims mit dem Bundesvorstand des Niederländischen Zionistenverbunds.
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Abb. 4: Familie Lichtheim 1920/21 im Garten ihrer Villa in Kronberg im Taunus. © Central Zionist Archives.
Folgejahrs gemeinsam mit Irene Lichtheims Schwester Jenny Caleb und deren beiden Kindern in einer Villa in Kronberg im Taunus nieder (Abb. 4).282 Im Wintersemester 1920/21 hielt Lichtheim Vorlesungen zum modernen Judentum im Freien Jüdischen Lehrhaus im nahe gelegenen Frankfurt.283 Lange sollte er das idyllische Landleben fernab der Zentren zionistischer Politik jedoch nicht aushalten. Im Frühjahr 1921 folgte er der Einladung Chaim Weizmanns, in der Exekutive der Zionistischen Organisation in London mitzuarbeiten.284 Frau und Kinder folgten ihm im Oktober desselben Jahrs nach.285 Aber auch der Aufenthalt in der britischen Hauptstadt war nur von kurzer Dauer. Schon bald wurden die Gegensätze zwischen ihm und den übrigen Mitgliedern der Exekutive deutlich. Aus Protest gegen das Vorgehen Weizmanns zog er sich im August 1923 zunächst aus der zionistischen Politik zurück, bevor Vladimir Jabotinsky ihn schließlich drei Jahre später für seine Oppositionspartei der Zionisten-Revisionisten gewinnen konnte.
282 Stadtarchiv Kronberg (StA Kbg), 2121, Meldebuch der Gemeinde Schönberg; CZA, Z3/64, Lichtheim an das Zionistische Zentralbüro, 1. Dezember 1919; CZA, A56/18, Arthur Ruppin an Lichtheim, 24. Mai 1920. 283 CZA, A56/9, Notizbücher zur Vorlesungsreihe, gehalten im Wintersemester 1920/21. 284 Lichtheim, Rückkehr, 382. 285 StA Kbg, 2121, Meldebuch der Gemeinde Schönberg; vgl. auch Miriam Lichtheim, Telling It Briefly, 21.
3. Revision der zionistischen Politik (1918–1939)
Der Weg in die Opposition Im August 1926 wandte sich Vladimir Jabotinsky,1 der Begründer des revisionistischen Zionismus, auf der Suche nach Unterstützern für seine noch junge politische Bewegung verzweifelt und sichtlich beschämt an Richard Lichtheim: »My dear old man, it’s worth your while to bank on us, even if we be half paralysed by poverty just now. That won’t last. Aber ich schäme mich, mit Ihnen Agitation zu treiben. Ich bitte Sie aber, recht ernst meine Bitte zu überlegen: Kommen Sie zu uns, offen und mit Eclat, und alles wird sich schon finden.«2 1 Vladimir Jabotinsky wurde am 18. Oktober 1880 als Sohn einer assimilierten russischsprachigen bürgerlichen Familie in Odessa geboren. Er erhielt keine formale jüdische Erziehung und entwickelte in der liberalen Atmosphäre der multiethnischen Hafenstadt eine von Religion losgelöste, eher weltliche Vorstellung jüdischer Zugehörigkeit. Von 1898 bis 1901 studierte er Rechtswissenschaften zunächst in Bern, wenig später in Rom. Hier kam er nicht nur mit dem traditionellen italienischen Liberalismus in Berührung, sondern auch mit marxistischer Theorie, italienischem Patriotismus und Nationalismus sowie den revolutionären Ideen der Syndikalisten und Anarchosyndikalisten, was sein politisches und soziales Denken nachhaltig beeinflussen sollte. Zeit seines Lebens blieb er ein Anhänger von Liberalismus, individuellen Freiheitsrechten, Demokratie und Parlamentarismus. 1901 kehrte er nach Russland zurück und machte sich in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg einen Namen als Journalist, Autor und Übersetzer. Für seinen Weg in den militanten Zionismus waren die Pogrome im östlichen Europa prägende Momente. 1903 bewegte ihn das Pogrom von Kischinew dazu, die Idee einer jüdischen Selbstwehr zu propagieren. Der Kampf für die Umsetzung dieser Idee zog sich durch sein gesamtes Leben: angefangen bei seinem Ringen um eine Jüdische Legion im Ersten Weltkrieg über die Forderung nach Aufstellung einer jüdischen Truppe unter britischem Befehl in Palästina in den frühen 1920er Jahren bis hin zu seiner Kampagne zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Bis zu seinem Tod im August 1940 warb Jabotinsky mit Unterstützung einiger revisionistischer Zionisten in Amerika – unter ihnen Benzion Netanyahu (1910–2012), Vater des späteren israelischen Premierministers Benjamin Netanyahu (geb. 1949) – für eine jüdische Armee, die an der Seite der Alliierten gegen Deutschland kämpfen sollte. Vgl. dazu Jabotinsky, Die jüdische Kriegsfront. Für seine Autobiografie vgl. ders., Story of My Life. Die Genese von Jabotinskys politischen Ideen wurde in der Forschung bereits vielfach ausführlich analysiert und wird daher hier nicht wiederholt. Für das Verständnis von Jabotinskys politischem Denken sind v. a. die meist hebräischsprachigen Arbeiten des israelischen Historikers Arye Naor zentral. Für englischsprachige Arbeiten vgl. Shavit, Jabotinsky and the Revisionist Movement, 1925–1948; Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle. 2 CZA, A56/20, Jabotinsky an Lichtheim, 28. August 1926.
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Erst im April des Vorjahrs hatte Jabotinsky in Paris die Union der ZionistenRevisionisten gegründet. Mit ihr wurden die seit den frühen 1920er Jahren als lose Verbindungen mit zunächst nur wenigen Mitgliedern in verschiedenen Staaten Osteuropas entstandenen Gruppierungen, die sich öffentlich gegen die offizielle zionistische Politik unter der Führung Chaim Weizmanns stellten, zu einer organisierten Bewegung.3 Diese frühe Opposition lehnte sowohl die stark von Weizmann propagierte Idee einer Beteiligung von Nichtzionisten an der Arbeit der Jewish Agency4 als auch das Churchill-Weißbuch von 19225 ab, das – unter Beibehaltung des Bekenntnisses zur Balfour-Deklaration und der Zusage einer jüdischen nationalen Heimstätte – zwei neue Grundsätze für die zukünftige britische Politik im Nahen Osten aufstellte. Es erklärte zum einen, dass nicht das gesamte Mandatsgebiet jüdisch werden solle: Bereits im Frühjahr 1921 hatten die Briten beschlossen, das Gebiet östlich des Jordans abzutrennen, um dort das Emirat Transjordanien zu gründen, das schließlich 1946 zum unabhängigen Haschemitischen Königreich Transjordanien wurde. Zum anderen führte das Weißbuch die wirtschaftliche Absorptionsfähigkeit als Kriterium für den Umfang einer erlaubten Einwanderung nach Palästina ein und limi3 Zur Frühgeschichte der revisionistischen Bewegung vgl. Zouplna, Beyond a One-Man Show; Schechtman / Benari, The History of the Revisionist Movement, 1–45. 4 Artikel 4 des 1922 vom Völkerbund bestätigten Palästinamandats erkannte die ZO als angemessene jüdische Vertretung (Jewish Agency) an. Als öffentliche Körperschaft sollte sie die britische Verwaltung Palästinas in wirtschaftlichen, sozialen und anderen Angelegenheiten, die die Errichtung der jüdischen nationalen Heimstätte und die Interessen der jüdischen Bevölkerung in Palästina betrafen, beraten und mit ihr zusammenarbeiten. Bis 1929 erfüllte die Exekutive der ZO diese Funktion. Maßgeblich auf Drängen Weizmanns wurde die Erweiterung dieses Gremiums um Nichtzionisten, von denen man sich v. a. finanzielle Unterstützung des jüdischen Aufbauwerks in Palästina erhoffte, diskutiert. Die Revisionisten lehnten dieses Vorhaben vehement ab, da sie einen Einflussverlust bei der Ausgestaltung Palästinas befürchteten. Auf dem 16. Zionistenkongress 1929 in Zürich fanden die Pläne Weizmanns schließlich breite Zustimmung. Das Gremium wurde umstrukturiert, personell um Nichtzionisten erweitert und offiziell als The Jewish Agency for Palestine gegründet. 5 Sowohl Jabotinsky als auch Lichtheim gehörten zu den Mitgliedern der von Weizmann geleiteten Zionistischen Exekutive, die das Weißbuch 1922 akzeptierten, was ihnen von ihren Kritikern auch immer wieder vorgehalten wurde. Beide übernahmen volle Verantwortung für diese Entscheidung, behaupteten jedoch später, durch den britischen Hochkommissar Herbert L. Samuel (1870–1963) zur Annahme des Weißbuchs gedrängt worden zu sein. Vgl. u. a. Lichtheim, Innerzionistische Diskussionen, in: JR, 23. Dezember 1926, 731. In einem kurz nach seinem Austritt aus der Exekutive geführten Interview mit Yeshayahu Klinov (1890–1963) erklärte Jabotinsky, er habe kaum Gelegenheit gehabt, das Weißbuch zu studieren, und hätte niemals einem Dokument zugestimmt, dessen rechtliche Auslegung die Schaffung einer jüdischen Mehrheit in Palästina bedroht hätte. Vgl. dazu Zouplna, Beyond a One-Man Show, 416. Er rechtfertigte sich dazu nochmals u. a. auf dem 15. Zionistenkongress 1927. Vgl. Protokoll der Verhandlungen des XV. Zionisten-Kongresses, Basel, 30. August bis 11. September 1927, 229 f.
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tierte damit den jüdischen Zuzug in das Gebiet erheblich. Auch kritisierten die oppositionellen Gruppen Weizmanns kooperative Haltung gegenüber der britischen Regierung einerseits und der arabischen Bevölkerung Palästinas andererseits. Alles in allem war den Revisionisten Weizmanns Politik zu moderat, zu kompromissbereit und zu wenig aktionistisch. Als Gegengewicht zu »Weizmannismus« und sozialistischem Zionismus forderten sie eine Revision der zionistischen Politik im Sinne einer »Rückkehr« zu dem, was sie als die ursprüngliche Vision der herzlschen Judenstaatspolitik interpretierten. Das Programm der Revisionisten war gekennzeichnet vom Primat einer machtvollen Politik und eines maximalistischen Territorialdenkens sowie teilweise privatkapitalistischen Vorstellungen für den wirtschaftlichen Aufbau Palästinas. Auf ihrer Gründungskonferenz vom 26. bis 30. April 1925 in Paris definierten Jabotinsky und seine Anhänger als wichtigstes Ziel des Zionismus »die allmähliche Ausgestaltung Palästinas mit Einschluss Transjordaniens« – das sie als in historischer, geografischer wie auch wirtschaftlicher Hinsicht untrennbar mit Cisjordanien verknüpft betrachteten – »zu einem jüdischen Gemeinwesen«. Verwirklicht werden sollte dies mithilfe einer zielgerichteten Masseneinwanderung, bewaffneter jüdischer Verteidigungskräfte und der Umwandlung der britischen Verwaltung in Palästina in ein sogenanntes Kolonisationsregime – ein System von legislativen und administrativen Maßnahmen, die ausdrücklich die jüdische Einwanderung und Besiedlung Palästinas unterstützten sollten.6 Gemeinhin wird heute gerade die revisionistische Form des Zionismus mit dem Kampf um die vollständige nationale Souveränität im Rahmen eines unabhängigen Staats in Verbindung gebracht. Der Begriff des »Staats«, wie ihn die Gründergeneration der Revisionisten verstand, meinte jedoch nicht zwangsläufig ein mit sämtlichen Insignien politischer Souveränität ausgestattetes jüdisches Gemeinwesen. Sie konnten sich ein solches mit einem zufriedenstellenden Maß an Souveränität 6 Das Programm ist abgedruckt in: o. A., Die Konferenz der Revisionisten, in: JR, 12. Mai 1925, 339. Darüber hinaus forderten die Zionisten u. a. freie jüdische Einwanderung nach Palästina und Transjordanien, deren Kontrolle nicht den Briten, sondern der ZO obliegen sollte; Mitspracherecht für die ZO bei der Wahl des Oberkommissars; Repräsentation in den Institutionen Palästinas gemäß dem numerischen Verhältnis von lokaler arabischer Bevölkerung zum einen und gesamtem jüdischen Volk – nicht allein dem Jischuw – zum anderen; Steuererleichterungen für jüdische Neueinwanderer; Wahl der Mitglieder der Jewish Agency durch den Zionistenkongress. Das Programm wurde auf der zweiten Weltkonferenz der Revisionisten in Paris im Winter 1926/27 bestätigt. Vgl. Union der Zionisten-Revisionisten, Revisionistische Kundgebung, in: JR, 29. April 1927, 245. Vgl. dazu auch JI, G1–19, Die Resolutionen der II. Weltkonferenz der Zionistisch-Revisionistischen Union. Für weitere Programmschriften vgl. Grundsätze des Revisionismus; Grossmann / Schechtman, Das Revisionistische Aufbauprogramm; Lichtheim, Revisionismus. Vgl. ausführlich zu den territorialen Forderungen Schechtman, Transjordanien im Bereiche des Palästinamandates.
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innerhalb eines konföderativen politischen Rahmens wie des Britischen Empires, des Völkerbunds oder einer anderen – wenn auch westlichen – Einheit vorstellen.7 Zudem bekannten sich die Revisionisten zur freien Marktwirtschaft und traten für eine Ergänzung der genossenschaftlichen Siedlungspolitik durch privatwirtschaftliche Kolonisationsprojekte und die Förderung der Industrie sowie der Mittelstandseinwanderung ein. Den von der zionistischen Arbeiterbewegung propagierten Klassenkampf lehnten sie ab und vertraten stattdessen das Konzept des sogenannten zionistischen Monismus: Sie betrachteten den Aufbau eines jüdischen Gemeinwesens als alleiniges Ideal und suchten eine Vermengung des Zionismus mit sozialistischen oder anderen politischen Ideen zu verhindern.8 Auch die Haltung der Revisionisten zur arabischen Bevölkerung Palästinas war unzweideutig: Aufgrund der Unvereinbarkeit der nationalen Zielsetzungen beider Bevölkerungen hielten sie eine auf einem Abkommen basierende friedliche Verständigung für unmöglich. Für sie stand fest, dass eine jüdische Heimstätte in Palästina nur gegen den Willen der arabischen Bevölkerung durchzusetzen war.9 Der parteilose Weizmann dagegen stand den sozialistischen Arbeiterparteien nahe und vertrat eine besonders moderate nationale Palästinapolitik, die vor allem die Unterstützung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland fand, die in den 1920er Jahren seine wichtigste Machtbasis bildete. Die Mehrheit der deutschsprachigen Zionisten lehnte den ethnisch-territorialen Nationalismus der Revisionisten entschieden ab und befürwortete stattdessen eine friedliche Koexistenz beider Bevölkerungen. Während Jabotinskys Programm für die meisten von ihnen zur Negativfolie ihrer eigenen Vorstellung zionistischer Politik wurde, fand es die uneingeschränkte Zustimmung 7 Jabotinsky stellte dazu in einem Brief an den Herausgeber des Jewish Chronicle klar: »The aims of Zionism are too often described in such terms as the creation of a Jewish National Home, the reconstruction of Jewish Nationhood, etc. All such expressions may possess a certain rhetorical value; taken as legal terms, they all suffer from vagueness. The only precise way of putting the practical object of Zionism in a nutshell is: ›The creation of a Jewish majority in Palestine.‹ […] Whether ›a country with a Jewish majority‹ is tantamount to ›a Jewish state‹, is a speculation of words. The term ›state‹ has no precise meaning. Spain is a state, so is Kentucky.« Ders., Zionism. Its Aims and Methods, Letter to the Editor of the Jewish Chronicle, in: Jewish Chronicle, 19. Juni 1925, 21 f. Ausführlich dazu auch Shumsky, Beyond the Nation-State, 124–171. 8 Jabotinsky, Zion and Communism, in: ders., Ba-derech la-medina [On the Way to Statehood], 65 f. 9 Programmatisch für die Haltung der Revisionisten zur sogenannten arabischen Frage sind die folgenden Schriften: Jabotinsky, O železnoj stene [Die eiserne Mauer], in: Rassvet, 4. November 1923, 2–4; ders., Ėtika železnoj steny [Die Ethik der eisernen Mauer], in: Rassvet, 11. November 1923; ders., Die palästinensischen Araber, in: ders., Der Judenstaat, Wien 1938, 37–43; Lichtheim, Unsere arabische Frage, in: JR, 27. Januar 1922, 47–49.
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Richard Lichtheims. Er war einer der sehr wenigen deutschen Zionisten, die eine Einigung mit der arabischen Bevölkerung für unrealistisch hielten und Weizmanns Politik bereits in den frühen 1920er Jahren scharf angegriffen hatten. Wie genau Lichtheim auf die eingangs zitierte Bitte Jabotinskys vom August 1926 antwortete, ließ sich nicht rekonstruieren. Im Dezember desselben Jahrs schloss er sich jedoch offiziell Jabotinskys Union an und stand bis 1932/33 den deutschen Revisionisten vor. Lichtheims Hinwendung zur zionistischen Rechten, die keineswegs typisch war für einen deutschen Zionisten, und sein Engagement für die revisionistische Bewegung Jabotinskys stehen im Zentrum dieses Kapitels. Es nähert sich der Geschichte des Zionismus damit aus der Perspektive der Opposition und trägt auf diese Weise seiner Vielstimmigkeit Rechnung. Mit Ausnahme des mittlerweile sehr gut erforschten Brit Schalom,10 des 1925 entstandenen Kreises jüdischer Intellektueller aus West- und Mitteleuropa, der sich für eine jüdisch-arabische Verständigung einsetzte, konzentrierte sich die Forschung zur Geschichte der Gesamtbewegung bisher mehrheitlich auf das zionistische Establishment, das jahrzehntelang von der sozialdemokratisch orientierten Arbeiterbewegung dominiert wurde. Selbst die »Neuen Historiker«11 der Geschichtswissenschaften Israels, die ab den späten 1980er Jahren die traditionelle Erzählung hinterfragten, konzentrierten sich dabei hauptsächlich auf Programm und Politik des Arbeiterzionismus und reduzierten damit den gesamten zionistischen Diskurs auf die Worte und Taten dessen führender Persönlichkeiten.12 10 Aschheim, Beyond the Border; Lee-Hattis, The Bi-National Idea in Palestine during Mandatory Times; Gordon (Hg.), »Brit Shalom« ve-ha-ẓijonut ha-du le’umit [»Brit Schalom« und der binationale Zionismus]; ders., Toward Nationalism’s End; Kedar, Le-toldoteha schel »Brit Schalom« ba-schanim 1925–1928 [Zur Geschichte von »Brit Schalom« von 1925 bis 1928]; Lavsky, German Zionists and the Emergence of Brit Shalom; Ratzabi, Between Zion ism and Judaism; Shumsky, Zweisprachigkeit und binationale Idee; Weiss, Central European Ethnonationalism and Zionist Binationalism; Wiechmann, Der Traum vom Frieden. 11 Benny Morris führte die Bezeichnung »Neue Historiker« 1988 in seinem Artikel The New Historiography ein. Zu den Neuen Historikern Israels zählen u. a. Benny Morris selbst, Avi Shlaim und Tom Segev. Sie begannen nach der Öffnung wichtiger Archive ab den späten 1980er Jahren, das zionistische Narrativ der Geschichte Israels kritisch zu hinterfragen. Die Studien der Neuen Historiker konzentrierten sich zunächst auf den Ersten Arabisch-Israelischen Krieg von 1948/49. Sie dekonstruierten das bis dato vorherrschende Bild Israels als Opfer arabischer Aggression und wiesen der israelischen Führung erheblichen Anteil am palästinensischen Flüchtlingsproblem zu. Zudem unterzogen sie die Behandlung von Holocaust-Überlebenden und Juden aus arabischen Staaten, die v. a. in den ersten Jahren nach der Gründung des Staats einwanderten, durch das zionistische Establishment einer kritischen Untersuchung. 12 Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949; ders., Righteous Victims; Tom Segev, Die ersten Israelis; ders., David Ben-Gurion; Shlaim, Collusion across the Jordan.
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Das rechte Spektrum zionistischer Politik hingegen wurde von der Historiografie lange Zeit vernachlässigt. Frühe Werke zur Geschichte und Politik des revisionistischen Zionismus stammen größtenteils von Anhängern und Sympathisanten der Bewegung selbst – oder ihren entschiedenen Gegnern. In beiden Fällen sind die Darstellungen weitgehend voreingenommen. Die der Bewunderer zeichnen oftmals ein enorm unkritisches, fast hagiografisch anmutendes Porträt des charismatischen Vordenkers der Bewegung, indem sie sich auf Jabotinskys unbestreitbares Talent als politischer Führer, Redner, Literat und Journalist konzentrieren und seine Errungenschaften und Erfolge herausstellen.13 Dagegen betonen die Kritiker Jabotinskys die militante und autoritäre Komponente seiner Persönlichkeit und Politik und scheuen teilweise selbst vor Vergleichen mit extremen Nationalisten seiner Zeit wie Mussolini oder Hitler nicht zurück.14 Bis in die späten 1970er Jahre haben sich nur sehr wenige Autoren ohne ideologische Nähe zum Revisionismus mit Jabotinsky und der Genese seiner politischen Ideen wie auch der seiner Anhängerschaft befasst. Erst nach dem Wahlsieg des Likud 1977 lenkte die historische und politikwissenschaftliche Forschung ihre Aufmerksamkeit verstärkt auch auf den rechten Flügel der israelischen Parteienlandschaft. Im Zuge dieses gewachsenen Interesses an Geschichte und Entwicklung der zeitgenössischen israelischen Rechten nahm auch die Beschäftigung mit Jabotinsky und der revisionistischen Bewegung deutlich zu. Hier wurde allerdings oftmals eine ideologische Kontinuität von Jabotinskys frühen Unterstützern in den 1920er Jahren hin zur radikalen Schule des revisionistischen Denkens der 1930er und 1940er Jahre und schließlich sogar zu den israelischen rechten Gruppen und Parteien nach der Unabhängigkeit konstruiert.15 Neuere Untersuchungen – allen voran Yaakov Shavits Jabotinsky and the Revisionist Movement, 1925–1948 – haben überzeugend gezeigt, dass das Bild wesentlich komplexer ist. Auch wenn radikale Gruppen wie Abba Achimeirs (1897–1962) Brit ha-Birionim, die Irgun und die Stern-Bande oder Politiker wie der Gründer der Ḥ erut-Partei und spätere Premierminister Israels, Menachem Begin (1913–1992), sich oft selbst in 13 Für eine höchst parteiische Biografie vgl. Jabotinskys langjährigen Unterstützer und Weggefährten Schechtman, The Vladimir Jabotinsky Story. Mit ebenso viel Bewunderung, allerdings teilweise etwas kritischer erzählt auch der vormalige Revisionist Shmuel Katz Jabotinskys Leben: ders., Lone Wolf. Ausgewogene Lebensdarstellungen liefern Halkin, Jabotinsky; Stanislawski, Zionism and the Fin de Siècle. 14 In den bitteren Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterzionismus und Revisionismus nannte David Ben-Gurion seinen Erzrivalen Jabotinsky in den 1930er Jahren wiederholt Vladimir Hitler. Auch der marxistische Zionismuskritiker Lenni Brenner verglich Jabotinskys Militarismus mit dem Mussolinis und Hitlers. Vgl. Lenni Brenner, Zionism in the Age of Dictators. 15 Liebman, Jewish Ultra-Nationalism in Israel; Orland, Israels Revisionisten; Lenni Brenner, The Iron Wall.
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der Tradition Jabotinskys sahen, unterschieden sie sich doch grundlegend vom politischen Profil der oft übersehenen, überwiegend russischsprachigen Führungsriege, die gemeinsam mit Jabotinsky die Bewegung aufgebaut und bis zu ihrer Spaltung 1933 dominiert hatte.16 Im Folgenden wird sich ausschließlich auf die ursprüngliche Form des revisionistischen Appells konzentriert, wie er von dieser älteren, größtenteils in Europa ansässigen Generation von Revisionisten formuliert wurde, zu der neben russischen Intellektuellen wie Joseph Schechtman17 (1891–1970) und Meir Grossmann18 auch Lichtheim gezählt werden kann.19 Ohne Jabotinskys maßgebliche Bedeutung infrage zu stellen, bietet die Erweiterung des personellen Fokus auf Lichtheim und diese ältere Generation vorwiegend osteuropäischer Revisionisten die Möglichkeit, Jabotinskys Rolle für die Geschichte der Bewegung neu zu bewerten. Entgegen frühen Darstellungen handelt es sich wie bei allen politischen Bewegungen auch beim revisionistischen Zionismus nicht um eine monolithische, um die ikonische Führungspersönlichkeit herum geformte Masse. Vielmehr ist der Revisionismus durch mehrere Erscheinungsformen rechter Opposition zum Mainstreamzionismus gekennzeichnet, die durchaus in Konkurrenz zueinander standen. Gerade an den innerrevisionistischen Auseinandersetzungen um das Verhältnis zur Zionistischen Organisation, die ihren Höhepunkt zu Beginn der 1930er Jahre fanden und in der Spaltung der Bewegung kulminierten, hatte Lichtheim gemeinsam mit Grossmann erheblichen Anteil. 16 Shimoni, The Zionist Ideology; Kaplan, The Jewish Radical Right; Shindler, The Triumph of Military Zionism; ders., The Rise of the Israeli Right; Bergamin, The Making of the Israeli Far-Right; Joseph Heller, The Stern Gang; Weitz, From Militant Underground to Political Party (hebr.). Auch ist zunehmend die Verschränkung von Jabotinskys politischen Ideen mit dessen literarischem Werk in den Blick genommen worden: Nakhimovsky, Russian-Jewish Literature and Identity; Natkovich, Among Radiant Clouds (hebr.). Zur Geschichte der Jugendbewegung der Revisionisten, Betar, in Polen vgl. Daniel Kupfert Heller, Jabotinsky’s Children. 17 Der aus Odessa stammende Journalist und Sozialwissenschaftler Joseph Schechtman war einer der längsten und treuesten Anhänger Jabotinskys. Bereits während des Ersten Weltkriegs unterstützte er dessen Idee einer jüdischen Legion. 1925 gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Union der Zionisten-Revisionisten; 1935 verließ er die ZO und schloss sich Jabotinskys Neuer Zionistischer Organisation an. 18 Der russische Journalist, Politiker und Publizist Meir Grossmann zählte zu den frühesten Anhängern Jabotinskys. Wie Schechtman propagierte er dessen Legionsidee und gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Union der Zionisten-Revisionisten. Zwischen 1925 und 1933 war er stellvertretender Vorsitzender der Union; ab 1929 leitete er ihr Zentralbüro in London. 19 Diese ältere Generation moderater Revisionisten entstammte zwei verschiedenen politischen Milieus: der Gruppe der exilrussischen Gründerväter, die ab den frühen 1920er Jahren an der Formulierung der politischen Ideen des Revisionismus Anteil hatten, sowie den deutschsprachigen Zionisten, die sich der Bewegung nach 1925 angeschlossen hatten. Zu ihnen zählten u. a. Max Bodenheimer, Lichtheim und Robert Stricker (1879–1944). Vgl. Zouplna, Vladimir Jabotinsky and the Split within the Revisionist Union, 50.
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Mag das Interesse am Revisionismus auch zugenommen haben, umfassende Forschung zum deutschen Revisionismus im Allgemeinen und zu Lichtheim im Besonderen gibt es bis heute nicht.20 Selbst Lichtheim erwähnt in seinem Werk Die Geschichte des Deutschen Zionismus den deutschen Landesverband der Revisionisten, dem er immerhin sechs Jahre lang vorstand, nur am Rande. Wie nachstehend gezeigt werden wird, blieben die Revisionisten in Deutschland zwar eine zahlenmäßig kleine Gruppe – eine »Minderheit in der dritten Potenz«,21 wie Arthur Koestler sie in seinen Lebenserinnerungen beschrieb –, doch beeinflussten sie die Debatten und Diskussionen um nationale Selbstdefinition innerhalb der deutschen wie der Gesamtbewegung maßgeblich. Zunächst soll jedoch der Frage nachgegangen werden, warum Lichtheim eine andere politische Perspektive auf Palästina entwickelte als die Mehrheit der deutschen zionistischen Bewegung, die für das erste Jahrzehnt seines politischen Sozialisationsprozesses den Referenzrahmen bildete. Um zu einem Verständnis von Lichtheims Konzeption des Zionismus zu gelangen, gilt es, die konkreten zeitgeschichtlichen Erfahrungen und Einflüsse zu entschlüsseln, die auf sein politisches Denken und Handeln wirkten und ihn schließlich zunehmend zu einer Randfigur werden ließen, die sich außerhalb des deutschen zionistischen Konsenses bewegte.
Ursprünge eines Denkens: Lichtheims erste Konfrontation mit der »arabischen Frage« Innerhalb der Gesamtbewegung nahmen die deutschen Zionisten ab den 1920er Jahren aufgrund ihrer dezidiert linksliberalen Haltung eine gesonderte Position in den Auseinandersetzungen mit Grundsatzfragen der Bewegung ein. Unterstützte die erste Generation der deutschen Zionisten – führend vertreten durch Max Bodenheimer und Adolf Friedemann – innerhalb der Zionistischen Organisation und ZVfD den politischen Zionismus Herzls, verstand die zweite Generation, die unter Felix Rosenblüth, Alfred Landsberg (1887–1964) und Kurt Blumenfeld die deutsche Bewegung seit den Delegiertentagen in Posen (1912) und Leipzig (1914) dominierte, Zionismus nicht bloß als eine politische Bewegung, die auf die Errichtung eines jüdischen Gemeinwesens als Lösung der sogenannten jüdischen Frage zielte.22 20 Einzig Francis R. Nicosia hat sich in zwei Aufsätzen den deutschen Revisionisten gewidmet: ders., Revisionist Zionism in Germany (I); ders., Revisionist Zionism in Germany (II). 21 Koestler, Pfeil ins Blaue, 205. 22 Die Genese dieser besonders gemäßigten Form des jüdischen Nationalismus wurde in der Forschungsliteratur bereits mehrfach ausführlich diskutiert. Hagit Lavsky führt die moderate Position auf die aufgeklärt liberale Tradition des deutschen Judentums zurück, die auch die deutschen Zionisten geprägt und stark darin beeinflusst habe, einen moralischen
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Stark beeinflusst von den kulturzionistischen Ideen Achad Ha’ams (eigentlich Ascher Ginsberg, 1856–1927) und Martin Bubers,23 bedeutete Zionismus für sie eine zugleich geistige und kulturelle Renaissancebewegung, die in der inneren Regeneration des jüdischen Volks den eigentlichen Sinn des jüdischen Nationalismus erblickte.24 Gleichzeitig entwickelte sich die zionistische und humanistischen Nationalismus als Gegenprogramm zum aggressiven der deutschen Mehrheitsgesellschaft zu formulieren. Vgl. dies., German Zionists and the Emergence of Brit Shalom, 654; dies., Before Catastrophe, 141. Ebenso führt Anja Siegemund die liberale Tradition der deutschen Juden als Erklärung ins Feld: dies., Eine Bürgergesellschaft für den Jischuw – Deutsche nationalliberale Zionisten in Palästina. Yfaat Weiß argumentiert dagegen, hauptsächlich die negative Erfahrung mit ethnischem Nationalismus im mittleren und östlichen Europa habe den politischen und ideologischen Hintergrund des mehrheitlich vom deutschsprachigen Zionismus unterstützten Brit Schalom gebildet: »[T]he only way that Central and Eastern Europe could be considered a political and ideological infrastructure for Brit Shalom members is in the negative sense – as an example of the ever-present danger and threat posed by ethno-nationalism.« Dies., Central European Ethnonationalism and Zionist Binationalism, 97. Stefan Vogt postulierte, dass sich die Nationalismuskonzeption der deutschen Zionisten aus einer spezifisch subalternen Position im Feld des Nationalismus in Deutschland heraus konstituierte: Einerseits war der Nationalismus der deutschen Zionisten stark geprägt von kulturnationalistischen Ideen jüdischer Denker wie Achad Ha’am und Nathan Birnbaum (1864–1937), andererseits partizipierte er co-konstitutiv an den Diskursen des radikalen völkischen Nationalismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Laut Vogt brachte – zusätzlich zur liberalen Tradition des deutschen Judentums und der Konfrontation mit dem Antisemitismus und Chauvinismus des deutschen Nationalismus – gerade das von Kulturzionisten wie Martin Buber vertretene völkisch-essenzialistische Nationenkonzept, das Nation als biologische und kulturelle Einheit verstand, die sich jedoch nicht machtpolitisch konstituierte, einen besonders gemäßigten Nationalismus hervor, der die eigene Nation als Teil einer anzustrebenden universalen Gesellschaft verstand: »Insgesamt kann die im Kulturzionismus entwickelte Synthese von völkischen und universalistischen Vorstellungen und die hiermit verbundene Skepsis gegenüber einem politischen, auf die Gründung eines Nationalstaates zielenden Nationalismus als die dominante Position innerhalb des deutschen Zionismus bis zum Ende der Weimarer Republik gelten. Der starke Einfluss dieser kulturzionistischen Vorstellungen war eine wesentliche Grundlage dafür, dass ein großer Teil der deutschsprachigen Zionisten zu den Befürwortern einer friedlichen Koexistenz mit den in Palästina ansässigen Arabern gehörten und chauvinistische Tendenzen in der zionistischen Bewegung kritisierten.« Ders., Subalterne Positionierungen, 108. 23 Vgl. dazu Reinharz, Martin Buber’s Impact on German Zionism Before World War I; ders., Ahad Ha’am und der deutsche Zionismus. 24 Die Kulturzionisten verwarfen die Ideologie des politischen Zionismus als unrealistisch und widmeten sich primär der Schaffung einer säkularen nationaljüdischen Kultur. Für sie bestand ein praktisches Ziel in Palästina in der Etablierung einer kleinen, autonomen hebräischsprachigen Gemeinschaft, die als »geistiges Zentrum« die kulturelle Erneuerung aller Judenheiten anleiten sollte. Sie sollte v. a. für die Diaspora einen einheitsstiftenden geistigen Fokus darstellen und somit der Assimilation entgegenwirken. Die Erlangung politischer Souveränität in Palästina lehnten sie dagegen ab, da dies unweigerlich zu Konflikten mit der dort lebenden arabischen Bevölkerung führen würde. Vgl. Mendes-Flohr, Art. »Kulturzionismus«.
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Idee in Deutschland in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zu dem hegemonialen Nationalismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Vor allem der Erste Weltkrieg stellte für viele deutsche Zionisten ein Schlüsselmoment dar. Auf die anfängliche Kriegsbegeisterung war aufgrund der erfahrenen antisemitischen Anfeindungen innerhalb von Armee und Gesellschaft, die ihren Höhepunkt in der sogenannten Judenzählung vom Herbst 1916 und der Schließung der deutschen Ostgrenze für jüdische Migration im Frühjahr 1918 gefunden hatten, schon bald Ernüchterung gefolgt. Die enttäuschte Hoffnung der deutschen Jüdinnen und Juden auf volle gesellschaftliche Anerkennung angesichts der gemeinschaftlich mit ihrer nichtjüdischen Umgebung durchlebten Kriegserfahrung und die im Zuge des Weltkriegs deutlich zutage getretene aggressive Haltung des deutschnationalen Chauvinismus gegenüber Minderheiten beeinflussten die deutsche zionistische Bewegung stark in der Formulierung einer eigenen Vorstellung von Nation und Nationalismus. In Abgrenzung zur offensiven Variante der deutschen Mehrheitsgesellschaft entwickelte sie einen besonders gemäßigten Nationalismus, der hegemoniale und machtpolitische Züge zu vermeiden suchte.25 Bis zum Ende der Weimarer Republik bildete dieser kulturzionistisch geprägte Nationalismus die Mehrheitsposition innerhalb der deutschen Bewegung. Er machte eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas und der benachbarten Regionen zur Vorbedingung der Erfüllung des zionistischen Ziels und diskutierte alternative Modelle der Koexistenz beider Bevölkerungen im Rahmen eines binationalen Gemeinwesens föderaler Ordnung.26 Sowohl die beiden sozialistischen Arbeiterverbände Ha-Po’el ha-Ẓa’ir (Der junge Arbeiter) und der marxistische Po’ale Ẓion (Arbeiter Zions) als auch die Allgemeinen Zionisten vertraten diese auf Verständigung und Kooperation zielende Politik. Selbst der deutsche Ableger des religiösen Misrachi,27 deren reaktionärer Weltverband eher zur zionistischen Rechten zählte, zeichnete sich durch eine moderate nationale Politik und Sympathien für den Arbeiterzionismus aus. Lediglich die Revisionisten und die Radikalen Zionisten um Nahum Goldmann sowie später die sogenannten Unabhängigen Zionisten, die sich nach den arabischen Unruhen von 1929 von den Allgemeinen Zionisten abspalteten, nahmen eine Sonderstellung ein und 25 Vgl. Lavsky, Before Catastrophe, 35. 26 Vgl. Vogt, Subalterne Positionierungen, 108. 27 Der Misrachi (Akronym für Merkaz Ruhani, dt. Religiöses Zentrum) ist eine religiöse Strömung innerhalb der zionistischen Bewegung, die 1902 in Wilna von Rabbi Isaac Jacob Reines (1839–1915) gegründet wurde. Der Misrachi suchte im Rahmen der ZO religiöse und nationale Zielsetzungen zu verbinden. Eine jüdische Heimstätte in Palästina galt den orthodoxen Zionisten als Voraussetzung für die Sicherung der religiösen Zukunft der Juden. Zum Programm des deutschen Misrachi vgl. Klein, Der deutsche Zionismus und die Araber Palästinas, 48 f.
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widersetzten sich der innerhalb der deutschsprachigen zionistischen Bewegung fast einhellig vertretenen Palästinakonzeption.28 Für die deutschen Zionisten bot die Politik Weizmanns – der für eine synthetische Form des Zionismus stand, die die praktische, politisch-diplomatische und kulturzionistische Richtung zu verbinden suchte – eine Alternative zum politischen Zionismus Herzls. Die Mehrheit der ZVfD unterstützte, wenn auch nicht unwidersprochen und einhellig, die von Weizmann angestrebte Erweiterung der Jewish Agency, seine Politik gegenüber den Briten, seine enge Anlehnung an die Arbeiterparteien und deren sozioökonomisches Programm sowie seine kooperative Haltung gegenüber der arabischen Bevölkerung.29 Im von den Revisionisten formulierten Herrschaftsanspruch in Palästina erkannten sie – analog zum deutschen Chauvinismus – eine Form von Nationalismus, die sich aufgrund hegemonialer und machtpolitischer Züge nicht mit ihren eigenen Vorstellungen in Einklang bringen ließ. Während für die meisten deutschen Zionisten die Auseinandersetzung mit dem Vormachtanspruch, dem Antisemitismus und der Exklusivität des deutschen Nationalismus während und im Nachgang des Ersten Weltkriegs einen wichtigen Wendepunkt darstellte, der ihre Konzeption des jüdischen Nationalismus nachhaltig beeinflusste, hatte Lichtheim in diesen Jahren gänzlich andere Erfahrungen gemacht. Fern von den europäischen Kriegsschauplätzen und den antisemitischen Diskursen innerhalb des Deutschen Reichs war es für Lichtheim als Repräsentant der Zionistischen Organisation in Konstantinopel, der zudem eng und letztlich erfolgreich mit den deutschen Behörden zusammengearbeitet hatte, weniger die direkte Konfrontation mit dem aggressiven deutschen Nationalismus als vielmehr die Auseinandersetzung mit der erwachenden arabischen Nationalbewegung, die seine Vorstellung eines jüdischen Nationalismus in Palästina nachhaltig prägen sollte. Zwar ist das Verhältnis des neuen Jischuw zu seiner nichtjüdischen arabischen Umwelt auch innerhalb der deutschen zionistischen Bewegung bereits in den Vorkriegsjahren diskutiert worden, die meisten der vorgebrachten Aufbauentwürfe blendeten die arabische Bevölkerung jedoch entweder ganz aus oder wiesen ihr lediglich eine passive Rolle als Beobachterin zu.30 Auch 28 Vgl. ebd., 49. 29 Reinharz, Chaim Weizmann and German Jewry. 30 So fanden sich ab 1903 in der Jüdischen Rundschau immer wieder Artikel zur sogenannten arabischen Frage, die angesichts einer Vielzahl anderer Herausforderungen für den Zionismus allerdings zunächst eher zweitrangig war. Zu den Debatten innerhalb der deutschen zionistischen Bewegung vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Eloni, Zionismus in Deutschland, 161–249. Den Zionisten wurde später immer wieder vorgeworfen, die arabische Bevölkerung lange ignoriert zu haben. In der Tat hatten die Einwanderer der ersten Alija (1882–1904) trotz des Widerstands, der sich gegen ihre Ansiedlung regte, die Araber Palästinas zwar als Teil ihrer neuen Umwelt wahrgenommen, nicht jedoch die Konfrontation, die sich perspektivisch aus den konfligierenden Interessen beider Seiten ergeben musste.
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Lichtheim hatte in seiner 1911 erschienenen Schrift Das Programm des Zionismus der arabischen Bevölkerung auffallend wenig Beachtung geschenkt und die sozioökonomischen Verhältnisse Palästinas fast beiläufig in den zeitgenössischen Stereotypen einer dünn besiedelten Agrarregion mit armer, rückständiger Bevölkerung beschrieben, deren kulturelle und wirtschaftliche Situation durch die Einwanderung europäischer Jüdinnen und Juden erheblich aufgebessert werden könne.31 Erst seine Tätigkeit in der osmanischen Hauptstadt, die ihn nicht nur mit der existenziellen Bedrohung des Jischuw konfrontierte, sondern auch direkt mit Vertretern der arabischen Nationalbewegung in Berührung brachte, ließ ihn die Bedeutung der sogenannten arabischen Frage erkennen. Dort hatten ab dem Frühjahr 1913 die Zionisten Sami Auch frühe zionistische Denker wie Menachem Ussishkin, Ber Borochov (1881–1917), Leo Motzkin und Theodor Herzl waren davon überzeugt, dass die arabische Bevölkerung mit fairer Behandlung und wirtschaftlichem Aufschwung für den Zionismus zu gewinnen sei. Lediglich Achad Ha’am warnte bereits 1891, dass Palästina keineswegs dem Bild der menschenleeren, verödeten Region entspräche, das in der zionistischen Literatur jener Zeit gern gezeichnet wurde, und prophezeite, dass mit der Ausweitung der jüdischen Einwanderung auch der Widerstand der arabischen Bevölkerung zunehmen würde. Eine ernsthafte Debatte wurde jedoch erst durch den in Palästina lebenden Yitzhak Epstein (1863–1943) ausgelöst, der 1905 die zionistischen Landkaufmethoden und die Verdrängung der arabischen Bauern kritisiert hatte. Epstein schlug einen Bund der zwei sich seiner Ansicht nach gegenseitig ergänzenden »semitischen Völker« vor, der auf Grundlage ausgehandelter Kompromisse und institutioneller Kooperation gleichzeitig sowohl die Schaffung einer jüdischen Heimstätte als auch eine starke arabische Gemeinschaft in Palästina ermöglichen sollte. Auch wenn Epsteins Vorschläge keinen direkten Einfluss auf die zionistische Politik hatten, so brachten sie die arabische Frage verstärkt ins Bewusstsein der Bewegung. In der angestoßenen Debatte lassen sich für die Zeit bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs vier prominente Positionen ausmachen. Die schärfste Kritik an Epstein, zu dessen Befürwortern u. a. der unter dem Pseudonym Rabbi Binyamin bekannte Schriftsteller Yehoshua RadlerFeldmann (1880–1957) und der sephardische Intellektuelle Nissim Malul (1892–1959) gezählt werden können, kam von Zionisten wie dem Historiker Joseph Klausner (1874–1958) oder Jabotinsky. Sie forderten eine jüdische Dominanz über Palästina und eine kulturelle Separation von der arabischen Bevölkerung. Da eine gewaltsame Konfrontation in ihren Augen unvermeidlich war, propagierten sie eine Position der Überlegenheit. Zwischen diesen beiden Positionen formierten sich das liberale und das sozialistische Lager. Liberale Anschauungen wurden vorrangig von den älteren Funktionären der ZO wie Victor Jacobson oder Arthur Ruppin vertreten, die eine arabisch-jüdische Koexistenz auf Grundlage politischer Kooperation bei gleichzeitiger ungebrochener Siedlungstätigkeit anstrebten. Die sozialistische Perspektive der jüdischen Arbeiterbewegung in Palästina, deren prominentester Vertreter der Marxist Borochov war, vereinte in ihrer Synthese von Sozialismus und Zionismus verschiedene, sich zum Teil widersprechende Elemente aller anderen Positionen. Ausführlich dazu vgl. Gorny, Zionism and the Arabs, 1882–1948, 26–77; zu den Positionen Ahad Ha’ams und Epsteins vgl. Dowty, Much Ado about Little; ders., »A Question that Outweighs All Others«. 31 Vgl. Lichtheim, Das Programm des Zionismus, bes. 42. Für Beispiele, die Palästina als wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich rückständig beschrieben, vgl. Friedemann, Reisebilder aus Palästina; Trietsch, Bilder aus Palaestina; Auerbach, Palästina als Judenland.
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Hochberg32 (1869–1917) und Victor Jacobson – parallel zu Bemühungen von Jakob Thon, Arthur Ruppin und Nissim Malul in Jaffa und später auch Nahum Sokolow in Beirut und Kairo – versucht, mit Vertretern arabischer Parteien ins Gespräch zu kommen, um die Möglichkeiten einer arabisch-zionistischen Entente auszuloten.33 Nachdem sich in den Jahren nach der jungtürkischen Revolution von 1908 die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung in Palästina signifikant gehäuft hatten, hatte sich zumindest bei den Zionisten vor Ort die Erkenntnis durchgesetzt, dass man zu einer Form friedlichen Zusammenlebens mit der arabischen Bevölkerung kommen müsse.34 Auch eine Reihe von Vertretern der beiden großen arabischen Parteien – der in Kairo ansässigen Osmanischen Partei für administrative Dezentralisierung und der von Beirut aus agierenden Reformbewegung – hatten sich zum Dialog bereit gezeigt, nachdem sie erkennen mussten, dass die Jungtürken nicht gewillt waren, ihre Versprechen hinsichtlich Mitbestimmung und Autonomie umzusetzen. Sie hofften nunmehr, in den Zionisten Verbündete gegen die türkische Regierung zu finden.35 Nach der Übernahme seines neuen Postens in Konstantinopel war auch Lichtheim in diese Gespräche involviert. Nach nur wenigen Monaten in der Stadt am Bosporus, in denen er sich, um ein möglichst vollständiges Bild von den politischen Verhältnissen im Osmanischen Reich zu bekommen, nicht nur mit den türkischen Regierungs- und internationalen Botschafterkreisen, sondern auch mit den arabischen Notabeln der Stadt vertraut gemacht hatte, musste Lichtheim im Sommer 1914 anerkennen, dass »Palästina kein unbewohntes Land darstellt, sondern bereits eine erhebliche arabische Bevölkerung aufweist« und diese bei der Entscheidung über Zukunftsfragen nicht unberücksichtigt bleiben könne.36 »Die Leitung unserer Bewegung«, so Lichtheim, »hat erkannt, dass die arabische Frage von höchster Wichtigkeit für uns ist und wir ihr durch wohlüberlegte Politik begegnen müssen.«37 32 Der aus Russland stammende zionistische Aktivist und Publizist Sami Hochberg war von 1909 bis 1915 Redakteur und Mitherausgeber des französischsprachigen prozionistischen Tageblatts Le Jeune Turc. Er stand in engem Kontakt mit dem Büro der ZO in Konstantinopel und stellte den ersten Kontakt zwischen den Zionisten und den arabischen Abgeordneten des osmanischen Parlaments her. Für eine nicht wissenschaftliche, literarische Biografie Hochbergs vgl. Sarna, Sochen mefukpak [Dubios Agent]. 33 Ausführlich zu den zionistisch-arabischen Gesprächen Mandel, The Arabs and Zionism before World War I; ders., Attempts at an Arab-Zionist Entente, 1913–1914; Caplan, Futile Diplomacy, Bd. 1: Early Arab-Zionist Negotiation Attempts 1913–1931, 10–28; Ro’i, The Zionist Attitude to the Arabs 1908–1914. 34 Vgl. Morris, Righteous Victims, 61. 35 Vgl. Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, 186 f. 36 Lichtheim, Politischer Zionismus und zionistische Politik, in: Die Welt, 3. Juli 1914, 652–657, hier 654. 37 Ebd., 656.
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Konkrete Vorschläge, wie eine solche Politik aussehen könnte, machte Lichtheim zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Allerdings betonte er die Notwendigkeit, die arabische Bevölkerung davon zu überzeugen, dass ihr durch die zionistische Bewegung »kein Nachteil« drohe.38 Für Lichtheim waren die jüdisch-arabischen Beziehungen zunächst eng verbunden mit dem Verhältnis des neuen Jischuw zur türkischen Regierung. Ein friedliches Verhältnis der beiden konkurrierenden Gruppen in Palästina, so war Lichtheim überzeugt, werde auch die ablehnende Haltung der türkischen Regierung gegenüber der jüdischen Einwanderung aufweichen, deren Hauptursache er im Widerstand der arabischen Bevölkerung gegen eine jüdische Einwanderung sah.39 »In unserem Verhältnis zu den Arabern liegt doch der Schlüssel zur Situation«, schrieb er im Frühjahr 1914 nach Berlin. Und weiter: »Haben wir von dieser Seite keine Schwierigkeiten, so können wir bei der guten Disposition der Regierung jetzt alles erreichen.«40 Wie gezeigt, musste Lichtheim jedoch schon bald erkennen, dass die türkische Regierung ihre ganz eigenen Gründe hatte, eine jüdische Einwanderung nach Palästina zu beschränken. In öffentlichen Stellungnahmen unterstützte Lichtheim die Verständigungsversuche der Zionistischen Organisation. In der internen Korrespondenz mit dem Berliner Leitungsbüro zeigte er sich jedoch von Anfang an misstrauisch. Früh berichtete er, dass er in den arabischen Vertretern keine Partner für zukünftige Verhandlungen und Vereinbarungen erkennen könne. Im Gegensatz zu seinem älteren Kollegen Victor Jacobson, der die jüdische Einwanderung als integrales Element einer Wiederbelebung des Orients betrachtete, stand Lichtheim einer »jüdisch-arabischen Verbrüderungstheorie mit der grössten Skepsis« gegenüber.41 Zwar hielt er eine Annäherung aufgrund der Angst der türkischen Regierung vor »inneren Krisen und besonders vor den Arabern«42 für notwendig, allerdings machte er sich hinsichtlich der Ergebnisse einer solchen Politik keine Illusionen: Weder seien die arabischen Gesprächspartner an einem arabisch-jüdischen Kulturbund auf Grundlage eines »gemeinsamen semitischen Geistes« interessiert, noch werde sich der Widerstand der arabischen Bevölkerung gegen eine jüdische Einwanderung mit dem bloßen Versprechen von Modernisierung und wirt-
38 Ebd. 39 CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, 9. Oktober 1913, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 75–78. Vgl. auch Lichtheim, Politischer Zionismus und zionistische Politik. 40 CZA, Z3/48, Lichtheim an Victor Jacobson, 14. März 1914. 41 CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, Berlin, 9. Oktober 1913, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 75–78, hier 78. 42 CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, Berlin, 20. November 1913, abgedruckt in: ebd., 78–85, hier 83.
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schaftlichem Aufschwung brechen lassen. Stattdessen war er vom unüberwindbaren Gegensatz beider Gruppen überzeugt: »Die Araber sind unsere natürlichen Gegner und werden es bleiben. Sie pfeifen auf den ›gemeinsamen semitischen Geist‹, genau so, wie sie auf die mohammedanische Solidarität pfeifen. Ich kann vor einer Geschichts- und Kulturträumerei, die uns schweren Schaden bringen kann, nur dringend warnen. Die Araber verlangen keine Erneuerung des Semitismus, sondern eine geordnete Verwaltung, gerechte Steuern, politische Selbstständigkeit. […] Der Jude ist für sie ein Konkurrent, der ihre Vorherrschaft im Lande bedroht. Gegen ein europäisches Protektorat würden die meisten Araber viel weniger einzuwenden haben als gegen eine starke jüdische Einwanderung.«43
Als einer der wenigen Zionisten hatte Lichtheim in Konstantinopel erkannt, dass in Reaktion auf die territorialen und nationalen Bestrebungen der Zionisten auch auf arabischer Seite zunehmend nationale Aspirationen in den Vordergrund traten, die sich nicht mit dem Versprechen ökonomischer Vorteile neutralisieren ließen.44 Er widersprach damit dem in weiten Teilen der zionistischen Bewegung vorherrschenden pejorativen Bild einer bestechlichen und politisch unbewussten arabischen Bevölkerung, deren Zustimmung 43 Ebd., 83 f. 44 Bereits vor dem Einsetzen der nationaljüdischen Einwanderungswellen bestand Palästina im Bewusstsein der arabischen Bevölkerung zumindest als geografische und kulturelle Einheit. Entgegen anderslautenden Behauptungen hat sich das Nationalbewusstsein der palästinensischen Araber nicht nur in Reaktion auf den Zionismus entwickelt; es keimte zunächst im Widerstand gegen die europäische Einflussnahme sowie die türkische Herrschaft auf und wurde durch die zionistische Bewegung bestärkt. Frühe Auseinandersetzungen zwischen den jüdischen Neueinwanderern und der arabischen Bevölkerung resultierten in der Regel aus ungeklärten oder unterschiedlich aufgefassten Nutzungsrechten und Besitzverhältnissen von Ländereien, Fragen der richtigen Bodenkultivierung und der Bewachung der jüdischen Siedlungen. Nach 1900 intensivierte sich das arabische Nationalgefühl; als eine der frühesten Manifestationen gilt Nejib Azourys (ca. 1870–1916) 1905 in Paris erschienenes Buch Le réveil de la nation arabe dans l’Asie turque, in dem der maronitische Christ einen unabhängigen arabischen Staat in Palästina forderte. Ähnlich wie Herzl bemühte sich auch Azoury in der Folge um die Unterstützung der europäischen Großmächte, konzentrierte sich dabei aber vornehmlich auf Frankreich. Bis 1908 blieben politische Statements dieser Art jedoch die Ausnahme. Die Errichtung des Palästina-Amts in Jaffa 1908, mit der erstmals eine Institution vor Ort geschaffen wurde, die die jüdische Einwanderung und den Landkauf organisierte, sowie die jungtürkische Revolution im selben Jahr beförderten den arabischen Nationalismus. Ähnlich den Zionisten hatten die arabischen Nationalisten vergeblich auf mehr Mitbestimmung und Autonomie im Zuge der Regierungsreformen gehofft. Bis zum Beginn des Kriegs kam es jedoch weder zu organisiertem politischen Widerstand noch zur Entstehung einer signifikanten arabischen Nationalbewegung. Zur Herausbildung und Konsolidierung eines politischen und nationalen Selbstverständnisses der palästinensischen Araber trug maßgeblich die Konfrontation mit der zionistischen Bewegung bei, während des Ersten Weltkriegs aber auch die repressive Politik Cemal Paschas und danach die britische Mandatspolitik. Vgl. Porath, The Emergence of the Palestinian-Arab National Movement 1918–1929; Dowty, Israel / Palestine, 58–70.
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zur jüdischen Besiedlung Palästinas sich erkaufen lasse45 – Vorstellungen, wie sie in den Vorkriegsjahren von den meisten Zionisten vertreten wurden, sei es, weil sie tatsächlich an eine solche Möglichkeit glaubten, oder aus Mangel an konkreteren Lösungen für eine Verbesserung des Verhältnisses zur arabischen Bevölkerung. Für Lichtheim machte die im Grunde identische Zielsetzung beider Fraktionen eine Einigung zunehmend unmöglich. Nach einem Treffen mit arabischen Vertretern, das Ende Mai 1914 in Konstantinopel stattfand, berichtete Lichtheim nach Berlin, dass man »aus den Antworten und Fragen der Araber heraushören [konnte], dass sie uns als eine für die Zukunft gefährliche Macht betrachten, von der sie die Verdrängung des Arabertums fürchten«.46 Stattdessen verlangten sie eine »kulturelle Annäherung« der jüdischen Einwan derer an die arabische Gesellschaft: »Natürlich wissen sie, dass wir auf diesem Gebiet keine großen Konzessionen machen können und hierin liegt die Schwierigkeit der Situation.« Dennoch hegten beide Seiten die Absicht, »die Frage gemeinsam zu studieren, um die beiderseitigen Forderungen kennen45 Einzig in der Beeinflussung der Presse sah Lichtheim ein wirksames Mittel, die arabische Meinung günstiger zu stimmen. Er schlug daher vor, zusätzlich zur Beobachtung der arabischen Presse und gelegentlichen Reaktionen auf antizionistische Artikel, die der sephardische Historiker und Journalist Nissim Malul im Auftrag des Palästina-Amts unternahm, die wichtigsten arabischen Zeitungen finanziell zu subventionieren und so eine positive Berichterstattung über den Zionismus zu gewährleisten. Lichtheim und Hochberg verhandelten darüber mit den Redakteuren verschiedener Zeitungen. Unter anderem versuchte Lichtheim, den Herausgeber des zweimal wöchentlich in französischer Sprache erscheinenden Journal de Beyrouth Georges Harfouche zu gewinnen. Auch mit dem Redakteur der nationalarabischen Zeitung Peyām, dem libanesischen Drusen Najib Shuqayr, nahm Lichtheim zu diesem Zweck Kontakt auf. Zu Shuqayr unterhielt er schon bald freundschaftliche Beziehungen und im Laufe des Kriegs wurde er zu Lichtheims »Vertrauensmann für arabische Angelegenheiten«. Vgl. CZA, Z3/47, Lichtheim an das AK der ZO, 28. Oktober 1913; Lichtheim, Rückkehr, 226 und 329. 46 CZA, Z3/49, Lichtheim an das AK der ZO, 28. Mai 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 104–108, hier 105 (Hervorhebungen im Original unterstrichen). Laut Mandel nahmen an dem Treffen u. a. folgende Personen teil: Said al-Husayni (1878–1945), Raghib al-Nashashibi (1881–1951), Said Shahin (arabische Abgeordnete für Jerusalem and Nablus), Ahmad Mukhtar Bayhum (1878–1922; ehemaliges Mitglied der Beiruter Reformgesellschaft), Najib Shuqayr (Libanese mit Verbindungen zur Osmanischen Partei für administrative Dezentralisierung, die offen für eine arabische Autonomie innerhalb des Osmanischen Reichs eintrat). Vgl. Mandel, The Arabs and Zionism before World War I, 206. Ein ähnliches Fazit zieht Lichtheim auch nach einem Treffen mit dem protestantischen Deputierten und späteren Ministerpräsidenten Syriens Faris al-Churi (1877–1962): »Dass wir im Interesse der palästinensischen Araber nötig seien, werden die Leute nie zugeben, weil sie ganz richtig fühlen, dass alle ökonomischen und hygienischen Vorteile, die wir dem Lande bringen, die Tatsache nicht aufwiegen können, dass unser Vordrängen das Arabertum zurückdrängt.« CZA, Z3/49, Lichtheim an Victor Jacobson, 7. Juni 1914, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 109 f.
Ursprünge eines Denkens
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zulernen und zu einer Entente zu gelangen«.47 Zu diesem Zweck wurde eine Zusammenkunft arabischer und zionistischer Vertreter für den Sommer 1914 im libanesischen Brumana anberaumt. Die Zionisten konnten jedoch weder auf die politischen noch auf die kulturellen und materiellen Forderungen ihrer arabischen Verhandlungspartner eingehen.48 Mit der Aufgabe ihrer nationalen Zielsetzung und Integration in die arabische Gesellschaft Palästinas hätten sie ihre prekäre Präsenz als jüdische Minderheit schließlich nur von der Diaspora in den Nahen Osten verlagert. Die Vorbereitungen für die geplante zionistisch-arabische Konferenz im Libanon verliefen schließlich aufgrund zunehmender Zweifel in beiden Lagern im Sande. Die zionistischen Bemühungen, zu einer Übereinkunft mit der arabischen Seite zu kommen, hatten damit vorerst ein Ende gefunden.49 Mit der sich verschärfenden politischen wie wirtschaftlichen Lage des Jischuw kurz nach Beginn des Kriegs in Europa hatte sich schließlich auch der Fokus Lichtheims in Konstantinopel auf die Abwehr der viel unmittelbareren Bedrohung durch die türkische Provinzverwaltung verschoben. Ohnehin überzeugt, dass eine gesicherte Zukunft des jüdischen Gemeinwesens in Palästina von einem Bündnis der Zionisten mit den in der Region dominierenden Mächten abhängig war und nicht von einer Übereinkunft mit der arabischen Bevölkerung, konzentrierte er sich fortan auf die diplomatischen Kreise der Stadt. Die arabisch-zionistischen Verhandlungen von 1913/14 sind eine heute wenig beachtete Episode im Konflikt zwischen Juden und Arabern. Für Lichtheim war dieser erste ernsthaft unternommene und letztlich gescheiterte Versuch beider Parteien, miteinander ins Gespräch zu kommen, jedoch ein Schlüsselmoment, das seine ideologische Positionierung nachhaltig beeinflussen sollte. Die Verhandlungen zeigten, so Lichtheim, dass die Bedeutung der arabischen Frage damals sehr wohl verstanden und nicht – wie später oft behauptet – vernachlässigt worden sei; aber »auch die Schwierigkeiten, ja die Unmöglichkeit, einer echten Lösung durch friedliche Vereinbarung wurde klar erkannt«.50 Diese ersten Zusammenkünfte der Zionisten mit arabischen 47 CZA, Z3/49, Lichtheim an das AK der ZO, 28. Mai 1914, abgedruckt in: ebd., 104–108, hier 105 (Hervorhebungen im Original unterstrichen). 48 Zu den arabischen Forderungen an die Zionisten zählten u. a. die Öffnung jüdischer Schulen für arabische Kinder, die Förderung des arabischen Bildungssystems, die Öffnung der ökonomischen Institutionen der Zionisten für die arabische Bevölkerung und die finanzielle Unterstützung der arabischen Nationalbewegung. Vgl. Caplan, Futile Diplomacy, 24. Die Zionisten verfügten jedoch weder über die geeigneten Mittel, um den Aufbau eines ara bischen Gesundheits- und Sozialwesens mitfinanzieren zu können, noch waren sie gewillt, ihre eigenen Institutionen für die arabische Bevölkerung zu öffnen. 49 CZA, L2/34/2, Arthur Ruppin an Victor Jacobson, 21. Mai 1914; Caplan, Futile Diplomacy, 21. 50 Lichtheim, Rückkehr, 228.
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Nationalisten ließen ihn zu der Überzeugung kommen, dass die Ziele der beiden konkurrierenden Nationalbewegungen nicht miteinander zu vereinbaren waren. In seinen Erinnerungen resümierte er rückblickend: »Daß […] die Araber freiwillig zugunsten der Juden auf die politischen Vorteile, oder die Zukunftsmöglichkeiten verzichten würden, die sich aus ihrer damaligen Stellung als nationale Mehrheit in diesem Lande ergaben, war eine Illusion, die ich schon zu der Zeit meiner ersten Berührung mit den Arabern in Konstantinopel durchschaute und verwarf.«51
Eine unmittelbare Übertragung seiner aus der in Konstantinopel gemachten Erfahrung resultierenden Ansichten in politische Formen vollzog Lichtheim zunächst nicht. Jedoch begann er, wesentliche Elemente seiner Auffassung der arabischen Frage und seines Verständnisses von Zionismus zu entwickeln, die der politischen Perspektive Vladimir Jabotinskys sehr ähnlich waren. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren, die mit der Balfour-Deklaration und dem britischen Mandat neue Handlungsspielräume für die zionistische Bewegung in Palästina eröffneten, transformierten sich seine Ansichten schließlich in konkrete politische Forderungen, die die Basis für die Zusammenarbeit der beiden in den 1920er und 1930er Jahren bilden sollten.
Anfänge einer politischen Freundschaft: Lichtheim und Jabotinsky in London Während Lichtheim in Konstantinopel stets darum bemüht gewesen war, die Zweifel der türkischen Regierung an der Loyalität des Jischuw zu zerstreuen, und sich mithilfe der Botschafter dafür eingesetzt hatte, die jüdische Gemeinde Palästinas vor Verfolgung und Repression zu schützen, versuchte zur selben Zeit Jabotinsky in London, die britische Regierung für die Bildung einer Jüdischen Legion zu gewinnen, die aktiv an der Eroberung Palästinas mitwirken sollte. Wie Lichtheim war auch Jabotinsky vom baldigen Zusammenbruch des Osmanischen Reichs überzeugt, das für ihn schon vor dem Ersten Weltkrieg kein Land mehr, »sondern ein trauriges Mißverständnis« gewesen war.52 Hielt Lichtheim für die Dauer des Kriegs eine vorsichtige Anlehnung an das Deutsche Reich bei gleichzeitiger Wahrung der proklamierten Neutralität für die beste Strategie der Zionistischen Organisation, rechnete Jabotinsky mit einem Sieg der Alliierten und sprach sich offen für eine Allianz mit der Re-
51 Ebd., 229. 52 Jabotinsky, Die jüdische Legion im Weltkrieg, 255 f.
Anfänge einer politischen Freundschaft
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gierung in London aus. Das eigenmächtige, von der offiziellen zionistischen Politik nicht gebilligte Agieren Jabotinskys hatte die beiden zwangsläufig zu politischen Gegenspielern gemacht. Jabotinskys Verhandlungen mit den Briten brachten Lichtheim gegenüber den deutschen und türkischen Beamten immer wieder in Erklärungsnot, erweckten sie doch den Anschein einer Zusammenarbeit der zionistischen Bewegung mit den Ententemächten.53 Zudem musste Lichtheim fürchten, dass die in der englischen und amerikanischen Presse verbreitete Nachricht über eine jüdische Truppe innerhalb der britischen Armee das Misstrauen der türkischen Behörden weiter befeuern und den Jischuw zusätzlich in Gefahr bringen werde. Zum Einsatz der Jüdischen Legion, für deren Aufstellung sich Jabotinsky letztlich erfolgreich bei den Briten eingesetzt hatte, kam es allerdings erst im Zuge der letzten Offensive Edmund Allenbys (1861–1936) im Spätsommer 1918, sodass die aktive Beteiligung jüdischer Soldaten an der Eroberung Palästinas – und damit auch die von Jabotinsky erhoffte propagandistische und politische Wirkung – schlussendlich gering blieb.54 Zu einer persönlichen Begegnung der beiden Zionisten sollte es erst nach Kriegsende kommen, als die Frage nach der strategisch sinnvollsten Allianz mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs und der Übertragung des Völkerbundmandats auf Großbritannien längst entschieden war. Lichtheim, dessen Versuch, über die Niederlande nach Palästina auszureisen, missglückt war, trat unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Deutschland Anfang Januar 1920 wieder in den Dienst der deutschen zionistischen Bewegung. Nachdem Arthur Hantke den Vorsitz der ZVfD vorübergehend an Alfred Klee ab gegeben hatte, um in London die Gründung des jüdischen Aufbaufonds Keren Hayesod vorzubereiten, übernahm Lichtheim gemeinsam mit Kurt Blumenfeld den Posten des stellvertretenden Vorsitzenden.55 Jabotinsky, der im 53 Vgl. CZA, Z3/59, Lichtheim an Weber, 9. Juni 1916; CZA, Z3/50, Lichtheim an Zionistisches Zentralbüro, 7. August 1916. 54 Die britische Regierung lehnte den Einsatz jüdischer Soldaten in Palästina zunächst ab, sodass es vorerst lediglich zur Gründung des Zion Mule Corps kam, eines Transportbataillons, das an der Dardanellenfront eingesetzt und infolge der Niederlage von Gallipoli 1916 wieder aufgelöst wurde. Ironischerweise rekrutierte sich der Großteil der Mitglieder des Zion Mule Corps aus denjenigen Juden, die im Dezember 1914 von den türkischen Behörden aufgrund ihrer nichtosmanischen Staatsangehörigkeit aus Palästina ausgewiesen worden waren. Zur Bildung eines jüdischen Regiments, das für den Kampf an der palästinischen Front vorgesehen war, kam es auf Jabotinskys Drängen hin im darauffolgenden Jahr letztlich doch. Um die dauerhafte Präsenz einer bewaffneten jüdischen Truppe in Palästina zu verhindern, wurden die meisten Mitglieder der Jüdischen Legion nach dem Krieg wieder aus dem Dienst der britischen Armee entlassen. Zur Geschichte der Jüdischen Legion vgl. Watts, The Jewish Legion and the First World War. Jabotinskys Version der Ereignisse kann hier nachgelesen werden: ders., The Story of the Jewish Legion. 55 O. A., Abreise Dr. Hantkes nach London, in: JR, 16. Januar 1920, 21.
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Frühjahr 1920 wegen seiner Beteiligung an der Formierung einer jüdischen Selbstverteidigungstruppe im Zusammenhang mit den arabischen Angriffen auf die jüdische Bevölkerung in der Jerusalemer Altstadt von den Briten festgenommen und zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden war, trat nach dreimonatiger Haft und seiner Begnadigung durch den Hochkommissar Herbert L. Samuel ebenfalls dem Direktorium des Keren Hayesod in London bei und verhandelte mit Chaim Weizmann über eine mögliche Mitarbeit in der Exekutive der Zionistischen Organisation.56 Auf einer Sitzung des Landesvorstands der ZVfD am 9. Januar 1921 in Berlin, zu der Jabotinsky für einen Eröffnungsvortrag über die politische Lage im Zionismus eingeladen worden war, trafen die beiden schließlich erstmals aufeinander. Zu diesem Zeitpunkt wurde innerhalb der Bewegung heftig über die zukünftige Ausrichtung der zionistischen Politik gestritten. Zwar wurde Weizmann, dem der diplomatische Erfolg der Balfour-Deklaration in der Hauptsache zugeschrieben wurde, fast automatisch zum neuen Kopf der Bewegung und 1920 zum neuen Präsidenten der Organisation gewählt, doch blieben er und seine Anhänger nicht unangefochten. Im Laufe des Kriegs hatten auch die amerikanischen Zionisten, vor allem durch ihre maßgebliche finanzielle Unterstützung der zionistischen Institutionen und der kriegsbedingt Not leidenden jüdischen Bevölkerung, deutlich an Einfluss gewonnen. Nun versuchten sie, ihre politische Linie innerhalb der Gesamtbewegung durchzusetzen. Der Konflikt entbrannte vor allem über der Frage nach einer möglichen Form der finanziellen Kooperation mit Nichtzionisten hinsichtlich der Aufbauarbeit in Palästina. Angeführt von dem Richter Louis D. Brandeis und in der Exekutive durch Julius Simon (1875–1969) und Nehemia de Lieme (1882–1940) vertreten, forderten die amerikanischen Zionisten eine ausschließliche Konzentration der zionistischen Arbeit auf die praktische Kolonisation und den wirtschaftlichen Aufbau eines jüdischen Kulturzentrums in Palästina. Sie plädierten für die gleichberechtigte Einbeziehung aller Jüdinnen und Juden und nicht nur der zionistisch Gesinnten in die Aufbauarbeit sowie für deren Finanzierung mithilfe moderner Geschäftsmodelle und privater Investitionen und nicht allein durch Spendensammlungen, wie sie der Keren Hayesod vorsah.57 Ent-
56 Die erste zionistische Konferenz nach dem Krieg 1920 in London wählte eine neue provisorische Leitung der ZO, die aus Weizmann, Nahum Sokolow, Julius Simon und Nehemia de Lieme bestand. 57 In Anlehnung an die zehnprozentige Abgabe nach traditionellem jüdischen Gesetz, den sogenannten Ma’aser (Zehnt), wurde von den Mitgliedern der ZO eine einmalige, innerhalb von fünf Jahren zu zahlende Abgabe von 10 Prozent ihres Gesamtvermögens sowie eine fünf Jahre lang zu leistende jährliche Abgabe von 10 Prozent des Jahreseinkommens für den Aufbau Palästinas verlangt.
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schieden lehnte die Brandeis-Gruppe dagegen den Diaspora-Nationalismus der Europäer ab – jene als Gegenwartsarbeit bezeichnete Form zionistischer Politik, die im Bewusstsein, dass ein zukünftiges jüdisches Gemeinwesen nicht sämtliche Jüdinnen und Juden würde aufnehmen können, auf die Sicherung einer nationaljüdischen Existenz vor allem in Osteuropa zielte. Zionistische Aktivitäten, die außerhalb Palästinas stattfanden beziehungsweise sich nicht auf Palästina konzentrierten, sollten laut den Amerikanern keine finanzielle Unterstützung erfahren.58 Die meisten europäischen Zionisten, allen voran Chaim Weizmann, widersetzten sich den Vorschlägen aus Amerika. Zwar strebten auch sie eine Zusammenarbeit mit Nichtzionisten an, sie waren jedoch nicht bereit, die Hauptverantwortung für den Aufbau in Palästina aus der Hand zu geben. Eine Kooperation mit Nichtzionisten war für sie nur unter der Ägide der Zionistischen Organisation denkbar. Im Gegensatz zur Brandeis-Gruppe beharrten sie auch darauf, dass parallel zu einem radikal auf Palästina gerichteten Zionismus die Gegenwartsarbeit zur Stärkung des jüdischen Nationalgefühls in der Diaspora aufrechterhalten werden müsse. In diesem Richtungskampf war Jabotinsky, der wenig später so entschieden gegen Weizmann agierte, einer seiner Verbündeten. Die ab Mitte der 1920er Jahre offen zutage getretene Rivalität lässt oft in Vergessenheit geraten, dass die beiden Aktivisten während des Ersten Weltkriegs und in den ersten Jahren danach durchaus ähnliche politische Ideen verfolgten. Beide arbeiteten während des Kriegs entgegen der offiziell proklamierten Neutralität der Zionistischen Organisation auf eine Zusammenarbeit mit den Briten hin. Weizmann zählte zu den wenigen Unterstützern von Jabotinskys Legionsidee; umgekehrt brachte die Sicherung der Balfour-Deklaration Weizmann die volle Anerkennung Jabotinskys.59 So ist es wenig verwunderlich, dass Jabotinsky in seinem beinahe vierstündigen Referat über die politische Lage im Zionismus auf der ZVfD-Vorstandssitzung in Berlin im Januar 1921 den pragmatischen Zionismus der Brandeis-Gruppe ablehnte und den Kurs Weizmanns unterstützte. Allerdings formulierte er bereits hier eine Reihe seiner später charakteristischen Standpunkte. Er plädierte für eine aktivere Politik der Zionistischen Organisation, die mit mehr Nachdruck die Umsetzung der Balfour-Deklaration einfordern und mehr Einfluss auf die Gestaltung der britischen Mandatspolitik nehmen sollte. In diesem Sinne verlangte er auch ein Mitspracherecht der Zionisten bei der Ernennung des britischen Hochkommissars und in Weiterführung
58 Zur kulturzionistisch geprägten Auffassung Brandeis’ vgl. Friesel, The Zionist Leadership of Louis D. Brandeis. 59 Vgl. Naor, The Purifying Effect of Truth.
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seiner Legionsidee die Aufstellung eines legalen, unter britischem Befehl stehenden jüdischen Regiments zum Schutz des Jischuw. Zudem plädierte er für die Überwindung interner Differenzen, die Konsolidierung der Exekutive sowie die verstärkte Einbindung von Vertretern des Jischuw in die politische Arbeit der Zionistischen Organisation. Die Ausführungen Jabotinskys fanden umgehend Lichtheims Zustimmung.60 Hatten die beiden Zionisten während des Kriegs noch sehr unterschiedliche Ansichten darüber vertreten, wie Palästina am besten für die jüdische Besiedlung gewonnen werden sollte, waren sie sich bei ihrem ersten Zusammentreffen darüber weitgehend einig. In einem fast vierzig Jahre später verfassten Essay resümierte Lichtheim rückblickend: »[S]obald wir uns nach dem Kriege in Berlin getroffen und ausgesprochen hatten, war zwischen uns ein Freundschafts- und Vertrauensverhältnis entstanden, das sich zehn Jahre lang trotz mancher Meinungsverschiedenheiten bewährte, ja, von Jahr zu Jahr mehr festigte.«61 Auch Jabotinsky schien diese erste Begegnung mit Lichtheim nachhaltig beeindruckt zu haben. Sofort hatte er in ihm einen wertvollen Unterstützer seiner Position erkannt und bemühte sich – bereits damals unzufrieden mit der Arbeitsweise der Exekutive und des Keren Hayesod – um eine engere Zusammenarbeit mit Lichtheim: »Falls ich [in London] bleibe, werde ich den größten Wert darauf legen, dass Sie auch kommen. Wir brauchen so einen 60 Berichte über die Sitzung des Landesverbands der ZVfD am 9. Januar 1921 finden sich hier: o. A., Die Sitzung des Landesvorstandes der ZVfD, in: JR, 11. Januar 1921, 13; o. A., Die Tagung des Landesvorstandes der ZVfD, in: JR, 14. Januar 1921, 21 f. Auch innerhalb der deutschen Bewegung wurde von 1920 bis 1922 die Frage nach dem Verhältnis von »Gegenwartsarbeit« und »Palästinaarbeit« sowie der Einbeziehung von Nichtzionisten in die Arbeit der ZO kontrovers diskutiert. Die Fraktion des Binjan Ha-Arez unterstützte – im Gegensatz zur Mehrheit der deutschen Zionisten – die Position der Amerikaner um Brandeis und konstituierte erstmals eine oppositionelle Haltung innerhalb der ZVfD. Sie blieb jedoch letztlich marginal und konnte sich nicht gegenüber der Mehrheit durchsetzen, zu deren Wortführern neben Kurt Blumenfeld, Arthur Hantke und Felix Rosenblüth auch Lichtheim gehörte. Das Programm des Binjan Ha-Arez ist abgedruckt in: Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1882–1933, 294–296. Die Mehrheit der deutschen Zionisten unterstützte den Kurs Weizmanns und die von Blumenfeld konzipierte Bündnispolitik, der in Form der 1920 gegründeten Spendenorganisation Keren Hayesod ein institutioneller Rahmen gegeben wurde. Diese ermöglichte eine Kooperation von Zionisten und Nichtzionisten auf kultureller und bildungspolitischer Ebene sowie die Fortsetzung der Gegenwartsarbeit und beließ gleichzeitig die alleinige Verantwortlichkeit für die Belange des nationalen Aufbaus in Palästina in den Händen der ZO. Vgl. zu dieser Debatte Lavsky, Before Catastrophe, 66–87. 61 CZA, A56/12, Lichtheim, Jabotinsky, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 280–294, hier 289. Bei dem hier zitierten Dokument handelt es sich um das deutsche Originalmanuskript eines Artikels, der am 21. September 1960 auf Hebräisch in der Tageszeitung Haaretz erschien.
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Mann in der Partei und dem Keren. Beide sind haarsträubend unorganisiert«, schrieb er ihm wenige Wochen nach dem Treffen in Berlin.62 Nachdem die Brandeis-Unterstützer Julius Simon und Nehemia de Lieme aus Protest gegen die Politik Weizmanns aus der Exekutive ausgetreten waren, wandte sich Weizmann auf seiner Suche nach neuen Mitgliedern tatsächlich kurze Zeit später an Lichtheim und lud ihn zur Mitarbeit in der Exekutive ein. Gemeinsam mit Jabotinsky und Joseph Cowen63 (1868–1932) trat dieser am 2. März 1921 in die neue Provisorische Exekutive der Zionistischen Organisation ein und zog wenig später mit seiner Familie nach London.64 Während Jabotinsky gemeinsam mit Weizmann und Sokolow das Politische Büro der Zionistischen Organisation übernahm, wurde Lichtheim die Leitung des Organisationsbüros anvertraut, das unter anderem für die Neuordnung der Organisation, die Durchführung der jährlichen Schekelsammlung sowie für die Vorbereitung und Einberufung der regelmäßigen Treffen der leitenden Körperschaften der Organisation zuständig war.65 Als eine seiner ersten Amtshandlungen setzte er gegen den Widerstand der restlichen Exekutive die Einberufung eines Zionistenkongresses noch für dasselbe Jahr durch, um die achtjährige, durch den Krieg verursachte Pause zu beenden.66 Auf dem von Lichtheim vorbereiteten 12. Kongress, der schließlich im September 1921 in Karlsbad stattfand, wurden die von Weizmann ernannten Mitglieder der Provisorischen Exekutive geschlossen von den Delegierten gewählt und so offiziell in ihren Ämtern legitimiert. Damit war auch der Konflikt zwischen Weizmann und Brandeis endgültig zugunsten der europäischen Zionisten entschieden worden. Diese Phase relativ harmonischer Zusammenarbeit in der Exekutive sollte allerdings nur von kurzer Dauer sein. Schnell kristallisierte sich heraus, dass Weizmann und Jabotinsky in den meisten Fragen zionistischer Politik sehr unterschiedliche Auffassungen vertraten. Die heftigsten Kontroversen jener Jahre in der Exekutive drehten sich um Jabotinskys Forderung nach einem bewaffneten jüdischen Regiment in Palästina zum Schutz des Jischuw und das Verhältnis der Zionistischen Organisation zur englischen Mandatsmacht,
62 CZA, A56/18, Jabotinsky an Lichtheim, 15. Februar 1921. 63 Cowen war der Begründer der British Zionist Federation (1899) und fungierte mehrfach als ihr Vorsitzender. Er hatte während des Ersten Weltkriegs sowohl Jabotinskys Legionsidee als auch Weizmanns Bemühungen um die Sicherung der Balfour-Deklaration unterstützt. 64 CZA, A56/12, Lichtheim, Jabotinsky, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 280–294; StA Kbg, 2121, Meldebuch der Gemeinde Schönberg. 65 Vgl. den Tätigkeitsbericht Lichtheims auf dem 13. Zionistenkongress 1923, in: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XIII. Zionisten-Kongresses vom 6. bis zum 18. August 1923 in Karlsbad, 58–69. 66 JI, P140–1, maschinenschriftlicher Lebenslauf Lichtheims, o. D.
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aber auch darum, wie und mithilfe welcher Allianzen die jüdische Bevölkerung in der Ukraine zukünftig vor Pogromen geschützt werden könne.67 In dem schon bald offen zutage tretenden Konflikt positionierte sich Lichtheim zunehmend aufseiten Jabotinskys. Deutlich wurde die politische Nähe der beiden vor allem in der Diskussion um die Frage nach der Ausgestaltung des Zusammenlebens von Jischuw und arabischer Umwelt.
Die Auseinandersetzung mit der »arabischen Frage« innerhalb der zionistischen Bewegung zu Beginn der 1920er Jahre Die Konkretisierung arabischer Unabhängigkeitsforderungen und der zunehmend gewaltsame Widerstand der arabischen Bevölkerung gegen die jüdische Einwanderung Anfang der 1920er Jahre ließen die sogenannte arabische Frage wieder stärker in den Fokus der zionistischen Debatten rücken. Insbesondere die blutigen Ausschreitungen gegen Jüdinnen und Juden im April 1920 und Mai 1921 in Palästina hatten einem Großteil der Zionisten zum ersten Mal die Gefahr eines ernsthaften Konflikts zwischen den beiden rivalisierenden Bevölkerungsgruppen vor Augen geführt. Dies spiegelte sich auch in den Redebeiträgen auf dem von Lichtheim organisierten 12. Zionistenkongress in Karlsbad. Bereits in dessen Vorfeld hatte Robert Weltsch, Herausgeber der Jüdischen Rundschau, des offiziellen Organs der ZVfD, es zur Hauptaufgabe des Kongresses erklärt, ein Wort der Verständigung an die arabische Bevölkerung zu richten, und ein Bekenntnis zum binationalen Staat gefordert.68 Die Diskussionen um die »neuentdeckte« Problematik der arabischen Frage auf dem Kongress ließen bereits die verschiedenen Auffassungen innerhalb der Bewegung deutlich werden, dennoch mündeten sie in eine Willenserklärung, »mit dem arabischen Volk in einem Verhältnis der Eintracht und der gegenseitigen Achtung zu leben und im Bunde mit ihm 67 Am Rande des 12. Zionistenkongresses 1921 in Karlsbad hatte Jabotinsky ohne vorherige Rücksprache mit der ZO dem Repräsentanten von Symon Petljuras (1879–1926) ukrainischer Exilregierung, Maksym Slawynskyj (1868–1945), zugesichert, dass jüdische Regimenter die Armee Petljuras bei einer geplanten Rückeroberung der Ukraine unterstützen würden. Jabotinsky, der erstmals 1904 Sympathien für die ukrainische Nationalbewegung geäußert hatte, erhoffte sich von einem solchen Bündnis den Schutz der jüdischen Bevölkerung in einer zukünftigen Ukraine unter Petljura vor antisemitischen Übergriffen. Für die meisten Zionisten war eine Zusammenarbeit mit Petljura undenkbar. Unter dessen Regierung war es im Zuge des Unabhängigkeitskampfs der ukrainischen Nationalbewegung zwischen 1918 und 1920 zu pogromartigen Gewaltexzessen gekommen, denen bis zu 150 000 Juden zum Opfer gefallen waren. Petljura selbst wurde 1926 von dem jüdischen Anarchisten Sholom Schwartzbard (1886–1938) in Paris erschossen. Vgl. Shindler, The Triumph of Military Zionism, 42–48. 68 Robert Weltsch, Der XII. Zionistenkongress, in: JR, 2. September 1921, 501.
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die gemeinsame Wohnstätte zu einem blühenden Gemeinwesen zu machen, dessen Ausbau jedem seiner Völker eine ungestörte nationale Entwicklung sichert«. Der Kongress forderte die Leitung dazu auf, »ihre Bemühungen um eine aufrichtige Verständigung mit dem arabischen Volke […] unter uneingeschränkter Wahrung der Balfour-Deklaration in erhöhtem Maße fortzusetzen«, und versicherte, »dass die jüdische kolonisatorische Arbeit die Rechte und Bedürfnisse des arbeitenden arabischen Volkes nicht beeinträchtigen« werde.69 Die genaue Bedeutung dieser geforderten Verständigung mit der arabischen Bevölkerung entwickelte sich im Laufe der 1920er und 1930er Jahre innerhalb der Bewegung zu einer der am kontroversesten geführten Debatten, in deren Verlauf sich allmählich drei grobe Richtungen herausbildeten: Für die zionistische Mehrheit, die sich aus den bürgerlichen Nationalliberalen um Weizmann und dem osteuropäisch geprägten Arbeiterlager um David Ben-Gurion zusammensetzte, blieb die arabische Frage von eher untergeordneter Bedeutung. Im Vordergrund standen für sie eine uneingeschränkte jüdische Einwanderung und der wirtschaftliche Aufbau Palästinas, ohne dabei eine klare politische Linie gegenüber der bereits ansässigen Bevölkerung zu formulieren. Eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung hielt die Mehrheit der Bewegung zwar für erstrebenswert, machte sie jedoch nicht zur Vorbedingung. Weder beharrte sie auf der Integration der arabischen Bevölkerung in das neu entstehende jüdische Gemeinwesen noch auf der vollständigen Separation beider Gruppen. Der Aufbau eines jüdischen Palästina sollte vielmehr unabhängig von der arabischen Bevölkerung vorangetrieben werden, bis der Jischuw genügend an Stärke gewonnen hätte, um zu einer politischen Lösung mit der arabischen Seite zu gelangen. Für die Ränder des zionistischen Spektrums war die Frage nach dem Verhältnis des wachsenden Jischuw zu seinen Nachbarn von sehr viel zentralerer Bedeutung. Zum einen formierte sich links das sogenannte Verständigungslager, das eine friedliche Übereinkunft mit der arabischen Bevölkerung quasi zur Vorbedingung für die Umsetzung des zionistischen Ziels machte. Als gleichberechtigte Nationen sollten Araber und Juden in einem binationalen Palästina zusammenleben und paritätisch über die Geschicke des Gemeinwesens entscheiden. Der 1925 in Jerusalem gegründete Zusammenschluss jüdischer Intellektueller Brit Schalom, zu dessen bedeutendsten Vertretern Persönlichkeiten wie Martin Buber, Shmuel Hugo Bergmann (1883–1975), Hans Kohn (1891–1971) und der oben zitierte Robert Weltsch gehörten, vertrat diese Forderungen am nachdrücklichsten. Der Brit Schalom ging sogar noch weiter, indem er als einzige der zionistischen Fraktionen nicht 69 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XII. Zionisten-Kongresses in Karlsbad vom 1. bis 14. September 1921, 769.
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offen eine jüdische Dominanz in Palästina anstrebte und damit der Forderung der Mehrheit der Bewegung nach einem überwiegend jüdischen Gemeinwesen eine radikale Alternative entgegenstellte. Vor allem im Kontext der antijüdischen Ausschreitungen von 1929 in Palästina entfachte dieser numerisch kleine, aber wortstarke Zirkel durch die Forderung politischer Zugeständnisse an die arabische Bevölkerung emotionale Debatten innerhalb der Gesamtbewegung. Zum anderen formierten sich am rechten Rand des politischen Spektrums die Anhänger Jabotinskys, die eine friedliche Verständigung auf der Grundlage von Verhandlungen für unmöglich hielten und denen sich schließlich auch Lichtheim anschließen sollte. Als Leiter des Organisationsdepartements auf dem Kongress von 1921 vorrangig mit administrativen und finanziellen Fragen befasst, hatte sich Lichtheim in Karlsbad nicht an der Diskussion um die arabische Frage beteiligt. Er meldete sich dazu allerdings zwischen 1919 und 1923 immer wieder ausgiebig zu Wort, wobei sich eine sukzessive Verhärtung seiner Position abzeichnete. In einem Leitartikel der Jüdischen Rundschau vom Februar 1919, der vor allem das Schicksal Palästinas auf der Pariser Friedenskonferenz zum Gegenstand hatte, bezeichnete Lichtheim die Frage nach der Ausgestaltung des Verhältnisses zur arabischen Bevölkerung als »die erste und größte Schwierigkeit« für die jüdische Aufbauarbeit in Palästina und als »das politische Kernproblem des Zionismus«. Eine Verständigung hielt er für erstrebenswert, liege sie doch »im Interesse aller Beteiligten« – Juden, Araber, Engländer.70 Entgegen seiner Einschätzung, die er in den ersten Monaten des Jahrs 1914 im internen Briefwechsel mit dem Leitungsbüro der Zionistischen Organisation in Berlin geäußert hatte, behauptete er nun, die Vorkriegsbemühungen der Zionisten um eine Entente seien lediglich an den politischen Verhältnissen im Osmanischen Reich gescheitert, die eine offene Aussprache beider Gruppen verhindert hätten.71 In einem 1920 unter der Überschrift Die Heimkehr der Juden erschienenen Artikel konstatierte er optimistisch: »Wenn geordnete Verhältnisse geschaffen, die Grenzen des Landes bezeichnet sind, eine klare und eindeutige Regierungspolitik beschlossen ist, dann wird die Verständigung zwischen Juden und Arabern, die sich schon an vielen Orten angebahnt hat, rasch gesichert sein.«72 Vor dem Hintergrund zunehmender Feindseligkeit der palästinensischarabischen Bevölkerung gegenüber dem Zionismus, dem Jischuw und auch England, die mit den gewaltsamen Unruhen im Frühjahr 1920 einen ersten 70 Lichtheim, Die Aussichten des Zionismus auf der Pariser Konferenz, in: JR, 4. Februar 1919, 69 f. 71 Ebd. 72 Lichtheim, Die Heimkehr der Juden, in: Die Zukunft, 28 (1920), H. 45, 163–177, hier 174.
