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German Pages [775] Year 2020
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BEITRÄGE ZU EVANGELISATION UND GEMEINDEENTWICKLUNG
Patrick Todjeras
„EMERGING CHURCH“ – EIN DEKONVERSIVER KONVERSATIONSRAUM Eine praktisch-theologische Untersuchung über ein anglo-amerikanisches Phänomen gelebter Religiosität
BEG
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BEITRÄGE ZU EVANGELISATION UND GEMEINDEENTWICKLUNG Herausgegeben von Michael Herbst, Jörg Ohlemacher und Johannes Zimmermann
Patrick Todjeras
„Emerging Church“ – ein dekonversiver Konversationsraum Eine praktisch-theologische Untersuchung über ein anglo-amerikanisches Phänomen gelebter Religiosität
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9066 ISBN 978-3-7887-3467-1
Für Naemi Mein Dank gebührt dir.
Vorwort und Dank
Diese Arbeit wurde im Wintersemester 2018/19 von der Theologischen Fakultät der Universität Greifswald als Dissertation angenommen. Im Sommersemester 2019 wurde sie mit dem Promotionspreis durch die Gesellschaft von Freunden und Förderern der Ernst-Moritz-Arndt-Universität e.V ausgezeichnet. Für die vorliegende Veröffentlichung wurde die begutachtete Forschungsarbeit überabeitet. Hinführende Kapitel und exemplarische Darstellungen wurden im Sinne der Leserfreundlichkeit gekürzt. Wesentliche gekürzte Teile werden mittels eines QR-Codes zur Verfügung gestellt. Der QR-Code kann am Ende des Vorwortes abgerufen werden. Über den Aufbau und das Forschungsinteresse dieser Arbeit wird in der Einführung Auskunft gegeben. Hier sei lediglich auf den Entstehungszusammenhang kurz hingewiesen. Die Forschungsarbeit war eingebettet in die Mitarbeit am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung (IEEG) an der Universität Greifswald. Damit war der Forschungskontext geprägt durch das Arbeiten im Team am IEEG und dessen Forschungsfragen. Es war eine Bereicherung interdisziplinär und themenübergreifend zu denken und zu arbeiten. Theologisches Denken und Handeln entwickeln sich in der Begleitung, im Dialog und in der gemeinsamen Auseinandersetzung. Es war ein Geschenk mit den KollegInnen Ideen zu diskutieren, Erkenntnisse zu präsentieren und die Freuden und Leiden eines Promotionsweges gemeinsam zu tragen – es ist ein wahres Privileg eine solche Weggemeinschaft zu haben. Namentlich möchte ich dem Team in der Zeit meines Promotionsweges danken: Felix Eiffler, Antje Gusowski, Uwe Hein, Andreas Jansson, Manuela Kindermann, Kolja Koeniger, Jens Monsees, Andreas Scheuermann, Benjamin Stahl, Carla J. Witt. Daneben standen weitere GesprächspartnerInnen und WegbegleiterInnen mit Rat und Tat zur Seite. Meinen langjährigen, in Freundschaft verbundenen Weggefährten sei an dieser Stelle gedankt. Meinem Doktorvater Prof. Dr. Michael Herbst bin ich zu großem Dank verpflichtet. Es war nicht nur seine aufmerksame Begleitung und fachliche Expertise, die die Arbeit an der Dissertation stets in einen konstruktiven Gesprächsrahmen eingebettet hat, sondern auch das persönliche Interesse an dem Wohlergehen eines Promovierenden in den verschiedenen Spannungsfeldern eines solchen Lebensabschnitts. Seine Begleitung war für mich ungemein prägend.