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Höhepunkt erreicht hatte,73 warnte er allerdings schon kurze Zeit später eindringlich vor der Gegnerschaft der arabischen Bevölkerung zur jüdischen Einwanderung, die mit bloßen Verhandlungen nicht zu überwindenden sei. Auf dem 16. Delegiertentag der ZVfD im Juni 1920 in Berlin unterschied Lichtheim zwischen einer »wirtschaftliche[n] Araberfrage«, die er durch eine möglichst geringe Beeinträchtigung der Entwicklungsmöglichkeiten der ansässigen Bevölkerung bei der jüdischen Erschließung und Besiedlung des Lands für lösbar hielt, und einer sehr viel komplexeren »politische[n] Araberfrage«, die die zionistische Bewegung vor ungleich größere Herausforderungen stellte.74 Die Idee eines »semitischen Kulturbündnisses« hielt er grundsätzlich für etwas »Richtiges, Gesundes und politisch Wertvolles«. Da aber »heute in Palästina eben doch Araber wohnen« und »es ein Opfer vom nationalpolitisch-arabischen Standpunkt bedeutet, auf einen Teil des Landes zu verzichten«, bedürfe der zionistische Palästinaaufbau der energischen Protektion Großbritanniens.75 Den deutschen Zionisten warf er Ignoranz gegenüber den realen Entwicklungen in Palästina seit der Balfour-Deklaration vor und prognostizierte, dass es eine natürliche jüdisch-arabische Zusammenarbeit, wie sie einem Großteil der Redner des Delegiertentags vorschwebte, nur nach Herstellung und Konsolidierung einer jüdischen Mehrheit in Palästina geben könne. Lichtheims hier vorgebrachte Perspektive auf die arabische Frage war für die deutsche Bewegung sowohl neu als auch untypisch und sollte innerhalb der ZVfD eine Ausnahme bleiben. Auf dem Delegiertentag selbst stieß sie auf teils scharfe Ablehnung. Lediglich Nahum Goldmann begrüßte Lichtheims Interpretation der arabischen Frage und kritisierte die politische Naivität seiner Vorredner.76 Auf dem 17. Delegiertentag im Mai des Folgejahrs wiederholte Lichtheim seine Forderung nach Herstellung einer entsprechenden jüdischen Vormachtstellung in Palästina und kritisierte in diesem Zusammenhang diejenigen Stimmen innerhalb der Bewegung, die die Bildung einer jüdischen Polizei- oder Militäreinheit unter britischer Aufsicht kategorisch ablehnten.77 Lichtheim war längst davon überzeugt, dass »man sich auf das englische Militär im Ernstfall nicht verlassen« könne.78 Als einer der wenigen deutschen Zionisten unterstützte er Jabotinskys Forderung, »dass die militärische Ausbildung unter Juden so gewöhnlich wird, wie es das An73 Zur Entwicklung des sich nach dem Ersten Weltkrieg speziell in Palästina weiter ausbildenden arabischen Nationalismus vgl. Gorny, Zionism and the Arabs, 1882–1948, 83–86. 74 Lichtheims Referat ist hier wiedergegeben: XVI. Delegiertentag. Die politischen Referate. Richard Lichtheim, in: JR, 29. Juni 1920, 329–332, hier 329. 75 Ebd., 330. 76 XVI. Delegiertentag. Die politische Debatte, in: JR, 9. Juli 1920, 359–361. 77 Lichtheim, Die allgemeine Lage der zionistischen Bewegung, in: JR, 17. Mai 1921, 273–275. 78 CZA, A56/18, Lichtheim an Sokolow, 14. Dezember 1921.
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zünden der Shabbat-Kerzen in der alten Generation war«.79 Was während des Ersten Weltkriegs noch zu schwerwiegenden Differenzen zwischen den beiden Zionisten geführt hatte, war nun zum einenden Element geworden. Jahrzehnte später bezeichnete Lichtheim Jabotinskys Anliegen, Jüdinnen und Juden dazu in die Lage zu versetzen, sich zu verteidigen, wo immer sie auch angegriffen werden, als dessen wohl wichtigsten Beitrag zur zionistischen Idee und Politik.80 Am ausführlichsten legte Lichtheim seine Ansichten wenige Wochen nach dem Kongress im Artikel Unsere arabische Frage in der Jüdischen Rundschau vom 27. Januar 1922 dar. Bereits in deutlich schärferem Ton griff er die deutschen Zionisten an und verwarf eine freundschaftliche Verständigung als »hübschen Gedanken« und »schönklingende Theorie«. Er mahnte, dass »eine wünschenswerte Möglichkeit noch kein politisches Aktionsprogramm« bedeute.81 Im Gegenteil müsse eine politische Verständigung zwangsläufig an der zentralen Frage nach dem künftigen nationalen Charakter Palästinas scheitern: Das zionistische Ziel, Palästina in ein jüdisches Land zu verwandeln, sei nicht zu vereinen mit der arabischen Perspektive, die das Gebiet als Teil eines zukünftigen arabischen Gemeinwesens verstehe. Er hielt es daher für eine »törichte Verdrehung, wenn manche Leute so tun, als ob die Araber sich nur gegen gewisse Erscheinungsformen des Zionismus wenden«.82 Überzeugt, dass eine auf Freiwilligkeit basierende Übereinkunft mit der arabischen Bevölkerung in absehbarer Zukunft nicht zu erreichen sei, plädierte Lichtheim für eine starke zionistisch-britische Allianz. Mit einer entschieden prozionistischen Politik, die die Förderung einer Masseneinwanderung von mehreren Millionen Jüdinnen und Juden, die Bevorzugung der jüdischen gegenüber der arabischen Bevölkerung und den Schutz des anwachsenden Jischuw gegen den zu erwartenden arabischen Widerstand beinhalte, solle Großbritannien die politischen Bedingungen für die Entstehung eines starken jüdischen Gemeinwesens in Palästina schaffen. Je eindeutiger und machtvoller Zionisten und Briten gegenüber den Arabern aufträten, desto größer sei »die Hoffnung, daß dieses jüdische Palästina ohne ernste und blutige Kämpfe mit den arabischen Einwohnern entstehen wird«.83 Lichtheim hielt diese Phase der Konsolidierung nur für einen temporären Zustand. Nachdem eine Verschiebung des demografischen Kräfteverhält79 JI, A1-2/12, Jabotinsky an Lichtheim, 21. März 1922. 80 CZA, A56/12, Lichtheim, Jabotinsky, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 280–294. 81 Lichtheim, Unsere arabische Frage, in: JR, 27. Januar 1922, 47–49, hier 47. 82 Ebd., 48. 83 Ebd., 49. Zu Lichtheims Kritik an der englischen Mandatspolitik vgl. auch den zwei Jahre später erschienenen Artikel ders., Der Zionismus im englischen Oberhaus, in: JR, 13. April 1923, 175 f.
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nisses zugunsten der jüdischen Bevölkerung die Anerkennung der jüdischen Ansprüche auf Palästina durch die arabische Seite quasi erzwingen werde, würden auch ernsthafte Verhandlungen über ein gemeinsames Zusammenleben möglich. Langfristig schwebte Lichtheim ein jüdisches Palästina »nicht durch Unterdrückung der arabischen Bevölkerung seitens einer kleinen, auf Bajonette gestützten jüdischen Oberschicht, sondern jüdisch durch die Zahl, durch die wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung der jüdischen Bevölkerung« vor.84 Gleichzeitig versicherte er, dass ein solches Gemeinwesen nicht die Verdrängung der arabischen Bevölkerung intendiere. Unter Wahrung ihrer bürgerlichen und kulturellen Rechte würde sie als Minderheit in einem jüdischen Gemeinwesen weitgehende Autonomie genießen. Für Lichtheim war »über die staatsbürgerliche Gleichheit und kulturelle Autonomie hinaus – sogar […] internationale Anerkennung des arabischen Bevölkerungsteils, also […] eine Art Politik des Minderheitenschutzes« denkbar.85 Seine Haltung begründete er mit einem immerwährenden historischen Recht des jüdischen Volks auf Palästina, das gänzlich unabhängig von der aktuellen politischen und demografischen Situation sei. Ein gleichwertiges Anrecht der arabischen Bevölkerung auf Palästina wies er mit Blick auf die zahlreichen bereits bestehenden arabischen Staaten zurück: »Wir lehnen das Argument der Araber, welche sich auf ihre heutige Majorität im Lande berufen, damit ab, daß wir wahre Gerechtigkeit fordern. Die wahre Gerechtigkeit kann nicht darin bestehen, daß die heutigen Zustände an jedem Punkt der Erdoberfläche für immer sanktioniert werden. Man darf nicht aus der Zufallstatsache, daß gegenwärtig einige hunderttausend Araber in Palästina wohnen, ableiten, daß Palästina deshalb für immer arabisches Land bleiben müsse. Das Zentrum des Arabertums liegt nicht in Palästina, es liegt in Mekka und Damaskus.«86
Stellt man dem Jabotinskys Aussagen jener Jahre gegenüber, wird die politische Nähe der beiden Männer bereits zu Beginn der 1920er Jahre deutlich. Lichtheims Überzeugung von der Unmöglichkeit einer friedlichen Verständigung zwischen den beiden um Palästina konkurrierenden Gruppen, die politischen Forderungen, die er daraus ableitete, sowie deren Legitimation finden sich nahezu identisch in Jabotinskys Vorträgen und Schriften jener Zeit. Stark geprägt von den antisemitischen Ausschreitungen im russischen Zarenreich, insbesondere im Zuge des Pogroms von Kishinew im Jahr 1903,87 84 Lichtheim, Unsere arabische Frage, in: JR, 27. Januar 1922, 47–49, hier 48. 85 Ebd. 86 Ebd., 49. 87 Das Pogrom in Kishinew sollte zum Fanal jüdischer Verfolgungsgeschichte im zaristischen Russland werden und Jabotinsky, der bereits vor dem Hintergrund eines in Odessa drohenden Pogroms die Aufstellung einer jüdischen Schutztruppe propagiert hatte, in seinen Überzeugungen bestärken. Erst am dritten Tag der Ausschreitungen, die im Laufe der Pessach-
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hatte Jabotinsky die Idee der Selbstverteidigung entwickelt. Bereits auf dem Kongress 1921 in Karlsbad brachte er vor, man habe auch »Amerika und Australien nicht mit Zustimmung der Autochthonen kolonisiert«; gerade die Maiunruhen von 1921 hätten gezeigt, dass es einer »eisernen Wand« aus britischen und jüdischen Verteidigungskräften zum Schutz des Jischuw bedürfe.88 Im Herbst 1923 fasste Jabotinsky in den drei viel zitierten Artikeln Mehrheit,89 Die eiserne Mauer90 und Die Ethik der eisernen Mauer91 in der russischsprachigen Zeitung Rassvet (Dämmerung)92 ausführlich seine Ansichten zur arabischen Frage zusammen, die diesbezüglich als das Grundsatzprogramm zumindest jener ersten Generation von Revisionisten betrachtet werden können, die die Ausrichtung der Bewegung bis 1932/33 bestimmte.93 Darin brachte Jabotinsky unmissverständlich seine Überzeugung zum Ausdruck, der Erfolg des Zionismus hänge von einer jüdischen Bevölkerungsmehrheit in Palästina ab, und konkretisierte sein Konzept einer »eisernen Mauer«, das er bereits auf dem Kongress 1921 in die Debatte eingeführt hatte. Ebenso wie Lichtheim war auch er von der Legitimität und Integrität der arabischen Nationalbewegung überzeugt. Die arabische Bevölkerung sei Palästina als ihrem »nationalen Heim« ebenso verbunden wie die Zionisten und es bestünde daher kein Grund zu der Annahme, dass die arabische Bevölkerung jemals freiwillig einer jüdischen Masseneinwanderung zustimmen und damit ihren Status als Bevölkerungsmehrheit aufgeben werde – auch nicht »für ein und Osterfeiertage in der bessarabischen Stadt mit einem jüdischen Bevölkerungsanteil von fast 50 Prozent ausgebrochen waren, hatte die Polizei eingegriffen. Bis dahin wurden mehr als 40 Juden getötet und knapp 600 verletzt. Mehr als 1 000 Haushalte und Geschäfte wurden geplündert und zerstört, etwa 2 000 jüdische Familien wurden obdachlos. Vgl. dazu Kopstein, Art. »Kischinjow«. 88 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XII. Zionisten-Kongresses in Karlsbad vom 1. bis 14. September 1921, 181. 89 Jabotinsky, Bol’shinstvo [Mehrheit], in: Rassvet, 21. Oktober 1923 (russ.). Vgl. dazu auch Shindler, The Rise of the Israeli Right, 133. 90 Ders., O železnoj stene [Die eiserne Mauer], in: Rassvet, 4. November 1923, 2–4 (dt. Die eiserne Wand [Wir und die Araber], in: Menorah 1 [1923], H. 5, 1–3). 91 Ders., Ėtika železnoj steny [Die Ethik der eisernen Mauer], in: Rassvet, 11. November 1923 (dt. Die Ethik der eisernen Wand, in: Menorah 1 [1923], H. 6, 2 f.). 92 Die russischsprachige Zeitung wurde 1907 als offizielles Organ der ZO in Russland etabliert und 1918/19 von den Bolschewiki verboten. 1922 wurde sie von russischen Exilanten in Berlin wiederbelebt und dort bis 1924 herausgegeben. Zwischen 1924 und 1934 erschien die Zeitung in Paris. Ab 1925 galt sie als offizielles Organ der Revisionisten. 93 Jan Zouplna hat gezeigt, dass auch andere Aspekte des politischen Programms der Revisionisten der 1920er und frühen 1930er Jahre – insbesondere das Konzept des »Kolonisationsregimes« sowie das wirtschaftliche Programm – im Kern bereits vor der offiziellen Gründung der Union der Zionisten-Revisionisten ausformuliert worden waren. Neben Jabotinsky waren daran maßgeblich Schechtman, Israel Trivius (1890–1963), Julius Davidovich Brutzkus (1870–1951) und Yeshayahu Klinov beteiligt. Vgl. Zouplna, Beyond a One-Man Show.
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gutes Eisenbahnnetz«.94 Wollte die zionistische Bewegung ihre Ziele dennoch erreichen, bedürfe es der Forcierung der jüdischen Kolonisierung Palästinas ohne Rücksicht auf die einheimische Bevölkerung sowie des Schutzes vor arabischen Angriffen auf den Jischuw durch britische und jüdische Verteidigungstruppen bis zur Herstellung einer Mehrheit, die letztlich den arabischen Widerstand brechen werde. Dies sollte in seinen Augen jedoch nicht mit der Vertreibung der arabischen Bevölkerung einhergehen. Auch in dem von Jabotinsky imaginierten Gemeinwesen sollten die Rechte der arabischen Bevölkerung als nationaler Minderheit gewahrt werden, ähnlich wie es das zionistische Helsingfors Programm95 von 1906 für die nationalen Minderheiten Russlands eingefordert hatte.96 Ebenso wie Lichtheim rechtfertigte auch Jabotinsky eine jüdische Dominanz in Palästina mit einem historisch legitimierten Vorrecht.97 Im Laufe der 1920er und 1930er Jahre wiederholte die Führungsriege der Revisionisten die hier formulierten Grundsätze regelmäßig in ihrer Zeitung Rassvet und andernorts.98 Das politische Programm Lichtheims und Jabotinskys, für das die Mehrheit der deutschen wie auch der Gesamtbewegung wenig Sympathien aufbringen konnte, verschärfte zwangsläufig den Konflikt mit Weizmann. Der arabische Widerstand hatte dazu geführt, dass die Briten das in der BalfourDeklaration gemachte Versprechen auf eine jüdische Heimstätte in Palästina zwar nicht zurücknahmen, jedoch auch wenig für dessen Verwirklichung taten. Für Jabotinsky wie für Lichtheim lag eine Hauptursache der Stagnation 94 Jabotinsky, Die eiserne Wand (Wir und die Araber), in: Menorah 1 (1923), H. 5, 1–3, hier 1. 95 Das Helsingfors Programm wurde auf der dritten Konferenz der russischen ZO im Dezember 1906 in Helsingfors (Helsinki) angenommen. Jabotinsky war wesentlich an der Ausarbeitung des Programms beteiligt. Besonders zwei zentrale Ideen zionistischer Politik wurden hier formuliert: zum einen der sogenannte synthetische Zionismus, d. h. die Gleichzeitigkeit von praktischer und politischer Arbeit; der synthetische Zionismus postulierte den Grundsatz, dass die internationale Anerkennung eines jüdischen Palästina nicht die Voraussetzung für eine systematische Einwanderung und die praktische Aufbauarbeit sei, sondern an deren Ende stehen würde. Zum anderen wurde das Konzept der sogenannten Gegenwartsarbeit eingeführt, das die Organisation der jüdischen Massen in der Diaspora als nationale Minderheit vorsah und die Stärkung nationaljüdischer Ideen in Vorbereitung auf eine Auswanderung nach Palästina beabsichtigte. Die russischen Zionisten forderten ein liberalisiertes demokratisches Russland und eine weitgehende politische und kulturelle Autonomie all seiner nationalen Minderheiten einschließlich der jüdischen Bevölkerung. Vgl. Kressel, Art. »Helsingfors Program«. 96 Jabotinsky, Die Ethik der eisernen Wand, in: Menorah 1 (1923), H. 6, 2 f., hier, 2. 97 Ebd. Vgl. dazu auch Lichtheims Referat auf dem Delegiertentag der ZVfD am 29. und 30. Dezember 1929 in Jena, wiedergegeben in: Die politische Debatte in Jena, in: JR, 7. Januar 1930, 13. 98 Vgl. beispielhaft Jabotinsky, Political Tasks of the Conference, in: Rassvet, 19. April 1925; ders., On Bi-national Palestine, in: Rassvet, 3. Januar 1926; ders., Again on Bi-national Palestine, in: Rassvet, 16. Oktober 1947; Forth World Conference of the Union of ZionistsRevisionists, in: Rassvet, 17. August 1930.
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zionistischer Ambitionen in der in ihren Augen zu nachgiebigen Haltung Weizmanns gegenüber der Mandatsregierung, die letztlich zu einem Kompromiss nach dem anderen führen und die zionistische Bewegung immer weiter von Herzls ursprünglicher Idee eines Judenstaats entfernen werde.99 Im Gegensatz zu Weizmann, der eine allmähliche Besiedlung Palästinas bei gleichzeitiger diplomatischer Absicherung des Jischuw favorisierte und gegenüber London in Anerkennung der politischen Abhängigkeitsverhältnisse eine Strategie der Flexibilität verfolgte, bevorzugten Jabotinsky und Lichtheim eine ökonomisch abgesicherte massenhafte Immigration, deren Regulierung in den Händen der zionistischen Institutionen selbst liegen sollte.100 Die Aufgabe der Briten bestand für sie in der uneingeschränkten Förderung der zionistischen Aspirationen in Palästina und dem Schutz des Jischuw gegen Angriffe von außen. Von Weizmann wie von der Exekutive insgesamt verlangten sie, die britische Regierung immer wieder und mit Nachdruck dazu aufzufordern, diesen Aufgaben nachzukommen.101 Verbunden mit ihrer Kritik an Weizmanns Haltung zur arabischen Frage und seiner Politik gegenüber der britischen Mandatsregierung war auch ihre Ablehnung der Pläne Weizmanns, eine Gruppe wohlhabender und einflussreicher Nichtzionisten paritätisch an der Arbeit der Jewish Agency zu beteiligen. Hatte Weizmann in der Auseinandersetzung mit der Brandeis-Gruppe eine Einbeziehung von Nichtzionisten in die Geschäfte der Zionistischen Organisation noch abgelehnt, setzte er sich nunmehr nachdrücklich dafür ein mit dem Argument, man könne die wenigsten Nichtzionisten dazu bewegen, ihr Geld in den Aufbau Palästinas zu investieren, ohne ihnen ein gewisses Maß an Mitbestimmung einzuräumen. Lichtheim und Jabotinsky betrachteten die Erweiterung der Jewish Agency jedoch als organisatorische Aufblähung. Ihrer Auffassung nach bedurfte es für die Durchsetzung der zionistischen Ziele einer energischen und nationalen Politik der Leitung, die sie durch die von Weizmann geplante Beteiligung von Nichtzionisten gefährdet sahen. Der Konflikt zwischen Jabotinsky und Weizmann kulminierte schließlich im Januar 1923 im Austritt Jabotinskys nicht nur aus der Exekutive, sondern aus der Zionistischen Organisation insgesamt: Nach einer Sitzung des Aktionskomitees in Berlin am 16. und 17. Januar 1923, auf der eine Resolution Weizmanns angenommen wurde, die die Basis für die Erweiterung der Jewish Agency durch Nichtzionisten legte, entschied sich Jabotinsky 99 Vgl. Shindler, The Triumph of Military Zionism, 42. 100 Jabotinsky, Aliya Hadashit, in: Haaretz, 14. November 1919 (hebr.). Zur Kritik Jabotinskys an der Exekutive vgl. auch die Briefe an Lichtheim: JI, A1-2/12, Jabotinsky an Lichtheim, 1. und 6. März 1922. 101 Vgl. Bericht über die Rede Jabotinskys auf der ZVfD-Sitzung im Januar 1921 in Berlin, in: o. A., Die Tagung des Landesvorstandes der ZVfD, in: JR, 14. Januar 1921, 21 f.
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endgültig dazu, von seinem Posten zurückzutreten.102 Lichtheim, der damals noch in einer Art loyaler Opposition zu Weizmann stand und die Einheitlichkeit der politischen Linie und die Stabilität der Exekutive über seinen persönlichen Protest stellte, kritisierte die Entscheidung Jabotinskys scharf: »Wir sind kein Diskutierclub, sondern haben eine große Kolonisation und Verwaltung zu führen mit großen Finanzinstrumenten, und es kann nicht jedem Mitglied der verantwortlichen Körperschaft das Recht eingeräumt werden, irgendetwas zu sagen, was ihm gerade durch den Kopf geht. Das schafft unmögliche Zustände.«103
Der Historiker Walter Laqueur konstatierte dazu: »Jabotinsky’s resignation from the Executive was accepted without regrets. His colleagues had been irritated by his inclination to dramatise political issues, his frequent speeches and his declarations in which he criticised their policies.«104 Die von Lichtheim geforderte Einheit führte jedoch dazu, dass er wenig später ebenfalls aus der Exekutive ausschied. Auch für ihn gab es in der Diskussion um die Einbeziehung von Nichtzionisten in die Arbeit der Zionistischen Organisation, von der in seinen Augen »letzten Endes auch die zukünftige Gestaltung der Wirtschaft und der Politik des Zionismus abhängen wird«, keinen Spielraum für Verhandlungen.105 Im Vorfeld des 13. Zionistenkongresses im August 1923 in Karlsbad warnte er in der Jüdischen Rundschau eindringlich vor den Gefahren einer Erweiterung der Jewish Agency: Die Kontrolle über die Gestaltung der Palästinaarbeit werde in die Hände der Nichtzionisten übergehen.106 Auf dem Kongress selbst stimmte er schlussendlich als Teil einer kleinen Minderheit gegen den Plan Weizmanns. In der Erwartung, dass sich die meisten Delegierten dafür aussprechen werden, hatte er bereits vor dem Kongress seine Kandidatur zur Wiederwahl in die Leitung zurückgezogen.107 »Es war klar, daß er unter diesen Umständen in die neue Exekutive nicht eintreten kann«, erklärte Robert Weltsch den Lesern der Jüdischen Rundschau im Nachhinein.108 Rückblickend lässt sich schwer feststellen, inwieweit sich Jabotinsky und Lichtheim in den insgesamt 22 Monaten ihrer Zusammenarbeit in der Exe kutive gegenseitig in der Formulierung ihrer politischen Positionen beein102 Vgl. o. A., Die politische Debatte im Aktions-Comité, in: JR, 26. Januar 1923; Jabotinsky, Why I resigned, in: Jewish Chronicle, 2. Februar 1923. 103 Bericht über die Sitzung des Aktionskomitees vom Januar 1923, in: o. A., Die Politik und Stellung der Zionistischen Leitung, in: JR, 2. Februar 1923, 47. 104 Laqueur, A History of Zionism, 345. 105 Lichtheim, Die Hauptprobleme des XIII. Zionistenkongresses, in: JR, 11. Mai 1923, 2 23–225, hier 223. 106 Vgl. auch ders., Die Hauptprobleme des XIII. Zionistenkongresses, in: JR, 18. Mai 1923, 236–238. 107 Lichtheim, Zur neuesten Organisationskrise, in: JR, 8. Januar 1924, 10. 108 Robert Weltsch, Die Ergebnisse des Kongresses, in: JR, 7. September 1923, 474 f., hier 475.
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flussten. Diese Periode markierte jedoch den Beginn einer engen politischen Freundschaft, die sich in den kommenden Jahren weiter festigen sollte. In seinem wenige Jahre vor seinem Tod verfassten Essay über Jabotinsky erinnerte sich Lichtheim daran, was die beiden in den 1920er Jahren geeint hatte: »Wir waren beide ›politische Zionisten‹ in dem Sinne, daß wir einen jüdischen Staat in Palästina wollten, und uns den Tendenzen im Zionismus widersetzten, die den Judenstaats-Zionismus abzuschwächen suchten. Wir wollten ein klares zionistisches Programm und eine starke zionistische Organisation, weshalb wir auch Gegner der von Weizmann gewünschten ›Erweiterung der Jewish Agency‹ waren. Darüber hinaus verbanden uns persönliche Sympathien, die unsere kameradschaftliche Zusammenarbeit erleichterten.«109
Jegliche Politik, die nicht öffentlich und nachdrücklich die Schaffung von Bedingungen forderte, die – als Grundlage eines jüdischen Staats auf beiden Seiten des Jordans – die Bildung einer jüdischen Majorität ermöglichten, wurde von beiden als ganz und gar nichtzionistische Politik und damit als bedeutungslos verworfen.
Lichtheims offizieller Anschluss an die revisionistische Bewegung Im April 1925 schlossen sich Jabotinsky und seine Anhänger in Paris zur Union der Zionisten-Revisionisten zusammen. Der jungen Bewegung fehlte es zunächst sowohl an genügend finanziellen Mitteln als auch an einer nennenswerten Anzahl von Mitgliedern und einflussreichen Unterstützern, die in der Lage gewesen wären, Geldgeber und weitere Fürsprecher anzuziehen.110 Auf dem 14. Zionistenkongress in Wien im August 1925 wurde die Schwäche der Union evident. Bei den Wahlen im Vorfeld gewannen die Revisionisten nur ein einziges Mandat (Jabotinsky) und dies auch nur durch ein Wahlbündnis mit der Fraktion der Radikalen Zionisten in Palästina.111 Erst nachdem sich Jabotinsky drei weitere, unabhängige Delegierte angeschlossen hatten, waren die Revisionisten dazu in der Lage, auf dem Kongress überhaupt eine Fraktion zu bilden.112 Einfluss auf die zionistische Politik zu nehmen war 109 CZA, A56/12, Lichtheim, Jabotinsky, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 280–294, hier 289. 110 Vgl. Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I), 209. 111 Zum Wahlbündnis der Revisionisten mit den Radikalen Zionisten vgl. Kurt Blumenfeld, Die neue Opposition, in: JR, 12. Juni 1925, 409. 112 Zur Bildung einer Fraktion waren mindestens drei Delegierte nötig. Aus einer Zuschrift Marco Romanos an die Jüdische Rundschau geht hervor, wie die Fraktion zustande gekommen ist: ders., Die Fraktion der Revisionisten auf dem Wiener Kongress, in: JR, 23. Oktober 1925, 702. Vgl. dazu auch Schechtman / Benari, The History of the Revisionist Movement, 51.
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damit praktisch unmöglich geblieben. In der Folge versuchte Jabotinsky im Oktober und November desselben Jahres auf einer Vortragsreise durch acht europäische Länder, die ihn auch nach Frankfurt am Main und Berlin führte, für seine neue Union zu werben.113 Obwohl die ZVfD verglichen mit den mitgliederstarken Organisationen Russlands und Amerikas einen eher kleinen Anteil an der Gesamtbewegung repräsentierte – laut Stephen M. Poppel von 1905 bis 1935 lediglich 4 bis 8 Prozent der Mitglieder der Zionistischen Organisation114 –, hatte Jabotinsky großes Interesse daran, auch in Deutschland einflussreiche Fürsprecher für seine Bewegung zu gewinnen. Den mehrheitlich aus dem Bildungsbürgertum stammenden deutschen Zionisten kam innerhalb der Gesamtbewegung trotz ihrer geringen Zahl eine herausragende Rolle zu, hatten sie doch dank ihrer intellektuellen wie kulturellen, ökonomischen und politischen Stärke maßgeblich zur organisatorischen und ideologischen Konstitution der Zionistischen Organisation beigetragen. Selbst als sich nach dem Krieg das Zentrum der zionistischen Politik im Zuge der Balfour-Deklaration und des britischen Palästinamandats von Berlin nach London verlagert hatte, war der Einfluss der deutschsprachigen Bewegung und der hier geführten intellektuellen Debatten auf die Gesamtbewegung immer noch bedeutend.115 Auf seiner Reise durch die deutschen Städte hatte Jabotinsky zunächst den Eindruck, mit seinen Forderungen bei den hiesigen Zionisten auf Interesse zu stoßen. Auch hier hatten sich in den letzten Jahren – entzündet an der Dis kussion um die Erweiterung der Jewish Agency, an der arabischen Frage und dem allgemeinen Stillstand der Bewegung – die kritischen Stimmen gegenüber der offiziellen zionistischen Politik gemehrt.116 Vor allem die seit 1923 bestehende Fraktion der Radikalen Zionisten um Nahum Goldmann und Jakob Klatzkin (1882–1948) teilte die meisten Kritikpunkte Jabotinskys und 113 O. A., Jabotinsky in Amerika, in: JR, 23. Februar 1926, 111. Der Bericht Jabotinskys erschien ursprünglich in der Rassvet. 114 Poppel, Zionism in Germany 1897–1933, 176 f. 115 Vor allem bis 1920 bestanden zwischen der deutschen und der Gesamtbewegung strukturelle wie personelle Überschneidungen. Auf Herzl als Vorsitzenden der ZO folgten mit David Wolffsohn (1904–1911) und Otto Warburg (1911–1920) gleich zwei Zionisten aus den Reihen der deutschen Bewegung, die den Sitz der Zentrale zunächst von Wien nach Köln (1904) und schließlich nach Berlin (1911) verlegten. Dies hatte zur Folge, dass bis 1920 die Büros der deutschen wie der Gesamtbewegung sogar in demselben Gebäude untergebracht waren. Der Vorsitzende der ZVfD, Arthur Hantke, gehörte gleichzeitig auch der Exekutive der ZO an (1911–1920). Zudem war das Deutsche lange Zeit die offizielle Sprache der Bewegung. Bis zum Ende der Weimarer Republik wurden sowohl die Treffen der Exekutive als auch die zionistischen Kongresse, das wichtigste Legislativgremium der Bewegung, auf Deutsch abgehalten und auch das offizielle Organ der ZO Die Welt erschien bis zu seiner Einstellung 1914 auf Deutsch. Zur Rolle der deutschen Zionisten innerhalb der Gesamtbewegung vgl. Lavsky, Before Catastrophe, 23–25. 116 O. A., Jabotinsky in Amerika, in: JR, 23. Februar 1926.
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trug zur Verbreitung revisionistischer Inhalte bei.117 Allerdings musste Jabotinsky schon bald feststellen, dass sich verglichen mit den Staaten Osteuropas das Werben um Unterstützer für die revisionistische Bewegung in Deutschland am schwierigsten gestaltete. Der erhoffte Ansturm neuer Mitglieder blieb trotz gut besuchter Vortragsabende aus. Den Grund hierfür sah er im beispiellosen »Funktionieren der deutschen offiziellen Organisation«: Die Leitung der ZVfD stand genau wie die überwältigende Mehrheit ihrer Mitglieder loyal hinter Chaim Weizmann und der Politik der Exekutive.118 Selbst Lichtheim hatte Weizmanns Führungsanspruch trotz aller Kritik zunächst nicht angefochten. In Reaktion auf Jabotinskys Berliner Vortrag hatte er noch 1925 auf einer Versammlung der Berliner Zionistischen Vereinigung (BZV) klargestellt, dass er sich selbst zwar auch zur Opposition zähle, die Einheitlichkeit der zionistischen Bewegung jedoch mit Entschiedenheit bewahrt werden müsse.119 Dennoch wandte sich Jabotinsky im August 1926 an seinen alten Freund und Kollegen und flehte ihn an: »Lieber Lichtheim […]. Geben Sie uns doch Ihren Namen. Vielleicht den Namen kleinerer Götter, die Sie beeinflussen.«120 Jabotinsky hoffte, unter der Ägide Lichtheims eine deutschsprachige revisionistische Zeitung etablieren, weitere prominente Zionisten und vor allem dringend benötigte Geldgeber für den Revisionismus rekrutieren zu können. In seinem Brief an Lichtheim erklärte er sein Dilemma: »Wenn ich Geld suche – und dieses bekommt man von einem gewissen Typus – fragt der Typus: Wer ist mit Euch? Dann kann ich, aus der Kategorie bekannter Namen, beinahe nur russische Flüchtlinge zitieren, oder Palästinenser; und Sie wissen, wie das in den Ohren jenes ›Typus‹ klingt.«121
117 Wie die Revisionisten lehnten die Radikalen Zionisten, die sich bereits 1923 um Goldmann und den polnischen Zionisten Yitzhak Grünbaum (1879–1970) gruppierten, die Erweiterung der Jewish Agency und die ihrer Meinung nach zu probritische Politik Weizmanns ab. Wie die Revisionisten forderten sie die Zustimmung der ZO zur Ernennung des Hochkommissars sowie die alleinige Kontrolle der jüdischen Einwanderung und den Aufbau des jüdischen Gemeinwesens in Palästina durch die Jewish Agency. Auch plädierten sie dafür, in Palästina eine jüdische Mehrheit anzustreben und einen jüdischen Staat als endgültiges Ziel des Zionismus zu proklamieren. Im Gegensatz zu den Revisionisten forderten sie allerdings auch die Stärkung zionistischer Organisationen in der Diaspora. Vgl. Laqueur, A History of Zionism, 479. Zum Programm der Radikalen Zionisten im Vorfeld des 14. Kongresses im Jahr 1925 vgl. sowohl den Artikel Blumenfelds Die neue Opposition als auch: Erklärung der Konferenzgemeinschaft radikaler Zionisten, in: JR, 12. Juni 1925, 409. 118 O. A., Jabotinsky in Amerika, in: JR, 23. Februar 1926, 111. 119 O. A., Zionistisches Meeting, in: JR, 27. Oktober 1925, 710. In derselben Ausgabe befindet sich eine Zusammenfassung von Jabotinskys Vortrag: H. B., Ein Vortrag Jabotinskys in Berlin, in: JR, 27. Oktober 1925, 710. 120 CZA, A56/20, Jabotinsky an Lichtheim, 28. August 1926. 121 Ebd.
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Nach seinem Ausscheiden aus der Zionistischen Exekutive und seiner Rückkehr nach Berlin im Jahr 1923 hatte sich Lichtheim nur spärlich an den zionistischen Debatten beteiligt. Im Zuge der Hyperinflation der frühen 1920er Jahre hatte er einen Großteil des geerbten Familienvermögens verloren, das es ihm bis dahin erlaubt hatte, als Privatier zu leben und sich gänzlich in den oftmals schlecht oder nicht bezahlten Dienst des Zionismus zu stellen. So sah er sich im Alter von 38 Jahren zum ersten Mal in seinem Leben gezwungen, einer regulären Beschäftigung als – offenbar recht erfolgreicher – leitender Angestellter der Allianz Versicherungs-Aktiengesellschaft nachzugehen.122 Dennoch ist es wenig verwunderlich, dass Jabotinsky ausgerechnet bei Lichtheim Hilfe suchte. Nach wie vor galt Lichtheim als einer der erfolgreichsten Propagandisten innerhalb des deutschen Zionismus und als Experte für ökonomische Fragen.123 Durch seine diplomatische Mission in Konstantinopel und die Arbeit in der Exekutive hatte er zudem auch auf internationalem Parkett ein gewisses Ansehen erlangt. Viel wichtiger aber mag für Jabotinsky der Umstand gewesen sein, dass sich Lichtheims Ton gegenüber den deutschen Zionisten, die Jabotinsky in den vorangegangenen Jahren immer wieder wegen ihrer Treue zu Weizmann als die »Landsknechte« der Leitung kritisiert hatte, zunehmend verschärfte und er im Sommer 1926 eine günstige Gelegenheit zu erkennen glaubte, ihn für die Union zu gewinnen.124 Anlass dazu gab ihm Lichtheims Auftreten auf dem 21. Delegiertentag der ZVfD, der vom 22. bis 24. August 1926 in Erfurt stattfand. Lichtheim hatte dort die deutschen Zionisten erneut heftig kritisiert und ihnen vorgeworfen, wenig Konkretes zum Aufbau der jüdischen Heimstätte in Palästina beigetragen zu haben. Vor allem die Jüdische Rundschau und ihren Chefredakteur Robert Weltsch griff er scharf an. Er warf Weltsch eine tendenziöse Berichterstattung und die unkritische Unterstützung Weizmanns vor: Der Leserschaft würden 122 Lichtheim war zunächst bei der Allianz Versicherungs-Aktiengesellschaft beschäftigt. Ende 1927 wechselte er zu der Wiener Versicherungsgesellschaft Phönix und übernahm die Leitung der Berliner Filiale. CZA, A56/15, Kündigungsschreiben Lichtheims an den Direktor der Allianz, R. Beckhaus, 26. Oktober 1927. In seinem Antwortschreiben bedauert Beckhaus »der schönen Erfolge wegen« das Ausscheiden Lichtheims sehr. CZA, A56/15, R. Beckhaus an Lichtheim, 28. Oktober 1927. 123 Lichtheim beteiligte sich rege an den intensiven Debatten zu Fragen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Palästina, die die zionistische Bewegung v. a. in den ersten Jahren nach Ende des Ersten Weltkriegs führte. Lichtheims Referat zur Wirtschaftspolitik in Palästina, gehalten auf dem 15. Delegiertentag der ZVfD in Berlin vom 25. bis 27. Dezember 1918, ist 1919 unter dem Titel Der Aufbau des Jüdischen Palästina im Jüdischen Verlag Berlin erschienen. Zur Beschäftigung der deutschen Zionisten mit wirtschaftlichen Fragen vgl. Lavsky, Before Catastrophe, bes. Kap. 3: Plans for the Development of Palestine, 46–60. 124 Vgl. o. A., Jabotinsky löst die Krise im Zionismus, in: JR, 22. Januar 1924, 33; E. L., Eine Blütenlese, in: JR, 26. Juni 1925, 439.
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wichtige Informationen zu den Entwicklungen in Palästina vorenthalten, abweichende Stimmen erhielten unverhältnismäßig wenig Raum für Meinungsbeiträge. Lichtheim betrachtete diese Art der Berichterstattung, der es zudem an wirtschaftlichem und politischem Denken mangele, als eine »ungeheure Gefahr, die Gefahr einer Entpolitisierung des Zionismus«. Er hielt nicht nur den »Minimalismus« der deutschen Zionisten für politisch unvernünftig, er verteidigte auch den »Maximalismus« des Revisionismus: »Ich gehöre nicht zu den Revisionisten, aber sie haben in vielen Punkten recht gehabt und recht behalten. […] Der Grundgedanke der Jabotinsky’schen Kritik, daß man von England viel fordern muß, um etwas zu erhalten, ist durchaus richtig.«125 Sehr wahrscheinlich waren der Verlauf und die Ergebnisse des 21. Dele giertentags der ZVfD letztlich ausschlaggebend für Lichtheims Entscheidung, in die Union der Zionisten-Revisionisten einzutreten. Es sollte allerdings noch mehr als drei Monate dauern, bis Lichtheim der Aufforderung Jabotinskys tatsächlich nachkam. Nachdem er bereits im November im Rahmen eines von der BZV organisierten Vortragszyklus mit dem Titel Zionistische Neuorientierungen auf die Notwendigkeit einer Revision der zionistischen Theorie und Praxis hingewiesen und seine grundsätzliche Opposition zur Politik der aktuellen Leitung der Organisation erklärt hatte,126 gab er schließlich auf einem Empfang des Landesverbands der Zionisten-Revisionisten zu Ehren Jabotinskys am 6. Dezember 1926 in Berlin offiziell seinen Anschluss an die Revisionisten bekannt.127 In der Jüdischen Rundschau rechtfertigte er seine Entscheidung und erklärte: »Der Revisionismus will den Versuch unternehmen, die neue Politik des Zionismus zu formulieren und zu gestalten. Ob es ihm gelingen wird, vermag niemand zu sagen. Aber der Versuch muß gemacht werden, und die Kritik der Vergangenheit, die Erkenntnis der begangenen Fehler und Unterlassungen, die Einsicht in die entscheidenden Probleme des heutigen Zionismus sind die ersten Voraussetzungen zur Erneuerung der Bewegung.«128
Der Eintritt Lichtheims in die Union stieß jedoch nicht bei allen Revisionisten auf Zustimmung. Laut Joseph Schechtman und Yehuda Benari (1908–2000), 125 Der XXI. Delegiertentag der ZVfD. Generaldebatte, in: JR, 17. August 1926, 480 f., hier 481. Zu Lichtheims Kritik an den politischen Positionen Weltschs und der Berichterstattung der Jüdischen Rundschau vgl. auch die dort ausgetragene Auseinandersetzung der beiden: Lichtheim, Zur Militärfrage in Palästina, in: JR, 30. April 1926, 247; Weltsch, Die Militärfrage in Palästina, in: JR, 4. Mai 1926, 256; Lichtheim, Nochmals: Zur Militärfrage in Palästina, in: JR, 11. Mai 1926, 274; Weltsch, Zur Ergänzung, in: JR, 11. Mai 1926, 274. 126 O. A., Vortragszyklus Richard Lichtheim, in: JR, 14. Dezember 1926, 713. 127 O. A., Empfang für Jabotinsky in Berlin, in: JR, 7. Dezember 1926, 698. 128 Lichtheim, Der Revisionismus und seine Kritiker, in: JR, 23. Dezember 1926, 731 f., hier 732.
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den beiden Protagonisten und späteren Chronisten der revisionistischen Bewegung, erinnerten die Geschwister Vladimir (1861–1927) und Zinovi Tiomkin (1865–1942) Jabotinsky daran, dass Lichtheim sich auf der Sitzung des Aktionskomitees im Januar 1923 in London gegen ihn gestellt hatte und damit mitverantwortlich für seinen Austritt aus der Exekutive gewesen sei. Mit vorgespielter Verwunderung soll Jabotinsky, der sich monatelang persönlich um den Beitritt Lichtheims bemüht hatte, den beiden entgegnet haben: »War Lichtheim jemals illoyal mir gegenüber? Ich kann mich nicht entsinnen. Ich erinnere mich nur daran, dass Lichtheim ein außergewöhnlich begabter Mann ist, ein aufrichtiger und denkender Zionist, und dass sein zionistisches Kredo stets im Einklang mit dem meinen gewesen ist. Und das reicht mir. Und ich habe durchaus vor, ihm jeden beliebigen verantwortungsvollen Posten anzubieten, den er bereit ist zu akzeptieren.«129
Auch für die meisten anderen Unionsmitglieder schien Lichtheim ein willkommener Zuwachs gewesen zu sein. Auf der zweiten Weltkonferenz der Revisionisten, die vom 26. Dezember 1926 bis 2. Januar 1927 in Paris stattfand, wurden er sowie Meir Grossmann, einer der frühesten Anhänger Jabotinskys, der bereits während des Ersten Weltkriegs dessen Legionsidee unterstützt hatte, und Vladimir Tiomkin zu Vizepräsidenten der Organisation gewählt. Darüber hinaus wurde Lichtheim mit der gesamten Organisationsarbeit der Union betraut.130 Seit der Gründungskonferenz im April des Vorjahrs hatten sich die Revisionisten vorrangig mit politischen und ideologischen und weniger mit den trockenen Fragen der Parteiorganisation beschäftigt. Die Strukturen der Union waren daher bisher nur unzureichend ausgebildet.131 Auf der Konferenz im Dezember wurde nun beschlossen, dass die Union ähnlich aufgebaut werden solle wie die Zionistische Organisation vor dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Vorbild des herzlschen Großen Aktionskomitees wurde ein 30-köpfiger Zentralrat gegründet. Das Präsidium, das dem ehemaligen Engeren Aktionskomitee entsprach, bildeten Jabotinsky als Präsident des Zentralrats sowie die drei Vizepräsidenten. Der Neuling Lichtheim wurde mit der Leitung des zentralen Parteibüros betraut, das seine Aufmerksamkeit insbesondere auf die drei Hauptprobleme »Organisation, Finanzen, Wahlen zum XV. Zionisten-Kongreß« zu richten hatte.132 Der Sitz des Büros wurde extra dafür zeitweilig von Paris an Lichtheims Wohnort Berlin verlegt. Lichtheim hatte sich zunächst gegen die neue Aufgabe gesträubt. Die Teilnehmer der Konferenz, allen voran Jabotinsky und die Revisionisten aus Palästina, hatten allerdings wenig Vertrauen in die organisatorischen Fähig129 Schechtman / Benari, The History of the Revisionist Movement, 62. 130 JI, G1–19, Die Resolutionen der Zweiten Weltkonferenz der Zionistisch-Revisionistischen Union, 26. Dezember 1926 bis 2. Januar 1927. 131 Schechtman / Benari, The History of the Revisionist Movement, 71 f. 132 O. A., Die Beschlüsse der Revisionisten, in: JR, 7. Januar 1927, 10.
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keiten der vornehmlich aus russischen Emigranten bestehenden Kerngruppe der Revisionisten in Paris und bestanden darauf, dass Lichtheim den Posten annahm.133 Ihn, der spätestens seit seiner Funktion als Leiter des Organisationsdepartements der Zionistischen Organisation zu Beginn der 1920er Jahre für sein organisatorisches Geschick, seine Disziplin und Ordnungsliebe bekannt war, hielten sie dank seiner »preußischen Tugenden« für genau den Richtigen, um der im Aufbau befindlichen revisionistischen Bewegung Struktur zu verleihen.134 Auch Meir Grossmann war überzeugt, dass die Organisationsarbeit und die Kommunikation mit den einzelnen Landesverbänden bei Lichtheim in Berlin besser aufgehoben waren als bei der von Streitereien geprägten Pariser Gruppe.135 Es stellte sich jedoch schon bald heraus, dass Lichtheim die in ihn gesetzten Erwartungen nur begrenzt erfüllen konnte. Trotz der ihm zugeschriebenen »preußischen« Qualitäten gelang es ihm aus verschiedenen Gründen nicht, die Organisationsstrukturen der Union erheblich zu verbessern. Zum einen fehlte es ihm an Mitarbeitern, die ihn bei seiner Arbeit in Berlin hätten unterstützen können, zum anderen verfügte er angesichts der generell knappen Finanzlage der Union nicht über die erforderlichen Mittel.136 Anfänglich betrieb er das Organisationsbüro ganz und gar auf eigene Kosten.137 Auch eigene Büroräume standen Lichtheim zunächst nicht zur Verfügung. Für fünf Monate war das zentrale Organisationsbüro der Union der ZionistenRevisionisten in der Privatwohnung Lichtheims in der Konstanzer Straße 65 in Berlin-Wilmersdorf untergebracht, bis es im Juni 1927 eigene Räumlichkeiten in der Stallschreiberstraße 44 in Berlin-Mitte bezog.138 Seit dem 1. Juni wurde Lichtheim auch von einem Sekretär unterstützt, den Jabotinsky persönlich für den Posten vorgeschlagen hatte: dem jungen Arthur Koestler, der später als Autor Weltruhm erlangen sollte.139 Nur halbtags beschäftigt und 133 JI, P 59–2/99/8, Lichtheim an Meir Grossmann, 15. Januar 1927, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 193–195; Jabotinsky hatte Lichtheims Organisationstalent bereits während ihrer Zusammenarbeit in der Exekutive zu Beginn der 1920er zu schätzen gelernt. Vgl. JI, A1-2/12, Jabotinsky an Lichtheim, 21. März 1922. 134 Schechtman / Benari, The History of the Revisionist Movement, 63. 135 JI, P 59–2/99/8, Grossmann an Lichtheim, 18. Januar 1927. 136 In den Zirkularen an die Mitglieder des Zentralkomitees der zionistisch-revisionistischen Union beklagte Lichtheim wiederholt, dass die Mitglieder der Union ihrer Verpflichtung zur finanziellen Unterstützung der Organisation nicht nachkämen, und drohte, die Arbeit des Büros könne nicht aufrechterhalten werden, wenn die entsprechenden Gelder nicht eingingen. JI, G1–8, Zirkular Nr. 1 (28. Januar 1927); Nr. 2 (8. Februar 1927); Nr. 3 (22. Februar 1927); Nr. 7 (30. Mai 1927); Nr. 8 (24. Juni 1927). 137 JI, P 59–2/99/8, Lichtheim an Grossmann, 15. Januar 1927, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 193–195; Schechtman / Benari, The History of the Revision ist Movement, 72. 138 Schechtman / Benari, The History of the Revisionist Movement, 72. 139 JI, G1–8, Zirkular Nr. 8 (24. Juni 1927).
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schlecht bezahlt, behielt Koestler die wenigen Monate in Berlin als einige der trostlosesten seines Lebens in Erinnerung. In seiner Autobiografie schildert er sehr eindrucksvoll seine Arbeit als Generalsekretär und den damaligen Zustand der Revisionisten: »Meine Aufgabe war, Briefe an die verschiedenen Landesgruppen zu diktieren, in denen ich die Beschlüsse des Zentralkomitees erläuterte, Fragen beantwortete und ganz allgemein zu größerer Tätigkeit anspornte. Es war keine glanzvolle Arbeit, aber durch sie lernte ich viel politische Psychologie. Innerhalb der vielen verschiedenen Minderheiten stellten die Zionisten nochmals eine Minderheit dar, und, so wie die Dinge lagen, waren wir Revisionisten eine Minderheit in der dritten Potenz. Und in jeder Ortsgruppe gab es innerhalb der Opposition nochmals eine Opposition, und all diese Schattierungen bekämpften sich wie Hund und Katz. Es war überall die gleiche Geschichte, das gleiche kleine, sinnlose Drama von Kowno bis Paris, von Berlin bis Saloniki. Der Streit ging manchmal um Persönlichkeiten, manchmal um Grundsätze, meist aber war er eine trübe Mischung von beidem. Ich kam bald dazu, diese ideologischen Scheingefechte als den Ausfluß persönlicher Eifersüchteleien zu betrachten. Doch ebenso lernte ich, daß eine Gruppe, je kleiner sie ist, desto mehr dazu neigt, Haarspalter und sektiererische Fanatiker hervorzubringen. Damals glaubte ich, daß es sich dabei um einen dem Judentum eigentümlichen Zug handelte, vielleicht auch um einen Zug der revisionistischen Partei. Etliche Jahre später traf ich in der kommunistischen Internationale (die im Gegensatz zur allgemeinen Auffassung nur in der unteren Mitgliedschaft viele Juden zählt und wenige in der oberen Führung) ähnliche Verhältnisse an.«140
So vernichtend Koestlers Urteil über die Revisionisten auch sein mochte, seinen damaligen Vorgesetzten Lichtheim behielt er in sehr wohlwollender Erinnerung. Für ihn repräsentierte Lichtheim »den besten Typus jener europäischen Juden, denen die deutsche Kultur so viel verdankt, und gegen die man eines der scheußlichsten Verbrechen der Weltgeschichte beging. Er besaß Klugheit, Humor, Geschmack und Organisationstalent.«141 Auch Schechtman und Benari bestätigten den Eindruck Koestlers. Weniger mangelndes Geschick Lichtheims als vielmehr die interne Zersplitterung der einzelnen Parteifraktionen und Kompetenzstreitigkeiten seien das Haupthindernis beim Aufbau eines funktionierenden Parteiapparates gewesen. Zwar fungierte das Berliner Büro als zentrale Anlaufstelle für die zahlreichen Landesverbände in Europa, Jabotinsky bestand jedoch darauf, dass sämtliche eingehende Post mit den Anmerkungen Lichtheims versehen nach Paris weitergeleitet werden sollte. Dort wurden die Schreiben der Landesver140 Koestler, Pfeil ins Blaue, 205 f. Für eine Biografie Koestlers vgl. Buckard, Arthur Koestler. 141 Koestler, Pfeil ins Blaue, 207. Im englischen Original liest sich die Beschreibung noch positiver: »Lichtheim represented the best type of the Jewish European, to whom German culture owes so much, and against whom it committed one of the most hideous crimes in history. He had a penetrating intelligence, great organizational capacity, humour, civilized tastes and personal integrity.« Ders., Arrow in the Blue.
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bände letztlich beantwortet und über Berlin zurückgesandt. Der verlängerte Kommunikationsweg verkomplizierte die Arbeitsprozesse und schränkte Lichtheims Kompetenzen erheblich ein. Eine effektive Reorganisation der Union war unter diesen Bedingungen nur begrenzt möglich. Nach dem 15. Zionistenkongress, der vom 30. August bis 11. September 1927 in Basel stattfand, schlug Lichtheim daher vor, das Zentralbüro von Berlin wieder nach Paris zurückzuverlegen. Jabotinsky übernahm damit die alleinige Verantwortung für die Belange des Weltverbands.142
Der Revisionismus innerhalb der deutschen zionistischen Bewegung Bereits ab 1922 begann sich in Berlin im Umfeld der Zeitung Rassvet ein kleiner Kreis von Jabotinsky-Anhängern zu sammeln, der sich vornehmlich aus russischen Dissidenten rekrutierte, die nach der Oktoberrevolution im Exil lebten. Unmittelbar nach Jabotinskys Austritt aus der Zionistischen Exekutive formierte sich die sogenannte Liga zionistischer Aktivisten, die sich offiziell zum Programm Jabotinskys bekannte.143 Mit dem Umzug der Redaktion der Rassvet, der unter anderem Schechtman, Shlomo Gepstein (1882–1961) und Israel Trivius angehörten, nach Paris im Jahr 1924 wurde die Berliner Gruppe personell und organisatorisch erheblich geschwächt. Zurück blieb eine kleine, wenig aktive Gruppe revisionistischer Zionisten um Julius Brutzkus,144 Chaim Belilovsky (1872–1963) und Yeshayahu Klinov, die ausschließlich aus russischen Emigranten bestand und innerhalb der deutschen Bewegung letztlich eher isoliert und wenig einflussreich blieb.145 Erst nach Gründung der Union der Zionisten-Revisionisten im April 1925 formierten sich auch in anderen deutschen Städten kleinere revisionistische Gruppen. So meldete die Jüdische Rundschau am 15. Januar 1926 die Grün-
142 Schechtman / Benari, The History of the Revisionist Movement, 73. 143 Bei der Liga zionistischer Aktivisten handelte es sich um eine Abspaltung der Russischzionistischen Jugend, einer Gruppe junger russischer Exilanten im Umfeld der Zeitung Rassvet. Laut einem Manuskript zur Geschichte des deutschen Revisionismus aus der Feder eines unbekannten Autors im Archiv des Jabotinsky Institute in Tel Aviv gehörten die russischsprachigen Zionisten Leo Czeskis, Eugene Brutzkus und Avraham Davisky zur Liga. Vgl. JI, G21–5/1, o. A., Germany. 144 Julius Brutzkus diente von 1922 bis 1923 als Minister für jüdische Angelegenheiten in Litauen. Nach seiner Übersiedlung nach Berlin schloss er sich den dortigen revisionistischen Kreisen an. 145 Zur Frühgeschichte der revisionistischen Bewegung in Deutschland vgl. Schechtman / Benari, The History of the Revisionist Movement, 21, 23–27; Zouplna, Beyond a One-Man Show.
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dung einer Ortsgruppe in Frankfurt am Main.146 Wenig später folgten zwei weitere in Beuthen (Oberschlesien) und Darmstadt.147 Die einzelnen lokalen Zirkel waren in einem Landesverband unter dem Vorsitz von Julius Brutzkus zusammengefasst.148 Erst die Mitgliedschaft Lichtheims, der zugleich die Leitung des deutschen Landesverbands übernahm, verhalf den Revisionisten in Deutschland zu mehr Aufmerksamkeit. Unmittelbar nach seinem offiziellen Beitritt intensivierte Lichtheim seine Bemühungen, die Bewegung in Deutschland materiell und personell zu stärken. Die deutschen Revisionisten hatten nicht nur keine namhaften Vertreter, auch die finanziellen Ressourcen, die aus den überschaubaren Spenden ihrer Mitglieder bestanden, waren begrenzt. Insbesondere für die geplante Herausgabe einer Zeitschrift zur Beeinflussung der zionistischen Meinung zugunsten der Revisionisten fehlte es an entsprechenden Mitteln.149 In den Monaten nach Lichtheims Beitritt entfalteten sie daher – vor allem im Hinblick auf den 15. Zionistenkongress im Spätsommer 1927 – eine rege Rede-150 und Publikationstätigkeit151 zur Verbreitung revisionistischer Ideen sowie zur Akquise neuer Mitglieder und Geldgeber. Mit dem Ziel, dass die revisionistische Bewegung »von jetzt an unter den deutschen Zionisten, wo sie bisher wütend bekämpft oder lächerlich gemacht wurde, als sehr ernst betrachtet wird«,152 organisierte Lichtheim für den 14. Februar 1927 eine Veranstaltung mit Meir Grossmann und Jabotinsky im Berliner Hotel Eden, zu der »zahlreiche Berliner Zionisten, sowie Vertreter der offiziellen zionistischen Körperschaften erschienen wa146 O. A., Die Ortsgruppen, in: JR, 15. Januar 1926, 31. 147 Vgl. dazu die Meldung in: JR, 22. Juni 1926, 356; JI, G21/5/1, o. A., Germany. 148 Die Jüdische Rundschau berichtete über den Delegiertentag der deutschen Revisionisten vom 4. Juli 1926, an dem 13 Delegierte teilnahmen. Ins Präsidium wurden Julius Brutzkus, Paul Arnsberg und Chaim Belilovsky gewählt. Weitere Delegierte waren Emil Kauder und Ernst Ettisch. Vgl. dazu o. A., Tagung der Zionisten-Revisionisten, in: JR, 9. Juli 1926, 392. 149 JI, P59-2/99/8, Lichtheim an Grossmann, 15. Januar 1927, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 193–195. 150 Lichtheim sprach bereits am 24. Januar 1927 auf einer vom Landesverband organisierten Veranstaltung (JR, 21. Januar 1927, 42) und am 1. Februar in der Berliner Ortsgruppe Ost über das revisionistische Programm (JR, 28. Januar 1927, 56). Im Mai veranstaltete die Berliner Ortsgruppe eine Aussprache zum wirtschaftlichen Programm der Revisionisten (JR, 6. Mai 1927, 260); Wolfgang von Weisl (1896–1974), Revisionist und Korrespondent der Vossischen Zeitung, sprach auf Einladung der Berliner Zionistischen Vereinigung am 17. Mai zu Krise, Kongress und Parlamentarismus (JR, 13. Mai 1927, 277). 151 Lichtheim, Der Revisionismus und seine Kritiker, in: JR, 23. Dezember 1926, 731 f.; Revisionistische Kundgebung. Erklärung des Zentralkomitees der Union der Zionisten-Revisionisten, in: JR, 29. April 1927, 245; Lichtheim, Reform-Programme, in: JR, 17. Juni 1927, 343; Programm der Revisionisten, in: JR, 26. Juli 1927, 423; Lichtheim, Zwischenrufe, in: JR, 29. Juli 1927, 428; Lichtheim, Ein Protest, Schreiben an die Redaktion der Jüdischen Rundschau, in: JR, 5. August 1927, 443. 152 JI, A1-3/18/1, Lichtheim an Jabotinsky, 9. Februar 1927, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 196 f., hier 196.
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ren«.153 Im Mai folgte eine weitere, gemeinsam mit den Radikalen Zionisten organisierte Konferenz der »oppositionellen zionistischen Presse«, zu der verschiedene zionistische Zeitungen und Publizisten eingeladen wurden.154 Bereits im Juli 1927 war der Landesverband der Zionisten-Revisionisten in der Lage, die erste Ausgabe einer eigenen Zeitung, der Revisionistischen Blätter, herauszugeben, die von nun an in »zwangloser Folge« erscheinen sollte.155 Auch bemühte sich Lichtheim ab Herbst 1927 um den Aufbau eines deutschen Ablegers der revisionistischen Jugendorganisation Betar (auch Brit Trumpeldor), deren erste Ortsgruppe 1928 in Berlin unter der Leitung von Alexander Reiter gegründet wurde und die ab 1929 eine eigene Publikation mit dem Titel Hed-Bethar (Betar-Echo) herausbrachte.156 In ihren Publikationen richteten die deutschen Revisionisten ihre Kritik insbesondere gegen Weizmann und die Politik der Zionistischen Organisation sowie die beiden wichtigsten Vertreter der ZVfD, Kurt Blumenfeld, der seit 1924 dem deutschen Landesverband vorstand, und Robert Weltsch, der seit 1919 als Chefredakteur der Jüdischen Rundschau fungierte. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um ein Echo der bereits in den Jahren zuvor von Lichtheim lautstark geübten Kritik an der deutschen Bewegung: Die Revisionisten prangerten vor allem die Loyalität der ZVfD gegenüber der Politik Weizmanns an und verurteilten, was sie als »Verzichtspolitik« 153 JI, G1–8, Zirkular Nr. 3 (22. Februar 1927). 154 O. A., Aus dem Lager der Opposition, in: JR, 20. Mai 1927, 288. Vgl. dazu auch JI, G1–8, Zirkular Nr. 6 (2. Mai 1927), Nr. 7 (30. Mai 1927) und Nr. 8 (24. Juni 1927). Die Gegnerschaft zu Weizmann und der Erweiterung der Jewish Agency bildete die Basis für eine politische Zusammenarbeit von Radikalen Zionisten und Revisionisten im Vorfeld der Wahlen zum 15. Zionistenkongress. Beide Gruppen vertraten unterschiedliche sozioökonomische Programme für Palästina. Während die Revisionisten die Belange der Mittelklasse adressierten und für privatwirtschaftliche Investitionen plädierten, unterstützten die Radikalen Zionisten Weizmanns reformorientiertes, an den Bedürfnissen der Arbeiterschaft orientiertes Programm. Die zeitweilig angedachte Aufstellung einer gemeinsamen Liste wurde in Deutschland jedoch letztlich nicht umgesetzt. 155 JI, G1–8, Zirkular Nr. 8 (24. Juni 1927). Das Erscheinen der Revisionistischen Blätter wurde 1931 eingestellt. 156 Vgl. Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I), 216. Die dem Revisionismus anhängende Jugendorganisation Betar wurde 1923 von Aharon Propes (1904–1978) in Riga gegründet und organisierte sich ab 1927 auch in Palästina. Der Name der Jugendorganisation bezieht sich auf die letzte jüdische Festung, die während des von Simon bar Kochba angeführten Aufstands gegen das Römische Reich unter Kaiser Hadrian (132 bis 135 n. d. Z.) gefallen war; gleichzeitig steht er als Akronym für Brit Joseph Trumpeldor (Bund Joseph Trumpeldor). Trumpeldor (1880–1920) trat während des Ersten Weltkriegs gemeinsam mit Jabotinsky für die Organisation einer Jüdischen Legion ein und starb 1920 bei der Verteidigung der jüdischen Siedlung Tel Chai in Obergaliläa gegen einen arabischen Angriff. Trumpeldor wurde so zum Symbol jüdischer Selbstverteidigung. Die Publikation der deutschen Jugendorganisation Hed-Bethar wurde nach dem Erscheinen von fünf Ausgaben und zwei Sondernummern noch im gleichen Jahr wieder eingestellt.
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interpretierten. Gemeint war damit die nach Ausgleich suchende, moderate nationale Zielsetzung der Mehrheit der deutschen Bewegung, die gleiche Rechte für Juden und Araber in und auf Palästina anerkannte und von den Revisionisten als »antijudenstaatliche« Politik verworfen wurde. Vor allem Robert Weltsch, Mitglied des Intellektuellenzirkels Brit Schalom, verfocht in der Jüdischen Rundschau die Idee eines auf Parität beruhenden »binationalen palästinensischen Staates, innerhalb dessen die Juden ebenso Staatsnation sind wie die Araber«, und maß der Etablierung einer jüdischen Mehrheit nachgeordnete Bedeutung bei.157 Zwar sprach sich auf den Delegiertentagen die überwältigende Mehrheit der Anwesenden immer wieder grundsätzlich für die Haltung der Jüdischen Rundschau aus, dennoch waren die einschlägigen Meinungsbeiträge Weltschs und Gleichgesinnter zur arabischen Frage nicht repräsentativ für die Auffassungen innerhalb der Führungsebene der ZVfD.158 Vor allem über das zukünftige Kräfteverhältnis in Palästina herrschte keineswegs Konsens.159 Kurt Blumenfeld, enger Verbündeter Weltschs und erklärter Gegner der revisionistischen Auffassung, sprach sich ebenso wie Felix Rosenblüth für Verständigung und Binationalismus aus, eine jüdische Mehrheit in Palästina hielten jedoch auch sie für unabdingbar.160 Die Angriffe der Revisionisten richteten sich jedoch ungeachtet aller Unterschiede gegen die Gesamtheit der zionistischen Leitung in Deutschland. Während der Grad der Souveränität des zukünftigen Gemeinwesens auch für die Revisionisten verhandelbar war, war es die Forderung nach einer jüdischen Mehrheit nicht. In einer Programmschrift für den Revisionismus machte Lichtheim deutlich: »Was aber undenkbar und unmöglich ist, das ist die heute in gewissen deutsch-zionistischen Kreisen propagierte doktrinäre Vorstellung eines von vornherein im völligen Gleichgewicht der nationalen Kräfte befindlichen zugleich jüdischen und arabischen Palästina.«161 Jegliche zionistische Politik, 157 Zu Weltsch und dessen Konzeption eines jüdischen Nationalismus vgl. Vogt, Subalterne Positionierungen, 89–93; Wiese, Das »dämonische Antlitz des Nationalismus«. Das Zitat stammt aus Robert Weltsch, Kurzer Rückblick (auf den 21. Delegiertentag der ZVfD in Erfurt), in: JR, 27. August 1926, 477. Auch Weltsch ging niemals so weit, sich offen gegen eine jüdische Mehrheit in Palästina auszusprechen. Er wäre jedoch zugunsten eines »gesunden ökonomischen und sozialen Aufbaus« in Palästina bereit gewesen, darauf zu verzichten. Ders., Unsere »politische Offensive«. Zu Jabotinskys Berliner Reden, in: JR, 10. Dezember 1926, 701–703, hier 701. 158 Vgl. dazu auch Walter, Kein Sonderweg des deutschen Zionismus. 159 Robert Weltsch, Kurzer Rückblick (auf den 21. Delegiertentag der ZVfD in Erfurt), in: JR, 27. August 1926, 477. 160 Blumenfeld versicherte in einem Brief an Chaim Weizmann: »Ich bin kein Mensch des Brith Schalom […]«. Kurt Blumenfeld an Chaim Weizmann, 27. November 1929, in: ders., Im Kampf um den Zionismus, 105–107. Zur Debatte um die Notwendigkeit einer jüdischen Mehrheit in Palästina innerhalb der deutschen zionistischen Bewegung vgl. Lavsky, Before Catastrophe, 179. 161 Lichtheim, Revision der zionistischen Politik, 11.
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die Kompromissbereitschaft zeigte, eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung zur Vorbedingung machte und Formen von Parität diskutierte, kam für die Revisionisten der Aufgabe des zionistischen Ziels gleich und war daher völlig inakzeptabel. Trotz der intensiven Bemühungen Lichtheims und anderer Revisionisten in Deutschland, Werbung für die Ideen Jabotinskys zu machen, sollte ihnen zwischen 1926 und 1929 kein nennenswerter Erfolg gelingen. Bei den Wahlen zum 15. Zionistenkongress, der vom 30. August bis 11. September 1927 in Basel stattfand, erhielten die deutschen Revisionisten nur 302 Stimmen (4,5 Prozent der Gesamtstimmen) und damit kein einziges Mandat für den Kongress. Auch die Radikalen Zionisten erhielten mit 465 Stimmen lediglich ein Mandat für den Kongress. Die Jüdische Rundschau berichtete nicht ohne eine gewisse Genugtuung vom »völlige[n] Zusammenbruch der revisionistischen Propaganda« und einer »geradezu vernichtende[n] Niederlage« der Opposition.162 Das Wahlbündnis Linkes Zentrum, aus den liberalen Allgemeinen Zionisten und nichtmarxistischen Sozialistischen Zionisten bestehend und mit seiner unpolitischen Agenda vorrangig auf ökonomische Fragen konzentriert, konnte mit 2 313 Stimmen die Mehrheit auf sich vereinigen und damit vier von zwölf Mandaten erringen.163 Verglichen mit den Wahlen zum 14. Kongress im Jahr 1925 bedeutete dies dennoch einen Stimmenverlust der Allgemeinen Zionisten zugunsten der Parteien mit einem stärker sozialpolitisch ausgerichteten Programm – ein Trend, der sich auch in der Gesamtbewegung abzeichnete und sich in der Zusammensetzung des 15. Kongresses spiegelte.164 Während in den meisten anderen Ländern allerdings die Revisionisten und Radikalen Zionisten von der Schwächung der Allgemeinen Zionisten profitiert hatten, boten innerhalb der deutschen Bewegung vor allem der Misrachi und die Po’ale Ẓion für die mit dem Arbeiterzionismus sympathisierenden deutschen Zionisten eine Alternative zum apolitischen Programm des Linken Zentrums.165
162 O. A., Nach den Wahlen, in: JR, 16. August 1927, 465 f., hier 465. 163 Zu den Ergebnissen vgl. Die Wahlen zum XV. Zionistenkongress. Bekanntmachung, in: JR, 16. August 1927, 467. Zweitstärkste Partei war der Misrachi mit 2 076 Stimmen (ebenfalls vier Mandate). Das Wahlbündnis der Po’ale Ẓion erhielt 1 540 Stimmen und damit drei Mandate. Zum Hintergrund der Entstehung des Linken Zentrums vgl. Lavsky, Before Catastrophe, 126–140. 164 Allerdings gelang es dem Linken Zentrum auf dem Kongress, die Schlüsselpositionen der ZO mit eigenen Mitgliedern zu besetzen und seine Positionen durchzusetzen. Vgl. Lavsky, Before Catastrophe, 138. 165 Vgl. ebd., 137. Gelang es den Radikalen Zionisten und Revisionisten 1925 durch ein Wahlbündnis, gerade einen Delegierten (Jabotinsky) zum 14. Kongress zu entsenden, so waren auf dem 15. Kongress 1927 bereits zehn Revisionisten und elf Radikale Zionisten vertreten.
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Ähnlich verhielt es sich bei den Wahlen zum 16. Kongress vom 28. Juli bis 14. August 1929 in Zürich. Konnten die deutschen Revisionisten auch auf Kosten der Radikalen Zionisten mehr Stimmen auf sich vereinigen als noch zwei Jahre zuvor, reichte es erneut nicht für ein Mandat.166 Auch der Kongress selbst, auf dem schließlich über die Erweiterung der Jewish Agency abgestimmt wurde, verlief für die Revisionisten wenig erfolgreich. Mit feurigen Reden versuchten sie die Zustimmung der Delegierten zur Erweiterung der Jewish Agency um nichtzionistische jüdische Personen und Organisationen zu verhindern, scheiterten damit allerdings kläglich. Die Mehrheit der Delegierten sprach sich für deren Beteiligung am Aufbau Palästinas aus.167 Die Revisionisten hatten damit ihren jahrelangen Kampf gegen die Pläne Weizmanns endgültig verloren. Anders als in anderen Landesorganisationen brachten die deutschen Zionisten den revisionistischen Forderungen nur wenig Sympathie entgegen. Den deutschen Revisionisten war es selbst nicht gelungen, innerhalb des rechten bürgerlichen Spektrums nennenswerte Unterstützung zu erlangen. Dieses lehnte zwar wie die Revisionisten die offizielle Siedlungspolitik der Zionistischen Organisation ab und favorisierte Massenimmigration und privatwirtschaftliche Initiativen, hielt allerdings an einer Kooperation mit dem Arbeiterzionismus fest.168 Vor allem war es jedoch das politische Programm der Revisionisten, das innerhalb der deutschen Bewegung auf Ablehnung stieß. Erst nach den bis dahin blutigsten Aufständen der arabischen Bevölkerung vom Sommer 1929 fanden die Ideen der Revisionisten auch innerhalb der deutschen Bewegung einen gewissen Anklang.
166 Den Revisionisten gelang es, 463 Stimmen (5,3 Prozent) auf sich zu vereinen. Vgl. Zum XVI. Zionistenkongreß. Ergebnisse der Kongreßwahlen in Deutschland, in: JR, 2. Juli 1929, 328. 167 Bis 1929 waren die ZO und die JA identisch. Bereits ab Anfang der 1920er Jahre wurde innerhalb der ZO über die Möglichkeit einer Beteiligung nichtzionistischer Organisationen am Aufbau in Palästina diskutiert. Erst nach der Wirtschaftskrise in Palästina 1926/27 wuchs die Zustimmung für die Idee Weizmanns. Mit der Erweiterung wurde Nichtzionisten bezüglich der Angelegenheiten des Jischuw ein gewisses Mitspracherecht gewährt, die Hauptverantwortlichkeit blieb jedoch bei den Zionisten. Die Revisionisten boykottierten die Entscheidung und beschlossen, nicht in die JA einzutreten. Lichtheim musste aber gegenüber Schechtman zugeben, dass das für die Agency ausgearbeitete Statut »im grossen und ganzen nicht schlecht« sei. JI, P 227–4/54, Lichtheim an Schechtman, 14. Juni 1929. 168 Lavsky, Before Catastrophe, 163.
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Die innerzionistischen Auseinandersetzungen im Nachgang der arabischen Unruhen 1929 Die unterschiedlichen Palästinakonzeptionen der verschiedenen zionistischen Fraktionen führten dazu, dass die deutsche ebenso wie die Gesamtbewegung ab Mitte der 1920er Jahre erbitterte interne Debatten über Fragen nationaler Selbstbestimmung und den Grad der Souveränität einer angestrebten jüdischen Heimstätte, über das Verhältnis zur britischen Regierung und der arabischen Bevölkerung, die richtige Wirtschaftspolitik in Palästina sowie über die Beteiligung von Nichtzionisten an der Arbeit der Zionistischen Organisation führte. Die heftigste innerzionistische Auseinandersetzung folgte allerdings auf die arabischen Ausschreitungen in Palästina vom August 1929, die die gesamte jüdische Öffentlichkeit schockierten und – anders als die antijüdische Gewalt zu Beginn der 1920er Jahre – zum Schlüsselmoment für den Jischuw wie auch für die zionistische Bewegung insgesamt werden sollten: Die Aufstellung einer mobilen Trennwand an der Westmauer anlässlich des höchsten jüdischen Feiertags Jom Kippur im September 1928 hatte einen monatelangen Disput zwischen Juden und Arabern über den Status der Heiligen Stätten nach sich gezogen und mündete schließlich in einer Welle der Gewalt, die von Jerusalem ausgehend das restliche Mandatsgebiet erfasste. Es kam zu schweren Übergriffen in Jerusalem, Motza, Hebron, Jaffa, Tel Aviv und Safed. Erinnert werden die Unruhen heute allerdings vorrangig aufgrund des Massakers in Hebron, bei dem am 24. August 1929 67 Jüdinnen und Juden durch ihre arabischen Nachbarn ermordet wurden und die überlebende jüdische Bevölkerung vollständig aus der Stadt evakuiert werden musste. Insgesamt wurden im Zuge der Ausschreitungen 133 jüdische und 116 arabische Personen getötet, 339 jüdische und 232 arabische Personen wurden verletzt.169 Obwohl die arabische Frage im Zuge der Unruhen als integrale, teils gar existenzielle Herausforderung der Bewegung anerkannt und debattiert wurde, führte dies nicht zu einer umfassenden Neubewertung des Zionismus. Stattdessen waren die folgenden Monate bestimmt von gegenseitigen Schuldzuweisungen: Die arabische Seite warf den Zionisten vor, den Gewaltausbruch provoziert zu haben, und auch die britische Untersuchungskommission, die das Geschehene aufklären sollte, beschuldigte die jüdische Seite, 169 Allerdings darf nicht unterschlagen werden, dass der Großteil der jüdischen Bewohner Hebrons durch die Hilfe der arabischen Bevölkerung, die sie in ihren Häusern versteckte, die Ausschreitungen überlebte. Zur Vorgeschichte und den Ereignissen selbst vgl. Tom Segev, Es war einmal ein Palästina. Eine minutiös rekonstruierende und um Ausgewogenheit bemühte Darstellung der Ereignisse lieferte Hillel Cohen, 1929.
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zumindest teilweise zur Eskalation beigetragen zu haben.170 Der Jischuw und die Zionistische Organisation wiederum machten in der Hauptsache die arabische Führung und die britische Mandatsregierung verantwortlich, während die Revisionisten die Untätigkeit sowohl der Mandatsregierung als auch der Zionistischen Exekutive beklagten. Die sozialistischen und religiösen Parteien hingegen schrieben zumindest einen Teil der Schuld Jabotinskys Revisionisten und deren Jugendbewegung Betar zu, die die arabischen Ausschreitungen durch ihr Verhalten und ihre Propaganda provoziert hätten.171 Nur wenige Tage vor den pogromartigen Ausschreitungen in Hebron hatte am 15. August anlässlich des jüdischen Trauer- und Fastentags Tisch’a be-Av, an dem der Zerstörung der beiden Jerusalemer Tempel gedacht wird, an der Westmauer eine Demonstration stattgefunden, an der auch einige Mitglieder des Betar teilgenommen hatten. Entgegen den polizeilichen Anweisungen wurden politische Reden gehalten, die zionistische Flagge geschwenkt und die Ha-Tikwa, die Hymne der zionistischen Bewegung und später des Staats Israel, gesungen. Das hatte die Spannungen weiter angeheizt und die muslimische Seite zu einer Gegendemonstration zwei Tage später veranlasst. In der Folge war es täglich zu wechselseitigen Übergriffen gekommen, bis die Gewalt am 23. August eskaliert war.172 Die Revisionisten wiesen jedoch jegliche Verantwortung am Geschehen von sich. Laut Jabotinsky war an dem gewaltsamen Ausbruch nicht das Verhalten der jüdischen Demonstrierenden schuld, sondern einzig die antizionistische Gesinnung der arabischen Angreifer, die die Ereignisse an der Westmauer lediglich als Vorwand benutzt hätten.173 Im Gegenteil sahen die Revisionisten durch die von arabischer Seite ausgeübte Gewalt und die Schutzlosigkeit des Jischuw die Richtigkeit ihrer Forderung nach einer kraftvollen jüdischen bewaffneten Selbstwehr bestätigt. Das Unvermögen sowohl der britischen Mandatsregierung als auch der Zionistischen Organisation, die blutigen Ereignisse zu verhindern, machte sie in den Augen der Revisionisten »direkt verantwortlich« für die Auseinandersetzungen.174 Einigkeit zwischen den Revisionisten und der Exekutive herrschte allerdings erstmals in Bezug auf die Forderungen an die Briten im Nachgang der 170 Eine von den Briten eingesetzte und von dem Juristen Walter Shaw (1863–1937) angeführte Kommission zur Untersuchung der Unruhen machte die arabische Seite direkt für den Gewaltausbruch verantwortlich. Allerdings identifizierte sie als Ursachen für die Feindseligkeit der arabischen Angreifer teilweise die Zunahme der jüdischen Einwanderung und des Bodenkaufs, was zum Hope-Simpson-Bericht und schließlich zum PassfieldWeißbuch vom Oktober 1930 führte, das die jüdische Einwanderung nach Palästina weiter beschränkte. 171 Orland, Israels Revisionisten, 82. 172 Eine Chronologie der Ereignisse findet sich bei Hillel Cohen, 1929, XVII–XIX. 173 Vladimir Jabotinsky, Tov, in: Do’ar ha-Jom, 7. Januar 1930 (hebr.). 174 Lichtheim, Die politischen Folgen, in: JR, 30. August 1929, 437.
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Unruhen. Wie die Revisionisten bereits seit Beginn der 1920er Jahre verlangte nun auch die Exekutive eine grundsätzliche Neuausrichtung der britischen Palästinapolitik und -verwaltung im Sinne einer größtmöglichen Förderung zionistischer Aspirationen und der Sicherung des Jischuw gegen arabische Angriffe – und dies nicht nur durch britische Beamte, sondern auch durch die Schaffung einer legalen jüdischen Selbstwehr.175 Innerhalb der deutschen Bewegung lösten die arabischen Unruhen den bis dato heftigsten Richtungsstreit aus. Für die Wortführer der deutschen Zionisten waren die antiarabische Rhetorik und die Forderungen nach einer britischen Politik der starken Hand in Palästina völlig inakzeptabel. Zwar verurteilte auch Robert Weltsch in seinem Artikel Die blutigen Kämpfe in Palästina zunächst die von arabischer Seite ausgegangene Gewalt und kritisierte ausführlich das Vorgehen der britischen Mandatsregierung, die – laut Weltsch aus Mangel an politischem Feingefühl und aus Unverständnis gegenüber der Besonderheit der Situation – nicht in der Lage war, die Ausschreitungen zu verhindern. Er warf jedoch auch die Frage auf, welche Verantwortung die Zionisten selbst am Geschehen in Palästina trugen. In seinen Augen war in den vorangegangenen Jahren zu wenig von der Zionistischen Exekutive unternommen worden, um mit der arabischen Bevölkerung zu einer Übereinkunft zu kommen. Auf die Teilnahme der revisionistischen Jugendbewegung Betar an der Demonstration vom 15. August anspielend, lastete er zudem einen Teil der Verantwortung für die Ereignisse dem Verhalten einiger »unverantwortlicher, jugendlich unbesonnener Elemente« an, deren Propaganda und arrogantes Auftreten provoziert habe.176 Bereits zu einem früheren Zeitpunkt hatte er vor den militärisch organisierten Jugendverbänden des Betar und deren »Pflege eines pseudo-faschistischen Geistes«177 als besonderer Gefahr für den Jischuw gewarnt.178 Noch deutlicher in seiner 175 Die Revisionisten forderten darüber hinaus einen Kurswechsel der Zionistischen Exekutive bzw. die vorzeitige Einberufung eines Kongresses zur Neuwahl der Exekutive sowie die Aufhebung jeglicher Beschränkungen jüdischer Einwanderung und die Öffnung Trans jordaniens für die jüdische Besiedlung. Vgl. dazu o. A., Bericht über die Außerordentliche Sitzung des Exekutivkomitees der Zionisten-Revisionisten in Paris vom 29. August 1929. Forderungen der Revisionisten, in: JR, 6. September 1929, 458; Resolutionen der Jewish Agency und der Zionistischen Exekutive, 13. September 1929, in: JR, 20. September 1929, 487. 176 Robert Weltsch, Die blutigen Kämpfe in Palästina, in: JR, 30. August 1929, 435 f. 177 Ders., Zionistische Politik und Jischuw, in: JR, 23. November 1928, 649 f. 178 Auf den Vorwurf, die Union und ihr Jugendverband seien militaristisch und faschistisch ausgerichtet, reagierte Lichtheim in einem Artikel in der Jüdischen Rundschau nach der vierten Weltkonferenz der Revisionisten in Prag, die im August 1930 stattfand. Darin erklärte er ausführlich, es sei »vollkommen richtig, daß die Brith Trumpeldor-Bewegung […] in ihren Erscheinungsformen an manches erinnert, was heute unter dem Namen ›Militarismus‹ unpopulär ist. Dennoch halten wir die Organisationsform für gut und zweck-
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Kritik an den Revisionisten war der Direktor des Berliner Palästina-Amts, Georg Landauer,179 der in einem Brief an den Geschäftsführenden Ausschuss der ZVfD ohne Umschweife die Schuld an den Ereignissen Jabotinsky und seinen Anhängern zuwies: »Dies alles konnte nur deswegen so kommen, weil die Exekutive, weil die ganze Bewegung geradezu die Gefangenen der revisionistischen Opposition, der man Genüge tun musste, waren. Unablässig haben die Revisionisten gedroht, gefordert, verhetzt, demonstriert. Sie mussten den Nachweis der Verfehltheit der Weizmannschen Politik durch etwas Sinnfälliges erbringen. Sie mussten die Berechtigung der Legionsforderung demonstrieren. Das alles hat jüdisches Blut gekostet. Nach allen Nachrichten, die aus Palästina zu uns dringen, haben die Revisionisten in verbrecherischer Weise provoziert, im Doar Hajom, in Versammlungen, im Brith Trumpeldor, in Demonstrationen, in Lemaan Hakotel usw. Die Zionistische Bewegung muss von dem schleichenden Gift des Revisionismus befreit werden.«180
Ein Teil der deutschen Zionisten hinterfragte nicht nur selbstkritisch die eigene Verantwortung für die Entwicklungen in Palästina, sondern hielt selbst nach den Unruhen an einer friedlichen Verständigung mit der arabischen mäßig. […] Eine nach Palästina strebende Jugend in einer Art von militärischer Formation zusammenzufassen, sie der Hachscharah und Aliyah zuzuführen, sie durch militärische Gewöhnung zu disziplinieren und für den Gedanken der Selbstverteidigung durch militärische Übungen zu erziehen – dies alles ist nicht Militarismus im Sinne des preußischen Kasernenhofes oder eines reaktionären europäischen Antipazifismus, sondern es ist eine für den Zionismus nicht nur verständliche, sondern durchaus richtige und zweckmäßige Lebensform der jüngsten Generation.[…] Die gegenwärtige Form der revisionistischen Jugendbewegung entspricht nach meiner persönlichen Beobachtung in ihrem Gemisch von nationaler Begeisterung, ernsthaftem, nach Palästina gerichteten Streben, Willen zu selbstgeschaffener Disziplin und Erziehung der Jugend zu einem realistischen Palästinagedanken, der die körperliche Erziehung stark in den Vordergrund stellt, mehr als jede andere mir bekannte zionistische Jugendbewegung den tatsächlichen Aufgaben und Zielsetzungen des Zionismus.« Lichtheim, Bemerkungen zur revisionistischen Konferenz in Prag, in: JR, 2. August 1930, 434. 179 Der Jurist Georg Landauer war Mitglied im KJV und im sozialistisch-zionistischen Ha-Po’el ha-Ẓa’ir. Er trat wie Weltsch für eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas ein. Bereits 1924/25 leitete er das Palästina-Amt in Berlin, bevor er von 1926 bis 1929 als Sekretär des Arbeitsdepartements der Zionistischen Exekutive in Jerusalem tätig war. Von 1929 bis 1933 fungierte er erneut in Berlin als Leiter des Palästina-Amts. Nach seiner Auswanderung nach Palästina im Jahr 1934 übernahm er die Geschäftsführung des Jerusalemer Zentralbüros für die Ansiedlung deutscher Juden, einer Abteilung der JA. Dieses Amt hatte er bis 1954 inne. 1943 gehörte er zu den Mitbegründern der Alija Chadascha. 180 Georg Landauer an den Geschäftsführenden Ausschuss der ZVfD, 4. September 1929, abgedruckt in: Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1882–1933, 428–430, hier 429 f. Die Doar Hajom war eine revisionistische, in Palästina erschienene Tageszeitung; die Wa’ad le-ma’an ha-Kotel (Um der Mauer willen) war eine Jerusalemer Gruppe, die für die Rechte der Juden auf die Westmauer kämpfte.
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Bevölkerung als Grundvoraussetzung für ein gesichertes Gemeinwesen und an einer fortgesetzten Kooperation mit den Briten fest.181 In dem bereits oben zitierten Artikel Weltschs insistierte dieser: »Wir müssen einen modus vivendi mit diesen unseren Nachbarn und Mitbürgern herstellen. […] Auf jeden Kampf muss ein Friedensschluß folgen, der möglichst endgültig sein soll. Wir müssen nach diesen Kämpfen, uns an den Verhandlungstisch setzen und müssen wissen, was wir vorschlagen können, um einerseits unsere Arbeit im Lande und unser Nationalheim zu sichern, andererseits auch den Arabern Garantien für ihre zukünftige Entwicklung zu geben.«182
Gemeinsam mit Kurt Blumenfeld, Alfred Berger,183 Alfred Landsberg,184 Georg Landauer, Moritz Bileski185 (1889–1946), Fritz Naftali186 (1888–1961), Salli Hirsch (1885–1950) und Isaak Feuerring187 (1889–1937) wandte sich Weltsch in einer Denkschrift, die ein Bekenntnis zu den Prinzipien des Brit Schalom und ein »Aktionsprogramm« zur Behandlung der »Araberfrage« enthielt, an die Zionistische Exekutive in London. Darin wurde die Exekutive aufgefordert, durch politische Initiativen aktiv auf eine friedliche Verständigung hinzuarbeiten. In direkten Verhandlungen mit arabischen Führungspersönlichkeiten müsse unmissverständlich deutlich gemacht werden, dass die Zionisten beabsichtigten, die Errichtung einer jüdischen Heimstätte in Palästina »in einer politischen Form zu verwirklichen, die die Existenz einer zweiten Nation im Lande durchaus anerkennt und berücksichtigt«.188 Ein Teil der Unterzeichner – Weltsch, Hirsch, Bileski, Berger und Feuerring – rief zudem gemeinsam mit Werner Senator189 (1869–1953) und Simon Schereschewski190 (1900–?) eine dem Brit Schalom nahestehende »antirevisionistische« Arbeitsgemeinschaft für zionistische Realpolitik ins Leben, deren Ziel es war, dem antiarabischen Trend innerhalb der Bewegung entgegenzutreten sowie die »Grundlagen einer jüdisch-arabischen Verständigung« zu untersu181 Weltsch, Die blutigen Kämpfe in Palästina, in: JR, 30. August 1929, 435 f.; Hugo Bergmann, Die Ereignisse in Jerusalem, in: Prager Tagblatt, 28. August 1929, 1. 182 Weltsch, Die blutigen Kämpfe in Palästina, in: JR, 30. August 1929, 436 (Hervorhebungen im Original gesperrt). 183 Alfred Berger war führend im Po’ale Ẓion aktiv und von 1923 bis 1929 Leiter des Keren Hayesod in Deutschland. 184 Alfred Landsberg war 1923/24 Vorsitzender der ZVfD. 185 Moritz Bileski war Rechtsanwalt und führendes Mitglied der ZVfD. 186 Fritz Naftali war sozialistischer Zionist, Publizist und Volkswirt. 187 Isaak Feuerring war Bankier. 188 JI, G2-4/9/4, Denkschrift. An die Zionistische Exekutive in London, 16. September 1929. Die Denkschrift ist abgedruckt in: Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1882–1933, 433–436. 189 Werner Senator war von 1925 bis 1930 Generalsekretär des europäischen Büros des Joint in Berlin und von 1930 bis 1945 Mitglied der Exekutive der JA. 190 Simon Schereschewski war Mitglied des Zaire Misrachi und des Brit Schalom.