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Vorwort und Dank
Das Zweitgutachten verdanke ich Prof. Dr. Darrell Guder, Prof. em. am Princeton Theological Seminary in Princeton, New Jersey, der als ausgewiesener Experte zu anglo-amerikanischen missionstheologischen Fragen meine Arbeit mit Interesse begutachtet hat. Ferner danke ich in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland den Verantwortlichen im Dezernat für Theologie und Publizistik und dem Verein zur Förderung der Erforschung von Evangelisation und Gemeinde entwicklung e. V. sowie der Deutschen Gesellschaft für Missionswissenschaft für ihre großzügigen Druckkostenzuschüsse. Ich danke den Herausgebern der Reihe Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung Prof. Dr. Michael Herbst, Prof. Dr. Jörg Ohlemacher und Prof. Dr. Johannes Zimmermann für die Aufnahme der Dissertation in ihre Reihe sowie dem Vandenhoeck & Ruprecht Verlag für die Drucklegung. Seitens des Verlages hat mich Frau Miriam Espenhain bei der Drucklegung unterstützt. Schließlich will ich meiner Familie, meinen drei Kindern, Elias, Simeon, Nathanael und besonders meiner Ehefrau Naemi danken. Sie haben meine Beschäftigung mit der vorliegenden Arbeit mit viel Geduld getragen und zu einem erfolgreichen Abschluss beigetragen. Von ganzem Herzen, danke. St. Georgen im Attergau, Österreich, Ostern 2020 Patrick Todjeras
Zusatzmaterial www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com/emerging-church Passwort: cw95zfG
Inhalt
Vorwort und Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .7
Abschnitt I Einleitung, Aufbau und Einordnung des Untersuchungs gegenstandes „Emerging Church“-Konversation . . . . . . . . . . . .19 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21 1.1 Bedeutung des Themas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .21 1.2 Bestimmung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes „Emerging Church“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .29 1.2.1 Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . .29 1.2.2 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes . . . . . . . . . . . . .33 1.3 Einordnung in die Praktische Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .39 1.3.1 Zur Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .39 1.3.2 Anschlussfähige Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .41 1.4 Aufbau der Arbeit, Fragestellungen und Methodik . . . . . . . . . . . . . . .43 1.5 Methodische Bemerkungen zur Auswahl der Studien . . . . . . . . . . . .48 1.6 Schreibweisen und Formalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .52 2. Forschungsüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion . . . . .54 2.1.1 Forschungsgeschichte zum Verlassen der religiösen Orientierung und zu Dekonversionen . . . . . . .54 2.1.2 Aktuelle Ergebnisse aus der Dekonversionsforschung . . . . . .57 2.1.2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .57 2.1.2.2 Barbour „Versions of Deconversion“ (1994) . . . . . . .58 2.1.2.3 Jamieson „A Churchless Faith“ (1996, 2001) . . . . . . .62 2.1.2.4 Impulse aus Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .73
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2.1.2.5 McKnight / Ondrey „Finding Faith, Losing Faith“ (2008) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .83 2.1.2.6 Exkurs zu Deutschland: Faix / Hofmann / Künkler „Warum ich nicht mehr glaube“ (2014) . . . . . . . . . . .85 2.1.2.7 Streib et al. „Bielefeld-based Cross-cultural Study on Deconversion“ (2009) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .88 2.2 „Emerging Church“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .107 2.2.1 „Emerging Church“ – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .107 2.2.2 Weitere wissenschaftliche Forschungsarbeiten . . . . . . . . . . . . 111 2.2.3 Forschungsüberblick im deutschsprachigen Raum . . . . . . . . .113 2.2.4 Forschungsüberblick „Emerging Church“ hinsichtlich dekonversiver Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .114
Abschnitt II Darstellung des Untersuchungsgegenstandes „Emerging Church“-Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .119 1. Begriffe und Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121 1.1 „Emerging Church“ als „Konversation“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .121 1.2 „Emerging Church“ und die Emergenztheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . .123 1.3 Begriffsunterscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 1.3.1 „emerging“ und „emergent“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .128 1.3.2 „fresh expressions of Church“ (fxC) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .131 1.3.2.1 Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .131 1.3.2.2 Nähe und Differenz zur „Emerging Church“ . . . . . . 135 1.3.3 „Alternative worship“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .139 1.3.3.1 Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .139 1.3.3.2 Nähe und Differenz zur „Emerging Church“ . . . . . . 140 1.3.4 „Missional church“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 1.3.4.1 Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .141 1.3.4.2 Nähe und Differenz zur „Emerging Church“ . . . . . . 144 1.3.5 Weitere Begriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .146 1.4 Missionstheologische Grundbegriffe aus dem anglo-amerikanischen Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .147 1.4.1 Evangelikalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .148 1.4.1.1 Das Verhältnis der „Emerging Church“Konversation zum Evangelikalismus . . . . . . . . . . . . .148 1.4.1.2 Das Verhältnis des Evangelikalismus zur „Emerging Church“-Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