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chen und zu propagieren.191 Sie hielten an der Idee des Binationalismus fest, akzeptierten das Weißbuch von 1922 als Grundlage zionistischer Politik und insistierten, dass das Ziel der zionistischen Bewegung »nicht ein jüdischer Nationalstaat in Palästina sein« könne.192 Die Leitung der deutschen Zionisten, die bis dahin den eher unpolitischen Kurs der Zionistischen Exekutive mitgetragen hatte, stellte sich damit erstmals gegen Weizmann. Sie kritisierte die Exekutive für ihre Untätigkeit in den letzten Jahren und forderte eine aktivere Politik gegenüber den palästinensischen Arabern sowie den arabischen Nachbarstaaten – weil sie ein Abkommen für unabdingbar hielten für eine gesicherte jüdische Existenz in Palästina, aber auch, um die Ausgestaltung der zionistischen Politik nicht allein den Revisionisten zu überlassen.193 Die in der Jüdischen Rundschau formulierte Position führte in den folgenden Monaten innerhalb der deutschen Bewegung zu einer bitteren Auseinandersetzung über die Ursachen der Unruhen und die daraus zu ziehenden Konsequenzen für die Ausgestaltung der jüdisch-arabischen Beziehungen.194 Die überwältigende Mehrheit des Landesvorstands sprach sich zwar für die Haltung der Jüdischen Rundschau als die offizielle Position der ZVfD aus;195 das Festhalten am Bekenntnis zu Binationalismus und friedlicher Verständigung stieß jedoch bei der Mehrheit der Mitglieder des Landesverbands auf deutlichen Widerspruch. Die versöhnliche Haltung Weltschs führte nach den antijüdischen Ausschreitungen in Palästina erstmals zu einem Ansturm von Kritik aus sämtlichen politischen Richtungen.196
191 Leo Baeck Institute Archive New York (LBINY), Robert Weltsch Collection, AR 7185/MF 491, Subseries IV, Box 2, Folder 16, Protokoll einer Besprechung am 9. September 1929 in der Wohnung von Herrn Dr. Robert Weltsch; ebd., Resumee einer Sitzung im Hause von Herrn Berger, 16. September 1929, gekürzt abgedruckt in: Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1882–1933, 437. Zur zionistischen Konzeption der Arbeitsgemeinschaft vgl. auch Arbeitsgemeinschaft für Zionistische Realpolitik (Hg.), Zur politischen Krise des Zionismus. 192 LBINY, Robert Weltsch Collection, AR 7185/MF 491, Subseries IV, Box 2, Folder 16, Brief an potenzielle Unterstützer, 18. Juni 1929. 193 Lavsky, Before Catastrophe, 191. 194 Vgl. Weltsch, Zum Neuen Jahre, in: JR, 4. Oktober 1929, 517 f. 195 Lavsky, Before Catastrophe, 197. 196 Vgl. dazu Hillenbrand, Fremde im neuen Land, 338. Kritik kam im Besonderen von den Radikalen Zionisten um Nahum Goldmann, aber auch aus der Richtung der Allgemeinen Zionisten. So trat z. B. Max Kollenscher (1875–1937) aus dem Geschäftsführenden Ausschuss der ZVfD aus und forderte gemeinsam mit einer Reihe weiterer Zionisten eine neue Leitung der ZVfD. Max Kollenscher, Zur Krise im deutschen Zionismus, in: JR, 4. Oktober 1929, 521. Um Kollenscher bildete sich schließlich die Gruppe der Unabhängigen Allgemeinen Zionisten, die sich aus Protest gegen binationale Tendenzen von den Allgemeinen Zionisten abspaltete. Vgl. den Bericht zum Jenaer Delegiertentag: Die politische Debatte in Jena, in: JR, 7. Januar 1930, 11–16.
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Die vehementesten Angriffe kamen allerdings aus dem revisionistischen Lager, und es war vor allem Lichtheim, der zu einem der aktivsten und aggressivsten Sprecher in der Debatte wurde. In seinem Artikel Was tut not? in der Septemberausgabe von Hed-Bethar griff er die Leitung der ZVfD sowie die Jüdische Rundschau auf das Schärfste an. Er verteidigte die Demonstration an der Westmauer und wies die von Weltsch vorgebrachten Anschuldigungen entschieden zurück: »Die Kreise des Brith Shalom und die ihnen verbündeten Elemente in Berlin und Prag haben versucht, dieses belanglose Ereignis als eine wesentliche Ursache des Ausbruchs hinzustellen und die Revisionisten dafür verantwortlich zu machen. Sie taten dies teils aus Furcht vor der stark wachsenden revisionistischen Bewegung, teils, um ihre proarabischen Thesen aufrechterhalten zu können. […] Die unglaublicherweise von gewissen zionistischen Kreisen erhobene Beschuldigung, daß ein Teil der Juden – gemeint sind die Revisionisten – an den Ereignissen schuld sei, ist daher als eine infame Parteimache niedrigster Art zu bezeichnen.«197
Weiter unten im Artikel wurde er noch deutlicher: Nicht die Zionistische Exekutive hätte diese Anschuldigungen erhoben, auch nicht die Zionisten in Polen, Amerika oder England: »Nur in Deutschland und in der Tschechoslowakei, wo eine bestimmte Clique zum Schaden und zur Schande des Zionismus die Geschäfte führt und vor allem die Presse beherrscht, ist – aus Haß gegen den Revisionismus und aus dem verzweifelten Willen, die Brith-Schalom-Phantasien auch jetzt noch zu rechtfertigen – der verräterische Versuch unternommen worden, die ›Schuld‹ einem Teil der Juden aufzuhalsen.«198
In Anlehnung an Émile Zolas offenen Brief J’accuse …! anlässlich der Dreyfus-Affäre empörte er sich über die Anschuldigungen und forderte den unverzüglichen Rücktritt der deutschen Führung: »Ich klage an! Ich klage die ›Jüdische Rundschau‹ und die Leitung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland an und ich werde diesen Instanzen, die den Zionismus verderben, den Prozeß machen!«199 Seinen dramatischen Worten ließ Lichtheim alsbald Taten folgen: Aus Protest gegen deren Positionen trat er am 16. September aus dem Geschäftsführenden Ausschuss der ZVfD aus200 und rief bei einer Kundgebung am selben Tag in Berlin die deutschen Zionisten dazu auf, sowohl die Leitung der Zionistischen Organisation als auch die der ZVfD zu bekämpfen.201 197 Lichtheim, Was tut not?, in: Hed-Bethar, Sondernummer, 8. September 1929, 2, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 213–222, hier 217 f. 198 Ebd., 219. 199 Ebd. 200 CZA, Z4/3567, Lichtheim an Blumenfeld, 16. September 1929. 201 O. A., Berliner Kundgebung der Revisionisten, in: JR, 20. September 1929, 491.
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Mit Blick auf den für Dezember angesetzten 23. Delegiertentag in Jena, auf dem die Revisionisten hofften, einen Politikwechsel herbeiführen zu können, intensivierten sie im Herbst 1929 ihre Öffentlichkeitsarbeit und ihre Kritik an der Leitung der ZVfD und der Jüdischen Rundschau deutlich.202 Vor allem Weltsch, dessen Absetzung Lichtheim seit geraumer Zeit forderte, geriet ins Visier der revisionistischen Angriffe. Nachdem er sich geweigert hatte, eine Deklaration des Weltverbands der Zionisten-Revisionisten in der Jüdischen Rundschau abzudrucken, warf Lichtheim ihm vor, »jede andere Meinung tot zu machen, und nur seine eigene gelten zu lassen«.203 Den Vorschlag der Gruppe deutscher Zionisten um Blumenfeld und Weltsch, in direkte Verhandlungen mit der arabischen Seite einzutreten, diskreditierten die Revisionisten in Übernahme deutschnationaler Rhetorik als »gefährliche defaitistische Kampagne«, als »wahre[n] Dolchstoss in den Rücken der zionistischen Bewegung«.204 In einer Gegenkampagne sollten »die zionistischen Massen über die verhängnisvollen Konsequenzen einer derartigen ›Verständigung‹ mit den Arabern« aufgeklärt werden.205 Mit Vortragstouren und Veranstaltungen in den Ortsgruppen versuchten sie, so viele deutsche Zionisten wie möglich für sich zu gewinnen.206 Besondere Bedeutung wurde auch der Verbreitung revisionistischer Publikationen beigemessen. Die Auflage der Dezemberausgabe von Hed-Bethar wurde auf 10 000 Exemplare erhöht, um die größtmögliche Verbreitung der Inhalte zu gewährleisten.207 In dem hier erschienenen Aufruf zum Revisionismus wiederholte Lichtheim noch einmal ausführlich die revisionistische Kritik. Er wies die deutschen Zionisten, die »geduldige[n] Bannerträger des herrschenden Systems«, auf die besondere Verantwortung hin, die sie für die gescheiterte Politik der Exekutive trügen, und forderte sie zum Anschluss an die Revisionisten auf.208 202 JI, G2-1/5, Protokoll der Sitzung des Exekutivkomitees der Union der Zionisten-Revisionisten (UZR), London, 2. Oktober 1929. 203 JI, G2-5/21/1, Brit Trumpeldor (Berlin) an das Exekutivkomitee der UZR, London, 30. September 1929. Zitat: Lichtheim auf der erweiterten Sitzung des Landesvorstandes der ZVfD, 10. November 1929, zit. nach Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I), 224. 204 JI, G2-2/2/1, Rundschreiben des Exekutivkomitees der UZR, 1. Dezember 1929, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 223–229, hier 226 (Hervorhebungen im Original unterstrichen). 205 Ebd., 227; JI, G2-1/5, Protokoll der Plenarsitzung des Exekutivkomitee der UZR, 14./15. Dezember 1929. 206 Beispielsweise sprach Lichtheim in Halle (Saale) über Die Lehren der Palästinaereignisse, in Frankfurt am Main fand eine von 300 Revisionisten besuchte Kundgebung mit Klinov statt. Die Jüdische Rundschau berichtete auch von einer Veranstaltung der Revisionisten in Beuthen, die in direkter Folge 15 neue Mitgliedschaften nach sich zog (JR, 24. Dezember 1929, 695). 207 JI, G2-3/5, The Revisionist Bulletin, Nr. 6, 22. November 1929. 208 Lichtheim, Aufruf zum Revisionismus, in: Hed-Bethar, Sondernummer, 14. Dezember 1929, 2 f., hier 3.
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In gemäßigterem Ton als noch in der Septemberausgabe warf er ihnen vor, »aus der bösen Welt der Wirklichkeit […] in das Gebiet der moralischen Betrachtungen« geflohen zu sein und die politischen Realitäten in Palästina zu ignorieren. Er betonte die Wichtigkeit der arabischen Frage, bestand jedoch darauf, dass diese erst gelöst werden könne, wenn »die jüdische Position im Lande unter Englands Schutz stark und unerschütterlich geworden ist«.209 In derselben Ausgabe wandten sich auch Jabotinsky, Hans Bloch (1891–1943), Yeshayahu Klinov und Wolfgang von Weisl an die deutschen Zionisten. Die Hoffnungen der Revisionisten auf einen Politikwechsel innerhalb der ZVfD schienen nicht unbegründet: Die blutigen Unruhen vom Sommer 1929 verhalfen den revisionistischen Ideen sowohl innerhalb der Gesamtbewegung als auch in der deutschen Bewegung zu bis dahin ungekannter Popularität. Die erfahrene Verwundbarkeit des Jischuw hatte bei vielen deutschen Zionisten zu einem Umdenken geführt. Für sie erhielt der Schutz der jüdischen Gemeinschaft in Palästina oberste Priorität. Die Interessen der arabischen Bevölkerung und die Suche nach möglichen Formen des Ausgleichs rückten für viele fortan in den Hintergrund. Dies spiegelte sich auch im Anwachsen der Mitgliederzahlen des deutschen Landesverbands der Revisionisten. Vor allem in Berlin verzeichneten sie und der Betar in der zweiten Hälfte des Jahrs 1929 großen Zulauf.210 Unter der Leitung des Politikwissenschaftlers und Juristen Ernst Ettisch (1901–1964) eröffneten sie hier im September auch ein neues Zentralbüro der Union der Zionisten-Revisionisten. Weitere Ortsgruppen gründeten sich unter anderem in Wiesbaden, Gießen, Königsberg und München; Ableger des Betar formierten sich in Breslau und Frankfurt. Ebenfalls in Frankfurt formierte sich eine Gruppe von Misrachi-Revisionisten, die mit der moderaten Politik ihres deutschen Landesverbands unzufrieden waren und sich eher mit den Forderungen der Revisionisten identifizieren konnten.211 Auf dem Delegiertentag in Jena im Dezember stellten die Revisionisten schließlich 15 von 161 Delegierten.212 In seinem Redebeitrag attackierte Lichtheim Blumenfeld und Weltsch erneut und warf ihnen vor, mit ihrer Haltung die Stellung der deutschen Zionisten innerhalb der Gesamtbewegung zu 209 Ebd. 210 JI, G2-3/5, The Revisionist Bulletin, Nr. 4, 28. Oktober 1929. Der Brit Trumpeldor verzeichnete demzufolge in Berlin 70 Mitglieder und erweiterte seine Aktivitäten um Hebräisch- und Ju-Jutsu-Kurse. Im Dezember 1929 bestand die Ortsgruppe der Revisionisten aus mehr als 250 Mitgliedern. Vgl. o. A., Die Wahlen zum Delegiertentag, in: Hed-Bethar, 14. Dezember 1929, 1. 211 JI, G2-1/5, Protokoll der Sitzung des Exekutivkomitees der UZR, London, 26. September 1929; ebd., Protokoll der Sitzung des Exekutivkomitees der UZR, London, 2. Oktober 1929; JI, G2-3/5, The Revisionist Bulletin, Nr. 3, 10. Oktober 1929; ebd., The Revisionist Bulletin, Nr. 8, 10. Januar 1930. 212 JI, G2-3/5, The Revisionist Bulletin, Nr. 8, 10. Januar 1930.
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schwächen. Er konstatierte nicht ohne eine gewisse Genugtuung, dass Weizmann, der auf dem Delegiertentag zugegen war und in seiner Eröffnungsrede den von den deutschen Zionisten geforderten Verhandlungen mit der arabischen Seite eine Absage erteilt hatte, sich eindeutig von »Dr. Weltsch« und »seinem Kreis« distanziert habe. Die auf den Seiten der Jüdischen Rundschau in den deutschen Zionismus hineingetragene »Verzichtsstimmung« habe sich spätestens seit den Ausschreitungen im August als falsch erwiesen. Dem dort propagierten, auf Ausgleich zielenden »minimalistischen« Zionismus hielt er die Priorität der jüdischen Ansprüche entgegen, die er mit einem historisch begründeten Anrecht des jüdischen Volks auf Palästina legitimiert sah: »Es ist falsch zu sagen, die Araber haben genau das gleiche Recht in Palästina. Wir bestreiten ihnen nicht ihre Rechte als Einwohner dieses Landes, aber es ist unmöglich, das geschichtliche Recht des jüdischen Volkes mit dem Anspruch, den der Fellache auf seinen Grund und Boden hat, zu vergleichen.«213 Die Hoffnungen der Revisionisten, auf dem Delegiertentag einen Kurs wechsel herbeiführen zu können, erfüllten sich indes nicht. Trotz der enormen, im Vorfeld und während des Delegiertentags unternommenen Anstrengungen gelang es Lichtheim und seinen Anhängern nicht, die deutschen Zionisten für die revisionistischen Forderungen zu gewinnen. Mit 15 Delegierten der Unabhängigen Allgemeinen Zionisten um Max Kollenscher und fünf Radikalen Zionisten kamen die oppositionellen Gruppen insgesamt lediglich auf 35 Delegierte.214 Die Aussichten auf eine Absetzung der Leitung der ZVfD und der Redaktionsführung der Jüdischen Rundschau waren damit von Anfang an gering. Zudem verband Blumenfeld seine Wiederwahl als Präsident der ZVfD mit der Bestätigung Weltschs als Chefredakteur, wodurch viele Kritiker dazu gezwungen waren, gegen ihren Willen auch die Redaktion der Jüdischen Rundschau zu unterstützen. Ein von den Revisionisten eingebrachtes Misstrauensvotum gegen Weltsch wurde mit einer Zweidrittelmehrheit von 94 zu 47 Stimmen abgelehnt, die Forderung nach Verständigung mit der arabischen Bevölkerung erneut bekräftigt. In einer Resolution zur zionistischen Außenpolitik erklärten die Delegierten, in »Eintracht und in gegenseitiger Achtung« mit der arabischen Bevölkerung leben zu wollen und ein Gemeinwesen aufzubauen, in dem die »ungestörte nationale Entwicklung« aller Bevölkerungsteile gesichert sei.215 Der Delegiertentag in Jena markierte eine deutliche Niederlage für die deutschen Revisionisten, von der sie sich nur schwer wieder erholen sollten. Zwar hatten die revisionistischen Ideen im Nachgang der Unruhen auch in213 Referat Lichtheims auf dem Delegiertentag in Jena, in: Die politische Debatte in Jena, in: JR, 7. Januar 1930, 13. 214 JI, G2-3/5, The Revisionist Bulletin, Nr. 8, 10. Januar 1930. 215 O. A., Der Jenaer Delegiertentag, in: JR, 3. Januar 1930, 1. Vgl. auch o. A., Die politische Debatte in Jena, in: JR, 7. Januar 1930, 11–16.
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nerhalb der deutschen Bewegung deutlich an Zuspruch gewonnen, doch war es Lichtheim und seinen Anhängern dennoch nicht gelungen, die für einen Kurswechsel innerhalb der ZVfD notwendige Unterstützung zu erhalten. Mit der neu gewählten Leitung, die aus Vertretern der Allgemeinen Zionisten (Linkes Zentrum), der Hitaḥdut, der Sozialistischen Zionisten und des Misrachi bestand, zeigte sich deutlich, dass die Mehrheit der deutschen Zionisten auch weiterhin an ihrer linksliberalen Haltung festhielt. Ein Grund für das Unvermögen der Revisionisten, in Deutschland größere Erfolge zu erzielen, ist sicherlich auch in der offensiven Methode und Sprache zu suchen, die sie gegen ihre politischen Gegner anwendeten.216 Wie Robert Weltsch fühlten sich viele andere deutsche Zionisten an den aggressiven, zumeist gegen die jüdische Minderheit gerichteten Ton der deutschen Mehrheitsgesellschaft erinnert.217 So entzündete sich an Lichtheims Artikel Was tut not? im HedBethar innerhalb des Dachverbands zionistischer Studentenvereinigungen, des Kartells Jüdischer Verbindungen, dem Lichtheim seit 1925 vorstand, ein heftiger Streit. Die KJV-Mitglieder Siegfried Kanowitz218 (1900–1961) und Paul Hirsch warfen Lichtheim vor, in seinen Angriffen auf die Leitung der ZVfD die Sprache des Völkischen Beobachters übernommen zu haben, und forderten seinen Rücktritt vom Vorsitz des KJV mit der Begründung, Lichtheim habe mit seinen verbalen Entgleisungen das Recht verwirkt, als »Erzieher der Jugend« tätig zu sein.219 Lichtheim hatte mit seinen zum Teil persönlich beleidigenden Angriffen auf einzelne Zionisten und seinem insgesamt aggressiven Ton einen bis dahin ungekannt scharfen Stil in die innerzionistischen Auseinandersetzungen getragen, der stark an den zeitgenössischer rechter Bewegungen in Europa erinnerte. Das Präsidium und die Mehrheit der im Kartell vereinigten Studentenverbindungen sprachen ihm letztlich trotzdem das Vertrauen aus.220 Allerdings entschloss sich Lichtheim dazu, unter Angabe privater Gründe ab 1930 nicht mehr für das Präsidium zu kandidieren.221 216 Vgl. Lavsky, Before Catastrophe, 203; Orland, Israels Revisionisten, 95. 217 Robert Weltsch, Zum neuen Jahre, in: JR, 4. Oktober 1929, 517 f. 218 Kanowitz war ein Berliner Kinderarzt. Während seines Studiums engagierte er sich im KJV und war bis 1933 Sekretär der ZVfD. 1933 emigrierte er nach Tel Aviv. 219 CZA, A231/32, Siegfried Kanowitz, Lichtheim als Erzieher, Rundschreiben an die Mitglieder des KJV, 26. September 1929, 3–6, hier 5. Vgl. auch den offenen Brief an das Präsidium des KJV von Paul Hirsch im selben Rundschreiben. In der Oktoberausgabe der Publikation des KJV Der Jüdische Student nahm Lichtheim die beanstandeten Formulierungen zwar zurück, hielt jedoch weiter am Inhalt des Artikels fest. Mitteilung des Präsidiums, in: Der Jüdische Student, 26 (1929), H. 8, 28 f.; Lichtheims Stellungnahme zu den Vorwürfen: CZA, A231/32, Rundschreiben Lichtheims an alle Mitglieder des KJV, 4. Oktober 1929. Vgl. dazu auch Lavsky, Before Catastrophe, 203. 220 Resolutionen der Verbindungen, in: Der Jüdische Student, 26 (1929), H. 9, 31–40. 221 Präsidialvorschlag des zurücktretenden Präsidiums für das Kartell 1930/31, in: Der Jüdische Student, 27 (1930), H. 1/2, 7.
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Ab März 1930 kreiste der Konflikt innerhalb der deutschen zionistischen Bewegung in der Hauptsache um den Shaw-Bericht, in dem die von den Briten nach den arabischen Unruhen von 1929 eingesetzte Untersuchungskommission ihre Ergebnisse festhielt. Dem Bericht zufolge stellte die jüdische Demonstration an der Westmauer vom 15. August »mehr als jeder andere Zwischenfall eine unmittelbare Ursache für den Gewaltausbruch« dar.222 Der Bericht, der ausgesprochen deutlich war in seiner Kritik an der zionistischen Politik und Praxis in Palästina, zog den Widerspruch aller zionistischen Fraktionen nach sich. Lichtheim bescheinigte ihm nicht nur eine »antizionistische Tendenz«, sondern sogar einen »antisemitischen Charakter«.223 Den Revisionisten galt der Bericht – vor allem, weil sowohl eine grundsätzliche Anerkennung der unmittelbaren Verantwortung der britischen Verwaltung für die Ausschreitungen als auch eine Verurteilung der arabischen Führungsfiguren in Palästina fehlte – als weiterer Beweis dafür, dass die Briten ihre in der Balfour-Deklaration gemachten Versprechen längst preisgegeben hatten. Sie warfen der Zionistischen Exekutive und der ZVfD vor, sich zu sehr auf das Wohlwollen Großbritanniens verlassen zu haben.224 Insbesondere Weltsch, der in einem Artikel in der Jüdischen Rundschau den Shaw-Bericht sicherlich nicht begrüßte, ihn jedoch – zumindest in den Augen der Revisionisten – nicht mit der gebotenen Schärfe zurückwies, geriet erneut ins Visier.225 Lichtheim warf ihm vor, den Bericht, »wie jede antizionistische Behauptung von englischer und arabischer Seite, mit ehrfurchtsvoller Hochachtung aufgenommen« zu haben.226 Im Juni 1930 versuchten die Revisionisten auf der Sitzung des Landesvorstands der ZVfD erneut, Weltsch als Chefredakteur zu diskreditieren – abermals ohne Erfolg. Die von den Revisionisten eingebrachte, die politische Haltung der Jüdischen Rundschau verurteilende Resolution wurde abgelehnt.227 Während die Revisionisten in anderen Ländern Europas, aber vor allem in Palästina im Nachgang des Shaw-Berichtes deutlich an Zustimmung gewonnen hatten, wurde ihre Position in Deutschland weiter geschwächt. Die von der Untersuchungskommission geübte Kritik an der zionistischen Politik hatte letztlich Weltsch und seinen Anhängern recht gegeben. 222 Report of the Commission on the Palestine Disturbances of August, 1929. 223 Lichtheim, Kritik des Shaw-Berichts, in: JR, 11. April 1930, 201. 224 Lichtheim, Wie lange noch?, in: Revisionistische Blätter, Mai / Juni 1930, 1 f. Vgl. auch JI, G2-3/2, Pressebulletin der UZR, April 1930; Referate Jabotinskys und Grossmanns auf der vierten Weltkonferenz der Revisionisten im August 1930 in Prag, in: o. A., Die revisionistische Weltkonferenz, in: JR, 12. August 1930, 415 f.; JI, G2-3/2, Union der Zionisten-Revisionisten, Revisionistische Kritik am Berichte der Untersuchungskommission (Pressekonferenz im revisionistischen Zentralbüro), 7. Juli 1930. 225 Weltsch, Politische Pessach-Betrachtung, in: JR, 11. April 1930, 199 f. 226 Lichtheim, Wie lange noch?, in: Revisionistische Blätter, Mai / Juni 1930, 2. 227 Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I), 228.
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Nachdem sämtliche Versuche der Revisionisten, eine Kursänderung innerhalb der deutschen Bewegung herbeizuführen, gescheitert waren, verlagerte sich der Fokus ihrer Politik im Herbst 1930 auf die Gesamtbewegung. Bereits ab September bereiteten sich einzelne Ortsgruppen auf den Wahlkampf für den 17. Zionistenkongress im kommenden Jahr vor.228 Das im Monat darauf infolge der britischen Untersuchung veröffentlichte Passfield-Weißbuch, das den jüdischen Landkauf strikt begrenzte und empfahl, die jüdische Einwanderung zu suspendieren, um den Lebensstandard der arabischen Bauern nicht zu gefährden, schwächte die Position der Exekutive erheblich und spielte so den Revisionisten in die Hände.229 In der Hoffnung, die günstige Stimmung auszunutzen, die sich im Zuge der restriktiven Palästinapolitik der Briten zumindest innerhalb der Gesamtbewegung für die Revisionisten ergab, intensivierte der Landesverband seine politische Agitation ab Oktober abermals.230 Die deutschen Revisionisten hofften erneut, auf internationaler Ebene dauerhaft eine Kursänderung herbeiführen zu können, was letztlich auch die dominante Stellung des linksliberalen Blocks in Deutschland unterminiert hätte. Mit dem Ziel, die Anhängerschaft weiter zu vergrößern – gegen Ende 1930 hatten sich bereits 16 Ortsgruppen gebildet231 – und Stimmen für die absehbaren Kongresswahlen zu akquirieren, forderte das Berliner Büro die Mitglieder auf, regelmäßig Propagandaveranstaltungen und Kundgebungen zu organisieren.232 Auch Jabotinsky und dessen langjähriger enger Mitarbeiter Schechtman kamen für Vortragsreisen nach Deutschland.233 Unter dem Vorsitz Jabotinskys fand im Dezember eine gut besuchte Versammlung der Revisionisten statt, auf der sie ihr politisches Programm für die Kongresswahlen formulierten: Neben der Erlangung einer jüdischen Majorität
228 JI, G2-5/21/1, Silbert (Landesverband der Zionisten-Revisionisten in Deutschland) an das Exekutivkomitee der UZR, London, 18. September 1930. 229 Der Druck der Zionisten auf die britische Regierung führte dazu, dass Premierminister Ramsey MacDonald in einem Brief vom 13. Februar 1931 versicherte, es sei nicht die Absicht der britischen Regierung, die jüdische Einwanderung nach Palästina zu beenden. Die Beschränkungen des Passfield-Weißbuchs wurden damit allerdings nicht zurückgenommen. 230 JI, G2-5/21/1, Landesverband der Zionisten-Revisionisten an Meir Grossmann, London, 10. November 1930. 231 Berlin, Beuthen, Breslau, Dessau, Dresden, Frankfurt a. M., Gießen, Gleiwitz, Hindenburg, Hamburg, Köln, Leipzig, Magdeburg, München, Stettin, Wiesbaden, JI, G21–5/1, o. A., Germany. 232 JI, G2-5/21/2, Landesverband der Zionisten-Revisionisten an die Ortsgruppen, 7. Dezember 1931. 233 JI, G2-5/21/1, Landesverband der Zionisten-Revisionisten in Deutschland an das Exekutivkomitee der UZR, 18. September 1930, 12. Oktober 1930, 5. November 1930, 18. Dezember 1930; Bericht über einen Vortrag Jabotinskys, gehalten am 22. Oktober 1930 in Berlin, in: JR, 28. Oktober 1930.
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beiderseits des Jordans zum Zwecke der Errichtung eines selbstverwalteten Gemeinwesens erstrebten die Revisionisten die Reform der Jewish Agency und nichts weniger als die Übernahme der Leitung der Zionistischen Organisation.234 Um die revisionistischen Inhalte einer möglichst breiten zionistischen Öffentlichkeit zugänglich zu machen, bemühte sich das Berliner Büro im Vorfeld der Wahlen um die Zirkulation von Schriften wie Lichtheims Revision der zionistischen Politik (1930), Was ist Zionismus? (1931) und Die Ära Weizmann (1931). In gewohnt angriffslustigem Ton legte Lichtheim in diesen Broschüren ausführlich dar, warum es geradezu die »moralische Pflicht« der Revisionisten sei, Weizmann und die gesamte Zionistische Exekutive abzulösen und so eine Wende der zionistischen Politik herbeizuführen.235 Trotz aller Kampfbereitschaft und Agitation mussten die Revisionisten jedoch schon bald einsehen, dass sie ihre Position in Deutschland nur schwerlich ausbauen konnten. Bereits kurz nach ihrer am 15. März 1931 abgehaltenen Jahreskonferenz, auf der sie die Absicht bekräftigten, »die Zionistische Bewegung zu erneuern«, und von ihren Mitgliedern die Bündelung »alle[r] Kräfte der Bewegung […] für das Ziel der Eroberung des XVII. Kongresses« forderten, mussten sie eingestehen, dass der Revisionismus hier nur wenig Zustimmung erfuhr.236 Hans Bloch, Mitglied des Landesvorstands der deutschen Revisionisten, bemerkte dazu: »Schwerer als irgendwo sonst ist unser Kampf in Deutschland. Es fehlt die Resonanz der großen Volksbewegung, die von den Ereignissen wirklich ergriffen und revolutioniert werden kann.«237 Selbst unter den eigenen Mitgliedern war die Bereitschaft zur Mitarbeit eher unbefriedigend. Nachdem der Rücklauf einer Spendenaktion zur Finanzierung der politischen Arbeit deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben war, berichtete das Büro des revisionistischen Weltverbands in London resigniert nach Berlin: »Wir können Ihnen nur sagen, dass dieses traurige Resultat uns nicht gerade ermutigt und für die weitere Entwicklung unserer Bewegung nicht vielversprechend ist. Denn wenn eine Partei so wenig pflichtbewusste und opferfreudige Mitglieder zählt, so kann sie unmöglich ein langes Leben haben.«238 Bei den Kongresswahlen im Sommer 1931 entfielen schließlich 14 Prozent der deutschen Wählerstimmen (1 189 von 8 494) auf
234 Kongreß-Programm der Revisionisten, in: JR, 6. Januar 1931, 4. 235 Lichtheim, Was ist Zionismus?, 3. 236 JI, G2-5/21/1, Beschlüsse des Ersten Delegiertentags des Landesverbands der ZionistenRevisionisten in Deutschland, 15. März 1931, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 229–231, hier 230. 237 Hans Bloch, in: Revisionistische Blätter, März 1931, zit. nach Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I), 229. 238 JI, G2-5/21/1, Union der Zionisten-Revisionisten (London) an den Landesverband der Zionisten-Revisionisten in Deutschland (Berlin), 26. März 1931.
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Abb. 5: Lichtheim mit einer Gruppe von Revisionisten auf dem 17. Zionistenkongress in Basel, 1931. 1. Reihe sitzend: Vladimir Jabotinsky (2. v. rechts), Vladimir Tiomkin (3. v. rechts), Richard Lichtheim (4. v. rechts), Meir Grossmann (3. v. links). © Mit freundlicher Genehmigung des Jabotinsky Institute in Israel.
die Revisionisten. Das war zwar deutlich mehr als in den Vorjahren, reichte allerdings lediglich für ein Kongressmandat.239 Dagegen hatte sich die Lage der Revisionisten innerhalb der Gesamt bewegung nach dem arabischen Aufstand deutlich verbessert. Bereits bei den Wahlen zur jüdischen Nationalversammlung in Palästina im Januar 1931 waren sie zweitstärkste Fraktion geworden.240 Davon ermutigt, war die Union im Sommer mit großem Selbstvertrauen in die Wahlen zum 17. Zionistenkongress gegangen und konnte schließlich ihr bis dahin erfolgreichstes Ergebnis erzielen. Mit 47 Delegierten hatte sie ihren Stimmenanteil im Vergleich zum Kongress von 1929 mit 21 Delegierten mehr als verdoppelt (Abb. 5). Fast ein Viertel aller abgegebenen Stimmen entfiel auf die Revisionisten.241 239 O. A., Das Ergebnis der Wahlen, in: JR, 12. Juni 1931, 275. 240 O. A., Die Wahlen zur Assefath Niwcharim, in: JR, 9. Januar 1931, 1. 241 Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XVII. Zionistenkongresses und der zweiten Tagung des Council der Jewish Agency für Palästina, Basel, 30. Juni bis 17. Juli 1931, 17.
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Die meisten revisionistischen Delegierten schickten die Landesverbände aus Polen (10), Palästina (7) und Ostgalizien (5).242 Vor allem in diesen Ländern hatte die revisionistische Propaganda die arabischen Unruhen in Palästina geschickt für sich auszunutzen gewusst. Gleichzeitig war im Zuge der darauffolgenden Auseinandersetzung der Rückhalt Weizmanns deutlich zurückgegangen, sodass die Hoffnung der Revisionisten auf einen Führungswechsel im Sommer 1931 durchaus berechtigt schien.
Der 17. Zionistenkongress 1931 in Basel und die Spaltung der revisionistischen Bewegung Der Kongress selbst, der vom 30. Juni bis 17. Juli in Basel stattfand, sollte schließlich zum Wendepunkt für die weitere Entwicklung der revisionistischen Bewegung werden. Von Beginn an stand der Kongress im Zeichen scharfer Auseinandersetzungen zwischen Weizmann und den Arbeiterparteien auf der einen Seite und den Revisionisten auf der anderen. Gestärkt vom Zulauf in den vorangegangenen Monaten, reisten die revisionistischen Delegierten mit zwei größeren Zielen zum Kongress an: die Ablösung der bisherigen Leitung durch die Wahl Jabotinskys zum Präsidenten und einer revisionistisch dominierten Exekutive sowie ein öffentliches Bekenntnis des Kongresses zur Schaffung eines jüdischen Staats beiderseits des Jordans als Ziel der zionistischen Bewegung.243 Beide Forderungen erfüllten sich letztlich nicht. Zwar sprach sich der Kongress deutlich gegen eine Fortsetzung der Präsidentschaft Weizmanns aus, entschied sich allerdings auch nicht wie gehofft für Jabotinsky. Stattdessen wurde Nahum Sokolow an die Spitze einer Exekutive gewählt, die bei Weitem nicht dem von den Revisionisten geforderten Kurswechsel entsprach. Vielmehr bedeuteten die Wahl der Exekutive und die Präsidentschaft Sokolows eine Fortsetzung des »Weizmannismus ohne Weizmann«, wie es der Historiker Walter Laqueur treffend formulierte.244 Der Antrag der Revisionisten, das Ziel des Zionismus öffentlich als Schaffung eines Judenstaats in Palästina einschließlich Transjordaniens zu definieren, wurde abgelehnt. Die Kongressdelegierten entschieden damit, auch weiterhin offiziell von einer »nationalen Heimstätte« zu sprechen. Dies führte zu den in der Literatur vielfach beschriebenen tumultartigen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der Revisionisten und der Linken, die darin gipfelten, dass Jabotinsky – so enttäuscht von den Ergebnissen des 242 Ebd. 243 O. A., Kongreß-Programm der Revisionisten, in: JR, 6. Januar 1931, 4. 244 Laqueur, Der Weg zum Staat Israel, 518.
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Kongresses – auf einen Tisch sprang und laut ausrief: »Das ist kein Zionisten kongreß!«, seinen Delegiertenausweis in Stücke riss und unter großem Lärm mit den übrigen Revisionisten den Saal verließ.245 Für die Revisionisten wurde die Niederlage auf dem 17. Kongress zu einem einschneidenden Ereignis, das die ohnehin fragile Bewegung weiter schwächte und letztendlich zu deren Spaltung führen sollte. Der Kongressausgang hatte den seit 1928 zwischen Jabotinsky und Meir Grossmann schwelenden Konflikt um einen möglichen Austritt der Union, die sich laut ihren Grundsätzen in ihrer Gesamtheit als Teil der Zionistischen Organisation verstand, aus dem Dachverband befeuert.246 Seit Gründung der Union stand Jabotinsky der Mitgliedschaft in der Zionistischen Organisation skeptisch gegenüber. War er bei seinem Eintritt in die Zionistische Exekutive zu Beginn der 1920er Jahre noch davon überzeugt gewesen, die »Festung« durch politische Arbeit von innen heraus einnehmen zu können, plädierte er nun dafür, dass die Revisionisten sich in einer unabhängigen Körperschaft organisieren sollten.247 Bereits auf der vierten Weltkonferenz der Union der Zionisten-Revisionisten, die vom 10. bis 14. August 1930 in Prag stattgefunden hatte, hatte Jabotinsky einen sofortigen Austritt vorgeschlagen. Er musste seinen Antrag allerdings zurückziehen, nachdem sich abzeichnete, dass die überwiegende Mehrheit der Versammelten hinter Grossmann stand, der für einen Verbleib eintrat.248 Ein knappes Jahr später erklärte Jabotinsky mit seinem theatralischen Auftritt auf dem 17. Zionistenkongress seinen Austritt aus der Zionistischen Organisation und setzte fortan alles daran, auch die Union als Ganzes aus ihr hinauszuführen. Mit diesem Vorhaben fand er zunächst allerdings kaum Anklang. Lichtheim, der davon überzeugt war, dass Jabotinsky mit seiner kompromisslosen und ungeduldigen Haltung letztlich scheitern und sein »eigenes 245 Vgl. Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XVII. Zionistenkongresses und der zweiten Tagung des Council der Jewish Agency für Palästina, Basel, 30. Juni bis 17. Juli 1931, 398. 246 Grundsätze des Revisionismus, 16. Zum Konflikt zwischen Grossmann und Jabotinsky vgl. ausführlich Feldman, Ha-ma’avak al hanhagat ha-tenu’a ha-rewizionistit. Ze’ev Jabotinski mul Me’ir Grosman 1925–1933 [Der Kampf um die Führung der revisionistischen Bewegung. Zeev Jabotinsky gegen Meir Grossmann 1925–1933]. 247 In einem Artikel in der von Meir Grossmann in Kopenhagen herausgegebenen jiddischsprachigen Zeitung Di Tribune hatte Jabotinsky zu Beginn der 1920er Jahre seine Entscheidung für die Mitarbeit in der Exekutive damit gerechtfertigt, dass es zwei mögliche Wege in der Politik gäbe: Man könne eine Festung durch einen Angriff von außen zerstören oder sie durch geschickte Arbeit von innen einnehmen. Vgl. ders., Der Zweite Weg, in: Di Tribune 2 (1921), 12–16 (jidd.). Im Nachgang des 17. Zionistenkongresses sprach er sich nun offen für die Gründung einer neuen, unabhängigen ZO aus. Vgl. ders., Unabhängigkeit oder Niedergang, in: Rassvet, 30. August 1931 (russ.). Vgl. dazu auch Schechtman, The Vladimir Jabotinsky Story, Bd. 2: Fighter and Prophet, 154. 248 Vgl. o. A., Schluß der Revisionisten-Konferenz, in: JR, 19. August 1930, 428.
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Abb. 6: Richard Lichtheim und Meir Grossmann auf dem 17. Zionistenkongress in Basel, 1931. © Central Zionist Archives.
Kind […] töten«249 werde, sollte innerhalb der sich formierenden innerrevisio nistischen Opposition eine entscheidende Rolle zukommen. Gemeinsam mit Meir Grossmann, der ab 1929 das in London residierende Büro des Exekutivkomitees der Revisionisten leitete, setzte er sich entschieden für den Verbleib der Union in den bereits existierenden zionistischen Strukturen ein (Abb. 6). Grossmann und Lichtheim waren überzeugt davon, dass die Revisionisten nur innerhalb der von sämtlichen zionistischen Gruppierungen getragenen Körperschaften politisch erfolgreich sein und den demokratischen Charakter 249 CZA, A56/20, Jabotinsky an Lichtheim, 25. August 1931, Jabotinsky zitiert hier einen früheren Brief Lichtheims.
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der Bewegung wahren könnten. Auch sahen sie, nachdem die Briten im Anschluss an die Augustunruhen von 1929 ein Einreiseverbot gegen Jabotinsky verhängt hatten, in der Mitarbeit in der Zionistischen Organisation die einzige Möglichkeit, die britische Politik sowie die soziale und wirtschaftliche Entwicklung in Palästina in ihrem Sinne zu beeinflussen.250 Die Spannungen zwischen den beiden Lagern spiegelten sich auch in der Korrespondenz zwischen ihren Protagonisten wider. Lichtheim warf Jabotinsky vor, sich »auf einen völlig falschen Weg verirrt« zu haben.251 Jabotinsky dagegen beschwerte sich bei Lichtheim über mangelnde Unterstützung und behauptete, der Linie Grossmanns jahrelang gegen sein eigenes politisches Gewissen gefolgt zu sein. Er zeigte sich enttäuscht, dass die beiden Vizepräsidenten ihm nun die Gefolgschaft verwehrten, und bat um einen Vertrauensvorschuss. Sollte er mit seinem Vorhaben einer unabhängigen revisionistischen Organisation scheitern, so versicherte er Lichtheim, würde er die Führung der Bewegung ihm und Grossmann überlassen.252 Um eine Lösung der Streitfrage herbeizuführen, versammelte sich das Exekutivkomitee der Union am 28. und 29. September 1931 in Calais, wo es zunächst gelang, sich intern auf einen Kompromiss zu einigen, der einen vollständigen Bruch mit den bestehenden zionistischen Körperschaften verhindern sollte: Das Exekutivkomitee überließ die Entscheidung nach Verbleib oder Austritt aus der Zionistischen Organisation den einzelnen Unionsmitgliedern und stellte es ihnen frei, ob sie weiterhin den Schekel, der ihre Mitgliedschaft im Dachverband begründete, zahlten oder nicht. Gleichzeitig sollte die Union als einheitliche Organisation bestehen bleiben; der Passus im Grundsatzprogramm, der sie als integralen Bestandteil des zionistischen Dachverbands auswies, wurde gestrichen. Zudem verpflichtete die Union alle ihre Mitglieder, sich der Disziplin der Revisionisten zu unterwerfen.253 Die Beschlüsse von Calais führten allerdings nicht zu einer Lösung des Problems, sondern verkomplizierten es nur noch mehr. Da sie die schekelzahlenden Revisionisten doppelter Parteidisziplin unterworfen hätten, waren sie nicht mit den Statuten der Zionistischen Organisation vereinbar und 250 Daniel Kupfert Heller, Jabotinsky’s Children, 107 f. 251 JI, A1-3/19, Lichtheim an Jabotinsky, 14. August 1931, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 239. 252 CZA, A56/20, Jabotinsky an Lichtheim, 17. August 1931. 253 Als Schekel wurde der Beitrag bezeichnet, den jedes Mitglied der ZO entrichten musste. Nur die Schekelzahler waren berechtigt, an Kongresswahlen teilzunehmen. Gleichzeitig verpflichteten sie sich, nur innerhalb der ZO politisch aktiv zu sein. Die Revisionisten führten – in einem Versuch, das Problem der stets fehlenden finanziellen Mittel zu lösen – auf ihrer vierten Weltkonferenz 1930 innerhalb der Union den sogenannten Dinar als Äquivalent ein. Zu den Beschlüssen der Revisionisten in Calais vgl. o. A., Einigung im Revisionismus, in: JR, 2. Oktober 1931, 463.
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wurden daher von der Zionistischen Exekutive nicht anerkannt.254 Auch Lichtheim, der den Kompromiss von Calais im Bemühen um Einheit innerhalb der Union zunächst begrüßt hatte, wies schon bald darauf hin, dass die Entscheidung »formell und juristisch nicht verteidigt werden« könne.255 Um eine Organisationsform zu finden, die mit den Vorgaben der Zionistischen Organisation vereinbar war, schlug er vor, dass sich die schekelzahlenden Revisionisten gesondert als Verband konstituieren sollten. Anfang 1932 wandten sich Grossmann und Lichtheim mit Zustimmung des restlichen Exekutivkomitees der Union mit einem entsprechenden Antrag an die Zionistische Exekutive, dem im August stattgegeben wurde. Fortan bildeten die schekelzahlenden Revisionisten, die rund vier Fünftel der Unionsmitglieder ausmachten, einen Sonderverband innerhalb der Zionistischen Organisation.256 Allerdings brachte auch dieser Schritt keine Lösung für das Dilemma der doppelten Parteidisziplin, sodass sich die Diskussionen um die passende Organisationsform in den kommenden Monaten fortsetzten. Den von Lichtheim geführten deutschen Landesverband beschäftigte im Nachgang des 17. Zionistenkongresses allerdings nicht nur die Frage nach seinem Verhältnis zur Zionistischen Organisation, sondern auch seine Beziehung zur ZVfD. Obgleich die Mehrheit der deutschen Revisionisten die separatistischen Forderungen Jabotinskys ablehnte, veranlasste sie der Misserfolg auf dem Kongress und ihr Unvermögen, innerhalb der deutschen zionistischen Bewegung signifikante Erfolge zu erzielen, geschweige denn eine Führungsposition einzunehmen, dazu, im Herbst 1931 auf nationaler Ebene ebenjenen Weg zu gehen: Auf ihrer Landeskonferenz im Oktober vollzogen die deutschen Revisionisten aus Protest gegen die politische Haltung der ZVfD und der Jüdischen Rundschau den Bruch mit den Körperschaften des offiziellen Zionismus in Deutschland. Sie zogen ihre Mitglieder aus dem Landesvorstand der ZVfD zurück, kündigten die Teilnahme am Delegiertentag auf und entbanden ihre Mitglieder von der Pflicht, der ZVfD anzugehören.257 Laut Lichtheim, der auf den Austritt gedrängt hatte, sei die ZVfD dominiert von einer Clique von »Träger[n] des Brit Shalom Geistes und des 254 JI, G2-4/9/4, Erklärung der Zionistischen Exekutive zu den Beschlüssen der UZR, 7. Dezember 1931. 255 JI, G2-1/5, Protokolle der Sitzungen des Exekutivkomitees der UZR vom 9., 10., 17. und 19. Dezember 1931. 256 JI, P59-2/99/8, Grossmann an Lichtheim, 25. Januar 1932; ebd., Lichtheim an Grossman, 29. März 1932; JI, G2-1/5, Protokoll der Sitzung des Exekutivkomitees der UZR, 20. Januar 1932; JI, G2-2/2/2, UZR an die revisionistischen Landeszentralen, 11. August 1932; Die Beschlüsse des Aktions-Comités, in: JR, 16. August 1932, 213. 257 JI, G2-2/2/1, Beschlüsse der Zweiten Landeskonferenz des Verbandes der Zionisten-Revisionisten in Deutschland, 11. Oktober 1931, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 241–244. Vgl. auch Richard Lichtheim, Unser Austritt aus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, in: Die Neue Welt, 13. November 1931, 7.
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entschiedenen Weizmannismus« und somit nie die Organisation aller ihrer Gruppierungen gewesen.258 Die Entscheidung der deutschen Revisionisten führte schließlich zum Ausschluss ihres Landesverbands aus der ZVfD. In einer Sondersitzung am 14. Oktober 1931 entschied der Geschäftsführende Ausschuss, dass die Zugehörigkeit zum Revisionismus mit der Mitgliedschaft in der ZVfD unvereinbar sei.259 Die Entscheidung wurde im Dezember auch von der Zionistischen Exekutive in London bestätigt.260 Durch den Bruch mit der ZVfD innerhalb der deutschen Bewegung völlig isoliert, fand der revisionistische Kampf in Deutschland im Herbst 1931 vorerst ein Ende. Ohnehin waren die deutschen Revisionisten im Verlauf des Jahrs 1932 zunehmend eingenommen von dem sich innerhalb ihres Weltverbands zuspitzenden Konflikt zwischen Jabotinsky einerseits und Lichtheim und Grossmann andererseits, der schließlich auch für sie zur Zerreißprobe werden sollte. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte dieser Konflikt auf der fünften Weltkonferenz der Union der Zionisten-Revisionisten vom 28. August bis 3. September 1932 in Wien. Die Versammlung war bestimmt von heftigen Auseinandersetzungen zwischen dem Exekutivkomitee der Union und dem palästinensischen Landesverband, die eine tiefe innere Spaltung offenbarten.261 Innerhalb des Landesverbands in Palästina hatten sich mit den von Wolfgang von Weisl262 angeführten sogenannten Aktivisten und den Maximalisten, dominiert vom durch Abba Achimeir (1897–1962) gegründeten Brit ha-Birionim,263 radikale Gruppierungen gebildet, die eine neue Tendenz 258 JI, G2-5/21/1, Bericht über die Berliner Mitgliederversammlung vom 22. Oktober 1931; vgl. auch JI, P59-2/99/8, Lichtheim an Grossmann, 15. November 1931, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 245–248. 259 O. A., Die Revisionisten und ZVfD, in: JR, 16. Oktober 1931, 483. Vgl. auch Blumenfeld an die Zionistische Exekutive London, 1. Dezember 1931, abgedruckt in: Reinharz (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1882–1933, 514–516. 260 Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (I), 236. 261 Die Jüdische Rundschau berichtete ausführlich über die Konferenz: o. A., Die revisionistische Weltkonferenz, in: JR, 2. September 1932, 337 f.; o. A., Die Revisionistenkonferenz, in: JR, 6. September 1932, 341 f. 262 Der in Wien geborene Wolfgang von Weisl war als Arzt, Journalist und Autor tätig. 1922 wanderte er nach Palästina aus und wirkte ab Mitte der 1920er Jahre als Korrespondent für verschiedene deutschsprachige Zeitungen, u. a. die Vossische Zeitung, im Nahen und Mittleren Osten. Gleichzeitig begannen sein politisches Engagement für Jabotinskys Revisionisten und seine Mitarbeit an revisionistischen Publikationen im Jischuw. 263 Beim Brit ha-Birionim handelt es sich um eine nach den Unruhen von 1929 gegründete radikale Gruppe jüngerer Revisionisten um die Poeten, Literaten und politischen Journalisten Abba Achimeir, Uri Zvi Grinberg (1894–1981) und Yehoshua Heschel Yevin (1891–1970), die einen dezidiert antibritischen Kurs verfolgten, für einen Austritt aus der ZO plädierten und Elemente des italienischen Faschismus in ihr politisches Programm aufnahmen.
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innerhalb der Bewegung verkörperten und den Führungsanspruch der liberalen Gründergeneration zunehmend infrage stellten. Diese überwiegend in den späten 1890er Jahren geborene jüngere Generation war deutlich stärker von den linken wie rechten revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts geprägt und zeichnete sich durch eine vehement nationalistische Haltung aus, die sich mit einer militanten Gegnerschaft zu Marxismus, Sozialismus, Liberalismus und Pazifismus verband. In antidemokratischer und antiliberaler Manier verlangten sie nach »diktatorischer Führung« sowie der militärischen Ausbildung der Jugend und bevorzugten die »direkte Aktion« gegenüber politischen Mitteln der Intervention. Neu war auch ihre dezidiert antibritische Haltung. Sie verlangten nicht nur den unbedingten Bruch mit den etablierten zionistischen Körperschaften, sondern auch das Ende der Zusammenarbeit mit der britischen Regierung.264 Die Maximalisten unter ihnen unterstützten stattdessen Benito Mussolinis Italien und strebten die Errichtung eines faschistischen Staats nach dessen Vorbild an.265 Insgesamt kämpften die radikalen Gruppen nicht nur – wie es Wolfgang von Weisl gegenüber Jabotinsky und dem Exekutivkomitee formulierte – um »›Einfluss‹, sondern um die Alleinherrschaft in der zionistischen Welt«.266 Auf der Weltkonferenz in Wien stellten die radikalen Gruppen fast die Hälfte der Delegierten (65 von 141).267 Gegen solche Tendenzen verwahrte sich die ältere, liberale Generation von Revisionisten um Grossmann und Lichtheim, die die Mehrheit im Exekutivkomitee der Union stellte. Zu dieser Gruppe gehörten der Jurist Jonah Machover (1880–1971) und der Agrarwissenschaftler Selig Eugen Soskin (1873–1959), die gemeinsam mit Jabotinsky den Revisionismus als Bewegung in Europa aufgebaut hatten, ebenso wie der österreichische Ingenieur Robert 264 Kaplan, The Jewish Radical Right, 13–20; Shindler, The Rise of the Israeli Right, 84–86 und 88–104. Aktivisten und Maximalisten unterschieden sich v. a. in Hinblick auf die sogenannte arabische Frage. Während die Aktivisten, allen voran von Weisl – ebenso wie die liberalen Revisionisten der älteren Generation – der arabischen Bevölkerung in einem jüdisch dominierten Gemeinwesen nationale Minderheitenrechte zugestehen wollten, zeichneten sich die Maximalisten durch einen aggressiv-nationalistischen Standpunkt gegenüber der arabischen Bevölkerung aus. Aus Sicht der liberalen Gründergeneration schienen die Unterschiede zwischen Maximalisten und Aktivisten allerdings marginal. Vgl. dazu Zouplna, Vladimir Jabotinsky and the Split within the Revisionist Union, 50. 265 Ihre Begeisterung für den Faschismus ging so weit, dass ein Teil der Gruppe Anfang der 1930er Jahre sogar Sympathien für den deutschen Nationalsozialismus zeigte. Insbesondere Yevin und Achimeir riefen die Revisionisten dazu auf, NS-Deutschland in seiner faschistischen und antikommunistischen Haltung zu unterstützen und gleichzeitig dessen antisemitische Politik zu bekämpfen. Vgl. Joseph Heller, The Failure of Fascism in Jewish Palestine 1935–1948, bes. 364 f.; Shindler, The Rise of the Israeli Right, 104–109. 266 JI, A1-3/19, Wolfgang von Weisl an das Exekutivkomitee der UZR, London, mit Kopien an Jabotinsky, Lichtheim, Soskin, 10. März 1931. 267 Zouplna, Vladimir Jabotinsky and the Split within the Revisionist Union, 50.
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Stricker,268 der sich 1931 den Revisionisten angeschlossen hatte. Den Prinzipien des Parlamentarismus und Liberalismus verpflichtet, verurteilten sie den Radikalismus der palästinensischen Revisionisten und plädierten für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit mit der Zionistischen Organisation. Auch zweifelten sie trotz aller Kritik an der britischen Mandatspolitik nicht an der Notwendigkeit einer fortgesetzten Zusammenarbeit mit London. Für sie war »der Aufbau des Landes […] eine Staatsaufgabe«, die nur »mit Hilfe Englands gelöst werden« könne.269 Auch war für sie die Etablierung eines selbstverwalteten jüdischen Gemeinwesens innerhalb einer größeren politischen Einheit vorstellbar.270 Da er gewissermaßen zwischen zwei Stühlen saß, nahm Jabotinsky in dem Konflikt eine unklare Position ein. Einerseits war er mit der parlamentarischen Politik sowohl der Zionistischen Organisation als auch des revisionistischen Exekutivkomitees unzufrieden, andererseits weigerte er sich, seinen Glauben an evolutionären Zionismus, parlamentarische Demokratie und England preiszugeben.271 Auch zeigte er offen seine Bewunderung für Mussolini, übernahm jedoch nicht dessen faschistisches Programm. Obwohl er der Weltanschauung seiner alten Weggefährten sehr viel näherstand, vermied er es, sich offen gegen die palästinensischen Revisionisten zu positionieren, die sich gemeinsam mit der militaristischen Jugendorganisation Betar ab den späten 1920er Jahren allmählich zu seiner wichtigsten Machtbasis entwickelt hatten und seine Austrittsbestrebungen vorbehaltlos unterstützten. Im Gegenteil war er um ihrer Beschwichtigung willen bereit, einen autoritäreren Führungsstil anzunehmen, und schlug vor ihnen einen aufhetzenden, militanten und antidemokratischen Ton an, während er das Exekutivkomitee weiter mit politisch rationalen Reden zu beschwichtigen suchte.272 Diese Dissonanz machte sich auch auf der Konferenz in Wien deutlich bemerkbar. 268 Robert Stricker war ein österreichischer Ingenieur, Journalist und zionistischer Funktionär. Von 1919 bis 1927 fungierte er als verantwortlicher Redakteur und Mitherausgeber der Wiener Morgenzeitung. In den 1920er Jahren stand er den Radikalen Zionisten Österreichs vor, bis er sich 1931 den Revisionisten anschloss. Stricker wurde Ende Oktober 1944 in Auschwitz ermordet. Zu seinem Werdegang vgl. Mühl, »Immer war Wahlkampf«; Hecht, Robert und Paula Stricker. 269 Lichtheim, Revisionismus (1931), abgedruckt in: Schoeps (Hg.), Zionismus, 253–264, hier 256. 270 Der britische Labourabgeordnete Josiah Wedgwood (1872–1943) hatte 1928 vorgeschlagen, ein jüdisches Gemeinwesen als Dominion im Rahmen des britischen Commonwealth zu etablieren, und dafür die volle Unterstützung der Revisionisten gefunden. Unter Jabotinskys Einfluss wurde in den 1930er Jahren sogar ein Verfassungsentwurf für den künftigen jüdischen Staat als Dominion des Britischen Empire ausgearbeitet. Wedgwood, The Seventh Dominion; Joshua B. Stein, Josiah Wedgwood and the Seventh Dominion Scheme. 271 Vgl. Daniel Kupfert Heller, Jabotinsky’s Children, 112. 272 Shindler, The Rise of the Israeli Right, 97.
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Bereits im Vorfeld der Konferenz hatte die palästinensische Fraktion den Rücktritt Lichtheims und Grossmanns aus dem Exekutivkomitee der Union gefordert.273 Lichtheim ahnte daher die Heftigkeit der gegenseitigen Angriffe voraus und zog es vor, der Zusammenkunft fernzubleiben.274 Stattdessen legte er seine Kritik ausführlich in einem Brief dar. Er regte die Aufhebung der Beschlüsse von Calais an und forderte alle, die den Schekel nicht zahlten, zum Wiedereintritt in die Zionistische Organisation auf. Außerdem kritisierte er die antibritische Haltung der palästinensischen Revisionisten. In seinem typischen scharfen Ton schloss Lichtheim den Brief mit einem Angriff auf die Gruppe um Achimeir und verurteilte deren Parolen als unpolitisches »Gemisch aus Nihilismus und romantischem Putschismus«. Er warnte vor der Gefahr, die diese »lebensfremden, wurzellosen, wahrscheinlich sehr unglücklichen Menschen« für die revisionistische Bewegung darstellten.275 Zwar konnten sich auf der Konferenz die Maximalisten mit ihrem Programm nicht durchsetzen, das von Lichtheim erhoffte Ergebnis brachte sie jedoch auch nicht. Die versammelten Revisionisten bestätigten die Beschlüsse von Calais und entschieden darüber hinaus, dass sämtliche Revisionisten, ob Schekelzahler oder nicht, in erster Linie der Disziplin der Union unterworfen seien. Auch der neue, antibritische Kurs wurde festgeschrieben. Aus Protest gegen diese Beschlüsse verzichtete Lichtheim auf eine Wiederwahl in das Exekutivkomitee der Union und trat mit der Begründung, die in Wien festgelegte Politik nicht vertreten zu können, zudem von seinem Amt als Vorsitzender des deutschen Landesverbands zurück. Er blieb allerdings weiterhin Mitglied des Landesvorstands.276 Zu seinem Nachfolger wurde der loyal zu Jabotinsky stehende Hans Bloch gewählt, der Lichtheims Positionen scharf kritisierte. Die Spannungen innerhalb des Weltverbands sollten auch die deutschen Revisionisten nicht unberührt lassen. Im Herbst 1932 begann sich innerhalb des neuen, von Bloch geführten Landesvorstands eine kleine Gruppe zu formieren, die gegen Lichtheim opponierte. Der russische Revisionist Chaim Belilovsky verbreitete eine geheime Umfrage, in der er die deut273 O. A., Ask Resignation of Grossman, Lichtheim, in: JTA Bulletin, 28. Juli 1932, (3. April 2023). 274 JI, P59-2/99/8, Lichtheim an Grossmann, 19. August 1932. 275 CZA, A56/20, Lichtheim an die fünfte Weltkonferenz der Zionisten-Revisionisten, 23. August 1932, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 248–257, hier 256. 276 O. A., Die Revisionistenkonferenz, in: JR, 6. September 1932, 341; JI, G2-5/21/1, Rundschreiben des deutschen Landesverbands der Union der Zionisten-Revisionisten, 17. September 1932; JI, G2-1/5, Protokoll der Sitzung des Exekutivkomitees der UZR, 20. September 1932. Lichtheim blieb zwar offiziell bis April 1933 Mitglied des Landesvorstands, übte dieses Amt aber nicht aktiv aus. Von Herbst 1932 bis Frühjahr 1933 nahm er an den Sitzungen des Vorstands so gut wie nicht teil. Vgl. die Rundschreiben des deutschen Landesverbands an seine Mitglieder: JI; G2-5/21/1 und G2-5/21/2.
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schen Revisionisten dazu aufforderte, zur Personalie Lichtheim Stellung zu beziehen. Lichtheim erfuhr von der Existenz dieses Briefs erst im November von Grossmann, der in der Kampagne der Bloch-Gruppe keine allzu große Gefahr für Lichtheim sah.277 Die Mehrheit der deutschen Revisionisten teilte Lichtheims Wunsch nach Verbleib in der Zionistischen Organisation und die Aktion verlief letztlich im Sande.278 Der endgültige Bruch innerhalb des Weltverbands wie auch innerhalb des deutschen Landesverbands sollte sich schließlich 1933 vollziehen. Die Machtübertragung auf die Nationalsozialisten stellte die Revisionisten – wie auch alle anderen jüdischen Parteien und Organisationen in Deutschland – vor neue Herausforderungen. Allerdings war es letztlich weniger die neue politische Situation in Deutschland, die die Revisionisten ohnehin nur in ihrer Überzeugung bestärkte, der einzige Ausweg für Jüdinnen und Juden aus der Existenz in einer feindlich gesinnten Umgebung sei ein eigenes Gemeinwesen. Vielmehr vereinnahmten der alte interne Machtkampf und die Diskussion um die richtige Organisationsform die Revisionisten in der ersten Jahreshälfte. Bereits Anfang Januar 1933 hatte ein zionistisches Ehrengericht die Suspendierung des Sonderverbands der schekelzahlenden Revisionisten veranlasst, da die auf der fünften Weltkonferenz der Revisionisten in Wien gefassten Beschlüsse, die der Unions-Disziplin Vorrang einräumten, nicht mit den Prinzipien der Zionistischen Organisation vereinbar waren. Die Zionis tische Exekutive drohte dem Sonderverband mit der Auflösung, sollte er sich nicht uneingeschränkt zur Disziplin gegenüber dem Dachverband bekennen.279 Bei einer Zusammenkunft von Jabotinsky, vier Mitgliedern des Exekutivkomitees und rund 70 Repräsentanten verschiedener revisionistischer Landesverbände am 20. und 21. März im schlesischen Kattowitz sollte diese »prinzipielle Streitfrage, die in Prag geboren, in Calais formuliert und in Wien bereits interpretiert wurde«, nun abschließend gelöst werden.280 Der Versuch, endgültig zu einer Einigung zu gelangen, scheiterte jedoch abermals. Während Grossmann das Treffen als letzte Möglichkeit betrachtete, 277 CZA, A56/20, Rundschreiben Belilovskys, 21. Oktober 1932; ebd., Grossmann an Lichtheim, 24. November 1932; ebd., Grossmann an Lichtheim, 4. Dezember 1932; JI, P59-2/99/8, Grossmann an Lichtheim, 13. November 1932; ebd., Lichtheim an Grossmann, 15. November 1932. 278 Vgl. o. A., Deutsche Revisionisten gegen den Spruch des Ehrengerichts, in: JR, 13. Januar 1933, 15. 279 JI, G2-4/9/4, Erklärung der Exekutive der Zionistischen Organisation in der Frage des Sonderverbands der Zionisten-Revisionisten, 3. November 1932; o. A., Revisionistischer Sonderverband suspendiert, in: JR, 10. Januar 1933, 11. Eine Auflösung erfolgte jedoch nicht; der Beschluss wurde mit der Etablierung der Judenstaatspartei, die im Organisationsgefüge der ZO verblieb, hinfällig. 280 O. A., Spaltung der Revisionisten, in: JR, 28. März 1933, 122.
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Jabotinsky von der Autorität des Exekutivkomitees und dem Verbleib in der Zionistischen Organisation zu überzeugen, war Jabotinsky mit dem Ziel angereist, seinen separatistischen Kurs endgültig durchsetzen. Bei der Abstimmung über die Ausrichtung stellten sich allerdings lediglich 13 Delegierte hinter Jabotinsky und seine Austrittspläne, unter ihnen der Mitbegründer des Brit ha-Birionim Uri Zvi Grinberg, der Rechtsanwalt Avraham Weinshal (1893–1968), Wolfgang von Weisl und Aharon Propes, Gründer des Betar und Kommissar der Jugendbewegung in Polen (1929–1939).281 Die versammelten Revisionisten waren also mehrheitlich überzeugt, auf lange Sicht eine Kursänderung innerhalb der Zionistischen Organisation herbeiführen zu können. Sie stellten sich hinter die gemäßigte Fraktion um Grossmann und Lichtheim und sprachen sich gegen den Austritt aus.282 Der Ausgang der Konferenz in Kattowitz veranlasste Jabotinsky zu drastischen Schritten. Mit dem sogenannten Łódźer Manifest vom 22. März 1933 löste er das bisherige Exekutivkomitee der Union auf, erklärte deren Mitglieder für ausgeschlossen und sich selbst kurzerhand zum alleinigen Führer der Bewegung. Allerdings gab er dem Wunsch der Mehrheit seiner Anhänger nach Verbleib in der Zionistischen Organisation nach, vertagte die Klärung dieser Frage erneut und verkündete die Beteiligung der Revisionisten am 18. Zionistenkongress im August 1933 in Prag.283 Die Widersprüchlichkeit in Jabotinskys Entscheidung legt nahe, dass es ihm mit der Suspendierung des Exekutivkomitees der Union nicht so sehr darum ging, den Austritt aus der Zionistischen Organisation durchzusetzen. Vielmehr erhörte er mit diesem Schritt den Ruf der palästinensischen Revisionisten nach einem »starken Führer« und versuchte so, sich der vormals von ihm geschätzten Gruppe um Grossmann und Lichtheim zu entledigen, die in der Auseinandersetzung um die Organisationsform der Revisionisten deutlich an politischem Gewicht gewonnen und den Führungsanspruch Jabotinskys infrage gestellt hatte.284 Trotz der umstrittenen Entscheidung im Nachgang der Konferenz von Kattowitz hatte der charismatische Jabotinsky, dessen autoritärer Führungs281 Daniel Kupfert Heller, Jabotinsky’s Children, 123. 282 Laut Jüdischer Rundschau handelte es sich bei 90 Prozent der versammelten Revisionisten um Schekelzahler. Vgl. o. A., Spaltung der Revisionisten, in: JR, 28. März 1933, 122. 283 Jabotinsky erklärte in dem Manifest: »I, the President of the World Union of Zionist Revisionists, declare that as from today I am personally assuming the actual direction of the Union, and all matters of the World movement. The activities of the existing central institutions of the World movement are thereby being suspended. I shall publish an appeal to the widest possible circles of the Revisionist and Beitar movement to participate in the Eighteenth Zionist Congress.« Zit. nach Schechtman, The Vladimir Jabotinsky Story, Bd. 2: Fighter and Prophet, 170 f. 284 Abba Achimeir hatte Jabotinsky bereits 1928 dazu aufgefordert, seinen Anhängern mehr zu befehlen als sich mit ihnen zu beraten. Vgl. Shindler, The Rise of the Israeli Right, 85.
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stil vor allem bei den jüngeren Revisionisten Polens und Palästinas Anklang fand, keineswegs an Popularität eingebüßt. In einem Referendum ließ er mithilfe der Mitglieder des Betar seinen Alleingang im Nachhinein legitimieren – mit 90 Prozent stellte sich die überwiegende Mehrheit der Jugendorganisation hinter ihn.285 Die Gruppe um Grossmann und Lichtheim lehnte das Vorgehen J abotinskys freilich als undemokratisch ab. Sie erklärte die Auflösung des Exekutivkomitees für illegal, erkannte die Autorität des neuen, von Jabotinsky vorläufig in Warschau eingesetzten Sekretariats nicht an und reklamierte für sich, weiterhin als rechtmäßige Leitung schekelzahlender Revisionisten zu fungieren.286 Mit einem kleinen, Jabotinskys Hang zu despotischen Entscheidungen mit Sorge und Skepsis betrachtenden Personenkreis begründeten sie in der Folge die Fraktion der Demokratischen Revisionisten.287 Die Spaltung des revisionistischen Weltverbands nach der Konferenz in Kattowitz in eine Fraktion um Jabotinsky einerseits und das legal gewählte Exekutivkomitee bestehend aus Grossmann, Machover, Soskin und Stricker andererseits zwang auch sämtliche Landesverbände, sich zu positionieren und sich für eines der beiden Lager zu entscheiden. In Deutschland sprach sich der amtierende Landesvorstand unter Leitung von Hans Bloch am 27. März 1933 mit sieben zu zwei Stimmen für Jabotinsky aus.288 Lichtheim, der noch immer Mitglied des Landesvorstands war, »infolge Abwesenheit von Berlin« jedoch nicht an der Sitzung teilnehmen konnte, erklärte die Beschlüsse für illegal und teilte gegenüber der Jüdischen Rundschau mit, »daß der Landesvorstand der deutschen Revisionisten sich unter Ausschluß aller Elemente, die das Statut der Union gebrochen haben, demnächst neu konstituieren werde«. Die einzige Instanz, die die Revisionisten als Leitung anzuerkennen hätten, so Lichtheim, sei das demokratisch legitimierte, von Grossmann geführte Exekutivkomitee.289 Auch dieses wertete die Resolution des deutschen Landesvorstands als Bruch mit der revisionistischen Disziplin, löste den Vorstand auf und beauftragte Lichtheim mit der »Zusammenstellung und Leitung des 285 Vgl. Shapiro, The Road to Power, 23. 286 Vgl. o. A., Jabotinsky’s Action Illegal, Declares Grossman to JTA, in: JTA Bulletin, 27. März 1933, 3, (3. April 2023). 287 JI, G2-2/2/2, Exekutivkomitee der UZR an die Landesorganisationen und Mitglieder des Parteirates, 31. März 1933 und 6. April 1933. 288 In der Folge informierte der Landesvorstand das Exekutivkomitee in London darüber, dass er sich zukünftig nur noch an das von Jabotinsky eingesetzte Sekretariat wenden werde, und erklärte die Korrespondenz mit London für beendet. JI, G2-5/21/1, Landesvorstand der Zionisten-Revisionisten in Deutschland an das Exekutivkomitee der UZR (London), 29. März 1933. 289 O. A., Die Spaltung der Revisionisten, in: JR, 21. April 1933, 159.
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zeitweiligen Vorstandes des Landesverbands der Zionisten-Revisionisten in Deutschland«.290 Der neue Vorstand, bestehend aus Lichtheim als Vorsitzendem sowie dem Frankfurter Revisionisten Ernst Hamburger291 (1908–1984) und Justus Schloss,292 gründete im Mai einen neuen Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten und reklamierte für sich, allein berechtigt zu sein, die Interessen der deutschen Revisionisten zu vertreten.293 Tatsächlich stellte sich der Großteil der Ortsgruppen, Mitglieder und Vertrauensleute hinter Lichtheim und trat dem neuen Verband bei.294 Als Teil des Sonderverbands der Zionisten-Revisionisten bekundete er nachdrücklich die unbedingte Loyalität gegenüber der Zionistischen Organisation: »Die Durchsetzung des revisionistischen Ziels kann nur innerhalb der ZO erfolgen. Die ZO ist die Titelinhaberin des Mandats. Diesen Titel braucht man, um überhaupt Politik und damit Judenstaatspolitik zu machen; diesen Titel kann man nur erhalten, wenn man in der ZO die Macht erhält, und diese Macht wollen wir erobern.«295
Um dieses Ziel zu erreichen war der neue Verband sogar bereit, in die ZVfD zurückzukehren.296 Etwa zur gleichen Zeit erklärte Jabotinsky den alten, von Hans Bloch geführten Landesverband und dessen Jugendorganisation für aufgelöst.297 Der Weltverband hatte im Frühjahr 1933 seine Unterstützung für den interna290 JI, G2-5/21/1, Exekutivkomitee der UZR (London) an den Landesvorstand der ZionistenRevisionisten in Deutschland, 25. April 1933, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 257 f., hier 258. 291 Der Versicherungskaufmann Ernst Hamburger war Mitglied der revisionistischen Ortsgruppe Frankfurt a. M. und ab 1933 Vorstandsmitglied im neu gegründeten Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten. 292 Schloss war revisionistischer Funktionär und Schriftsteller sowie ein enger Mitarbeiter Lichtheims. 293 JI, G2-5/21/1, Ernst Hamburger an das Exekutivkomitee der UZR, 12. Mai 1933, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 258–260; JI, G2-5/21/2, Erstes Rundschreiben des Verbands Deutscher Zionisten-Revisionisten an seine Mitglieder, o. D. [Mai 1933], abgedruckt in: ebd., 260–264. Vgl. auch o. A., Die Spaltung im Revisionismus, in: JR, 19. Mai 1933, 207. 294 JI, G2-5/21/1, Hamburger an das Exekutivkomitee der UZR, 28. Mai 1933; JI, G2-5/21/2, Zweites Rundschreiben des Verbands Deutscher Zionisten-Revisionisten an seine Mitglieder, 13. Juli 1933, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 264–268. 295 JI, G2-5/21/2, Zweites Rundschreiben des Verbands Deutscher Zionisten-Revisionisten an seine Mitglieder, 13. Juli 1933, abgedruckt in: ebd., 264–268, hier 266. 296 JI, G2-5/21/1, Hamburger an die Exekutive der ZO, 28. Mai 1939, abgedruckt in: Nicosia (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1933–1941, 410. Vgl. auch JI, G2-5/21/1, Landesverband der Zionisten-Revisionisten (Berlin) an das Exekutivkomitee der UZR, 6. Juni 1933. 297 JI, G2-5/21/1, Erklärung Hans Blochs, 24. Mai 1933, abgedruckt in: Nicosia (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1933–1941, 409.
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tionalen antideutschen Wirtschaftsboykott erklärt und Jabotinsky fürchtete, dass dies die deutschen Revisionisten in ernsthafte Gefahr bringen könnte.298 Francis R. Nicosia wirft in seiner Monografie Zionismus und Antisemitismus im Dritten Reich die Frage auf, ob es sich hierbei tatsächlich um Jabotinskys Hauptmotiv und damit um eine Vorsichtsmaßnahme gehandelt habe oder ob es nicht vielmehr der Versuch gewesen sei, angesichts einer längst verlorenen Sache das Gesicht zu wahren.299 Immerhin war der Landesverband in Deutschland einer der wenigen, in denen die Gruppe um Grossmann und Lichtheim großen Rückhalt genoss. Die wenigen deutschen Jabotinsky-Anhänger, die sich dem Beitritt zum neuen, von Lichtheim geführten Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten verweigerten, versammelten sich im Verband der Staatszionisten unter der Leitung von Adolf Hirschfeldt, der sich im Mai 1933 konstituierte und sich später in Staatszionistische Organisation umbenannte.300 Die verworrene Lage innerhalb der revisionistischen Bewegung mit ihren nebeneinander bestehenden, um den Machtanspruch konkurrierenden Gruppierungen sollte sich schließlich auf dem 18. Kongress in Prag klären, auf dem sowohl Grossmanns Demokratische Revisionisten mit sieben Mandaten als auch in deutlicher Überzahl die Anhänger Jabotinskys mit 46 Mandaten vertreten waren. Nachdem im Sommer 1933 Verhandlungen zwischen der Grossmann-Gruppe und Jabotinsky, die zur Wiederherstellung der revisionistischen Einheit führen sollten, gescheitert waren, beschlossen die Demokratischen Revisionisten auf dem Kongress, ihre Verbindung mit der Union der Zionisten-Revisionisten offiziell zu lösen und sich als Judenstaatspartei neu zu konstituieren. Die neue Partei, die die Veteranen der revisionistischen Bewegung wie Yaakov Cahan (1881–1960), Selig Soskin, Robert Stricker, Jonah Machover, Herzl Rosenblum (1903–1991) und Baruch Weinstein (1908–1992) versammelte und der sich schließlich auch Lichtheim anschloss, bekundete ihre volle Loyalität gegenüber der Zionistischen Organisation.301 Für Lichtheim stand im Sommer 1933 jedoch weniger das Schicksal der Revisionisten als vielmehr sein persönliches im Vordergrund. Am Kongress in Prag hatte er schon nicht mehr teilgenommen. Nach der Machtübertra298 JI, G21–5/1, o. A., Germany. 299 Nicosia, Zionismus und Antisemitismus im Dritten Reich, 244. 300 Rundschreiben des Verbands der Staatszionisten, 16. Mai 1933, abgedruckt in: Nicosia (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus, 1933–1941, 407 f.; Verband der Staatszionisten, Ortsgruppe Leipzig an das Polizeipräsidium Leipzig, Politische Abteilung, 8. November 1933, abgedruckt in: ebd., 415. 301 Soskin, Stricker und Machover bildeten gemeinsam mit Grossmann die erste Exekutive der Partei. JI, G2-2/2/2, Exekutivkomitee der UZR an die Vertrauensmänner, 13. Juni 1933; JI, L6–1, Kongressbeschlüsse der Judenstaatspartei – Sonderverband der Zionisten-Revisionisten in der Zionistischen Weltorganisation, 29. August 1933; JI, L6–36, Judenstaatspartei, Zirkular Nr. 1/12, 1933; zum Parteiprogramm: Stricker, Was will die Judenstaatspartei?
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gung auf die Nationalsozialisten stand schnell fest, dass es für ihn und seine Familie keine Zukunft in Deutschland gab. Ende März, als er »infolge Abwesenheit von Berlin« nicht an der Sitzung des Landesvorstands der deutschen Revisionisten hatte teilnehmen können, war Lichtheim als Teil einer jüdischen Delegation, zu der auch Ludwig Tietz (1897–1933) als Repräsentant des CV und Martin Rosenblüth als Vertreter der ZVfD gehörten, auf Druck Hermann Görings (1893–1946) nach London gereist. Dort trafen sie mit den Mitarbeitern der deutschen Botschaft, dem Board of Deputies of British Jews und dem jüdischen Parlamentsmitglied Lord Reading (Rufus Isaacs, 1860–1935) zusammen, um scheinbar dem Befehl Görings nachzukommen und den alarmierten Reaktionen des Auslands auf die antisemitische Politik der Nationalsozialisten entgegenzutreten. Offiziell sprach sich die jüdische Delegation gegen die scharfe Kritik in der internationalen Berichterstattung, einen gegen das nationalsozialistische Deutschland gerichteten Wirtschaftsund Warenboykott sowie öffentliche antideutsche Demonstrationen aus.302 Tatsächlich nutzten sie ihren Aufenthalt in London allerdings, um ihre jüdischen Gesprächspartner über die reale Lage der jüdischen Bevölkerung in Deutschland zu unterrichten. An Lord Reading appellierten sie, seinen Einfluss geltend zu machen und die englische Regierung zu ernsten Interventionen bei der deutschen Regierung zu drängen.303 In Lichtheim war innerhalb der ersten Monate der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und besonders im Zuge der versuchten Instrumentalisierung seiner Person für Propagandazwecke erneut der Entschluss gereift, Deutschland zu verlassen. Bereits kurz nach seiner Rückkehr aus Großbritannien sandte er seinen Sohn George nach London, wo er ihm eine Anstellung als Abteilungsleiter in der Warenhauskette Marks and Spencer beschafft hatte. Im Laufe des Sommers bereitete er auch die Auswanderung für sich, seine Frau Irene und die Tochter Miriam vor. Nachdem es ihm gelungen war, die nötigen Papiere für die Einreise nach Palästina zu erhalten, verließen er und seine Familie im September 1933 mit einem Container voller Möbel und Bücher Berlin (Abb. 7).304 Sowohl sein politisches Engagement innerhalb der deutschen revisionistischen Bewegung als auch sein Leben in Berlin fanden damit ein unwiderrufliches Ende.305
302 Vgl. Confidential Message from the Zionist Federation of Germany, brought to London on March 26, 1933, abgedruckt in: AotH, Bd. 3: Central Zionist Archives, Jerusalem. 1933–1939, 115 f. 303 Vgl. auch Jünger, Jahre der Ungewissheit, 138–140; Teichert, Chasak!, 302–308; Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, 251–253. 304 Vgl. Miriam Lichtheim, Telling It Briefly, 23; o. A., Lichtheim geht nach Palästina, in: Die Neue Welt, 20. September 1933, 4. 305 JI-G2-5/21/1, Brief Hamburgers vom 6. September 1933.
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Abb. 7: George und Miriam Lichtheim in Jerusalem, 1938/39. © Central Zionist Archives.
Der Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten vereinte sich Anfang 1934 mit der Staatszionistischen Organisation306 unter dem Vorsitz des umstritte nen Georg Kareski, bis diese wie ein wesentlicher Teil der jüdischen Organi sationen Deutschlands im Jahr 1938 aufgelöst wurde.307 Abgeschnitten so306 Dem Präsidium der neuen Staatszionistischen Organisation gehörten neben Kareski auch Adolf Hirschfeldt, Justus Schloss und Ernst Hamburger an. Die beiden Letzteren siedelten Ende 1934 nach Palästina über. Vgl. Teichert, Chasak!, 148. 307 JI, G21–5/1, Aufruf der Staatszionistischen Organisation, 15. April 1934, abgedruckt in: Nicosia (Hg.), Dokumente zur Geschichte des deutschen Revisionismus, 1933–1941, 426 f. Zu den Vorwürfen gegen Kareski gehörten Zusammenarbeit mit den NS-Behörden, Agita tion gegen die ZVfD, undurchsichtige Geschäftspraktiken und Veruntreuung von Geldern. Laut Nicosia basierten die von ihm vorgebrachten Vorschläge zur Emigration der
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wohl von der ZVfD als auch von der Zionistischen Organisation und dem revisionistischen Weltverband, blieb Kareskis Staatszionistische Organisation allerdings noch kleiner, schwächer und weniger erfolgreich als ihr Vorgänger unter Lichtheim.308 Für den Revisionismus in Deutschland ist festzuhalten, dass Lichtheims Eintritt in und Engagement für die Bewegung nicht den von Jabotinsky erhofften Durchbruch brachte. Der deutsche Landesverband erreichte nicht annähernd die gleiche Popularität wie die revisionistischen Verbände Polens oder Palästinas, die zu den Machtzentren der Bewegung gehörten. Zwar gelang es Lichtheim – wie von Jabotinsky in seinem Werbebrief von 1926 gefordert –, deutschsprachige revisionistische Publikationen herauszugeben, einen deutschen Ableger der Jugendorganisation Betar309 zu etablieren und auch die Mitgliederzahlen des Landesverbands signifikant zu steigern. Ein massenhafter Zulauf stellte sich allerdings nicht ein und auch die finanziellen Ressourcen der deutschen Revisionisten blieben stets knapp. Dennoch war der deutsche Landesverband äußerst aktiv und es gelang ihm, die innerzionistischen Diskussionen um nationale Selbstbestimmung in Deutschland maßgeblich mitzugestalten. Allen voran machte sich Lichtheim zum überaus angriffslustigen Sprachrohr der Bewegung und trug zur Verbreitung revisionistischer Ideen in Deutschland bei. Vor allem im Zuge der arabischen Unruhen von 1929 gelang es der revisionistischen Werbung, der Forderung nach jüdischer Dominanz und Verteidigungskräften in Palästina auch unter den deutschen Zionisten zu mehr Akzeptanz zu verhelfen. Bis zu ihrem Ausscheiden waren es die Revisionisten, die die schwersten Krisen innerhalb der ZVfD auslösten und die Einheit der deutschen zionistischen Bewegung immer wieder herausforderten. Gleichzeitig scheint gerade die aggressive Form ihres politischen Kampfs – die in Methode und Rhetorik an die anderer deutschen Juden jedoch auf den zionistischen Prinzipien. Er verfolgte dieselben Ziele wie seine Kritiker, sie unterschieden sich jedoch mit Blick auf die Mittel. Kareski handelte auf Grundlage der falschen Prämisse, die zur Auswanderung der jüdischen Gemeinschaft aus Deutschland etablierte Arbeitsbeziehung zwischen dem Zionismus und dem Nationalsozialismus beruhe auf gegenseitigem Respekt gleichberechtigter nationaler Bewegungen. Zur Geschichte des Revisionismus in Deutschland nach 1933 vgl. Nicosia, Revisionist Zionism in Germany (II), 231–267; ders., Zionismus und Antisemitismus im Dritten Reich, 246–273. Zur Kontroverse um Kareski vgl. Levine, A Jewish Collaborator in Nazi Germany; Cochavi, Georg Kareski’s Nomination as Head of the Kulturbund. 308 Ende 1937 zählte die Staatszionistische Organisation rund 1 000 und ihre Jugendorganisation rund 500 Mitglieder. Vgl. Nicosia, Zionismus und Antisemitismus im Dritten Reich, 272. 309 1931 zählte die 1928 gegründete Jugendorganisation rund 400 Mitglieder und war damit im Vergleich zu anderen Landesverbänden eher klein. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Betar weltweit rund 300 000 Mitglieder, die meisten davon in osteuropäischen Ländern und Südafrika. Vgl. Revisionistische Blätter, März 1931.
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zeitgenössischer rechtsnationaler Bewegungen erinnerte – einer der Gründe gewesen zu sein, warum die Revisionisten keine größeren Erfolge in Deutschland erzielen konnten. Geprägt von den eigenen Erfahrungen, die sie als Juden innerhalb des deutschen politischen Kontexts in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gemacht hatten, war sich die Mehrheit der deutschen Zionisten der Gefahren bewusst, die ein chauvinistischer Nationalismus in sich barg, und lehnte den exklusiven Nationalismus und Militarismus der Revisionisten ab. Spätestens nach dem 17. Zionistenkongress im Sommer 1931 war die ohnehin schwache revisionistische Gruppe in Deutschland gefangen in internen Konflikten. Unfähig, ihr politisches Programm in konkrete Aktionen zu transformieren, blieb ihr Einfluss letztlich begrenzt.
»Leben Sie wohl« – Das Ende einer politischen Freundschaft Der 17. Zionistenkongress 1931 sollte sich nicht nur als wegweisend für die weitere Entwicklung der revisionistischen Bewegung herausstellen, er markierte auch einen Wendepunkt in Lichtheims Beziehung zu Jabotinsky und zur Bewegung insgesamt. Jabotinskys unnachgiebiges Drängen auf einen Austritt aus der Zionistischen Organisation hatte zunehmend zu Spannungen zwischen ihm und Lichtheim geführt. Der Bruch zwischen beiden resultierte jedoch nicht nur aus ihren gegensätzlichen Standpunkten hinsichtlich der bestmöglichen Organisationsform der Revisionisten, sondern auch aus Jabotinskys widersprüchlicher Haltung zur revisionistischen Fraktion in Palästina. Diese und namentlich ihr Vorsitzender Wolfgang von Weisl verfolgten immer öfter eine eigenständige Politik. Zudem vertraten die Maximalisten um Abba Achimeir, Uri Zvi Grinberg und Yehoshua Yevin ab den späten 1920er Jahren zunehmend faschistische Ideen und trugen so zu einer Radikalisierung der Gesamtbewegung bei.310 Lichtheim lehnte sowohl die nicht mit der Leitung koordinierten Alleingänge der palästinensischen Revisionisten als auch deren radikale Methoden ab, die nicht in Einklang zu bringen waren mit seiner eigenen Auffassung von legitimer zionistischer Politik. Ihm, der nicht selten scharf gegen seine politischen Gegner polemisierte und den das Verlangen nach einer aktiveren Politik Mitte der 1920er Jahre zu den Revisionisten gebrachte hatte, gingen der politische Maximalismus und revolutionäre Zionismus der Revisionisten in Palästina entschieden zu weit. Sehr zum Missfallen Jabotinskys hatten die deutschen Revisionisten auf Betreiben Lichtheims bereits im März 1931 »die politische Taktik der gegenwärtigen Leitung der Revisionisten in 310 Vgl. dazu auch Tamir, From a Fascist’s Notebook to the Principles of Rebirth.
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Palästina«311 verurteilt, um sich – wie Lichtheim später gegenüber Jabotinsky erklärte – dagegen zu wehren, »dass Weisls Haltung als die revisionistische Haltung betrachtet wird«.312 Zu einer klaren Positionierung hatte Lichtheim auch Jabotinsky aufgefordert, dessen Schweigen der revisionistischen Politik in Palästina offiziellen Charakter verleihe.313 Jabotinsky, dessen Verhältnis zu den palästinensischen Revisionisten nur bedingt aus ideologischer Nähe resultierte, distanzierte sich allerdings weder intern von ihren Methoden noch verurteilte er sie öffentlich. Im Gegenteil, in einem Schreiben an Lichtheim billigte er ihnen das Recht auf unabhängige Aktionen zu: »The Palestinian Merkaz [Zentrum] may be mad or not, but the fact is that a part of the E[xecutive] C[ommitte], I for one, prefer their activity to our London’s inactivity. […] Now the German association has publicly taken sides, against a policy which has my almost whole hearted support.«314
In Anspielung auf Jabotinskys Erklärung, mit der er zu Beginn der 1920er Jahre seine Gespräche mit Vertretern der Petljura-Regierung verteidigt hatte, nämlich, dass er sich im Interesse Palästinas und der Judenheiten weltweit auch mit dem Teufel verbünden würde, warnte Lichtheim Jabotinsky vor den Gefahren einer solchen Allianz. »Man kann sich mit dem Teufel verbinden, um einen kurzen Krieg zu führen, aber nicht, um einen Staat aufzubauen, wo dann der Teufel den gleichen Anspruch hat wie wir selbst«, schrieb er an Jabotinsky in Reaktion auf dessen Verteidigung des aktionistischen Kurses der Revisionisten in Palästina.315 Für Lichtheim machten Jabotinskys Unnachgiebigkeit in der Organisationsfrage sowie dessen Allianz mit den Radikalen in Palästina – den »Geisteskranken der Bewegung«,316 wie Lichtheim sie nannte – eine Fortsetzung der Zusammenarbeit nahezu unmöglich. Die unüberbrückbaren Differenzen führten zur zunehmenden Distanz zwischen beiden und mündeten schließlich im vollständigen und beiderseitigen Bruch. Bereits kurz nach dem 17. Kongress vom Sommer 1931 verabschiedete sich Lichtheim in gewohnt dramatischer Weise von seinem langjährigen Freund und Weggefährten: 311 JI, G2-5/21/1, Beschlüsse des Ersten Delegiertentags des Landesverbands der ZionistenRevisionisten in Deutschland, 15. März 1931, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 229–231, hier 230. 312 JI, A1-3/19, Lichtheim an Jabotinsky, 24. März 1931, abgedruckt in: ebd., 232–238, hier 236. 313 Ebd. 314 CZA, A56/20, Jabotinsky an Lichtheim, 20. März 1931. 315 Jabotinsky selbst hatte hier auf den italienischen Nationalisten Guiseppe Mazzini (1805–1872) angespielt, den er seit seiner Studienzeit in Italien verehrte. Vgl. Laqueur, A History of Zionism, 344. Das Zitat Lichtheims: JI, A1-3/19, Lichtheim an Jabotinsky, 24. März 1931, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 232–238, hier 237. 316 JI, P59-2/99/8, Lichtheim an Grossmann, 7. März 1932.