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1.4.2 Der „Megachurch“-Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .158 1.4.2.1 Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .158 1.4.2.2 Exkurs: Diskussion über „Megachurch“ . . . . . . . . . . .163 1.4.2.3 Bezug zur „Emerging Church“-Konversation . . . . . .165 2. Definitionen des Phänomens „Emerging Church“ . . . . . . . . . . . . . . .166 3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss . . . . . . . . . . . . . . . . .171 3.1 Die drei Phasen der „Emerging Church“-Konversation . . . . . . . . . . .172 3.2 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in den USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .175 3.3 Das US-amerikanische Online-Netzwerk „Emergent Village“ . . . . .180 3.4 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .182 3.4.1 Vorläufer der Konversation in Großbritannien . . . . . . . . . . . .183 3.4.2 Veranstaltungen und Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .186 3.4.2.1 „Nine O’Clock Service“ (NOS) . . . . . . . . . . . . . . . . . .187 3.4.2.2 „Greenbelt“, ausgewählte prominente Protagonisten und Netzwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 3.5 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .192 4. Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation . . . . . . . . . . . .197 4.1 Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .197 4.2 Drei Strömungen: „relevants“ – „reconstructionists“ – „revisionists“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .198 4.3 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .204 4.4 Ein weiterentwickeltes Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .209 5. Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .215 5.1 Sozio-demografische Daten emergenter Protagonisten . . . . . . . . . . .215 5.2 Religiöses Selbstverständnis emergenter Protagonisten . . . . . . . . . . .218 5.3 Religiöse Orientierung der emergenten Gemeinschaft . . . . . . . . . . . .221 5.4 Exkurs: „Gen X“ – „Emerging Church“, eine Jugendkirche? . . . . . . .222
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Inhalt
6. Die „Emerging Church“-Konversation und digitale Informationsund Kommunikationstechnologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .227 6.1 Online- und Offline-Kommunikation in der Konversation . . . . . . . .227 6.2 Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien und die „Emerging Church“-Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .229 7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .236 7.1 Edward Gibbs und Ryan Bolger „Emerging Churches“ (2005) . . . . .237 7.2 Bob Whitesel „Inside the Organic Church“ (2006) . . . . . . . . . . . . . . .243 7.3 James Bielo „Emerging Evangelicals. Faith, Modernity, and the Desire for Authenticity“ (2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 7.3.1 „Authenticity“ – „commodification and the limits of language“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .246 7.3.2 „Missional“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .249 7.3.3 „Church planting“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .249 7.4 Tony Jones „The Church is Flat“ (2011) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .251 7.5 Josh Packard „The Emerging Church. Religion at the Margins“ (2012) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .255 7.6 Gladys Ganiel und Gerardo Marti „The Deconstructed Church“ (2014) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .260 7.7 Ertrag und Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .266 8. Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung in der Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .271 8.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .271 8.2 Wie wird in der „Emerging Church“-Konversation über religiöse Veränderungsprozesse gesprochen? . . . . . . . . . . . . . . .272 8.3 Wie sprechen Kritiker über die Veränderung religiöser Orientierung in der „Emerging Church“-Konversation? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 8.4 Beispielhafter Werdegang emergenter Protagonisten . . . . . . . . . . . . .280 8.4.1 Rob und Kristen Bell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .280 8.4.2 Brian McLaren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .282 8.4.3 Kathy Escobar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .285 8.5 Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .286 9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation 287 9.1 Zum Gemeinschaftsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .288 9.2 Wie entstehen emergente Gruppen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .289
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9.3 Typen emergenter Gruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .293 9.4 Emergente Gruppen und Gemeinschaften in verfassten religiösen Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .298 9.5 Wie wählen Protagonisten eine emergente Gemeinschaft? – „Emerging Church“ als gemeinschaftlich gelebter Glaube . . . . . . . . .304 9.6 „Ikon“ – eine exemplarische Darstellung einer emergenten Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .307 9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .311 9.7.1 Gemeinschaft – klein, flexibel, organisch und dezentral . . . .311 9.7.2 Gemeinschaft – anti-institutionell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .314 9.7.3 Emergente Gemeinschaften als plurale Gemeinschaften . . . .316 9.7.4 Gemeinschaft durch „belonging before believing“ . . . . . . . . .317 9.7.5 Gemeinschaft, Inklusion und Gleichberechtigung . . . . . . . . .319 9.7.6 Gemeinschaft und die Entwicklung der religiösen Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .320 9.7.7 Gemeinschaft als „Evangelium“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .323 9.7.8 Gemeinschaft und ihr missionarisches Wesen . . . . . . . . . . . . .324 9.7.9 Gemeinschaft als Abbild der Trinität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .325 9.7.10 Gemeinschaft als hermeneutische Autorität . . . . . . . . . . . . . . .326 9.7.11 Gemeinschaft als Ort eines kooperativen Egoismus – Emergente Vergemeinschaftung und Individualität . . . . . . . .327 9.7.12 Gemeinschaft als „communitas“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .329 9.7.13 Gemeinschaft und Leitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .331 9.7.13.1 Gemeinschaftliches Leiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .331 9.7.13.2 Dezentrale Leitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .334 9.7.13.3 Leiten als Organismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .334 9.7.13.4 Die Rolle der Hauptamtlichen / der Leitungspersonen 336 9.7.13.5 Die Leitungsperson als charismatischer Entrepreneur . . . . . . . . . . . . . . . .340 9.7.13.6 Team-Leitung: das APEPT-Modell . . . . . . . . . . . . . . .343 9.8 Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .344 10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen in der Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .346 10.1 Vorbemerkungen zu theologischen Schlüsselthemen in der „Emerging Church“-Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .348 10.1.1 Grundzüge emergenter theologischer Diskurse . . . . . . . . . . . .348 10.1.2 Theologie durch Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .355 10.1.3 Theologischer Diskurs durch Dekonstruieren . . . . . . . . . . . . .357 10.1.4 Zu den Schriftverständnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .360
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10.2 Christologische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .362 10.2.1 Jesus und das „Reich Gottes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .362 10.2.2 Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .364 10.2.3 „Reich Gottes“-Verständnisse in der „Emerging Church“Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .367 10.2.3.1 Das „Reich Gottes“ als „verlorene Botschaft“ . . . . . .367 10.2.3.2 Das „Reich Gottes“ als Transformation . . . . . . . . . . .368 10.2.3.3 Das „Reich Gottes“ präsentisch verwirklicht . . . . . . .369 10.2.3.4 Das Verhältnis von „Reich Gottes“, Kirche und Welt 372 10.2.3.5 McLarens „Reich Gottes“-Vorstellung . . . . . . . . . . . .374 10.2.3.6 Frosts und Hirschs „Reich Gottes“-Vorstellungen 376 10.2.3.7 Aufheben eines Dualismus von profan und sakral 378 10.2.3.8 Das „Reich Gottes“ und sozialpolitisches Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .379 10.3 Missionstheologische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .386 10.3.1 Zum Missionsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .386 10.3.2 Zum Begriff „missional“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .388 10.3.3 Evangelisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .392 10.3.4 Konversion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .397 10.3.5 Inkarnierendes vs. attraktionales Missionsmodell . . . . . . . . . .399 11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .403 11.1 Die Postmoderne als Krisenzeichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .404 11.1.1 Zum Begriff „Postmoderne“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .404 11.1.2 Der Begriff „Postmoderne“ als Hoffnungsbegriff . . . . . . . . . .407 11.1.3 Der Begriff „Postmoderne“ als Kritik an der „Moderne“ . . . .410 11.1.3.1 Ablehnung der „Moderne“ als philosophisches Konzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .410 11.1.3.2 Ablehnung der „Moderne“ als „vergangener“ Ausdruck der Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .411 11.1.3.3 Ablehnung der „Moderne“ als historisches Auftreten der Kirche mit kolonialem Missionsverständnis . . . . 412 11.2 Kritik an religiösen Organisationen und religiöser Praxis . . . . . . . . .412 11.3 Krise der Christenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .417 11.3.1 Zum Begriff „Christendom“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .417 11.3.2 „Christendom“ und „Post-christendom“ in der „Emerging Church“-Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . .418 11.3.4 Kritik an „Christianity“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .420 11.3.5 Der Vorschlag einer „Emergence Christianity“ . . . . . . . . . . . .424 11.4 Krisen der Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .426
Inhalt