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»Dear Jabo, I am very sorry, aber dies ist das Ende unseres gemeinsamen politischen Kampfes der letzten 5 Jahre. Sie haben sich auf einen völlig falschen Weg verirrt, aber da Sie ihn für den richtigen halten, so müssen Sie ihn wohl bis zu Ende gehen. I can’t follow you. Leben Sie wohl.«317 Sichtlich erregt reagierte Jabotinsky umgehend: »Your letter is a heavy blow. I don’t even try to conceal from myself that this may prove the beginning of the end of my work and of me as a public man. But I cannot act otherwise than I am acting now. This congress was to me an ultimatum – change or sink – and I’ve got to go my way. I had only cherished the hope that friends like you and G[rossmann], whom I followed for years against my own political conscience, would now give me a couple of years’ credit and follow me and see whether my way is perhaps the right one. […] If I fail, I may go away and leave the Revisionist movement to you and G. […] Whatever may happen, I shall never forget our partnership and the joy and the pride I took in it.«318
Für Jabotinsky war die Tatsache, dass Lichtheim und Grossmann ebenso wie die Mehrheit der Revisionisten nicht gewillt waren, seinem Wunsch nach Austritt zu folgen, die »schlimmste Enttäuschung« seines Lebens, wie er an Lichtheim schrieb.319 Nach der Niederlage auf dem Kongress hatte er sogar für einige Wochen die Arbeit als Präsident der Union der Zionisten-Revisionisten niedergelegt.320 Lichtheim wurde, obgleich er auch in der Folge stets um Einheit bemüht blieb – was zum unbefriedigenden Kompromiss von Calais und der Etablierung des Sonderverbands schekelzahlender Revisionisten führte – in den folgenden Monaten an der Seite von Grossmann und Stricker zu einer zentralen Figur der innerrevisionistischen Opposition zu Jabotinsky. Einen weiteren Höhepunkt erreichte der Konflikt zwischen Jabotinsky und seinen Anhängern einerseits und der gemäßigten Fraktion um Lichtheim und Grossmann andererseits auf der letztlich ergebnislos verlaufenen fünften Weltkonferenz der Revisionisten in Wien im Sommer 1932. Endgültig besiegelt wurde der Bruch zwischen den ehemaligen Gefährten nach der Konferenz in Kattowitz im März 1933, die einen Ausgleich beider Fraktionen unmöglich machte. Mit dem Ausscheiden der gemäßigten Revisionisten um Grossmann, die die Gründungsgeneration darstellten und die Union von 1925 bis 1933 dominiert
317 JI, A1-3/19, Lichtheim an Jabotinsky, 14. August 1931, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 238 f. 318 CZA, A56/20, Jabotinsky an Lichtheim, 17. August 1931 (Hervorhebung im Original unterstrichen). 319 CZA, A56/20, Jabotinsky an Lichtheim, 25. August 1931. 320 JI, G2-1/5, Jabotinsky an Grossmann, 6. September 1931, wiedergegeben im Anhang zum Protokoll der Sitzung des Exekutivkomitees der UZR vom 9. September 1931.
In der Judenstaatspartei
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hatten, vollzog sich innerhalb des revisionistischen Weltverbands ein Führungswechsel, in dessen Folge sich im Laufe der 1930er Jahre die radikalen Tendenzen innerhalb der Bewegung durchsetzen konnten.321 Dieser Führungswechsel ermöglichte es Jabotinsky auch, sich 1935 endgültig mit seiner Forderung nach einem vollständigen Bruch mit der Zionistischen Organisation durchzusetzen und eine eigenständige, unabhängige revisionistische Neue Zionistische Organisation (NZO) zu gründen. Erst 1946, sechs Jahre nach dem Tod Jabotinskys, sollten die Revisionisten erheblich geschwächt wieder in die Zionistische Organisation zurückkehren. Viele Jahre später und mit dem Wissen um die Erfolglosigkeit der NZO, kommentierte Lichtheim spitz: »Die Proklamierung einer Konkurrenzorganisation war so aussichtslos, als wenn eine Anzahl unzufriedener Katholiken einen neuen Vatikan und einen neuen Papst proklamiert hätten. […] War das Jahrzehnt von 1920 bis 1930 die Zeit seines politischen Aufstiegs gewesen, so wurde das folgende Jahrzehnt die Zeit seines Niedergangs. Die Proklamierung der ›Neuen Zionistischen Organisation‹ bedeutete nicht die Neubelebung, sondern die Liquidierung des Revisionismus, und zugleich die Verwandlung Jabotinskys in eine tragische Gestalt.«322
In der Judenstaatspartei Der Bruch mit Jabotinsky bedeutete zunächst nicht den Bruch mit den ursprünglichen revisionistischen Ideen an sich, auch wenn sich Lichtheim mit seiner Abreise nach Palästina aus der revisionistischen Parteipolitik fast vollständig zurückziehen sollte. Zwar schloss er sich im Herbst 1933 Meir Grossmanns Judenstaatspartei an und ließ sich auch sogleich in deren Exekutive kooptieren323 – allerdings, wie er später selbst bemerkte, weniger, weil er von den Erfolgsaussichten der Partei überzeugt war, als aus Pflichtgefühl gegenüber Grossmann.324 Politischer Kämpfe zunehmend müde, zog er sich nach 1933 mehr und mehr ins Privatleben zurück und konzentrierte sich auf den Aufbau der 1934 von ihm gemeinsam mit Georg Halpern (1878–1962) gegründeten Versicherungsgesellschaft Migdal Insurance Company Limited, die heute eine der
321 Zouplna, Revisionist Zionism, 4. 322 CZA, A56/12, Lichtheim, Jabotinsky, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 280–294, hier 292 f. 323 Robert Stricker, Aus der Judenstaatspartei, in: Die Neue Welt, 10. November 1933, 5; o. A, Richard Lichtheim in der Leitung der Judenstaatspartei, in: ebd., 24. November 1933, 5. 324 JI, P59/-2/99/8, Lichtheim an Grossmann, 26. Februar 1935, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 268–271.
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größten und ältesten Versicherungsgesellschaften in Israel ist.325 Grossmann, der sich anfänglich freute, einen Funktionär der Judenstaatspartei in Palästina zu haben, zeigte sich schon bald unzufrieden mit Lichtheims geringem Engagement und Interesse für deren Belange. Immer wieder musste Grossmann ihn zur Mitarbeit auffordern. Ungeduldig bat er Lichtheim im November 1935: »Ich weiss, Sie sind ›müde‹, ›erkältet‹, ›sehr beschäftigt‹, trotzdem bitte ich Sie uns zu helfen.«326 Der Aufforderung kam Lichtheim allerdings nur selten nach. Ausführlich meldete er sich noch einmal zu Beginn des arabischen Aufstands in Palästina zu Wort, der im April 1936 in Jaffa seinen Ausgang nahm und bis 1939 andauerte. Im August 1936 bezog er in einem in der Jüdischen Rundschau erschienenen Artikel ausführlich Stellung und zeigte, dass seine politischen Grundsätze unverändert geblieben waren: Er betonte die unmittelbare Verantwortung der Briten »für die Kultivierung des Konflikts beider Bevölkerungsgruppen seit 1917« und sah es weiterhin als oberste Aufgabe der zionistischen Politik an, auf eine Korrektur dieser »verhängnisvollen antizionistischen Tendenzen« durch die britische Regierung zu drängen. Er forderte eine britische »Garantie ungestörter Arbeit in Palästina in den Grenzen des ökonomisch Möglichen«, »die Zusicherung aktiver Unterstützung gemäß dem Mandat« sowie – unter Verweis auf die noch vorhandenen Aufnahmekapazitäten Palästinas und Transjordaniens – die Anerkennung einer jüdischen Mehrheit als ein den Juden »zustehendes Recht«. Er schloss seinen Beitrag mit der Forderung, »die politischen Energien der ganzen Bewegung dahin [zu] konzentrieren […] den Angriff des arabischen Nationalismus abzuschlagen und mit unerschütterlicher Bestimmtheit die Grundforderungen des Nationalheims vor England und der gesamten Kulturwelt darzulegen und durchzusetzen«.327 Obgleich Lichtheim auch weiterhin an den maximalistischen Forderungen festhielt, die bis dahin weder in der zionistischen Bewegung mehrheitsfähig noch gegenüber den Briten durchsetzbar gewesen waren, zeigte er sich Ende der 1930er Jahre zunehmend pragmatisch, was deren Umsetzung anbelangte. Im Zuge der arabischen Unruhen hatte die Mandatsregierung eine Unter325 CZA, A56/15, Lichtheim an den Direktor der Allianz Versicherungs-AG, R. Beckhaus, 16. Juli 1934; The Palestine Gazette, 20. September 1934, 960 f. Die Palestine Post meldete am 9. Februar 1938, Lichtheim habe zum Februar 1938 die Leitung der Abteilung für Lebensversicherungen aufgegeben und sei in den Vorstand der Gesellschaft gewechselt. Vgl. The Palestine Post, 9. Februar 1938, 8. 326 JI, P59-2/99/8, Grossmann an Lichtheim, o. D. [1933]; ebd., Grossmann an Lichtheim, 7. Juni 1934, ebd., Grossmann an Lichtheim, 4. Februar 1935; ebd., Grossmann an Lichtheim, 13. November 1935. 327 Lichtheim, Die politische Aufgabe, in: JR, 4. August 1936, 9 f. (Hervorhebung im Original gesperrt).
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suchungskommission unter dem Vorsitz Sir William Peels (1867–1937) eingesetzt, die – bevor sie in ihrem Abschlussbericht im Juli 1937 die Teilung des Mandatsgebiets in einen jüdischen und einen arabischen Staat vorschlug – auch Modelle der Kantonisierung unter britischer Kontrolle diskutierte. In der ab Frühjahr 1937 hitzig geführten Diskussion um die von der Peel-Kommission erwogenen Vorschläge nahm Lichtheim nicht nur erneut innerhalb der Gesamtbewegung, sondern auch innerhalb seiner eigenen Partei eine Minderheitsposition ein. Im Gegensatz zu Grossmann, Machover und Stricker, die jede Verkleinerung des jüdischen Siedlungsgebiets entschieden ablehnten, sprach sich Lichtheim auf einer Sitzung des Aktionskomitees der Zionistischen Organisation Ende April 1937 in Jerusalem für die Errichtung eines jüdischen Staats in einem Teilgebiet Palästinas als günstigere Lösung aus. Zwar stellte er unmissverständlich klar, dass das unveränderte Programm der Judenstaatspartei ein jüdischer Staat beiderseits des Jordans mit Jerusalem als Hauptstadt sei, gleichzeitig erkannte er in einem selbstverwalteten Territorium, das nicht mehr den Einschränkungen der britischen Mandatspolitik unterlag, eine Möglichkeit, die angestrebte Ansiedlung jüdischer Immigrierender in großem Umfang und ohne Hindernisse umzusetzen: »Ich, der ich seit zehn Jahren zu der Partei derjenigen gehört habe, die das Kolonisationsregime gefordert haben, stehe auch heute noch zu dieser Forderung. Wir dürfen jedoch in der heutigen Situation nicht politisch blind sein. Wir müssen uns politisch orientieren«, erklärte er den in Jerusalem Versammelten.328 Grossmann und die restlichen Mitglieder der Judenstaatspartei widersetzten sich dieser Haltung.329 Auf ihrer ersten offiziellen Weltkonferenz im Juli 1937 in Paris legten sie die Ablehnung des Teilungsplans als Parteilinie fest. Lichtheim, der ohnehin nur noch wenig in die Geschicke der Partei involviert war, trat daraufhin gemeinsam mit Selig Soskin aus der Partei aus.330 Kurt Blumenfeld, erbitterter Gegenspieler Lichtheims in den 1920er Jahren, lobte in einem Brief an Robert Weltsch die Haltung Lichtheims als Abkehr vom Revisionismus und die Rückkehr zur politischen Tradition der deutschen zionistischen Bewegung.331 Allerdings handelte es sich bei Licht328 Die Rede Lichtheims: CZA, A56/14, Manuskript zur Rede Lichtheims im AC über die Teilung Palästinas, 21. April 1937, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 274–279. Vgl. auch JI, P59-2/99/8, Lichtheim an Grossmann, 20. April 1937, abgedruckt in: ebd., 271–273. Den deutschen Zionisten legte er seine Ansicht hier dar: Lichtheim, Kurz vor der Entscheidung, in: JR, 29. Juni 1937, 1 f. 329 Zur Haltung Grossmanns und der restlichen Mitglieder der Judenstaatspartei: JI, P592/99/8, Grossmann an Lichtheim, 15. April 1937; JI, L6–1, Grossmann, Grundprinzipien und Arbeitsprogramm zur Bekämpfung des Teilungsplanes, 12. April 1938. 330 O. A., Jewish State Party Rejects Partition, in: JTA Bulletin, 1. August 1937, 3, (3. April 2023). 331 Blumenfeld an Weltsch, 3. Mai 1937, abgedruckt in: Blumenfeld, Im Kampf um den Zionismus, 152.
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Revision der zionistischen Politik (1918–1939)
heims Plädoyer für die Annahme des Teilungsplans, das vor allem vom Primat der Souveränität geleitet war, vielmehr um einen Sieg realpolitischer über ideologische Prämissen. Es basierte auf der Annahme, die auch David BenGurion vertrat, nämlich dass eine Teilung lediglich ein erster Schritt auf dem Weg zu einem jüdischen Staat im gesamten Mandatsgebiet sei. Gegenüber Grossmann, den er von den Vorteilen des Plans zu überzeugen versuchte, begrüßte Lichtheim die im Peel-Plan vorgesehene Etablierung eines jüdischen Staats in Teilen Palästinas als die Erfüllung des »erste[n] Postulat[s] des Herzl’schen Zionismus«. Von ihr erhoffte er sich eine »moralische Stärkung des Judentums hier und im Ausland«, die »in der Zukunft zum Sprungbrett für eine weitere grosse Entwicklung« werden würde: »Wir werden Jerusalem und Transjordanien nie aufgeben, aber ein Judenstaat von zwei Millionen Einwohnern ist eine viel bessere Vorbereitung zur Herstellung des größeren Palästinas als die Fortdauer des jetzigen Zustands.«332 Lichtheim sollte wenige Jahre später dennoch dem Revisionismus den Rücken kehren. Überraschenderweise revidierte er ausgerechnet vor dem Hintergrund des Holocaust seine Maximalforderungen und nahm damit einmal mehr eine Haltung ein, die von der Mehrheit der zionistischen Bewegung nicht geteilt wurde. Diese einigte sich 1942 auf der Biltmore-Konferenz auf die Forderung nach Gründung eines »Jewish Commonwealth« unmittelbar nach Kriegsende und formulierte damit ein Ziel, für das die Revisionisten ab den frühen 1920er Jahren eingetreten waren. Diese erneute Wandlung Lichtheims ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
332 JI, P59-2/99/8, Lichtheim an Grossmann, 14. April 1937.
4. Gestrandet in Genf: Versuche jüdischer Diplomatie während des Holocaust (1939–1946)
Im Angesicht der Katastrophe Am 9. September 1942 reflektierte Lichtheim in einem Brief an Nahum Goldmann, den Vorsitzenden des Exekutivkomitees des World Jewish Congress in Amerika, über die politischen Konsequenzen der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Europa für die jüdische Nationalbewegung. Nachdem er die aktuelle Position der europäischen Judenheiten und den Zustand des Zionismus analysiert hatte, resümierte er: »[L]et us stop talking of Palestine as the ›solution of the Jewish problem.‹ It might have been the solution for the Jews of Europe, but now it is too late.«1 Der Forderung nach einem unabhängigen jüdischen Staat in Palästina erklärte Lichtheim eine klare Absage: »How can we ask for that state if we cannot show that several million Jews need it or, what is more, want it? […] There is no need for a Jewish commonwealth without Jews. The 500 000 or 800 000 of Palestine will, under the protection of the great powers, find some form of local self-government and cultural independence. But we cannot call that a commonwealth.«2
Anlass für die dramatischen Zeilen Lichtheims war das vier Monate zuvor auf einer außerordentlichen zionistischen Konferenz in New York beschlossene neue Programm der Bewegung. Vom 9. bis 11. Mai hatten sich dort im Speisesaal des amerikanischen Luxushotels Biltmore mehr als 600 Delegierte und die führenden Vertreter der Zionistischen Organisation – neben Goldmann auch ihr Präsident Chaim Weizmann und der Vorsitzende der Exekutive der Jewish Agency David Ben-Gurion – versammelt und über die zukünftige Ausrichtung der zionistischen Politik diskutiert. Details über den Umfang und das Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen waren kaum bekannt, und Ben-Gurion ging davon aus, dass es unmittelbar nach dem Krieg zu einer unbegrenzten, millionenfachen jüdischen Einwanderung
1 CZA, A56/27, Lichtheim an Nahum Goldmann (WJC, New York), 9. September 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 529–538, hier 537. 2 Ebd., 537 f.
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Versuche jüdischer Diplomatie während des Holocaust (1939–1946)
nach Palästina kommen werde, auf deren Grundlage er den Aufbau eines freien, selbstverwalteten jüdischen Staats forderte.3 Goldmann hatte dagegen auf der Konferenz gemahnt, die Anzahl derjenigen Jüdinnen und Juden, die nach dem Krieg aus Europa auswandern werden, nicht zu überschätzen. Angesichts der ungewissen Lage der jüdischen Bevölkerung in Europa hielt er die Forderung nach einem jüdischen Staat für verfrüht.4 Die Mehrheit der Delegierten stellte sich schließlich hinter die Position Ben-Gurions und einigte sich auf eine acht Punkte umfassende Resolution, die als Kriegsziele der zionistischen Bewegung unter anderem die Öffnung des britischen Mandatsgebiets für eine uneingeschränkte jüdische Einwanderung, die Auf stellung bewaffneter jüdischer Streitkräfte sowie die Errichtung eines selbstverwalteten jüdischen Staats in Palästina als Teil einer neuen, demokratischen Nachkriegsordnung forderte.5 Das in New York formulierte, unter dem Namen des Tagungsorts bekannt gewordene Biltmore-Programm bedeutete eine fundamentale Abkehr von der bis dahin offiziell von den Zionisten verfolgten Politik. Bisher hatte die Zionistische Organisation unter der Leitung Chaim Weizmanns die Strategie einer graduellen und ausgewählten Einwanderung bevorzugt und die explizite Forderung nach einem souveränen Staat bewusst vermieden. Unter dem maßgeblichen Einfluss David Ben-Gurions, des Vorsitzenden der größten und wichtigsten Partei des Jischuw, der zionistisch-sozialistischen Mapai, wurden hier erstmals die bisher von der revisionistischen Opposition um Jabotinsky vorgebrachten Forderungen nach jüdischer Staatlichkeit, Armee und Masseneinwanderung in das Programm der Bewegung aufgenommen. Mit der vage formulierten Agenda, eine nicht näher definierte jüdische Heimstätte in Palästina zu schaffen, wie sie der erste Zionistenkongress in Basel 1897 als Ziel der Bewegung ausgegeben hatte, war es damit vorbei.6 Die Wandlung vom evolutionären zum revolutionären Zionismus war damit endgültig vollzogen.7 Ähnlich wie Goldmann hielt es auch Lichtheim nicht für den richtigen Zeitpunkt, einen jüdischen Staat in Palästina zu fordern. Für ihn kam der Kurswechsel der zionistischen Politik allerdings nicht zu früh, sondern im 3 Die Rede David Ben-Gurions, gehalten am 11. Mai 1942 auf der Biltmore-Konferenz in New York, ist online einsehbar: Ken Stein, The Biltmore Program. Zu Ben-Gurions Nachkriegskonzeption vgl. auch Tom Segev, David Ben Gurion, 316–319 und 330 f. 4 Zionist Archives and Library New York, Extraordinary Zionist Conference, 9.–10. Mai 1942, New York 1942, Stenographic Protocol, Goldman’s Speech, May 10 1942, 231–257. 5 The Biltmore Programm. Towards a Jewish State (May 11, 1942), abgedruckt in: Laqueur / Rubin (Hgg.), The Israeli-Arab Reader, 55–57. 6 Vgl. dazu auch Diner, Ein anderer Krieg, 11–34. Zu den Hintergründen des Biltmore-Programms vgl. Gal, David Ben-Gurion and the American Alignment for a Jewish State. 7 Vgl. dazu Shapira, Land and Power, 281.
Im Angesicht der Katastrophe
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Gegenteil viel zu spät. Seit Beginn des Kriegs hatte Lichtheim im Auftrag der Jewish Agency und der Zionistischen Organisation im schweizerischen Genf die antisemitische Politik der Nationalsozialisten und deren Verbündeter verfolgt und versucht, in Zusammenarbeit mit einer Reihe weiterer Akteure Hilfe für die verfolgten Judenheiten Europas zu organisieren. Eine millionenfache jüdische Einwanderung nach Palästina, wie sie Ben-Gurion vorschwebte, hielt Lichtheim im Jahr 1942 für nicht mehr möglich und die Forderung nach einem unabhängigen jüdischen Staat damit für hinfällig. Es überrascht, dass ein überzeugter Zionist wie Lichtheim, der jahrzehnte lang für die zentralen Institutionen der Bewegung tätig gewesen war, die Forderung nach einem souveränen jüdischen Staat gerade in dem Moment ablehnte, als sie von der Mehrheit der Zionisten zur offiziellen Politik erklärt worden war. Dies gilt mehr noch in Anbetracht seiner parteipolitischen Vergangenheit: In Opposition zu Weizmann, der die jüdische Kolonisation in Palästina als einen längerfristigen und graduellen Prozess begriff und ein langsames demografisches Anwachsen des Jischuw als Ergebnis einer elektiven Einwanderung anvisierte, hatte sich Lichtheim Mitte der 1920er Jahre Jabotinskys Zionisten-Revisionisten angeschlossen und bis in die späten 1930er Jahre hinein eine möglichst schnelle, durch die britische Mandatsmacht gestützte jüdische Masseneinwanderung als Grundlage für einen jüdischen Staat beiderseits des Jordans gefordert. Lichtheims Kehrtwende ließ ihn 1942 zum Gegner einer Forderung werden, für die er fast zwei Jahrzehnte seiner politischen Karriere gekämpft hatte. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden analysiert, wie die Konfrontation mit der Vernichtung des europäischen Judentums seine Konzeption des Zionismus herausforderte und seine politische Perspektive auf Palästina beeinflusste. Gleichermaßen wird untersucht, welche Rolle das von Lichtheim zwischen 1939 und 1946 geleitete Verbindungsbüro der Jewish Agency im Zusammenspiel mit den verschiedenen in der Schweiz agierenden jüdischen Organisationen und Personen einnahm, die allesamt versuchten, auf den Vernichtungskrieg der Nationalsozialisten zu reagieren. Dabei soll die moralisch aufgeladene Frage nach womöglich versäumten Handlungsmöglichkeiten, wie sie von einer jüngeren Generation von Historikerinnen und Historikern ab den 1960er Jahren im Besonderen an die Alliierten,8 das
8 Michael J. Cohen, Churchill and the Jews; Richard I. Cohen, The Burden of Conscience; Groth, Accomplices; Medoff, FDR and the Holocaust; Morse, While Six Million Died; Penkower, The Jews Were Expendable; Perl, The Holocaust Conspiracy; Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, 1939–1945; Wyman, The Abandonment of the Jews. Für ausgewogenere Darstellungen zum Thema vgl. Breitman / Lichtman, FDR and the Jews; Feingold, Bearing Witness; Rubinstein, The Myth of Rescue.
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amerikanische Judentum9 oder auch an den Jischuw in Palästina10 gestellt wurde, nicht erneut verhandelt werden. Auch die Frage, ab wann den Alliier ten erste Informationen über die systematische Verfolgung der jüdischen Bevölkerungen vorlagen, steht hier nicht im Zentrum, wurde sie doch unter Einbeziehung der Berichte Lichtheims bereits ausführlich von verschiedenen Autorinnen und Autoren diskutiert.11 Vielmehr soll nachvollzogen werden, wie sich das Wissen um die Vernichtung des europäischen Judentums außerhalb von Geheimdienstkreisen unter den außenstehenden Beobachtern in Genf verbreitet hat.12 Mit dem Ziel, zu einem realistischeren Bild realer Handlungsoptionen jüdischer Akteure angesichts der komplexen Realität des Holocaust zu gelangen, soll danach gefragt werden, wie Lichtheim die Entwicklungen in den verschiedenen Ländern Europas beobachtet und verstanden hat, welche Möglichkeiten des Eingreifens er erkannte und mit welchen Problemen er sich angesichts der sein Handeln determinierenden Rahmenbedingungen konfrontiert sah. Die mehr als 1 500 Briefe Lichtheims an Leo Lauterbach (1886–1968), Sekretär des Organisationsbüros der Jewish Agency in Jerusalem, stellen ein einzigartiges Quellenkorpus dar, das einer »ununterbrochenen Kette von Warnungen vor der bedrohlich näherrücken den Katastrophe«13 gleicht und die graduelle, ungleichmäßige Entwicklung der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik hin zur Massenvernichtung aus jüdischer Perspektive reflektiert. Im Gegensatz zu den meisten von der Historiografie herangezogenen jüdischen Quellen – in der Regel Nachkriegsberichte von Überlebenden oder während des Kriegs entstandene Tagebücher und Briefe mit oftmals lokal und zeitlich begrenzter Perspektive – deckt die Korrespondenz Lichtheims die gesamte Kriegszeit ab und nimmt gewisser maßen aus der Vogelperspektive die gesamteuropäischen Vorgänge in den Blick. Anhand dieser zeitnah zum Geschehen produzierten Egodokumente lässt sich nachvollziehen, wie sich Lichtheims Kenntnis über die Vorgänge in Europa schrittweise, aber stetig vergrößerte. Sie geben Auskunft über den
9 Lookstein, Were We Our Brothers’ Keepers?; Weliczker Wells, Und sie machten Politik. Für ausgewogenere Darstellungen zum Thema vgl. Bauer, American Jewry and the Holocaust; ders., Jewish Reactions to the Holocaust. 10 Für eine äußerst umstrittene Studie zur Politik der zionistischen Führung in Palästina während des Kriegs vgl. Beit-Zvi, Post-Ugandan Zionism on Trial. Ausgewogenere Darstellungen zum Thema bieten Friling, Arrows in the Dark; Porat, The Blue and the Yellow Stars of David. 11 Literatur zum Thema, die auch die Berichte Lichtheims berücksichtigt: Bauer, When Did They Know?; Raya Cohen, Confronting the Reality of the Holocaust; Gilbert, Auschwitz and the Allies; Laqueur, The First News of the Holocaust; ders., Was niemand wissen wollte; Breitman / Laqueur, Der Mann, der das Schweigen brach; Breitman, Official Secrets. 12 Vgl. hierzu auch Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust. 13 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 688.
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Prozess des Zusammentragens der sich anhäufenden Fakten bis hin zum Verständnis ihrer vollen Dimension sowie letztlich der Nutzbarmachung dieser Informationen. Lichtheim war damit gleichermaßen Zeuge, ja jüdischer Chronist der Ereignisse wie auch aktiver Akteur.
Wie Noah auf dem Berg Ararat: Die Anfänge des Büros der Jewish Agency in Genf Zeitweise vollständig von den Armeen der Achsenmächte umringt, von einem Angriff jedoch verschont geblieben, war die Position der offiziell neutralen Schweiz in Europa während des Kriegs eine besondere. Zwar wurde sie aufgrund ihrer antisemitisch gefärbten Geflüchteten- und Wirtschaftspolitik, die die Aufnahme einer größeren Anzahl jüdischer Schutzsuchender verhinderte, nur für einen kleinen Teil von ihnen zum rettenden Zufluchtsort.14 Gerade weil das Alpenland nicht unmittelbar am Kriegsgeschehen beteiligt war, entwickelte es sich jedoch im Laufe des Kriegs zu einer Drehscheibe für Informationen über die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik und ermöglichte ihre Übermittlung an die westlichen Alliierten. Mehr noch eröffnete die Schweiz inmitten des von den Nationalsozialisten dominierten Europa Alliierten und internationalen Körperschaften wie auch jüdischen Akteuren einen gewissen Handlungsspielraum. Als wichtiger Beobachtungspunkt wurde sie zum Ausgangsort zahlreicher politischer Initiativen zur Rettung der verfolgten Judenheiten Europas. Vor allem in Genf, das sich als Sitz des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) und des Völkerbunds ab Ende des Ersten Weltkriegs zu einem wichtigen Zentrum der internationalen Diplomatie entwickelte hatte, entfaltete sich eine rege Tätigkeit jüdischer und insbesondere zionistischer Akteure. Die Jewish Agency war in den 1930er Jahren gleich mit zwei Büros
14 Mit der vollständigen Grenzschließung im Sommer 1942 gab die Schweizer Regierung sogar wissentlich Tausende Geflüchtete der Verfolgung durch die Nationalsozialisten preis. Bereits seit dem »Anschluss« Österreichs 1938 waren die Schweizer Grenzen offiziell für Jüdinnen und Juden verschlossen. Die Schweiz verlangte von den deutschen Behörden, die Pässe deutscher und österreichischer Jüdinnen und Juden zu kennzeichnen; ab Herbst 1939 wurden diese mit einem gestempelten roten »J« versehen. Erst im Juli 1944 gestattete die Schweiz auch jüdischen Geflüchteten die Einreise, allerdings unter der Prämisse, dass sie schnellstmöglich weiterreisten. Insgesamt nahm die Schweiz in den Jahren des Zweiten Weltkriegs rund 295 000 Schutzsuchende auf; bei rund 29 000 davon handelte es sich um als jüdisch Verfolgte. Vgl. dazu Rings, Schweiz im Krieg 1933–1945, 315. Zur Geflüchtetenpolitik der Schweiz vgl. auch Picard, Die Schweiz und die Juden 1933–1945; Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Hg.), Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus; Kreis, Switzerland and the Second World War.
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dort vertreten: dem von Chaim Posner (Pazner, 1899–1981) und Samuel Scheps (1904–1999) geleiteten Palästina-Amt,15 das für die Beschaffung der für die Ausreise benötigten Papiere und Gelder zuständig war, sowie der von Menachem Kahany (1898–1983) geführten Vertretung der Jewish Agency beim Völkerbund. Seit 1936 unterhielt auch der World Jewish Congress, der die Interessen aller außerhalb Palästinas lebenden Jüdinnen und Juden repräsentierte, ein Büro in Genf, dem zunächst Nahum Goldmann und ab 1940 Gerhart M. Riegner (1911–2001) vorstand.16 An die Vertretung des WJC war die 1939 gegründete Hilfsorganisation RELICO angegliedert, die von Riegner und dem polnischen Zionisten Abraham Silberschein (1882–1951) geleitet und hauptsächlich vom WJC finanziert wurde.17 Ebenso waren der von Nathan Schwalb18 geführte Dachverband der zionistischen Jugendbewegungen He-Ḥ aluẓ sowie deren Mitgliedsorganisation Ha-Shomer ha-Ẓa’ir, die die Einwanderung nach Palästina und deren Vorbereitung organisierte, in Genf ansässig.19 Die amerikanisch-jüdische Hilfsorganisation American Jewish
15 Zwischen Herbst 1939 und Sommer 1940 war auch Chaim Barlas (1898–1982) dort tätig und half 2 815 deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Jüdinnen und Juden, die bei Kriegsausbruch bereits im Besitz von Palästina-Zertifikaten waren und nun den Briten als »feindliche Ausländer« galten, nach Palästina auszureisen. Infolge der immanenten Kriegsgefahr im Sommer 1940 entschied sich Barlas für die Abreise aus der Schweiz. Ab August 1940 war er als offizieller Vertreter der Jewish Agency in Istanbul tätig. 16 Zu den Aktivitäten des World Jewish Congress während des Kriegs vgl. Zohar Segev, The World Jewish Congress during the Holocaust. 17 Das Relief Committee for the War-Stricken Jewish Population (RELICO) wurde 1939 von Abraham Silberschein, einer führenden Persönlichkeit der zionistischen Arbeiterbewegung in Polen und Mitglied im ersten Sejm (1922–1927), gegründet und hauptsächlich vom WJC, teilweise auch von Lichtheims Büro finanziert. Nachdem im April 1941 die Leitung des WJC entschied, sämtliche Hilfslieferungen in die vom Deutschen Reich besetzten Gebiete auszusetzen, um den amerikanischen Wirtschaftsboykott gegenüber dem Deutschen Reich nicht zu umgehen, kam es zum Konflikt zwischen Riegner und Silberschein. Riegner protestierte zwar gegen die Entscheidung seiner Vorgesetzten in Amerika, fügte sich aber letztlich. Silberschein hingegen setzte die zuvor initiierte Versendung von Lebensmittelpaketen fort. Dies führte zum Ausscheiden Silberscheins aus dem Büro des WJC, der daraufhin ab Sommer 1942 allein agierte. In der Folge nutzten sowohl Riegner als auch Silberschein den Namen RELICO. Vgl. Raya Cohen, The Lost Honour of Bystanders?, 161–163. 18 Nathan Schwalb war ein aus Galizien stammender Zionist, der 1929 nach Palästina ausgewandert war und ab 1938 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs als Mitarbeiter der He-Ḥ aluẓ-Büros in Prag und Wien fungierte. 1939 übernahm er, nach seiner Teilnahme am Zionistenkongress in Genf, die Leitung der neuen He-Ḥaluẓ-Weltzentrale dort. In seiner Eigenschaft als Verantwortlicher für die Vorbereitung und Organisation der Kinder- und Jugendalija wirkte Schwalb gleichzeitig als Emissär der Histadrut sowie des Einwanderungsdepartments der Jewish Agency. Zum He-Ḥ aluẓ in Genf während des Zweiten Weltkriegs vgl. Eshkoli (Wagman), The Founding and Activity of the Hehalutz-Histadrut Rescue Center in Geneva, 1939–1942; Zahn, »Glaub mir Nathan, wir sind nicht feige«. 19 Zur Tätigkeit der zionistischen Jugendorganisationen vgl. Bornstein, Insel Schweiz.
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Joint Distribution Committee wurde in Genf zunächst von Morris Troper (1892–1962), ab 1940 schließlich von dem Schweizer Textilunternehmer und Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) Saly Mayer20 (1882–1950) vertreten.21 Ab 1943 operierten auch die Organisation reconstruction travail (ORT)22 und die Œuvre de secours aux enfants (OSE)23 verstärkt in Genf. Daneben entstanden andernorts in der Schweiz vor und während des Kriegs zahlreiche private Hilfsinitiativen wie zum Beispiel das 1933 in Genf gegründete Comité international pour le placement des réfugiés intellectuels,24 eine Hilfsorganisation für aus Deutschland geflüchtete Intellektuelle, die im Oktober 1939 gegründete Hilfsaktion für notleidende Juden in Polen
20 Saly Mayer war von 1936 bis März 1943 Präsident des SIG und ab 1940 Vertreter des Joint in der Schweiz. Zu seinen Rettungsbemühungen vgl. Zweig-Strauss, Saly Mayer (1882–1950); Bauer, »Onkel Saly«. 21 Für den Joint in der Schweiz vgl. Picard, Die Schweiz und die Juden 1933–1945, 271–273. 22 Die ORT ist ein 1880 in St. Petersburg gegründetes jüdisches Hilfswerk, das die gewerbliche und technische Berufsausbildung an entsprechenden Schulen v. a. für jüdische Jugendliche aus verarmten Familien organisierte. Während des Zweiten Weltkriegs kümmerte sich die ORT in Frankreich und in der Schweiz um die Berufsausbildung von jüdischen Geflüchteten. 1943 verlegte die Organisation ihren Hauptsitz von Südfrankreich nach Genf. Zu den Aktivitäten der ORT während des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz vgl. ebd., 275–277 und 340–343. 23 Die OSE ist eine Schwesterorganisation der ORT. Sie wurde 1913 in St. Petersburg zum Schutz kranker jüdischer Kinder gegründet und leistet bis heute soziale und medizinische Hilfe. Nachdem die Organisation 1921 in Russland verboten wurde, verlegte sie ihren Hauptsitz zunächst nach Berlin, 1933 schließlich nach Paris. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie zur wichtigsten Organisation für die Rettung jüdischer Kinder in Frankreich. Nach der deutschen Besetzung Nordfrankreichs 1940 setzte ein Kreis um Eugène Minkowski (1885–1972) mit Wissen der Gestapo die Arbeit fort und unterstützte die jüdische Bevölkerung in Paris. Die OSE entzog zahlreiche Kinder dem Zugriff der Nationalsozialisten, indem sie sie in nichtjüdischen Familien unterbrachte. Im Vichy-Frankreich gelang es der OSE, zahlreiche medizinisch-soziale Zentren sowie Kinderheime, Kindergärten und Sanatorien zu unterhalten und so den Schutz von mehreren Hundert jüdischen Kindern oder mittellosen geflüchteten Familien zu gewährleisten. Zwischen April 1943 und 1944 organisierte ein geheimes Netzwerk um Georges Garel (1909–1979) den Schmuggel von rund 1 000 jüdischen Kindern in die Schweiz. Im Zuge dessen gewann auch die OSE-Vertretung in Genf als operatives Zentrum an Bedeutung. Zur Schweizer OSE vgl. ebd., 277 f. Zum Schmuggel der jüdischen Kinder in die Schweiz vgl. Garel, Le sauvetage des enfants juifs par l’OSE. 24 Das Hilfskomitee besorgte die finanzielle Unterstützung der ausgewanderten Intellektuellen und suchte akademische Stellen zu vermitteln. William Rappard (1883–1958), Direktor des Institut universitaire des hautes études internationales, war von 1933 bis 1942 Vizepräsident und von 1942 bis 1948 Präsident des Komitees. Fanny Hirsch (1901–1980), die spätere Frau Abraham Silberscheins, leitete das Komitee. Für weiterführende Informationen vgl. Feichtinger, Wissenschaft zwischen den Kulturen, 68–71; Bentwich, The Rescue and Achieve ment of Refugee Scholars, 16 f.
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(HAFJP)25 in Zürich, die Hilfsgüter in das besetzte Polen sandte, sowie das ebenfalls seit Herbst 1939 bestehende Comité polonais de secours aux v ictimes de la guerre in Bern.26 Aus dem Umfeld der charedischen Partei Agudat Jisra’el, die in Zürich unter der Führung des aus Galizien stammenden Rabbi ners Chaim Yisroel Eiss (1876–1943) agierte, entstand der von der orthodoxen, in Montreux ansässigen Rabbinerfamilie Sternbuch geleitete Hilfsverein für jüdische Flüchtlinge im Ausland (HIJEFS). Wie Eiss bemühte sich der Hilfsverein vor allem um die Rettung streng religiöser Personen und Institutionen in Osteuropa und um die finanzielle Unterstützung von jüdischen Geflüchteten.27 Im Sommer 1939 reiste Lichtheim gemeinsam mit seiner Frau Irene zunächst nur nach Genf, um am 21. Kongress der Zionistischen Organisation teilzunehmen, der dort vom 16. bis 28. August stattfinden sollte (Abb. 8). Der ursprünglich für zwei Wochen angesetzte Kongress stand bereits ganz im Zeichen des drohenden Kriegs. Um zu gewährleisten, dass alle Delegierten rechtzeitig in ihre Heimatländer zurückkehren konnten, wurde die Zusammenkunft bereits drei Tage früher als geplant beendet. Doch bevor die Zionisten am 25. August 1939 vorfristig auseinandergingen, ersuchten David Ben-Gurion und Yitzhak Grünbaum28 (1879–1970) Lichtheim, als offizieller Vertreter der Zionistischen Exekutive vorerst weiterhin in Europa zu verbleiben.29 Sein Plädoyer im Sinne Ben-Gurions für den Teilungsplan im Jahr 1937 und der kurz darauf erfolgte Austritt aus der Judenstaatspartei hatten ihm erneut das Vertrauen der zionistischen Leitung eingebracht. Bereits im Frühjahr 1938 war er wieder in den Dienst der zionistischen Diplomatie getreten: Zunächst hatte ihn die Jewish Agency in die Türkei entsandt, wo er wirtschaftliche und politische Beziehungen knüpfen sollte. Im Anschluss daran begab er sich für den Keren Hayesod auf eine mehrmonatige Reise durch verschiedene europäische Länder. Trotz der drohenden Kriegsgefahr nahm er im August 1939 auch diesen neuen Auftrag der Exekutive bereitwillig an.30 25 Archiv für Zeitgeschichte Zürich, IB SIG Archiv 2800, Gründungsprotokoll der HAFJP vom 29. Oktober 1939. 26 Vgl. Haas, »Wenn man gewusst hätte, was sich drüben im Reich abspielte …«, 211. 27 Zu den Aktivitäten der Sternbuchs vgl. Kranzler / Friedensohn, Heroine of Rescue. 28 Yitzhak Grünbaum leitete zwischen 1935 und 1948 die Arbeitsabteilung der Exekutive der Jewish Agency und stand von 1943 bis 1947 dem Committee for Rescue and Relief vor. Nach der Staatsgründung Israels wurde er zum ersten Innenminister ernannt. 29 CZA, L22/65, Lichtheim an Kurt Blumenfeld (Keren Hayesod, New York), 4. Dezember 1939. 30 Im Frühjahr 1938 hielt sich Lichtheim mehrere Wochen in der Türkei auf, um die Möglichkeiten wirtschaftlicher Beziehungen zwischen dem Jischuw und der Türkei zu sondieren. Aus dieser Zeit sind mehrere Briefhefte und ein ausführlicher Bericht Lichtheims erhalten. Vgl. CZA, A56/21. Im Anschluss bereiste Lichtheim im Auftrag des Keren Hayesod zum Teil mehrere Wochen die Länder Rumänien, Holland, England, Belgien, Frankreich und
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Mit Lichtheim, der bereits während seiner Mission in Konstantinopel unter Beweis gestellt hatte, dass er den Anforderungen zionistischer Arbeit unter Kriegsbedingungen gewachsen war, hatte die Exekutive nicht nur einen äußerst fähigen, sondern auch einen der zionistischen Bewegung und deren Institutionen tief verbundenen Kandidaten für diesen Posten gefunden.31 Zwar galt er der zionistischen Führung stellenweise als zu eigenwillig, gleichwohl schätzte man ihn für seinen analytischen Verstand und sein organisatorisches Talent. Erfahren auf diplomatischem Parkett und wohlinformiert sowohl über die Entwicklungen in Palästina als auch über die Vorgänge in Europa, eignete sich Lichtheim ganz besonders für die Leitung dieses Vorpostens in Genf. Die Historiker Richard Breitman und Walter Laqueur hielten ihn gar für einen der »begabtesten und erfahrensten zionistischen Diplomaten seiner Generation«.32 Die neue Genfer Vertretung hatte zunächst improvisatorischen Charakter und war anfangs noch mit der verwaltungstechnischen Abwicklung des Kongressbüros beschäftigt. In den ersten Wochen des Kriegs entwickelte sie sich jedoch laut Lichtheim schnell zu »einer Art europäischem Informationszentrum«, nicht nur für die zuständigen Büros in Palästina, sondern ebenfalls für die zionistischen Gruppen und Verbände in den verschiedenen europäischen Ländern.33 Auch die Mitglieder der Exekutive in Jerusalem und London erkannten schnell das Potenzial des Standorts und beschlossen Mitte September, ein permanentes Organisationsbüro einzurichten, das unabhängig neben der bereits seit 1925 bestehenden, von Nahum Goldmann und Menachem Kahany geführten Vertretung der Jewish Agency beim Völkerbund operieren sollte.34 Aufgabe der neuen Außenstelle war es zunächst, von einem neutralen Land aus die Verbindung zwischen den europäischen Landesverbänden und den Büros der Leitung aufrechtzuerhalten, die sich in Jerusalem, London und New York befanden.35 Luxemburg. Vgl. dazu die Korrespondenzen mit Lauterbach in CZA, S5/166 sowie CZA, S5/233, Lichtheim an Lauterbach, 23. November 1939. 31 CZA, S5/231, Lichtheim an Solomon Goldman (ZO Amerika), 12. November 1939. 32 Breitman / Laqueur, Der Mann, der das Schweigen brach, 121. 33 CZA, L22/106, Lichtheim an Kaplan, 27. September 1939. 34 Bereits ab 1925 unterhielt die ZO unter der Leitung Victor Jacobsons ein Büro zur Vertretung zionistischer Interessen beim Völkerbund in Genf. 1934 übernahm Nahum Goldmann den Posten. Nach Goldmanns Abreise aus Genf 1940 kam es zwischen dessen Stellvertreter Menachem Kahany und Lichtheim aufgrund des Nebeneinanders zweier JA-Büros zu Kompetenzstreitigkeiten, die erst im Frühjahr 1941 abschließend geklärt wurden. In dem Konflikt sprach sich Lauterbach wiederholt für das Verbleiben Lichtheims in Genf aus. Die Exekutive der ZO veranlasste schließlich die Zusammenlegung beider Büros unter der Leitung Lichtheims. Kahany blieb weiterhin der Vertreter der JA beim Völkerbund. Vgl. dazu CZA, Z4/30898, bes. den Brief Lauterbachs an Linton, 13. Oktober 1940; CZA, S25/1581, Telegramm der JA London an JA Jerusalem, 29. März 1941. 35 CZA, S5/231, Lichtheim an Solomon Goldman, 12. November 1939.
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Abb. 8: Der 21. Zionistenkongress in Genf, 1939. 1. Reihe v. r. n. l.: Meir Yaari, Solomon Goldman, Josef Sprinzak, Nahum Goldmann, Menachem Ussishkin, Shlomo Kaplansky, Georg Herlitz, Fritz Ullmann, Israel Cohen, 2. Reihe: Richard Lichtheim, Berl Locker. © Central Zionist Archives.
Obwohl er trotz mehrfacher Nachfrage bei der Finanzabteilung der Jewish Agency in Jerusalem über das Budget des Büros im Unklaren gelassen wurde,36 mietete Lichtheim Anfang November 1939 Räumlichkeiten im renommierten Palais Wilson, dem direkt am Genfer See in der Rue des Pâquis gelegenen und die französischen Alpen überblickenden Gebäudekomplex, der bis 1936 den Völkerbund beherbergt hatte.37 Ende November informierte er die 36 Die Finanzierung des Büros und des Gehalts Lichtheims blieb über die gesamte Dauer seines Bestehens ungeklärt. Lichtheims Anfragen an die Finanzabteilung der Jewish Agency blieben manchmal wochenlang und zum Teil gänzlich unbeantwortet. Finanziert wurde das Büro anfänglich mit Geldern, die die zionistischen Fonds in Europa und Amerika gesammelt hatten, später teilweise aus Spenden. In einem Brief Ende Dezember 1944 erkundigte sich Lichtheim in Jerusalem, wie hoch sein Gehalt sei und ob er überhaupt welches bekomme. Seit 1942 seien keine Gehaltszahlungen mehr bei ihm eingegangen. CZA, L22/144, Lichtheim an Bahral (Finanzabteilung der Exekutive der JA), 28. Dezember 1944. 37 CZA, L22/106, Lichtheim an Eliezer Kaplan (JA Jerusalem), 3. November 1939. Im Dezember 1942 zog das Büro der Jewish Agency vom Palais Wilson in das im ehemaligen Hotel Bellevue am Quai Wilson 37 eingerichtete Centre International um, in das auch die Büros anderer internationaler Organisationen verlagert wurden, nachdem die Räumlichkeiten im Palais Wilson von den Schweizer Behörden für Regierungsbüros beansprucht wurden.
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verschiedenen zionistischen Gruppen in Europa, dass sein Büro die Arbeit aufgenommen habe.38 Unterstützt wurde Lichtheim fortan von dem Ehepaar Ullmann. Der 1902 in der böhmischen Gemeinde Luck (tschech. Luka) bei Karlsbad geborene Fritz Ullmann (1902–1972) war bereits ab der Zwischenkriegszeit aktives Mitglied der zionistischen Bewegung der Tschechoslowakei und ab Anfang der 1930er Jahre gemeinsam mit dem tschechoslowakischen Zionisten Franz Kahn (1895–1944) für die Vorbereitung und Organisation der Zionistenkongresse verantwortlich gewesen.39 Im August 1939 war er legal aus dem Protektorat Böhmen ausgereist, um am Kongress in Genf teilzunehmen. Nachdem er im Anschluss an den abgebrochenen Kongress die Ausreise der gestrandeten Delegierten nach Palästina und in andere Länder betreut hatte, wurde er zu Lichtheims Stellvertreter im neuen Genfer Büro der Jewish Agency ernannt (Abb. 9). Seine Frau Charlotte, geb. Einhorn (1916–2001), fungierte als Sekretärin des Büros.40 In der Vorahnung, dass es sich um einen »langen Krieg« in Europa handeln werde, bat Lichtheim kurz nach Übernahme des neuen Postens seine Tochter Miriam, die Wohnung der Familie in Jerusalem aufzulösen, die Einrichtung einzulagern und ihren Eltern nach Genf zu folgen.41 Selbst nachdem sich die Möglichkeiten der Ausreise aus der Schweiz infolge der Kapitulation Frankreichs und des Kriegseintritts Italiens im Sommer 1940 erheblich verschlechtert hatten, entschloss sich Lichtheim als einer der wenigen jüdischen Emissäre, in Genf zu bleiben.42 Das Risiko, auf Jahre in Europa festzustecken CZA, L22/3, Lichtheim an Lauterbach und Linton, 17. Dezember 1942 (Nr. 928); CZA, L22/14, Lichtheim an Lauterbach, 26. Februar 1942 (Nr. 629). Die Korrespondenz zwischen Lichtheim und Lauterbach war nummeriert. Da Lichtheim gelegentlich mehrmals täglich schrieb, wird die Briefnummer in Klammern angegeben. 38 CZA, S5/231, Lichtheim an die zionistischen Vereinigungen und unabhängigen Verbände, 28. November 1939. 39 Da Kahn und Ullmann 1939 zunächst keine Ausreisepapiere erhielten, um das Kongressbüro in Genf zu leiten, wurde dem in Palästina ansässigen KKL-Mitarbeiter Ernst Mechner (1895–1956) diese Aufgabe übertragen. Kahn und Ullmann gelang es allerdings später doch noch, am Kongress selbst teilzunehmen. Vgl. Niv, List of Files of The Offices of the 21st Zionist Congress (Geneva) 1939, 4. 40 Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 94; CZA, S25/1581, Lichtheim an Lauterbach, 4. Januar 1940: Berichte des Genfer Büros. Übersicht über den Zeitabschnitt September bis Dezember 1939, 4. 41 Miriam Lichtheim reiste im Mai 1940 zu ihren Eltern nach Genf, nachdem sie ihr Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem beendet hatte. Ab Frühjahr 1941 setzte sie ihre Studien an der University of Chicago fort. Vgl. Miriam Lichtheim, Telling It Briefly, 26. 42 Allerdings sondierte Lichtheim Ende Juni / Anfang Juli 1940 die Möglichkeit eines Postens innerhalb der ZO Amerikas, der er angesichts der kriegsbedingten Handlungsunfähigkeit der europäischen Zionisten entscheidende Bedeutung bei der Reorganisation der Gesamtbewegung beimaß. Als ein entsprechendes Angebot ausblieb, entschied er sich, in Genf zu bleiben. Vgl. dazu CZA, S5/233, Lichtheim an Lauterbach, 24. Mai 1940 (Nr. 93); CZA, L22/37, Lichtheim an Goldmann, 18. Juli 1940.
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Abb. 9: Richard Lichtheim und Fritz Ullmann im neuen Büro der Zionistischen Organisation und der Jewish Agency in Genf, 1940. © Central Zionist Archives.
und von Palästina wie der restlichen Welt abgeschnitten zu sein, nahm er dabei bewusst in Kauf: »I strongly feel that somebody should remain here to look after our interests«, erklärte er gegenüber Eliezer Kaplan (1891–1952), der der Finanzabteilung der Jewish Agency in Jerusalem vorstand. Ebenso waren die Schweizer Behörden stark am Fortbestehen des Büros interessiert. Für sie, die eine auf Transmigration und nicht auf permanentes Bleiberecht zielende Geflüchtetenpolitik verfolgten, galt die Jewish Agency als verlässliche Ansprechpartnerin in Flüchtlingsfragen und Belangen der Auswanderung nach Palästina.43 Schlussendlich sollte Lichtheim fast sieben Jahre in Genf verbringen, bevor er im Frühjahr 1946 gemeinsam mit seiner Frau nach Jerusalem zurückkehrte. Neben ihm verharrten auch der Leiter und einzige Mitarbeiter der Weltzentrale des He-Ḥ aluz ,̣ Nathan Schwalb, der Leiter des Palästina-Amts, Chaim Posner, Gerhart M. Riegner vom World Jewish Congress sowie der Leiter der Hilfsorganisation RELICO, Abraham Silberschein, bis Kriegsende in der Schweiz. Welch große Bedeutung Lichtheim seinem neuen Posten beimaß, spiegelt sich in der symbolträchtigen Analogie wider, mit der er seine Aufgabe in Genf beschrieb. Wiederholt verglich er sie mit dem Wirken der biblischen 43 CZA, L22/106, Lichtheim an Eliezer Kaplan, 30. Juni 1940. Zur Geflüchtetenpolitik vgl. auch Erlanger, The Politics of »Transmigration«.
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Figur Noah: »I am now sending out this letter from my Mount Ararat in the Alps like old Noah has been sending his dove, hoping it will return with an olive branch«, schrieb er im November 1940 an Joseph Linton (1900–1982), den Vertreter der Jewish Agency in London.44 Gewissermaßen wie Noah zur Rettung seines »ganze[n] Haus[es]«45 berufen und letztlich gestrandet auf dem Berg Ararat, blickte er vom Nordrand der französischen Alpen auf das restliche Europa hinab und beobachtete von dort mit größter Aufmerksamkeit die Entwicklung der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik in Deutschland, in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten sowie den abhängigen Satellitenstaaten des Deutschen Reichs. Von Anfang an wollte Lichtheim sein neues Büro als wichtiges Informationszentrum verstanden wissen und verschickte ausführliche Berichte über das Geschehen in Europa nach Jerusalem, London und New York.46 Seine Berichte wurden, da er außerordentlich gut über die Lage der europäischen Juden informiert war, zu einer der Hauptinformationsquellen des Jischuw ebenso wie jüdischer Institutionen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten.47 Über den unmittelbaren Nutzen seiner Berichterstattung hinaus – möglichst detaillierte Informationen bildeten die Grundvoraussetzung für eine zielgerichtete Organisation von Hilfe und Rettung – war sich Lichtheim von Beginn an auch des historischen Werts seiner Arbeit bewusst. Akribisch dokumentierte er die Katastrophen, die die jüdische Bevölkerung heimsuchten, um – wie er es bereits im November 1939 selbst formulierte – »zu bezeugen, was im 20. Jahrhundert unter Hitler möglich war«.48 Im Laufe des Kriegs sollte Lichtheims Büro zu einem der wichtigsten jüdischen Beobachterposten in Europa und zu einer bedeutenden Schaltzentrale für die Organisation von Hilfs- und Rettungsaktionen werden.
Aufbau eines Netzwerks In den ersten beiden Kriegsjahren konzentrierte sich die politische Arbeit Lichtheims und seiner Mitarbeiter auf die Aufrechterhaltung der »zionisti schen Arbeit im ursprünglichen Sinne«,49 die Lichtheim als bescheidenen 44 CZA, Z4/30897, Lichtheim an Linton, 8. November 1940. Lichtheim bemühte diesen Vergleich auch an anderer Stelle: CZA, A56/35, Lichtheim an seinen Sohn George Lichtheim, 7. August 1940; Lichtheim, Geneva Office. A Zionist Message from Europe, in: The New Palestine, 7. Februar 1941, 7 f. 45 Genesis 7,1. 46 CZA, L22/62, Lichtheim an Landauer, 12. November 1939. 47 Friling, Arrows in the Dark, Bd. 1, 33; Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 6 f. 48 CZA, L22/65, Lichtheim an Solomon Goldman, 27. November 1939. 49 Wiener Library (WL), 1912/20, Lichtheim an Fritz Lichtenstein (JA Lissabon), 7. Dezember 1943.
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Beitrag zum jüdischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Verfolgungspolitik verstand.50 Dies umfasste neben der Unterstützung der Arbeit des Schweizerischen Zionistenverbands vor allem Angelegenheiten der Auswanderung nach Palästina und der Hilfe für Geflüchtete innerhalb der Schweiz, die Zusammenarbeit mit jüdischen Hilfsorganisationen wie dem Joint und dem WJC sowie die Verwaltung der in Europa gesammelten Gelder der zionistischen Fonds.51 In Zusammenarbeit mit Joseph Weiss (1901– nach 1977),52 dem europäischen Repräsentanten des Jüdischen Nationalfonds Keren Kayemeth LeIsrael (KKL),53 gelang es Lichtheim, die in Europa eingefrorenen Gelder des KKL beziehungsweise des Keren Hayesod zu konvertieren und nach Palästina zu transferieren. Indem die Gelder dem Joint in den jeweiligen Ländern für Hilfszwecke zur Verfügung gestellt wurden, während der Gegenwert in Dollar oder Pfund vom Joint an das Genfer Büro gezahlt wurde, konnten bis Ende 1940 insgesamt 45 000 palästinensische Pfund aus Europa an den Jischuw geleitet werden.54 Nach Weiss’ Übersiedlung nach Palästina im Frühjahr 1941 wurde Lichtheim zum alleinigen Verantwortlichen für die Geschäfte des KKL.55 Bereits ab Januar desselben Jahrs übernahm Lichtheim auch die Regelung der Angelegenheiten des Keren Hayesod in der Schweiz.56 Die wichtigste Aufgabe des Genfer Büros bestand zunächst jedoch im Aufbau eines komplexen Netzwerks von Kontakten zu den zionistischen Stellen in ganz Europa. Gemeinsam mit Fritz Ullmann richtete Lichtheim einen Nachrichtendienst ein, der aktuelle Informationen über die Entwicklungen in Palästina an die zionistischen Verbände in den verschie-
50 Lichtheim, Geneva Office, 7 f. 51 CZA, S25/1581, Lichtheim an Lauterbach, 4. Januar 1940: Berichte des Genfer Büros. Übersicht über den Zeitabschnitt September bis Dezember 1939, 3. 52 Joseph Weiss (1901–nach 1977) war Jurist und zionistischer Funktionär. Von 1934 bis 1938 leitete er den Jüdischen Nationalfonds in Deutschland. 1938 wurde er verhaftet und kurzzeitig im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert. Von 1939 bis 1941 war er leitender Mitarbeiter des KKL für Europa in Genf. Er reiste im Frühjahr 1941 über Lissabon nach Palästina. 53 Der Keren Kayemeth LeIsrael (Jüdischer Nationalfonds) ist eine 1901 gegründete Körperschaft der ZO, die ursprünglich für den Bodenerwerb im osmanischen Palästina zuständig war. 54 Ein palästinensisches Pfund entsprach einem Pfund Sterling. CZA, S25/1581, Lichtheim an Lauterbach, 4. Januar 1940: Berichte des Genfer Büros. Übersicht über den Zeitabschnitt September bis Dezember 1939; Lichtheim, Geneva Office, 8. Das Manuskript des Artikels hatte Lichtheim bereits am 27. Dezember 1940 an den Herausgeber der New Palestine, Carl Alpert, gesandt: CZA, L22/65, Lichtheim an Alpert, 27. Dezember 1940; CZA, Z4/30900, Lichtheim an Linton, 11. März 1941. 55 CZA, Z4/30899, Lichtheim an Josef Fischler (KKL, Stockholm), 2. Mai 1941. 56 CZA, Z4/30900, Lichtheim an Henry Montor, 15. Januar 1941; Lichtheim an Arthur Hantke, 21. Januar 1941.
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denen Ländern verschickte. Unterstützt wurden die beiden dabei von zwei ehrenamtlichen Helfern, Dr. Taub und Dr. Reich, die Übersetzungen und Abschriften für die Korrespondenzen und Rundbriefe anfertigten.57 Neben dem praktischen Nutzen maß Lichtheim dem Austausch auch eine besondere moralische Funktion zu.58 Zweifellos verwiesen die Nachrichten aus Palästina auf einen Sehnsuchtsort, der die Utopie einer sicheren Zukunft verhieß, und vermittelten ihren Empfängern zusätzlich das Gefühl, nicht gänzlich von der Welt abgeschnitten und verlassen worden zu sein. Nach dem Krieg beschrieb Ullmann vor einer Gruppe deutschsprachiger Jüdinnen und Juden in Jerusalem die Anfänge des Nachrichtendiensts so: »Und da begann unsere Verbindungsstelle in Genf eine sehr wichtige Arbeit, eine ständige, ruhige und sachliche Arbeit, über die man draussen in der Welt sehr wenig hören konnte, eine Arbeit, die uns tagtäglich und allnächtlich bis spät nachts beschäftigte: Wie können wir die Verbindungswege direkt und indirekt offen halten, und die indirekte Offenhaltung der Verbindungswege war oftmals noch wichtiger als die direkte. Und es beschäftigte uns die Frage: Wie können wir unsere[n] Freunden täglich und wöchentlich Nachrichten von Euch, vom Jischuw, von Euren Freunden vermitteln, so dass sie den Glauben an Euch bis zur letzten Minute bewahren. […] Und es stand die Frage auf der anderen Seite: Wie können wir Euch [dem Jischuw] und den Juden der Welt Nachrichten vermitteln von den Juden, die unter furchtbaren Bedingungen nunmehr begannen, ihr Leben neu zu gestalten?«59
Ende 1940 stand das Genfer Büro über die reguläre Post sowie über schwer nachzuverfolgende Kanäle wie Schmuggler und Untergrundkuriere in Verbindung mit über dreißig Städten in zwanzig verschiedenen europäischen Ländern, darunter Prag, Berlin und Wien, wo die Büros der Zionistischen Organisation offiziell aufgelöst waren und nur noch die Palästina-Ämter arbeiteten, sowie mit zionistischen Stellen in Amsterdam, Kopenhagen, Oslo, Stockholm, Lyon, Vichy, Thessaloniki, Bukarest, Bratislava, Budapest und Zagreb.60 Vermittelt durch Abraham Silberschein, der über weitreichende Kontakte in Polen verfügte, gelangten die Briefe des Genfer Büros auch an dortige Privatadressen.61 Als besonders nützlich erwiesen sich die Beziehungen Fritz Ullmanns, der aufgrund seiner zionistischen Arbeit in den 57 CZA, Z4/30895, Lichtheim an Nahum Goldmann, 25. September 1940. Zu diesen beiden Personen ließen sich keine näheren Informationen ermitteln. 58 Lichtheim, Geneva Office, 8. 59 CZA, A320/544, Fritz Ullmann, Sechs Jahre Genf. Vortrag gehalten auf einer Veranstaltung der Hitachduth Olej Czechoslovakia (Vereinigung der Einwanderer aus der Tschechoslowakei) am 28. April 1946 in Jerusalem. 60 Lichtheim, Geneva Office, 8. Über weite Strecken des Kriegs funktionierte die reguläre Post in Europa, was den Schriftverkehr innerhalb der deutsch besetzten Gebiete beziehungsweise zwischen den deutsch besetzten Gebieten und neutralen Ländern ermöglichte. 61 CZA, L22/51, Lichtheim an Arthur Lourie, 29. September 1940.
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Zwischenkriegsjahren über ein gutes Netzwerk in den besetzten Gebieten der ehemaligen Tschechoslowakei und in der 1939 errichteten Slowakischen Republik verfügte.62 Unter anderem unterhielt er – bis zu deren Deportation nach Theresienstadt – engen Kontakt zu den Prager Repräsentantinnen und Repräsentanten der jüdischen Gemeinde Hannah Steiner63 (1894–1944), Otto Zucker64 (1892–1944) und Franz Kahn65 (1895–1944). Mit Letzterem etablierte Ullmann eine permanente illegale Korrespondenz unter dem Kürzel »UK« (Ullmann-Kahn), die Nachrichten vom Jischuw in Hunderten von Exemplaren mithilfe von Kurieren an jüdische beziehungsweise zionistische Stellen und sogar in einige Konzentrationslager sandte.66 Lichtheim wiederum verfügte durch seine jahrelangen Aktivitäten innerhalb der deutschen wie internationalen zionistischen Bewegung über gute Kontakte zu den Zionisten in Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich, Luxemburg und Rumänien.67 Im Besonderen die Mitglieder der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland versorgten trotz der Kontrolle der Nationalsozialisten die Genfer Emissäre zu Beginn des Kriegs mithilfe verschlüsselter Nachrichten mit wichtigen Informationen.68 Mit der Besetzung der meisten europäischen Länder im Laufe des Kriegsjahrs 1941 wurde die Aufrechterhaltung dieser Verbindungen immer schwieriger, sporadischer und nahm zunehmend klandestinen Charakter an. Bis Kriegsende wurden die noch erreichbaren Stellen jedoch zweimal monatlich in Briefen über die Vorgänge in Palästina und in der zionistischen Bewegung informiert.69 Umgekehrt wurden diese Verbindungslinien genutzt, um das Büro der Jewish Agency in Genf über die sich ständig verschlechternde Lage der jüdischen Bevölkerung in den einzelnen Ländern auf dem Laufenden zu halten. Das Sammeln und Weiterleiten dieser Informationen nach
62 Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 94. 63 Hannah Steiner war Sozialarbeiterin, Journalistin und Vorsitzende der Landesorganisation der Women’s International Zionist Organisation in Prag. Im Juli 1943 wurde sie nach Theresienstadt deportiert und am 27. Oktober 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordet. 64 Otto Zucker war stellvertretender Vorsitzender der tschechoslowakischen Jüdischen Partei und Mitarbeiter des Palästina-Amts. Ab Dezember 1941 war er im Ghetto Theresienstadt interniert, wo er zeitweise als stellvertretender »Judenältester« fungierte. Am 29. September 1944 ermordeten ihn die Nationalsozialisten im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. 65 In den 1920er und 1930er Jahren hatte Ullmann mit Kahn das Zionistische Kongressbüro geleitet. Kahn fungierte zudem als Vertreter des He-Ḥ aluẓ. Er wurde im Januar 1943 nach Theresienstadt deportiert und am 4. Oktober 1944 in Auschwitz-Birkenau ermordet. 66 CZA, A320/544, Ullmann, Sechs Jahre Genf. 67 CZA, S5/233, Lichtheim an Lauterbach, 23. November 1939 (Nr. 12). 68 Vgl. Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 18. 69 CZA, A56/29, Lichtheim, Das Genfer Büro, 1939–1946, 10. April 1946, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 513–525.
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Palästina und den angelsächsischen Ländern wurde zu einer zentralen Aufgabe Lichtheims. Zusätzlich zu den Korrespondenzen mit den noch operierenden zionistischen Stellen in ganz Europa bezog Lichtheim seine Informationen von Diplomaten, Journalisten, Vertretern des IKRK, in der Schweiz eintreffenden Geflüchteten und Untergrundkurieren sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern anderer in der Schweiz agierender jüdischer Organisationen. Die genaue Identität seiner Informanten legte Lichtheim zu deren Schutz in der Regel nicht offen, was die nachträgliche Rekonstruktion der Verbindungslinien und Informationsquellen zum Teil erheblich erschwert, wenn nicht gänzlich verunmöglicht. Zu einem seiner wichtigsten Informanten allerdings wurde der 26 Jahre jüngere Berliner Gerhart M. Riegner. 1934 zur Fortsetzung seines Studiums nach Genf gekommen, arbeitete der ausgebildete Jurist ab 1936 für die von Nahum Goldmann geleitete Vertretung des World Jewish Congress. Er verfügte bereits über ein weit verzweigtes Netzwerk in der Schweiz, als Lichtheim seine Arbeit im Herbst 1939 aufnahm. So unterhielt Riegner unter anderem enge Beziehungen zu seinem ehemaligen Genfer Universitätsprofessor Carl Jacob Burckhardt70 (1891–1974), der ab 1933 Mitglied und ab 1944 Präsident des IKRK war. Nach Goldmanns Abreise im Jahr 1940 aus Genf nach New York wurde Riegner zum Leiter des Büros, dessen Räumlichkeiten sich ebenfalls im Palais Wilson und damit in unmittelbarer Nähe zu denen Lichtheims befanden.71 Neben Leo Lauterbach vom Organisationsdepartment der Jewish Agency, der die Berichte Lichtheims an die restlichen Mitglieder der Exekutive sowie an Ben-Gurion persönlich weiterleitete, erreichten Lichtheims Briefe vor allem den Leiter des Londoner Büros der Jewish Agency Joseph Linton.72 In New York zählten ab März 1941 Arthur Lourie (1903–1978) vom Ameri70 Carl Jacob Burckhardt war von 1932 bis 1937 und von 1939 bis 1945 neben seiner Tätigkeit als Professor für Neuere Geschichte an der Universität Zürich auch am Institut universitaire de hautes études internationales in Genf als Professor für Geschichte tätig. Burckhardts Tätigkeit für das IKRK begann 1923 mit dem Besuch griechischer Kriegsgefangener in der Türkei. 1933 wurde er Mitglied des IKRK und inspizierte in dieser Funktion 1935 und 1936 verschiedene Konzentrationslager in Deutschland. 1937 wurde er vom Völkerbund zum Hohen Kommissar für die Freie Stadt Danzig ernannt, die seit 1920 unter der Aufsicht des Völkerbunds stand. 1941 übernahm er den Vorsitz der Commission mixte de secours de la Commité international de la Croix-Rouge (Vereinigtes Hilfswerk vom Internationalen Roten Kreuz), der für die Zivilbevölkerung zuständigen Institution innerhalb des IKRK. Von 1944 bis 1948 fungierte Burckhardt als Präsident des IKRK. Ausführlich zu seinen Aktivitäten während des Zweiten Weltkriegs vgl. Stauffer, »Sechs furchtbare Jahre …«. 71 Riegners eigene Erzählung seiner Tätigkeit ist nachzulesen in ders., Niemals verzweifeln. 72 CZA, Z4/30898, Linton an Lichtheim, 17. Oktober 1940. Vgl. dazu auch Friling, Arrows in the Dark, Bd. 1, 33.
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can Emergency Committee for Zionist Affairs,73 aber auch Henry Montor ( 1905–1982), Vizepräsident des United Jewish Appeal,74 und Nahum Goldmann vom World Jewish Congress zu seinen Hauptadressaten. Für diese Leser, die sich nicht nur geografisch, sondern auch gedanklich fernab des Geschehens befanden, wurde Lichtheim eine enorm wichtige Informationsquelle, nicht zuletzt dadurch, dass er Kontakt mit Ländern halten konnte, mit denen sich die Regierungen in Washington und London im Krieg befanden.75 Details aus Lichtheims Telegrammen und Briefen wurden für die Berichterstattung in der jüdischen Presse in Palästina und den Vereinigten Staaten verwendet, was Lichtheim – unter der Bedingung, dass die Identitäten der Informanten geschützt blieben – ausdrücklich befürwortete.76 Ebenso erreich ten die Berichte aus Genf ab 1941 auch das Institute of Jewish Affairs, einer Anfang 1941 in New York unter dem Dach des WJC gegründeten und von dem litauischen Juristen Jacob Robinson (1889–1977) geleiteten Forschungseinrichtung, die sich mit politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten jüdischer Nachkriegsplanungen befasste.77 Darüber hinaus zirkulierten Lichtheims Berichte spätestens ab Frühjahr 1942 auch in den diplomatischen Kreisen der westlichen Alliierten und des Vatikans. 73 Das American Emergency Committee for Zionist Affairs (AECZA) war eine Dachorganisation verschiedener zionistischer Körperschaften in den Vereinigten Staaten, deren Einrichtung auf dem Zionistenkongress 1939 in Genf beschlossen wurde. Das AECZA repräsentierte u. a. die Zionist Organization of America, Po’ale Ẓion, Misrachi und die Frauenorganisation Hadassah. Dem Komitee gehörten u. a. Solomon Goldman (1893–1953), Stephen S. Wise, Louis Lipsky (1876–1963), Abba Hillel Silver (1893–1963), Robert Szold (1889–1977) sowie je zwei Vertreter der Po’ale Ẓion und des Misrachi an. Stephen S. Wise hatte den Vorsitz inne. Lourie, der zunächst für das Politische Department der Jewish Agency in London tätig war, diente ab 1941 als Sekretär des Komitees. Vgl. Bierbrier, The American Zionist Emergency Council. 74 Der United Jewish Appeal wurde 1939 eingerichtet und war die Dachorganisation jüdischer Wohltätigkeitsorganisationen. Sie bündelte die Bemühungen des Joint, des United Palestine Appeal und des National Coordinating Committee Fund, wobei der Joint für die Judenheiten in Europa, der United Palestine Appeal für die jüdische Gemeinschaft in Palästina einschließlich der dort ankommenden Geflüchteten aus Europa und das National Coordinating Committee für die Geflüchteten, die in die Vereinigten Staaten einreisten, zuständig war. 75 CZA, Z4/30899, Linton an Lichtheim, 9. April 1941. Offenbar war die Exekutive der Jewish Agency mit dem britischen Zensor in Palästina zu einer Übereinkunft gelangt, nach der es Lichtheim erlaubt war, Informationen aus Feindstaaten und den deutsch besetzten Gebieten – v. a. Ausschnitte einer in Krakau erscheinenden jüdischen Zeitung – nach Jerusalem zu senden. CZA, Z4/30899, Lichtheim an Linton, 3. Mai 1941. 76 CZA, S5/233, Lauterbach an Lichtheim, 14. Januar 1940 (Nr. 36); ebd., Montor an Lichtheim, 20. Dezember 1939; ebd., Lichtheim an Montor, 18. Januar 1940; CZA, L22/240, Lauterbach an Lichtheim, 17. Dezember 1940 (Nr. 252); ebd., Lauterbach an Lichtheim, 18. Dezember 1940 (Nr. 254). 77 Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 27 f.
Erste Deutungsversuche nationalsozialistischer Politik
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An seiner umfangreichen, mehrere Tausend Briefe umfassenden Korrespondenz lässt sich ablesen, wie sich Lichtheims Wissen über die während des Kriegs in ständigem Wandel begriffene Gesamtszenerie Europas entwickelte und welche Handlungsoptionen er aus den ihm zugänglichen Informationen ableitete.
Erste Deutungsversuche nationalsozialistischer Politik (Herbst 1939 bis Sommer 1940) Nach der Einrichtung eines funktionierenden Büroapparats hatte Lichtheim im Oktober 1939 damit begonnen, das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Polens zu dokumentieren. Umgehend begriff er die besondere Bedeutung, die der Krieg für die zwei Millionen polnischen Jüdinnen und Juden darstellte, die sich nach dem Angriff auf das Land unter deutscher Herrschaft befanden. Wenige Tage nach der Kapitulation Polens und der daran anschließenden Besetzung und Zerschlagung des Lands im Oktober 1939 berichtete er in einem ersten ausführlichen Report von »äußerst beunruhigenden« Nachrichten aus den Gebieten unter deutscher Kontrolle: »In Poland many Jews have been killed by the German troups [sic]. I need not give you a detailed description of the horrors connected with the invasion of Poland by the Germans and the treatment meted out especially to the Jewish population.«78 Schockiert von diesen ersten Nachrichten, prognostizierte er bereits in diesem sehr frühen Stadium des Kriegs, dass der deutschen Herrschaft in Polen bis zu zwei Millionen Jüdinnen und Juden zum Opfer fallen könnten.79 Auch die Situation der jüdischen Bevölkerung im deutschen Reichsgebiet ließ ihn Schlimmstes ahnen. Er informierte Linton, dass Tausenden von staatenlosen und polnischen Juden nach ihrer Internierung in Sachsenhausen »die schrecklichste Behandlung« zuteil wurde, und berichtete von neuen, gegen die deutsche jüdische Bevölkerung gerichteten Maßnahmen wie der Registrierung ihres gesamten Besitzes. Er resümierte: »I am very much afraid that the position in Germany will lead to more and more destruction and persecutions of Jewish property and of Jews themselves.«80 Beunruhigt von den Ereignissen im Deutschen Reich und im deutsch besetzten Polen, verfolgte er mit größter Sorge auch die Gerüchte, die Nationalsozialisten planten, den Großteil der Wiener jüdischen Bevölkerung zur Zwangsarbeit in das Generalgouvernement zu verschicken.81 Im Zuge des ab Mitte September 1939 diskutierten 78 CZA, S46/360, Lichtheim an Linton, 12. Oktober 1939, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 297–305, hier 301. 79 Ebd. 80 Ebd., 303. 81 Ebd., 302.
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Plans, Juden in einen neu zu errichtenden Gau im Lubliner Gebiet umzusiedeln, schien sich dies schon bald zu bewahrheiten. Die im Oktober von Adolf Eichmann (1906–1962), SS-Obersturmbannführer und Leiter des »Judenreferats« IV B 4 im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), organisierten Deportationen einiger Tausend Juden aus Wien, Mährisch-Ostrau und Kattowitz nach Nisko im Distrikt Lublin im Generalgouvernement gaben Anlass für allerlei Spekulationen über die wahren Absichten der Nationalsozialisten.82 Diese »neue Politik der Konzentration der Juden« sowie das Versprechen Eichmanns an Reichskanzler Adolf Hitler, Wien innerhalb weniger Monate »judenrein« zu machen, ließen Lichtheim befürchten, dass bald auch die jüdische Bevölkerung des Reichs in das neu eroberte Polen deportiert werden würde.83 Auch nachdem die massenhafte Deportation der jüdischen Bevölkerung aus dem Reich ausblieb und der Nisko-Plan Ende Oktober gestoppt wurde – ein Umstand, der erst mit erheblicher Verzögerung in Genf bekannt wurde – erkannte Lichtheim darin ein wirksames Instrument national sozialistischen Terrors, mit dem die Abwanderung der jüdischen Bevölkerung forciert werden sollte: »The plan is still used by Eichmann to terrify the Jews in the Protectorate and Vienna with a view to drive them over the frontiers.«84 Nachdem ihn in den ersten Kriegsmonaten und gehäuft vor allem im Dezember 1939 Berichte aus den von Deutschland annektierten und besetz ten Gebieten über die Ghettoisierung, Vertreibung, Verschickung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung erreicht hatten, bilanzierte er im Januar – vor allem mit Blick auf das Schicksal der 2,2 Millionen polnischen Jüdinnen und Juden, die sich nun unter nationalsozialistischer Herrschaft befanden – einen »Prozess der Umwälzung, der Wanderung, Vertreibung und Vernichtung […] wie er selbst in der an Schrecknissen so reichen jüdischen Geschichte einzig dasteht«.85 Die von den Nationalsozialisten in den Jahren 82 Im September 1939 genehmigte Hitler die Abschiebung großer Teile der jüdischen Bevölkerung in das neu eroberte Polen. Eichmann veranlasste daraufhin die Errichtung eines Lagerkomplexes in der Nähe der polnischen Stadt Nisko, in dem die jüdische Bevölkerung aus dem Reichsgebiet einschließlich der neu eingegliederten Gebiete konzentriert werden sollte. Im Rahmen des sogenannten Nisko-Plans wurden im Oktober 1939 über 5 000 Juden dorthin deportiert. Die Deportationen wurden schließlich gestoppt, da die Wehrmacht die Bahnlinien für den Truppentransport aus dem deutsch besetzten Polen nach Westen benötigte. Der Lagerkomplex wurde im April 1940 aufgelöst. Zum Nisko-Plan vgl. Browning, The Origins of the Final Solution, 36–43; Gruner, Die Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren, 86–97; Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 410. 83 CZA, S5/233, Lichtheim an Lauterbach, 12. November 1939 (Nr. 7), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 305–309. 84 CZA, L22/106, Lichtheim an Lauterbach, 4. Februar 1940 (Nr. 52), abgedruckt in: AotH 4, 7 f. 85 CZA, S25/1581, Lichtheim an Lauterbach, 4. Januar 1940: Berichte des Genfer Büros. Übersicht über den Zeitabschnitt September bis Dezember 1939. Es sei angemerkt, dass der
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1939 bis 1942 vorgenommenen Bevölkerungsverschiebungen führten unmittelbar zur Vertreibung und Deportation Hunderttausender Juden und Polen aus den annektierten Gebieten in das Generalgouvernement.86 Eine klare Linie nationalsozialistischer Verfolgungspolitik gab es indes Anfang 1940 noch nicht. Inkohärente, sich zum Teil widersprechende Direktiven verschiedener Instanzen in Berlin wie in der Peripherie charakterisierten zu diesem Zeitpunkt das Vorgehen der Nationalsozialisten, was sich auch in der Berichterstattung Lichtheims bemerkbar machte. Gegenüber Lauterbach erklärte er vor dem Hintergrund von Berichten zur Lage der jüdischen Bevölkerung im deutsch besetzten Polen und dem Protektorat die verworrene Informationslage: »You will see from these reports that some statements contained therein differ from what has been said in previous reports with regard to the same subject. This is in no way surprising in view of the constant[ly] changing plans, orders and counter-orders, partly due to war-conditions, partly to the barbarism and boundless ferocity of the Germans.«87
Allerdings vermutete Lichtheim, dass die Maßnahmen im deutsch besetzten Polen nur die Vorläufer für ähnliche Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung des Reichs seien. Nachdem im deutsch besetzten Polen männliche Juden im Alter zwischen 14 und 60 Jahren zur Zwangsarbeit verpflichtet worden waren, ging Lichtheim davon aus, dass dies auch das Schicksal der jüdischen Bevölkerung des Reichs, im Protektorat und in Österreich sein werde.88 Auch als im Februar 1940 etwa 1 800 Jüdinnen und Juden aus den deutschen Städten Stettin und Schneidemühl nach Lublin deportiert wurden, um »Wohnraum« für die »Heimführung« von Volksdeutschen aus den baltischen Ländern, Wolhynien und der Bukowina zu schaffen,89 deutete Lichtheim dies als ein beunruhigendes Vorzeichen dafür, dass die jüdische Bevölkerung Deutschlands genauso getötet und vertrieben werden würde wie die Juden und Polen in den besetzten Gebieten: Begriff »Vernichtung« in diesem Zusammenhang noch nicht die systematische Ermordung meint, sondern ein einkalkuliertes Massensterben als Folge von Deportation, Vertreibung und der Errichtung des Ghettosystems sowie das Ende jüdischer Existenz in Europa in ihrer bisherigen Form. 86 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 411. 87 CZA, S5/233, Lichtheim an Lauterbach, 9. Januar 1940 (Nr. 39). 88 CZA, L22/106, Lichtheim an Lauterbach, 4. Februar 1940 (Nr. 52). 89 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 415. Zu dem Vorhaben der Nationalsozialisten, im Rahmen ihrer rassistischen NS-Eroberungs- und Lebensraumpolitik ein ethnisch homogenes Deutsches Reich zu schaffen, indem sie deutschsprachige Bevölkerungsgruppen Ost- und Südosteuropas »zurückführten« und die jüdische und polnische Bevölkerung deportierten. Vgl. Browning, The Origins of the Final Solution, 43–72.
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»It is said that the same fate is awaiting the Jews of Koenigsberg. It seems that the German authorities have decided to make the Baltic coast 100 % German, and that may be the reason for these latest brutalities. The same is happening, as you know, all over Poland, but until now the position of the Jews in the Old Reich was somewhat better in so far as in spite of all sorts of robberies, persecution and humiliation they were not actually driven away from their homes. It is certainly a disquieting symptom, that this procedure now starts also in places belonging to the Old Reich, and it is certainly an indication, that the rest of the Jews in Germany may be killed or driven away in the same way as Jews and Poles in the occupied territories.«90
Nachdem ein Teil der Deportierten nach Stettin zurückgeschickt wurde, da in Lublin keine Vorbereitungen für ihre Versorgung getroffen worden waren, informierte Lichtheim Jerusalem erneut über die unübersichtliche Lage, die er mit der Zuständigkeit verschiedener, zum Teil konkurrierender Instanzen erklärte. »You may have seen from previous reports about the situation in Germany and Poland, that the information we receive seems sometimes somewhat contradictory. This is not so much the fault of our informers, but inherent in the situation. The policy of the German Authorities with regard to the Jews is directed from various quarters. The policy of the military authorities of Poland, of the Gestapo-chiefs in Poland and Germany and of the civil authorities is very often influenced by different motives and leading to different methods. […] All these various tendencies in the administration itself make it extremely difficult to find out what the true policy of the German Government is.«91
Er war sich allerdings sicher, »dass all diese Maßnahmen dazu führen, dass jüdisches Eigentum, Freiheit und Leben zerstört werden«.92 Die einzige Möglichkeit der jüdischen Bevölkerung, der Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen, sah Lichtheim in der Emigration nach Übersee. Da mit dem schnellen Vordringen der Wehrmacht nach Dänemark, Norwegen sowie in die Beneluxstaaten und von dort nach Frankreich die meisten europäischen Länder ab Mai 1940 als Zufluchtsorte ausschieden, war wirkliche Sicherheit für die Verfolgten nur außerhalb Europas zu finden. Angesichts des erklärten Unwillens der internationalen Staatengemeinschaft, eine größere Anzahl jüdischer Geflüchteter aufzunehmen, der sich zuletzt 1938 in der ergebnislos verlaufenen Konferenz von Évian manifestiert hatte, betrachtete es Lichtheim als die vordringlichste Aufgabe der jüdischen Öffentlichkeit, von den Regierungen der westlichen Demokratien –
90 CZA, S5/233, Lichtheim an Lauterbach, 23. Februar 1940 (Nr. 62). 91 CZA, S5/233, Lichtheim an Lauterbach, 11. März 1940 (Nr. 67), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 314–318, hier 315. 92 Ebd.
Erste Deutungsversuche nationalsozialistischer Politik
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vor allem der Vereinigten Staaten – eine liberalere Einwanderungspolitik einzufordern.93 Die Verbesserung der Lage der jüdischen Bevölkerung in den von den Nationalsozialisten kontrollierten Gebieten sah er dagegen eher als eine Sache der Wohltätigkeit als der Politik an. Wenn überhaupt, könnten allein Wohlfahrtseinrichtungen der Gemeinden oder die vor Ort agierenden Hilfsorganisationen wie der Joint oder das Rote Kreuz etwas für die Not leidende Bevölkerung tun.94 Angesichts der Behinderung von deren Arbeit durch die deutschen Behörden war er allerdings skeptisch, wie viel »ein Hilfswerk in einem Lande, wo die Zentralgewalt mehr an der Ausrottung als an der Rettung der Bevölkerung interessiert ist«, letztlich ausrichten könne.95 Ernüchtert meldete er im Februar 1940 nach Jerusalem: »The difficulties inherent in the situation are such that I really cannot see how the sufferings of the population can be alleviated.«96 In Ermangelung anderer Handlungsoptionen versuchte das Büro in Genf, die legale Auswanderung nach Palästina im Rahmen der restriktiven Einwanderungspolitik Großbritanniens voranzutreiben, indem es gemeinsam mit dem dafür eigentlich zuständigen Palästina-Amt Gelder und Papiere für Ausreisewillige zu beschaffen suchte.97 Damit agierte es freilich im Rahmen der Agenda der Jewish Agency, die eine ausgewählte jüdische Migration nach Palästina gegenüber einer Abwanderung nach Westen favorisierte. Die illegale Einwanderung ins britische Mandatsgebiet, die sogenannte Alija Bet, lehnte Lichtheim aus Sorge um das Verhältnis des von London abhängigen und verwalteten Jischuw zur britischen Mandatsmacht jedoch strikt ab. Er befürchtete, dass die britische Regierung die Anzahl der illegal Einreisenden mit dem im Weißbuch festgelegten Kontingent »verrechnen« und letztlich weniger Zertifikate für die legale Einwanderung ausstellen würde.98 Tatsächlich 93 CZA, S25/1581, Lichtheim an Lauterbach, 31. Mai 1940: Reports from the Geneva Office. Review of the Period January–May 1940, 28. 94 CZA, L22/65, Lichtheim an Solomon Goldman, 2. Januar 1940; CZA, S25/1581, Lichtheim an Lauterbach, 31. Mai 1940: Reports from the Geneva Office. Review of the Period January–May 1940; vgl. auch Raya Cohen, Confronting the Reality of the Holocaust, 339. 95 CZA, L22/37, Lichtheim an Nahum Goldmann, 23. Februar 1940. 96 CZA, L22/106, Lichtheim an Lauterbach, 4. Februar 1940 (Nr. 52). 97 Die Einreise nach Palästina für Jüdinnen und Juden aus Deutschland oder deutsch besetzten Gebieten wurde nach Kriegsbeginn gänzlich unmöglich. Nach Verhandlungen mit der Jew ish Agency gestattete die britische Regierung allerdings die Einreise derjenigen Jüdinnen und Juden aus feindlichem Gebiet, die bei Beginn des Kriegs bereits in Besitz von PalästinaZertifikaten waren. Mithilfe der zu dem Zeitpunkt neutralen italienischen Regierung und mit Einwilligung der deutschen Regierung gelang es, 2 900 Zertifikatsinhaber aus Deutschland und den annektierten Gebieten über Triest per Schiff nach Palästina zu bringen. Vgl. Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, 52. 98 CZA, KH7/6, Lichtheim an Georg Landauer, 1. März 1940.
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hatte die britische Regierung bereits im Juni 1939 angekündigt, aufgrund der hohen Anzahl illegaler Einwanderer für die sechs Monate zwischen Oktober 1939 und März 1940 keine Zertifikate auszustellen. Für April bis September 1940 wurden schließlich 9 060 Zertifikate autorisiert, allerdings weniger als die Hälfte ausgegeben.99 Auch fürchtete Lichtheim, dass durch die illegalen Aktionen die zionistische Bewegung als Ganzes bei Diasporagemeinden und Nichtjuden in Verruf geraten würde. Jenseits der von den zionistischen Organisationen gesteuerten illegalen Einwanderung hatten private Mittelsmänner finanziellen Vorteil aus der Notlage der Geflüchteten gezogen und diesen meist gegen hohe Gebühren versprochen, sie auf dem Land- oder Seeweg nach Palästina zu schmuggeln, was der Zionistischen Organisation den Vorwurf der Ausbeutung und Verantwortungslosigkeit eingehandelt hatte. Vor allem aber hatten für den palästinazentrisch ausgerichteten Lichtheim – »trotz allen menschlichen Mitleids mit den Wanderern selbst«, zu diesem Zeitpunkt noch die Bedürfnisse des Jischuw Vorrang. Die ökonomische Belastung durch für den Aufbau der jüdischen Heimstätte ungeeignete Einwanderer war für ihn Grund genug, die Alija Bet abzulehnen. Das Leid in Europa vor Augen, gestand er allerdings ein, dass die Frage der illegalen Einwanderung »wirklich ein ungeheuer schweres Problem [ist], das sich dogmatisch nicht behandeln lässt«.100 Gegenüber dem Leiter der Finanzabteilung der Jewish Agency, Eliezer Kaplan, gab er offen zu: »I confess that I prefer 5 000 carefully chosen legal immigrants to 7 or 8 000 illegals.«101 Ohnehin erschwerten technische Schwierigkeiten und fehlende Transportmittel die Reise nach Palästina. Spenden amerikanischer Jüdinnen und Juden zur Unterstützung der Alija Bet hielt er daher für fehlgeleitet: »If the Jews in America want to help a number of Jews from Germany to leave the country, they should try to get a certain number of visas for America and other neutral countries, but they should not get enthusiastic about the idea of dumping, in company with the Gestapo, ill-fitted refugees into Palestine in the teeth of British resistance and to the detriment of the Zionist cause.«102
99 Unternahmen die Briten in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn noch keine großen Anstrengungen, die Bestimmungen des Weißbuchs umzusetzen, so beschloss die britische Regierung schließlich Anfang Januar 1940, die Möglichkeiten des Landkaufs für Jüdinnen und Juden in Palästina und die Einwanderung wie vorgesehen einzuschränken. Mit Rückwirkung vom April 1939 sollte im Verlauf der nächsten fünf Jahre 75 000 Jüdinnen und Juden die Einreise nach Palästina gestattet sein. Vgl. dazu Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, 51. 100 CZA, KH7/6, Lichtheim an Georg Landauer, 1. März 1940. 101 CZA, KH7/6, Lichtheim an Kaplan, 31. März 1940. 102 Ebd.
Die europaweite Anwendung des »Reichsmodells«
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Die Katastrophe des britischen Gefängnisschiffs SS Patria sollte seine strikte Ablehnung der illegalen Einwanderung bestätigen: Im Spätherbst 1940 verweigerten die Briten mehreren Tausend jüdischen Geflüchteten aus Deutschland, Österreich, Polen und der Tschechoslowakei, die nach wochenlanger Schifffahrt im September im Hafen von Haifa einliefen, die Einreise nach Palästina. Stattdessen sollten die unwillkommenen Ankömmlinge nach Mauritius im Indischen Ozean verbracht werden. Der Versuch der Hagana – der zionistischen paramilitärischen Untergrundorganisation des Jischuw, die später mit der Staatsgründung in die israelische Armee überführt wurde –, eines der Gefängnisschiffe seeuntauglich zu machen und so den Verbleib der Passagiere zu erzwingen, hatte verheerende Folgen: Die Hagana hatte die Kraft des Sprengstoffs falsch eingeschätzt und die Explosion brachte das Schiff zum Sinken. Fast 300 Passagiere der SS Patria ertranken und nur die Überlebenden des Schiffbruchs durften schließlich in Palästina bleiben. Die restlichen Geflüchteten wurden nach Mauritius gebracht, wo sie bis zum Ende des Kriegs ausharren mussten.103 Auch im weiteren Kriegsverlauf sollte Lichtheim seine Haltung dahingehend nicht ändern. Als er im Januar 1942 fürchtete, die Briten hätten ihn in Verdacht, die Organisation illegaler Auswanderung zu unterstützen, machte er gegenüber Lauterbach noch einmal unmissverständlich klar: »I have never, directly or indirectly, by words or by deeds, encouraged illegal immigration to Palestine. I do not wish to go into details but I may say that this is rather an understatement of my attitude in this matter.«104 Konkrete Möglichkeiten, von Genf aus einzugreifen, standen Lichtheim und seinen Mitarbeitern indes nicht zur Verfügung. Neben der Organisation der legalen Auswanderung konzentrierten sie sich in den ersten Monaten des Kriegs auf die Verbreitung und Veröffentlichung der zugänglichen Informationen.
Die europaweite Anwendung des »Reichsmodells« (Herbst 1940 bis Frühjahr 1941) Nach einer Phase scheinbarer Ruhe im Hoch- und Spätsommer informierte Lichtheim im Laufe der Herbstmonate des Jahrs 1940 Jerusalem darüber, wie in den von den Nationalsozialisten besetzten westeuropäischen Staaten Belgien und Niederlande,105 in Nordfrankreich,106 in Luxemburg wie auch in 103 Vgl. Shapira, Land and Power, 288 f. 104 CZA, L22/233, Lichtheim an Lauterbach, 14. Januar 1942 (Nr. 590). 105 CZA, L22/241, Lichtheim an Lauterbach, 15. November 1940 (Nr. 174), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 329–338. 106 CZA, Z4/30898, Lichtheim an Lauterbach, 19. Oktober 1940 (Nr. 143).
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den zu dem Zeitpunkt noch unabhängigen Staaten Jugoslawien, Bulgarien, der Slowakei107 und Rumänien108 antijüdische Gesetze eingeführt wurden, während sich die ohnehin desolate Lage der jüdischen Bevölkerung in den besetzten polnischen Gebieten weiter verschlechterte.109 In höchstem Maße alarmiert zeigte sich Lichtheim auch über die Zustände im Internierungslager Gurs im Vichy-Frankreich. Zusammen mit den zahlreichen Hilfegesuchen der Mitte Oktober aus Baden und der Saarpfalz dorthin deportierten deutschen Jüdinnen und Juden erreichten ihn ab November immer mehr Details über die dortigen Bedingungen.110 Im Dezember teilte er Lauterbach mit, die Lage sei »nicht zu beschreiben«: Familien seien auseinandergerissen worden und es gebe weder Betten noch warme Decken. Auch mangle es an Medikamenten und Lebensmitteln. Vor allem ältere Menschen und Kranke litten unter den Bedingungen. Bis zu zwanzig Personen würden pro Tag in Gurs sterben und niemand wüsste, wie man die Internierten aus diesem »Inferno« herausholen könne.111 In der Hoffnung, die Situation im Lager ließe sich dadurch verbessern, schlug er wenig später Arthur Lourie in Amerika vor, sich an die Presse beziehungsweise an amerikanische Diplomaten zu wenden, um Druck auf die französische Regierung auszuüben.112 Die Nachrichten über die sich stetig verschlechternde Situation der jüdischen Bevölkerung in weiten Teilen Europas veranlassten ihn im Dezember 1940, über die Konsequenzen der nationalsozialistischen Politik für die Zukunft der jüdischen Bevölkerung Europas im Allgemeinen und für die der zionistischen Bewegung nach dem Krieg im Besonderen nachzudenken. Dies ging mit dem Anliegen einher, gerade die britischen und amerikanischen Judenheiten über die tatsächliche Lage in Europa und gleichzeitig über Hilfsmöglichkeiten aufzuklären. In einem Brief an Lauterbach fragte er: 107 CZA, L22/51, Lichtheim an Lauterbach, 16. Oktober 1940 (Nr. 138). 108 CZA, L22/241, Lichtheim an Lauterbach, 15. November 1940 (Nr. 174), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 329–338. 109 CZA, L22/51, Lichtheim an Lauterbach, 15. September 1940 (Nr. 123), abgedruckt in: ebd., 318–329. Lichtheim informierte Lauterbach darüber, dass die Nationalsozialisten versuchten, Krakau »judenrein« zu machen, und die Verhältnisse in Łódź dergestalt waren, dass man »mit einem raschen Aussterben dieser Bevölkerungsgruppe rechnen« müsse. Er schrieb: »Die Tendenz der Verwaltung gegenüber der jüdischen Bevölkerung steht im Zusammenhang mit der allgemeinen Tendenz, den polnischen Staat als endgültig liquidiert zu betrachten.« Ebd., 321. 110 CZA, Z4/30897, Nathan Moses an Lichtheim, 1. November 1940; ebd., Lichtheim an Nathan Moses, 15. November 1940. Vgl. auch die Briefwechsel in CZA, L22/105. 111 CZA, L22/240, Lichtheim an Lauterbach, 11. Dezember 1940 (Nr. 218), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 338–346. Lauterbach teilte ihm im Februar 1941 nach Rücksprache mit den restlichen Mitgliedern der Exekutive mit, dass man in Jerusalem keine Möglichkeit sehe, von dort aus etwas für die Internierten in Gurs zu tun. CZA, L22/50, Lauterbach an Lichtheim, 9. Februar 1941 (Nr. 337). 112 CZA, L22/239, Lichtheim an Lourie, 3. Januar 1941.
Die europaweite Anwendung des »Reichsmodells«
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»What will become of the Jews of Europe? I feel that a word of warning to the happier Jews of England and America is necessary. It is impossible to believe that any power on earth will be able (and willing?) to restore to the Jews of Continental Europe what they have lost or are loosing today. It is one of the superficial beliefs of a certain type of American and British Jews that after Great Britain’s victory – for which of course the Jews all over the world are praying – everything will be alright again with the Jews of Europe. But even if their civil rights can be restored – what about the property confiscated, the shops looted, the practice of doctors and lawyers gone, the schools destroyed, the commercial undertakings of every description closed or sold or stolen? Who will restore all that and how? Who will drive away the ›Gentiles‹ – or shall I say the natives? – who have taken possession of all that, or have simply destroyed it? And what will be left of the Jews of Europe? I am not speaking of the hundreds of thousands who have lost their lives or will die from hunger and exposure before this war ends, but of those who will be found alive after the war is over: There are several hundred thousands who during these years of persecution have managed to escape and are now trying to build up a new life in Palestine, in [the] USA, in South America, Australia, San Domingo or elsewhere. Then there are the refugees in Europe who tried to escape but did not go fast and far enough. The tens of thousands in Holland and Belgium, Portugal, Switzerland and France, who are now living on the rests of their possessions or on public charity or have been herded into camps. What will become of them after the war?«113
Für Lichtheim lag die Lösung nicht einfach in der Wiederherstellung der bürgerlichen Rechte der Verfolgten. Für ihn zeichnete sich ab, dass neue Methoden organisierter Hilfe gefunden werden mussten. Vor allem in Palästina müsse man sich auf die Entwicklung des Jischuw konzentrieren, damit dieser nach dem Krieg in der Lage sei, große Massen Geflüchteter wirtschaftlich zu absorbieren. Gleichzeitig räumte er ein: »It is certainly too early to formulate any definite policy or to make detailed plans now, but the Jews of England and America must know that the problem cannot be solved by using only the old watchwords and slogans which under the radically changed conditions of present and future life in Europe have lost much of their meaning.«114
Das in dem Brief an Lauterbach für notwendig erachtete »Wort der Warnung« an die amerikanischen und britischen Juden formulierte er noch im selben Monat in einem Artikel für die von der Zionistischen Organisation Amerikas herausgegebene The New Palestine, der schließlich im Februar 1941 erschien.115 Eindringlich schilderte er die verheerende Lage in Europa und forderte, die Millionen noch lebender Jüdinnen und Juden Europas nicht 113 CZA, L22/240, Lichtheim an Lauterbach, 11. Dezember 1940 (Nr. 218), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 338–346, hier 345 (Hervorhebung im Original unterstrichen). 114 Ebd., 346. 115 CZA, L22/65, Lichtheim an Carl Alpert, 27. Dezember 1940; Lichtheim, Geneva Office.
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aufzugeben, sondern ihnen unmittelbar, und nicht erst nach dem Krieg, Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. An anderer Stelle wies er auch auf die Bedeutung hin, die dem amerikanischen Zionismus während des Kriegs zukomme und perspektivisch danach zukommen werde. In Anbetracht der Wichtigkeit eines »ausserpalästinensischen Zionismus« und des Niedergangs der organisierten zionistischen Strukturen in Europa hielt er eine Neuausrichtung und Umstrukturierung der zu diesem Zeitpunkt schwachen und gespaltenen amerikanischen Bewegung für unabdingbar.116 In Europa beobachtete Lichtheim unterdessen in den ersten Monaten des Jahrs 1941 eine erneute Radikalisierung der antijüdischen Politik. Vor dem Hintergrund der ab Anfang Februar bis Mitte März 1941 durchgeführten Deportation von rund 5 000 Jüdinnen und Juden aus Wien in das Generalgouvernement, hauptsächlich in den Distrikt Lublin, berichtete Lichtheim von kursierenden Gerüchten, dass Wien – als »Geburtstagsgeschenk für Hitler« – bis Ende April »judenrein« gemacht werden solle.117 Gleichzeitig begann sich für ihn immer deutlicher ein Muster im Vorgehen der Nationalsozialisten in den eroberten Gebieten abzuzeichnen. Parallel zu den Deportationen nach und in Polen wiederholten sich in den besetzten Ländern Westeuropas andere, bereits im Reich erprobte Maßnahmen wie die Konzentration der jüdischen Bevölkerung und die Einrichtung von jüdischen Verwaltungen. Nach Jerusalem berichtete Lichtheim, dass die deutschen Behörden im besetzten Teil Frankreichs nach dem für »Deutschland üblichen Modell« verfuhren und auch in Holland die »wohlbekannte Technik« anwendeten, die jüdische Bevölkerung für sich selbst verantwortlich zu machen.118 Die Einrichtung eines Jüdischen Rats unter der Leitung des Universitäts professors für Alte Geschichte David Cohen (1882–1967) und des Kaufmanns und Diamantenhändlers Abraham Asscher (1880–1950) in Amsterdam im April 1941 beschrieb er als eine »neue Maßnahme«, die »von den Behörden ergriffen [wurde], um die Arbeit der jüdischen Gemeinden nach den aus Deutschland, Polen usw. bekannten Linien umzugestalten«.119 In demselben Schreiben erklärte er: »It is the established policy of the German authorities to create ›Jewish councils‹ responsible for everything going on in Jewish life, receiving a large share of authority and even coercive power, while being themselves subject to orders and instructions from the German authorities.«120 116 CZA, L22/65, Lichtheim an Kurt Blumenfeld, 6. Februar 1941. 117 CZA, L22/50, Lichtheim an Lauterbach, 24. Februar 1941 (Nr. 345), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 346 f. 118 Ebd. 119 CZA, L22/43, Lichtheim an Linton, 12. Mai 1941. 120 Ebd.
Drängen auf einen Protest der Alliierten
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Mit ähnlichen Worten kommentierte er die Errichtung der Union générale des israélites de France im unbesetzten Teil Frankreichs im November 1941: »The whole system is an imitation of the German system, which is to create in every country a central body which is responsible for everything going on in Jewish life or among the Jews and serves as a sort of Jewish department of the police.«121 Diese europaweite Anwendung des »Reichsmodells« antijüdischer Maßnahmen – die Vertreibung und erzwungene Auswanderung der jüdischen Bevölkerung, die »Arisierung«, die Kennzeichnungspflicht, die Konzentration der jüdischen Bevölkerung in abgegrenzten Gebieten und deren Heranziehung zur Zwangsarbeit und Nutzbarmachung für die Kriegswirtschaft bei gleichzeitiger Einrichtung semiautonomer jüdischer Selbstverwaltungen – kennzeichnete die nationalsozialistische Politik bis zum Sommer 1941.122 Lichtheims Berichte lassen erkennen, dass er dies in Genf sehr genau verfolgte und einzuordnen suchte. Wie die meisten zeitgenössischen Beobachter deutete Lichtheim diese Entwicklungen zunächst vor dem Hintergrund bekannter Erfahrungen jüdischer Verfolgung während vorangegangener Krisen und Kriege, in deren Zuge es zum Verlust von Grundrechten, Flucht und Vertreibung, Hunger, ökonomischer Ausgrenzung und Pogromen kam. Er interpretierte diese antijüdischen Maßnahmen zunächst als Teil der von den Nationalsozialisten propagierten »Reorganisation des jüdischen Lebens in Europa«, die die Position der jüdischen Bevölkerung zwar erheblich verschlechterte, aber nicht unmittelbar in ihrer Existenz bedrohte.123
Drängen auf einen Protest der Alliierten (Sommer bis Dezember 1941) Die Radikalisierung der NS-Judenverfolgung im Laufe des Frühjahrs und Sommers 1941 und deren Eskalation nach dem am 22. Juni erfolgten deutschen Angriff auf die Sowjetunion führte allmählich zu einer veränderten Wahrnehmung des Kriegsgeschehens und damit einhergehend zu einer
121 In der am 29. November 1941 auf deutschen Druck hin eingerichteten Union générale des israélites de France wurden alle im besetzten wie auch unbesetzten Teil Frankreichs agierenden jüdischen Organisationen zusammengefasst. Sie diente dazu, die antisemitischen Maßnahmen umzusetzen. Lichtheim war bereits Anfang November im Besitz eines Entwurfs der Statuten der Organisation. Vgl. dazu und für das Zitat CZA, L22/151, Lichtheim an Lauterbach, 3. November 1941 (Nr. 524). Zur Einsetzung der Organisation Ende November vgl. CZA, L22/151, Lichtheim an Lauterbach, 3. Dezember 1941 (Nr. 557). 122 Vgl. Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 567 f. 123 Vgl. dazu auch Raya Cohen, Confronting the Reality of the Holocaust, 342 f.
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sukzessiven Verlagerung der Prioritäten Lichtheims. Die Aufrechterhaltung der zionistischen Arbeit in Europa und Planungen für deren Erneuerung nach dem Krieg rückten zunehmend in den Hintergrund und die Hauptsorge Lichtheims galt spätestens ab den Herbstmonaten 1941 dem aktuellen Schicksal der verfolgten europäischen Judenheiten und dem Drängen auf politische Intervention. Verbunden mit diesem Veränderungsprozess war ein immer stärker werdendes Gefühl der Diskrepanz zwischen dem Jischuw und Europa, wie es in einem Brief an Lauterbach von Anfang August zum Ausdruck kam: »We here on this happy island called Switzerland are surrounded by an ocean of misery and despair. Only to report on all what is going on in Germany, Poland, France, the Balcan States [sic], etc. is a heartbreaking job and I think I have kept you and the other centers well informed. […] Do you sometimes realise how happy you are in sunny little Palestine? You have only to think of the 500 000 Jews starving behind the walls of the Ghetto in Warsaw, of the 20 000 Polish and German Jews who are rotting on sordid straw in French concentration camps, of the nameless masses in Russian-occupied Poland over which the war-machine is now rolling, of the unfortunate Jewish slaves in Croatia, Bulgaria and Roumania who are forced into labour-gangs under most unhuman [sic] conditions, of the 200 ›Jews and Communists‹ who have lately been shot in Belgrad and Agram [Zagreb]. I am not even mentioning the Jews of greater-Germany who have been living for years in utter humiliation, using what is left of their money or working for a piece of bread as part of the German war-machine. I sometimes wonder, when receiving your letters or cables from Palestine if our friends over there do realise what’s going on in Europe …«124
Von der entfesselten Vernichtungswut der deutschen Einsatzgruppen, die in den ersten Wochen und Monaten nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion – teils unter Beteiligung einheimischer Truppen – über die jüdische Bevölkerung in den deutsch besetzten sowjetischen Gebieten hereinbrach, waren bisher kaum Nachrichten nach Genf gelangt. Unterdessen berichtete Lichtheim im Herbst 1941 von wachsenden Spannungen im Vichy-Frankreich und der zunehmenden Gewalt gegenüber der jüdischen Bevölkerung, 124 CZA, L22/44, Lichtheim an Lauterbach, 8. August 1941 (Nr. 446; Hervorhebung im Original unterstrichen). Lauterbach antwortete am 14. September: »I am inclined to agree that at this distance from the theatre of actual events, and, engrossed as we are in the solution of problems with which Palestine and its Jewry on the one side, and our World Organisation on the other, is confronted, we are sometimes apt to lose the true perspective in our attitude to the whole of the Jewish people and to its European sector in particular. It is one of the justifications in maintaining the Geneva office and one of our consolations, inadequate as they are, that we can rely on your watching the developments in Europe, keeping us informed, remaining in touch with all agencies that can be helpful and extending your assistance when and where you can.« CZA, L22/235, Lauterbach an Lichtheim, 14. September 1941 (Nr. 524).
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insbesondere im Protektorat, in Rumänien und dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien, das im Zuge des Balkanfeldzugs der Wehrmacht im Frühjahr 1941 zerschlagen wurde.125 Erschütternde Details wusste er über das Leid der jüdischen Bevölkerung in dem neuen, von der Ustaša regierten kroatischen Staat zu berichten, die »zum grössten Teil unter den abscheulichsten Bedingungen deportiert« wurde und »sich überwiegend in Zwangsarbeiterlagern, teils auf den besonders gefürchteten Salzinseln an der Küste, teils im Inneren des Landes« befand.126 Wenige Wochen später berichtete er, dass die Juden in Kroatien »beinah noch schlimmer dran [sind], als in Deutschland oder Polen«. Die Zustände in den Lagern seien »so, dass die Mehrzahl dieser unglücklichen Männer, Frauen und Kinder wahrscheinlich nicht den Aufenthalt dort überleben werden«.127 Mit äußerster Sorge verfolgte Lichtheim im Herbst die Entwicklungen im Deutschen Reich. Wie bereits die Historikerin Raya Cohen geschildert hat, reagierte Lichtheim besonders feinfühlig auf das Schicksal der deutschen jüdischen Gemeinschaft, mit der er aufgrund seiner Herkunft, seines jahrzehntelangen Engagements in deren Körperschaften und persönlicher Freundschaften tief verbunden war.128 Ab Anfang 1941 hatte sich Lichtheim darum bemüht, Reisepapiere und Gelder zu organisieren, um wenigstens den Mitarbeitern des Palästina-Amts129 und verdienten Zionisten die Ausreise aus dem Deutschen Reich nach Südamerika oder Kuba zu ermöglichen.130 Die Auswanderung aus Deutschland wurde für Vorstandsmitglieder der Reichsvereinigung allerdings bereits im Februar 1941, für leitende Mitarbeiter und Bezirksstellenleiter im August verboten und Lichtheims Anstrengungen
125 CZA, L22/235, Lichtheim an Lauterbach, 17. Oktober 1941 (Nr. 505); CZA, L22/151, Lichtheim an Linton, 10. November 1941, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 360–366. Dabei scheint ihn ein detaillierter Bericht über die im Sommer 1941 organisierten Deportationen der jüdischen Bevölkerung der Bukowina und Bessarabiens erst im Januar 1943 erreicht zu haben. Vgl. CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach 15. Januar 1943 (Nr. 958), abgedruckt in: ebd., 447 f. Zum Holocaust in Rumänien vgl. Geissbühler, Blutiger Juli. 126 CZA, L22/235, Lichtheim an Lauterbach, 17. Oktober 1941 (Nr. 505). Ausführlich zur Judenverfolgung in Kroatien: Korb, Im Schatten des Weltkriegs. 127 CZA, L22/151, Lichtheim an Lauterbach, 4. November 1941 (Nr. 526), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 355–360, hier 356. 128 Vgl. Raya Cohen, Confronting the Reality of the Holocaust, 346. 129 Das Palästina-Amt war als Berliner Vertretung der Jewish Agency für die Organisation und Durchführung der Auswanderung aus dem Deutschen Reich nach Palästina verantwortlich und wurde im April 1941 in die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) eingegliedert. Zur Arbeit der RVJD vgl. Meyer, Tödliche Gratwanderung. 130 CZA, Z4/30899, Lichtheim an Lauterbach, 31. März 1941 (Nr. 392); CZA, L22/37, Lichtheim an Nahum Goldmann, 12. Februar 1941; CZA, L22/36, Lichtheim an Goldmann, 22. Juli 1941; ebd., Goldmann an Lichtheim, 11. September 1941.
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blieben erfolglos.131 Die nun im Oktober ergriffenen antijüdischen Maßnah men – die Ausweitung des Ausreiseverbots auf die gesamte jüdische Bevölkerung des Reichs und die gleichzeitig einsetzenden, nun in großem Umfang organisierten Deportationen aus dem Reich, Österreich und dem Protektorat132 – schockierten Lichtheim aufgrund ihrer Totalität.133 Er vermutete hinter den Deportationen, denen die deutsche jüdische Bevölkerung nun nicht einmal mehr durch Ausreise entkommen konnte, eine Kombination aus Zwangsarbeit und Bevölkerungsverschiebung, die nicht auf eine »Neuordnung« jüdischen Lebens abzielte, sondern letztlich für die meisten den Tod durch Hunger, Kälte, Schmutz, Misshandlung und Epidemien bedeuten würde: »It seems to be a combined policy of using the Jews for hard labour by simultaneously expulsing them from their previous homes and deporting them to places in more Eastern Germany or Poland. […] With all these degradations added to actual starvation 131 Meyer, Der Traum von einer autonomen jüdischen Verwaltung, 36. Die meisten verbliebenen zionistischen Funktionäre wurden schließlich von den Nationalsozialisten ermordet oder begingen Selbstmord. Dabei handelt es sich um Paul Eppstein (1901–1944), Alfred Selbiger (1914–1942), Julius Schönfeld und Ehud Growalt. Eppstein war Leiter des Palästina-Amts und wurde im Januar 1943 gemeinsam mit seiner Frau, Leo Baeck (1873–1956) und weiteren Funktionären der RVJD ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Dort wurde er zum Nachfolger Jakob Edelsteins (1903–1944) als »Judenältester«. Am 27. oder 28. September 1944 wurde er in Theresienstadt erschossen. Selbiger, der für die Organisation der Jugendalija verantwortlich war, wurde im Zuge der »Gemeindeaktion« vom November 1942 verhaftet und am 3. Dezember im KZ Sachsenhausen erschossen. Vgl. dazu Gedenkstätte deutscher Widerstand, Biografien: Alfred Selbiger. Schönfeld war Leiter des Keren Kayemeth und des Keren Hayesod in Deutschland und gleichzeitig Verwaltungsdirektor des Jüdischen Krankenhauses in Berlin. Er nahm sich gemeinsam mit seiner Frau das Leben, nachdem ihm befohlen worden war, die Namen seiner Angestellten auf die Deportationslisten zu setzen. Vgl. Lester, Suicide and the Holocaust, 87. Überlebt hat Ehud Growalt, der zwischen 1940 und 1942 den He-Ḥ aluẓ in Deutschland leitete und am 20. April 1943 nach Auschwitz deportiert wurde. YVA, 01/226 (Ball-Kaduri Collection). Vgl. dazu auch Teichert, Chasak!, 484. Am 15. März 1943 meldete Lichtheim nach Jerusalem, dass nun auch die letzten Reste des deutschen Judentums verschwunden seien. Vgl. CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach, 15. März 1943 (Nr. 1016). 132 Am 23. Oktober 1941 untersagte Heinrich Himmler offiziell die Ausreise der jüdischen Bevölkerung aus dem Deutschen Reich. Ende Oktober lebten noch etwa 151 000 Jüdinnen und Juden in Deutschland. Vgl. Gruner, Von der Kollektivausweisung zur Deportation der Juden aus Deutschland (1938–1945), 54. Laut Bruno Blau befanden sich zum 1. Oktober 1941 noch etwa 163 696 Jüdinnen und Juden in Deutschland. Vgl. ders., The Last Days of German Jewry in the Third Reich, 198. Zur legalen Ausreise von Juden aus Deutschland nach 1941 vgl. Zariz, Officially Approved Emigration from Germany after 1941. Zur antijüdischen Politik im Protektorat Böhmen und Mähren vgl. Gruner, Die Judenverfolgung im Protektorat Böhmen und Mähren. 133 Auch Raya Cohen macht vor dem Hintergrund der Deportationen aus Deutschland nach Polen im Herbst 1941 einen Wendepunkt in Lichtheims Denken aus. Vgl. dies., Confronting the Reality of the Holocaust, 345 f.
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and brutal treatment, the remnants of the Jewish communities of Germany, Austria and Czechoslovakia will probably be destroyed before the war ends and not too many will survive.«134
Als Neuankömmlinge in den ohnehin überfüllten Ghettos in einem für sie fremden Land, dessen Sprache sie nicht beherrschten, erwartete die nun vertriebenen deutschen Jüdinnen und Juden – noch dazu ohne Geld, Lebensmittelreserven und Bettzeug – angesichts des nahenden osteuropäischen Winters, so sah es Lichtheim voraus, ein noch härteres Schicksal als die bereits vor Ort Lebenden.135 Von den mit den Deportationen im Zusammenhang stehenden Massentötungen, die zeitgleich im Baltikum und in Weißrussland stattfanden, um Kapazitäten für die Deportierten aus dem Reich zu schaffen, hatte Lichtheim indes zu diesem Zeitpunkt noch keine Kenntnis. Dass die Deportationen nach Osten einer eigenen Logik folgten und ideologische Motive Vorrang vor wirtschaftlichen Überlegungen hatten, schien er allerdings spätestens im Dezember 1941 zu ahnen.136 In einem Brief an Linton meldete er nicht nur, dass bereits 30 000 Jüdinnen und Juden aus dem Reich und den annektierten Gebieten nach Osten deportiert worden waren, sondern auch, dass die Deportationen trotz »erheblicher Meinungsverschiedenheiten« zwischen einerseits Partei und Gestapo, die die Deportationen bereits vorbereiteten, und andererseits Industriellen, die um den Verlust für sie wertvoller Arbeitskraft fürchteten, im Januar fortgesetzt werden sollten. Darüber, wie sich die erheblichen Rückschläge, die die deutschen Truppen bei ihrem Angriff auf Moskau im Zuge von Stalins zunächst erfolgreicher Gegenoffensive erlitten, und die weiteren militärischen Entwicklungen letztlich auf die Situation der deutschen jüdischen Bevölkerung auswirken würden, konnte Lichtheim allerdings nur spekulieren: »The turn of the tide on the Eastern front may have the effect that the expulsion of the Jews from the Reich will cease, at least temporary, owing to transport difficulties and the necessity of employing all available labour in the German factories; it may also lead to new expulsions in view of the return of many soldiers from the front to the factories; it may finally lead – and that is a tragic probability – to further persecutions and pogroms in Germany and the occupied territories if the wounded beast of prey feels that the end is near.«137
Die mit der Schlacht um Moskau verbundenen Hoffnungen auf ein schnelles Kriegsende sollten sich bekanntlich nicht erfüllen. Drei Monate später musste 134 CZA, L22/234, Lichtheim an Lauterbach, 20. Oktober 1941 (Nr. 506), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 353 f., hier 354. 135 CZA, L22/151, Lichtheim an Linton, 10. November 1941, abgedruckt in: ebd., 360–366. 136 Vgl. Raya Cohen, Confronting the Reality of the Holocaust, 350. 137 CZA, L22/151, Lichtheim an Linton, 22. Dezember 1941.
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Lichtheim seine Kollegen von einer »neuen Welle der Verfolgung« in Kenntnis setzten.138 Die alarmierenden Nachrichten über die umfangreichen Deportationen erreichten Lichtheim im Herbst vor allem aus Osteuropa und dem Gebiet des Deutschen Reichs, die von ihm antizipierten Konsequenzen dieser Maßnahmen veranlassten ihn erneut und mit Nachdruck, internationale diplomatische Initiativen zugunsten der Verfolgten zu fordern. Lichtheim, der im Zuge seiner Mission in Konstantinopel während des Ersten Weltkriegs diplomatischen Druck als durchaus wirksames Mittel der politischen Intervention kennengelernt hatte, hatte bereits zuvor immer wieder an seine Adressaten in Amerika und Großbritannien appelliert, die Öffentlichkeit über die Vorgänge in Europa zu informieren und die jeweiligen Regierungen aufzufordern, zugunsten der jüdischen Bevölkerung zu intervenieren. Anfang November 1941 riet er auch Chaim Weizmann, den Gräuelnachrichten eine möglichst große Öffentlichkeit zu verschaffen und die westlichen Alliierten und neutralen Staaten zu einer öffentlichen Verurteilung der Verbrechen zu drängen.139 Besonders irritiert zeigte er sich in diesem Zusammenhang über die Untätigkeit der westlichen Alliierten. Gegenüber Lauterbach beklagte er die »vollkommen verzweifelte Lage der europäischen Judenheit, die völlig hilflos den teuflischen Verfolgungen preisgegeben ist«, und prangerte an, »dass es auf der Welt keine Macht und keine Kraft mehr gibt, die irgendetwas Wirksames gegen alle diese Greuel unternehmen kann oder auch nur unternehmen will«.140 Äußerst kritisch beurteilte er vor allem das beharrliche Schweigen des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der in seinen öffentlichen Reden die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung unerwähnt ließ.141 Diese nicht explizit zu verurteilen, um eine weitere Eskalation zu verhindern beziehungsweise um aus Rücksicht auf den virulenten Antisemitismus in den Vereinigten Staaten den Eindruck zu vermeiden, es handle sich um einen Krieg, der im Interesse der Juden geführt würde, hielt Lichtheim für völlig verfehlt: »Great Britain and America should say: ›[…] We are neither Jews nor do we wage war for the Jews – we are battling for mankind against the enemy of mankind.‹«142 Eine ausdrückliche Verurteilung der nationalsozia-
138 CZA, L22/151, Lichtheim an Linton, 16. März 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 368 f. 139 CZA, L22/151, Lichtheim an Weizmann, 8. November 1941. 140 CZA, L22/151, Lichtheim an Lauterbach, 4. November 1941 (Nr. 526), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 355–360, hier 358. 141 Zu Roosevelts Reaktion auf den Holocaust vgl. Breitman / Lichtman, FDR and the Jews. 142 CZA, L22/151, Lichtheim an Linton, 10. November 1941, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 360–366, hier 365.
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listischen Verbrechen an den Judenheiten Europas und die erklärte Absicht der Briten und Amerikaner, die Verantwortlichen nach dem Krieg zur Rechenschaft zu ziehen, könne eventuell zumindest diejenigen Staaten, die noch nicht vollständig unter deutscher Kontrolle stehen, von einer Kollaboration beim Massenmord abhalten.143 Eine besonders starke Wirkung, so war er überzeugt, würde eine solche Erklärung vor allem bei der Vichy-Regierung haben, wogegen er das Schicksal der jüdischen Bevölkerung Deutschlands, Österreichs und des Protektorats für bereits »besiegelt« hielt.144 Dennoch sei ein Wort der Warnung seitens der Alliierten ein dringend benötigtes Zeichen der Anteilnahme und des Zuspruchs, auf das die Verfolgten in Anbetracht der Präzedenzlosigkeit der Verbrechen ein Anrecht hätten. Nach London schrieb er: »We are witnessing the most terrible persecution of the Jews which ever happened in Europe, overshadowing by its cruelty and extent even the massacres of the Armenians during the last war, which at that time provoked a storm of protest in England and America. Jews in the few remaining neutral countries and also the sufferers themselves in Germany and in the occupied countries would get at least some moral satisfaction, and certain smaller states and many millions of people would thus be reminded that moral values still exist and that they include and make imperative the condemning of this persecution of the Jews.«145
Die Exekutive der Jewish Agency entwickelte allerdings ungeachtet der Anregungen Lichtheims keine diesbezüglichen Pläne. Überhaupt befasste sich die Jewish Agency in Jerusalem im Laufe des Jahrs 1941 kaum mit der Lage der europäischen Judenheiten. Dort war man im Gegensatz zu Lichtheim noch immer der Auffassung, dass das Leiden der jüdischen Bevölkerung lediglich ein Nebeneffekt der deutschen Besatzung sei und man wenig mehr dagegen tun könne, als das Ende des Kriegs abzuwarten.146 Im Zentralkomitee der Mapai, der dominierenden politischen Kraft in den Kerninstitutionen des Jischuw einschließlich dessen höchster Exekutivkörperschaft, der Jewish Agency, wurde das Thema zwischen August 1941 und Dezember 1941 nicht ein einziges Mal diskutiert.147
143 Ebd. 144 CZA, L22/151, Lichtheim an Lauterbach, 13. November 1941 (Nr. 538). 145 CZA, L22/151, Lichtheim an Linton, 10. November 1941, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 360–366, hier 365 f. 146 Gelber, Zionist Policy and the Fate of European Jewry, 1939–1942, 191 f. 147 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 22.
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Das Sichtbarwerden des Holocaust (Januar bis Juli 1942) Zu Beginn des Jahrs 1942 wusste man in Genf noch immer nichts von dem systematischen Massenmord an den jüdischen Männern, Frauen und Kindern, der in den von Deutschland besetzten Gebieten der Sowjetunion im Herbst 1941 seinen Ausgang genommen hatte, bevor er zu einem gesamt europäischen Verbrechen wurde. In Genf trafen vor allem Informationen über die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in den Gebieten des ehemaligen Jugoslawiens sowie Rumäniens, Ungarns, Sloweniens und den westeuropäischen Staaten ein. Aus dem Deutschen Reich und dem Protektorat Böhmen und Mähren hatte man dagegen nur wenig Nachricht.148 Auch Meldungen über in die deutsch besetzten Gebiete deportierten Jüdinnen und Juden waren schwer zu erhalten. Dies gelang meist nur über Verbindungen zu den jeweiligen Untergrundbewegungen. Informationen zur wirklichen Dimension und der Planmäßigkeit, mit der die Nationalsozialisten zu agieren begonnen hatten, erreichten Genf nur sehr langsam. Für die außenstehenden Beobachter setzte sich das Bild gewissermaßen aus Puzzleteilen unzusammenhängender, zum Teil widersprüchlicher oder ganz und gar falscher Informationen und erst mit erheblicher Verzögerung zusammen. Über das, was Lichtheim über die nationalsozialistische Verfolgungs- und Vernichtungspolitik bekannt war beziehungsweise was er zu erkennen meinte, informierte er unablässig die Büros der Jewish Agency in London, New York und Jerusalem. So berichtete er im Februar über die bereits im Vorjahr erfolgte Deportation mehrerer Hundert holländischer Juden nach Mauthausen, wo sie Schwerstarbeit verrichten mussten und innerhalb von nur wenigen Wochen den Tod fanden; von einer großen Anzahl polnischer Jüdinnen und Juden, die auf Drängen Hitlers von der ungarischen Regierung ausgewiesen und in der Ukraine von Maschinengewehr-Kommandos hingerichtet worden waren; dem »rumänischen Schlachthaus«, in dem 90 000 jüdische Menschen brutal ermordet worden waren; von 30 000 kroatischen Jüdinnen und Juden, die sich unter der Herrschaft von Ante Pavelićs Ustaša in Arbeitslagern »zu Tode gearbeitet« hatten; von der vollständigen »Auslö-
148 Den abgerissenen Kontakt ins Ghetto Litzmannstadt erklärte Lichtheims Mitarbeiter Ullmann gegenüber Lauterbach mit dem Ausbruch »zahlreicher epidemischer Krankheiten«. Postsendungen könnten »wegen Seuchengefahr« nicht zugestellt werden. Vgl. CZA, L22/14, Fritz Ullmann an Lauterbach, 10. Februar 1942. Tatsächlich wurden Zehntausende der in Łódź ghettoisierten Jüdinnen und Juden zwischen Januar und Mai 1942 in das Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno nad Nerem) deportiert und dort umgebracht. Genaue Zahlen sind zu finden hier: Rotbein Flaum, Lodz Ghetto Deportations and Statistics (2007).
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schung« der jüdischen Gemeinschaft Serbiens, »die keinen einzigen Juden in Belgrad übrig« gelassen habe.149 Selbst ohne das Wissen um das systematische Morden der Einsatzgruppen in den sowjetischen Gebieten und die ab Ende 1941 etablierten Vernichtungslager fiel Lichtheims Prognose im Februar 1942 außerordentlich düster aus. »The number of our dead after this war will have to be counted not in thousands or hundredthousands [sic] but in several millions and it is difficult to imagine how the surviving will ever be able to return to a normal way of life. That they have been robbed of their possessions and that most of them will be destitute is less important than the fact that they have been tortured physically and mentally for many years and this must leave traces which during the life-time of this generation cannot be effaced.«150
Meldungen dieser Art waren Anfang 1942 eine seltene Ausnahme. Lichtheim sprach nicht nur von Millionen jüdischer Todesopfer, einer zu diesem Zeitpunkt geradezu irreal erscheinenden Zahl, sondern auch von den traumatischen Folgen, die der Naziterror langfristig auch auf jene haben werde, die ihn letztlich überleben würden. Als einer der wenigen außenstehenden Beobachter begann Lichtheim bereits in den Wintermonaten 1941/42 zu ahnen, dass es den Nationalsozialisten um weit mehr ging als um Deportation, Ghettoisierung und Heranziehung der jüdischen Bevölkerung zur Zwangsarbeit und dass das massenhafte Sterben der jüdischen Bevölkerung nicht einfach nur eine beiläufige, durch den Krieg bedingte Folge der deutschen Besatzung war, sondern sich dahinter Methode verbarg. Anfang März informierte er Jerusalem über den Befehl Reinhard Heydrichs, Leiter des RSHA und Stellvertretender Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, die gesamte jüdische Bevölkerung des Protektorats nach Theresienstadt zu deportieren, die zu diesem Zeitpunkt noch rund 70 000 Personen umfasste. Angesichts der geringen Kapazitäten des Lagers und der unzureichenden Versorgungs- und Ernährungslage prognostizierte er, dass die Deportierten dort langsam verhungern würden, ähnlich wie die jüdische Bevölkerung in den Ghettos von Warschau und Łódź. In diesem Zusammenhang äußerte er erstmals die Vermutung, dass hinter dem Vorgehen der Nationalsozialisten systematische Absichten steckten. In einem Bericht an
149 CZA, L22/151, Lichtheim an Lourie, 11. Februar 1942; ebd., Lichtheim an Lauterbach, 26. Februar 1942 (Nr. 630). Die Informationen bezüglich Kroatien erreichten Lichtheim u. a. von Joseph Indig, dem Leiter eines Kinderheims in Ljubljana, der sowohl mit Zagreb als auch mit Genf in Kontakt stand, sowie Richard Cohen, dem ehemaligen Leiter des Palästina-Amts in Zagreb, der sich nach Ljubljana retten konnte. Vgl. CZA, L22/151, Joseph Indig an Lichtheim, 20. Dezember 1941; ebd., Joseph Indig an Lichtheim, 9. Januar 1942; CZA, L22/14, Lichtheim an Lauterbach, 5. März 1942 (Nr. 635). 150 CZA, L22/151, Lichtheim an Lourie, 11. Februar 1942.
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Lauterbach mutmaßte er: »This scheme is probably part of the Nazi plan to destroy the Jews in Greater Germany before the war is finished.«151 Vor dem Hintergrund der Deportationen nach Theresienstadt und der Verpflichtung der männlichen jüdischen Bevölkerung Rumäniens und Ungarns zur Zwangsarbeit kabelte Lichtheim Mitte März schließlich an Linton in London, dass »eine neue Welle der Verfolgung über Europa hinwegfegt«.152 Mittlerweile hatte er auch Kenntnis von der Absicht der Nationalsozialisten erlangt, die gesamte, 90 000 Personen umfassende jüdische Bevölkerung der Slowakei zu deportieren. Erste Verschleppungen seien bereits erfolgt.153 Mittlerweile überzeugt, dass über kurz oder lang die gesamte jüdische Bevölkerung im nationalsozialistischen Herrschaftsbereich deportiert werden würde, verlangte er erneut, die Alliierten sollten sich mit Warnungen und Protesten über die BBC an die Öffentlichkeit wenden. Auch müsse man mit dem Vatikan, in dessen wirksamen Einfluss er große Hoffnungen setzte, Kontakt aufnehmen, um mindestens die streng katholische Regierung der Slowakei von der Deportation ihrer jüdischen Bevölkerung abzuhalten.154 In dem Irrglauben, der Vatikan schweige sich aus Gründen mangelnder Informationen aus und es genüge, an das Gewissen der Welt zu appellieren, um den nationalsozialistischen Verbrechen ein Ende zu setzen, nutzte Lichtheim selbst – ohne das Einverständnis der Exekutive der Jewish Agency abzuwarten – die diplomatischen Kontakte, die sich ihm in der Schweiz boten, und wandte sich an den päpstlichen Nuntius Filippo Bernardini (1884–1954) in Bern. In der Hoffnung, die Politik in den noch nicht von der Wehrmacht besetzten Ländern wie der Slowakei, Kroatien, Ungarn, Rumänien und VichyFrankreich könne durch einen Protest des Heiligen Stuhls beeinflusst werden, besprach sich Lichtheim gemeinsam mit dem Genfer Vertreter des World Jewish Congress, Gerhart M. Riegner, und dem Präsidenten des Schwei zerischen Israelitischen Gemeindebunds, Saly Mayer, am 17. März 1942 mit Bernardini in Bern.155 Nach der Unterredung übergaben Lichtheim und 151 CZA, L22/151, Lichtheim an Lauterbach, 4. März 1942 (Nr. 633), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 366 f., hier 367. 152 CZA, L22/151, Lichtheim an Linton, 16. März 1942, abgedruckt in: ebd., 368 f. 153 Ab Februar 1942 wurde mit den Vorbereitungen für die Deportation der slowakischen jüdischen Bevölkerung begonnen; der erste Transport in Richtung Auschwitz verließ die Slowakei am 26. März 1942. Bis Oktober 1942 wurden 60 000 Jüdinnen und Juden nach Auschwitz und Lublin deportiert, nach einer Phase relativer Ruhe weitere 13 500 zwischen Oktober 1944 und März 1945. Zum Holocaust in der Slowakei vgl. Rothkirchen, The Destruction of Slovak Jewry. 154 CZA, L22/151, Lichtheim an Linton, 16. März 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 368 f. 155 Interessanterweise informierte Lichtheim die Büros der Jewish Agency erst zwei Tage nach dem Zusammentreffen mit Bernardini über die unternommenen Schritte. Vgl. CZA, L22/150, Lichtheim an Linton, Lourie, Montor, Lauterbach (Nr. 649), 19. März 1942, ab-
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Riegner dem Nuntius ein zusammenfassendes Memorandum zur Lage der jüdischen Bevölkerungen in den Ländern West-, Mittel- und Südosteuropas, das zusätzlich zu den bereits zuvor an die Exekutive der Jewish Agency übermittelten Informationen über das von den Nationalsozialisten etablierte Ghetto- und Lagersystem die Exekutionen »Tausende[r] von Juden in Polen und den von Deutschland besetzten Gebieten Russlands« durch deutsche und rumänische Truppen erwähnte.156 Bernardini informierte sie kurze Zeit später darüber, dass der Heilige Stuhl bei den slowakischen Behörden bereits Schritte unternommen habe, um die jüngsten gegen die jüdische Bevölkerung ergriffenen Maßnahmen aufzuheben.157 In der Tat protestierten Papst Pius XII. und der apostolische Legat in Bratislava, Giuseppe Burzio (1901–1966) im Laufe des Kriegs mehrfach bei Staatspräsident Jozef Tiso (1887–1947) und Premierminister Vojtech Tuka (1880–1946).158 Tatsächliche Einflüsse der päpstlichen Interventionen auf die Politik der slowakischen Regierung gegenüber der jüdischen Bevölkerung konnten allerdings bisher nicht nachgewiesen werden. Auch die Wirkung der Initiative Lichtheims und Riegners auf das Vorgehen des Vatikans ist eher fraglich. Einzelheiten zum Massenmord waren dem Vatikan bereits ab Beginn des Jahrs 1942 bekannt.159 Zudem verfügte der Vatikan mit Burzio über eine verlässliche Informationsquelle in Bratislava. Dieser hatte Rom bereits am 9. März 1942 telegrafisch darüber informiert, dass 80 000 Jüdinnen und Juden aus der Slowakei deportiert werden sollen.160 Letztlich wurden zwischen gedruckt in: ebd., 369–377. Zuvor hatte er wiederholt den möglichen Einfluss des Vatikans auf die katholisch geprägten Länder zur Sprache gebracht und seine Kollegen zu entsprechenden Schritten aufgefordert. Vgl. CZA, L22/151, Lichtheim an Linton, 16. März 1942, abgedruckt in: ebd., 368 f.; CZA, L22/14, Lichtheim an Linton, Lourie, Montor, 16. März 1942. In London wandte man sich daraufhin ebenfalls an den dortigen Vertreter der katholischen Kirche. CZA, L22/150, Linton an Lichtheim, 30. März 1942. 156 Zit. nach Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich, 101–105. Das französischsprachige Original liegt hier: CZA, L22/150, Lichtheim / Riegner an Filippo Bernardini, 18. März 1942, und ist abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 372–377. 157 CZA, L22/150, Bernardini an Lichtheim, 2. April 1942. Am 26. März 1942 hatte der Kardinalstaatssekretär des Heiligen Stuhls, Luigi Maglione (1877–1944), den slowakischen Gesandten im Vatikan, Karol Sidor (1901–1953), einbestellt und ihn aufgefordert, seine Regierung um den Stopp der geplanten Deportationen zu ersuchen. Lichtheim und Riegner gingen davon aus, dass die tatsächlich erfolgte Intervention ein Resultat der von ihnen gemachten Eingabe war und forderten Bernardini zu erneuter Intervention auf. CZA, L22/150, Lichtheim an Lauterbach (Nr. 666), Linton, Lourie, Montor, Riegner, 8. April 1942; L22/150, Lichtheim an Bernardini, 8. April 1942. 158 Hesemann, Der Papst und der Holocaust, 288–300; Rothkirchen, Vatican Policy and the »Jewish Problem« in »Independent« Slovakia (1939–1945). 159 Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, 846. 160 Das Telegramm ist abgedruckt in: Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945 (VEJ), Bd. 13: Slowakei, Rumänien, Bulgarien, 212 f.
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Ende März und Oktober 1942 rund 58 000 Personen verschleppt, bevor es zu einer Phase relativer Ruhe kam, die bis August 1944 anhalten sollte.161 Sie wurden jedoch nicht, wie von Riegner und Lichtheim zunächst angenommen, in Arbeitslager nahe der ehemaligen polnischen Grenze deportiert. Ziele der Deportationen aus der Slowakei waren neben Lublin die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor. Im Mai klärte er Jerusalem über diesen Irrtum auf, allerdings mit der Einschränkung, dass er keine Informationen darüber habe, was mit den Deportierten geschehe.162 Das Vernichtungslager Auschwitz war für Lichtheim und Riegner zu diesem Zeitpunkt noch ein gänzlich unbekannter Ort. Die Deportation der slowakischen Jüdinnen und Juden erfolgte zeitgleich mit der Ermordung der jüdischen Bevölkerung des Generalgouvernements und der nach Osten deportierten jüdischen Bevölkerung aus anderen Teilen Europas. Ende März verließen erste Transporte Frankreich in Richtung Osten. Ende April erfuhr man in Genf davon, dass auch die Deportationen aus dem Deutschen Reich und den annektierten Gebieten in den letzten Monaten fortgesetzt wurden.163 Nachrichten über das Ergehen der Verschleppten gelangten nur zufällig und über Umwege nach Genf, da direkter Briefverkehr mit den Deportierten kaum möglich war.164 Die immer neuen Meldungen über Massendeportationen aus den von Deutschland kontrollierten Gebieten, die Genf im Laufe des Frühjahrs 1942 erreichten, lieferten jedoch erste Hinweise auf den übergreifenden deutschen Vernichtungsplan. Nach der Erschießung jüdischer Geiseln in Paris und der Deportation der jüdischen Bevölkerung auch aus dem unbesetzten Teil Frankreichs war sich Lichtheim sicher, dass »natürlich eine Strategie hinter diesem neuen System, nur die Juden zu ermorden«, stand und sprach von einer »bewussten Politik der Vernichtung der Juden«.165 Im Mai schätzte er, dass diese Politik im Laufe des Kriegs zwei bis drei Millionen Todesopfer fordern und eine ähnlich hohe Anzahl an jüdischen Geflüchteten hervorbringen werde.166 Einen Monat später war sich Lichtheim schließlich sicher, dass die Deportationen einen doppelten Zweck erfüllten, nämlich die Beseitigung der jüdischen Bevölkerung aus den von den Nationalsozialisten kontrollierten
161 Die Gründe für den Deportationsstopp waren vorrangig innenpolitischer und wirtschaftlicher Natur. Vgl. dazu ausführlich ebd., 38–40. 162 CZA, L22/150, Lichtheim an Lauterbach, 13. Mai 1942 (Nr. 710), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 377–380. 163 CZA, L22/150, Lichtheim an Lauterbach, 20. April 1942 (Nr. 683). 164 CZA, L22/13, Lichtheim an Lauterbach, 22. Juli 1942 (Nr. 775). 165 CZA, L22/150, Lichtheim an Linton, Lourie, Montor, Lauterbach (Nr. 721), 20. Mai 1942. 166 CZA, L22/150, Lichtheim an Linton, Lourie, Montor, Lauterbach (Nr. 726), 29. Mai 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 380 f.
Das Sichtbarwerden des Holocaust
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Gebieten einerseits und die Eingliederung in das System der Zwangsarbeit andererseits. Beides ziele letztlich auf die physische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung ab: »Einmal sollen Deutschland, Österreich, Tschechei und nach ihrem Vorbild Vasallenstaaten wie Kroatien und Slowakei ›Judenrein‹ gemacht werden. Das bedeutet Vertreibung, Verschickung und häufig direkte oder indirekte Tötung durch Hunger oder noch kürzere Methoden. Gleichzeitig wird aber der Versuch gemacht den arbeitsfähigen Teil der jüdischen Bevölkerung, insbesondere also alle jüngeren Männer, zu Zwangsarbeiten zu verwenden.«167
Vor dem Hintergrund der umfassenden Deportationen aus Frankreich, Belgien, Holland und Österreich168 schätzte er im August, dass zwischen vier und fünf Millionen Jüdinnen und Juden dem nationalsozialistischen Vernichtungskrieg zum Opfer fallen würden.169 Zur gleichen Zeit musste er Jerusalem darüber informieren, dass die Möglichkeiten der Hilfsorganisationen, irgendetwas zur Linderung der Leiden der jüdischen Bevölkerung beizutragen, aus finanziellen und politischen Gründen immer geringer wurden.170 Die einzige reale Chance auf Rettung sah Lichtheim nurmehr in einem schnellen Ende des Kriegs. Hier zeigte er sich für seine Verhältnisse ungewöhnlich optimistisch. Massive alliierte Luftangriffe auf deutsche Städte, so seine Überzeugung, würden der Kriegsindustrie wie auch der Moral der deutschen Bevölkerung erheblichen Schaden zufügen, sodass der Krieg noch vor Ende des Jahrs gewonnen werden könne.171
167 CZA, L22/150, Lichtheim an Lauterbach, 22. Juli 1942 (Nr. 774), abgedruckt in: ebd., 382–384, hier 383. 168 CZA, L22/150, Lichtheim an Linton / Lauterbach, 7. August 1942 (Nr. 791). Am 6. August 1942 erreichte Lichtheim ein Augenzeugenbericht über die Razzien und Massenverhaftun gen vornehmlich der nichtfranzösischen jüdischen Bevölkerung im besetzten Teil Frankreichs, die in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli stattgefunden hatten, sowie die Information, dass auch aus dem unbesetzten Teil Frankreichs 10 000 Jüdinnen und Juden an die deutschen Behörden zur Deportation überstellt werden sollten. Die Abschrift des Berichts leitete er am 10. August 1942 nach Jerusalem weiter. Vgl. CZA, L22/3, Lichtheim an Lauterbach, 10. August 1942 (Nr. 792), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 385–389. 169 CZA, L22/150, Lichtheim an Linton, 13. August 1942. In der internationalen Presse hingegen kursierten Ende Juni / Anfang Juli 1942 Berichte, die von einer Million ermordeter Jüdinnen und Juden sprachen. Vgl. Lipstadt, Beyond Belief, 162–168. 170 CZA, L22/3, Lichtheim an Lauterbach, 3. August 1942 (Nr. 787). 171 CZA, S25/1581, Lichtheim an Goldmann, 15. Juni 1942; CZA, L22/149, Lichtheim an Linton, 28. September 1942.
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Versuche jüdischer Diplomatie während des Holocaust (1939–1946)
Vermittlung und Akzeptanz der Vernichtungsrealität (August bis Dezember 1942) Als man Anfang August im englischen Unterhaus über den Einsatz jüdischer Einheiten innerhalb der britischen Armee diskutierte, berührte man dort auch andere Problemfelder wie die Frage der Umsiedlung der vertriebenen Jüdinnen und Juden in der Nachkriegszeit. Ein Abgeordneter sprach von sieben, ein anderer gar von neuneinhalb Millionen vertriebener Jüdinnen und Juden, die nach dem Krieg einer neuen Heimat bedürften. Schätzungen, die für Lichtheim Beweis genug waren, dass »die Menschen in England nicht wissen, was in Europa vor sich geht«.172 Empört über die realitätsferne Einschätzung der Lage, machte er am 27. August 1942 gegenüber Linton in London noch einmal nachdrücklich deutlich, dass nach seinen Schätzungen die Nationalsozialisten bereits vier Millionen Jüdinnen und Juden in Konti nentaleuropa ermordet hätten oder noch ermorden würden und davon auszugehen sei, dass nicht mehr als zwei Millionen einen Chance haben würden, den Krieg zu überleben. In Genf wisse man nun, dass die Deportationen früher oder später den Tod bedeuteten. Die Deportierten würden »zu Tode gehungert, in den Ghettos oder Arbeitslagern, ausgeraubt, auf tausend verschiedene Wege geschunden oder ermordet«. Es sei ein schonungsloser Prozess der Vernichtung im Gange und Hoffnungen, eine nennenswerte Anzahl zu retten, gäbe es keine mehr: »I know that you cannot do anything about it, but it is my melancholy duty to keep you informed and to correct the figures on which many people in England – Jews and Gentiles – are basing their well-meant but futile post-war policy of ›resettlement of dispossessed Jews.‹«173
Der Grund für Lichtheims Gewissheit war die Zeugenaussage eines Polen, die ihn bereits Mitte August erreicht hatte und Details enthielt, die alle bisher bekannten Informationen über die nationalsozialistischen Gräueltaten weit übertrafen. Am 14. August hatte ein nichtjüdischer Pole nach seiner Ankunft in der Schweiz der Gesandtschaft der polnischen Exilregierung in Bern ausführlich die Massentötung der jüdischen Bevölkerung Lembergs und Warschaus sowie anderer deutsch besetzter Orte Polens und Litauens geschildert.174 Der Bericht enthielt einige Angaben, die sich letztlich als fehler 172 CZA, L22/149, Lichtheim an Linton, 27. August 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 390–392, hier 391. 173 Ebd., 392. 174 Der Bericht wurde einem Brief an die zionistischen Büros in Jerusalem, London und New York angehängt: CZA, L22/149, Lichtheim an Linton, Lourie, Montor, Lauterbach (Nr. 802), 30. August 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf,
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haft herausstellen sollten, wie beispielsweise die Behauptung, die Leichen der Ermordeten würden zur Herstellung von Dünger und Fettprodukten wie Seife genutzt, oder die Meldung, die gesamte nichtjüdische Bevölkerung Sewastopols sei getötet worden.175 In seiner Grundaussage erwies sich der Bericht allerdings als korrekt. Der Augenzeuge berichtete über die systematische Ermordung der Judenheiten Europas in speziell dafür errichteten Lagern in Osteuropa und verwies mit Belzec176 auf eine der zentralen Stätten der Vernichtung. Die jüdische Bevölkerung würde, um im Ausland kein Aufsehen zu erregen, zunächst in den Osten deportiert und dort schließlich umgebracht. Der Zeuge gab an, dass die jüdische Bevölkerung in den östlich von Polen gelegenen Gebieten einschließlich der besetzten Teile Russlands bereits vollständig verschwunden sei. Auch die nach Theresienstadt Deportierten würde über kurz oder lang dasselbe Schicksal ereilen – das von den Nationalsozialisten als »Musterghetto« propagierte Lager sei lediglich eine Zwischen station auf dem Weg in die Vernichtungslager im Osten. Selbst dem zutiefst
392–397. Er ist nicht unterschrieben, wurde aber sehr wahrscheinlich von Juliusz Kühl (1913–1985) angefertigt, der in der polnischen Gesandtschaft in Bern arbeitete. Vgl. Raya Cohen, A Test of Jewish Solidarity, 218, Fn. 48. 175 Das Gerücht, aus menschlichen Leichen würde Seife hergestellt, kam erstmals gegen Ende des Ersten Weltkriegs als Propaganda der Entente auf, die dem Kaiserreich vorwarf, gefallene Soldaten zu Seife zu verarbeiten. Unmittelbar nach dem deutschen Angriff auf Polen im September 1939 wurde es wiederbelebt und kursierte unter der dortigen Bevölkerung. Vor dem Hintergrund massenhafter Deportationen der jüdischen Bevölkerung fand es ab Anfang 1942 europaweit Verbreitung, auch unter Nichtjuden. Weiter befeuert wurde das Gerücht, als man gegen Ende des Kriegs entdeckte, dass im von Rudolf Spanner (1895–1960) geleiteten Anatomischen Institut der Medizinischen Akademie in Danzig in den letzten Kriegsmonaten Experimente zur Herstellung von Seife aus menschlichen Körpern durchgeführt wurden. Die dafür verwendeten Leichen stammten wahrscheinlich von nichtjüdischen Kriegsgefangenen aus dem nahen KZ Stutthof. Die industrielle Produktion von Seife und Dünger aus Leichen jüdischer Menschen ist dagegen nicht belegt. Nach dem Krieg wurde das Gerücht v. a. von Überlebenden kolportiert und tauchte immer wieder in der Diskussion um die Gräueltaten der Nationalsozialisten auf. Deborah Lipstadt und Yehuda Bauer haben bereits in den 1980er und 1990er Jahren versucht, die Gerüchte einzuordnen. Vgl. dazu Deborah Lipstadt, Nazi Soap Rumor During World War II, in: Los Angeles Times, 16. Mai 1981, 42; Yehuda Bauer, To the Editor of the Jerusalem Post, in: Jerusalem Post, 29. Mai 1990, 4, (3. April 2023). Zu den Experimenten in Danzig vgl. Neander, The Danzig Soap Case. Vgl. auch Angrick, »Aktion 1005«, hier Bd. 2, 1077–1082. Hingegen ist die Verwendung von Menschenasche als Düngemittel in einzelnen Fällen belegt. 176 Das Lager beim polnischen Dorf Bełżec war vor Sobibor und Treblinka das erste der drei im Zuge der »Aktion Reinhardt« etablierten Vernichtungslager, die allein zur physischen Vernichtung hauptsächlich der jüdischen Bevölkerung bestimmt waren. Zwischen März und Dezember 1942 wurden hier rund eine halbe Million Menschen ermordet. Zu den Lagern der »Aktion Reinhardt« vgl. Lehnstaedt, Der Kern des Holocaust; Berger, Experten der Vernichtung.
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pessimistischen Lichtheim erschien dieser Bericht als so ungeheuerlich, dass er ihn erst am 30. August nach einigem Zögern und einer Bestätigung durch andere Quellen nach Jerusalem, London und New York übermittelte und in einer angefügten Notiz versicherte: »In fact, I believe the report to be true and quite in line with Hitler’s announcement that at the end of this war there will be no Jews in Continental Europe.«177 Lichtheims düsterste Befürchtungen schienen sich im August 1942 bewahrheitet zu haben. Tags darauf schickte er einen zusammenfassenden Bericht über die systematischen Methoden der Nationalsozialisten hinterher. Seine Vermutung eines generellen Plans sah er nun hinlänglich bestätigt: »It is all in line with what we have seen during the last years, months and weeks in Germany and German-controlled Europe: It starts with anti-Jewish legislation and all sorts of vexations, with the taking of hostages and concentration-camps. Then comes the arrest and deportation to Poland of certain groups – foreign or stateless Jews first – and finally of the whole Jewish population. […] it is quite clear now that anti-Jewish legislation and slave-labour are only the first stage while the end will be deportation to Poland and again from the ghettos of Poland to places further East where the Jews are already disappearing in large numbers. […] All these happenings in Roumania, Bulgaria, and France confirm the impression conveyed in my previous reports that there is a general plan behind these measures to deport and destroy the Jews all over Europe.«178
Die Tragweite dieser Informationen wurde in Jerusalem zu diesem Zeitpunkt noch nicht verstanden. Dort stand man vor allem unter dem Eindruck der eigenen Bedrohung durch die Offensive deutscher Truppen in Nordafrika, deren langfristiges Ziel es war, über Ägypten und den Suezkanal nach Vorderasien und Indien vorzustoßen. Bis Ende Juni 1942 war es der von Generalfeldmarschall Erwin Rommel befehligten Panzerarmee gelungen, nach El Alamein vorzudringen und damit dem Jischuw gefährlich nahe zu kommen. Auch wenn der Vormarsch vorerst durch die Briten aufgehalten werden konnte, war die Sorge um die europäischen Judenheiten für die Leitung in Jerusalem im Sommer 1942 nur von zweitrangiger Bedeutung. Auch in Washington und London zogen Lichtheims Berichte keine Reaktionen nach sich, was Lichtheim im September zumindest gegenüber Linton kritisierte: »I am still under the impression that the Jewish organisations in England and USA should have done much more on previous occasions to inform the public, the press
177 CZA, L22/149, Lichtheim an Linton, Lourie, Montor, Lauterbach (Nr. 802), 30. August 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 392–397, hier 393. 178 CZA, L22/149, Lichtheim an Lauterbach (Nr. 807), Linton, Lourie und Montor, 31. August 1942, abgedruckt in: ebd., 397–401 (Hervorhebung durch die Autorin).
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and the leading statesmen of what is happening to the Jews of Europe.«179 Obwohl es mit dem Bund-Report bereits Anfang Juni zuverlässige Berichte über das Morden in Polen gegeben hatte, blieben die Berichte Lichtheims nicht nur folgenlos, ihnen wurde teilweise mit Zweifel und Unglauben begegnet.180 Yitzhak Grünbaum, Mitglied der Exekutive in Jerusalem, fand den Augenzeugenbericht »schwer zu glauben«.181 Auch Leo Lauterbach zeigte sich »nicht geneigt, alle Behauptungen für bare Münze zu nehmen«, und hatte, »ohne das Gegenteil beweisen zu können, starke Zweifel an der Richtigkeit der enthaltenen Feststellungen«. Für Lichtheim hatte er den guten Rat, er müsse »aus der Erfahrung lernen, zwischen der Wirklichkeit, grausam wie sie ist, und Produkten einer von berechtigter Furcht gequälten Phantasie zu unterscheiden«; er solle »keiner Flüsterpropaganda glauben, ohne in der Lage zu sein, den Wahrheitsgehalt festzustellen«.182 Gegenüber den aus Jerusalem vorgebrachten Zweifeln an der Richtigkeit seines Reports vom 30. August rechtfertigte sich Lichtheim und betonte, es sei für ihn in Genf unmöglich, die Augenzeugenberichte der Geflüchteten vollständig zu verifizieren, da es keinem Beobachter gestattet sei, sich den Orten des Geschehens zu nähern. Allein die schiere Fülle ähnlicher Berichte von verschiedenen Gewährsleuten wie deutschen Militärs, lokalen polnischen Beamten, noch operierenden jüdischen Hilfsorganisationen oder im Versteck lebenden Jüdinnen und Juden ließen aus seiner Sicht jedoch keinen Zweifel daran, »dass die bewusste Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Polen nicht nur in Betracht gezogen wird, sondern bereits in vollem Gange ist«.183 Waren Lichtheims bisherige Vorhersagen über den Verlauf des Kriegs auch bemerkenswert genau gewesen und entsprechend rezipiert worden, so hinterließen seine Berichte über den Massenmord im Sommer 1942 in Jerusalem zunächst keinen großen Eindruck. Sie wurden zwar gelesen, wirklich ver179 CZA, L22/149, Lichtheim an Linton, 15. September 1942, abgedruckt in: ebd., 407–410, hier 407. 180 Bereits Anfang Juni 1942 veröffentlichte die Polnische Exilregierung in London einen Bericht, den sie Ende Mai vom Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund (Bund) aus Warschau erhalten hatte. Dieser beschrieb das systematische Morden der Nationalsozialisten in Polen, erwähnte Vergasungen im Vernichtungslager Kulmhof (Chełmno nad Nerem) und einen organisierten Plan zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Die Opferzahl wurde auf 700 000 beziffert. Am 2. Juni sendete die BBC Auszüge aus dem Bericht. Vgl. Bauer, »When did They Know?«, 52. 181 Zitiert aus der ausführlichen Antwort Lichtheims, die am 8. Oktober 1942 folgte. CZA, L22/3, Lichtheim an Yitzhak Grünbaum, 8. Oktober 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 427–432, hier 478. 182 Lauterbach an Lichtheim, 28. September 1942, zit. nach Laqueur, Was niemand wissen wollte, 223 f. 183 CZA, L22/3, Lichtheim an Grünbaum, 8. Oktober 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 427–432, hier 431.
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standen wurden sie indes nicht. Es folgte weder eine Veröffentlichung noch eine politische Intervention. Eine Ausnahme unter Lichtheims Leserschaft stellte der Präsident des United Palestine Appeal, Henry Montor, in New York dar, der keinen Zweifel an der Zuverlässigkeit der Berichte zu hegen schien. Sichtlich schockiert versicherte er Lichtheim: »I want to acknowledge with more than casual appreciation the series of letters and reports which I have had from you on the swift developments in the various European countries. I know of no other source from which one can obtain so startling and depressing a picture of the rapidity with which hundreds of thousands of Jews are perishing without a murmur on the part of the civilized world.«184
Im September und Oktober sandte Lichtheim in rascher Folge weitere Nachrichten über den Massenmord an die Büros der Exekutive der Jewish Agency, die Umfang und Tempo der Vernichtung deutlich machten und die Skeptiker von der Richtigkeit seiner Prognose überzeugen sollten: Am 3. September übermittelte er einen Bericht über die Deportationen aus dem unbesetzten Teil Frankreichs, der seinen Eindruck bestätigte, dass »es nicht um die Beschaffung von Arbeitskräften, sondern einfach die Tötung der Deportierten« gehe.185 Wenig später informierte er Jerusalem, dass bereits 10 000 Juden aus dem unbesetzten Teil Frankreichs deportiert worden seien und die Transporte weitergingen.186 Am 26. September kabelte er an Linton, dass die Ghettos Warschau und Łódź bis auf wenige Ausnahmen nahezu leer seien, und drängte erneut auf Intervention.187 Drei Tage darauf unterrichtete er Jerusalem, dass die »totale Vernichtung der jüdischen Gemeinden in Belgien und Holland nahezu vollendet« sei. Die Deportierten würden entweder bereits auf dem Weg Richtung Osten sterben oder erschossen, sobald sie die deutsche Grenze erreichten. Ähnliche Berichte seien auch von den Deportationen aus Vichy-Frankreich bekannt. Pogrome und Massenerschießungen im Zusammenhang mit den Deportationen seien durch verschiedene Quellen bestätigt.188 Anfang Oktober 1942 folgten erstmals detaillierte Informationen aus Lettland. Nachrichten aus den baltischen Staaten waren bisher nur vereinzelt und sehr verzögert in Genf eingetroffen und besonders schwer zu verifizieren, da kein direkter Post- oder anderweitiger Verkehr bestand. Illusionen über das
184 CZA, L22/3, Montor an Lichtheim, 29. September 1942. 185 CZA, L22/149, Lichtheim an Linton, Lourie, Montor, Lauterbach (Nr. 813), 3. September 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 401–406, hier 403. 186 CZA, L22/149, Lichtheim an Lauterbach, 8. September 1942 (Nr. 820). 187 CZA, L22/3, Lichtheim an Linton, 26. September 1942. 188 CZA, L22/3, Lichtheim an Lauterbach, 29. September 1942 (Nr. 837), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 410–412.
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Schicksal der baltischen Judenheiten hatte man in Genf indessen nicht. Lange hatte man dort geahnt, dass deren Behandlung nicht weniger grausam ausfiel als die der polnischen Jüdinnen und Juden, was nun durch den Medizinstudenten Gabriel Zivian (1923–2002) bestätigt wurde, dem die Flucht in die Schweiz gelungen war.189 Zivian berichtete von den Massenerschießungen in Lettland im Sommer 1941, der Errichtung des Rigaer Ghettos, dessen Bewohner zur Zwangsarbeit herangezogen wurden, der Ankunft der dorthin deportierten deutschen Jüdinnen und Juden und schließlich den Hinrichtungen im Dezember desselben Jahrs. Nach dem Schicksal des jüdischen Historikers Simon Dubnow befragt, äußerte Zivian die Vermutung, dass auch dieser nicht mehr am Leben sei.190 Die in den Sommermonaten 1942 in Genf eintreffenden Berichte hatten Lichtheim erkennen lassen, dass sich die Politik der Nationalsozialisten von chaotischer, zum Teil improvisierter Verfolgung hin zur systematischen Ermordung der jüdischen Bevölkerung entwickelt hatte. In einem Bericht an Lauterbach Mitte Oktober, in dem er die Entwicklungen der letzten Wochen zusammenfasste, informierte er Jerusalem schließlich, dass man in Genf nun genügend Material zusammengetragen habe, das beweise, dass die Deportationen aus dem Deutschen Reich, Österreich und den westeuropäischen Staaten in das Generalgouvernement und die Deportationen innerhalb Polens nicht so sehr mit einem Bedarf der Deutschen an Arbeitskraft zusammenhingen, sondern dass hinter diesen Maßnahmen ein Plan zur sofortigen Vernichtung einer möglichst großen Anzahl jüdischer Menschen stehe. Habe es sich bei den Pogromen und Massenhinrichtungen zunächst um »lokale« Initiativen gehandelt, so seien die Nationalsozialisten mittlerweile dazu übergegangen, sämtliche Jüdinnen und Juden, derer sie habhaft werden konnten, in den Osten zu deportieren und dort zu ermorden.191 Lichtheim, der in den ersten Kriegsjahren die nationalsozialistische Politik immer wieder in ihrer gewalttätigen, sich ständig radikalisierenden Dynamik beschrieben hatte, die vor allem von der Rivalität konkurrierender NS-Instanzen in Berlin und der Peripherie vorangetrieben wurde, war nun endgültig überzeugt, dass das willkürliche Vorgehen von einer zentralen Planung und Lenkung abgelöst worden war. Als tragfähiger Beweis diente ihm die unter anderem von dem hochrangigen Rotkreuzmitarbeiter Carl Jacob Burckhardt kolportierte Meldung, Hitler habe Ende Juli 1942 nach einer langwierigen Diskussion im Füh-
189 Vgl. dazu auch Riegner, Niemals Verzweifeln, 72. 190 CZA, L22/3, Lichtheim an Linton, Lourie, Montor, Lauterbach (Nr. 840), 5. Oktober 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 413–424. 191 CZA, L22/3, Lichtheim an Lauterbach, 20. Oktober 1942 (Nr. 858), abgedruckt in: ebd., 433–435.
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rerhauptquartier einen schriftlichen Befehl zur vollständigen Vernichtung aller europäischen Juden erteilt.192 Erstaunlicherweise setzte Lichtheim Jerusalem erst jetzt davon in Kenntnis, dass er und Riegner bereits seit einigen Wochen mit den amerikanischen Vertretungen in Genf und Bern in Kontakt standen.193 Bekanntermaßen hatte Riegner bereits am 8. August über diplomatische Kanäle an den Präsidenten des WJC, Stephen S. Wise, nach New York und an den Vorsitzenden der britischen Sektion des WJC und Labour-Parlamentarier Sidney S. Silverman (1895–1968) in London telegrafiert, dass im Führerhauptquartier ein Plan zur Vernichtung der europäischen Judenheiten gefasst worden sei.194 Ähnlich
192 Lichtheim versicherte Lauterbach, zuverlässige Zeugen hätten den von Hitler unterschriebenen Befehl persönlich im Führerhauptquartier gesehen und auch »führende Persönlichkeiten des Internationalen Roten Kreuzes« – gemeint war Carl Jacob Burckhardt, der Kontakte zum deutschen Außenministerium sowie zum Kriegsministerium hatte – hätten davon Kenntnis erhalten. Vgl. ebd., 435. Laut Walter Laqueur bestätigte Burckhardt gegenüber Riegner und Lichtheim, dass es auf höchster deutscher Ebene eine Entscheidung zur Vernichtung der europäischen Juden gegeben hätte. Wenige Wochen später von Paul C. Squire, dem amerikanischen Konsul in Genf, um die Bestätigung dieser Informationen gebeten, habe er sich allerdings unverbindlich gezeigt. Vgl. dazu ders., The Terrible Secret, 411. Getragen wurde dieses Erklärungsmuster für den Massenmord nach dem Krieg insbesondere dadurch, dass sich viele der Angeklagten in den Kriegsverbrecherprozessen auf einen formalen Vernichtungsbefehl Hitlers beriefen. Die frühe Holocaustforschung ist dieser Interpretation zunächst bereitwillig gefolgt, doch ein schriftlicher Befehl Hitlers zur Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden ist bis heute nicht nachweisbar. Die jüngere Forschung hat zunehmend von der Annahme, Hitler habe die Durchführung des organisierten Massenmords zu einem bestimmten Zeitpunkt ausdrücklich befohlen, Abstand genommen. Vielmehr begreift die Mehrheit der Holocaustforschung heute die Genese des Völkermords als »kumulativen Radikalisierungsprozess« verschiedener, zum Teil konkurrierender Akteure sowohl in Berlin als auch in der Peripherie, der sich bis zum Frühjahr 1942 in Einzelaktionen manifestierte und mit der Errichtung der Vernichtungslager in Polen in der systematischen Ermordung der europäischen Judenheiten gipfelte. Vgl. Cesarani, Final Solution; Longerich, Holocaust; Browning, The Origins of the Final Solution. Eine gegenteilige Auffassung vertrat jüngst erneut Christian Gerlach, vgl. ders., The Extermination of the European Jews, 79–84. 193 CZA, L22/3, Lichtheim an Lauterbach, 20. Oktober 1942 (Nr. 858), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 433–435. 194 Riegner hatte die Informationen von dem Journalisten und Leiter der Jüdischen Nachrichtenagentur JUNA, Benjamin Sagalowitz (1901–1970), der sie von dem Geschäftsmann Isidor Koppelmann (1887–?) erhalten hatte. Bei Koppelmanns Quelle wiederum handelte es sich um den deutschen Industriellen Eduard Schulte (1891–1966), Generaldirektor des schlesischen Bergbaukonzerns Georg von Giesches Erben in Breslau. Vgl. Riegner, Niemals verzweifeln, 59–67. Zur Entstehung und zum Hintergrund des Riegner-Telegramms vgl. Breitman, Art. »Riegner-Telegramm«; Laqueur, The First News of the Holocaust; Raya Cohen, Das Riegner-Telegramm. Das Telegramm ist abgedruckt in: Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 182 f. Riegner hatte Lichtheim zunächst nicht eingeweiht, da dieser »keine besseren diplomatischen Kontakte« hatte als Riegner selbst. CZA, C3/2060, Riegner
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wie den Nachrichten Lichtheims wurde auch dem Telegramm Riegners zunächst mit größter Skepsis begegnet. Das amerikanische Außenministerium diskreditierte es als »wildes, von jüdischen Ängsten inspiriertes Gerücht«195 und entschied sich, die Informationen aus Genf vorerst zurückzuhalten. Auch nachdem Wise mit einiger Verzögerung am 28. August über Silverman die Nachricht Riegners erhielt,196 bat ihn der stellvertretende amerikanische Außenminister Sumner Welles (1892–1961), den Inhalt des Telegramms so lange nicht öffentlich zu machen, bis es Beweise für seine Richtigkeit gäbe.197 Nachdem im September auch der von Lichtheim versandte Bericht des polnischen Augenzeugen an Welles gelangt war, wies dieser Anfang Oktober den amerikanischen Gesandten in Bern, Leland Harrison (1883–1951), an, Riegner und Lichtheim gemeinsam mit dem Zusammentragen weiteren Beweismaterials zu beauftragen.198 Am 22. Oktober 1942 legten die beiden jüdischen Emissäre der amerikanischen Gesandtschaft in Bern schließlich eine dreißigseitige Dokumentensammlung mit Berichten vor, die die Nachrichten über die nationalsozialistischen Gräueltaten verifizieren sollten.199 In dem beiliegenden Aide-Mémoire fassten sie zusammen:
an Paul Guggenheim, 4. August 1942, abgedruckt in: Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 178–181. Wann genau Lichtheim von Riegner ins Vertrauen gezogen wurde, konnte nicht nachvollzogen werden. 195 Breitman / Laqueur, Der Mann, der das Schweigen brach, 131. 196 Anders als das amerikanische hatte sich das britische Außenministerium dazu entschlossen, das Telegramm an Silverman weiterzuleiten. 197 Breitman / Laqueur, Der Mann, der das Schweigen brach, 135 f. 198 Sumner Welles wiederum hatte den Bericht – ausgestattet mit dreifacher Priorität – nach Bern gesandt, von wo er mit diplomatischer Post an Myron C. Taylor (1874–1959), den amerikanischen Repräsentanten beim Vatikan, nach Rom ging. Taylor sandte die Informationen am 26. September 1942 an Kardinalstaatssekretär Luigi Maglione. Praktische Maßnahmen des Vatikans, wie sie Welles erhofft hatte, zog der Bericht nicht nach sich, er öffnete aber schließlich Lichtheim und Riegner die Türen der amerikanischen Gesandtschaften. Vgl. ebd., 139 f. Der Brief Taylors an Maglione vom 26. September 1942 ist abgedruckt in Friedländer, Pius XII. und das Dritte Reich, 114 f. 199 National Archives and Records Administration, Washington, D. C. (NARA), RG 84, Entry 3208, Box 7/840.1, Jews in Europe, Documents submitted to His Excellency the Honorable Leland Harrison, Minister of the United States of America in Bern, 22. October 1942. Zur Dokumentensammlung gehörte neben einer statistischen Erhebung zur Situation der Juden in den einzelnen Ländern, einem Bericht über einen vermeintlichen Vernichtungsbefehl Hitlers, Instruktionen des französischen Innenministeriums, zwei Berichten aus Warschau und einem Augenzeugenbericht eines polnischen Juden aus Brüssel auch eine korrigierte Version des Augenzeugenberichts aus Lettland. Das Aide-Mémoire und der Bericht über den vermeintlichen Hitlerbefehl sind in deutscher Übersetzung abgedruckt in: VEJ, Bd. 6: Deutsches Reich und Protektorat Böhmen und Mähren Oktober 1941 – März 1943, 495–499. Die statistische Erhebung und der Bericht aus Lettland sind abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 413–427, 436–442.
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»Four million Jews are on the verge of complete annihilation by a deliberate policy consisting of starvation, the Ghetto-system, slave-labor, deportation under inhuman conditions, and organised mass-murder by shooting, poisoning and other methods. This policy of total destruction has been repeatedly proclaimed by Hitler and is now being carried out.«200
Schätzungsweise die Hälfte der vier Millionen Juden in den deutsch besetzten Staaten Europas sei bereits getötet worden. Lichtheim und Riegner kamen zu dem Schluss, dass »die vorsätzliche Vernichtung des europäischen Judentums in Übereinstimmung mit den in den letzten Reden des deutschen Regierungschefs gemachten Ankündigen systematisch ausgeführt« werde.201 Sie drängten nochmals nachdrücklich auf eine öffentliche Verurteilung der an der jüdischen Bevölkerung verübten Verbrechen durch die Alliierten, um mithilfe massiven diplomatischen Drucks die Kooperation der Regierungen Italiens, Ungarns, Rumäniens, Bulgariens und Vichy-Frankreichs bei den Deportationen zu verhindern. Gleichzeitig forderten sie mit Blick auf die Zukunft das umfassende Zusammentragen von Beweismaterial, um die Verantwortlichen nach dem Krieg juristisch zur Rechenschaft ziehen zu können.202 Zur gleichen Zeit waren in London und Washington auch von anderen Stellen immer mehr Informationen über die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie eingegangen, die gemeinsam mit dem Lichtheim-Riegner-Bericht dazu beitrugen, die Zweifel Sumner Welles’ zu zerstreuen. Am 23. November 1942 informierte Welles Stephen S. Wise, dass der Inhalt des Riegner-Telegramms von anderen Quellen bestätigt worden sei. Am darauffolgenden Tag unterrichtete Wise in Pressekonferenzen in Washington und New York die Weltöffentlichkeit schließlich über die Absicht der Nationalsozialisten, alle in ihrem Herrschaftsbereich lebenden Jüdinnen und Juden zu vernichten.203 Laut dem US-amerikanischen Historiker Richard Breitman waren die Informationen aus Genf auch Teil einer Materialsammlung, die den amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt in seiner Entscheidung beein200 NARA, RG 84, Entry 3208/Box 7/840.1, Jews in Europe, Documents submitted to His Excellency the Honorable Leland Harrison, Minister of the United States of America in Bern, 22. October 1942. 201 CZA, L22/3, »Note regarding the German policy of deliberate annihilation of European Jewry«, am 22. Oktober 1942 der amerikanischen Gesandtschaft zur Weiterleitung an das amerikanische Außenministerium übergeben, Anlage zu Lichtheims Brief Nr. 866 an Lauterbach vom 26. Oktober 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 436–442, hier 442. 202 Breitman / Laqueur, Der Mann, der das Schweigen brach, 141. Vgl. auch CZA, L22/3, Lichtheim an Linton, 2. November 1942. 203 Breitman / Laqueur, Der Mann, der das Schweigen brach, 145.
Vermittlung und Akzeptanz der Vernichtungsrealität
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flusste, gemeinsam mit Großbritannien, der Sowjetunion und neun weiteren Regierungen am 18. Dezember 1942 eine Erklärung zu veröffentlichen,204 in der die Alliierten explizit den Massenmord an den europäischen Judenheiten verurteilten und die Absicht erklärten, »sicherzustellen, daß die Personen, die für diese Verbrechen verantwortlich sind, der verdienten Vergeltung nicht entgehen« werden.205 Das Wissen um den nationalsozialistischen Judenmord wurde mit dieser Erklärung offiziell bestätigt. Die von Lichtheim wie auch von verschiedenen anderen Akteuren im Laufe des Jahrs 1942 immer wieder vorgebrachte Forderung nach diplomatischer Initiative, die lange Zeit ungehört blieb, da die Alliierten Singularität und Ausmaß der Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung nur widerwillig anerkannten, hatte damit auf höchster Ebene Nachhall gefunden.206 Nachdem Rommels Armee im Oktober vor El Alamein besiegt und damit eine deutsche Invasion abgewendet worden war, setzte auch im Jischuw ein langsamer Verstehensprozess ein und Jerusalem musste eingestehen, dass die Darstellung der Judenverfolgung in den Berichten der jüdischen Emissäre aus Genf, Stockholm und Istanbul alles andere als übertrieben war. Maßgeblichen Anteil daran hatten 69 aus Europa kommende jüdische Frauen und Kinder palästinensischer Nationalität, die im November gegen eine Gruppe deutscher Staatsangehöriger ausgetauscht worden waren und nach ihrer Ankunft in Palästina umfassendes Zeugnis von der Situation in Polen und anderen Teilen Europas ablegten.207 Am 23. November bestätigte die Jewish Agency in Jerusalem offiziell, dass die Nationalsozialisten in Polen eine systematische Ausrottungskampagne gegen das Judentum gestartet hatten.208 Lichtheim, der beinahe unablässig auf die öffentliche Verurteilung der nationalsozialistischen Verbrechen und die Androhung von Strafverfolgung nach dem Krieg gedrängt hatte, machte sich letztlich keine Illusionen über die unmittelbare Wirksamkeit dieser Maßnahmen, die er in erster Linie aus
204 Breitman, Art. »Riegner-Telegramm«, 223. 205 Interalliierte Erklärung vom 18. Dezember 1942 über die von den Hitler-Behörden zur Zeit durchgeführte Vernichtung der jüdischen Bevölkerung (Auszug), abgedruckt in: Heinze / Schilling (Hgg.), Die Rechtsprechung der Nürnberger Militärtribunale, 310. 206 Erinnert sei an Leon Feiner (1885–1945), Bund-Führer in Warschau, der Ende August 1942 einen Brief mit entsprechenden Anregungen nach London sandte. Vgl. auch Riegner, Niemals verzweifeln, 77–86. 207 Die Gruppe war Teil eines zweiten, im November 1942 erfolgten Zivilgefangenenaustauschs zwischen Deutschland und Großbritannien, bei dem 301 Deutsche und vier Italiener gegen 69 Palästinenser, 20 Briten und 48 Angehörige der britischen Dominions ausgetauscht worden waren. Vgl. dazu Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 36 f. Für biografische Berichte vgl. Hillenbrand, Der Ausgetauschte; ders., Blanka Alperowitz’ Leben und ihre Rettung nach Eretz Israel. 208 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 37 f.
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moralischen Gründen als notwendig erachtete. An Lauterbach schrieb er Anfang Dezember 1942: »You cannot divert a tiger from devouring his prey by adopting resolutions or sending cables. You have to take your gun and shoot him.«209 Lichtheim war überzeugt, dass einzig ein militärischer Sieg über das nationalsozialistische Deutschland der Verfolgung ein Ende setzen könnte. Auf die nationalsozialistische Vernichtungspolitik hatten die Resolutionen der Alliierten und des Jischuw in der Tat keinen oder nur begrenzten Effekt. Auch war zum Zeitpunkt ihrer Verabschiedung der Großteil der jüdischen Bevölkerung, der sich unter nationalsozialistischer Herrschaft befand, bereits nicht mehr am Leben. Der Historiker Christian Gerlach schätzt, dass bis Ende 1942 insgesamt rund 4,5 Millionen Jüdinnen und Juden dem nationalsozialistischen Morden zum Opfer gefallen waren, drei Millionen davon allein 1942, was es zum tödlichsten Jahr in der jüdischen Geschichte macht.210
Versuche der Rettung (1943–1945) Austauschlisten und Palästina-Zertifikate Nachdem ab Herbst 1942 Informationen über den stattfindenden Massenmord innerhalb alliierter Kreise offen zirkulierten und sich gleichzeitig abzeichnete, dass die Interventionsmöglichkeiten des Auslands denkbar gering waren, realisierten die außenstehenden jüdischen Akteure, dass andere Wege gefunden werden mussten, wollten sie auch nur eine geringe Anzahl Jüdinnen und Juden retten beziehungsweise deren Überlebenschancen erhöhen. In Jerusalem gründete man zum Zweck der Koordinierung von Hilfs- und Rettungsaktionen das Jewish Agency Rescue Committee for the Jews of Europe211 und auch in Genf und Istanbul verlagerte sich der Schwerpunkt
209 CZA, L22/3, Lichtheim an Lauterbach, 9. Dezember 1942 (Nr. 913). 210 Gerlach, The Extermination of the European Jews, 100. 211 CZA, L22/3, Lauterbach an Lichtheim, 7. Dezember 1942 (Nr. 909). Zwischen November 1942 und März 1943 wurde in Palästina unter Leitung Yitzhak Grünbaums das Jewish Agency Rescue Committee (Wa’ad ha-Ḥ aẓala schel ha-Sochnut ha-Jehudit) eingerichtet. Ursprünglich aus dem sogenannten Committee of Four for Polish Affairs (Yitzhak Grünbaum, Eliyahu Dobkin [1898–1976], Chaim-Moshe Shapira [1902–1970] und Emil Schmorak [1886–1953]) hervorgegangen, wurde das Rektorat des Komitees nach und nach um Dov Joseph (1899–1980) vom Politischen Department der Exekutive der Jewish Agency, Yitzhak Meir Levin (1893–1971, Agudat Jisra’el), Benjamin Mintz (1903–1961, Po’ale Agudat Jisra’el), Yitzhak Ben-Zvi (Mapai), Shlomo Zalman Shragai (1899–1995, Misrachi), Yehoshua Suprasky (1879–1948, Allgemeine Zionisten), Joseph Klarman (1909–1985) und Hermann Segal (1901–1965) (beides Revisionisten) erweitert. Letztlich bestand das Komitee aus über sechzig Personen, damit sich möglichst viele verschiedene Fraktionen des Ji-
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der Jewish-Agency-Vertreter von der Informationsbeschaffung hin zur Rettungsarbeit, was sich nicht zuletzt deutlich in der Korrespondenz Lichtheims mit Jerusalem spiegelte. Wenn auch das Morden in Europa ungehindert weiterging, berichtete er weniger häufig darüber nach Jerusalem. Gegenüber Lauterbach erklärte er, es gebe keine Form von Grausamkeit, Bestialität und sadistischem Wahnsinn, die nicht angewendet werde, um Jüdinnen und Juden zu töten und zu foltern. Die furchtbaren Details, die ihn erreichten, wolle er Jerusalem allerdings ersparen. Auch bleibe ihm für die Ausfertigung umfangreicher Berichte schlichtweg keine Zeit mehr, da er und seine Mitarbeiter sich fortan vornehmlich auf die Hilfsaktionen konzentrierten, die man in Genf und Istanbul zu organisieren versuche.212 Die Rettung der Reste des europäischen Judentums war für Lichtheim nunmehr zur obersten Priorität geworden, immer wieder mahnte er Jerusalem, alles zu tun, »was menschlich möglich ist«.213 Möglichkeiten der Intervention schienen sich ab Ende 1942 auf verschiedenen Ebenen zu bieten. Mit der Interalliierten Erklärung vom 18. Dezember 1942 verfügten jüdische Akteure gegenüber den Alliierten inzwischen über ein gewisses Druckmittel. Vor allem vonseiten der britischen Regierung erhofften sich die Vertreter der Jewish Agency nun, da man die nationalsozialistischen Verbrechen offen anerkannte, mehr Entgegenkommen, was die legale Einreise in das Mandatsgebiet Palästina betraf. In Genf bemühte sich Lichtheim darum, endlich in der britischen Botschaft in Bern persönlich vorstellig zu werden, nachdem ein bereits für Herbst 1942 geplanter Besuch nicht zustande gekommen war.214 Gemeinsam mit Riegner wurde er am 3. Februar vom britischen Gesandten Clifford Norton (1891–1990) und dem Botschaftsmitarbeiter Douglas MacKillop (1891–1959) empfangen, um dort mögliche Rettungsunternehmungen zu
schuw repräsentiert sahen. Nicht nur aufgrund seiner Größe blieb das Komitee letztlich ein wenig handlungsfähiges Instrument. Auch die wichtigsten Informationen und finanzielle Ressourcen blieben dem Komitee weitestgehend vorenthalten, Planung und Ausführung von Rettungsaktionen lag eher bei Stellen im Politischen Department der Exekutive, dem Mossad le-Alija Bet, der Hagana und den Koordinatoren der Jugendalija. Vielmehr erfüllte das Komitee eine politisch einende Funktion innerhalb des Jischuw. Es stärkte den Zusammenhalt und die Zusammenarbeit rivalisierender Gruppen und milderte den öffentlichen Druck auf die zionistische Leitung. Zur Entstehung des Komitees vgl. Friling, Arrow in the Dark, Bd. 1, 125–135. Vgl. auch ders., Organizing Jewish Resistance; Ofer, Escaping the Holocaust. 212 CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach, 24. März 1943 (Nr. 1026), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 449–451. Vgl. dazu auch CZA, L22/10, Lichtheim an Lauterbach, 1. Juli 1943 (Nr. 1116). 213 CZA, L22/9, Lichtheim an Lauterbach, 15. Dezember 1943 (Nr. 1230). 214 CZA, L22/18, Lichtheim an MacKillop, 27. Januar 1943.