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12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .428 12.1 Der Begriff „Spiritualität“ in der Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . .428 12.2 Der Begriff „Authentizität“ in der Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . .430 12.3 Kritik an religiösem Konsumverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .431 12.4 Gottesdienstliches Leben und spirituelle Ausdrucksformen . . . . . . .433 12.4.1 „Worship“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .433 12.4.2 Predigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .441 12.5 Bedeutung des Ortes und der Räumlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . .444 12.6 „Praxis“ als christliche Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .447 13. Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation 450 14. Einordnung in missionswissenschaftliche und kirchentheoretische Debatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .465
Abschnitt III Dekonversionstheoretische Verständigungüber den Unter suchungsgegenstand„Emerging Church“-Konversation . . . . .477 1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . .479 1.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .479 1.2 Zum Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .481 1.3 Unterscheidung zwischen Konversion und Dekonversion . . . . . . . . .483 1.4 Inhaltliche Merkmale der dekonversiven Prozesse . . . . . . . . . . . . . . .488 1.5 Phasen dekonversiver Prozesse – Dekonversion als integratives Prozessmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .493 1.5.1 Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .496 1.5.2 Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .499 1.5.3 Aktives Engagement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .501 1.5.4 Begegnung mit Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .501 1.5.5 Interaktion mit Alternativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .504 1.5.6 Entschluss zur Trennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .504 1.5.7 Konsequenzen in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .505 1.6 Zusammenfassung bisheriger Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .505 1.7 Intraperspektivische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .505 1.8 Demografische Hinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .508 1.9 Dekonversionsverläufe im religiösen Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .509
16
Inhalt
2. Diskussion der „Emerging Church“ hinsichtlich dekonversiver Merkmale und Phasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .511 2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .511 2.2 Diskussion anhand der Themencluster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .513 2.2.1 Die Thematisierung der Veränderung der religiösen Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .514 2.2.2 Die Bedeutung der Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .520 2.2.3 Grundzüge emergenter theologischer Diskurse . . . . . . . . . . . .523 2.2.4 Die Thematisierung der Verhältnisbestimmung zum Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .525 2.2.5 Die Bedeutung von Werten, Haltungen, Praktiken . . . . . . . . .528 2.2.6 Emergente Protagonisten und die verschiedenen Dekonversionstypen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .530 2.2.7 Diskussion der Differenzen zwischen Dekonvertiten und emergenten Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .535 2.3 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .536
Abschnitt IV Theologische Verständigung über den Untersuchungs gegenstand „Emerging Church“-Konversation . . . . . . . . . . . . . . 537 1. Konzeption des Zweifels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .539 1.1 Verhältnisbestimmung zwischen Dekonversion und Zweifel . . . . . .539 1.2 Theologische Standortbestimmungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .544 1.2.1 Verortung in den gegenwärtigen Debatten . . . . . . . . . . . . . . . .544 1.2.2 Zweifel als Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .546 1.2.3 Glaube als Glaubensgewissheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .547 1.2.4 Das Verhältnis zwischen glauben und bekennen . . . . . . . . . . .550 1.2.5 Zweifel als Existenzial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .553 1.2.6 Zweifel und Unglaube . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .557 1.2.6.1 Zweifel, der zum Unglauben führt . . . . . . . . . . . . . . .557 1.2.6.2 Glaube als „fiducia“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .558 1.2.6.3 Glaube als Einwohnung Christi . . . . . . . . . . . . . . . . . .560 1.2.7 Zweifel als Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .561 1.3 Zusammenfassung und Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .567
Inhalt