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besprechen.215 Diskutiert wurde unter anderem der Transfer einer gewissen Anzahl jüdischer Kinder und Jugendlicher aus den Balkanländern, denen die britische Regierung die Einreise nach Palästina gewährte. Das Vorhaben scheiterte jedoch letztlich an der mangelnden Kooperationsbereitschaft der Regierungen der Ausreise- und Transitländer beziehungsweise am erklärten Unwillen der deutschen Behörden, die Kinder nach Palästina ausreisen zu lassen.216 Als vielversprechender erwiesen sich die Bemühungen um die Zusammenstellung sogenannter Palästina-Listen mit potenziellen »Austauschkandidaten«. Dies beinhaltete die Beschaffung und Verteilung von Palästina-Zertifikaten, die eine Erlaubnis zur legalen Einreise in das britische Mandatsgebiet bestätigten und damit ihre Inhaber zu Anwärtern für einen möglichen Zivilgefangenenaustausch zwischen Deutschland und Großbritannien beziehungsweise der britischen Mandatsverwaltung in Palästina machten. Damit in direktem Zusammenhang stand auch das Drängen auf Zustandekommen eines tatsächlichen deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustauschs. 1941 und 1942 hatten bereits zwei solcher Transfers stattgefunden, bei denen insgesamt rund 360 Palästinadeutsche gegen eine deutlich geringere Anzahl 215 CZA, L22/529, Aktennotiz Lichtheims zu seinem Besuch bei der britischen Botschaft in Bern, 3. Februar 1943; CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach, 15. Februar 1943 (Nr. 983). 216 In einem Versuch, der Interalliierten Erklärung vom Dezember 1942 mehr Substanz zu verleihen und Taten folgen zu lassen, diskutierte die britische Regierung zu Beginn des Jahrs 1943 die Möglichkeit, im Rahmen der Weißbuchpolitik einer gewissen Anzahl jüdischer Kinder aus den deutschen Satellitenstaaten Südosteuropas die Einreise nach Palästina zu gewähren. Einem Vorschlag der Jewish Agency folgend, erklärte der britische Kolonialminister Oliver Stanley am 3. Februar 1943 öffentlich im Unterhaus, dass 4 500 bulgarischen Kindern und 500 erwachsenen Begleitpersonen sowie weiteren 500 Kindern aus Ungarn und Rumänien die Einreise nach Palästina gestattet werde. Anfang 1943 war immer noch fast die Hälfte jener 75 000 Zertifikate verfügbar, die bis zum 31. März 1944 ausgestellt werden sollten. Lichtheim in Genf und Barlas in Istanbul sondierten daraufhin Möglichkeiten, wie diesen Kindern – unter Umständen mithilfe des IKRK beziehungsweise der International Save the Children Union von Georges Thélin (1890–1963) – die Ausreise aus diesen Staaten ermöglicht werden könnte. CZA, L22/4, Lichtheim an Grünbaum, 6. Januar 1943; ebd., Lichtheim an Barlas, 9. Februar 1943; CZA, L22/258, Lichtheim an Barlas, 19. März 1943; ebd., Lichtheim an Barlas, 24. März 1943; ebd., Lichtheim an Barlas, 26. März 1943. Bezüglich der Verteilung der erhaltenen Zertifikate: ebd., Lichtheim an Barlas, 5. April 1943. Die Verhandlungen zogen sich bis Oktober 1943 hin und endeten schließlich ohne Ergebnis. Zunächst weigerte sich die türkische Regierung, Transitvisa für die entsprechenden Personen auszustellen, später schloss die bulgarische Regierung auf deutschen Druck hin ihre Grenze zur Türkei. Auch legte die deutsche Regierung im Sommer 1943 intern fest, dass einer Ausreise nach Palästina nicht zuzustimmen sei. Vgl. dazu Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, 179–182; Porat, Israeli Society, the Holocaust and Its Survivors, 281–301. Die interne Anweisung der Abteilung Inland II des Auswärtigen Amts an den Chef der Gestapo vom 13. Juli 1943 ist abgedruckt in: Favez, Das Internationale Rote Kreuz und das Dritte Reich, 264.
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von palästinensischen und britischen Staatsangehörigen ausgetauscht worden waren.217 Das große Ungleichgewicht resultierte aus dem Unvermögen der Nationalsozialisten, auf dem Höhepunkt der Vernichtung austauschfähige Personen zu lokalisieren. Da sie daran interessiert waren, die Differenz auszugleichen, um auch zukünftig deutsche Staatsangehörige aus dem alliierten Einflussbereich freizubekommen, begannen die Nationalsozialisten auch solche Jüdinnen und Juden als Ausländer anzuerkennen, die erst nach Kriegsbeginn in den Besitz von ausländischen Schutzpässen und Palästina-Zertifikaten gelangt waren.218 Davon ermutigt, bemühten sich jüdische Stellen in Jerusalem, Istanbul, Amsterdam und Genf auch nach dem asymmetrischen Austausch vom November 1942, bei dem etwa 300 Deutsche, aber lediglich 137 palästinensische beziehungsweise britische Staatsangehörige freigekommen waren, weitere potenzielle Kandidaten zu lokalisieren und Listen mit den entsprechenden Personendaten zusammenzustellen. Man hoffte, so für möglichst viele Personen die Freistellung von der Deportation in die Vernichtungslager zu erwirken. Im Februar 1943 wurde aus Istanbul eine weitere Liste mit über 800 Namen von Zertifikatsinhabern an die britische Gesandtschaft in Bern geschickt.219 217 Bereits kurz nach Kriegsbeginn kam es auf Vorschlag der Jewish Agency zu Verhandlungen über einen Austausch palästinensischer Frauen und Kinder, die sich innerhalb des Deutschen Reichs befanden, gegen weibliche Palästinadeutsche (zumeist Angehörige der protestantischen Templergesellschaft), die als feindliche Ausländerinnen in Palästina interniert waren. Nach fast zweijähriger Verhandlungszeit wurde im Dezember 1941 schließlich der Austausch von ungefähr 65 deutschen Frauen und Kindern aus Palästina gegen 46 bis 49 palästinensische Staatsangehörige, unter ihnen drei Männer (Zahlenangaben variieren in der Literatur), vollzogen. Im Mai 1942 hatte die deutsche Regierung einen zweiten Austausch von 300 Deutschen gegen circa 200 palästinensische Jüdinnen und Juden vorgeschlagen. Nach langwierigen, über Schweizer Regierungsstellen vermittelten Verhandlungen wurden schließlich im November an der türkisch-syrischen Grenze 301 Palästinadeutsche und vier Italiener gegen 69 palästinensische und 20 britische Staatsangehörige sowie 48 Angehörige der britischen Dominions ausgetauscht, wovon 70 Personen jüdisch waren. Das Ungleichgewicht ergab sich daraus, dass die deutschen Stellen nicht in der Lage waren, die von britischer Seite geforderte Anzahl an Kandidaten ausfindig zu machen, da die meisten von ihnen bereits in Vernichtungslager deportiert oder ermordet worden waren. Um den Unterschied auszugleichen, wurden von deutscher Seite als Teil dieses zweiten Gefangenenaustauschs im Januar 1943 15 weitere jüdische Personen nach Palästina freigelassen. Vgl. Wasserstein, Britain and the Jews of Europe, 223–225; Wawrzyn, Nazis in the Holy Land 1933–1948, 108–115. Ein Überblick über die Geschichte der Palästinadeutschen findet sich in Balke, Das Hakenkreuz im Heiligen Land. 218 Zeugin / Sandbühler (Hgg.), Die Schweiz und die deutschen Lösegelderpressungen in den Niederlanden, 38. 219 Vgl. CZA, L22/529, Aktennotiz Lichtheims zu seinem Besuch bei der britischen Botschaft in Bern, 3. Februar 1943; CZA, L22/528, Kahany an Barlas, 18. Februar 1943. Die Liste ist als Anhang hier zu finden: CZA, L22/15, Kahany an Sternbuch, 18. März 1943. Bereits im Vorfeld des zweiten Austauschs waren die sogenannten Istanbul-Listen entstanden, die von
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In Anbetracht der erheblichen Schwierigkeiten auf deutscher Seite, ausländische Jüdinnen und Juden ausfindig zu machen, die den strengen britischen Kriterien für Austauschkandidaten entsprachen, drängten Lichtheim und andere die Exekutive der Jewish Agency in Jerusalem, sich um die Erweiterung des akzeptierten Personenkreises zu bemühen.220 Lichtheim schlug vor, zusätzlich eine größtmögliche Anzahl an »zionistischen Veteranen« (vatikim) und deren Familien oder andere geeignete Jüdinnen und Juden, die noch lokalisierbar waren, mit Zertifikaten auszustatten und in die Austauschlisten aufzunehmen.221 Sinnvoll war die Vermittlung dieser Dokumente an Personen, mit denen die Genfer Büros direkt oder vermittelt über das IKRK in Kontakt treten konnten, um die entsprechenden Papiere und Zertifikatsnummern zuzustellen. In Anspielung auf die vielen polnischen Jüdinnen und Juden, die zwar im Besitz gültiger Papiere, aber bereits deportiert und nicht mehr auffindbar waren und den Großteil der Listen aus Istanbul ausmachten, erklärte Lichtheim dem Jewish-Agency-Vertreter in Istanbul, Chaim Barlas,222 sein Drängen auf die Erweiterung der Listen: »It seems useless to draw up lists containing hundreds of names of people most of whom cannot be found, while at the same time neglecting the existence of and mortal danger for a great number of well-known Zionists and other good Jews who can still be saved because they are still living at their former address.«223
Letzteres galt vor allem für eine große Anzahl noch in Holland lebender Jüdinnen und Juden, mit denen aufgrund einer Initiative des Amsterdamer der Jewish Agency in Jerusalem und deren Büro in Istanbul in Absprache mit der britischen Mandatsverwaltung zusammengestellt worden waren. Über die Vertretungen des IKRK und der Briten in der Türkei gelangten die Listen an die britische Botschaft in Bern und die als Schutzmacht fungierende Schweiz. Alles in allem wurden insgesamt 1 300 bis 1 500 Namen vorrangig polnischer Jüdinnen und Juden mit palästinensischen oder britischen Papieren bzw. dem Anrecht darauf auf diesen Listen zusammengetragen. Vgl. dazu Zariz, o. T., in: From Bergen Belsen to Freedom, 16. Über die Behörden der Schweiz gelangten die Listen nach Berlin. 220 Zu den Personen, die ein Zertifikat beantragen konnten beziehungsweise für einen Austausch berechtigt waren, zählten u. a. britische Staatsangehörige; polnische Frauen, die durch Eheschließung vor August 1939 die palästinensische Staatsangehörigkeit erhalten hatten, und deren Kinder; Frauen und Kinder palästinensischer Staatsbürgerschaft, die sich bei Kriegsausbruch in Europa befunden hatten und an einer Rückreise gehindert worden waren; Frauen und Kinder von palästinensischen Staatsangehörigen, die sich in Palästina befanden. Vgl. Zariz, Exchange. 221 CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach, 8. März 1943 (Nr. 1005). 222 Chaim Barlas war zunächst für das Palästina-Amt in Genf tätig. Im August 1940 wechselte er im Auftrag der Jewish Agency nach Istanbul und stand dem dortigen Komitee für Hilfe und Rettung vor. 223 CZA, L22/258, Lichtheim an Barlas, 31. März 1943.
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Jüdischen Rats sowohl das von Posner und Scheps geleitete Palästina-Amt als auch das Büro Lichtheims in Kontakt treten konnten.224 Nachdem die Jewish Agency in Jerusalem dem Vorschlag Lichtheims gefolgt war, auch »Veteranen« bei der Zertifikatsverteilung zu berücksichtigen,225 bemühten sich Lichtheim und seine Mitarbeiter, möglichst viele Personen zu schützen. Dafür telegrafierten sie die Details sämtlicher Jüdinnen und Juden nach Jerusalem, deren Namen und Aufenthaltsorte in Genf bekannt waren, ohne dabei einen Unterschied zwischen »wohlverdienten Zionisten« und anderen zu machen.226 Für Lichtheim, der 1940 in Bezug auf die Alija Bet noch zu bedenken gegeben hatte, die Einwanderung ungeeigneter Menschen nach Palästina könne sich nachteilig auf die zionistische Sache auswirken,227 waren die Rettungsversuche keine Frage ideologischer Überlegungen mehr, sondern zur moralischen Verpflichtung geworden. Daher lehnte er die Verteilung von finanziellen Ressourcen und Zertifikaten nach dem innerhalb der zionistischen Strukturen üblichen, auf Parteistärke und -zugehörigkeit basierenden Verteilungsschlüssel ab und trat dafür ein, nicht nur Zionisten zu helfen, sondern sämtlichen Personen, bei denen eine Chance auf Rettung bestand.228 Das reguläre Prozedere der Palästina-Austauschlisten war bürokratisch, umständlich und enorm zeitaufwendig. Sie wurden in Jerusalem in Übereinstimmung mit den britischen Mandatsbehörden von der Jewish Agency zusammengestellt und von dort nach London zur Bestätigung durch die britische Zentralregierung gesandt. Die bestätigten Listen mit den Namen und Zertifikatsnummern anerkannter Austauschkandidatinnen und -kandidaten wurden wiederum aus London über die britische Gesandtschaft in Bern an das Eidgenössische Politische Departement (EPD)229 der Schweiz
224 Bereits im Oktober 1942 wurde auf Anraten des Jüdischen Rats Amsterdam in Westerbork eine Liste von Personen mit britischen Papieren oder engen Verwandten in Palästina zusammengestellt, die für eine mögliche Auswanderung nach Palästina infrage kommen könnten. Gleichzeitig forderte der Jüdische Rat Jüdinnen und Juden mit einem gültigen Zertifikat bzw. engen Verwandten in Palästina über ein Zeitungsinserat in Het Joodse Weekblad auf, sich zu registrieren. Vgl. YVA, P.12/127; Happe, Viele falsche Hoffnungen, 159. Treibende Kraft hinter dieser Aktion war die Leiterin der Auswanderungsabteilung des Jüdischen Rats, Gertrude van Tijn (1891–1974) . Zu deren Aktivitäten vgl. Wasserstein, The Ambiguity of Virtue, bes. das Kap. »Trading with the Enemy«, 156–170. 225 Vgl. CZA, L22/258, Lichtheim an Posner, 30. März 1943; ebd., Lichtheim an Rabbiner Zvi Taubes, 31. März 1943. 226 Gilbert, Auschwitz and the Allies, 120 f., 123. 227 CZA, KH7/6, Lichtheim an Georg Landauer, 1. März 1940. 228 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 127. 229 Beim EPD, heute Eidgenössisches Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA), handelt es sich um das Schweizer Außenministerium. Während des Zweiten Weltkriegs übernahm die Schweiz für mehrere Staaten – u. a. Großbritannien, die Vereinigten Staaten und das Deutsche Reich – das Mandat einer Schutzmacht und agierte damit als diploma-
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übermittelt, das die Listen an die Abteilung für Fremde Interessen seiner Gesandtschaft in Berlin weiterleitete. Diese wiederum, als Vertreterin der britischen Interessen gegenüber dem Deutschen Reich, vermittelte die Listen an die entsprechenden deutschen Behörden. Gelang es den deutschen Behörden, die aufgelisteten Personen zu lokalisieren, so wurden diese in der Regel von den Deportationen in die Vernichtungslager ausgenommen. Gleichzeitig wurden die ausgestellten Zertifikatsnummern an das Büro der Jewish Agency beziehungsweise das Palästina-Amt in Genf telegrafiert und von dort entweder auf direktem Weg oder über das IKRK an die entsprechenden Bewerber vermittelt. Eine erste solche Veteranenliste wurde am 19. März 1943 von der Jew ish Agency in Jerusalem der britischen Mandatsregierung zur Bestätigung vorgelegt. Lichtheim hatte dafür Sorge getragen, dass auch der prominente deutsche Zionist Alfred Klee, der Lichtheims zionistische Weltanschauung während der ersten Jahre seines Engagements innerhalb der deutschen zionistischen Bewegung stark mitgeprägt hatte, gemeinsam mit Ehefrau Theresa (1877–1945), Schwiegersohn Hans Goslar (1889–1945) und den beiden Enkelinnen Hannah (1928–2022; später Pick-Goslar) und Rachel Gabriele (geb. 1940; später Mozes-Goslar) mit in die Liste aufgenommen wurde, was zumindest zum Überleben von Hannah und Rachel Gabriele Goslar beigetragen haben dürfte.230
tische Verbindung zwischen den Konfliktparteien. Bereits im September 1939, kurz nach dem deutschen Angriff auf Polen, wurde dafür im EPD die Abteilung für Fremde Interessen (AFI) geschaffen, der die Ausführung der Mandate oblag. In den meisten Schweizer Auslandsvertretungen bestand eine eigene Abteilung für die Vertretung der Interessen anderer Staaten. Vgl. dazu Frey, Zwischen »Briefträger« und »Vermittler«, 8–10. 230 CZA, L22/258, Lichtheim an Barlas, 31. März 1943. Lichtheim benachrichtigte Alfred Klees Sohn Hans, dass seine Eltern sowie sein Schwager Hans Goslar mit den beiden Töchtern Hannah und Rachel Gabriele Goslar in die Liste aufgenommen worden waren. Vgl. CZA, A142/112, Lichtheim an Hans Klee, 30. März 1943. Alfred Klee war prominentes Mitglied der deutschen zionistischen Bewegung und gehörte ab 1933 der Reichsvertretung der Deutschen Juden an. 1938 flüchtete er nach Holland, seine Frau Theresa folgte ihm kurze Zeit später. Die Familien Klee und Goslar wurden schließlich im Juni 1943 zusammen mit anderen Jüdinnen und Juden aus dem südlichen Amsterdam nach Westerbork deportiert, wo Alfred Klee am 10. November 1943 an Herzversagen starb. Theresa Klee sowie Hans Goslar und dessen Töchter wurden am 15. Februar 1944 nach Bergen-Belsen deportiert, jedoch im Sommer 1944 nicht für den dritten deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustausch berücksichtigt. Wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen verhungerten Theresa Klee und Hans Goslar. Goslars Töchter wurden Anfang April auf einen Transport nach Theresienstadt geschickt und schließlich in der Nähe von Tröbitz von der Roten Armee befreit. Zur Geschichte der beiden Familien vgl. Ravid, Alfred Klee and Hans Goslar.
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Bis Ende 1943 wurden fünf solcher Veteranenlisten mit mehreren Hundert Namen von Jüdinnen und Juden in Holland zusammengestellt, der PalästinaRegierung zur Bestätigung vorgelegt und schließlich an Berlin übermittelt.231 Mit den massenhaften Deportationen in der zweiten Jahreshälfte 1943 konnte eine erhebliche Anzahl der aufgelisteten Personen allerdings nicht mehr lokalisiert werden.232 Die verschiedenen Stellen in Genf setzten ihre Bemühungen jedoch fort und fertigten bis Sommer 1944 mindestens zwölf Veteranenlisten mit insgesamt mehreren Tausend Personen an.233 Gleichzeitig begann Chaim Posner vom Palästina-Amt Anfang 1943 damit, ungeachtet der akzeptierten Kategorien sämtlichen Personen aus Holland, die sich mit der Bitte um Registrierung für einen Austausch an ihn wandten, provisorische Bescheinigungen darüber auszustellen, dass für den Empfänger ein Zertifikatsantrag in Bearbeitung sei.234 Obwohl Joseph Goldin, Vertreter der Jewish Agency in Istanbul, gegenüber Posner klargestellt hatte, dass nur Personen, deren Eltern oder Kinder bereits in Palästina lebten, zum Erhalt eines Zertifikates berechtigt seien,235 war Posner davon überzeugt, »dass diesen Menschen selbst allgemein gehaltene offizielle Schreiben unseres Palästinaamtes irgendwie – selbst wenn nur zeitweilig – nützen können«.236 Tatsächlich erwies sich das Vorgehen Posners als wirkungsvoll. Im März berichtete Lichtheim, dass Personen in Holland, die eine entsprechende Bestätigung des Palästina-Amts vorweisen konnten, vorerst von den Deportationen ausgenommen wurden.237 Im Juli 1943 wurde Barlas von Scheps darüber informiert, dass bereits 1 500 dieser temporären Bescheinigungen für Familien ausgestellt worden seien und dies für Hunderte von Jüdinnen und Juden die sichere Deportation verhindert habe.238 Zunächst handelte es sich um einfache Schreiben, die bestätigten, dass die Empfänger von den »zuständigen Instanzen in Palästina für
231 CZA, L22/861, Kahany, Aktennotiz, 30. Dezember 1943. In einer weiteren Aktennotiz vom 6. Januar 1944 hielt Kahany fest, 590 Personen sei auf der zuletzt an die Briten übergebenen Liste eine Einreiseerlaubnis nach Palästina ausgestellt worden. Vgl. CZA, L22/860, Aktennotiz Kahany, 6. Januar 1944. 232 Brasz, Rescue Attempts by the Dutch Jewish Community in Palestine and the Palestine Office in Geneva 1940–1945, 15. 233 YVA, P.12/127, Posner an Lichtheim, 27. Juli 1944. 234 Zariz, o. T., in: From Bergen Belsen to Freedom, 19. Zu den Bemühungen Posners vgl. auch Brasz, Rescue Attempts by the Dutch Jewish Community in Palestine and the Palestine Office in Geneva 1940–1945. 235 YVA, P.12/127, Joseph Goldin an Chaim Posner, 22. Dezember 1942. 236 YVA, P.12/127, Chaim Posner an Chaim Barlas, 30. Januar 1943. 237 CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach, 8. März 1943 (Nr. 1005); CZA, L22/258, Lichtheim an Zvi Taubes, 31. März 1943. 238 YVA, P.12/127, Scheps an Barlas, 8. Juli 1943.
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einen Austausch registriert wurden«.239 Nachdem ihn immer mehr Bitten um Bestätigung eines Zertifikats erreichten, begann Posner damit, provisorische Nummern auszugeben, um den Bestätigungen einen offizielleren Anschein zu geben.240 Lichtheim war in diese Aktion nicht direkt eingebunden, unterstützte Posners Vorgehen aber, indem er zwischen Zertifikatsbewerbern und Palästina-Amt beziehungsweise Palästina-Amt und dem Büro der Jewish Agency in Jerusalem vermittelte. Alarmiert von der Beschleunigung der Deporta tionen im Sommer 1943, war er überzeugt, dass für die holländischen Juden die »Stunde Null« geschlagen habe,241 und drängte darauf, sich bei der Zertifikatsbestätigung vor allem auf sie zu konzentrieren.242 In der zweiten Jahreshälfte begann – auch auf Druck der Irgun Olej Holland, der Interessenvertretung holländischer Einwanderer in Palästina – die Jewish Agency in Jerusalem, ohne das Einverständnis des britischen Mandatars, holländische Juden für einen Austausch »bei der Jewish Agency« zu registrieren und Bestätigungen darüber auszustellen.243 Nachdem sich die unter Zwang errichtete Vereinigung der Juden in Belgien im Sommer 1943 mit Lichtheim in Verbindung gesetzt hatte, wurden beide Methoden – die Verteilung von Palästina-Zertifikaten an den akzeptierten Personenkreis und die Ausstellung von Bestätigungen über die Re gistrierung zum Austausch für alle anderen – in der zweiten Jahreshälfte sukzessive auf Belgien ausgeweitet. Der Umfang dieser Aktion fiel aber deutlich geringer aus. Bis Ende 1943 entstanden zwei Veteranenlisten, auf denen rund 87 Familien verzeichnet waren, und Posner hatte bis Anfang 1944 etwas mehr als einhundert Kandidaten die Registrierung zum Austausch bestä-
239 YVA, P.12/127, Posner an Barlas, 5. August 1943. 240 YVA, P.12/127, Palästina-Amt Genf an Jewish Agency Jerusalem, 25. August 1943. Im Unterschied zu den mit dem Buchstaben »M« (Migration) beginnenden, offiziell bestätigten Zertifikatsnummern, begannen Posners Registrierungsnummern mit dem Kürzel »EL« für Exchange List. Das eigenmächtige Vorgehen von Posner wurde von der britischen Mandatsregierung nicht gebilligt. Auch die Jewish Agency in Jerusalem befürchtete, dass eine zu große Anzahl dieser Pseudodokumente die offiziellen Listen abwerten und damit auch tatsächlich registrierte Personen in Gefahr bringen könnte. Vgl. Zariz, o. T., in: From Bergen Belsen to Freedom, 21 f.; Wenck, Zwischen Menschenhandel und »Endlösung«, 210. 241 CZA, L22/146, Lichtheim an Moshe Shertok (Sharett), 19. Juni 1943. Zwischen 2. März 1943 und 16. November 1943 verließ jede Woche ein Transport mit 1 000 bis 3 000 Menschen das Lager Westerbork. 242 CZA, L22/146, Lichtheim an Posner / Scheps, 2. Juni 1943. 243 Brasz, Rescue Attempts by the Dutch Jewish Community in Palestine and the Palestine Office in Geneva 1940–1945, 15. Das Vorgehen der Jewish Agency hatte nicht die offizielle Unterstützung der britischen Mandatsregierung, war jedoch auch nicht illegal und wurde schließlich vom Zensor gebilligt.
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tigt.244 Unter den belgischen Zertifikatsbewerbern befand sich auch Lichtheims Neffe Raymund Wiener.245 Ziel all dieser Anstrengungen war es, möglichst viele Personen mit einem Palästina-Zertifikat beziehungsweise mit einem Schreiben auszustatten, das bestätigte, dass eine Anwartschaft auf ein solches bestand, um sie damit zunächst vor der Deportation in die Vernichtungslager zu schützen. Lichtheim und Posner war durchaus bewusst, dass diese Papiere keine Garantie darstellten, der Vernichtung zu entgehen. Sie begriffen sie als minimale und unsichere Chance auf Rettung, die doch nicht ungenutzt bleiben durfte. Auch wenn im Jahr 1943 zunächst kein weiterer Zivilpersonenaustausch zustande kam, setzten die Aktivisten in Genf ihre Bemühungen unermüdlich fort, da sie davon ausgingen, dass die als Austauschkandidaten Ausgewiesenen zumindest so lange sicher waren, wie die deutsch-britischen Verhandlungen über mögliche Transfers anhielten.246 Viele Hundert Jüdinnen und Juden, deren Gesamtzahl sich nicht genauer abschätzen lässt, konnten dank der Papiere letztlich tatsächlich geschützt und gerettet werden. Einigen brachten diese Papiere einen wertvollen Zeitgewinn, der es ihnen erlaubte, unterzutauchen und im Versteck zu überleben. Im Falle einiger belgischer Jüdinnen und Juden führte der Besitz der PalästinaZertifikate gar dazu, dass sie gänzlich unbehelligt blieben.247 Die meisten in Holland registrierten Austauschkandidaten wurden zunächst von den vom Sammellager Westerbork248 abgehenden Deportationen nach Auschwitz und Sobibor ausgenommen; ab Herbst 1943 wurden jedoch auch sie teilweise in die Transporte in die Vernichtungslager aufgenommen, um die von Eichmanns Referat IV B 4 des RSHA in Berlin vorgegebene Quote zu erfüllen.249 244 YVA, P.12/127, Charles Grabiner (Belgien) an Lichtheim, 27. Juli 1943; ebd., Lichtheim an Posner, 9. August 1943; ebd., Lichtheim an Posner, 8. Oktober 1943; ebd., Posner an Leon Kubowitzki, 7. Januar 1944; ebd., Posner an Barlas, 2. Januar 1944. 245 Im Februar 1944 bat Lichtheim in Jerusalem für einen seiner Neffen um ein Zertifikat. Vgl. CZA, L22/146, Lichtheim an Aliyah Department, 23. Februar 1944. Ein weiterer Neffe befand sich in deutscher Kriegsgefangenschaft. Lichtheims Schwester Eva wurde gemeinsam mit ihrem Ehemann, einem belgischen Arzt, zwischenzeitlich in Mecheln interniert. Da das Paar über 60 Jahre alt war, wurde es schließlich wieder entlassen und in einer speziell für ältere Menschen gedachten Einrichtung in Brüssel untergebracht. Vgl. CZA, L22/104, Lichtheim an Lauterbach, 28. Februar 1944 (Nr. 1303). 246 CZA, L22/36, Kahany, Memorandum Nr. 105, 22. Dezember 1944. 247 CZA, L22/12, Lichtheim an HIJEFS, 1. August 1944. 248 Westerbork diente ursprünglich als Lager für geflüchtete Jüdinnen und Juden aus Deutschland. Unter Kontrolle der Nationalsozialisten wurden ab Juli 1942 in größerem Umfang auch holländische Jüdinnen und Juden dort interniert. Ab Juli 1942 begannen die Deportationen aus Holland in die Vernichtungslager Auschwitz und Sobibor. Ihnen fielen etwa 107 000 der im Land lebenden Jüdinnen und Juden zum Opfer; circa 5 200 überlebten. Vgl. Hirschfeld, Niederlande, bes. 165. 249 Oppenheim, The Chosen People, 21; Zariz, o. T., in: From Bergen Belsen to Freedom, 23 f.
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Ab Januar 1944 wurden jedoch 3 751 in Westerbork internierte sogenannte privilegierte Jüdinnen und Juden250 in acht Transporten nach Bergen-Belsen deportiert, dem von den Nationalsozialisten speziell für »Austauschkandidaten« errichteten Gefangenenlager in der Nähe von Hannover.251 Unter ihnen waren ungefähr 450 Personen, die für eine Austauschaktion mit der bri tischen Mandatsverwaltung in Palästina in Betracht kamen,252 so auch Alfred Klees Frau Theresa, die Familie Goslar und Gertrude van Tijn.253 Ebenso war Abraham Asscher, der zweite Vorsitzende des Jüdischen Rats, einer der 350 Diamantenschleifer und -händler, die als »Privilegierte« mit ihren Familien vorerst von den Deportationen in die Vernichtungslager ausgenommen und stattdessen nach Bergen-Belsen »verlegt« wurden.254 Vor dem Hintergrund der ersten Deportationen von Westerbork nach Bergen-Belsen, das ähnlich wie Theresienstadt eine deutlich bessere Reputation besaß als die Lager im Osten, plädierte Lichtheim dafür, die Zertifikatsausstellung unbedingt fortzusetzen. Auch loteten die Genfer Emissäre Möglichkeiten aus, Vertretern des IKRK oder der Schweizer Regierung Zutritt zu den Lagern Bergen-Belsen und Theresienstadt zu verschaffen. Die Bemü
250 Grob lassen sich fünf große Gruppen an »privilegierten« Jüdinnen und Juden ausmachen, die vorerst einer Deportation in die Vernichtungslager entgingen und ab Januar 1944 aus Westerbork zunächst nach Bergen-Belsen verlegt wurden: Wohlhabende Personen, die ihr Vermögen an die Nationalsozialisten abgeliefert hatten; holländische Jüdinnen und Juden, die dank doppelter Staatsbürgerschaft auch Angehörige von Feindstaaten waren; »Palästina-Juden«, die im Besitz von Papieren waren, die eine Einreiseerlaubnis nach Palästina in Aussicht stellten; Diamantenhändler und -schleifer und Personen mit (zum Teil gefälschten) Ausweispapieren lateinamerikanischer Staaten. Vgl. dazu Hirschfeld, Niederlande, 159 f. 251 Im Lager Bergen-Belsen wurden hauptsächlich Jüdinnen und Juden mit ausländischen Papieren konzentriert, die potenziell für einen Austausch gegen Deutsche infrage kamen: solche mit doppelter Staatsbürgerschaft, solche im Besitz lateinamerikanischer Pässe, nordafrikanische Jüdinnen und Juden mit britischen Pässen, eine Gruppe aus Griechenland und die sogenannten Palästina-Juden. Zum Teil auch als reguläres Konzentrationslager genutzt, wurde Bergen-Belsen in das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager eingegliedert und vom Wirtschaftsverwaltungshauptamt verwaltet. Offiziell wurde es als »Aufenthaltslager« bezeichnet, da es als Internierungslager gemäß den Bestimmungen der Genfer Konvention dem IKRK zur Kontrolle zugänglich gewesen wäre. Zur Geschichte des Lagers sowie den Motiven und Verantwortlichkeiten für die Austauschverhandlungen auf deutscher Seite vgl. Wenck, Zwischen Menschenhandel und »Endlösung«. Zu verschiedenen Häftlingsgruppen und den Lebensbedingungen im KZ Bergen-Belsen vgl. den Sammelband Knoch / Rahe (Hgg.), Bergen-Belsen. 252 Hirschfeld, Niederlande, 159. 253 Happe, Viele falsche Hoffnungen, 201. 254 Die »Diamantengruppe« wurde Anfang Dezember 1944 in andere Lager deportiert. Nur Asscher und seine Familie sowie die eines weiteren Diamantenhändlers blieben in BergenBelsen. Vgl. dazu Hirschfeld, Niederlande, 159 f.
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hungen blieben jedoch letztlich erfolglos, sodass in Genf zunächst keine Informationen zu den wirklichen Bedingungen in diesen Lagern vorlagen.255 Im Februar 1944 hatte Lichtheim nach Jerusalem gemeldet, dass die Nationalsozialisten damit begannen, in Vittel und Bergen-Belsen internierte Inhaber lateinamerikanischer Papiere, deren Gültigkeit sie nicht länger anerkannten, nach Osten zu deportieren. Daraufhin fürchtete man in Jerusalem auch um das Schicksal der in Bergen-Belsen internierten Zertifikatsinhaber.256 In der Hoffnung, die Alliierten zum Handeln drängen zu können, wurde eine konzertierte Aktion sowohl in Palästina als auch der Schweiz und den Vereinigten Staaten organisiert: Moshe Sharett (Shertok, 1894–1965), Leiter des Politischen Departments der Jewish Agency in Jerusalem, wandte sich an das britische Kolonialamt; Lichtheim und Kahany setzten sich gemeinsam mit Vertretern des im Januar 1944 von den Vereinigten Staaten eingerichteten War Refugee Board257 mit der britischen Gesandtschaft in Bern und der Schweizer Regierung in Verbindung, und Nahum Goldmann appellierte an das amerikanische Außenministerium. In der Folge wurden die langwierigen Gespräche über einen tatsächlichen Personenaustausch wieder aufgenommen und intensiviert.258 Bereits im Frühjahr 1943 waren die deutsche und die britische Regierung unter Vermittlung der neutralen Schweiz in Verhandlungen über einen dritten deutsch-palästinensischen Personenaustausch getreten, obwohl die britische Regierung einem solchen Projekt ablehnend gegenüberstand und die westalliierten Regierungen erst im April 1943 auf der Bermuda-Konferenz die Möglichkeit der Rettung von Juden durch den Austausch gegen deut-
255 CZA, L22/146, Lichtheim an Grünbaum, 14. März 1944, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 465–468. Informationen über das Lager Bergen-Belsen gelangten erst im August bzw. im Dezember 1944 nach Genf, nachdem der sogenannte Kasztner-Transport mit knapp 1 700 ungarischen Jüdinnen und Juden in der Schweiz eingetroffen war. Der Zug hatte Ungarn bereits Ende Juni verlassen, fuhr allerdings nicht wie versprochen auf direktem Wege in die Schweiz, sondern zunächst nach Bergen-Belsen, wo die Passagiere mehrere Monate festgehalten wurden. Im August gelangten 318 Personen und im Dezember 1944 weitere 1 350 Personen in die Schweiz und mit ihnen Informationen zu den Zuständen im Lager. 256 CZA, L22/145, Lichtheim an Grünbaum, 30. Februar 1944. 257 Im März 1944 reiste der amerikanische Geschäftsmann Ira Hirschmann (1901–1989) im Auftrag des War Refugee Board nach Istanbul, um von dort über das IKRK zu vermitteln. Ein anderes Mitglied, Roswell McClelland (1914–1995), reiste aus demselben Grund nach Genf. Im April 1944 fuhr ein Schweizer Vertreter nach Berlin, um dort mit den Deutschen zu verhandeln. Vgl. dazu Zariz, o. T., in: From Bergen Belsen to Freedom, 24. 258 CZA, L22/104, Lichtheim an Lauterbach, 9. Mai 1944 (Nr. 1358), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 469–473; YVA, P.12/127, Lichtheim an Goldin, 14. Juni 1944; vgl. auch Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 147 f.
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sche Internierte und Kriegsgefangene verworfen hatten.259 Die Rückführung von wehrfähigen Deutschen in den Dienst ihres nationalsozialistischen Herkunftsstaats wollten die alliierten Regierungen ebenso vermeiden wie den Eindruck der Erpressbarkeit. Hauptsächlich aufgrund des von jüdischer Seite ausgeübten Drucks traten die Briten dennoch in die Verhandlungen ein. Auf deutscher Seite hingegen bestand großes Interesse an einem solchen Austausch. Schon im November 1942 hatten Heinrich Himmler und das deutsche Außenministerium den Plan eines sehr viel umfangreicheren Personenaustauschs entwickelt. Um im Falle der Einigung ausreichend viele Personen gegen hohe Geldsummen, kriegswichtiges Material oder – im Sinne einer »Heimführung« – gegen in Palästina, Südamerika und dem Britischen Empire internierte Deutsche austauschen zu können, hatten die National sozialisten bereits im April 1943 damit begonnen, Jüdinnen und Juden mit ausländischen Papieren in dem bis dahin für verwundete Kriegsgefangene genutzten Lager Bergen-Belsen zu internieren.260 Letztlich wurden vor allem Personen aus Holland für einen Austausch in Betracht gezogen, unter anderem da die Nationalsozialisten »sicherheitspolitische Bedenken« gegen eine Ausreise polnischer Juden hegten: Bei einer Freilassung von Personen, die Zeuge ihrer Verbrechen in Polen geworden waren, hatten sie die Verbreitung weiterer Nachrichten über den Völkermord zu befürchten.261 Auch die Aufnahmeländer hatten Vorbehalte gegen Jüdinnen und Juden aus dem östlichen Europa.262 Ohnehin ließ sich eine deutlich größere Anzahl jüdischer Personen in Holland für einen Austausch registrieren, wohingegen viele polnische Jüdinnen und Juden mit palästinensischen Pässen oder Verwandten in Palästina sich davor scheuten, da sie dahinter ein deutsches Komplott befürchteten, um sie aus ihren Verstecken zu locken und zu deportieren.263 Nach langwierigen Verhandlungen wurden schließlich 272 in Bergen- Belsen Internierte für den Austausch ausgewählt. Zum Großteil handelte es sich dabei um Personen, die ab Januar 1944 aus Westerbork dorthin deportiert
259 Schulze, »Keeping Very Clear of Any ›Kuhhandel‹«, 230. 260 Am 2. März 1943 teilte das Auswärtige Amt Adolf Eichmann mit, dass »sämtliche Maßnahmen eingeleitet werden [sollen], die geeignet sind, im Austausch gegen uns zur Verfügung stehende Staatsangehörige der Feindstaaten, deutschen internierten Reichsbürgern die Rückkehr in die Heimat zu ermöglichen. […] Das Auswärtige Amt bittet daher, etwa 30 000 für einen eventuellen Austausch geeignet erscheinende Juden […] für diesen Zweck zur Verfügung zu stellen.« Vgl. Fritz Gebhardt von Hahn (AA) an Adolf Eichmann (Amt IV B 4, RSHA), 2. Februar 1943, abgedruckt in: Akten zur deutschen auswärtigen Politik, 1918–1945, 326 f. 261 Ammann / Aust, Hitlers Menschenhändler, 119. 262 Zeugin / Sandbühler, Die Schweiz und die deutschen Lösegelderpressungen in den Niederlanden, 39. 263 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 146.
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worden waren.264 In letzter Minute wurden 50 von ihnen zurückgestellt, da die Nationalsozialisten in dem Internierungslager Vittel 50 Personen ausfindig gemacht hatten, die im Besitz von palästinensischen Ausweisdokumenten waren und bevorzugt wurden, da sie den ursprünglichen britischen Kategorien für Austauschkandidaten entsprachen.265 Am 29. Juni 1944 verließen schließlich 222 Jüdinnen und Juden Bergen-Belsen und trafen wenig später in Wien auf die Gruppe aus Vittel sowie auf elf weitere Personen aus dem Internierungslager in Laufen. Gemeinsam reiste die Gruppe über Budapest, Belgrad und Sofia weiter in die Türkei und wurde am 6. Juli 1944 an der syrisch-türkischen Grenze gegen 150 Deutsche (74 davon aus Südafrika) ausgetauscht. Am 10. Juli 1944 liefen sie im Hafen von Haifa ein.266 Auch nach diesem dritten erfolgreich durchgeführten Austausch setzten die Genfer Stellen ihre Anstrengungen fort. Bis Kriegsende bemühten sie sich, potenzielle Kandidaten zu lokalisieren und bei den entsprechenden Stellen registrieren zu lassen, um sie vor der Deportation in die Vernichtungslager zu schützen. Im Januar 1945 gelangte Lichtheim in den Besitz einer Liste, die Ende 1944 aus dem Lager Bergen-Belsen herausgeschmuggelt worden war und auf der sich die Namen von 349 dort internierten Jüdinnen und Juden aus Polen mit ausländischen Papieren befanden.267 Mindestens 40 davon – 264 Wenk, Zwischen Menschenhandel und »Endlösung«, 222. Laut Wenk gehörten der Gruppe, die letzlich ausgetauscht wurde, keine Personen von den Istanbul-Listen an, allerdings solche von den Veteranenlisten. Ebd., 223 f., Fn. 319. 265 Ebd., 224. 266 Ebd., 226. Vgl. dazu auch den Bericht von Simon Heinrich Herrmann von 1944: ders., Austauschlager Bergen-Belsen. 267 CZA, L22/12, Lichtheim an HIJEFS, 11. Januar 1945. Diese 349 Jüdinnen und Juden gehörten zu einer größeren Gruppe von rund 2 500 bis 3 000 ausländischen Jüdinnen und Juden, die im Sommer 1943 in Polen erfasst und, da sie für einen Austausch infrage kamen, in Bergen-Belsen interniert worden waren. Etwa 500 Personen der Gesamtgruppe stammten aus Lemberg, Krakau, Bochina und Radom; rund 2 000 wurden aus Warschau deportiert. Eine detaillierte Liste der in Bergen-Belsen eintreffenden Transporte findet sich bei Kolb, Bergen-Belsen, 65–76. Die meisten der aus Warschau Deportierten gelangten im Zuge der sogenannten Hotel-Polski-Affäre in den Besitz lateinamerikanischer Pässe bzw. auf eine sogenannte Palästina-Liste. Die genauen Hintergründe der Hotel-Polski-Affäre sind bis heute nicht vollständig geklärt. Ende 1942 wurde von den deutschen Besatzern in Warschau angekündigt, Jüdinnen und Juden mit Papieren neutraler Staaten ausreisen zu lassen. Daraufhin wurden v. a. aus der Schweiz gefälschte Ausweisdokumente nach Warschau gesandt. Ab Mai 1943 kam es im Hotel Polski mit Billigung der Gestapo zu einem regen Handel mit diesen Papieren, was viele, die sich außerhalb der Ghettomauern versteckt hielten, dazu veranlasste, ihr Versteck aufzugeben. Zeitgleich zu dem Handel mit lateinamerikanischen Pässen wurde – nachdem aus Istanbul auch Palästina-Zertifikate für Frauen mit palästinensischen Ehemännern in Warschau eingetroffen waren – eine Liste mit angeblichen Zertifikatsinhabern bzw. -anwärtern zusammengetragen. Die Inhaber ausländischer Papiere wurden im Mai und Juli 1943 nach Bergen-Belsen und Vittel deportiert. Zwischen 300 bis 400 Jüdinnen und Juden, denen es nicht gelang, in den Besitz ausländischer Papiere zu
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so dachte Lichtheim – könnten, da sie im Besitz von Palästina-Zertifikaten waren, für einen vierten deutsch-palästinensischen Austausch berücksichtigt werden, über den entsprechende Stellen zu dieser Zeit verhandelten.268 Auf Lichtheims Betreiben hin wurde die Liste mit dem Hinweis auf die 40 potenziellen Kandidaten sowohl vom Schweizer EPD an Berlin269 als auch von der britischen Gesandtschaft in Bern an das Außenministerium in London weitergeleitet. Dort traf sie am 3. April ein, zog aber anscheinend keine weiteren Schritte nach sich.270 Am 6. April 1945 befahl Eichmann schließlich, alle in Bergen-Belsen verbliebenen »Austauschkandidaten« zu evakuieren.271 Bis dahin befanden sich laut der Historikerin Alexandra-Eileen Wenck noch über 1 000 Zertifikatsinhaber in Bergen-Belsen. Es ist allerdings unklar, wie viele davon wie Theresa Klee und Hans Goslar in den letzten Kriegstagen an Unterernährung, Erschöpfung und Krankheit starben.272 kommen, wurden am 15. Juli im Warschauer Pawiak-Gefängnis erschossen. Das Gros der »Hotel-Polski-Juden« wurde letztlich im Oktober 1943 von Bergen-Belsen nach Auschwitz deportiert und dort ermordet, nachdem die lateinamerikanischen Staaten sich geweigert hatten, die Papiere anzuerkennen. Zu den Hintergründen vgl. Shulman, The Case of Hotel Polski; Wenck, Zwischen Menschenhandel und »Endlösung«, bes. 147–155. 268 Verhandelt wurde über einen Austausch von 250 Templern, die mittlerweile von Palästina nach Australien gebracht worden waren, gegen dieselbe Anzahl »Palästinenser« (vorrangig Personen mit palästinensischen Papieren bzw. Frauen und Kinder von Palästinensern, aber auch Zertifikatsinhaber, deren Namen von der Schutzmacht an die deutschen Behörden übermittelt wurden). Vgl. dazu CZA, L22/36, Kahany an Lourie, Memo Nr. 105, 22. Dezember 1944. Bei den 40 Personen auf der Liste von 1944, die Lichtheim für potenzielle Austauschkandidaten hielt, handelte es sich um Frauen und Kinder mit palästinensischen Ehepartnern respektive Vätern, die Ende 1942 über Istanbul Palästina-Zertifikate erhalten hatten. CZA, L22/103, Lichtheim an Lauterbach, 15. Januar 1945 (Nr. 1441). Ein vierter Austausch kam nicht zustande. Vgl. Wenck, Zwischen Menschenhandel und »Endlösung«, 228. Lichtheim und seine Mitarbeiter versprachen sich allerdings allein von den Verhandlungen Schutz für die in Bergen-Belsen internierten grundsätzlich austauschfähigen Jüdinnen und Juden. 269 CZA, L22/103, Lichtheim an Lauterbach, 31. Januar 1945 (Nr. 1456). 270 Rainer Schulze hat die Liste in den Akten des britischen Außenministeriums (National Archive of the UK) ausfindig gemacht: ders., »Keeping Very Clear of Any ›Kuhhandel‹«, 241. 271 Bis zum 9. April wurden ungefähr 7 500 Jüdinnen und Juden in drei verschiedenen Zügen Richtung Theresienstadt deportiert. Der erste Transport, der ungefähr 2 500 Personen verschiedener Nationalitäten umfasste, wurde in der Nähe von Magdeburg von amerikanischen Truppen befreit. Der zweite Transport, der hauptsächlich aus ungarischen Jüdinnen und Juden bestand, erreichte unter heftigen Luftangriffen schließlich als einziger Theresienstadt. Der dritte Transport, der aus ungefähr 2 400 Personen bestand und Bergen-Belsen am 9. April verließ, wurde nach zweiwöchiger Fahrt durch Deutschland bei Tröbitz von der sowjetischen Armee befreit. Vgl. Wenck, Zwischen Menschenhandel und »Endlösung«, 369. 272 Ebd., 223; vgl. auch Zariz, Exchange: Jews and Germans, 457–459.
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Schutzbriefe für Inhaber von Palästina-Zertifikaten in Ungarn 1944 Im Jahr 1944 waren Lichtheim und seine Mitarbeiter – insbesondere Mena chem Kahany – in einen weiteren Rettungsversuch der Jewish Agency in Ungarn involviert, der ebenfalls auf dorthin erteilten Zertifikaten beruhte. Ab September 1943 hatte die britische Mandatsregierung sukzessive 10 000 Palästina-Zertifikate für die rund 800 000 unter dem Regime Miklós Horthys verfolgten ungarischen Jüdinnen und Juden bereitgestellt. Obwohl Ungarn vor Kriegsbeginn eine den Nürnberger Gesetzen nachempfundene anti semitische Gesetzgebung verabschiedet hatte und ab 1940 formal ein Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland eingegangen war, widerstand Horthy dem seit 1942 von deutscher Seite ausgeübten Druck, die jüdische Bevölkerung an die deutschen Vernichtungslager auszuliefern. Eine legale Ausreise aus Ungarn war bis zur deutschen Besetzung des Lands im März 1944 möglich, allerdings gelang es aufgrund strenger türkischer Transitbestimmungen bis dahin nur einigen Hundert ungarischen Jüdinnen und Juden, tatsächlich auszureisen. Lichtheim befürchtete zurecht, dass es der ungarischen Regierung nach der deutschen Besetzung nicht mehr möglich sein würde, die Deportation der letzten vom Holocaust noch verschont gebliebenen Judenheit zu verhindern, und suchte nach Möglichkeiten der Einflussnahme.273 In der Hoffnung, ein Protest der katholischen Kirche könne die ungarische Regierung von der Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Deutschland abhalten, kontaktierte er im März erneut den päpstlichen Nuntius in Bern.274 Eine Intervention des Vatikans wie der neutralen und alliierten Länder erfolgte allerdings erst im Sommer 1944, als unter der Kollaborationsregierung Döme Sztójays (1883–1946) der Großteil der ungarischen Jüdinnen und Juden bereits nach Auschwitz deportiert worden war. Ausgelöst wurde die internationale Protestwelle durch den sogenannten Vrba-WetzlerReport, einen Augenzeugenbericht, der seit Anfang Juni in der Schweiz zirkulierte und erstmals einer breiteren Öffentlichkeit ausführliche Informationen über das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau lieferte, wohin ab 15. Mai auch die Deportationszüge aus Ungarn rollten.275 Anfang April 1944 war 273 CZA, L22/104, Lichtheim an Lauterbach, 24. März 1944 (Nr. 1327); CZA, L22/104, Lichtheim an Lauterbach, 3. April 1944 (Nr. 1336); CZA, L22/104, Lichtheim an Lauterbach, 9. Mai 1944 (Nr. 1358), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 469–473. 274 CZA, L22/145, Lichtheim an Grünbaum, 30. März 1944. 275 Entgegen den Behauptungen von Historikern wie Marin Gilbert (Auschwitz and the Allies, 1981), die Alliierten hätten erst mit dem Vrba-Wetzler-Report im Sommer 1944 vom Massenmord in Auschwitz erfahren, hat Michael Fleming gezeigt, dass den westlichen Alliierten wahrscheinlich ab November 1942, spätestens aber ab Januar 1943 Informationen zu den Vergasungen in Auschwitz vorlagen. Durch die weite Verbreitung des Berichts durch den jüdischen Untergrund und seine Veröffentlichung in der Schweizer Presse entglitt er
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den beiden slowakischen Juden Rudolf Vrba (Walter Rosenberg, 1924–2006) und Alfred Wetzler (1918–1988) die Flucht aus Auschwitz gelungen. Mithilfe des jüdischen Untergrunds fertigten sie in Bratislava den bis dahin umfangreichsten Bericht über die nationalsozialistische Vernichtungspolitik an und sandten ihn in der Absicht, die ungarischen Juden zu warnen, nach Budapest und in die Schweiz.276 Die Veröffentlichung von Teilen des Berichts in der Schweizer Presse im Juni 1944 zog eine Welle des Protests nach sich, in deren Folge Horthy die Deportationen am 9. Juli 1944 letztlich stoppen ließ.277 424 000 Jüdinnen und Juden aus der ungarischen Provinz waren zu diesem Zeitpunkt bereits nach Auschwitz deportiert worden, weitere rund 200 000 in Budapest blieben zunächst von den Deportationen verschont. Dringlicher denn je waren Maßnahmen, um deren Schutz sicherzustellen. Lichtheim, den der Vrba-Wetzler-Report zwischen dem 14. und 19. Juni 1944 erreichte, kontaktierte umgehend Grünbaum in Jerusalem und setzte ihn davon in Kenntnis, dass man in Genf nun im Besitz gesicherter Informationen über Umfang, Ort und angewandte Methoden der systematischen Vernichtung sei: »[W]e now know in full detail how, where and when the Jews of Europe have been killed apart from the hundreds of thousands who met their death in the ghettos and death-camps of Poland.«278 sozusagen der britischen und amerikanischen Zensur. Das Wissen um Auschwitz erreichte damit erstmals eine breite Öffentlichkeit. Die Schweizer Emissäre erhielten den Bericht zum Teil direkt aus Bratislava, zum Teil über Ungarn. Vgl. dazu Fleming, Auschwitz, the Allies and Censorship of the Holocaust, 10, sowie bes. Kap. 6: Reassessing the Significance of the Vrba-Wetzler Report, 229–257. 276 Der Bericht entstand nach Vrbas und Wetzlers Flucht am 11. April 1944 und ihrer Ankunft in Bratislava zwischen dem 25. und 27. April. Die Vertreter des jüdischen Untergrunds in Bratislava Gisi Fleischmann (1892–1944) und Rabbi Michael Dov Weissmandl (1903–1957) sandten ihn an Jaromír Kopecký (1899–1977), den Vertreter der tschechoslowakischen Exilregierung in Genf, wo er mithilfe des polnischen Untergrunds und über Ungarn um den 10. Juni 1944 herum eintraf. Kopecký wiederum leitete den Bericht an Ullmann und Lichtheim weiter. Vrba und Wetzler waren fast zwei Jahre in Auschwitz und Birkenau. Sie schätzten (fälschlicherweise), dass über 1 765 000 Jüdinnen und Juden zwischen April 1942 und April 1944 in Auschwitz ermordet worden waren. Laut Láníček waren es bis April 1944 zwischen 500 000 und 600 000 Menschen. Vgl. ders., Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 129. Zwei weitere jüdische Gefangene – Czesław Mordowicz (1919–2001) and Arnošt Rosin (1913–2000) – flohen Ende Mai 1944 aus Birkenau und brachten weitere Details über die jüngsten Ereignisse im Lager an die Öffentlichkeit. Vgl. dazu Fleming, Auschwitz, the Allies and Censorship of the Holocaust, 229–231. Deutsche Übersetzungen der Berichte sind abgedruckt in: Świebocki (Hg.), London wurde informiert … 277 VEJ, Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942–1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, 50. 278 CZA, L22/145, Lichtheim an Grünbaum, 19. Juni 1944, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 476–481, hier 480 f. Vgl. auch CZA, L22/566, Lichtheim, Aktennotiz betreffend Birkenau und Auschwitz, 23. Juni 1944 (der Bericht hängt der Aktennotiz an).
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Auch das Londoner Büro der Jewish Agency unterrichtete er darüber, dass fast die Hälfte des ungarischen Judentums deportiert worden sei. Ab Mai seien täglich zwischen 10 000 und 12 000 ungarische Jüdinnen und Juden in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebracht worden, wo bis zu 6 000 Menschen am Tag den Tod durch Vergasung fänden. Diesen neuen Informationen sollte größtmögliche Aufmerksamkeit zukommen und die ungarische Regierung sollte erneut gewarnt werden, dass sie für diese Taten nach dem Krieg zur Verantwortung gezogen würde. Weiter schlug Lichtheim Repressalien gegen Deutsche in alliierter Hand, die Bombardierung der Bahngleise zwischen Ungarn und Birkenau sowie die präzise Bombardierung des Tötungslagers und der Regierungsgebäude in Budapest vor.279 Da das Telegramm über die britische Gesandtschaft in Bern geschickt wurde, wurde es auch im britischen Außenministerium empfangen und am 27. Juni an Winston Churchill weitergeleitet. Dort löste es allerdings keine Reaktion aus.280 Nach einer gemeinsamen Beratung mit Riegner und weiteren Vertretern jüdischer Organisationen in Genf telegrafierte er wenige Tage später erneut mögliche Maßnahmen an Joseph Linton in London. Unter anderem regten die Emissäre an, neben einer Protestnote und der Ankündigung von Vergeltungsmaßnahmen von den alliierten Regierungen die Aufnahme einer unbestimmten Zahl ungarischer Jüdinnen und Juden zu fordern. Auch übermittelten sie die Forderung von Moshe Krausz (1908–1986), Leiter des Budapester Palästina-Amts und Mitglied des Komitees für Hilfe und Rettung, von den britischen Behörden für eine größtmögliche Anzahl an Zertifikatsinhabern palästinensische Naturalisationsbestätigungen zu erlangen.281 Hintergrund dieser letztgenannten Forderung war eine gemeinsame Initiative Krausz’ mit dem Schweizer Vizekonsul Carl Lutz (1895–1975), der die Abteilung für Fremde Interessen der Schweizer Gesandtschaft in Budapest leitete und damit die britischen Interessen in Ungarn vertrat. Krausz und Lutz waren erstmals 1942 in Kontakt getreten, als Lutz im Auftrag der britischen Regierung vom Eidgenössischen Politischen Departement bei der Identifizierung von Inhabern von Palästina-Zertifikaten um Hilfe gebeten wurde. Als Krausz nach der deutschen Besetzung Ungarns zur Zwangsarbeit herangezogen werden sollte, bat er Lutz um Beistand. In Absprache mit seinen 279 Lichtheim an JA London, 26. Juni 1944, abgedruckt in: AotH 4, 297–8. Diese Forderung wurde nach Bekanntwerden des Vrba-Wetzler-Reports Mitte Juni 1944 von verschiedenen jüdischen Akteuren in Budapest, Genf und Jerusalem vorgebracht. Sinnhaftigkeit und Umsetzung der Forderung wurden kontrovers diskutiert, sie blieb aber letztlich folgenlos. Vgl. dazu die Dokumentensammlung: Wyman (Hg.), Bombing Auschwitz and the Auschwitz Escapees’ Report. 280 Fleming, Auschwitz, the Allies and Censorship of the Holocaust, 236 und 249. 281 CZA, L22/595, Lichtheim an Linton, 30. Juni 1944, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 481–483.
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Vorgesetzten in Bern stellte Lutz schließlich sowohl Krausz als auch die rund 30 Mitarbeiter des Palästina-Amts unter den diplomatischen Schutz der Schweizer Gesandtschaft und gewährte ihnen Unterschlupf in deren Räumlichkeiten.282 Wie Krausz wandten sich auch zahlreiche andere Jüdinnen und Juden auf der Suche nach Schutz vor den Nationalsozialisten an die Schweizer Gesandtschaft. An eine Flucht aus Ungarn – umgeben von deutsch besetzten oder annektierten Ländern und kollaborierenden Vasallenstaaten – war schließlich nicht zu denken. Da es sich bei den meisten Schutzsuchenden um ungarische Staatsangehörige und jüdische Geflüchtete aus Nachbarländern handelte, die nicht einfach unter den Schutz einer fremden Macht gestellt werden konnten, blieben Lutz’ Möglichkeiten begrenzt. Von Krausz erfuhr er jedoch, dass sich bis zur deutschen Besetzung 8 000 ungarische Jüdinnen und Juden für die Auswanderung nach Palästina registriert hatten und im Besitz von Palästina-Zertifikaten waren.283 Gemeinsam dachten die beiden nun darüber nach, wie Lutz zumindest diesen Zertifikatsinhabern besonderen Schutz angedeihen lassen und deren Ausreise ermöglichen konnte.284 Dazu nahm Lutz im April mit dem deutschen Gesandten und neuen »Reichsbevollmächtigten« SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer (1904–1977) Kontakt auf, um die Möglichkeiten der Ausreise dieser aus 7 000 Erwachsenen und 1 000 Kindern unter 16 Jahren bestehenden Personengruppe zu eruieren. Nach wochenlangen Verhandlungen zunächst mit Veesenmayer, später mit Adolf Eichmann zeigte sich die deutsche Seite bereit, die Zertifikatsinhaber ausreisen zu lassen und von den ab Mai durchgeführten Deportationen auszunehmen.285 Im Zuge dessen wurde Lutz von deutscher Seite gestattet, die Zertifikatsinhaber bis zu ihrer tatsächlichen Reise nach Palästina unter seine Obhut zu nehmen.286 Da es sich bei den Zertifikatsinhabern jedoch um ungarische Staats angehörige handelte, die nicht ohne Zustimmung der ungarischen Behörden unter den Schutz einer fremden Macht gestellt werden konnten, und ein Palästina-Zertifikat zunächst nichts weiter als die Erlaubnis zur Einreise in das Mandatsgebiet bestätigte, drängte Krausz auf die Ausstellung einer zusätzlichen Bestätigung über die Naturalisation der Zertifikatsinhaber durch die Briten. Mit einem solchen Schreiben, so die Idee, würden die Zertifikatsinhaber quasi als Subjekte des britisch verwalteten Palästina in die Zuständigkeit 282 Tschuy, Carl Lutz und die Juden von Budapest, 153 f. 283 Vgl. Rosenberg, Das Glashaus, 108. 284 Schweizerisches Bundesarchiv (CH-BAR), E 2800(-)1982/120 60, Aufzeichnungen über die Rettungsaktion im Kriegswinter 1944 durch Konsul Carl Lutz, Chef der Schutzmachtabteilung der schweizerischen Gesandtschaft, Budapest, 24. Februar 1949, (3. April 2023). 285 Wisard, Carl Lutz in Budapest, 44 f.; Tschuy, Carl Lutz und die Juden von Budapest, 146. 286 Rosenberg, Das Glashaus, 109.
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der Schweizer Gesandtschaft fallen, die die britischen Interessen in Ungarn vertrat.287 Daraufhin drängten die Jerusalemer, Londoner, Genfer und Budapester Vertreter der Jewish Agency die Briten, der Ausstellung eines solchen zusätzlichen Schreibens zuzustimmen und die Schweizer Schutzmacht entsprechend zu instruieren.288 In der Folge trat London Mitte Juni mit der Schweizer Regierung über das genaue Vorgehen in Verhandlungen, bis diese sich dazu bereit erklärte, die zusätzlichen Naturalisationsbescheinigungen über ihre Gesandtschaft in Budapest auszustellen und, da eine direkte Reise in das Mandatsgebiet nicht möglich war, 7 000 bis 8 000 Zertifikatsinhabern temporären Schutz in der Schweiz zu gewähren, bis diese nach Palästina weiterreisen konnten.289 Im Zuge der vom Vrba-Wetzler-Report ausgelösten internationalen Protestwelle versprach schließlich auch Horthy Ende Juni 1944 öffentlich, gewisse Kategorien von Juden – unter ihnen auch die rund 8 000 Inhaber der Palästina-Zertifikate – aus Ungarn ausreisen zu lassen. Gleichzeitig hatten Lichtheim und Kahany in der Schweiz begonnen, mit der britischen Gesandtschaft in Bern über den Wortlaut und die Form der von den Konsuln in Budapest auszustellenden Bestätigung zu verhandeln. Da man de facto beabsichtigte, ungarische Staatsangehörige unter den Schutz der Schweiz zu stellen, musste eine Formulierung gefunden werden, die dies ermöglichte und legitimierte. Das Schreiben musste also zum Ausdruck bringen, dass die Zertifikatsinhaber mit ihrer Einreise nach Palästina zugleich das Anrecht auf Einbürgerung erwarben, damit sie in die Befugnisse der Schweizer Gesandtschaft als Schutzmacht fielen.290 Nachdem die vorgeschlagene Formel von britischer Seite akzeptiert und an die Schweizer Gesandtschaft übermittelt wurde, begann Lutz mit Unterstützung seines Vorgesetzten, des Schweizer Konsuls Maximilian Jaeger291 (1884–1958), im Juli und August da287 CZA, Lavon, III-37A-1, File Nr. 84 – Aktennotiz Kahany, 3. Juli 1944. 288 CZA, L22/15, Kahany an Johannes Schwarzenberg (IKRK), 24. Juli 1944. Vgl. Zu der Aktion auch Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 132 und 236. 289 Lavon, III-37A-1, File Nr. 84 – Aktennotiz Kahany, 3. Juli 1944; CZA, L22/15, Kahany an Schwarzenberg, 24. Juli 1944. 290 Lavon, III-37A-1, File Nr. 84 – Aktennotiz Kahany, 3. Juli 1944. Es handelte sich letztlich um einen Schutzbrief: »The bearer of this certificate (name) will be admitted as an immigrant into Palestine at any time which he (she) may reach that country and thereafter will obtain Palestinian citizenship in accordance with the Palestinian Citizenship Order 1925–1941 Consolidated on the completion of two years residence.« CZA, L22/15, Kahany an Schwarzenberg, 1. August 1944. 291 Der Schweizer Jurist Maximilian Jaeger war ab 1909 im diplomatischen Dienst tätig: von 1925 bis 1938 Gesandter der Schweizer Regierung in Wien und Budapest; nach dem »Anschluss« Österreichs im Jahr 1938 Gesandter in Budapest; nach Machtübertragung auf die Pfeilkreuzler am 15. Oktober 1944 wurde Jaeger aus Ungarn zurückgezogen und dort zunächst von Anton Kilchmann (1902–1961), von Dezember bis Kriegsende von Harald Feller (1913–2003) vertreten.
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mit, die Zertifikatsinhaber zu kontaktieren und die entsprechenden Papiere auszustellen.292 Parallel dazu stellte Lutz auf Basis der Auswanderungslisten sogenannte Kollektivpässe zusammen, die – da eine Ausreise in die Schweiz vorgesehen war – gegenüber den ungarischen Behörden als Schweizer Reisedokumente dienen sollten.293 Einen ersten solchen Kollektivpass stellte Lutz am 29. Juli 1944 aus und die darin aufgeführten Personen erhielten bereits zwei Tage später vom ungarischen Außenministerium eine Ausreisegenehmigung.294 Daraufhin wurde umgehend eine Gruppe von 2 100 Personen, darunter 300 Kinder, zusammengestellt und Vorkehrungen für deren Abreise getroffen.295 Die Abfahrt der Gruppe scheiterte jedoch an der Weigerung der deutschen Behörden, sie ausreisen zu lassen.296 Dabei waren die Hoffnungen von Lutz und Krausz in Budapest auf ein erfolgreiches Zustandekommen dieses Transports nicht unbegründet gewesen. Der Idee, eine gewisse Anzahl ungarischer Jüdinnen und Juden von den Deportationen auszunehmen, schienen die nationalsozialistischen Behörden keineswegs unaufgeschlossen gegenüberzustehen. Im Zuge von »Lösegeldverhandlungen« zwischen dem Budapester Komitee für Hilfe und Rettung und der SS durften bereits Ende Juni mit dem sogenannten Kasztner-Transport 1 684 Juden Ungarn verlassen.297 292 CZA, L22/15, Kahany an Schwarzenberg, 1. August 1944. 293 Vgl. Rosenberg, Das Glashaus, 112 f. 294 Insgesamt stellte Lutz vier solcher Pässe für je rund 1 000 Personen aus. Vgl. ebd., 114. 295 CZA, L22/15, Kahany an Schwarzenberg, 1. August 1944; CZA, L22/12, Lichtheim an HIJEFS, 1. August 1944. Vgl. dazu auch Bauer, Jews for Sale?, 231. 296 Der Leiter der Abteilung für Fremde Interessen bei der Schweizer Gesandtschaft in Budapest, Carl Lutz, an den Leiter der Abteilung für Fremde Interessen beim Eidgenössischen Politischen Departement, A. de Pury, 23. August 1944, abgedruckt in: Marguerat / Roulet (Hgg.), Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 15, (3. April 2023). 297 Parallel zu Krausz’ Bemühungen um den Schutz der neutralen Staaten traten die Leiter des Budapester Komitees für Hilfe und Rettung, Rudolf Kasztner (Rezső Kasztner, 1906–1957) und Joel Brand (1906–1964), mit Mitgliedern der SS in Kontakt, um über den Freikauf ungarischer Jüdinnen und Juden zu verhandeln. Im Mai wurde Joel Brand von Eichmann nach Istanbul geschickt, um den dortigen Vertretern der Jewish Agency Heinrich Himmlers Angebot zu unterbreiten, eine Million Jüdinnen und Juden im Austausch gegen 10 000 Lastwagen, die an der Ostfront eingesetzt werden sollten, Geld oder andere Güter freizulassen. Während die Jewish Agency sich aufgrund fehlender Mittel nicht in der Lage sah, das Angebot anzunehmen, wollten sich die westlichen Alliierten auf das fragwürdige Tauschgeschäft auch aus Rücksicht auf ihren sowjetischen Bündnispartner nicht einlassen. Unterdessen verhandelte Kasztner in Budapest weiter mit Eichmann und SS-Standartenführer Kurt Becher (1909–1995) und es gelang ihm, die SS dazu zu bewegen, zum Beweis der Ernsthaftigkeit ihres Angebots eine gewisse Anzahl Jüdinnen und Juden ausreisen zu lassen. Gegen die Bezahlung von Gold, Diamanten und Bargeld durften Ende Juni 1 684 Personen Budapest verlassen. Der Transport fuhr allerdings nicht wie versprochen auf direktem Weg in die Schweiz, sondern zunächst nach Bergen-Belsen. Erst im August (318 Personen) bzw. im Dezember 1944 (1 350 Personen) gelangten die Geretteten in die
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Nachdem die Abreise der Gruppe an der Weigerung der Deutschen gescheitert war und Lutz mittlerweile Informationen über die wahren Absichten der Nationalsozialisten erhalten hatte, gewährte er den Inhabern der Schutzbriefe in den von ihm verwalteten Gesandtschaftsgebäuden Asyl und dehnte in der Folge die Ausstellung der Papiere sukzessive aus, um möglichst viele Personen vor der Ghettoisierung, dem Einzug in Arbeitskommandos und der drohenden Deportation zu bewahren. Nach der Ausschöpfung seines offiziellen Kontingents machte Lutz ohne Rücksprache mit seinen Vorgesetzten in Bern aus den 8 000 Einzelpersonen schließlich ganze Familien und begann mit der Ausgabe von mehreren Tausend Schweizer Schutzbriefen.298 Die Vertreter Schwedens, Spaniens und Portugals sowie die des Vatikans und des IKRK taten es ihm, wenn auch in geringerem Umfang, in den folgenden Wochen und Monaten gleich.299 Mit dem Sturz Horthys und der Übernahme der Regierungsgewalt durch die faschistische Pfeilkreuzlerpartei unter Ferenc Szálasi am 15. Oktober 1944 spitzte sich die Lage der jüdischen Bevölkerung in Budapest abermals zu. Tausende Jüdinnen und Juden im Alter von zehn bis 80 Jahren wurden in die Arbeitslager in der Umgebung von Budapest verschleppt, während Zehntausende Männer, Frauen und Kinder auf Veranlassung Eichmanns auf die Todesmärsche in Richtung der österreichischen Grenze geschickt wurden. In Genf erfuhr man, dass zumindest die Inhaber ausländischer Schutzpapiere von diesen Maßnahmen ausgenommen wurden. Abermals begannen in Bern intensive Verhandlungen zwischen den Emissären der Jewish Agency und den Vertretern der alliierten Gesandtschaften, die an Lichtheims Aktivitäten in den Botschaften Konstantinopels während des Ersten Weltkriegs erinnerten. Lichtheim und Kahany drängten die amerikanischen und britischen Regierungsvertreter, den geschützten Personenkreis durch die erneute Ausgabe von Dokumenten zu erweitern und auf die Ausreise der 8 000 ursprünglichen Zertifikatsinhaber hinzuarbeiten. Schweiz. Nach dem Krieg wurden die Verhandlungen Kasztners mit der SS unterschiedlich bewertet. Als egoistisch kritisiert wurde Kasztners Vorgehen, seine Familie sowie eine große Anzahl Personen aus seiner Heimatstadt in den Transport aufgenommen zu haben. Die Vorwürfe gipfelten in der Anschuldigung, Kasztner habe mit den Nationalsozialisten kollaboriert und sich persönlich bereichert. 1957 fiel er in Israel einem Mordanschlag rechter Nationalisten zum Opfer. In einem Gerichtsverfahren im Jahr darauf wurde Kasztner posthum von den meisten der gegen ihn vorgebrachten Vorwürfe freigesprochen. Vgl. dazu Löb, Art. »Kasztner-Affäre«. Zu den Verhandlungen und der Kontroverse nach dem Krieg in Israel vgl. Bauer, Jews for Sale?, bes. Kap. 9: Satan and the Soul – Hungary, 1944, 145–171; Tom Segev, The Seventh Million, 255–310. Für neuere Forschung zu den Aktivitäten des Budapester Komitees für Hilfe und Rettung vgl. Szabolcs, Trading in Lives. 298 Vgl. Rosenberg, Das Glashaus, 121; Wagner, The Righteous of Switzerland, 175. 299 Bauer, Jews for Sale?, 232. Zu den Aktivitäten des IKRK in Ungarn vgl. Ben-Tov, Facing the Holocaust in Budapest.
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Als Ende Oktober die deutschen und ungarischen Behörden überraschend der Ausreise der Zertifikatsinhaber zustimmten, ersuchten die Genfer Vertreter der Jewish Agency ein weiteres Mal den amerikanischen Botschafter Leland Harrison und den britischen Botschaftsmitarbeiter Douglas M acKillop, bei der Schweizer Regierung auf die Aufnahme der Gruppe hinzuwirken. In einer Unterredung mit den alliierten Regierungsvertretern bekräftigte der Schweizer Außenminister Marcel Pilet-Golaz (1889–1958) am 30. Oktober 1944 nochmals die Bereitschaft der schweizerischen Regierung, die ungarischen Jüdinnen und Juden aufzunehmen und für deren Versorgung aufzukommen. Nachdem von alliierter Seite zum wiederholten Mal versichert wurde, dass es sich nur um temporäres Asyl handle, dehnte die Schweizer Regierung ihr Einverständnis Anfang November auf weitere 4 500 Inhaber schwedischer Schutzpässe aus, die seit Sommer – angeregt durch Carl Lutz’ Vorgehen – von dem schwedischen Diplomaten Raoul Wallenberg (1912–?) ausgestellt worden waren.300 Im Dezember 1944 musste Lichtheim Jerusalem schließlich darüber informieren, dass den 12 000 Budapester Jüdinnen und Juden aufgrund der militärischen Entwicklungen die Ausreise nicht gestattet wurde, da – so die offizielle Erklärung von deutscher Seite – keine Waggons für deren Transport zur Verfügung gestellt werden könnten.301 Ob die deutschen Behörden ernsthaft beabsichtigt hatten, diese Gruppe freizulassen, ist fraglich. Die Verhandlungen darüber blieben jedenfalls ohne Folgen. Bis zur Befreiung Budapests durch die Rote Armee am 13. Februar 1945 fielen mehrere Tausend 300 Der Leiter der politischen Abteilung, Marcel Pilet-Golaz, an den Delegierten des Bundesrates für internationale Hilfswerke, Edouard de Haller, 3. November 1944, abgedruckt in: Marguerat / Roulet (Hgg.), Diplomatische Dokumente der Schweiz, Bd. 15, 280, (3. April 2023); Der Chef der Polizeidivision im Justiz- und Polizeidepartement, Heinrich Rothmund, an den Schweizer Minister in Berlin, Hans Frölicher, 3. November 1944, abgedruckt in: ebd., 709 f., (3. April 2023); CZA, Z4/30889, Kahany, Memo Nr. 104, 16. November 1944; CZA, L22/144, Lichtheim an Jewish Agency Jerusalem, 8. Dezember 1944, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 485–487; CZA, L22/103, Lichtheim an Lauterbach, 14. Dezember 1944 (Nr. 1421), abgedruckt in: ebd., 487–492. Der schwedische Gesandte Wallenberg erreichte Budapest im Sommer 1944. Nach der Machtübertragung auf die Pfeilkreuzler dehnte er seine Rettungsaktivitäten signifikant aus. Neuere Forschungen schätzen die Anzahl der durch ihn geretteten Personen auf 7 000 bis 9 000 und widersprechen damit älteren Darstellungen, die Wallenberg die Rettung von 100 000, wenn nicht gar aller Budapester Jüdinnen und Juden zuschrieben. Wallenbergs zweifelsohne couragiertes Auftreten gegenüber den Nationalsozialisten und ungarischen Faschisten sowie seine Inhaftierung und Ermordung durch die sowjetische Geheimpolizei trugen v. a. während des Kalten Kriegs zur Entstehung einer Legende bei, die lange Zeit andere Rettungsaktionen überdeckte. Vgl. dazu Braham, Rettungsaktionen, 24. 301 CZA, L22/19, Riegner an McClelland, 21. Dezember 1944; CZA, L22/103, Lichtheim an Lauterbach, 23. Dezember 1944 (Nr. 1425), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 493–502.
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Budapester Jüdinnen und Juden dem Pfeilkreuzler-Terror zum Opfer. Dennoch überlebten weit mehr als 130 000 Jüdinnen und Juden den Holocaust in Budapest. Die genaue Anzahl derer, die dank der Schutzbriefe von Carl Lutz sowie weiterer Gesandter neutraler Staaten, des IKRK, des Vatikans und nicht zuletzt dank der Fälschungen des jüdischen Untergrunds, der Deportation in die nationalsozialistischen Vernichtungslager oder der Ermordung durch die Pfeilkreuzler entgingen, lässt sich nicht feststellen. Basierend auf der ursprünglich die 7 000 bis 8 000 Inhaber von Palästina-Zertifikaten betreffenden Initiative hat allein Lutz nach eigenen Angaben rund 50 000 Schutzbriefe ausgestellt. Nach dem Sturz Horthys hatte er bei der Regierung Szálasi die Anerkennung der ausländischen Schutzpapiere sowie die Unterbringung von deren Inhabern in 76 unter Schweizer diplomatischem Schutz stehenden Gebäuden erwirken können, die während der Belagerung Budapests und des Kampfs zwischen Wehrmacht und Roter Armee um die Stadt im Winter 1944/45 weitgehend verschont blieben.302 Der Historiker Yehuda Bauer schätzte in seiner Studie Jews for Sale?, dass allein dank des Schweizer Schutzes rund 62 000 Budapester Jüdinnen und Juden gerettet werden konnten.303 Zionistische Geflüchtetenhilfe in der Schweiz Da er überzeugt war, dass der Krieg in Europa mit einer beispiellosen Masse an Geflüchteten enden werde, wobei die Versorgung der jüdischen Geflüchteten die größte und schwierigste Herausforderung darstellen würde, überlegte Lichtheim ab 1943, wie diese Frage nach Kriegsende gelöst werden könnte und welche Rolle die zionistischen Organisationen dabei spielen sollten. Angesichts der Katastrophe in Europa war er mehr denn je der Auffassung, dass nur die Ansiedlung in einem jüdischen Palästina Antisemitismus und Verfolgung ein Ende setzten würde. Im Frühjahr 1943 beklagte er, dass die lebensrettende Chance, die der Zionismus den europäischen Judenheiten in den 1920er und 1930er Jahren geboten habe, zum Großteil ungenutzt geblieben sei: 302 CH-BAR, E 2800(-)1982/120 60, Aufzeichnungen über die Rettungsaktion im Kriegswinter 1944 durch Konsul Carl Lutz, Chef der Schutzmachtabteilung der schweizerischen Gesandtschaft, Budapest, 24. Februar 1949. Lutz’ Vorgehen wurde im Sommer 1944 von Raoul Wallenberg, dem Gesandten der schwedischen Regierung, sowie in kleinerem Umfang auch vom spanischen und portugiesischen Gesandten, dem päpstlichen Nuntius Angelo Rotta (1872–1965) und dem Vertreter des IKRK, Friedrich Born (1903–1963), übernommen. Zusätzlich zu den legal ausgestellten Schutzbriefen fälschte auch die Untergrundbewegung des He-Ḥ aluẓ rund 100 000 Dokumente. Vgl. dazu Bauer, Jews for Sale?, 232; Asher Cohen, Resistance and Rescue in Hungary, 130. 303 Bauer, Jews for Sale?, 238.
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»Die zionistische Lösung der Judenfrage war die allein mögliche und richtige. […] Wie anders wäre die Lage, wenn in den Jahren nach der Balfour-Deklaration auch nur 100 000 jüdische Familien aufgebrochen wären, um ihr Heim in Palästina aufzuschlagen. Dann hätten wir heute schon den Judenstaat, dann hätten wir noch Hunderttausende retten können, dann gäbe es kein Flüchtlingsproblem, das den Regierungen Ungelegenheiten schafft. Wir sind damals nicht verstanden und gehört worden und wir haben ein Recht, in dieser tragischen Stunde zu erklären, dass die Mehrheit der Juden sich selber verdammt hat als sie den Zionismus verdammte.«304
Zionistische Arbeit war für ihn nunmehr gleichbedeutend mit der Organisation der Auswanderung nach Palästina und damit der Rettung einer größtmöglichen Anzahl europäischer Jüdinnen und Juden.305 Und gleichzeitig hing für ihn das Fortbestehen der zionistischen Bewegung von deren Vermögen ab, Hilfe und Schutz zu organisieren. Um Lösungen zu erarbeiten, engagierte sich Lichtheim ab Sommer 1943 gemeinsam mit Riegner im Rahmen der interkonfessionellen Geneva Study Group for Post-War Refugee Problems, die sich vor allem mit soziologischen und rechtlichen Aspekten beschäftigte.306 Bei den insgesamt zwanzig Mitgliedern der Studiengruppe handelte es sich vorwiegend um Kirchenvertreter sowie Repräsentantinnen und Repräsentanten jüdischer wie christlicher Hilfsorganisationen: Neben Lichtheim und Riegner waren dort unter anderem Berta Hohermuth (1903–1977) vom Internationalen Sozialdienst, Milly Furrer von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe sowie Roswell McClelland vom American Friends Service Committee, später Repräsentant des War Refugee Boards, vertreten. Die Studiengruppe stellte die offizielle Leitlinie der schweizerischen Politik, die auf die Transmigration der Geflüchteten und nicht auf permanentes Asyl abzielte, nicht infrage.307 Sie bestand allerdings darauf, dass das Problem nicht gelöst werden solle, ohne die Wünsche der Betroffenen selbst zu berücksichtigen. Um »ein gewisses Bild von den Gefühlen und Meinungen der Flüchtlinge selbst zu bekommen«, erstellte die Arbeitsgruppe einen Fragebogen, um Informationen zu Status, Religionszugehörigkeit, Herkunftsland und bevorzugtem Zielland zu sammeln.308 Für Lichtheim diente die Befragung dazu, einen Überblick über die ungefähre Anzahl an 304 Richard Lichtheim, Zionismus von morgen, o. D. [Mai 1943], zit. nach Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 5. 305 CZA, L22/9, Lichtheim an Lauterbach, 22. November 1943 (Nr. 1214). 306 CZA, L22/10, Lichtheim an Lauterbach, 7. Juli 1943 (Nr. 1122); CZA, L22/9, Lichtheim an Lauterbach, 17. September 1943 (Nr. 1167); CZA, L22/104, Lichtheim an Lauterbach, 1. Februar 1944 (Nr. 1276), angehängt ist das Protokoll der Sitzung der Study Group vom 20. Januar 1944. 307 Zur Schweizer Politik der Transmigration vgl. Erlanger, The Politics of »Transmigration«. 308 CZA, A56/29, Study Group for Post-War Refugee Problems. First Series of Documents, Geneva 1944.
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Auswanderungswilligen zu erlangen, um so die Zertifikatsverteilung in Jerusalem entsprechend beeinflussen zu können. Mit Einverständnis der Schweizer Behörden führte die Gruppe bereits im Jahr 1943 erste Untersuchungen in einer Reihe von Schweizer Internierungslagern durch und veröffentlichte die Ergebnisse zusammen mit einem Memorandum Lichtheims zur Frage der Geflüchteten in einem ersten Bericht im März 1944.309 Eine nicht repräsentative Umfrage unter 117 überwiegend jüdischen Geflüchteten, die in einem Arbeitslager lebten, zeigte, dass drei Viertel der Befragten in verschiedene europäische und Überseeländer, die nicht ihre Herkunftsländer waren – insbesondere Frankreich, Belgien und Holland – auswandern wollten. Elf der Befragten zogen eine Rückkehr in ihr Heimatland vor, überraschenderweise waren davon zehn aus Deutschland. Nur sechs Personen gaben an, nach dem Krieg nach Palästina auswandern zu wollen.310 Dieser ersten Umfrage folgte Ende 1944 eine weitere, in der bis Mitte 1945 mithilfe von über 200 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern 5 490 Personen befragt wurden. Da diese auch Auskunft über ihre Familienmitglieder gaben, wurden insgesamt 9 930 Personen erreicht, von denen 78 Prozent angaben, jüdisch zu sein. Auch hier zog die Mehrheit der Befragten die Migration in europäische Länder vor. Für nur 9,5 Prozent war Palästina die erste Wahl, weitere 13 Prozent gaben das britische Mandatsgebiet als zweite oder dritte Wahl an.311 Basierend auf den Ergebnissen der ersten Umfrage von 1943, diskutierte Lichtheim im April 1944 das Problem mit seinen Vorgesetzten. Obwohl nur etwa 5 Prozent der jüdischen Geflüchteten Palästina als gewünschtes Ausreiseland nannten, schätzte Lichtheim, dass sich etwa 15 Prozent der 22 500 jüdischen Geflüchteten in der Schweiz nach dem Krieg in Palästina ansiedeln würden. Deshalb bat er die Mitglieder der Exekutive der Jewish Agency in Jerusalem Yitzhak Grünbaum und Eliyahu Dobkin, 3 000 Zertifikate für die Schweiz zur Verfügung zu stellen, die zwischen alleinstehenden Männern und Frauen, Familien sowie Kindern und Jugendlichen aufgeteilt werden sollten. Obwohl die Mehrheit der jüdischen Geflüchteten andere Ziele priorisiert hatte, bestand Lichtheim darauf, dass »wir angesichts der schrecklichen Situation in den meisten europäischen Ländern nicht vergessen sollten, eine ausreichende Anzahl an Zertifikaten für diejenigen zur Verfügung zu stellen, die direkt nach dem Krieg nach Palästina gehen können oder es beabsichtigen«.312 Der Leiter der Einwanderungsabteilung 309 Ebd. 310 Ebd. 311 Vgl. Hohermuth, Zukunftspläne der Flüchtlinge in der Schweiz, bes. 31–33 und 98; Schweizerische Zentralstelle für Flüchtlingshilfe (Hg.), Flüchtlinge wohin?, bes. 45–59. Vgl. dazu auch CZA, L22/19, Riegner an Lichtheim, 20. Juli 1945. 312 CZA, L22/145, Lichtheim an Grünbaum, 24. April 1944. Vgl. auch CZA, L22/145, Lichtheim an Dobkin, 3. Juli 1944; CZA, L22/144, Lichtheim an Dobkin, 28. Oktober 1944.
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der Jewish Agency, Eliyahu Dobkin, akzeptierte Lichtheims Vorschlag und versicherte ihm, von den Briten die entsprechende Anzahl an Zertifikaten zu erlangen.313 Als die Briten im Oktober 1944 erneut 10 300 Zertifikate für die jüdische Einwanderung nach Palästina zur Verfügung stellten, teilte die Jewish Agency in Jerusalem zu Lichtheims großer Enttäuschung jedoch nur 1 000 davon der Schweiz zu. Die meisten Zertifikate sollten unter Kindern und Jugendlichen, vor allem den Mitgliedern der zionistischen Jugendorganisationen verteilt werden.314 Angesichts der Tatsache, dass Lichtheims Möglichkeiten, die jüdischen Geflüchteten in der Schweiz zu unterstützen, ohnehin gering waren, da ihm keine größeren Hilfsfonds zur Verfügung standen, warnte er seine Vorgesetzten, dass eine unzureichende Anzahl an Zertifikaten die Jewish Agency gegenüber den Geflüchteten in eine noch schwierigere Lage bringen würde.315 Nicht nur um das Wohl der Geflüchteten besorgt, sondern auch um die Zukunft des Zionismus als politischer Bewegung, versuchte er, Jerusalem von der Notwendigkeit zu überzeugen, Versorgungseinrichtungen für jüdische Kinder in der Schweiz und anderen europäischen Ländern zu errichten, Lebensmittel und Unterkünfte zur Verfügung zu stellen sowie moralische und erzieherische Unterstützung zu leisten. In einem Brief an Lauterbach in Jerusalem prophezeite er: »[W]e, i. e. the Zionists, are losing ground with the Jews of Europe because we cannot provide the necessary number of certificates for Palestine and we cannot even provide such local relief as would enable us to give at least our Zionist friends the impression that Zionism is a living force, that Zionists come to the help of each other and that Zionists are looking after the children, on whose education the future of Jewry in Europe and Palestine depends.«316
In der Tat war die Jewish Agency in einer Debatte darüber gefangen, ob ihre Hauptaufgabe im Aufbau der jüdischen Gemeinde in Palästina oder der Rettung der europäischen Judenheiten bestand. Selbst der Vorsitzende des Jerusalemer Rettungskomitees, Yitzhak Grünbaum, war der Ansicht, dass das zionistische Aufbauwerk in Palästina Vorrang haben müsse.317 Unabhängig von den innerzionistischen Debatten war eine effektive Umleitung des Stroms an Geflüchteten nach Palästina allerdings ohnehin nicht möglich, hatten die
313 CZA, L22/145, Dobkin an Lichtheim, 4. Juli 1944. 314 CZA, L22/144, Aliyah Department JA an Lichtheim / Scheps, 5. November 1944. 315 CZA, L22/103, Lichtheim an Lauterbach, 6. Januar 1945 (Nr. 1433); ebd., Lichtheim an Lauterbach, 12. Januar 1945 (Nr. 1438). 316 CZA, L22/318, Lichtheim an Lauterbach, 6. März 1945 (Nr. 1475). Vgl. dazu auch ebd., Lichtheim an Lauterbach, 18. Mai 1945 (Nr. 1517). 317 Tom Segev, David Ben Gurion, 355.
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Briten doch in einem Versuch, die arabische Bevölkerung zu beschwichtigen, mit dem Weißbuch von 1939 die jüdische Einwanderung nach Palästina stark eingeschränkt, und auch nach Kriegsende rückten sie nicht von ihren restriktiven Einwanderungsbestimmungen ab. Offiziell blieb der Jewish Agency einzig, die von der britischen Regierung zur Verfügung gestellten Zertifikate zu verteilen. Es bedürfte weiterer Recherche, um mit Sicherheit feststellen zu können, wie viele der 22 500 jüdischen Geflüchteten aus der Schweiz bis 1948 nach Palästina einwandern konnten. Zusätzlich zu den 1 000 Ende 1944 ausgereichten Zertifikaten erwirkte Lichtheim weitere 700 für eine rund 2 900 Personen starke Gruppe ehemals in Bergen-Belsen und Theresienstadt Internierter, die dank international vermittelter Rettungsaktionen in den letzten Monaten des Kriegs in die Schweiz einreisen durften.318 Die Schweizer Behörden bestanden zunächst auf der von den Alliierten garantierten Weiterreise der Geretteten in UN-Flüchtlingslager in Französisch-Algerien und Süditalien. Dank Lichtheims Verhandlungen mit den Schweizer Behörden sowie der Immigrationsabteilung der Jewish Agency wurde jedoch zumindest diesen 700 Zertifikatsinhaberinnen und -inhabern gestattet, bis zu ihrer Weiterreise nach Palästina im Sommer 1945 in der Schweiz zu bleiben.319
318 Bei den Personen aus Bergen-Belsen handelte es sich um den Kasztner-Transport. Erst nachdem Saly Mayer als Vertreter des Joint SS-Funktionären die Zahlung hoher Lösegeldsummen in Aussicht gestellt hatte, wurde der Gruppe die Ausreise gestattet. Vgl. Bauer, »Onkel Saly«; ders., Jews for Sale?, 222–229. Die Freilassung der 1 210 Personen umfassenden Gruppe aus Theresienstadt geht auf Verhandlungen zwischen dem schweizerischen Altbundespräsidenten Jean-Marie Musy und Heinrich Himmler zurück. Von Recha und Yitzhak Sternbuch vom HIJEFS um Unterstützung gebeten, nutzte der bekennende NS-Sympathisant Musy seine guten Beziehungen zu Himmler, um mit ihm über die Freilassung von Jüdinnen und Juden zu verhandeln. Angesichts des nahenden Kriegsendes hoffte Himmler wohl eine für das Deutsche Reich und v. a. für sich persönlich günstigere Stimmung zu erzeugen, um künftige Strafverfolgungen zu mildern. Der Einsatz Musys ist wahrscheinlich ebenfalls auf das Kalkül zurückzuführen, angesichts des absehbaren Siegs über Deutschland sein Ansehen in der Öffentlichkeit zu verbessern. Vgl. zu den Verhandlungen Bauer, Jews for Sale?, 222–230. 319 Zu den Bemühungen Lichtheims, die zunächst zu scheitern schienen, vgl. CZA, L22/36, Lichtheim an Lourie, 30. April 1945, mit Kopien der Briefe: Lichtheim an den Schweizer Bundespräsidenten von Steiger, 17. April 1945; von Steiger an Lichtheim, 26. April 1945; Lichtheim an Rothmund, 22. April 1945. Im Juni meldete er den erfolgreichen Ausgang nach Jerusalem: CZA, L22/318, Lichtheim an Lauterbach, 6. Juni 1945 (Nr. 1527).
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Lebensmittel und Medikamente für Theresienstadt Neben dem Versuch der Rettung durch volle Ausnutzung der im Weißbuch von 1939 geregelten Einwanderungsquoten wurden in Genf Anstrengungen unternommen, durch die Versendung von Lebensmitteln und Medikamenten die Bedingungen des Lagerlebens zu verbessern und die Überlebenschancen der Gefangenen zu erhöhen. Schon in den ersten drei Kriegsjahren organisierten Lichtheim und seine Mitarbeiter vereinzelt die Versendung von Lebensmittelpaketen an verschiedene Personengruppen, zu denen sich direkt oder über das IKRK Kontakt herstellen ließ. Dazu zählten unter anderem in Berlin internierte palästinensische Frauen und Kinder320 sowie palästinensische Kriegsgefangene,321 die über das IKRK mit Lebensmittelsendungen versorgt werden konnten, aber auch leitende Persönlichkeiten der zionistischen Vertretungen in Berlin, Wien, Prag und Warschau, für die Lichtheim bei der Hilfsorganisation RELICO sogenannte Liebesgaben-Päckchen in Auftrag
320 Zwischen Juli 1940 und Januar 1941 gab Lichtheim für eine Reihe palästinensischer Frauen und Kinder, die sich bei Kriegsbeginn im Deutschen Reich befunden hatten und als feindliche Ausländerinnen in Berlin-Charlottenburg interniert worden waren, beim IKRK Lebensmittelpakete in Auftrag. CZA, Z4/31310, Lichtheim an Linton, 16. Juli 1940; CZA, L22/51, IKRK an Lichtheim, 23. August 1940; CZA, L22/51, Lichtheim an Lauterbach, 7. Oktober 1940, im Anhang findet sich die Kopie eines Dankschreibens der Internierten an das Büro der Jewish Agency in Genf vom 22. August 1940. 15 dieser Frauen wurden im September 1940 freigelassen. CZA, Z4/30898, Lichtheim an JA London, 10. Oktober 1940. Zwischenzeitlich schickte Lichtheim nur neun Pakete nach Berlin. CZA, L22/51, Lichtheim an Lauterbach, 9. Oktober 1940 (Nr. 134), 23. Oktober (Nr. 148) und 5. November 1940 (Nr. 151). Ab Januar ließ Lichtheim wieder die ursprüngliche Anzahl von zwanzig Paketen verschicken. CZA, L22/49, Lichtheim an Lauterbach, 16. Januar 1941 (Nr. 278). Die Gelder für diese Paketsendungen kamen zum Teil aus zionistischen Fonds in den Vereinigten Staaten (United Palestine Appeal), zum Teil von den Angehörigen der Internierten. Vgl. CZA, L22/241, Lauterbach an Lichtheim, 15. November 1940 (Nr. 225); CZA, L22/37, Goldmann an Lichtheim, 12. August 1940; CZA, L22/37, Lichtheim an Goldmann, 23. August 1940. Aufgrund fehlender Mittel und zunehmender Ausfuhrbeschränkungen aus der Schweiz war die Versorgung von palästinensischen Internierten ab Januar 1941 stark eingeschränkt. CZA, L22/239, Lichtheim an Lauterbach, 10. Januar 1941; CZA, Z4/30900, Lichtheim an Montor, 21. Januar 1941. Einige dieser Frauen und Kinder konnten dank des Genfer Büros, dem es über Vermittlung des IKRK gelang, die Identitäten dieser Frauen festzustellen und diese nach London zu übermitteln, im Zuge des ersten deutsch-palästinensischen Zivilgefangenenaustauschs Ende 1941 aus Deutschland befreit werden. Vgl. auch CZA, Z4/30899, Linton an Lichtheim, 26. März 1941. 321 Zwischen November 1940 und Januar 1941 versorgte Lichtheim einige palästinensische Kriegsgefangene im Internierungslager XIII (Wülzburg / Bayern) mit Lebensmittelpaketen. Vgl. CZA, Z4/30897, Lichtheim an Lauterbach, 22. November 1940 (Nr. 183); CZA, Z4/30897, Lichtheim an Linton, 6. Dezember 1940; CZA, L22/49, Lichtheim an Lauterbach, 16. Januar 1941 (Nr. 278).
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gab.322 Dazu wurden vorgefertigte, meist ein bis fünf Kilogramm schwere Pakete mit Lebensmitteln und Medikamenten bei nichtjüdischen Firmen bestellt, die die Pakete zunächst aus der Schweiz (bis Januar 1941), zwischenzeitlich aus Jugoslawien (bis April 1941) und ab März 1941 schließlich von Portugal aus an die ihnen zur Verfügung gestellten Adressen sandten.323 Ende 1942 ergab sich unerwartet eine postalische Verbindungslinie in das Ghetto Theresienstadt, die im Laufe des Jahrs 1943 eine der umfangreichsten Paketaktionen ermöglichte, in die das Genfer Büro involviert war. Im November 1942 hatten zu Lichtheims großer Überraschung zwei Briefe aus Theresienstadt das Genfer Büro erreicht, zu dem bis dahin kein direkter Kontakt bestanden hatte. Der »Judenälteste« Jakob Edelstein hatte am 19. Oktober einen Brief an Lichtheims Mitarbeiter Fritz Ullmann gesandt; Edelsteins Stellvertreter Otto Zucker hatte am selben Tag an Lichtheim geschrieben. In ihren Briefen berichteten die beiden tschechoslowakischen Juden, die bis zu ihrer Deportation im Dezember 1941 gemeinsam als Mitarbeiter des PalästinaAmts in Prag tätig gewesen waren, von schwierigen, jedoch vergleichsweise »erträglichen« Zuständen in Theresienstadt.324 Nachdem auch Postkarten der im September aus Wien deportierten Mitglieder des Ältestenrats Robert Stricker und Desider Friedmann (1880–1944) nach Genf gelangt waren, kam bei Lichtheim und Ullmann allerdings die Vermutung auf, »dass die Briefe dieser 4 repräsentativen Personen mit ihrem auffallend gleichlautenden optimistischen Inhalt nicht ganz freiwillig geschrieben sind und es sich vielleicht um eine Gegenpropaganda gegen die Berichte handelt, die sonst über die Behandlung der Juden ins Ausland gedrungen sind«.325 Tatsächlich wurde die Postverbindung zwischen Theresienstadt und der Schweiz als Teil der deutschen Propagandabemühungen etabliert, das Ghetto als »jüdische Mustersiedlung« zu präsentieren. Die neue Verbindung bot dem Genfer Büro jedoch die Chance, auf legalem Wege mit Theresienstadt in Kontakt zu stehen. In der Folge hielten die Repräsentanten der Jewish Agency den Postverkehr mit dem Ghetto aufrecht und nutzen ihn ab Frühjahr 1943 dazu, in Zusammenarbeit mit dem WJC und dem IKRK Medikamente und Lebensmittel nach Theresienstadt zu senden.
322 CZA, C3/219, WJC an Lichtheim, 10. Februar 1941; CZA, C3/220, Lichtheim an Riegner (WJC / RELICO), 16. November 1942. 323 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 126. Nachdem die Schweiz die Ausfuhr beschränkte, wurde der Versand zunächst über Jugoslawien abgewickelt. Nach der Zerschlagung Jugoslawiens im April 1941 wurden die Pakete aus Portugal versandt. 324 CZA, L22/3, Lichtheim an Lauterbach, 13. November 1942 (Nr. 876), eine Kopie des Briefs von Otto Zucker an Lichtheim ist beigefügt. Der Brief Edelsteins an Ullmann ist abgedruckt in: Adler (Hg.), Die verheimlichte Wahrheit, 286 f. 325 CZA, L22/3, Lichtheim an Lauterbach, 16. November 1942 (Nr. 883).
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Bereits ab Ende 1942 bemühte sich Lichtheim um eine intensivere Koope ration mit dem IKRK zur gemeinsamen Koordination von Hilfen und forderte von Jerusalem, »dem Internationalen Roten Kreuz jeden verfügbaren Betrag zur Verfügung zu stellen«.326 Nachdem zunächst verschiedene Versuche scheiterten, mithilfe des IKRK Kontakt zur jüdischen Bevölkerung im besetzten Polen herzustellen beziehungsweise Zugang zu verschiedenen Lagern und Ghettos in Polen sowie zu Theresienstadt zu erhalten,327 musste Lichtheim ernüchtert feststellen: »I am afraid that all the plans worked out by the Planning Committee in Jerusalem will remain on paper because the difficulties are now too great and especially with regard to Poland, Germany and most of the occupied countries no real help can be given while the deportations continue.«328
Die einzig realistische Möglichkeit schien im Versand von Lebensmitteln und Sanitätsartikeln zu bestehen. Auf dessen Realisierung konzentrierten sich Lichtheim und seine Mitarbeiter in Kooperation mit dem WJC und der Commission mixte de secours de la Croix-Rouge international329 in den folgenden Wochen.330 Nachdem im März 1943 die britische Regierung, die ab Kriegsbeginn durch den Trading with the Enemy Act die Einfuhr jeglicher potenziell für die nationalsozialistische Kriegsproduktion nützlicher Waren in das kontinentale Europa untersagte, dem Versand von Hilfsgütern und dem Transfer dafür benötigter finanzieller Mittel aus Großbritannien in die neutralen Länder zugestimmt hatte, gelang es auch dem IKRK, in Verhandlung mit den deutschen Behörden die Erlaubnis zu sichern, Hilfsgüter nach Theresienstadt zu senden. Eine ähnliche Anfrage hinsichtlich der polnischen Gebiete wurde vom Deutschen Roten Kreuz allerdings abgelehnt.331 In der Folge gaben ab Frühjahr 1943 in Genf Vertreter des WJC und der Jewish Agency gemeinschaftlich bei der Commission mixte mehrere Kollek326 CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach, 5. Januar 1943 (Nr. 946). 327 Ebd.; CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach, 15. Februar 1943 (Nr. 982). 328 CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach, 23. Februar 1943 (Nr. 993). 329 Im Juli 1941 wurde in Genf in Zusammenarbeit mit der Liga der Rotkreuzgesellschaften und dem IKRK eine neue Dachorganisation, die Commission mixte de secours de la CroixRouge international (kurz: Commission mixte, dt. Vereinigtes Hilfswerk vom Internationalen Roten Kreuz) etabliert, die für die Unterstützung der Zivilbevölkerung zuständig war. 330 CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach, 23. Februar 1943 (Nr. 993). 331 Steinacher, Hakenkreuz und Rotes Kreuz, 44; CZA, L22/4, Lichtheim an Lauterbach, 24. März 1943 (Nr. 1026), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 449–451; CZA, L22/258, Lichtheim an Barlas, 24. März 1943. Riegner informierte am 26. März 1943 das WJC-Büro in London darüber, vorerst monatlich 1 000 Britische Pfund für Kollektivsendungen und 40 Pfund für Einzelpakete nach Theresienstadt zur Verfügung zu stellen. Riegner an WJC London, 26. März 1943, abgedruckt in: Adler (Hg.), Die verheimlichte Wahrheit, 301.
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tivsendungen nach Theresienstadt in Auftrag. Es kann an dieser Stelle keine Gesamtübersicht aller aus Genf gesandten oder organisierten Hilfslieferungen erfolgen. Aufgrund der enormen und unübersichtlichen Aktenlage muss der Versuch einer Bestandsaufnahme überblickshaft bleiben. Die erste Kollektivsendung – erlaubt waren Medikamente und »Stärkungs mittel«332 – bestand aus kondensierter Milch, Suppenwürfeln und getrockneten Pflaumen und erfolgte im Mai 1943.333 Die tschechoslowakische Regierung in London, die in Genf durch Jaromír Kopecký334 vertreten war, bezuschusste die Lieferung, den weitaus größeren Teil der Kosten teilten sich die Genfer Vertretungen des WJC und der Jewish Agency.335 Nachdem Riegner im Juli der Empfang der Sendung in Theresienstadt durch André de Pilar (1891–?), den Delegierten der Commission mixte, bestätigt worden war, organisierten die Genfer Büros weitere Sendungen.336 So gaben Riegner, Lichtheim und Ullmann am 28. Juli 1943 eine zweite, aus Lebensmitteln und Medikamenten bestehende Lieferung bei der Commission mixte in Auftrag. Die Kosten dafür trugen das Genfer Büro der Jewish Agency und die tschechoslowakische Regierung über Vermittlung von Kopecký zu gleichen 332 Die deutschen Behörden erlaubten für die Kollektivsendungen durch das IKRK nach Theresienstadt nur den Versand von Medikamenten und Stärkungsmitteln. Riegner erreichte bei der Commission mixte, dass diese sich in Berlin auch für die Zulassung von Nährmitteln wie Milchpulver als Stärkungsmittel einsetzte. CZA, C3/220, Riegner an Lichtheim, 10. August 1943. 333 Laut Lichtheim wurden bereits im März 100 Kisten kondensierte Milch, 2 000 kg Gemüsemehl für Suppen und 1 000 kg bosnische Pflaumen für Theresienstadt in Auftrag gegeben. CZA, L22/258, Lichtheim an Barlas, 23. März 1943. Die Sendung selbst wurde am 1. Mai 1943 auf den Weg gebracht. CZA, L22/18, Carlo Imfeld / Robert Boehringer (IKRK) an Riegner, 17. Mai 1943. Die Mitglieder des Ältestenrats Jakob Edelstein und Paul Eppstein bestätigten den Empfang von 2 280 kg Suppenmehl, 2 410 Dosen kondensierter Milch und 1 120 kg getrockneter Früchte. Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 115, Fn. 26. 334 Die Schweizer Behörden erlaubten es Jaromír Kopecký, dem tschechoslowakischen Ver treter beim Völkerbund, auch nach dem Zerfall der Tschechoslowakei, in dieser Funktion in der Schweiz zu bleiben. Kopecký stand in engem Kontakt mit dem WJC und den Vertretern der Jewish Agency. 335 Insgesamt betrugen die Kosten für die erste Sendung 15 300 Schweizer Franken. Hinzu kamen zusätzlich 6 000 Franken Zollkosten, die nachträglich geltend gemacht wurden. Die tschechoslowakische Exilregierung unterstützte diese Sendung mit 1 700 Fr. Die restlichen Kosten wurden zu gleichen Teilen vom WJC und der Jewish Agency übernommen. CZA, L22/18, Riegner an Lichtheim, 19. Mai 1943; CZA, C3/151, Riegner an Kopecký, 8. März 1943. 336 CZA, L22/18, Riegner, Aktennotiz vom 8. Juli 1943: Über eine Besprechung mit Herrn de Pilar von der Commission mixte, Mittwoch, den 7. Juli 1943, um 16 Uhr. Die Aktennotiz ist abgedruckt in: Adler (Hg.), Die verheimlichte Wahrheit, 304–306. Am Tag darauf unterrichtete Lichtheim auch die Jewish Agency in Jerusalem darüber, dass Lieferungen nach Theresienstadt weiterhin möglich seien. CZA, L22/19, Lichtheim an JA Jerusalem, 9. Juli 1943.
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Teilen.337 Eine dritte, aus 52 Paketen mit Medikamenten bestehende Kollektivsendung erfolgte im Oktober 1943, deren Empfang im Februar 1944 von den »Judenältesten« Paul Eppstein (1902–1944) und Benjamin Murmelstein (1905–1989) bestätigt wurde.338 Eine weitere Sendung von jeweils 500 kg Ovomaltine nach Theresienstadt und Birkenau sowie weiteren 1 000 kg Trockenmilchpulver nach Birkenau erfolgte im November 1943.339 Für das Jahr 1944 verzeichnet eine Aufstellung der Commission mixte zwei weitere Sendungen nach Theresienstadt: im August 1 080 kg eines Nährmittels namens Muno Vebra, wofür sich im Archiv bisher keine Empfangsbestätigung finden ließ; im Monat darauf Ovomaltine und Zucker, deren Erhalt im Oktober in einem Schreiben der beiden Mitglieder des Ältestenrats Benjamin Murmelstein und Leo Baeck gegenüber der Commission mixte bestätigt wurde.340 Gleichzeitig organisierten ab Frühjahr 1943 tschechoslowakische Exilkreise den Versand von individuellen Lebensmittelpaketen, jenen »Liebesgaben-Päckchen«, aus Portugal, Schweden, der Schweiz und in kleinerem Umfang aus der Türkei. Im Rahmen dessen gab Ullmann, der innerhalb der Genfer Kreise als der Hauptverantwortliche für die Belange der tschechoslowakischen Juden galt,341 zwischen Frühjahr 1943 und Mai 1944 beim WJC in Genf monatlich Bestellungen über mehrere Hundert Lebensmittelpakete für Einzelpersonen hauptsächlich in Theresienstadt, aber auch in Prag und Frankreich in Auftrag. Deren Finanzierung wurde von Lichtheim organisiert und der Versand erfolgte durch portugiesische Transportunternehmen in Lissabon. Aufgrund der strengen portugiesischen Ausfuhrbestim-
337 CZA, L22/18, Riegner an Lichtheim, 28. Juli 1943; ebd., Riegner an Kopecký, 28. Juli 1943; ebd., Riegner an Commission mixte, 28. Juli 1943; ebd., Riegner an Lichtheim, 10. August 1943; ebd., Riegner an Lichtheim, 16. August 1943. 338 CZA, A320/17, Commission mixte an WJC, 4. Oktober 1943; CZA, C3/437, Eppstein / Murmelstein an Commission mixte, Februar 1944. Vgl. dazu auch Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 122. 339 Die Kosten für diese Sendung teilten sich der WJC und die tschechoslowakische Exilregierung. CZA, C3/151, Riegner an Kopecký, 7. Januar 1944. 340 CZA, A320/17, Commission mixte an WJC, 21. Februar 1945; CZA, A320/255, Murmelstein / Baeck an Commission mixte, 29. Oktober 1944. 341 Ullmann war in ständigem Kontakt mit Kopecký, über den Ullmann und das Genfer Büro Verbindung zu tschechoslowakischen Diplomatenkreisen im Exil unterhielten, v. a. zu Arnošt Frischer (1887–1954), dem einzigen jüdischen Mitglied des tschechoslowakischen Staatsrats in London. Laut Jan Láníček wurde Ullmann zur wichtigsten Informationsquelle für Frischer und die tschechoslowakischen Exilkreise überhaupt, die ebenso wie die Genfer Emissäre darum bemüht waren, die Weltöffentlichkeit auf die Verfolgung der Juden auf dem Gebiet des Protektorats Böhmen und Mähren, in der Slowakei, aber auch andernorts aufmerksam zu machen. Vgl. dazu ders., Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 94 f.
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mungen bestanden diese Päckchen überwiegend aus Sardinen, Thunfisch und Trockenfrüchten.342 Die Pakete konnten allerdings nur an Personen gesandt werden, deren Namen und Aufenthaltsort bekannt waren, was in erster Linie für Theresienstadt galt. Dank der Propagandabemühungen der Nationalsozialisten, Theresienstadt gegenüber den Alliierten als Musterbeispiel jüdischen Lebens innerhalb des NS-Herrschaftsbereichs zu präsentieren und gegenteilige Berichte als Propaganda abzuwerten, waren ein reger Postverkehr zwischen Genf und dem Ghetto und damit auch die Übermittlung der für die Zustellung nötigen Personendaten möglich. Wie bei der Verteilung der Zertifikate lehnten Lichtheim und seine Mitarbeiter auch hier die Anwendung des auf Parteistärke basierenden Verteilungsschlüssels ab. Mit Jerusalem herrschte darüber Einigkeit. Die Emissäre in Genf und Istanbul wurden angewiesen, die Pakete ungeachtet der Parteizugehörigkeit an sämtliche jüdische Vertretungen und Einzelpersonen zu schicken, zu denen eine Verbindung möglich war.343 Auf Ersuchen Ullmanns wurden ab Oktober 1943 Lebensmittelpakte auch nach Majdanek und bereits ab Ende Juli 1943 nach Auschwitz-Birkenau geschickt, das die jüdischen Aktivisten in London und Genf zu diesem Zeitpunkt für ein Arbeitslager hielten.344 Es dauerte fast ein weiteres Jahr, bis westeuropäischen Beobachtern durch den Bericht von Vrba und Wetzler klar wurde, dass es sich bei Birkenau um einen Teil des größeren Lagerkom342 In Lissabon waren für die Paketaktion der tschechoslowakische Konsul František Čejka und der WJC-Vertreter Yitzhak Weissmann verantwortlich. Vgl. Ebd., 114. Im Nachlass Ullmanns befinden sich die Belege über die Bestellungen beim WJC Genf und Zahlungsaufforderungen von Riegner an Lichtheim. Vgl. CZA, A320/283. Auch der Rabbiner Leo Baeck erhielt regelmäßig Päckchen von Ullmann und bedankte sich dafür in einem Schreiben nach Genf. Der Wortlaut des Briefs ist zitiert in einem Brief Lichtheims an Lauterbach: CZA, L22/104, Lichtheim an Lauterbach, 6. März 1944 (Nr. 1308). 343 Porat, The Blue and The Yellow Stars of David, 127. 344 Zwischen April und September 1943 wurden von Lissabon aus 11 039 Pakete nach Theresienstadt und 1 673 Pakete nach Frankreich gesandt. Nach Birkenau wurden zwischen Ende Juli und Ende November 1943 über 3 024 Pakete mit jeweils 0,5 kg Sardinen verschickt. Bis September 1943 wurden 229 Päckchen nach Prag gesandt. Die Zustellung der 26 versuchsweise nach Majdanek versandten Päckchen wurden nicht bestätigt. Vgl. dazu Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 115–117; ders., Arnošt Frischer und seine Hilfe für die Juden im besetzten Europa (1941–1945), 40 und 42 f. Voraussetzung für die erfolgreiche Zustellung der Pakete war das Zusammentragen der Namen und genauen Adressen der Empfänger. Ullmann legte in Genf eine Kartei mit den Namen der tschechoslowakischen Deportierten an. Allein für Majdanek gelang es ihm, 700 Namen zusammenzutragen. Für den Versand nach Birkenau lieferte er 1 200 Namen von dorthin deportierten tschechoslowakischen Jüdinnen und Juden, basierend auf Informationen, die ab Mai 1943 nach und nach aus dem ehemaligen Polen in die Schweiz gelangten. Für Theresienstadt gelang es ihm, mehrere Tausend Namen zusammenzutragen. Vgl. dazu Kryl, Fritz Ullmann und seine Hilfe für die Theresienstädter Häftlinge, 198; Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 116.
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plexes Auschwitz handelte, in dem die jüdische Bevölkerung systematisch getötet wurde. Im Jahr 1944 gestaltete sich der Versand der Pakete zunehmend schwieriger. Im Frühjahr 1944 entbrannte eine Diskussion um die Zweckmäßigkeit der Aktion, nachdem Paul Eppstein Ende März 1944 gegenüber der Commission mixte den Empfang von lediglich 7 294 Paketen bestätigte. Tatsächlich wurden bis dahin rund 70 000 Einzelpakete nach Theresienstadt verschickt: 40 000 Pakete wurden von den tschechoslowakischen Exilkreisen in Auftrag gegeben, 30 000 Pakete waren vom Joint veranlasst worden.345 Auch wenn in den Wochen vor dem Besuch einer Delegation des IKRK in Theresienstadt im Juni 1944 die Anzahl der bestätigten Päckchen signifikant anstieg, blieb sie weiterhin deutlich hinter der Menge der tatsächlich verschickten Sendungen zurück.346 Die Emissäre in Genf zweifelten jedoch nicht daran, dass die Aktion fortgesetzt werden musste, obwohl der Großteil der Pakete vermutlich die Adressaten nicht erreichte, sondern in die Hände der Nationalsozialisten fiel. Aus den zahllosen an sie gerichteten Bestätigungen und Dankesschreiben ersahen sie, welchen Wert die Pakete für die Ghettobewohnerinnen und -bewohner besaßen – in materieller wie moralischer Hinsicht.347 Die Landung der Alliierten in der Normandie beschnitt allerdings die Transportwege in Frankreich, weshalb die Einzelpaketaktion im August 1944 von Lissabon nach Genf verlagert werden musste.348 Bis man im Februar 1945 das Projekt vor dem Hintergrund der bereits ab Herbst 1944 durchgeführten Massendeportationen aus Theresienstadt endgültig aufgab, wurde die Paketaktion von 345 Bis heute ist nicht abschließend geklärt, wie viele der Päckchen, die ab April 1943 nach Theresienstadt gesandt wurden, ihre Empfänger tatsächlich erreichten. Für die meisten der aus Genf verschickten Kollektivsendungen lassen sich in den Archiven Bestätigungen aus Theresienstadt an die Commission mixte finden. Der weitaus größere Teil der Einzelpakete scheint allerdings von den deutschen Besatzungsbehörden beschlagnahmt worden zu sein. Eine wirkliche Möglichkeit, die Zustellung der Sendungen zu kontrollieren, stand dem IKRK nicht zur Verfügung. Vgl. dazu ausführlich Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 122–124; Steinacher, Hakenkreuz und Rotes Kreuz, 47. 346 Am 3. Juli 1944 bestätigte Eppstein gegenüber der Commission mixte, dass zwischen 10. März und 3. Juli 1944 13 444 Pakete in Theresienstadt eingegangen seien. CZA, A320/255, Eppstein an Commission mixte, 3. Juli 1944. Laut Láníček wurden bis dahin allerdings insgesamt 130 000 Pakete versandt. Vgl. ders., Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 121. 347 CZA, L22/103, Lichtheim an Lauterbach, 14. September 1944. 348 CZA, A320/250, Liste der Internierten in Theresienstadt, an die aus Lissabon zwischen 4. Mai 1943 und 26. Juni 1944 Lebensmittelpakete gesandt wurden. Ende Juli und Anfang August 1944 tätigte Ullmann zwei weitere Bestellungen von insgesamt 519 Individualpaketen mit Sardinen nach Theresienstadt. Dies scheint die letzte Lieferung gewesen zu sein, deren Bezahlung über Lichtheim abgewickelt wurde. CZA, A320/92, Riegner an Ullmann, 2. August 1944.
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dort durch Kopecký und Ullmann in Zusammenarbeit mit dem World Jewish Congress und der Commission mixte des Roten Kreuzes organisiert.349 Wie erwähnt, wurde die Finanzierung der Aktion gemeinschaftlich von der tschechoslowakischen Exilregierung in London und der Jewish Agency übernommen.350 Allerdings scheint ab Mai 1944 nicht mehr Lichtheim, sondern der Leiter des Palästina-Amts Chaim Posner über die für Hilfsaktionen bestimmten Gelder der Jewish Agency in Genf verfügt zu haben. In einem Brief an den Istanbuler Vertreter der Jewish Agency, Chaim Barlas, beklagte Ullmann im Sommer 1944 diesen Umstand: »Ich bedaure aufrichtig, dass ich trotz vieler Urgenz in den letzten Monaten bei [Menachem] Bader351 seit Mai keine Emzaim [Mittel] für Paket- und Sammelsendungen zur Verfügung gestellt bekommen habe. Ich hoffe, dass Sie in Istanbul sich darüber Rechenschaft geben, dass dies eine starke Zurücksetzung der Esra [Hilfe] für Theresienstadt ist. Ich verstehe überhaupt nicht, warum die Emzaim seit einigen Monaten nicht mehr an Richard [Lichtheim] gehen, mit dem ich doch alle Terezin-Angelegenheiten behandle und immer rasch erledigen konnte. Chajim [Posner] muss man drängen und bekommt keine Antwort.«352
Auch Lichtheim selbst beschwerte sich in einem Brief an Menachem Bader, den Vertreter des Jewish Agency Rescue Committee in Istanbul,353 dass er »ausgeschaltet« und durch Posner ersetzt worden sei. Ab Ende März seien ihm keine Gelder mehr zur Verfügung gestellt worden und Barlas kommuniziere in Hilfsangelegenheiten nur noch mit Posner.354 Der Grund für die Entscheidung, ab Frühjahr 1944 Chaim Posner statt Lichtheim zum Hauptverantwortlichen für die Koordination der Hilfs- und Rettungsaktionen zu machen, lag sehr wahrscheinlich in den gescheiterten 349 Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 122. 350 WL, G59/7, Ullmann an Leclerc (IKRK), 28. November 1944. 351 Menachem Bader (1895–1985) war führendes Mitglied des Ha-Shomer ha-Ẓa’ir und hatte in den 1920er und 1930er Jahren verschiedene zentrale Positionen in der Histadrut und in der Zionistischen Exekutive inne. Während des Zweiten Weltkriegs vertrat er das Jewish Agency Rescue Committee in Istanbul. 352 CZA, A320/126, Ullmann an Barlas, 31. Juli 1944. 353 Das Jerusalemer Jewish Agency Rescue Committee hatte ab Ende 1942 eine Vertretung in Istanbul. Zeitweise waren über zwanzig Personen für das Rettungskomitee in Istanbul aktiv, unter ihnen Teddy Kollek (1911–2007), Ehud Avriel (1917–1980), Yitzhak Grünbaum, Venja Pomeranz (Zeev Hadari, 1916–2001), Menachem Bader und Jacob Griffel (1900–1962). Zur Arbeit der Istanbuler Vertretung der Jewish Agency sowie des Rettungskomitees vgl. Barlas, Haẓala be-jame schoa [Rettung während der Shoah]; Friling, Arrows in the Dark; Guttstadt, Die Türkei, die Juden und der Holocaust, bes. Kapitel 4.5: Die Türkei als Transitland Richtung Palästina, 235–257; Ofer, The Activities of the Jewish Agency Delegation in Istanbul in 1943. 354 CZA, L22/85, Lichtheim an Bader, 22. Juni 1944. Vgl. auch CZA, L22/145, Lichtheim an Kaplan, 14. Juli 1944.
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Verhandlungen über die Gründung einer »Kommission für Hilfe und Rettung«, die Lichtheim auf Anweisung aus Istanbul und Jerusalem parallel zu dem in Jerusalem operierenden Jewish Agency Rescue Committee in Genf bilden sollte.355 Neben Lichtheim, dem als Repräsentanten der Jewish Agency der Vorsitz zugedacht war, sollten der Kommission je ein Vertreter der Agudat Jisra’el (Rabbi Chaim Eiss), des WJC (Marc Jarblum,356 1887–1972), des Palästina-Amts in Genf (Samuel Scheps), des Schweizerischen Zionistenverbands (Jacob Zucker,357 1883–1960) sowie der bereits bestehenden Kommissionen der Histadrut358 und des He-Ḥ aluẓ359 angehören (Abraham Silberschein und Nathan Schwalb). Posner sollte als Sekretär der Kommission fungieren.360 Die Gründung kam allerdings aufgrund von »Meinungsverschiedenheiten« nicht zustande.361 Von Anfang an erachtete Lichtheim eine solche Kommission als überflüssig. Nur widerwillig hatte er Barlas’ Aufforderung Folge geleistet, die er als oktroyiert und als Einmischung in seine Arbeit verstand. Mit der von Barlas vorgeschlagenen Zusammensetzung unzufrieden, hatte Lichtheim darauf bestanden, dass, wenn er schon eine solche Kommission konstituieren solle, dies nur entsprechend seinen eigenen Personalwünschen erfolge. Eine Zusammenarbeit mit Abraham Silberschein, der sich mit Riegner bereits im Dezember 1942 über die Frage der Legitimität über den legalen Rahmen hinausgehender Hilfsaktionen überworfen hatte und in der Folge eigenmächtig (allerdings weiter unter dem Namen RELICO) agierte, lehnte Lichtheim ab.362 355 CZA, L22/146, Lichtheim an Unbekannt, 6. März 1944. 356 Marc Jarblum war ein Zionist und Sozialist aus Polen, ab 1907 lebte und wirkte er in Paris. Er war u. a. der französische Repräsentant der Jewish Agency und Mitglied des Exekutivkomitees des World Jewish Congress. Nach der deutschen Besetzung Nordfrankreichs war er im Juni 1940 Mitgründer des Comité de la rue Amelot, das die Wohlfahrtsleistungen für die jüdische Bevölkerung koordinierte. Wenig später engagierte er sich in der jüdischen Widerstandsbewegung im unbesetzten Süden Frankreichs, wo er mithilfe von JointGeldern Rettungsaktionen initiierte. Im März 1943 floh Jarblum in die Schweiz und versuchte von dort aus, seine Aktivitäten zur Rettung der französischen Juden fortzusetzen. 357 Jacob Zucker war von 1937 bis 1942 und von 1951 bis 1960 Präsident des Schweizerischen Zionistenverbands. 358 Die Kommission bestand aus Marc Jarblum, Chaim Posner, Nathan Schwalb und Abraham Silberschein. 359 Die Kommission bestand aus Heini Bornstein (1920–2016; Ha-Shomer ha-Ẓa’ir), Nathan Schwalb (Gordonia), Rolf Schloss (Ha-Bonim) sowie den Herren Berkovitz und Muskat, deren Vornamen nicht ermittelt werden konnten. Vgl. CZA, L22/146, Lichtheim an Unbekannt, 6. März 1944. 360 Zur geplanten Zusammensetzung der Kommission vgl. ebd.; CZA, L22/146, Lichtheim an Melech Neustadt (Istanbul), 6. März 1944; CZA, L22/146, Neustadt an Lichtheim, 8. März 1944; CZA, L22/146, Lichtheim an Neustadt, 9. März 1944; CZA, L22/146, Neustadt an Lichtheim, 13. März 1944. 361 CZA, L22/85, Lichtheim an Max Mannes (Agudat Jisra’el, Genf), 22. Januar 1946. 362 CZA, L22/9, Lichtheim an JA Jerusalem, 20. Dezember 1943; CZA, L22/861, Lichtheim an Barlas, 20. Dezember 1943; CZA, L22/9, Lichtheim an Barlas, 27. Dezember 1943.
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Erst im September 1943 war der halb legale Handel mit lateinamerikanischen Pässen, den Silberschein mit koordiniert hatte, aufgeflogen, was zur zeitweiligen Verhaftung von Silberschein und seiner Mitarbeiterin und späteren Ehefrau Fanny Hirsch durch die Schweizer Polizei sowie zur Absetzung der involvierten lateinamerikanischen Konsuln geführt hatte. Genau wie Riegner bestand Lichtheim auf der Legalität der Hilfs- und Rettungsmaßnahmen, um das Wohlwollen der Schweizer Behörden nicht zu gefährden, auf das die jüdischen Organisationen angewiesen waren. Bei der Mehrzahl der Mitarbeiter dieser Organisationen handelte es sich schließlich um Nichtschweizer, deren Aufenthaltsgenehmigungen regelmäßig erneuert werden mussten.363 Ansehen und Fortbestand des Büros der Jewish Agency wollte Lichtheim nicht durch inoffizielle Aktionen aufs Spiel setzen. Gegenüber Lauterbach wies er die Verfügungen aus Istanbul bereits Ende Dezember 1943 scharf zurück. Dort müsse man verstehen, »dass die Regierung des Landes, dessen Gastfreundschaft wir geniessen, keine Unterabteilung des Vaad Leumi ist«.364 Auch das Verhältnis Lichtheims zu den Vertretern der Histadrut und des He-Ḥ aluẓ war nicht konfliktfrei. Vor allem die politischen Differenzen mit Nathan Schwalb, dem Leiter der He-Ḥ aluẓ-Weltzentrale in Genf, schienen nicht überwindbar. Schwalb warf Lichtheim, der Parallelen zwischen dem Schicksal der jüdischen Bevölkerung und den während des Ersten Weltkriegs an den Armeniern verübten Verbrechen gezogen hatte, unter anderem vor, die jüdische Geschichte nicht zu kennen, die Widerstandsfähigkeit der europäischen Judenheiten, vor allem die der im He-Ḥ aluẓ organisierten Jugend zu unterschätzen und in Bezug auf Hilfsaktionen zu zögerlich zu reagieren.365 Lichtheim wiederum beschwerte sich wiederholt über die von Schwalb initiierten Aktionen, über die er oftmals nicht informiert wurde, und lehnte eine Kooperation mit der He-Ḥ aluẓ-Weltzentrale strikt ab.366 Schwalb wiederum verweigerte Lichtheim ob seines eigenwilligen Vorgehens die Zusammenarbeit und bat die Vertreter des Jewish Agency Rescue Committee 363 Vgl. CZA, L22/258, Lichtheim an Haymann, 22. März 1943. 364 CZA, L22/9, Lichtheim an Lauterbach, 28. Dezember 1943 (Nr. 1239). Der jüdische Nationalrat (Wa’ad Le’umi) war das wichtigste Exekutivorgan der vorstaatlichen jüdischen Gemeinde in Palästina. 365 Zum offenen Konflikt zwischen Schwalb und Lichtheim kam es u. a. nach einem Referat, das Lichtheim auf dem ordentlichen Delegiertentag des Schweizerischen Zionistenverbands im November 1942 gehalten hatte. CZA, L22/7, Nathan Schwalb, Vergessen wir nicht das wichtigste. Lichtheim wehrte sich gegen diese Vorwürfe in einem Brief an den Herausgeber der Broschüre zum Delegiertentag. Ebd., Lichtheim an E. Lewinsky, 8. Dezember 1942. 366 CZA, L22/861, Lichtheim an Barlas, 20. Dezember 1943; CZA, L22/9, Lichtheim an Barlas, 27. Dezember 1943. Lichtheim beschwerte sich mehrfach über Schwalbs Alleingänge und forderte dessen Ablösung, falls er nicht kooperiere: CZA, L22/144, Lichtheim an Georg Landauer, 27. Oktober 1944; CZA, L22/144, Lichtheim / Scheps an Exekutive der JA, 23. September 1944.
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in Istanbul, über die Zusammensetzung der Kommission zu entscheiden.367 Lichtheim fügte sich schließlich den meisten dieser Personalvorschläge, bestand allerdings bis zum Schluss darauf, dass sein Mitarbeiter Kahany und nicht Posner zum Sekretär der Kommission bestellt werde, damit seinem Büro ein personeller Vorteil entstünde.368 Auf diesen Vorschlag ließen sich die Emissäre in Istanbul allerdings nicht ein.369 Sämtliche Versöhnungsversuche Chaim Barlas’ scheiterten. Letztlich gelang es lediglich, eine Kommission aus den Vertretern der Histadrut Schwalb, Silberschein, Scheps und Posner zu bilden.370 Für Jerusalem und Istanbul war Posner fortan der Hauptansprechpartner für Hilfs- und Rettungsaktionen.371 Nach Kriegsende fielen die meisten der bisherigen Aufgaben des Genfer Büros weg und für Lichtheim rückte die klassische zionistische Arbeit wieder stärker in den Vordergrund. Neben der Hilfe für jüdische Geflüchtete durch Vermittlung von Geldern und Papieren für die Ausreise nach Palästina und der Suche nach Überlebenden beteiligte sich das Genfer Büro vor allem am Neuaufbau der zionistischen Strukturen in Europa, an der Koordination der Schekelsammlungen sowie der Vorbereitung des ersten Zionistenkongresses in der Nachkriegszeit, der für Sommer 1946 in Palästina geplant war und letztlich im Dezember 1946 in Basel stattfinden sollte.372 Ab Anfang 1946 empfand Lichtheim seine Anwesenheit in Genf zunehmend als überflüssig und wünschte die Rückkehr nach Jerusalem.373 In den folgenden Monaten besorgte er mit Zustimmung der Exekutive der Jewish Agency die Abwicklung des Verbindungsbüros, dessen ursprüngliche Aufgabe, den Kontakt zwischen den Zionisten Europas und den Hauptbüros der Jewish Agency in Jerusalem, London und New York aufrechtzuerhalten, längst hinfällig geworden war. Bereits im März 1946 verließ das Ehepaar Ullmann Genf in Richtung Jerusalem.374 Lichtheim und seine Frau Irene verabschiedeten sich schließlich im Mai 1946 aus der Schweiz. Nach fast sieben Jahren in Europa kehrten sie über Brüssel, Paris und Kairo nach Palästina 367 CZA, L22/85, Schwalb an Lichtheim, 6. April 1944. 368 CZA, L22/146, Lichtheim an Neustadt, 9. März 1944; ebd., Lichtheim an Grünbaum, 13. März 1944. 369 Ebd., Neustadt an Lichtheim, 13. März 1944. 370 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 120. 371 Ende März 1945 wurde erneut der Versuch unternommen, eine Kommission zur Koordinierung der Hilfsarbeit zu etablieren. Lichtheim trat dazu in Verhandlungen mit Max Mannes (Agudat Jisra’el) und Sternbuch (HIJEFS). Allerdings verliefen auch diese Bemühungen im Sand. Vgl. dazu die entsprechende Korrespondenz in: CZA, L22/85, Grünbaum an Lichtheim, 23. März 1945; CZA, L22/85, Lichtheim an Mannes, 22. Januar 1946. 372 Vgl. dazu die Korrespondenz des Büros zwischen Februar 1945 und Oktober 1946 in CZA L22/316, L22/317 und L22/318. 373 CZA, L22/316, Lichtheim an Lauterbach, 18. Januar 1946 (Nr. 1581). 374 CZA, L22/316, Lichtheim an Lauterbach, 11. März 1946 (Telegramm).
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zurück.375 Einzig Menachem Kahany blieb in Genf und vertrat fortan die Zionisten bei den Vereinten Nationen.376
Eine »Insel in einem Meer von Schmerz und Leid«: Interne Konflikte und die Grenzen jüdischer Einflussnahme Es gelang zu keinem Zeitpunkt, in Genf eine parteiübergreifende Kommission aller dort agierenden jüdischen Akteure zur gemeinsamen Koordination der Hilfsarbeit zu etablieren. Wie oben beschrieben, scheiterten sämtliche Versuche aus Jerusalem und Istanbul, die verschiedenen Stellen zur Kooperation zu ermutigen. Trotz der Unmöglichkeit, formelle kollektive Strukturen zu bilden, kam es aber zwischen den zahlreichen in der Schweiz agierenden Stellen auf informeller, direkter Ebene immer wieder zu gemeinsamen Initiativen. Auch Lichtheims Tätigkeit beruhte zu einem großen Teil auf der Zusammenarbeit mit anderen Personen und Organisationen, die allerdings häufig von Konflikten überschattet war. Die einzelnen Akteure versuchten oft, unabhängig voneinander Kontakt zu verschiedenen jüdischen Stellen in den deutsch besetzten Gebieten aufzubauen und Hilfe und Rettung zu organisieren. Vor allem ideologische Differenzen, persönliche Vorbehalte und unterschiedliche Arbeitsmethoden erschwerten Kooperation und Koordination. Auch mögen die Komplexität der Situation und der enorme Druck, der angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen auf den einzelnen Akteuren lastete, Differenzen und Interessenkonflikte verstärkt haben. Innerhalb des Kreises zionistischer Emissäre nahm Lichtheim stets eine Außenseiterposition ein, wobei – neben seiner sperrigen, wenig kompromissbereiten Art und seinem vergleichsweise fortgeschrittenen Alter – sicherlich seine politische Haltung eine gewichtige Rolle gespielt haben dürfte. Die führenden Positionen der Jewish Agency in Jerusalem waren mehrheitlich von Mitgliedern der Arbeiterpartei Mapai besetzt und auch bei den meisten der in ihrem Auftrag in Genf und Istanbul agierenden Personen handelte es sich um Vertreter der Arbeiterbewegung. Hier mochte Lichtheim, obgleich 1937 aus der revisionistischen Judenstaatspartei ausgetreten, als ständiger Kritiker der offiziellen zionistischen Politik nicht recht ins Bild passen. Auch galt Lichtheim bei den deutlich jüngeren und risikobereiteren Emissären Schwalb, Scheps und Posner als zu konservativ und vorsichtig in seinen Me thoden.377 Allerdings kooperierte selbst die im November 1942 auf Vorschlag
375 CZA, A56/37, Lichtheim an Marcel Celeb (Paris), 13. Mai 1946. 376 CZA, L22/316, Kahany an Lauterbach, 14. Juni 1946. 377 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 120.
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des Istanbuler Histadrut-Vertreters Melech Neustadt (1895–1959) geformte Kommission, die aus Silberschein, Schwalb, Posner und Scheps bestand, nur unzureichend. Laut der Historikerin Hava Eshkoli war Schwalb nicht an einer ernsthaften Zusammenarbeit mit Posner interessiert, während Silberschein, der bevorzugt im Alleingang operierte, die Kommission für seine Arbeit eher als hinderlich denn als nutzbringend empfand.378 Sicherlich führte auch das Fehlen staatlicher Strukturen bei gleichzeitiger organisatorisch-funktionaler Zersplitterung zu einem uneinheitlichen Vorgehen. Die schiere Zahl verschiedener Büros in Genf und die Tatsache, dass Jerusalem nie eine klare Abgrenzung der unterschiedlichen Zuständigkeitsbereiche vornahm oder Hierarchien festlegte, erschwerten die Organisation effektiver Arbeit enorm und führten zu permanenten Rivalitäten und Kompetenzstreitigkeiten unter den Emissären. Ihr Verhältnis zueinander war geprägt von Autoritätskonflikten und dem Kampf um die Deutungshoheit der zionistischen Arbeit. Sie beschuldigten sich gegenseitig, ihren jeweiligen Interessen Priorität einzuräumen und zur Zusammenarbeit unfähig zu sein. Als offizieller Vertreter der Exekutive versuchte vor allem Lichtheim, die Kontrolle über die Aktivitäten in Genf zu behalten; insbesondere durch das eigenmächtige Handeln Posners und Schwalbs sah er seine Autorität unterminiert. Gleichzeitig hatten laut der Historikerin Dina Porat Letztere das Gefühl, die Hauptarbeit in Genf zu leisten.379 Als Außenseiter unter den Genfer Emissären und abgeschnitten von Bekannten und Verwandten – ihren Sohn George sahen sie mehr als sieben, Tochter Miriam über fünf Jahre nicht – fühlten sich Lichtheim und seine Ehefrau Irene in Genf zunehmend isoliert (Abb. 10).380 Eine wirklich intensive Zusammenarbeit etablierte Lichtheim nur mit dem sehr viel jüngeren Gerhart M. Riegner. Von Anfang an bemühte sich Lichtheim um gute Beziehungen zum World Jewish Congress, »dessen sehr geschickte Geschäftsführung beste Beziehungen mit dem R[oten] K[reuz] und den Berner Stellen, einschliesslich amerikanischer Legation« unterhielt.381 Riegner war bereits mehrere Jahre mit dem Schweizer diplomatischen Establishment vertraut, als Lichtheim seine Arbeit in Genf aufnahm, und verschaffte Letzterem Zutritt zu Hilfsorganisationen und ausländischen Vertretungen. »[W]enigstens was Agency und Weltkongress betrifft, [wurde] der peinliche Eindruck vermieden, dass die jüdischen Organisationen alle durcheinander und gegeneinander arbeiten – ein Eindruck«, so Lichtheim, 378 Eshkoli, The Founding and Activity of the Hehalutz-Histadrut Rescue Center in Geneva, 1939–1942, 169. 379 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 120. 380 CZA, A56/36, Lichtheim an Richard Ginsberg (Tel Aviv), 3. März 1944. 381 CZA, L22/85, Lichtheim an Barlas, 9. März 1944.
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Abb. 10: Richard und Irene Lichtheim in Genf, 1940/41. © Central Zionist Archives.
»der leider durch das selbständige Vorgehen anderer Stellen und Personen zu unserem Nachteil entstanden ist.«382 Die beiden gebürtigen Berliner Lichtheim und Riegner einte ungeachtet des Altersunterschieds und der verschiedenen Erfahrungshintergründe nicht nur eine gemeinsame Mission, sondern auch eine ähnliche kulturelle Prägung, die ihre Einstellungen und Arbeitsmethoden bestimmte.383 Sowohl der für seine »preußische Art« bekannte Lichtheim als auch der studierte Jurist Riegner bestanden in der Regel darauf, innerhalb des rechtlichen Rahmens zu agieren, und scheuten vor illegalen Aktionen zurück. Rational und zielorientiert wägten sie Sinnhaftigkeit und Erfolgsaussichten ihrer Schritte ab, bevor sie die ihnen zur Verfügung stehenden Gelder in Hilfsaktionen investierten. Die enge Zusammenarbeit von Lichtheim und Riegner in Genf erwies sich vor allem in Bezug auf den Informationsaustausch, die Koordination der Hilfsarbeit, das stete Bemühen, die westliche Öffentlichkeit über den Völkermord an den europäischen Judenheiten zu informieren, sowie das Drängen auf alliierte Interventionen als fruchtbar. Für die Exekutive der Jewish Agency in Jerusalem spielte das Büro in Genf bei der Organisation von Hilfe und Rettung allerdings nur eine untergeord382 Ebd. 383 Vgl. dazu auch Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 13–23.
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nete Rolle, was Lichtheims Handlungsspielraum zusätzlich einschränkte. Obwohl das Genfer Büro in Jerusalem durchaus als wichtige Informationsquelle geschätzt wurde, nahm man dort wenig Anteil an Lichtheims administra tiven Sorgen. Im Gegenteil wurden in Jerusalem permanent die Kürzung des Budgets und die Verkleinerung des Büros diskutiert und Lichtheim musste stets um die Zahlung der für die Aufrechterhaltung der Büroarbeit und die Unterstützung von Hilfs- und Rettungsaktionen nötigen Mittel ringen.384 Auch blieben trotz mehrfacher Bitte Lichtheims konkrete Instruktionen aus Jerusalem aus, obgleich Eliezer Kaplan, Moshe Sharett und Emil Schmorak bereits im Sommer 1940 von der Exekutive damit beauftragt wurden, die Aktivitäten in Genf zu koordinieren.385 Meist blieb Lichtheim nichts anderes übrig, als die Mitglieder der Exekutive im Nachhinein über die Vorgänge in Genf zu informieren, anstatt sie zu konsultieren.386 Die räumliche Distanz erschwerte die Kommunikation zwischen den Emissären in der Schweiz und ihren Vorgesetzten in Palästina zusätzlich. Der reguläre Postverkehr dauerte verhältnismäßig lange und war kriegsbedingt zeitweise unterbrochen. Mit Palästina als britisch verwaltetem Gebiet und der von den Achsenmächten umringten Schweiz mussten Briefe gleich drei Zensurbehörden passieren: die schweizerische, die deutsche und die der britischen Mandatsregierung. Auch blieb der Kontakt zwischen Genf und Jerusalem stets indirekt. Während des Kriegs besuchte kein Mitglied der Exekutive das Büro in Genf.387 Anders verhielt es sich im Fall der Vertretung in Istanbul. Direkter Verkehr zwischen Palästina und der Türkei war problemlos möglich und nachdem mit der öffentlichen Bestätigung der nationalsozialistischen Verbrechen Ende 1942 die Dringlichkeit einer Rettung auch in Palästina erkannt wurde, entsandte die Führung in Palästina Anfang 1943 zusätzliche Vertreter des Jischuw nach Istanbul. Die Koordination von Hilfsaktionen und der Transfer von Geldern wurden fortan vorrangig über Istanbul abgewickelt. Das von Vertretern der Arbeiterbewegung geführte Büro hatte für Jerusalem aus praktischen wie aus ideologischen Gründen Priorität. Ohnehin scheint hinsichtlich der Rettungsarbeit für Jerusalem die 384 Im Zuge des Weltkriegs und der Wirtschaftskrise in Palästina war die Jewish Agency beständig um Ausgabenkürzungen bemüht. Außerdem bedurfte es einer speziellen Erlaubnis, um Gelder von Palästina ins Ausland zu überweisen. Von Beginn an musste Lichtheim in Jerusalem Status und Budget seines Genfer Büros erkämpfen. Mit der Zusammenlegung der Jewish-Agency-Vertretung beim Völkerbund (Goldmann und Kahany) und dem von Lichtheim geführten Verbindungsbüro im Frühjahr 1941 war zumindest diese Kompetenzstreitigkeit gelöst. Anfänglich finanzierte Lichtheim die Arbeit in Genf hauptsächlich aus den Geldern der zionistischen Sammlungen in Europa. 385 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 118. 386 CZA, L22/14, Lichtheim an Lauterbach, 26. Februar 1942 (Nr. 629); CZA, L22/13, Lauterbach an Lichtheim, 12. April 1942 (Nr. 727). 387 Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 120.
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Koordination und finanzielle Unterstützung der Alija Bet vorrangig gewesen zu sein, die bis Ende 1940 in Genf zeitweise von den Mossad-Agenten Moshe Averbuch (Agami, 1907–?) und Zvi Schechter (Yehieli, 1905–1970) organisiert wurde, bevor deren Aktivität nach Istanbul verlagert wurde.388 Für Lichtheim gestaltete sich die Kommunikation mit Istanbul zuweilen ebenso beschwerlich wie die mit Jerusalem. Zum Beispiel plante er Anfang 1944, sich finanziell am Ankauf billiger Schuhe für die Not leidende jüdische Bevölkerung Rumäniens durch das IKRK zu beteiligen, musste diesen Plan allerdings fallen lassen, da er keine Rückmeldung aus Istanbul erhielt.389 In Anbetracht der Komplexität des Verbrechens waren interne Koordinationsschwierigkeiten und Differenzen jedoch das kleinste Hindernis bei der Organisation effektiver Hilfe. Die Zurückhaltung der Alliierten, in großem Umfang an humanitären Hilfsaktionen teilzunehmen, sowie die Logik und Logistik des nationalsozialistischen Vernichtungskriegs begrenzten die Möglichkeiten des Genfer Büros, zugunsten der Verfolgten einzugreifen, von Beginn an. Die Beobachter in Genf fanden keine Interventionsmethoden, die Deutschland zur Änderung seiner Politik gezwungen hätten und gleichzeitig für die Alliierten akzeptabel gewesen wären. So scheiterte etwa die wiederholt von Lichtheim und anderen vorgebrachte Forderung, die westlichen Staaten mögen sich zur Aufnahme einer größeren Anzahl Geflüchteter bereit erklären, an der restriktiven Einwanderungspolitik dieser Staaten sowie am erklärten Unwillen der Nationalsozialisten, einer größeren Anzahl Jüdinnen und Juden die Ausreise aus Europa zu gestatten. Ebenso war die vom Botschafter der polnischen Exilregierung Jan Ciechanowski (1887–1973) gemeinsam mit Vertretern anderer Exilregierungen vorgeschlagene Bombardierung deutscher Städte, in der auch Lichtheim ein effektives Mittel zur Schwächung der deutschen Kriegsmoral erkannte, für die Alliierten inakzeptabel. Das amerikanische Außenministerium lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass eine solche Vergeltung nur zur Eskalation des Terrors führen würde.390 Ohnehin suchten die westlichen Demokratien, kriegerische Maßnahmen gegen die Zivilbevölkerung eher zu vermeiden. Auch die nach Bekanntwerden des Vrba-Wetzler-Reports Mitte Juni 1944 von verschiedenen jüdischen Akteuren in Budapest, Genf und Jerusalem erneut vorgebrachte Forderung nach Bombardierung der Krematorien in Auschwitz und Birkenau sowie der Bahngleise zwischen Ungarn und Auschwitz durch die alliierten Streitkräfte blieb letztlich folgenlos.391 388 Ofer, Escaping the Holocaust, 43. 389 CZA, L22/860, Lichtheim an Venja Pomeranz (Istanbul), 6. Januar 1944; L22/85, Lichtheim an Barlas, 9. März 1944. 390 Feingold, The Politics of Rescue, 168. 391 Láníček, Arnošt Frischer and the Jewish Politics of Early 20th-Century Europe, 131; Lichtheim an Linton, 26. Juni 1944, abgedruckt in: AotH 4, 297 f.
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Ratsamkeit und Durchführung dieser Maßnahmen wurden auch innerhalb der jüdischen Kreise in England, den Vereinigten Staaten und Palästina kontrovers diskutiert. Die Befürworter des Plans hofften, dass die Zerstörung der Gleise den Bahnverkehr empfindlich stören und die massenhafte Deportation der ungarischen Jüdinnen und Juden nach Auschwitz verzögern, wenn nicht gar verhindern würde. Ablehnende Stimmen befürchteten zu große Opferzahlen unter den Gefangenen, die es den Deutschen erlauben würden, sie als alliierte Opfer zu präsentieren. Die Vertreter der Jewish Agency hielten den Plan dennoch für zweckmäßig. In London trugen Weizmann und Sharett, die von Lichtheim in Kenntnis gesetzt wurden, dieses Anliegen am 6. Juli 1944 im Namen der Jewish Agency an den britischen Außenminister Anthony Eden heran, während Goldmann und Leon Kubowitzki (1896–1966) vom World Jewish Congress sowie John W. Pehle (1909–1999), Direktor des War Refugee Board, versuchten, den amerikanischen Unterstaatssekretär im Kriegsministerium John J. McCloy (1895–1989) von der Notwendigkeit militärischer Maßnahmen zu überzeugen. Der Vorschlag wurde schließlich mit der Begründung abgelehnt, ein solches Unternehmen würde wichtige Ressourcen der Luftstreitkräfte abziehen, die an anderer Stelle für einen schnellen Sieg unabkömmlich seien.392 »Rettung durch Sieg« lautete während des gesamten Kriegs die Maxime der Alliierten. Einzig ein schneller militärischer Sieg über NS-Deutschland würde die europäischen Judenheiten schützen. Schließlich wurden die meisten von jüdischer Seite vorgeschlagenen Rettungsaktionen mit der Begründung abgelehnt, dass sie die eigentlichen Kriegsanstrengungen behindern würden.393 Der Handlungsspielraum der Aktivisten wurde allerdings nicht nur durch eigene Mittel und die Kooperationsbereitschaft der Alliierten bestimmt, sondern war in hohem Maße abhängig von dem guten Willen der deutschen Behörden. Der Versand von Paketen in die Lager wurde durch temporäre und lokale Postsperren behindert, ein Großteil der Sendungen von den Nationalsozialisten unterschlagen. Überdies verweigerten die deutschen Behörden jegliche Auskünfte zu jüdischen Internierten, untersagten Außenstehenden den Zugang zu den Lagern und versuchten, mit gezielter Desinformation den Massenmord zu verschleiern. Auch der Besitz ausländischer Papiere garantierte keinen Schutz. Um die in Berlin festgelegten Quoten zu erfüllen, wurden zeitweise Zertifikatsinhaber deportiert. In anderen Fällen wiederum blieben Personen mit offensichtlich gefälschten Papieren verschont.
392 Feingold, The Politics of Rescue, 257. Zu dieser Diskussion vgl. auch die Dokumentensammlung Wyman (Hg.), Bombing Auschwitz and the Auschwitz Escapees’ Report, bes. das Schreiben John McCloys an Leon Kubowitzki vom 14. August 1944, 165. 393 Feingold, The Politics of Rescue, 173.
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Trotz dieser Widerstände versuchten Lichtheim und seine Mitarbeiter – meist in Kooperation mit verschiedenen anderen Akteuren wie dem World Jewish Congress, dem Joint, dem Roten Kreuz und dem War Refugee Board –, Teile der europäischen Judenheiten zu retten oder zumindest deren Überlebenschancen zu erhöhen. Letztlich blieben die konkreten Möglichkeiten des Genfer Büros auf die Beschaffung und Verteilung von Schutzpapieren sowie die Erleichterung des Lagerlebens durch Lebensmittel- und Medikamentensendungen beschränkt. Von besonderer Bedeutung war die politische Arbeit des Büros: das Bemühen Lichtheims und seiner Mitarbeiter während des gesamten Kriegs, die jüdischen Stellen und Regierungskreise in Jerusalem, London, New York und Washington sowie die allgemeine Öffentlichkeit zu alarmieren, ebenso wie das unermüdliche Vorsprechen bei den Vertretungen der Alliierten und des Vatikans in Bern sowie den Schweizer Behörden. Die 1942 in Genf initiierten diplomatischen Initiativen gegenüber dem päpstlichen Nuntius sowie den britischen und amerikanischen Botschaften in Bern, die dazu beitrugen, in der westlichen Öffentlichkeit ein Bewusstsein für die Realität der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu schaffen, sowie die daraus resultierenden politischen Konsequenzen können sicherlich als größter Erfolg der Emissäre gewertet werden. Ferner vermittelte das Büro als Kontaktstelle zwischen dem Jischuw und dem besetzten Europa nicht nur Nachrichten über den nationalsozialistischen Terror, konkrete Vorschläge für Rettungsaktionen sowie die dafür benötigten Gelder, sondern auch Hoffnung, Zuversicht und moralische Unterstützung für die europäischen Judenheiten.394 Lichtheim selbst war allerdings wenig zuversichtlich. Blieb er in seinen geschäftlichen wie auch den wenigen zugänglichen privaten Korrespondenzen in der Regel nüchtern und sachlich, so geben seine Berichte über die Tatsachenbeschreibungen hinaus doch manchmal auch Auskunft über sein persönliches Empfinden. Man erfährt von der Hoffnungslosigkeit, die Lichtheim auf seinem neuen Posten in Genf überkam, das sich für ihn schnell zu einer »Insel in einem Meer von Schmerz und Leid« entwickelte, und auch von der ständigen Enttäuschung und Frustration darüber, dass seinen Berichten außerhalb Europas oftmals mit Zweifel begegnet wurde.395 Vor allem in den Jahren 1939 bis 1942 hatte er den Eindruck, dass es in Palästina weder Verständnis für seine eigene Position noch für die Situation der europäischen Judenheiten gab. 394 Laut abschließendem Bericht vermittelte das Genfer Büro auch die Gelder für die von Marc Jarblum organisierte Rettung von 1 350 Kindern aus Frankreich in die Schweiz Anfang 1944. CZA, A56/29, Lichtheim, Das Genfer Büro 1939–1946, 10. April 1946, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 513–525. 395 Lichtheim, Looking at Europe from Geneva, in: Chicago Sentinel, 18. September 1941, 10 und 20.
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Als Lichtheim Ende August 1942 den Bericht des polnischen Augenzeugen, der erste Informationen über Massentötungen in speziell dafür in Osteuropa errichteten Lagern enthielt, als verlässlich einstufte und nach Jerusalem sandte, schlug ihm von dort eine Welle der Skepsis entgegen, die er angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die er zu berichten hatte, durchaus nachvollziehen konnte. Ihn erreichten jedoch tagtäglich Berichte über die Brutalität der Nationalsozialisten, die für ihn kaum nachzuprüfen waren, sodass »diese spezifische Geschichte« für ihn »nicht weniger glaubwürdig« klang »als alle anderen. Was den Deportierten und den Bewohnern der Ghettos widerfahren ist und täglich widerfährt, wird von so vielen Quellen bestätigt, dass es keinen Zweifel mehr an den Absichten Hitlers und der Gestapo geben kann.«396 Das Gefühl, kein Gehör zu finden beziehungsweise Außenstehenden das Ausmaß der Katastrophe nicht verständlich vermitteln zu können, brachte der sonst so rationale Lichtheim wohl nirgends deutlicher zum Ausdruck als in dem im Oktober und November 1942 in der amerikanischen Presse erschienenen Essay And Millions Shall Die.397 Henry Montor, der Präsident des United Palestine Appeal, hatte Lichtheim gebeten, einen 1 500 Wörter umfassenden Bericht zur Lage der jüdischen Bevölkerung in Europa anzufertigen. Das Resultat war ein fast dreimal so langer Text, der weniger eine detaillierte, faktenbasierte Darstellung als vielmehr eine Offenbarung von Lichtheims persönlicher Verzweiflung über das Schicksal der todgeweihten Judenheiten Europas war: »I am bursting with facts, but I cannot tell them in an article of a few thousand words. I would have to write for years and years and you would have to publish an encyclopedia. That means I really cannot tell you what has happened and is happening to five million persecuted Jews in Hitler[-]Europe. Nobody will ever tell the story – a story of five million personal tragedies every one of which would fill a volume.«398
Angesichts der Schwierigkeit, das Unbeschreibbare in Worte zu fassen und eine Sprache für etwas zu finden, das jenseits aller Vorstellungen lag, forderte er seine Leserschaft auf, die Fantasie zu benutzen: »Think of the facts behind 396 CZA, L22/3, Lichtheim an Grünbaum, 8. Oktober 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 427–432, hier 429. 397 Lichtheim schickte das Manuskript am 13. August 1942 an Montor. CZA, A56/27, Lichtheim an Montor, 13. August 1942. Der Brief mit Auszügen aus dem Artikel ist abgedruckt in: Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 183–192. Das Manuskript erschien nahezu unverändert als vierteilige Reihe am 5. Oktober, 19. Oktober, 2. November und 16. November 1942 unter der Überschrift And Millions Shall Die. The Position of the Jews in Europe Today im vierzehntägig erscheinenden Jewish Transcript und als Zweiteiler am 1. und 8. Oktober 1942 im Chicago Sentinel. Der Artikel erfuhr in zionistischen Kreisen große Aufmerksamkeit und wurde 1943 erneut abgedruckt. CZA, L22/9, Lauterbach an Lichtheim, 1. August 1943 (Nr. 1148). 398 CZA, A56/27, Lichtheim an Montor, 13. August 1942.
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the facts, of the rivers of tears and the streams of blood, the broken limbs and the naked bodies, the bleeding feet and the crying children, the stench and the filth, the biting cold and the gnawing hunger, the black despair in millions of hearts.«399 Selbst nachdem die Verbrechen der Nationalsozialisten im Herbst 1942 öffentlich bestätigt wurden und Lichtheim weiterhin regelmäßig Berichte anfertigte, die oft auch länderbezogene Schätzungen zur Anzahl noch lebender Jüdinnen und Juden enthielten, schien man in Palästina und Amerika ein sehr viel optimistischeres Bild von der Lage in Europa zu haben. Immer wieder störte sich Lichtheim an falschen Presseberichten, inakkuraten Statistiken und Reden von Politikern, die mit übertriebenen Angaben hantierten und ihre Zukunftsprognosen auf allzu fantastische Überlebendenzahlen stützten.400 Im Oktober 1943 beschwerte er sich gegenüber Lauterbach: »Es ändert zwar nichts an der Situation selbst und die Lage des unglücklichen Judentums Europas wird davon weder besser noch schlechter, immerhin aber fällt es mir doch auf, dass trotz der zahllosen Berichte, die ich Ihnen gesandt habe (und die auch von anderer Seite sicher noch ergänzt worden sind), häufig in der palästinensischen Berichterstattung Irrtümer vorkommen, die schwer verständlich sind. […] Über die Lage in Polen habe ich Ihnen so oft und so ausführlich berichtet, dass es mich etwas wundert zu erfahren, dass Dr. Schmorak erst anlässlich seiner Reise nach der Türkei über die Lage informiert worden ist. […] Es ist wie gesagt für die Sache selbst nicht entscheidend, ob man in Palästina besser oder schlechter informiert ist, da man gemessen an der Größe der Katastrophe doch von dort aus fast nichts tun kann. Immerhin wollte ich Sie einmal darauf aufmerksam machen, dass den von mir seit 2 Jahren mit grosser Sorgfalt verfassten Berichten offenbar nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wurde oder dass man diese Berichte für Übertreibungen nach der pessimistischen Seite angesehen hat. Sind meine Berichte einmal günstiger als von anderer Seite, so glaubt man ihnen auch nicht […].«401
Lichtheim war überzeugt, dass er und seine Kollegen in Genf aufgrund ihrer Nähe zum Geschehen sehr viel besser über die Lage in Europa informiert waren und durch den permanenten Abgleich der aus verschiedenen Ländern in Genf einlaufenden Nachrichten fundiertere Angaben machen konnten als Stellen in Übersee. »[W]ir hier, die in einem der Zentren sitzen, wo die Trauerbotschaften zusammenlaufen«, schrieb er im März 1944, »wissen mehr als jeder einzelne draussen, wie gross die Tragödie ist.«402 Noch in seinem abschließenden Arbeitsbericht von 1946 bemerkte er kritisch, dass sein Büro über die Absichten und Vernichtungslager der Nationalsozialisten 399 Ebd. 400 CZA, L22/149, Lichtheim an Linton, 27. August 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 390–392; CZA, L22/145, Lichtheim an Yitzhak Grünbaum, 14. Juni 1944, abgedruckt in: ebd., 473–476. 401 CZA, L22/9, Lichtheim an Lauterbach, 20. Oktober 1943 (Nr. 1193). 402 CZA, L22/1084, Lichtheim an Otto Gross, 27. März 1944.
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informierte, »ohne zunächst für diese Angaben bei den eigenen Zentralstellen Glauben zu finden«.403 Lichtheims Frustration rührte jedoch nicht nur aus Unverständnis und Unglauben, mit denen seinen Berichten oft begegnet wurde. Auch die begrenzten Möglichkeiten, Hilfe in größerem Umfang leisten zu können, lasteten schwer auf ihm. Im Mai 1944 gestand er Dov Joseph vom Politischen Department in Jerusalem: »Nobody can suffer more than I do from the fact that whatever I and others are trying to achieve is quite out of proportion to the actual needs. There is much work which is done under a constant and heavy strain, and at the same time a feeling of frustration which sometimes comes very near to despair. Anyhow we must carry on and do what is humanly possible.«404
Angesichts der zahllosen Suchanfragen und der Bitten um Rat und Hilfe, auf die es kaum positive Antworten zu übermitteln gab, beschrieb er das Genfer Büro an anderer Stelle sinnbildlich als »eine der Klagemauern von Europa«.405 In seinem Nachruf auf Lichtheim bilanzierte Robert Weltsch mehr als zwanzig Jahre später ganz treffend: »It must indeed have been an ordeal for Lichtheim to be swamped by these reports and not be able to move a stone.«406
»Ohne Juden braucht es keinen jüdischen Staat«: Desillusionierung eines Zionisten Von Anfang an spiegelten die Berichte die bemerkenswerte Geistesgegenwart und erstaunliche Weitsicht Lichtheims wider. Wie gezeigt, äußerte er bereits Anfang März 1942 – also lange vor dem Telegramm Riegners – erstmals die Vermutung, dass der massenhafte Mord an der jüdischen Bevölkerung kein zufälliges Beiwerk des Kriegs, sondern folgerichtige Konsequenz eines planmäßigen Vorgehens der Nationalsozialisten war.407 Freilich konnte auch Lichtheim nicht die ganze Dimension der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen voraussehen. Er erkannte jedoch als einer der ersten zeitgenössischen Beobachter die Tragweite zumindest der ersten Schritte der systematischen Judenverfolgung, obgleich er 1933 nach Palästina ausgewandert war und die Verfolgungspolitik der Nationalsozialisten nicht direkt erlebt hatte.
403 CZA, A56/29, Lichtheim, Das Genfer Büro, 1939–1946, 10. April 1946, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 513–525, hier 518. 404 CZA, L22/145, Lichtheim an Bernhard Joseph (Dov Joseph), 24. Mai 1944. 405 CZA, A56/36, Lichtheim an Richard Ginsberg, 3. März 1944. 406 Robert Weltsch, In Memoriam Richard Lichtheim, in: AJR Information, 18 (1963), H. 6. 407 CZA, L22/151, Lichtheim an Lauterbach, 4. März 1942 (Nr. 633), abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 366 f.
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Für die israelische Historikerin Raya Cohen war Lichtheim deshalb »einer der ersten – wenn nicht der erste –, der erkannte, dass tatsächlich ein Prozess der Vernichtung im Gange war«.408 Dass Lichtheim früher als die meisten anderen Beobachter die Verbindung von Deportation und geplantem Massenmord erkannte und den Wahrheitsgehalt eingehender Informationen zwar stets zu überprüfen bemüht war, jedoch nicht per se anzweifelte, hängt sicherlich mit seiner seit jeher äußerst pessimistischen Einschätzung der Zukunftsaussichten für eine jüdische Existenz in der Diaspora zusammen, die er mit anderen Vertretern des zionistischen Revisionismus teilte, vor allem mit seinem langjährigen politischen Weggefährten Vladimir Jabotinsky.409 Lichtheim erwies sich hier einmal mehr als eher untypischer Vertreter des deutschen Judentums beziehungsweise des deutschen Zionismus, deren Vertreter die nationalsozialistische Gefahr mehrheitlich unterschätzten. Weitaus mehr Einfluss auf Lichtheims Interpretation der Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs scheint jedoch seine Tätigkeit während des Ersten Weltkriegs in Konstantinopel gehabt zu haben. Hier wurde er nicht nur Zeuge der existenziellen Bedrohung des Jischuw, sondern ebenso der Gewalt gegen die armenische Bevölkerung. Die massenhaften Verhaftungen und Deportationen der christlichen Minderheit, die schließlich im Genozid gipfelten, blieben ihm, der in den Jahren 1915 und 1916 täglich an den zentralen Orten der osmanischen Hauptstadt verkehrte, nicht verborgen. »Das war bewusster Massenmord zum Zwecke der Beseitigung eines störenden Nationalitätenproblems«, resümierte er in seinen Erinnerungen.410 Und weiter: »Sie [die Armenier] waren der erste Fall einer systematischen Rassenverfolgung in der neueren Geschichte und ähnelten der ersten Phase des Hitlerschen Vernichtungsfeldzuges gegen die Juden in den Jahren 1940 bis 1942. Massenverhaftungen und Deportierungen von Armeniern in Konstantinopel, Versenkung von Schiffen, die mit Armeniern beladen waren, im Bosporus und schließlich die Vertreibung der Armenier aus ihren Dörfern in Anatolien waren die Methoden, die man anwandte.«411
Die verschiedenen in Konstantinopel beobachteten Methoden systematischer Verfolgung hatten ihn schließlich sensibler auf die antijüdischen Maßnah408 Raya Cohen, Confronting the Reality of the Holocaust, 336. 409 Erinnert sei hier an Jabotinskys Evakuierungsplan von 1936, der die Übersiedlung von 1,5 Millionen europäischen Jüdinnen und Juden innerhalb von zehn Jahren nach Palästina vorsah. Bereits ab Beginn der 1930er Jahre hatte Jabotinsky vor dem Hintergrund der Entwicklungen in Europa v. a. auf die osteuropäischen Jüdinnen und Juden eine »beispiellose Katastrophe« zukommen sehen, wobei er selbstredend nicht deren systematische physische Vernichtung vorhersah. Zum Plan vgl. Jabotinsky, Der Judenstaat, bes. 52–61; Schechtman, The Vladimir Jabotinsky Story, Bd. 2: Fighter and Prophet, 334–363. 410 Lichtheim, Rückkehr, 287. 411 Ebd., 341.
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men der Nationalsozialisten reagieren lassen als viele andere. Im Hinblick auf das Schicksal der polnischen Judenheit hatte er schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn seinen Kollegen Joseph Linton in London gewarnt: »I am afraid we shall have to face the fact that under German rule 2 000 000 Jews will be annihilated in not less a cruel way, perhaps even more cruel, than 1 000 000 Armenians have been destroyed by the Turks during the last war.«412 Eine aus Erfahrung gespeiste Prognose, die sich spätestens im Laufe des Jahrs 1942 als richtig herausstellen sollte. Vor dem Hintergrund der europäischen Katastrophe, die Lichtheim in Genf aus nächster Nähe beobachtete und dokumentierte, muss auch seine erstmals im September 1942 geäußerte Ablehnung der im Biltmore-Programm formulierten Forderung nach einem jüdischen Staat betrachtet werden, die nunmehr Konsens innerhalb der zionistischen Bewegung war. Im Frühjahr und Sommer 1942 wurde der millionenfache Mord an den europäischen Jüdinnen und Juden für die Beobachter in Genf immer deutlicher erkennbar, und gleichzeitig zeigte sich, dass die Alliierten nicht in der Lage waren, dem Terror der Nationalsozialisten schnell ein Ende zu bereiten. Schon im Vorfeld der Biltmore-Konferenz zweifelte Lichtheim am Nutzen von Plänen für die zukünftige zionistische Arbeit, da niemand voraussehen könne, »wie Europa nach diesem Kriege aussehen« werde.413 Er ahnte, dass die Überlebenden nach dem Krieg vorrangig damit beschäftigt sein würden, sich mühsam in Europa oder andernorts eine neue Existenz aufzubauen. Eine »Erneuerung des idyllischen Ortsgruppen-Zionismus der Vorkriegszeit, nach der sich vermutlich viele der geflüchteten Häuptlinge zurücksehnen«, war für ihn bereits im Frühjahr 1942 nicht mehr vorstellbar.414 Nachdem im Laufe des Sommers 1942 der systematische Massenmord evident geworden war, hatte für Lichtheim das mehrheitlich von den Judenheiten Osteuropas getragene Streben nach einem souveränen Gemeinwesen seine primäre Zielgruppe und damit sein demografisches Fundament verloren. Im September 1942 schätzte er, dass nicht mehr als 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden den Krieg in Europa überleben würden. Für die Mehrheit von ihnen, so Lichtheim, wären für den existenziellen Neubeginn nach einem alliierten Sieg andere soziopolitische Ideen attraktiver als der Zionismus: Er prognostizierte, dass sich die Überlebenden in den dann befreiten demo-
412 CZA, S46/360, Lichtheim an Linton, 12. Oktober 1939, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 297–305, hier 301. Ein weiterer Vergleich der nationalsozialistischen Judenverfolgung mit dem Genozid an den Armeniern findet sich hier: CZA, L22/151, Lichtheim an Linton, 10. November 1941. Der Brief ist abgedruckt in Matthäus (Hg.), Predicting the Holocaust, 155–159. 413 CZA, L22/14, Lichtheim an Lauterbach, 30. März 1942 (Nr. 664). 414 Ebd.
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kratischen Staaten Westeuropas mehrheitlich für Assimilation und Taufe entscheiden würden, während sich die jüdische Bevölkerung in den von Moskau dominierten Staaten des östlichen Europas die Gleichheitsidee des Kommunismus zu eigen machen würde. Nur eine Minderheit der Überlebenden, etwa 100 000 bis 200 000 Menschen, würde die Auswanderung nach Palästina in Betracht ziehen. Auch die amerikanischen Zionisten hatten sich bisher – ähnlich wie die meisten Mitglieder der deutschen zionistischen Bewegung vor 1933 – hauptsächlich durch die organisatorische, finanzielle und ideelle Unterstützung des zionistischen Projekts in Palästina ausgezeichnet, nicht jedoch durch ihre Bereitschaft, sich tatsächlich dort niederzulassen. Sollte sich der Großteil von ihnen auch nach dem Krieg nicht für die Auswanderung entscheiden, könne es weder eine zionistische Bewegung im eigentlichen Sinne geben, noch könne man weiter an dem Anspruch auf ein souveränes Gemeinwesen in Palästina festhalten.415 Die politischen Konsequenzen, die Lichtheim aus dem Geschehen in Europa zog, stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner sehr engen, revisionistischen Auffassung des zionistischen Ziels, die er in den Jahren zwischen den Weltkriegen vertreten hatte. Bereits im Vorfeld der BiltmoreKonferenz äußerte sich Lichtheim verwundert darüber, dass die Mehrheit der Bewegung nun ebenjene Forderungen aufstellte, für die er in den 1920er und 1930er Jahren an der Seite Jabotinskys und Grossmanns eingetreten war und die ihm nun, zwanzig Jahre später, mit den realen Möglichkeiten unvereinbar schienen.416 Lichtheim war überzeugt, dass eine – für die dauerhafte friedliche Existenz des entstehenden Gemeinwesens seiner Meinung nach unabdingbare – Einigung mit der ansässigen arabischen Bevölkerung erst auf Grundlage einer starken jüdischen Mehrheit in Palästina möglich sein werde. Am Vorabend des Kriegs machten die jüdischen Bewohner jedoch nur rund ein Drittel der Gesamtbevölkerung Palästinas aus. Angesichts eines solchen Bevölkerungsverhältnisses, das infolge der millionenfachen Vernichtung selbst bei uneingeschränkter jüdischer Einwanderung kaum entscheidend zugunsten des Jischuw verschoben werden könne, hielt er die Forderung nach einem unabhängigen jüdischen Staat in Palästina weder für gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft durchsetzbar noch 415 CZA, A56/27, Lichtheim an Goldmann, 9. September 1942, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 529–538; CZA, A56/27, Lichtheim an Lewis Namier, 29. Februar 1944, abgedruckt in: ebd., 542–544. 416 CZA, L22/235, Lichtheim an Lauterbach, 7. Oktober 1941 (Nr. 498). Gemessen an den Bevölkerungsanteilen in Palästina schien eine solche Forderung allerdings auch in den 1930er Jahren unrealistisch. Zu keinem Zeitpunkt überstieg die jüdische Bevölkerung in ganz Palästina mehr als 30 Prozent der Gesamtbevölkerung. Selbst bei einer der jüdischen Einwanderung günstiger gegenüberstehenden britischen Politik hätte es Jahrzehnte gedauert, das demografische Verhältnis zu Ungunsten der arabischen Bevölkerung zu verschieben.
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für praktisch möglich.417 Lichtheims Absage an die Forderung nach einem jüdischen Staat ist daher weniger ein radikaler Bruch mit seinen revisionistischen Maximalforderungen als vielmehr die Anpassung seines politischen Denkens an die Konsequenzen des Holocaust. Seine Vorkriegsüberzeugungen sowie die räumliche und zeitliche Nähe seines Genfer Beobachtungspostens zu den Ereignissen in Europa ließen ihn erneut der zionistischen Mehrheitsposition diametral entgegenstehen. Er war damit einer der wenigen jüdischen Beobachter außerhalb des Einflussbereichs der Nationalsozialisten und ihrer Verbündeten, der 1942 aufgrund seines Wissens um die Dynamik und Qualität der Verfolgung der Judenheiten Europas ein radikales Umdenken zionistischer Politik forderte. In den 1940er Jahren entsprach, wie es Tom Segev formulierte, die »Neigung, den Judenmord aus der Gegenwart in die Vergangenheit zu drängen, […] dem Zeitgefühl des Zionismus und des Judentums überhaupt«; etwa wurden Programme aufgestellt, die direkt von der Vergangenheit in die Zukunft wiesen, ohne die Gegenwart in den Blick zu nehmen.418 Für Lichtheim dagegen war klar, dass sowohl die zionistische Arbeit während des Kriegs als auch die Nachkriegsplanungen an die eskalierende Gewalt in Deutschland angepasst werden mussten. Als das Biltmore-Programm verabschiedet wurde, war ein großer Teil jener Menschen, deren Einwanderung es nach Kriegsende vorsah, nicht mehr am Leben. Auch das öffentliche Bekanntwerden des Ausmaßes der Katastrophe führte zu keiner Änderung der bestehenden zionistischen Pläne. Der politischen Führung in Palästina warf Lichtheim vor, in New York ein »Illusionsprogramm« aufgestellt zu haben, das die Feindschaft der arabischen Bevölkerung weiter geschürt und vor allem dringend in Europa benötigte Energien und Ressourcen in eine falsche Richtung gelenkt habe.419 Dabei teilten Ben-Gurion und Weizmann, die beiden zentralen Figuren der Bewegung, durchaus Lichtheims Befürchtung, die jüdische Katastrophe in Europa könne das Ende der zionistischen Anstrengungen bedeuten.420 In der Hoffnung, mithilfe jüdischer Überlebender in Europa und einer starken Einwanderung aus den Vereinigten Staaten, Nordafrika und den muslimischen Staaten eine 417 CZA, A56/27, Lichtheim an Martin Rosenblüth, 26. November 1945, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 546–549. Laut Statistik der Jewish Agency betrug die jüdische Bevölkerung in Palästina gegen Ende des Jahrs 1942 485 000 Personen bzw. 31 Prozent der Gesamtbevölkerung. Vgl. Friling, Arrows in the Dark, Bd. 1, 5. 418 Tom Segev, David Ben Gurion, 356. 419 CZA, A56/29, Lichtheim, Das europäische Judentum nach dem Zweiten Weltkrieg (Vorlesungsmanuskript), 19. August 1946. 420 In seiner Autobiografie beschrieb Weizmann, dass ihn bereits frühzeitig ein Brief Lichtheims erreichte, der ihn davor warnte, dass der Zionismus seine Bedeutung verlieren würde, sollte es den Nationalsozialisten gelingen, Europa zu dominieren. Vgl. ders., Trial and Error, 420.
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jüdische Mehrheit in ganz Palästina herstellen zu können, hielten sie allerdings weiter am Biltmore-Programm fest. Auch dachten sie zunehmend über einen Bevölkerungstransfer und die Vertreibung großer Teile der arabischen Bevölkerung nach.421 Trotz der scharfen Kritik an der Politik Ben-Gurions war und blieb der Zionismus für Lichtheim die Antwort auf die jüdische Flüchtlingsfrage in Europa und die sogenannte jüdische Frage im Allgemeinen. Auch nach dem Krieg bekräftigte er: »Der Zionismus ist die einzige Lösung der Judenfrage, die das Problem an der Wurzel faßt, es sei denn, daß man in der radikalen Assimilation durch Taufe und Mischehe, das heißt im Verschwinden des Judentums, die endgültige Lösung erblickt.«422 Um unter geänderten Vorzeichen auf eine jüdische Heimstätte in Palästina hinzuwirken, schloss sich Lichtheim nach seiner Rückkehr nach Jerusalem im Frühjahr 1946 der Alija Chadascha (Neue Einwanderung) an, einer in Palästina agierenden Partei vornehmlich deutscher und österreichischer Neueinwanderinnen und Neueinwanderer, die wie er das Biltmore-Programm verwarf und stattdessen für eine fortgesetzte Zusammenarbeit des Jischuw mit der britischen Mandatsregierung eintrat.423 An die Möglichkeit einer diplomatischen Einigung mit der arabischen Bevölkerung oder eine binationale Lösung in Palästina glaubte Lichtheim jedoch noch immer nicht. Auch war er vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus beiden Weltkriegen überzeugt, dass eine wenig wehrhafte Minderheit einer einflussreichen Schutzmacht bedürfe. Als Alternativen zum souveränen Staat in ganz Palästina waren für ihn daher die Fortsetzung der britischen Verwaltung des Gebiets in Form einer Kolonie oder eines Dominions, aber auch eine jüdische Selbstverwaltung in Teilen des ursprünglichen Mandatsterritoriums vorstellbar.424 Im Sommer 1946 musste auch die Exekutive akzeptieren, dass bei einem Bevölkerungsverhältnis von 600 000 bis 650 000 Juden zu zwei Millionen palästinensischen Arabern eine jüdische Mehrheit nicht herzustellen war und die ab Sommer 1945 in London amtierende Labour-Regierung unter Clement Attlee entgegen vorhergehenden Andeutungen nicht vorhatte, von ihrem 1939 im Weißbuch festgelegten Ziel eines arabisch dominierten Ge421 Shapira, Land and Power, 320; Porat, The Blue and the Yellow Stars of David, 258 f. 422 Lichtheim, Die Judenfrage und ihre Lösungsmöglichkeiten, in: Die Tat, 26. Januar 1946, 2; ders., Die Judenfrage und ihre Lösungsmöglichkeiten, in: Die Tat, 28. Januar 1946, 6. 423 Zur Alija Chadascha vgl. Lavsky, From the »Aliya Chadasha« Party to the Progressive Party; Getter, Hit’argenut ha-politit ha-nifredet schel ole Germanja [Die eigenständige politische Organisation der deutschen Einwanderer]; Hillenbrand, Fremde im neuen Land, 64–70. 424 CZA, A56/36, Lichtheim an Weltsch, 11. November 1943, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 538–542; CZA, A56/36, Lichtheim an Weltsch, 10. März 1944, abgedruckt in: ebd., 545 f.; CZA, L22/180, Lichtheim an Lauterbach, 14. März 1944 (Nr. 1316).