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation . . . . . . . . . . . . . . .571 2.1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .571 2.2 Veränderung der religiösen Orientierung – Aspekte einer theologischen Anthropologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .572 2.2.1 Die Thematisierung der Entwicklung der religiösen Identität 572 2.2.2 Der Umgang mit dem Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .575 2.2.3 Post-christliche Spiritualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .581 2.2.4 Die Gottebenbildlichkeit des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . .584 2.2.5 Das Personale des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .590 2.2.6 Die Emotionalität und die Erlebnisorientierung des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .592 2.2.7 Mögliche und nicht mögliche Authentizität . . . . . . . . . . . . . . .595 2.2.8 Exkurs: Zweifel in zeitdiagnostischer Perspektive – die „Emerging Church“-Konversation als „kulturelles“ Phänomen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .597 2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .600 2.3.1 Emergente Gemeinschaften als posttraditionale Vergemeinschaftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .600 2.3.2 Das Verhältnis von Individualität und Sozialität . . . . . . . . . . .602 2.3.3 Partizipation als Grundprinzip emergenter Relationalität . . .605 2.3.4 Verkörperung und Verkündigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .610 2.3.5 Exkurs: Hirschs und Frosts Inkarnationsmodell . . . . . . . . . . .615 2.3.6 Die notwendige Institutionalität christlicher Sozialität . . . . . 617 2.3.7 Die Ekklesialität emergenter Gemeinschaften . . . . . . . . . . . . .621 2.3.8 „Emerging Church“-Gemeinschaften als homogene Einheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .629 2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . .635 2.4.1 Aspekte theologischer Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .635 2.4.2 Die Begegnung mit dem Anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .643 2.4.3 Über einen begrenzten und notwendigen Dualismus . . . . . . .644 2.4.4 Jesus als Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .647 2.4.5 Verständigung über die Kreuzestheologie . . . . . . . . . . . . . . . .648 2.4.6 Diskussion über „Reich Gottes“-Verständnisse . . . . . . . . . . . .651 2.4.7 Diskussion zu missionstheologischen Aspekten . . . . . . . . . . .658 2.5 „Kontexte“ in der Konversation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .663 2.5.1 Kontextbezogene Krisenerfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .664 2.5.2 Exkurs: Zum Verständnis von Postmoderne . . . . . . . . . . . . . .666 2.6 Werte, Haltungen und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .668 3. Zusammenfassung und Nachbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .673
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Inhalt
Abschnitt V Ausblick und Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .677 1. Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .679 2. Systematisch-theologischer Ausblick: Hartmut Rosenaus Ansatz des sapientialen Umgangs mit dem Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .680 3. Streiflichter für gemeindliches Handeln: Umgang mit Zweifelnden . 691 4. Weiterführende Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .695
Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .697 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .699 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .701 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .701 Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .767
Abschnitt I Einleitung, Aufbau und Einordnung des Untersuchungsgegenstandes „Emerging Church“Konversation
„emerging church is a passion for people who are stuck with a congregation of people who don’t understand half of what they say. emerging church has indeed emerged from the big stone doors of the so called local church to move themselves (usually a 18–30s group) down the road to the pub. the emerging church can now express themselves in the language they use (graphics, candles, trance music, beer, whatever). to me, that’s what it seems to be. it’s a radical redecoration, break up all the furniture and stick it back together again, take all the bits done within a church setting and make them make sense for their generation, their cultural context.“1 Bloggerin Anna Dodridge
1. Einleitung 1.1 Bedeutung des Themas Die „Emerging Church“-Konversation ist als überkonfessionelles Phänomen2, vornehmlich jedoch in protestantischen Kontexten, in den 1990er-Jahren im angloamerikanischen Raum, speziell in den USA und in Großbritannien (mit jeweils eigenen historischen Entwicklungen), auf der religiösen Landkarte erschienen.3 1 Dodridge: „I am Not Involved in Emerging Church“, http://www.emergingchurch.info/stories/ annadodridge/index.htm am 29.03.2018. 2 Cronshaw beschreibt die Konversation als „[…] global, cross-denominational movement that claim they are expressing new forms […].“ Cronshaw, „The Shaping of Public Theology in Emerging Churches“ (2009), 16. Aufgrund der Inhomogenität der verschiedenen Zugänge und Traditionen in der Konversation wird in der Literatur von einer Konversation („Emerging Conversation“) gesprochen. 3 John Drane beschreibt als einer der Ersten die „Emerging Church“-Konversation als trans�nationale Bewegung, die sich in der anglophonen Welt bewegt. Drane, „Editorial“ (2006). In der US-amerikanischen Untersuchung „Pew Forum on Religion and Public Life“ wird „Emer�ging Church“ als „non-denomination church group in the mainline protestant tradition“ identi� fiziert. Lugo / Stencel u. a., U.S. Religious Landscape Survey (2008), 105. 2010 wurde das US-amerikanische Netzwerk „Emergent Village“ in das US-amerikanische „Handbook of Denominations“ aufgenommen. Atwood, Art. „Emergent Village“ (2010). Vgl. Tickle, Emergence Christianity (2012), 113–114.