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meinwesens mit jüdischer Minderheit abzurücken.425 Im Juli 1946 wurde der aus britisch-amerikanischer Initiative erwachsene Morrison-Grady-Plan vorgelegt, der eine selbstverwaltete arabische und eine deutlich kleinere jüdische Provinz unter britischer Aufsicht vorsah, während Jerusalem und der Negev unter direkter britischer Kontrolle bleiben sollten.426 Der Plan und die darin vorgesehene Kantonisierung Palästinas in halbautonome Gebiete wurden auf einem Treffen der Jewish Agency am 5. August 1946 in Paris zwar abgelehnt, allerdings wurde auf Vorschlag Nahum Goldmanns beschlossen, in Verhandlungen mit den Briten und Amerikanern die Bereitschaft zu zeigen, die Errichtung eines lebensfähigen jüdischen Staats in einem angemessenen Teilgebiet Palästinas in Betracht zu ziehen.427 Goldmann argumentierte: »Biltmore is no realistic policy of the movement, because we have no Jewish majority, and we cannot wait until we have the majority to get the State. I know it is a tragic decision, but we have only one choice between two things, British rule with the White Paper policy, or a Jewish State in part of Palestine.«428
Erklärtes Ziel der Zionisten war es, das für das jüdische Gemeinwesen vorgesehene Territorium zu erweitern und die Kontrolle über die jüdische Einwanderung dahin zu erhalten. Der Beschluss der Jewish Agency im August 1946 bedeutete die offizielle Absage an die Forderung nach einem jüdischen Staat in ganz Palästina und das Ende des Biltmore-Programms. Nach dem Holocaust basierte die Konzeption jüdischer Staatlichkeit offiziell auf einem geteilten Palästina.
425 Die Einwanderungsregularien des britischen Weißbuchs von 1939 sollten sicherstellen, dass die jüdische Bevölkerung in Palästina ein Drittel der Gesamtbevölkerung nicht überstieg. Außerdem sahen sie innerhalb der nächsten zehn Jahre die Etablierung eines unabhängigen Staats Palästina vor, in dem die jüdische Bevölkerung den Einwanderungsrestriktionen entsprechend Minderheit bliebe. Vgl. British Government, The White Paper (May 17, 1939), abgedruckt in: Laqueur / Rubin (Hgg.), The Israeli-Arab Reader, 44–50. 426 Der von dem britischen Regierungsmitglied Herbert Morrison und dem amerikanischen Diplomaten Henry F. Grady ausgearbeitete Plan wurde am 31. Juli 1946 vorgestellt und sah eine begrenzte jüdische Autonomie neben einer größeren arabischen autonomen Entität innerhalb eines föderativen Palästinas unter britischer Kontrolle vor. Ausführlich zu dem Plan vgl. Michael J. Cohen, Palestine and the Great Powers, 1945–1949, 116–134; Kochavi, Post-Holocaust Politics. 427 Jewish Agency, Decisions of the Extended Conference of the Agency Executive in Paris (August 5, 1946), abgedruckt in: Ruth Gavison (Hg.), Schischim schana le-haḥlatat 29 benovember 1947 [Sixty Years to the November 29th 1947 Resolution], 159, (3. April 2023). 428 Protokoll des Treffens der Zionistischen Exekutive, Paris, 2.–5. August 1946, Goldmann in der Diskussion am 3. August, zit. nach Friesel, Toward the Partition of Palestine, 181.
Epilog – Dreifache Rückkehr
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs drängten große Teile des Jischuw auf die unverzügliche Öffnung Palästinas für die in Europa ausharrenden Überlebenden des Holocaust und die Möglichkeit der nationalen Selbstverwirklichung in einem souveränen Gemeinwesen. Als im Herbst 1945 deutlich geworden war, dass die britische Regierung trotz der Katastrophe in Europa nicht vorhatte, ihre bisherige Palästinapolitik zu ändern, befand sich der Jischuw in Aufruhr. Die zionistische Führung war sich jedoch keineswegs einig darüber, wie die britische Regierung zu einer Änderung ihrer Politik gedrängt werden sollte. Während in Palästina unter Federführung David Ben-Gurions und Moshe Sharetts eine konzertierte Aktion gegen den britischen Mandatar initiiert wurde, die auch vor Gewalt nicht zurückschreckte, lehnte der in London ansässige langjährige Präsident der Zionis tischen Organisation Chaim Weizmann terroristische Aktivitäten kategorisch ab und drängte auf die Fortsetzung von diplomatischen Verhandlungen und beharrlicher Überzeugungsarbeit.1 Nachdem der jüdische Terror gegen die britische Mandatsregierung mit dem Bombenanschlag auf das King David Hotel in Jerusalem am 22. Juli 1946 einen neuen Höhepunkt erreicht hatte, verurteilten namhafte Zionisten in einem Brief an Weizmann den von der Leitung der Jewish Agency in Palästina orchestrierten Aktivismus der jüdischen Untergrundorganisationen und sprachen der gemäßigten Linie Weizmanns das vollste Vertrauen aus.2 Unter den Unterzeichnern befanden sich vor allem Linkszionisten wie die beiden ehemaligen Brit-Schalom-Mitglieder Moshe Smilansky (1874–1953) und Shlomo Zemach (1886–1974) oder der Po’ale-Ẓion-Führer Shlomo Kaplansky (1884–1950), die allesamt binationale Lösungen für Palästina verfochten. Zur Verwunderung nicht weniger hatte auch Richard Lichtheim für Weizmann Partei ergriffen, was die hebräischsprachige Tageszeitung Ha-Boker in ihrer Ausgabe vom 16. August 1946 provokant kommentierte: »Hinter dieser Unterschrift verbirgt sich wahrlich eine reiche Vergangenheit. Denn dies ist der Weg Richard Lichtheims: Enthusiastischer Weizmann-Anhänger im Jahr 1919, moderater Weizmann-Anhänger im Jahr 1921, kein Weizmann-Anhänger im Jahr 1925, Weizmann-Gegner im Jahr 1926, 1 Vgl. Shapira, Land and Power, 291–296. 2 Das Telegramm ist abgedruckt in: MB, 23. August 1946, 2.
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Epilog – Dreifache Rückkehr
Revisionist und kämpferischer Weizmann-Gegner im Jahr 1928, glühender Revisionist im Jahr 1931, Etatist und moderater Weizmann-Gegner im Jahr 1935, Allgemeiner Zionist mit Pro-Weizmann-Tendenz im Jahr 1944, Jewish-Agency-Beamter und ausgesprochener Weizmann-Anhänger im Jahr 1945, Freund Smilanskys, Zemachs und Kaplanskys und glühender Weizmann-Anhänger im Jahr 1946. Nach dieser 360-Grad-Wende (zweimal 180 Grad) fragen wir uns: Wohin noch?«3
Erst im Juni 1946 war Lichtheim aus Genf nach Jerusalem zurückgekehrt und hatte sich, wie viele andere deutsche Immigranten ab den 1920er Jahren, im Stadtteil Reḥavia niedergelassen, der nach dem bürgerlichen Berliner Westen als »Grunewald im Orient«4 bekannt wurde. Hier im »Jecken-Viertel« wohnten zahlreiche deutschsprachige Intellektuelle wie Martin Buber, Hugo Bergmann und Gershom Scholem, und auch ehemalige Funktionäre der ZVfD fanden hier zeitweilig wieder zusammen: Arthur Ruppin lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1943 im Viertel, genauso Robert Weltsch bis zu seiner Übersiedlung nach London 1946. Im Sommer 1945 ließ sich Kurt Blumenfeld nach langjährigen Aufenthalten in New York endgültig hier nieder5 und Max Kreutzberger (1900–1978) hatte von 1935 bis 1948 hier seinen Wohnsitz.6 Andere freilich verschlug es nach Tel Aviv, unter ihnen Siegfried Moses und Felix Rosenblüth. Die meisten von ihnen engagierten sich in der 1932 gegründeten Hitachduth Olej Germania we Olej Austria (HOGOA), der Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland und Österreich, aus der im Oktober 1942 die Alija Chadascha hervorging. Die Partei, gegründet unter Leitung Rosenblüths und seines Stellvertreters Georg Landauer, suchte den Interessen der mitteleuropäischen Neueinwanderinnen und -einwanderer, die sich von den bestehenden Parteien wenig repräsentiert fühlten, mehr Gehör in der politischen Arena des Jischuw zu verschaffen.7 Zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Unterstützerbriefs an Weizmann engagierte sich auch Lichtheim aktiv in der Alija Chadascha, mit deren Positionen er schon in der Schweiz zu sympathi3 O. A., Mit scharfer Feder, in: Ha-Boker, 19. August 1946, 2 (hebr.). 4 Vgl. hierzu ausführlich Sparr, Grunewald im Orient. 5 Blumenfeld an Hannah Arendt, 26. Juni 1945, abgedruckt in: ders., Im Kampf um den Zionismus, 189–191. 6 Ausführlich zu Kreutzberger vgl. Hillenbrand, Fremde im neuen Land, 349–353. 7 Die HOGOA blieb parallel zur Alija Chadascha als Mitgliederorganisation bestehen, benannte sich aber um und hieß fortan Irgun Olej Merkas Europa (IOME). Sie verabschiedete sich damit von dem unbeliebten »Germania« im Namen und öffnete sich gleichzeitig für deutschsprachige Immigrierende aus der Tschechoslowakei. Rosenblüth war gleichzeitig Vorsitzender der Partei wie auch der IOME, die die zuvor von der HOGOA besorgte Sozialarbeit und Hilfe für die Immigrierenden fortsetzte. Vgl. ebd., 64.
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sieren begonnen hatte. Durch die regelmäßige Lektüre des Mitteilungsblatts, Sprachrohr der HOGOA und ab 1942 auch der Partei, erfuhr er von der Neugründung in Palästina und deren Diskussionen um die ungeklärte Zukunft des Jischuw.8 Ab Herbst 1943 stand er mit führenden Köpfen der Alija Chadascha wie Robert Weltsch, Felix Rosenblüth und Max Kreutzberger in unregelmäßigem Austausch und bekundete, dass er mit den meisten innenund außenpolitischen Prinzipien der Partei übereinstimme:9 Die Parteimitglieder lehnten Ben-Gurions Biltmore-Programm mehrheitlich ab, da sie es sowohl aufgrund der arabischen Bevölkerungsmehrheit in Palästina als auch wegen der wirtschaftlichen Schwäche des Gebiets für undurchführbar hielten. Stattdessen plädierten sie für die vorläufige Beibehaltung des Mandatsstatus und traten für eine bessere Ausgestaltung der britischen Verwaltung ein. So verlangten sie die Abschaffung des Weißbuchs von 1939 und das Recht auf freie jüdische Einwanderung. Der Politik der von Ben-Gurion geleiteten Exekutive der Jewish Agency standen sie äußerst kritisch gegenüber. Neben sozialpolitischen Anliegen wie einem Wohnungsbauprogramm oder der besseren Integration der Immigrierenden aus Mitteleuropa forderten sie vor allem ein Ende der von der Exekutive wie von weiten Teilen der jüdischen Bevölkerung gebilligten terroristischen Aktionen der meist revisionistisch orientierten Untergrundgruppierungen, die durch Anschläge das Ende der britischen Mandatsmacht herbeizuführen suchten.10 Der vom linken Flügel der Partei um Landauer und Weltsch vertretenen Vision eines binationalen Gemeinwesens stand Lichtheim weiterhin skeptisch gegenüber.11 Er hoffte trotzdem, dass die Partei »das Zentrum der Neubildung in Palästina werden« könne.12 Aus Genf erklärte er im März 1944 gegenüber Leo Lauterbach, dass er sich der Alija Chadascha näher als jeder anderen Partei Palästinas fühle. Dass sich seine aus europäischer Perspektive erwachsene Einschätzung der Lage mit jener der in Palästina ansässigen Parteimitglieder deckte, man aus
8 CZA, A56/36, Weltsch an Lichtheim, 17. Oktober 1943. Aus dem Brief geht hervor, dass Weltsch hier auf ein Schreiben Lichtheims an die HOGOA vom September 1943 reagierte, in dem er um erneute Zusendung einzelner Ausgaben des MB bat, da dieses nur unregelmäßig bei ihm eintraf. Der Originalbrief Lichtheims konnte nicht ausfindig gemacht werden. 9 Vgl u. a. CZA, A56/36, Lichtheim an Weltsch, 11. November 1943, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 529–538; CZA, A56/36, Lichtheim an Max Kreutzberger, 6. Dezember 1943; CZA, A56/36, Lichtheim an Weltsch, 10. März 1944, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 545 f.; CZA A56/27, Lichtheim an Rosenblüth, 26. November 1945, abgedruckt in: ebd., 546–549. 10 Vgl. das Programm der Partei: Landauer, Aliya Hadasha; Gegen »Biltmorismus« und »Aktivismus«. 11 Vgl. CZA, A56/36, Lichtheim an Weltsch, 11. November 1943, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 529–538. 12 CZA, A56/36, Lichtheim an Max Kreutzberger, 6. Dezember 1943.
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zwei unterschiedlichen Blickwinkeln dieselben Rückschlüsse zog, war ihm Beweis für die Richtigkeit seiner Ansichten.13 Nach seiner Rückkehr nach Jerusalem trat er im Mitteilungsblatt offen für das Programm der Partei ein (Abb. 11). Scharf verurteilte er die terroristischen Gewaltakte gegen die Briten und die arabische Bevölkerung und unterstützte vehement die von Weizmann geforderte Fortsetzung der Kooperation mit England. Für ihn hatte die Führung in Palästina spätestens mit dem Anschlag auf das King David Hotel eine Grenze überschritten. Aus Protest gegen die Politik Ben-Gurions kündigte er im August 1946 die Mitarbeit in der Exe kutive der Jewish Agency endgültig auf.14 Auf den polemischen Angriff der Ha-Boker, der auf seine erneute Parteinahme für Weizmann erfolgt war, nachdem er jahrelang dessen Politik kritisiert hatte, reagierte er ausführlich im Artikel Wandlungen, der Anfang Oktober 1946 im MB erschien. Hier erklärte er, dass er sich zu Beginn der 1930er Jahre vom Revisionismus Jabotinskys gelöst habe, da er in der sich zunehmend radikalisierenden Bewegung Vorboten einer an den Faschismus angenäherten Ideologie und Jugenderziehung gesehen habe. »Inzwischen sind 15 Jahre vergangen. Wir sind in dieser Zeit in Palästina vorwärts gekommen, aber die Aussichten auf den von mir einst erhofften Judenstaat in ganz Palästina sind heute ferner denn je. Der Judenstaat, für den ich gekämpft habe, kann heute nur durch die Teilung Palästinas erreicht werden, für die ich schon vor zehn Jahren (anlässlich des Peelberichtes) eingetreten bin. Aber in diesen zehn Jahren haben sich noch zwei Dinge ereignet, die das revisionistische Judenstaatsprogramm von einst zur Unmöglichkeit gemacht haben. Der Erlass des Weissbuchs von 1939 und der Untergang von sechs Millionen Juden in Europa. War schon vor zehn Jahren die Teilung Palästinas vom Standpunkt der Judenstaatler die beste aller erdenklichen Lösungen, so stellt sie heute gewiss ein Maximalprogramm dar, wenn man die durch das Weissbuch geschaffene politische Lage bedenkt.«15
Lichtheim unterschlägt in dieser Darstellung freilich, dass seine Trennung von Jabotinsky keineswegs gleichzeitig den Bruch mit den ursprünglichen revisionistischen Ideen bedeutet hatte. Wie gezeigt, trat er als Mitglied der Judenstaatspartei bis in die späten 1930er Jahre weiterhin für ein jüdisch dominiertes Gemeinwesen beiderseits des Jordans ein. Als er sich 1937 dennoch für die Annahme des Teilungsplans aussprach, rechtfertigte er dies als ersten Schritt auf dem Weg zu einem Großisrael. Auch 1939 konstatierte er noch: »Wir haben niemals auf die Ansiedlung in Transjordanien verzichtet« und »sind entschlossen, unsere Kolonisation dorthin auszubreiten, sobald 13 CZA, L22/180, Lichtheim an Lauterbach, 14. März 1944 (Nr. 1316). 14 CZA, A56/29, Lichtheim an Goldmann, 2. September 1946, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 549 f. 15 Lichtheim, Wandlungen, in: MB, 9. Oktober 1946, 3.
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Abb. 11: Ankündigung einer Versammlung der Alija C hadascha unter Beteiligung von Richard Lichtheim, Tel Aviv, 24. Oktober 1946. © Central Zionist Archives.
unsere Kräfte und die politischen Umstände dies gestatten.« Ein jüdischer Staat in Westpalästina sollte keineswegs das Ende des zionistischen Strebens bedeuten, vielmehr als »Kraftquelle« für die weitere Besiedlung Palästinas und Transjordaniens dienen.16 Erst die Vernichtung des europäischen Judentums, die eine für die Realisierung dieser Vision unabdingbare massenhafte Einwanderung nach Palästina unmöglich gemacht hatte, ließ ihn endgültig von dieser Maximal16 Ders., Das politische Programm, in: Jüdische Weltrundschau, 14. Juli 1939, 1 f.
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forderung abrücken. Seinen Kritikern hielt er entgegen, dass seine Haltung im Wesentlichen unverändert geblieben sei: Wie schon in den 1920er Jahren war er auch nach dem Krieg noch überzeugt, dass es für ein wirtschaftlich und politisch lebensfähiges jüdisches Gemeinwesen einer starken jüdischen Präsenz bedürfe, für deren Herstellung vorerst der Schutz durch die britische Mandatsmacht nötig sei. Auch die größtmögliche Ausdehnung des für die jüdische Besiedlung zugänglichen Gebiets war ihm noch in den 1940er Jahren wichtiger als unverzügliche Souveränität. Im September 1946 bat er Nahum Goldmann, der mit den Briten und den Amerikanern über die Teilung Palästinas verhandelte, eindringlich, der Idee der Staatlichkeit nicht wesentliche territoriale Ansprüche zu opfern.17 In Lichtheims Augen war es vielmehr die von Ben-Gurion geführte Mapai, die eine Kehrtwende absolviert habe: Wollte diese Anfang der 1930er Jahre noch einen binationalen Staat, in dem »keiner herrscht und keiner beherrscht wird«, so drängte sie nun um jeden Preis auf einen jüdischen Nationalstaat.18 Ben-Gurion wiederum kritisierte den Kurs der Alija Chadascha scharf und warf ihren Mitgliedern vor, im Deutschtum zu verharren. Bereits Anfang Januar 1943 hatte er bei einem Treffen mit den führenden Persönlichkeiten der Partei seine Ablehnung gegenüber deren Haltung zum Ausdruck gebracht: »Wenn ich mich mit den deutschen Zionisten in diesem Lande treffe, bekomme ich den Eindruck, dass es sich um diejenige jüdische Gruppe handelt, die am wenigsten von allen Wurzeln hat – nicht im Zionismus, […] sondern in dem Gefühl, eine Nation zu sein. Dort [in Deutschland] war der Zionismus das Ergebnis der Überzeugung, dass Ihr keine Deutschen seid. […] Aber als Ihr in dieses Land gekommen seid, fehlte etwas, um Euch zu richtigen Juden zu machen. […] Man hat den Eindruck, dass die Erziehung zum zionistischen Minimalismus als etwas ganz Natürlichem ein einzigartiges Charakteristikum des deutschen Zionismus ist.«19
Justus Schloss, Lichtheims ehemaliger Kollege im 1933 gegründeten Verband Deutscher Zionisten-Revisionisten, teilte die Kritik Ben-Gurions. Persönlich enttäuscht warf er Lichtheim vor, sich nun der minimalistischen Haltung der ZVfD, die er in den 1920er und 1930er Jahren noch scharf verurteilt hatte, verschrieben zu haben: »Du bist glücklich da angelangt, wo die ZVfD schon vor 15 Jahren war«, hielt er Lichtheim konsterniert entgegen, nachdem er von dessen Wandlungen im MB gelesen hatte.20
17 CZA, A56/29, Lichtheim an Goldmann, 2. September 1946, abgedruckt in: Kirchner (Hg.), Von Konstantinopel nach Genf, 549 f. 18 Lichtheim, Wandlungen. 19 Zit. nach Gelber, Deutsche Juden im politischen Leben des jüdischen Palästina 1933–1948, 67. 20 CZA, A56/27, Justus Schloss an Lichtheim, 27. Oktober 1946.
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In gewisser Weise hatte Lichtheim mit seinem Anschluss an die Alija Chadascha in der Tat eine 360-Grad-Wende vollzogen und war zur politischen Tradition des deutschen Zionismus zurückgekehrt, die sich durch Loyalität sowohl zu Weizmann als auch den Briten und durch gemäßigte politische Forderungen auszeichnete. Was er vor dem Holocaust als »Verzichtspolitik« abgelehnt hatte, erschien ihm nun, angesichts der veränderten Bedingungen, als Gebot der Stunde: der graduelle Ausbau Palästinas zu einer jüdischen Heimstätte in Kooperation mit der britischen Mandatsmacht. Im Sommer und Herbst 1946 erschien kaum eine Ausgabe des Mitteilungsblatts, in der Lichtheim nicht für das Programm der Alija Chadascha warb und die verschiedenen Möglichkeiten diskutierte, die für die Partei annehmbar waren: Die Beibehaltung des bisherigen Mandatssystems über ganz Palästina nach Abschaffung des Weißbuchs von 1939; die Errichtung eines jüdischen Staats auf einem Teilgebiet des Mandatsgebiets – eine Option, die insbesondere von der Fraktion um Rosenblüth favorisiert wurde – oder aber die Etablierung eines Föderalsystems bei größtmöglicher territorialer Ausdehnung und unbegrenzter jüdischer Einwanderung.21 Die vierte, vom linken Flügel um Landauer diskutierte Option eines binationalen Gemeinwesens für Juden und Araber fand in Lichtheims Artikeln hingegen keine Beachtung. Bei den Wahlen zum ersten Zionistenkongress in der Nachkriegszeit im Dezember 1946 in Basel zeichnete sich allerdings ab, dass das Parteiprogramm deutlich an Rückhalt im Jischuw verloren hatte. War es der Alija Chadascha bei den Wahlen zur nationalen Delegiertenversammlung im August 1944 noch gelungen, 10,7 Prozent der Wählerstimmen auf sich zu vereinen und damit nach Mapai und Ha-Shomer ha-Ẓa’ir drittstärkste Kraft zu werden, entfielen bei den Wahlen zum 22. Kongress im Herbst 1946 nur noch 5,9 Prozent der Stimmen auf sie.22 Angesichts der restriktiven britischen Einwanderungspolitik, die den Überlebenden in Europa den Weg nach Palästina verstellte, hatte sich die jüdische Öffentlichkeit in ihrer Mehrheit vom zentralen Anliegen der Partei, einer Kooperation mit London, längst verabschiedet.23 Auch der Ausgang des Kongresses selbst war eine Niederlage für die Alija Chadascha. Chaim Weizmann, der vehement dafür eintrat, einen jüdischen Staat durch Verhandlungen und nicht durch Terror zu erstreiten, schlug eine Welle der Kritik an seiner probritischen Haltung entgegen.24 Die Mehrheit der Delegierten war überzeugt, dass das zionistische Ziel nicht mit den Briten, sondern nur im Kampf gegen sie zu erreichen sei, und lehnte die 21 Lichtheim, Politische Übersicht, in: MB, 23. August 1946, 1 f.; ders., Sündenregister, Sonderdruck aus dem Mitteilungsblatt der Alija Chadascha, 6. September 1946, 1 f. 22 Getter, Hit’argenut ha-politit ha-nifredet schel ole Germanja [Die eigenständige politische Organisation der deutschen Einwanderer], 279. 23 Vgl. Shapira, Israel, 91. 24 Laqueur, A History of Zionism, 574.
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erneute Wahl Weizmanns, der fast dreißig Jahre lang an der Spitze der Bewegung gestanden hatte, zum Präsidenten der Zionistischen Organisation ab.25 Der Kongress hatte gezeigt, dass die Linie der Alija Chadascha nicht mehr anschlussfähig war. Unfähig, neue Mitglieder zu gewinnen, drohte die Partei in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Um sie aus der politischen Isolation herauszuführen und in einer Partei mit mehr Rückhalt aufgehen zu lassen, warb Rosenblüth im Anschluss an den Kongress für Allianzen mit Ha-Oved ha-Ẓioni26 (Der zionistische Arbeiter) und der von Yitzhak Grünbaum geführten linken Fraktion der Allgemeinen Zionisten, den Allgemeinen Zionisten A.27 Nicht alle Mitglieder waren mit diesem Kurs einverstanden. Georg Landauer befürchtete eine Schwächung des linken Flügels zugunsten der Befürworter des Teilungsplans und lehnte Rosenblüths Vorschlag ab.28 In den Monaten bis zur Staatsgründung war die Partei hauptsächlich mit der internen Aushandlung ihrer Parteilinie beschäftigt, wodurch sie weiter an Attraktivität verlor. Aus anderen Gründen freilich als Landauer sprach sich auch Lichtheim im Januar 1947 noch gegen einen Staat aus und plädierte für die Fortführung des Mandats. In einem Leitartikel im MB konstatierte er: »Die Teilung unter den jetzt gegebenen politischen Bedingungen und angesichts der geringen Zahl der europäischen Juden, die für die Einwanderung in Frage kommen, kann nur einen an Raum und Kraft recht kleinen Judenstaat bedeuten. Das müssen diejenigen sich vor Augen halten, die für das Teilungsprojekt eintreten. Die Alternative anstelle solch kleinen Staates kann nicht ›Biltmoreprogramm‹ heissen, sondern nur: Fortsetzung von Einwanderung und Kolonisation im Sinne des früheren Mandats.«29
Die britische Regierung war allerdings schon bald nicht mehr willens, die Verwaltung Palästinas aufrechtzuerhalten. Angesichts des jüdischen und arabischen Widerstands sowie der Unmöglichkeit, eine für alle Seiten annehmbare Lösung zu finden, beschloss London im Februar 1947, das Mandat an die Vereinten Nationen als Nachfolgeorganisation des Völkerbunds zurückzugeben. Das daraufhin eingesetzte UN Special Committee on Palestine (UNSCOP) empfahl der UN-Generalversammlung nach sorgfältiger Prüfung die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat. 25 Ebd., 576. 26 Ha-Oved ha-Ẓioni war eine 1936 gegründete nicht sozialistische Arbeiterpartei. 27 Bei den Allgemeinen Zionisten A handelte es sich um die moderate Fraktion der Allgemeinen Zionisten. Sie unterstützte die liberale Politik Weizmanns und stand der Arbeiterbewegung nahe. Die Allgemeinen Zionisten waren in allen leitenden Institutionen des Jischuw vertreten. 28 Getter, Hit’argenut ha-politit ha-nifredet schel ole Germanja [Die eigenständige politische Organisation der deutschen Einwanderer], 284. 29 Lichtheim, Drei Phasen des Zionismus, in: MB, 24. Januar 1947, 1 f., hier 2.
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Während die arabische Seite diese Idee umgehend ablehnte und an ihrer Forderung nach einem eigenen Staat in ganz Palästina festhielt, waren weite Teile des Jischuw bereit, den Vorschlag zu akzeptieren. In den Monaten bis zur Abstimmung der UN startete die zionistische Bewegung eine weltweite diplomatische Kampagne, um die Zustimmung der einzelnen Staaten für den Teilungsplan zu sichern. Mit Erfolg. Bei der UN-Generalversammlung am 29. November 1947 in Lake Success (New York) votierte schließlich die Mehrheit der Länder für die Annahme des Teilungsplans, der die Errichtung eines jüdischen und eines arabischen Staats sowie die internationale Kontrolle Jerusalems vorsah. 33 Staaten stimmten für die Resolution, darunter die Vereinigten Staaten, die Sowjetunion und Frankreich. Die Briten hatten sich wie auch neun weitere Staaten der Abstimmung enthalten und kündigten bald nach der Entscheidung der Generalversammlung an, sich am 14. Mai 1948 aus Palästina zurückzuziehen. Unter den 13 Gegenstimmen befanden sich in Übereinstimmung mit der Haltung der arabischen Bevölkerung Palästinas auch die der sechs arabischen UN-Mitglieder.30 Bereits wenige Wochen nach dem Beschluss kam es zu ersten gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen irregulären bewaffneten jüdischen und arabischen Kräften, die viele Todesopfer forderten. Für die jüdischen Bewohner Jerusalems wurde die Lage im Frühjahr 1948 besonders dramatisch. Arabische Kämpfer riegelten die jüdischen Viertel vom Rest der Stadt ab und auch die einzige Zugangsstraße, die Jerusalem mit Tel Aviv verband, war schwer umkämpft.31 In dieser Atmosphäre versammelte sich am Nachmittag des 14. Mai 1948, wenige Stunden bevor das Mandat um Mitternacht endete, der Jüdische Nationalrat in Tel Aviv. Ben-Gurion verlas die israelische Unabhängigkeitserklärung und verkündete kraft des »natürlichen und historischen Rechts und aufgrund des Beschlusses der Vollversammlung der Vereinten Nationen« die Errichtung des Staats Israel.32 Die Zeit, die dem Jischuw blieb, das Errungene gebührend zu feiern, war bekanntlich sehr kurz. Während die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion den neuen Staat umgehend diplomatisch anerkannten, erklärten die Regierungen Transjordaniens, Iraks, Libanons, Ägyptens und Syriens nur wenige Stunden nach Ausrufung der Unabhängigkeit dem jungen Israel den Krieg, der erst am 20. Juli 1949 mit einem Waffenstillstandsabkommen enden sollte. Die Entwicklungen, die letztlich zur Staatsgründung Israels geführt hatten, wurden entscheidend durch den allmählichen Zerfall des Britischen Empires und der Übertragung der britischen Vormachtstellung im östlichen Mittel30 Vgl. Tom Segev, Es war einmal ein Palästina, 544–546. 31 Ebd., 551. 32 State of Israel, Declaration of Independence (May 14, 1948), abgedruckt in: Laqueur / Rubin (Hgg.), The Israeli-Arab Reader, 81–83.
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meer auf die Vereinigten Staaten begünstigt. Entgegen Lichtheims Prognose von 1942 wurden die zahlreich nach Palästina drängenden Überlebenden des Holocaust und der virulente Antisemitismus im Nachkriegseuropa dabei sowohl aus demografischen als auch aus Gründen der moralischen Legitimation zum Katalysator in diesem Prozess.33 Die Gründung eines unabhängigen Staats hat letztlich auch Lichtheim begrüßt, schließlich lag seine Priorität stets auf dem Aufbau eines jüdischen Zentrums in Palästina – sei es beiderseits des Jordans oder zuletzt zumindest in Teilen des ursprünglichen Mandatsgebiets. Bereits im Juli 1947 sprach er sich für die Annahme des von der UNSCOP vorgeschlagenen Plans aus.34 Nach dem Votum der UN-Generalversammlung im November 1947 fand sich schließlich auch die Mehrheit der Alija Chadascha mit den neuen politischen Realitäten ab. Unter den »gegebenen Bedingungen« betrachtete sie fortan die Teilung des Lands als die »beste politische Lösung«.35 Weiterhin hielt sie an ihrer Forderung nach einem Ausgleich mit der arabischen Bevölkerung und der Verbesserung des Verhältnisses zu den Briten fest.36 In dem parteiinternen Konflikt konnte sich schließlich Rosenblüth durchsetzen.37 Im Oktober 1948 schlossen sich die Alija Chadascha, Ha-Oved ha-Ẓioni und die Allgemeinen Zionisten A zusammen und bildeten fortan die Progressive Partei.38 Mit dem Zusammenschluss endete der Versuch der deutschsprachigen Immigranten, politischen Einfluss in Palästina zu nehmen, erfolglos. Weder war es ihnen gelungen, einen friedlichen Übergang von der britischen Mandatsverwaltung zur politischen Unabhängigkeit zu initiieren, noch folgte aus der Staatsgründung ein kooperatives Miteinander mit der arabischen Bevölkerung. Lichtheim befürwortete den Zusammenschluss und sah in der Plattform eine neue Partei der bürgerlichen Mitte, die »dem rohen, inhaltslosen terroristisch-faschistischen Nationalismus von rechts und dem verworrenen, sentimental prorussischen Anarcho-Sozialismus von links das Ideal eines freien Bürgertums entgegenstellt, das in Wahrheit auch heute noch das Ideal 33 Vgl. Diner, Zwischenzeit 1945 bis 1949; ders., Elemente der Subjektwerdung. 34 Lichtheim, Prophet und Richter. Zur Aussage von Dr. Magnes, in: MB, 18. Juli 1947, 1 f. 35 O. A., Die große Chance, in: MB, 19. Dezember 1947. 36 Ebd. 37 Hillenbrand, Fremde im neuen Land, 85. 38 In dieser Konstellation bestand die Progressive Partei bis 1961 und war mit Ausnahme der dritten Regierung Israels (Oktober 1951 bis Dezember 1952) an allen bis dahin von BenGurion geführten Regierungen beteiligt. 1961 bildete sie zusammen mit den Allgemeinen Zionisten die Liberale Partei. Parteivorsitzender blieb Rosenblüth. 1965 ging die Liberale Partei mit der konservativen Ḥ erut unter Menachem Begin das Parteienbündnis Gahal ein, aus dem schließlich 1973 der Likud hervorging. Zur Entstehung der Progressiven Partei vgl. Weitz, 1948 as a Turning Point on the Israeli Political Map, bes. 166–170; Lavsky, From the »Aliya Chadasha« Party to the Progressive Party.
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eines sehr grossen Teiles des Jischuw ist«.39 Im Mittelpunkt des Parteiprogramms stand der »Versuch, das Prinzip der Freiheit gegen die Anschläge eines faschistischen oder kommunistischen, in jedem Falle aber ›totalitären‹ Zeitgeistes zu retten«.40 Das jüdische Palästina sei, so Lichtheim, ein »Laboratorium der Soziologie« und er hoffte darauf, mithilfe der Progressiven Partei in Palästina »das Beste zu erneuern, was die europäische Menschheit bisher hervorgebracht hat: den Humanismus des achtzehnten, den Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts«.41 In diesem »Laboratorium« sollte Lichtheim indes keine tragende Rolle mehr spielen. Trotz seines verdienstvollen Wirkens in Konstantinopel und Genf, das ihn für die Vertretung der Interessen Israels im Ausland prädestinierte, bedeuteten die Staatsgründung und das Aufgehen der Alija Chadascha in der Progressiven Partei das Ende seiner politischen Laufbahn. Zwar bewarb er sich unmittelbar nach der Staatsgründung noch einmal um einen diplomatischen Posten etwa in Griechenland oder Schweden. Seine Bemühungen blieben jedoch trotz der Unterstützung Rosenblüths, der mittlerweile unter dem Namen Pinchas Rosen als Justizminister in der Regierung BenGurions diente, vergeblich. Lichtheims Bewerbung scheiterte am Widerstand des Außenministeriums, das mit dem Hinweis auf sein hohes Alter Vorbehalte gegen ihn hegte.42 Zum Gesandten in Griechenland wurde im Januar 1949 der im griechischen Trikala geborene Ascher Moissis (1899–1975) ernannt.43 Avraham Nissan (Katznelson, 1888–1956), nur wenig jünger als Lichtheim und Angehöriger des Zentralkomitees der regierenden Mapai, wurde schließlich im November 1950 nach Stockholm entsandt, um dort Israel gegenüber den skandinavischen Staaten zu repräsentieren.44 Im von Mapai-Mitglied Moshe Sharett geleiteten Außenministerium mag Lichtheims Alter aber weniger eine Rolle gespielt haben als seine lang gehegte Opposition zur Politik Ben-Gurions. Sein Einsatz für die verfolgten Judenheiten Europas hingegen geriet in dem jungen Staat, der sich in den ersten Jahren seiner Existenz wenig mit der unmittelbaren Vergangenheit konfrontieren wollte, schnell ins Vergessen.
39 Lichtheim, Von der Freiheit, in: Hakidmah, 12. November 1948, 2. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 CZA, A56/27, Rosenblüth an Lichtheim, o. D.; CZA, A56/27, Rosenblüth an Lichtheim, 17. Oktober 1949. 43 O. A., Greece Approves Opening of Israeli Consulate; Jewish State’s Envoy to be Received Today, in: JTA Bulletin, 26. Januar 1949, 2, (3. April 2023). 44 Abadi, Sweden’s Policy toward Israel, 28.
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Nachdem endgültig klar wurde, dass er nicht mit einer Anstellung im diplomatischen Dienst rechnen konnte, zog sich Lichtheim immer mehr ins Privatleben zurück und widmete sich seinen, wie er es nannte, »historischen Studien«.45 Im Jahr 1951 erschien sein hebräisches Werk Toldot ha-ẓijonut beGermanja (dt.: Die Geschichte des deutschen Zionismus, 1954). Mit ihr lieferte Lichtheim eine erste Gesamtübersicht über die Entwicklung der zionistischen Bewegung in Deutschland, die trotz der eher knappen Darstellung der Ereignisse nach 1933 und der subjektiven Färbung von der Kritik in Israel sehr positiv aufgenommen wurde. Sein ehemaliger Kontrahent Robert Weltsch etwa lobte die »nüchtern-klare Darstellungskunst« Lichtheims und das Bemühen um Objektivität und Fairness gegenüber seinen damaligen Opponenten.46 Insbesondere Blumenfelds und Weltschs Engagement hatte Lichtheim ausführlich gewürdigt. Die alten Konflikte hallten dennoch stellenweise nach, etwa wenn er der deutschen Bewegung Obrigkeitshörigkeit und Unselbstständigkeit attestierte: »[Der] Sinn für Organisation und Disziplin hat die deutschen Zionisten jeweils zur loyalen Gefolgschaft der verschiedenen zionistischen Leitungen gemacht, hat sie freilich zuweilen auch zum Verzicht auf die im politischen Leben nötige Kritik und Selbstständigkeit des Urteils verführt – ein echt deutscher Fehler, der aber unter Umständen auch ein Vorzug sein kann. Die Majorität der deutschen Zionisten war daher stets geneigt, der Leitung zu gehorchen, ob der Führer nun Herzl oder Wolffsohn oder Weizmann war.«47
Der Journalist und Literat Schalom Ben-Chorin (1913–1999) kritisierte in seiner Rezension zwar die »zu weit getriebene Subjektivität«, empfahl die Lek türe des Buchs dennoch gerade der »postzionistischen Generation« Israels, da es demonstriere, »wie tief und schwer das Ringen der assimilierten deutschen Zionisten um den Wiederanschluss an das jüdische Volkstum war«.48 Nur zwei Jahre später folgte mit Sche’ar Jaschuv (dt.: Rückkehr, 1970) die Veröffentlichung der hebräischen Übersetzung seiner Memoiren.49 In ihnen beschrieb er nicht nur seine Herkunft und die Anfänge in der deutschen Bewegung, auch über seine Tätigkeit in Konstantinopel äußerte er sich hier 45 Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, 5. 46 Robert Weltsch, Richard Lichtheim. Deutscher Zionismus. Zum 70. Geburtstag des Autors, in: MB, 18. Februar 1953, 5. 47 Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, 9 f. 48 Schalom Ben-Chorin, Geschichte des deutschen Zionismus, in: Hakidmah, 5. November 1954, 4. 49 Die Schrift basiert auf einem deutschen Originalmanuskript, das Lichtheim laut Rosenblüth zwischen Oktober 1948 und Dezember 1949 angefertigt hatte. Vgl. Pinchas Rosen (Felix Rosenblüth), Vorwort, in: Lichtheim, Rückkehr, 7. Die deutsche Ausgabe erschien posthum in der Reihe des Leo Baeck Institute.
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erstmals ausführlich. Von vielen Rezensenten wurde die Publikation daher als willkommene Ergänzung zu seinem Geschichtswerk aufgenommen, in dem er seine eigene Rolle weitestgehend ausgelassen hatte.50 Der Titel rekurriert auf einen Vers aus dem Buch Jesaja (10,21), der sich sowohl als »ein Rest wird zurückkehren« als auch als »ein Rest ist zurückgekehrt« übersetzen lässt und im biblischen Kontext meist als eine Umkehr zu Gott oder als das Überleben eines gläubigen Rests einer Katastrophe interpretiert wird, und verweist bereits auf den Inhalt des Buchs.51 Indes wird dort in Bezug auf Lichtheims eigene Lebensgeschichte freilich weniger eine Rückkehr im theologischen Sinne als vielmehr eine metaphysische Rückkehr zum jüdischen Kollektiv evoziert, die er mit dem Anschluss an die zionistische Bewegung vollzogen hatte. Gleichzeitig verweist der Titel auf die zionistische Utopie einer Rückwanderung in die mythologische Heimat Eretz Israel, die in der Staatsgründung ihren realen Manifestationspunkt gefunden hatte. Nach dem Holocaust erfüllte sich diese lang gehegte Hoffnung gleichwohl lediglich für die Überlebenden der Katastrophe, die sich als she’erit ha-pletah,52 die letzten Reste der geretteten europäischen Jüdinnen und Juden, konstituiert hatten.53 Laut einer Projektskizze waren seine Memoiren ursprünglich weit umfangreicher angelegt. Ein zweiter, Hoffnungen und Enttäuschungen überschrie bener Teil sollte die Entwicklungen von der Balfour-Deklaration bis zur Machtübertragung auf Hitler und damit seine Zeit in der zionistischen Opposition in den Blick nehmen, ein dritter Band, Exodus, die Jahre ab 1933 bis zur Staatsgründung und somit zentral auch seine Mission in Genf.54 Zur Abfassung dieser beiden Bände kam Lichtheim jedoch nicht mehr. Da50 Vgl. Benjamin Sagalowitz, Unser Blickfeld. Richard Lichtheims »Geschichte des deutschen Zionismus«, in: Das neue Israel 7 (1955), H. 8, 195–197; Schalom Ben-Chorin, Geschichte des deutschen Zionismus, in: Hakidmah, 5. November 1954, 4. 1960 wurde Lichtheim für die beiden Publikationen mit dem Jacob Landau Memorial Prize der Theodor-Herzl-Loge des B’nai B’rith ausgezeichnet, der jährlich an Personen vergeben wurde, die sich »in ihren Schriften in außergewöhnlicher Weise für das zionistische Ideal eingesetzt haben«. O. A., Richard Lichtheim, Veteran Zionist, Wins Landau Memorial Prize, in: JTA Bulletin, 8. April 1960, 4, (3. April 2023). 51 Hilbrands, Art. »Schear-Jaschub«. 52 In den Nachkriegsjahren erwuchs in den DP-Lagern der westlichen Besatzungszonen aus den jüdischen Displaced Persons, die sich als Überlebende der nationalsozialistischen Vernichtungspläne verstanden, ein neues, selbstbewusstes jüdisches Kollektiv, das sich selbst als she’erit ha-pletah bezeichnete. Der Begriff rekurriert auf biblische Textstellen, die auf einen geretteten, übrig gebliebenen Rest verweisen, der einer Vernichtung entronnen ist. So zum Beispiel in I. Chronik 4,43: »die übriggeblieben waren von den Entronnenen«. Vgl. dazu Grossmann, Juden, Deutsche, Alliierte, 217. Vgl. ausführlicher zum Begriff Michman, On the Definition of the »She’erit Hapletah«. 53 Zur Auslegung des Titels vgl. auch Pinchas Rosen (Felix Rosenblüth), Vorwort, in: Lichtheim, Rückkehr, 7. 54 CZA, A56/8, Inhaltsangabe, undatiert.
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bei sollten diese Erinnerungsschriften nicht nur einen Blick zurück auf die eigene Lebensgeschichte werfen. Gemeinsam mit seinem Geschichtswerk repräsentierten sie auch die Bilanz eines Manns im vorgerückten Alter, der die einstigen zionistischen Visionen mit dem Realität gewordenen Staat Israel abglich. Wenn Lichtheim etwa in seiner Geschichte des deutschen Zionismus über die führenden Persönlichkeiten der Bewegung schrieb, dass »viele von ihnen […] glücklicherweise noch heute in Palästina« leben und »sich der Verwirklichung ihrer Träume von einst [freuen], wenngleich die Verwirklichung in mancher Hinsicht die Hoffnungen jener fernen Traumzeit enttäuscht hat«, dann meinte er gewiss damit auch sich selbst und seine unerfüllt gebliebenen Maximalforderungen.55 Dennoch scheint Lichtheim die zionistischen Bemühungen am Ende positiv beurteilt zu haben. In einem wahrscheinlich für den letzten Band seiner Memoiren skizzierten, unveröffentlichten Epilog resümierte er: »Aber wenn Zionismus nur seine Teilerfüllung fand, so ist es doch eine Erfüllung. Für die eine Million, die da ist und gewiss zu 1,5 oder 2 Millionen werden wird, ist dies die Heimat, wie sie kein Diasporajude hat. […] Das europ[äische] Judentum, das Herzl hier versammeln wollte, ist nicht mehr, die Massen, die nach Ahad Haam hier ihr nationales Zentrum erblicken sollten, sind tot – und die neue Diaspora ist weit entfernt, räumlich wie geistig. Und dennoch: Von alledem wurde […] doch etwas und dies beweist, dass in beiden Ideen ein richtiger Kern war. Eine Million – bald 2 – wurde physisch gerettet und befreit – mit Weib u[nd] Kind, mit den (meist kläglichen) Resten von Hab u[nd] Gut. Für sie ist die Judenfrage gelöst. Und eine gewisse seelische Wirkung geht aus von hier – auch auf die ferne Diaspora im Sinne des Stolzes darauf, dass es hier freie Juden gibt – vielleicht auch darauf, dass ihr Staat ein vorbildlicher sein wird.«56
Für Lichtheim war und blieb zeit seines Lebens die Errichtung einer nationalen Heimstätte in Palästina das oberste Ziel der zionistischen Idee und Bewegung. Der jüdische Philosoph Hans Jonas (1903–1993), den eine langjährige Freundschaft mit Lichtheims Sohn George verband, fasste in seinen Memoiren die politische Agenda des Vaters sehr treffend zusammen, wenn er betonte: »Er war ein echter Herzl-Zionist, ohne jegliches Streben nach religiöser Erneuerung oder sonstige mystischen oder sozialistischen Verzierungen. […] Es ging ihm klipp und klar um die nationale Sache der Juden und ihre Wiederherstellung als souveräne Nation in Palästina.«57 Mag Lichtheim im Laufe seiner politischen Karriere auch mehrfach sein Programm zur Erreichung dieses Ziels den sich wandelnden Verhältnissen angepasst haben, so hat er doch niemals diese ursprüngliche Idee des politischen Zionismus aufgegeben. 55 Lichtheim, Die Geschichte des deutschen Zionismus, 163. 56 CZA, A56/8, Epilog, undatiert (Hervorhebungen im Original unterstrichen). 57 Jonas, Erinnerungen, 140.
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Abb. 12: Richard Lichtheim im Jahr 1961. Der Ort der Aufnahme ist nicht bekannt. © Central Zionist Archives.
Seinen stets kritischen Blick auf die politische Führung bewahrte er sich auch im hohen Alter, nur formulierte er seine Ansichten nun nicht mehr publikumswirksam in den Leitartikeln führender Nachrichtenblätter, sondern meist in Form von Leserbriefen an die Jerusalem Post. Insbesondere der große Einfluss religiöser Kräfte auf das gesamtgesellschaftliche Leben war mit seiner Vorstellung eines säkularen und demokratischen Staats nicht vereinbar. So bemängelte er etwa die Zuständigkeit des Rabbinats für jüdische Eheschließungen und Scheidungen oder die Durchsetzung der religiösen Speisegesetze in öffentlichen Einrichtungen.58 58 Einige der Leserbriefe befinden sich hier: CZA, A56/12.
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Dass sich Lichtheim ab den späten 1950er Jahren nur noch selten öffentlich zu Wort meldete, lag wohl weniger darin begründet, dass er mit der politischen Entwicklung des jungen Staats einverstanden gewesen wäre, als vielmehr in seiner privaten Situation. Die letzten Lebensjahre verbrachte er zurückgezogen in Reḥavia. Seine Aufmerksamkeit galt in erster Linie seiner schwer kranken Frau Irene, die ihn auf all seinen Missionen begleitet hatte. Im Sommer 1960 erlag sie schließlich ihren Leiden und laut George Lichtheim waren die Wochen nach ihrem Tod die schwersten im Leben seines Vaters.59 Auch Lichtheim selbst war gesundheitlich angeschlagen (Abb. 12). Bereits 1951 hatte er eine Herzthrombose erlitten, von der er sich nur langsam wieder erholte.60 Die Arbeit an den zwei weiteren Bänden seiner Erinnerungen musste unvollendet bleiben. Am 29. April 1963 starb Lichtheim im Alter von 78 Jahren in Jerusalem. Im Laufe seines Lebens, das er vollständig der zionistischen Idee gewidmet hatte, ist Lichtheim in dreifacher Hinsicht zurückgekehrt: Vom assimilatorischen Lebensstil seines Elternhauses zu einem bewussten jüdischen Selbstverständnis, aus der europäischen Diaspora in eine jüdische Heimstätte in Palästina und vom Revisionismus in die politische Tradition des deutschen Zionismus. Als Denker und Politiker wirkte er maßgeblich an der Formulierung und der öffentlichen Verbreitung der zionistischen Vision und der Verwirklichung des zionistischen Programms mit. Dass ihm, auch nach seiner Abkehr vom Revisionismus, die Anerkennung der zionistischen Bewegung und ein leitender Posten in der politischen Führung Israels versagt blieben, lag sicher nicht nur an den Umständen, sondern auch an seinem Nonkonformismus. Lichtheim blieb stets ein politischer Außenseiter, der unabhängige und nicht selten unpopuläre Meinungen vertrat und nie versuchte, die Gunst der führenden Kreise zu erlangen. Obwohl er mehrfach in Schlüsselpositionen tätig war, gelang es ihm zu keinem Zeitpunkt, eine große Anhängerschaft um sich zu versammeln, die seine Wirkung vergrößert hätte. So blieb er jenseits der deutschen Zionistenkreise bis zum Schluss weithin unbekannt. Eine Anekdote, an die sich Kurt Blumenfeld in seiner Würdigung zu Lichtheims 75. Geburtstag erinnerte, unterstreicht dies eindrücklich: Josef Sprinzak (1885–1959), der erste Sprecher der israelischen Knesset, habe sich nach der Lektüre von Lichtheims Memoiren Sche’ar Jaschuv gegenüber Moshe Sharett verwundert gezeigt: »Ich wusste gar nicht, was für einen begabten Politiker wir unter den deutschen Zionisten hatten.«61 So mag es wohl den meisten führenden Persönlichkeiten des Jischuw gegangen sein. 59 Philosophisches Archiv Universität Konstanz (PhAUK), HJ 4–3-23, George Lichtheim an Hans Jonas, 2. September 1960. 60 PhAUK, HJ 12–1-69, George Lichtheim an Hans Jonas, 6. Januar 1952. 61 Kurt Blumenfeld, Richard Lichtheim. Ein Glückwunsch zum 75. Geburtstag, in: MB, 19. Februar 1960.
Abkürzungen
AECZA AotH BJC Bund BZV CH-BAR Commission Mixte
American Emergency Committee for Zionist Affairs Archives of the Holocaust Bund Jüdischer Corporationen Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund Berliner Zionistische Vereinigung Schweizerisches Bundesarchiv Commission mixte de secours de la Croix-Rouge international CV Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens CZA Central Zionist Archives Jerusalem EJGK Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur FAZ Federation of American Zionists Gestapo Geheime Staatspolizei HAFJP Hilfsaktion für notleidende Juden in Polen HIJEFS Hilfsverein für jüdische Flüchtlinge im Ausland HOGOA Hitachduth Olej Germania we Olej Austria (Vereinigung der Einwanderer aus Deutschland und Österreich) IKRK Internationales Komitee vom Roten Kreuz IOME Irgun Olej Merkas Europa (Organisation der Einwanderer aus Mitteleuropa) JA Jewish Agency for Palestine JI Jabotinsky Institute JR Jüdische Rundschau JTA Jewish Telegraphic Agency KfdO Komitee für den Osten KH Keren Hayesod KJV Kartell Jüdischer Verbindungen KKL Keren Kayemeth LeIsrael MB Mitteilungsblatt der Alija Chadascha NZO Neue Zionistische Organisation ORT Organisation reconstruction travail OSE Œuvre de secours aux enfants PEC Provisional Executive Committee for General Zionist Affairs RELICO Relief Committee for the War-Stricken Jewish Population RSHA Reichssicherheitshauptamt RVJD Reichsvereinigung der Juden in Deutschland SIG Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund UNSCOP UN Special Committee on Palestine UZR Union der Zionisten-Revisionisten WL Wiener Library London
330 VJSt WJC YVA ZO ZVfD
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Verein Jüdischer Studenten World Jewish Congress Yad Vashem Archives Jerusalem Zionistische Organisation Zionistische Vereinigung für Deutschland
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A: Archiv Vladimir Jabotinskys und der Familie Jabotinsky G: Archive und Sammlungen dwer Weltunion der Zionisten-Revisionisten und der Neuen Zionistischen Organisation L6: Judenstaatspartei L7: Judenstaatspartei P59: Meir Grossmann P140: Richard Lichtheim
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Register
Personenregister Aaronsohn, Aaron 90 f., 98, 103 Aaronsohn, Sarah 98, 103 Abdülhamid II., Sultan 55, 59, 65 Achimeir, Abba 126 f., 188 f., 191, 193, 200 Agami, Moshe, siehe Averbuch, Moshe Allenby, Edmund 139, 233 Alpert, Carl 220 Arendt, Hannah 23 f. Arnsberg, Paul 163 Asscher, Abraham 234, 268 Attlee, Clement 311 f. Auerbach, Elias 22 f., 48 Auerbach, Israel 91 Averbuch, Moshe (Moshe Agami) 300 f. Avriel, Ehud 293 Azoury, Nejib 135 Baden, Max von 114 Bader, Menachem 293 Baeck, Leo 238, 290 f. Barlas, Chaim 212, 260, 262, 265, 293 f., 296 Bayhum, Ahmad Mukhtar 136 Becher, Kurt 278 Becker, Julius 106 Begin, Menachem 126 f., 322 Beha-ed-Din 75–78 Belilovsky, Chaim 162 f., 191 f. Benari, Yehuda 158 f., 161 Ben-Chorin, Schalom 324 Ben-Gurion, David 17, 77 f., 126, 145, 206–209, 214, 223, 310 f., 313, 315 f., 318, 321–323 Ben-Zvi, Yitzhak 77 f., 258 Berger, Alfred 22 f., 172 Berger, Julius 22 f. Bergmann, Shmuel Hugo 145, 314 Berkovitz 294
Bernardini, Filippo 244 f. Bernhard, Georg 105 Bernstorff, Johann Heinrich, Graf von 76, 102–104, 110, 114 f. Bileski, Moritz 172 f. Birnbaum, Nathan 129 Bloch, Arthur 11 f. Bloch, Else 11 f. Bloch, Hans 176, 181, 191 f., 194 f. Bloch, Peter 11 f. Blumenfeld, Kurt 18, 22 f., 30 f., 33, 44–46, 64, 69, 82 f., 108, 128, 139, 142, 156, 164 f., 172, 175–177, 205, 314, 324, 328 Bodenheimer, Max 45, 64, 68, 127 f. Born, Friedrich 281 Bornstein, Heini 294 Borochov, Ber 132 Brand, Joel 278 Brandeis, Louis 87, 89, 140–143, 152 Brode, Heinrich 83, 86, 96 f., 99 f. Brünn, Wilhelm 48 Brutzkus, Eugene 162 Brutzkus, Julius Davidovich 150, 162 f. Buber, Martin 43, 82, 129, 145, 314 Burckhardt, Carl Jacob 223, 253 f. Burzio, Giuseppe 245 Bussche-Haddenhausen, Hilmar, Freiherr von dem 107 Cahan, Yaakov 196 Caleb, Jenny 118 f. Cavit Bey, Mehmet 102 Čejka, František 291 Cemal Pascha, Ahmet 12–14, 53–56, 73–78, 86, 88, 93, 95–100, 103 f., 109–111, 113, 135 Chamberlain, Joseph 44 Churchill, Winston 275
358 al-Churi, Faris 136 Ciechanowski, Jan 301 Cleveland, Grover 89 Cohen, David 234 Cohen, Israel 216 Cohen, Pinchas 114 Cohen, Richard 243 Cowen, Joseph 143 Czeskis, Leo 162 Davisky, Avraham 162 Delbrück, Hans 81, 105 f. Dizengoff, Meir 98 Dobkin, Eliyahu 258, 283 f. Dubnow, Simon 116, 253 Edelmann, Samuel 90 Edelstein, Jakob 238, 287, 289 Eden, Anthony 302 Eichmann, Adolf 226, 267, 270, 272, 276, 278 f. Einhorn, Charlotte, siehe Ullmann, Charlotte Eiss, Chaim Yisroel 214, 294 Elkus, Abram 92–94, 113 Enver Pascha, Damad İsmail 54 f., 99, 104 Eppstein, Paul 238, 289 f., 292 Epstein, Yitzhak 132 Erzberger, Matthias 105 f. Ettisch, Ernst 163, 176 Feiner, Leon 257 Feiwel, Berthold 43 Feller, Harald 277 Feuerring, Isaak 172 Fleischmann, Gisi (Gizela Fleisch mannová) 274 Friedemann, Adolf 45 f., 64, 128 Friedmann, Desider 287 Frischer, Arnošt 290 Fuchs, Eugen 114 Furrer, Milly 282 Garel, Georges 213 Gepstein, Shlomo 162 Ginsberg, Ascher, siehe Ha’am, Achad
Register
Goldin, Joseph 265 Goldman, Solomon 216, 224 Goldmann, Nahum 83, 130 f., 147, 155 f., 173, 207 f., 212, 215 f., 223 f., 269, 300, 302, 312, 318 Goldstein, Moritz 49 Göppert, Otto 101 Göring, Hermann 197 Goslar, Hannah, siehe Pick-Goslar, Hannah Goslar, Hans 264, 268, 272 Goslar, Rachel Gabriele, siehe MozesGoslar, Rachel Gabriele Grady, Henry F. 312 Greenberg, Uri Zvi, siehe Grinberg, Uri Zvi Griffel, Jacob 293 Grinberg, Uri Zvi (Uri Zvi Greenberg) 188, 193, 200 Grossmann, Meir 15, 28, 36, 127, 159 f., 163 f., 182, 184–189, 191–194, 196, 202–206, 309 Growalt, Ehud 238 Grünbaum, Yitzhak 156, 214, 251, 258, 274, 283 f., 293, 320 Ha’am, Achad (Ascher Ginsberg) 129, 132 Hadari, Zeev, siehe Pomeranz, Venja Halpern, Georg 203 f. Hamburger, Ernst 195, 198 Hankin, Yehoshua 77 Hantke, Arthur 33, 43, 64, 80, 86, 103, 107, 139, 142, 155 Harden, Maximilian 105–107 Harfouche, Georges 136 Harrison, Leland B. 255, 280 Hassan Bey 76 Hefter, Irene, siehe Lichtheim, Irene Herlitz, Georg 22 f., 216 Herzl, Theodor 13, 20, 42–45, 59, 63, 66, 123, 128, 131 f., 135, 151 f., 155, 159, 206, 324, 326 Heydrich, Reinhard 243 Heymann, Hans Gideon 22 f., 48 Himmler, Heinrich 238, 270, 278, 285 Hirsch, Fanny 213, 295
Personenregister
Hirsch, Paul 178 Hirsch, Salli 172 Hirsch, Solomon 89 Hirschfeldt, Adolf 196, 198 Hirschmann, Ira 269 Hitler, Adolf 126, 219, 226, 234, 242 f., 250, 253–256, 304, 307, 325 Hochberg, Sami 132 f., 136 Hohermuth, Berta 282 Horthy, Miklós 273 f., 277, 279, 281 al-Husayni, Said 136 Indig, Joseph 243 Isaacs, Rufus (Lord Reading) 197 Izzet Bey 95 f. Jabotinsky, Vladimir 15 f., 27 f., 36, 44, 78, 86 f., 119, 121–127, 132, 138–144, 146–164, 166, 169–171, 176, 180, 182–196, 199–203, 208 f., 307, 309, 316 Jäckh, Ernst 81–83, 103, 106 Jacobson, Victor 49 f., 56, 59–63, 67, 90–93, 102, 105, 132–134, 215 Jacoby, Johann 39 Jacoby, Sara 39 Jaeger, Maximilian 277 f. Jaffe, Bezalel 98 Jarblum, Marc 294, 303 Jonas, Hans 326 Joseph, Dov (Bernard Joseph) 258, 306 Kahany, Menachem 211 f., 215, 265, 269, 273, 277, 279, 296 f., 300 Kahn, Franz 217, 222 Kalischer, Zvi Hirsch 42 Kanowitz, Siegfried 178 Kaplan, Eliezer 217 f., 230, 300 Kaplansky, Shlomo 216, 313 f. Kareski, Georg 36, 198 f. Kasztner, Rudolf (Rezső Kasztner) 278 f. Katznelson, Avraham, siehe Nissan, Avraham Kauder, Emil 163 Kilchmann, Anton 277 Klarman, Joseph 258 Klatzkin, Jakob 155 f. Klausner, Joseph 132
359
Klee, Alfred 33, 43, 139, 264, 268 Klee, Theresa 264, 268, 272 Klinov, Yeshayahu 122, 150, 162, 175 f. Koestler, Arthur 9 f., 17, 30 f., 128, 160 f. Kohn, Hans 145 Kollek, Teddy 293 Kollenscher, Max 173, 177 Kopecký, Jaromír 274, 289 f., 292 Koppelmann, Isidor 254 Krausz, Moshe (Miklós Krausz) 275 f., 278 Kreß von Kressenstein, Friedrich Freiherr 99 Kreutzberger, Max 314 f. Kubowitzki, Aryeh Leon (Aryeh Leon Kubovy) 302 Kühl, Juliusz 249 Kühlmann, Richard von 80, 96, 99–102, 111 Lagarde, Paul de 81 Landauer, Georg 33 f., 170–172, 314 f., 319 f. Landsberg, Alfred 128, 172 Lauterbach, Leo 210, 215, 217, 223, 227, 231–233, 236, 240, 242–244, 251, 253 f., 258 f., 284, 295, 305, 315 Lieme, Nehemia de 140, 143 Lev, Abraham 98 Levin, Yitzhak Meir 258 Levin, Shmaryahu 87 Lichtheim, Clara (Clara Pollack) 39 f. Lichtheim, Eva 40, 267 Lichtheim, Georg 39 Lichtheim, George 26, 51, 58, 118 f., 197 f., 298, 326, 328 Lichtheim, Heinrich 39 Lichtheim, Irene (Irene Hefter) 9 f., 50–52, 58, 102, 118 f., 197, 214, 238, 296, 298 f., 328 Lichtheim, Miriam 26 f., 30 f., 118 f., 197 f., 217, 298 Lichtheim, Simon 39 Liman von Sanders, Otto 65, 99 Linton, Joseph 218 f., 223, 225, 239, 244, 248, 250–252, 275, 308 Lipsky, Louis 224
360
Register
Locker, Berl 216 Lord Reading, siehe Isaacs, Rufus Lourie, Arthur 223 f., 232 Lutz, Carl 275–281 MacDonald, Ramsay 180 Machover, Jonah 189 f., 194, 196, 205 MacKillop, Douglas 259 f., 280 Maglione, Luigi 245, 255 Magnes, Judah Leon 90 Malul, Nissim 132 f., 136 Mannes, Max 296 Mayer, Saly 212 f., 244, 285 Mazzini, Giuseppe 201 McClelland, Roswell 269, 282 McCloy, John Jay 302 Mechner, Ernst 217 Minkowski, Eugène 213 Mintz, Benjamin 258 Moissis, Ascher 323 Montor, Henry 223 f., 252, 304 Morgenthau, Henry Jr. 113 Morgenthau, Henry Sen. 30 f., 54, 74 f., 79, 89–93, 100, 111–113 Morrison, Herbert 312 Moses, Siegfried 18, 33, 314 Motzkin, Leo 115, 132 Mozes-Goslar, Rachel Gabriele (Rachel Gabriele Goslar) 264, 268 Murmelstein, Benjamin 290 Murray, Archibald 95 Muskat 294 Mussolini, Benito 126, 189 f. Musy, Jean-Marie 285 Mutius, Gerhard von 67–72, 80 Nahum, Chaim 60 f., 73 Naftali, Fritz 172 al-Nashashibi, Raghib 136 Naumann, Friedrich 81 Netanyahu, Benzion 121 Netanyahu, Benjamin 121 Neustadt, Melech 297 f. Nissan, Avraham (Avraham Katznelson) 323 Nordau, Max 44, 69 Norton, Clifford John 259 f.
Oppenheimer, Franz 46, 48, 64 Pan Mallet, Louis du 63 Papen, Franz von 103 f. Paquet, Alfons 82 Pavelić, Ante 242 Pazner, Chaim, siehe Posner, Chaim Peels, William 204 f. Pehle, John W. 302 Petljura, Symon 144, 201 Pick-Goslar, Hannah (Hannah Goslar) 264, 268 Pilar, André de 289 Pilet-Golaz, Marcel 280 Pinsker, Leon 42 Pinner, Ludwig 34, 47 f. Pius XII. 245 Pollack, Bernhard 50 Pollack, Clara, siehe Lichtheim, Clara Pomeranz, Venja (Zeev Hadari) 293 Pomiankowski, Josef 57 Posner, Chaim (Chaim Pazner) 29, 211 f., 218, 262 f., 265–267, 293 f., 296–298 Princip, Gavrilo 72 Propes, Aharon 164, 193 Rabbi Binyamin (Yehoshua Radler- Feldmann) 132 Rappard, William 213 Rathenau, Walther 115, 117 f. Reines, Isaac Jacob 130 Reiter, Alexander 164 Riegner, Gerhart M. 28–31, 35 f., 212, 218, 223, 244–246, 254–256, 259 f., 275, 282, 288 f., 291, 294 f., 298 f., 306 Robinson, Jacob 224 Rohrbach, Paul 81 f. Romano, Marco 154 Rommel, Erwin 250, 257 Roosevelt, Franklin D. 240, 256 f. Rosen, Pinchas, siehe Rosenblüth, Felix Rosenberg, Egon 43 Rosenberg, Walter, siehe Vrba, Rudolf Rosenblum, Herzl 196 Rosenblüth, Felix (Pinchas Rosen) 17 f., 23, 33 f., 44 f., 128, 142, 165, 314 f., 319 f., 322–324
Personenregister
Rosenblüth, Martin 22 f., 197 Rothschild, Lionel Walter, Baron 14 Rotta, Angelo 281 Ruppin, Arthur 30 f., 33 f., 45, 48, 53–55, 67, 74, 78, 86, 88, 90, 92 f., 97, 101–103, 132 f., 314 Sagalowitz, Benjamin 254 Said Halim Pascha, Muhammad 54, 91 Samuel, Herbert L. 122, 140 Schabinger, Karl Emil 86, 96 Schechter, Solomon 90 Schechter, Zvi (Zvi Yehieli) 300 f. Schechtman, Joseph 127, 150, 158 f., 161 f., 167, 180 Scheidemann, Philipp 105 f., 114 Scheps, Samuel 211 f., 262 f., 265, 294, 296–298 Schereschewski, Simon 172 Schloss, Justus 195, 198, 318 Schloss, Rolf 294 Schmorak, Emil 258, 300, 305 Scholem, Gershom 26, 48, 314 Schönfeld, Julius 238 Schulte, Eduard 254 Schwalb, Nathan (Nathan Schwalb-Dror) 29, 212, 218, 294–298 Schwartzbard, Sholom 144 Segal, Hermann 258 Selbiger, Afred 238 Senator, Werner 172 Shahin, Said 136 Shapira, Chaim-Moshe 258 Sharett, Moshe (Moshe Shertok) 269, 300, 302, 313, 323, 328 Shaw, Walter 169, 179 Shertok, Moshe, siehe Sharett, Moshe Shochat, Israel 77 Shochat, Mania 77 Shragai, Shlomo Zalman 258 Shuqayr, Najib 136 Silberschein, Abraham (Adolf Henryk Silberschein) 29, 212 f., 218, 221, 294–296, 298 Silver, Abba Hillel 224 Silverman, Sidney 254 f. Simon, James 115
361
Simon, Julius 140, 143 Slawynskyj, Maksym 144 Smilansky, Moshe 313 f. Sobernheim, Moritz 115 Sokolow, Nahum 10 f., 14, 63, 90 f., 132 f., 140, 143, 183 Sombart, Werner 49, 105 f. Soskin, Selig Eugen 189 f., 194, 196, 205 Spanner, Rudolf 249 Sprinzak, Josef 216, 328 Squire, Paul C. 254 Stanley, Oliver 260 Steiner, Hannah 222 Sternbuch, Recha 214, 285 Sternbuch, Yitzhak 214, 285 Straus, Nathan 90 Straus, Oscar Solomon 89 Stricker, Robert 127, 189 f., 194, 196, 202, 205, 287 Suprasky, Yehoshua 258 Szálasi, Ferenc 279, 281 Szold, Robert 224 Sztójay, Döme 273 Tahon, Yaacov, siehe Thon, Jakob Talât Pascha, Mehmed 54 f., 70, 73, 78, 91, 96, 106 f., 110 f. Taylor, Myron Charles 255 Theilhaber, Felix Aron 22 f., 42 f. Thélin, Georges 260 Thon, Jakob (Yaacov Tahon) 97, 100, 132 f. Tietz, Ludwig 197 Tijn, Gertrude van 263, 268 Tiomkin, Vladimir 159, 182 Tiomkin, Zinovi 158 f. Tiso, Jozef 245 Trietsch, Davis 82 Trivius, Israel 150, 162 Troper, Morris 212 f. Trumpeldor, Joseph 164 Tuka, Vojtech 245 Ullmann, Charlotte (Charlotte Einhorn) 217 Ullmann, Fritz 28, 105, 216–218, 220–222, 242, 274, 287, 289–293, 296 Ussishkin, Menachem 44, 132, 216
362
Register
Veesenmayer, Edmund 276 Vrba, Rudolf (Walter Rosenberg) 273–275, 277, 291 f., 301 Waldburg zu Wolfegg und Waldsee, Heinrich, Graf von 95, 100 f. Wallenberg, Raoul 280 f. Wangenheim, Hans, Freiherr von 53 f., 66, 71–74, 76–78, 91 f., 111 Warburg, Otto 45, 79 f., 86, 107 f., 155 Weber, Max 105 f. Weber, Theodor 69, 78 Wedgwood, Josiah 190 Weinshal, Avraham 193 Weinstein, Baruch 196 Weisl, Wolfgang von 163, 176, 188 f., 193, 200 f. Weiss, Joseph 220 Weissmann, Yitzhak 291 Weissmandl, Michael Dov 274 Weizmann, Chaim 10 f., 14 f., 35, 44 f., 86 f., 104, 108, 113, 119, 122–125, 131, 140–143, 145, 151–154, 156 f., 164 f., 167, 171, 173, 177, 181, 183, 187 f., 207–209, 240, 302, 310, 313–316, 319 f., 324
Welles, Sumner 255 f. Weltsch, Robert 18, 33, 144 f., 153, 157 f., 164 f., 170–179, 205, 306, 314 f., 324 Wetzler, Alfred 273–275, 277, 291 f., 301 Wiener, Georges Joseph Emile 40 Wiener, Raymund 267 Wilhelm II., Kaiser 59, 65, 114 Wilson, Woodrow 56, 89, 93, 113 Wise, Stephen S. 89, 91, 224, 254–256 Wolff, Theodor 105 Wolff Metternich, Paul, Graf 84, 94, 96, 111 Wolffsohn, David 22, 44, 59, 155, 324 Yaari, Meir 216 Yehieli, Zvi, siehe Schechter, Zvi Yellin, David 90 f. Yevin, Yehoshua Heschel 188 f., 200 Zemach, Shlomo 313 f. Zimmermann, Arthur 73, 99 f. Zivian, Gabriel 253 Zlocisti, Theodor 48 Zucker, Jacob 294 Zucker, Otto 222, 287
Sachregister Abteilung für Fremde Interessen, siehe Außenministerium (Schweiz) Agudat Jisra’el 214, 258, 294, 296 Aktion Reinhardt 249 Aktionskomitee der Zionistischen Organisation, siehe Engeres Aktionskomitee der Zionistischen Organisation Alija Bet 229 f., 259, 263, 301 Alija Chadascha 17, 19, 27, 29, 36, 171, 311, 314 f., 317–320, 322 f. Allgemeine Zionisten 130, 166, 173, 178, 258, 320, 322 – Allgemeine Zionisten A 320, 322 – Unabhängige Allgemeine Zionisten 173, 177
Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund (Bund) 251, 257 Alliance Israélite Universelle 60, 69, 90 Ältestenrat der Juden in Theresienstadt 222, 238, 287, 289 f. American Emergency Committee for Zionist Affairs 223 f. American Jewish Joint Distribution Committee 92, 98, 172, 212 f., 220, 224, 229, 285, 292, 294, 303 And Millions Shall Die (Richard Lichtheim) 304 Anglo-Palestine Bank 55, 75, 77 Arabische Unruhen (1929) 130, 168–171, 173, 176 f., 179, 183, 186, 188, 199, 204
Sachregister
Arabisch-zionistische Verhandlungen 1913/14 137 Arbeitslager, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Der Aufbau des Jüdischen Palästina (Richard Lichtheim) 157 Auschwitz, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Außenministerium – Deutschland (Auswärtiges Amt) 27, 64, 67–69, 72 f., 76, 79 f., 83, 85, 94, 99, 101–105, 107, 110, 114 f., 118, 254, 260, 270 – Großbritannien 255, 272, 275 – Israel 323 – Schweiz (Abteilung für Fremde Interessen Eidgenössisches Politisches Departement) 229, 263 f., 272, 275, 278 – Ungarn 278 – Vereinigte Staaten von Amerika (State Department) 255, 269, 301 B’nai B’rith 90, 325 Balfour-Deklaration 11, 14, 35, 59, 85, 104–106, 108, 111–113, 117, 122, 138, 140 f., 143, 145, 147, 151, 155, 179, 282, 325 Bar Kochba (Studentenverbindung) 18 BBC 244, 251 Befehl Hitlers zur Ermordung der europäischen Juden 253–255 Beiruter Reformgesellschaft 133, 136 Belzec, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Bergen-Belsen, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Berliner Zionistische Vereinigung (BZV) 156, 158, 163 Bermuda-Konferenz 269 Beschlüsse von Calais 186 f. 191 f., 202 Betar (Brit Trumpeldor) 164, 169–171, 176, 190, 193 f., 199 Biltmore-Konferenz 17, 206–208, 308 f. Biltmore-Programm 17, 208, 308, 310–312, 315, 320 Binjan ha-Areẓ 142
363
Die blutigen Kämpfe in Palästina (Robert Weltsch) 170 Botschaft (Gesandtschaft) – Amerikanische Botschaft Bern 255, 280, 303 – Amerikanische Botschaft Konstantinopel 54, 56, 62, 74 f., 86, 88–95, 100 f., 110, 112 f. – Britische Botschaft Bern 259–264, 269, 272, 275, 277, 280, 303 – Britische Botschaft Konstantinopel 62 f. – Deutsche Botschaft Konstantinopel 13, 53 f., 56, 58, 66–69, 71–75, 77–80, 84–86, 88, 91 f., 94–96, 99–104, 110 f. – Deutsche Botschaft London 197 – Polnische Gesandtschaft Bern 248 f. – Russische Botschaft Konstantinopel 62, 64, 72 – Schweizer Gesandtschaft Berlin 263 f. – Schweizer Gesandtschaft Budapest 275–278, 281 – Türkische Botschaft Berlin 102 Brit ha-Birionim 126, 188, 193 Brit Schalom 18, 36, 125, 129, 145, 165, 172, 174, 313 Brit Trumpeldor, siehe Betar Bund, siehe Allgemeiner Jüdischer Arbeiterbund Bund Jüdischer Corporationen (BJC) 18, 43, 47 Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV) 32, 48 f., 114, 116–118, 197 Charter 46, 59 f., 62 f. Commission mixte de secours de la Croix-Rouge international (Commission mixte) 223, 288–290, 292 f. Delegiertentag der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD), siehe Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) Demokratische Revisionisten 194, 196
364
Register
Deportation – Nationalsozialismus 10, 238, 244, 246, 248–250, 252 f., 256, 261 f., 264–276, 278 f., 281, 287 f., 291 f., 302, 304, 307 – Osmanisches Reich 51, 53–55, 74, 76, 79, 86, 91, 96, 98, 104, 109, 111 Deutsches Komitee zur Befreiung der russischen Juden 64, 72 Diaspora-Nationalismus 116, 141 Dominion Scheme (Seventh Dominion Scheme) 190, 257, 261, 311 Do’ar ha-Jom 171 Dreyfus-Affäre 174 Eidgenössisches Politisches Departement, siehe Außenministerium (Schweiz) Einreise nach Palästina 12, 15 f., 56, 60, 62, 72, 110, 118, 152, 186, 197, 229, 230 f., 259 f., 268, 276 f. Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD 236, 243 Die eiserne Mauer (Vladimir Jabotinsky) 124, 150 Engeres Aktionskomitee der Zionis tischen Organisation (Aktionskomitee der Zionistischen Organisation) 48 f., 56, 62, 80, 87, 107, 152, 159, 205 Die Ethik der eisernen Mauer (Vladimir Jabotinsky) 124, 150 Federation of American Zionists (FAZ) 87 Freies Jüdisches Lehrhaus 119 Gegenwartsarbeit 47, 141 f., 151 Geneva Study Group for Post-War Refugee Problems 282 Gesandtschaft, siehe Botschaft Die Geschichte des deutschen Zionismus (Richard Lichtheim) 31, 128, 324, 326 Gestapo 12, 27, 213, 228, 230, 239, 260, 271, 304 Ghetto 239, 248, 250, 274, 288, 304 – Litzmannstadt 242 f., 252 – Riga 253
– Theresienstadt 222, 238, 243 f., 249, 264, 268, 272, 285–293 – Warschau 236, 243, 252, 271 Ghettoisierung 226 f., 243, 245, 256, 279 Gurs, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Ha’avara-Abkommen 16 Ha-Boker 313, 316 Hadassah, siehe Women’s Zionist Organisation of America Hagana 231, 259 Ha-Oved ha-Ẓioni 320, 322 Ha-Po’el ha-Ẓa’ir 130, 171 Ha-Shomer ha-Ẓa’ir 212, 293 f., 319 Hasmonäa 43, 47 f. Hebräisch 46, 66, 69, 75, 129, 176 Hebräische Universität 23, 26, 217 Hed-Bethar 29, 164, 174 f., 178 He-Ḥ aluẓ 29, 212, 218, 222, 238, 281, 294 f. Die Heimkehr der Juden (Richard Lichtheim) 146 Helsingfors Programm 151 Ḥ erut-Partei 126, 322 Hilfsverein der deutschen Juden 66 f., 69, 90, 115 f. Hilfsverein für jüdische Flüchtlinge im Ausland (HIJEFS) 214, 285, 296 Histadrut 212, 293–296, 298 Hitaḥ dut 178 Hitachduth Olej Germania we Olej Austria 17, 314 f. Hitachduth Olej Czechoslovakia 221 Hope-Simpson-Bericht 169 Hotel-Polski-Affäre 271 f. Interalliierte Erklärung 257, 259 f. Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), siehe Rotes Kreuz Internierungslager, siehe Konzentra tions-, Internierungs- und Vernichtungslager Irgun Ẓva’i Le’umi 126 Irgun Olej Holland 266 Irgun Olej Merkas Europa 314
Sachregister
Jewish Agency Rescue Committee, siehe Komitee für Hilfe und Rettung Jewish National Fund, siehe Keren Kayemeth LeIsrael Joint Distribution Committee, siehe American Jewish Joint Distribution Committee Judenrat, siehe Jüdischer Rat Amsterdam Judenstaatspartei 15, 28, 36, 192, 196, 203–205, 214, 297, 316 – 1. Weltkonferenz der Judenstaats partei (1937, Paris) 205 Jüdische Legion 78, 121, 127, 138 f., 164 Jüdische Rundschau 18, 23, 27, 29, 47, 49, 97, 105, 112, 117, 131, 144, 146, 148, 153 f., 157 f., 162–166, 170, 173–175, 177, 179, 187 f., 193 f., 204 Jüdischer Nationalfonds, siehe Keren Kayemeth LeIsrael Jüdischer Nationalrat, siehe Wa’ad Le’umi Jüdischer Rat Amsterdam (Judenrat) 234, 263, 268 Jüdischer Weltkongress, siehe World Jewish Congress Jungtürken 13 f., 54–56, 58–61, 64 f., 70, 100, 106, 109, 111, 133 Jungtürkische Revolution 55, 59, 65, 133, 135 Kartell Jüdischer Verbindungen 47, 81, 171, 178 Kartell Zionistischer Verbindungen (KZV) 47 Kasztner-Transport 269, 278 f., 285 Katholische Kirche, siehe Vatikan Keren Hayesod 22 f., 139 f., 142, 173, 214, 220, 238 Keren Kayemeth LeIsrael (Jewish National Fund; Jüdischer Nationalfonds) 44, 47, 75, 77, 217, 220, 238 King David Hotel (Anschlag 1946) 313, 316 Kolonisationsregime 123, 150, 205 Komitee für den Osten 64, 107 Komitee für Einheit und Fortschritt 55 Komitee für Hilfe und Rettung (Jewish Agency Rescue Committee; Wa’ad haḤ azala schel ha-Sochnut ha-Jehudit)
365
– Budapest 275, 278 f. – Genf 294–297 – Istanbul 262, 293, 295 f. – Jerusalem 258 f., 284, 293 f. Komitee Pro Palästina 105 Konferenz von Évian 16, 228 Konferenz von Sanremo 14 Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager 10, 222 f., 242 f., 246, 248 f., 254, 261, 264, 267 f., 271, 273, 279, 281, 283, 305 f. – Auschwitz 190, 222, 238, 244, 246, 267, 272–275, 290–292, 301 f. – Belzec 249 – Bergen-Belsen 264, 268–272, 278, 285 – Gurs 232 – Kulmhof (Chełmno nad Nerem) 242, 251 – Laufen 271 – Mauthausen 272 – Mechelen 12 – Sachsenhausen 220, 225, 238 – Sobibor 246, 249, 267 – Stutthof 249 – Treblinka 249 – Vittel 269, 271 – Westerbork 263 f., 266–268, 270 f. Kulturzionismus, siehe Zionismus Kunstwart-Debatte 49 Laufen, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Lichtheim-Riegner-Bericht 255 f. Linkes Zentrum 166, 178 Litzmannstadt, siehe Ghetto Litzmannstadt Łódźer Manifest 193 Mapai 208, 241, 258, 297, 318 f., 323 Mauthausen, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Mehrheit (Vladimir Jabotinsky) 150 Misrachi 130, 166, 172, 176, 178, 224, 258 Mitteilungsblatt der Alija Chadascha (MB) 27, 29, 315 f., 318–320
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Register
Morrison-Grady-Plan 312 Nationalfonds, siehe Keren Kayemeth LeIsrael Neue Zionistische Organisation 16, 28, 127, 203 NILI 103 Nisko-Plan 226 Œuvre de secours aux enfants (OSE) 213 Organisation reconstruction travail (ORT) 213 Osmanische Partei für administrative Dezentralisierung 133, 136 Palästina-Amt 16, 221 – Berlin 16, 171, 237 f. – Budapest 275 f. – Genf 29, 212, 218, 229, 262–266, 293 f. – Jaffa 53–55, 78, 97, 136 – Prag 222, 287 – Zagreb 243 Palästina-Zertifikat 10, 212, 229 f., 258, 260–269, 271–273, 275–281, 283–285, 291, 302 Palestine Post 26, 204 Peel-Kommission 205 f., 316 Pfeilkreuzler 277, 279–281 Po’ale Ẓion 77, 130, 166, 172, 224, 313 Preußische Jahrbücher 81 f. Das Programm des Zionismus (Richard Lichtheim) 48 f., 132 Progressive Partei 322 f. Provisional Executive Committee for General Zionist Affairs (PEC) 87, 92 Radikale Zionisten 130, 154–156, 164, 166 f., 173, 177, 190 Rassvet 150 f., 155, 162 Reichssicherheitshauptamt (RSHA) 226, 243, 267 Reichsvertretung der Deutschen Juden (Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, RVJD) 18, 222, 237 f., 264 Relief Committee for the War-Stricken Jewish Population (RELICO) 29, 212, 218, 286 f., 294
Religiöser Zionismus, siehe Zionismus Revisionistische Blätter 29, 164 Riegner-Telegramm 35 f., 254–256, 306 Rotes Kreuz (IKRK; Internationales Komitee vom Roten Kreuz) 10, 211, 223, 229, 253 f., 260, 262, 264, 268 f., 279, 281, 286–289, 292 f., 301, 303 Rückkehr (Richard Lichtheim), siehe Sche’ar Jaschuv Sachsenhausen, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Sammellager, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Sche’ar Jaschuv (Rückkehr) (Richard Lichtheim) 324, 328 Schekelzahler 143, 186 f., 191–194, 202 Schweizerischer Israelitischer Gemeindebund (SIG) 212 f., 244 Schweizerischer Zionistenverband 220, 294 f. Seventh Dominion Scheme, siehe Dominion Scheme Shaw-Bericht 179 she’erit ha-pletah 325 Sobibor, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Sozialistischer Zionismus, siehe Zionismus Sprachenstreit 66–68 SS Patria (Schiff) 231 Staatszionistische Organisation (Verband der Staatszionisten) 196, 198 f. State Department, siehe Außenministerium (Vereinigte Staaten von Amerika) Stern-Bande 126 f. Stutthof, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager System der Kapitulationen 59 f., 62, 73 Technikum (Technion) 66 f. Templergesellschaft 65, 261 Territorialismus 48 Theresienstadt, siehe Ghetto Treblinka, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager
Sachregister
Uganda-Plan 44, 63 UN-Generalversammlung 320–322 Union générale des israélites de France 235 United Jewish Appeal 224 United Palestine Appeal 224, 252, 286, 304 Unsere arabische Frage (Richard Lichtheim) 148 f. UN Special Committee on Palestine (UNSCOP) 320, 322 Ustaša 237, 242 Vatikan (Katholische Kirche) 203, 224, 244 f., 255, 273, 279, 281, 303 Verband der Staatszionisten, siehe Staatszionistische Organisation Verein Jüdischer Studenten (VJSt) 18, 23 Vereinte Nationen 297, 320 f. Vernichtungslager, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Vichy-Regime (Vichy-Frankreich, VichyRegierung) 213, 232, 236 f., 241, 244, 252, 256 Vittel, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Völkerbund 15 f., 49, 122, 124, 211 f., 215 f., 223, 289, 300, 320 Völkerbundmandat 10, 14, 139 Völkermord an den Armeniern 55, 78, 88, 94, 98, 104, 109–113, 241, 295, 307 f. Vossische Zeitung 188 Vrba-Wetzler-Report 273–275, 277, 301 Wa’ad ha-Ḥ aẓala schel ha-Sochnut haJehudit, siehe Komitee für Hilfe und Rettung Wa’ad Le’umi (Jüdischer Nationalrat) 295, 321 Wandlungen (Richard Lichtheim) 316, 318 War Refugee Board 269, 282, 302 f. Was tut not? (Richard Lichtheim) 174, 178 Weißbuch 14, 260
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– Churchill (1922) 14, 122, 173 – MacDonald (1939) 16, 229 f., 285 f., 311 f., 315, 319 – Passfield (1930) 169, 180 Die Welt 18, 27, 29, 48, 155 Westerbork, siehe Konzentrations-, Internierungs- und Vernichtungslager Women’s Zionist Organisation of Amer ica (Hadassah) 224 World Jewish Congress (WJC; Jüdischer Weltkongress) 10, 28, 207, 212, 218, 220, 223 f., 244, 254, 287–291, 293 f., 298, 302 f. Zion Mule Corps 139 Zionismus – Politischer Zionismus 13, 24, 44–47, 128 f., 131, 154, 326 – Praktischer Zionismus 44 f., 47, 131 – Kulturzionismus 33, 43, 45, 129 f., 131, 141 – Religiöser Zionismus 130, 169 – Revisionistischer Zionismus, siehe Zionisten-Revisionisten – Sozialistischer Zionismus 123–126, 130, 132, 166 f., 169, 171 f., 178, 208, 212, 297, 300, 320 – Synthetischer Zionismus 45, 47, 131, 151 Zionistische Exekutive 10 f., 15–17, 48 f., 56, 62, 70 f., 80, 87 f., 94, 101, 104 f., 107, 119, 122, 140, 142 f., 152 f., 155–157, 159 f., 162, 169–175, 179–181, 183 f., 187 f., 192, 205, 214 f., 223 f., 241, 244 f., 251 f., 258 f., 262, 283, 293, 296, 298–300, 311, 315 f. Zionist Organization of America 224 Zionistenkongress 29, 123, 143, 155, 170, 186, 208, 217 – 1897 (1., Basel) 13, 116 – 1905 (7., Basel) 44, 69 f. – 1909 (9., Hamburg) 47, 60 – 1911 (10., Basel) 48 – 1921 (12., Karlsbad) 143–146, 148, 150 – 1923 (13., Karlsbad) 153 – 1925 (14., Wien) 154, 156, 166
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Register
– 1927 (15., Basel) 122, 162–164, 166 – 1929 (16., Zürich) 122, 167, 182 – 1931 (17., Basel) 180–185, 187, 200–202 – 1933 (18., Prag) 193, 196 – 1939 (21., Genf) 212, 214–217, 224 – 1946 (22., Basel) 296, 319 f. Zionisten-Revisionisten (Revisionistischer Zionismus) – Landesverband der Zionisten-Revisionisten, Deutschland 15, 28, 34, 36, 125, 128, 158, 163 f., 166 f., 176 f., 180 f., 187 f., 191 f., 194–197, 199 f. – Landesverband der Zionisten-Revisionisten, Palästina 183, 188, 190 f., 193, 200 f. – Sonderverband der Zionisten-Revisionisten 187, 192, 195, 202 – Union der Zionisten-Revisionisten 15, 28, 122, 125, 127, 150, 154 f., 157–160, 162, 170, 176, 182, 184–189, 191–194, 196, 202 – Weltkonferenz der Union der Zionisten-Revisionisten
– 1925 (Gründungskonferenz, Paris) 122 f., 154 – 1926/1927 (2., Paris) 123, 159 – 1930 (4., Prag) 170, 184, 186 – 1932 (5., Wien) 188 f., 192, 202 Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) 9, 15–18, 23, 27, 29 f., 36, 45, 47–49, 68, 128, 131, 139–142, 144, 147, 151 f., 155–158, 164, 167, 171–179, 187 f., 195, 197–199, 314, 318 – Delegiertentag der ZVfD 45, 165, 187 – 1908 (11., Breslau) 47 – 1910 (12., Frankfurt am Main) 48 – 1912 (13., Posen) 45, 128 – 1914 (14., Leipzig) 46, 128 – 1918 (15., Berlin) 157 – 1920 (16., Berlin) 147 – 1921 (17., Hannover) 147 – 1926 (21., Erfurt) 157 f., 163, 165 – 1929 (23., Jena) 151, 173, 175–177 Zivilgefangenenaustausch 257, 260–272 Zwangsarbeit 64, 140, 225, 227, 235, 237 f., 243 f., 247, 253, 275