22
1. Einleitung
Der Ausgangsimpuls des Phänomens war das Empfinden von zumeist evangelikalen Protagonisten der „Gen X“4, dass vorherrschende Konzepte von gemeindlichem Handeln und gelebtem Christsein für „postmodern“5 geprägte Menschen unzureichend sind.6 Die Konversation wurde vorwiegend unter evangelikalen Christen populär und entwickelte sich gemäß Cooper zu einem „populist religious impulse“7. Die „Emerging Church“-Konversation stach durch ihre kritische Gegenwartsanalyse (Kritik an der „Moderne“ und das Empfinden in der „Postmoderne“ zu leben), Kritik an gemeindlichem Handeln, ihre kritische Ablehnung institutionalisierter Formen religiöser Vergemeinschaftung und theologische Dekonstruktion vor allem evangelikaler Theologie hervor. Protagonisten in der „Emerging Church“ verstehen das Phänomen als „Konversation“, als Kommunikations- und Freundesnetzwerk, das sich über punktuelle Begegnungen (z. B. Konferenzen, Blogs) sowie in Gruppen und Gemeinschaften organisiert.8 Darin setzen sich Protagonisten mit den Fragen, Herausforderungen und der Relevanz des christlichen Glaubens sowie gemeindlichem Handeln und grundlegender: religiöser Identitätsbildung, besonders unter Abgrenzung und Loslösung vormaliger religiöser Orientierung in postmodernen Zeiten, auseinander. Veränderungen religiöser Orientierung und 4
Also jenen, die zwischen 1961 und 1980 geboren wurden. Vgl. Flory / Miller, Gen X Religion (2000), 3. 5 Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit an dem Begriff „Postmoderne“ festgehalten. Für eine genaue Auseinandersetzung mit dem Begriff und Konzept siehe Abschnitt II Kapitel 11.1.1 Zum Begriff „Postmoderne“. 6 In dieser Arbeit entscheide ich mich aus satzästhetischen Gründen gegen eine integrative Schreibweise. So „bevölkern“ nicht emergente Protagonisten und Protagonistinnen, Forscher und Forscherinnen den Text, sondern ich traue den Lesern und Leserinnen zu, bei männlichneutralen Begriffen auch weibliche Repräsentanten gedanklich zu ergänzen. 7 Cooper: „Innovation, Populism, and the Conflict of Authority in American Protestantism“, Indiana Association of Historians 34th Annual Meeting ‚Conflict and Transformation‘, Bloomington 2014. Vgl. auch Cooper: „The Invention of the Emerging Church Movement“, http:// www.religiousstudiesproject.com/2014/10/10/the-invention-of-the-emerging-church-movement-by-travis-cooper/ am 18.05.2018. Vgl. auch Campbell / Teusner, „Internet and Social Networking“ (2015). Im Deutschsprachigen mit dem von Hubert Knoblauch in die Soziologie eingeführten Begriff der „populären Religion“ zu vergleichen. Knoblauch meint damit „generierte Formen von Religiosität“, die aus unterschiedlichen „historisch gewachsenen Religionen“ und wählbaren religiösen Angeboten bestehen. Knoblauch, „Populäre Religion“ (2000), 143. Lediglich der von Knoblauch beschriebene „populärkulturelle Grundzug“ ist für den Forschungsgegenstand in den frühen historischen Phasen noch nicht auszumachen. Knoblauch, Populäre Religion (2009), 195. Dabei vereint der Begriff „Emerging Church“ vieles: eine generationelle Revolution, eine theologische Kritik, eine organisationale Kritik, eine Kunstform oder auch eine philosophische Tendenz. 8 Dabei kristallisiert sich die „Emerging Church“-Konversation einerseits in kleinen lokalen, interessensgeleiteten Gemeinschaften. Andererseits formiert sich die Konversation als Netzwerk durch Konferenzen, Buchbeiträge sowie durch Online-Diskurse und hat Einfluss durch Websites, Blogs sowie Konferenzen und eine Vielzahl an Publikationen erlangt.
1.1 Bedeutung des Themas
23
eine integrierte ablehnende Haltung institutionalisierter religiöser Vergemeinschaftung in der „Emerging Church“-Konversation lassen eine auffallende Nähe zu Merkmalen von Dekonversionsprozessen erkennen. Durch das Aufkommen digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien hat die „Emerging Church“-Konversation zum einen seit dem Ende der 1990er-Jahre an Prominenz gewonnen und auch den kontinentaleuropäischen Raum erfasst. Zum anderen haben die digitalen Kommunikationstechnologien die „Emerging Church“ in ihren Debatten, zum Beispiel als Ort der Vergemeinschaftung, und in ihrem Selbstverständnis als Konversation geformt – offline und online.9 In dieser Arbeit wird an der Beifügung „Konversation“ festgehalten, die verdeutlicht, dass es sich bei der „Emerging Church“ um keine homogene, einheitliche Bewegung handelt.10 Obwohl sich inhaltliche und organisationale Orientierungen zeigen, wie sie sich etwa im Verlauf dieser Arbeit durch drei Strömungen darstellen lassen, kann nicht von einheitlichen inhaltlichen Überzeugungen und Praktiken gesprochen werden. Jedoch sind Konversationsthemen, theologische Motive sowie bestimmende Haltungen und Dynamiken auszumachen, die wiederum zu unterschiedlichen Überzeugungen führen können. Darum lässt sich die „Emerging Church“-Konversation als Bewegung beschreiben, die sich in Gruppen und Gemeinschaften kristallisiert sowie in Online-Diskursen agiert. Prominente Protagonisten in der Konversation verstehen sich als Gesprächspartner, Impulsgeber und „conversation starters“11. Vertreter und Sprecher gehen von veränderten Bedingungen aus, die unter dem Begriff „Postmoderne“ zusammengefasst werden. „Emerging Church“ ist der Versuch, eine Gesprächsplattform anzubieten, in der soziologische, kulturelle, gesellschaftliche und philosophische Veränderungen in den westlichen Kulturen mit der religiösen Identität ins Verhältnis gesetzt werden. In dieser Hinsicht ist ein grundlegender Impuls in der Konversation, der sich eng mit der Frage nach der Relevanz von christlichen Überzeugungen in den westlichen Kulturen verbindet, das Hinterfragen und Evaluieren der eigenen religiösen Orientierung. Dies zeigt sich, indem Protagonisten ihr Verhältnis zu den verschiedenen Kontexten (Kultur, Welt, Gemeinde / Kirche, Christentum), ihren religiös-biografischen Werdegang, ihre theologischen Überzeugungen, Praktiken sowie Haltungen thematisieren. 9 Vgl. dazu Campbell / Teusner, „Internet and Social Networking“ (2015). 10 Peter Rollins schrieb 2006: „While the term ‚emerging church‘ is increasingly being employed to describe a well-defined and well-equipped religious movement, in actual fact it is currently little more than a fragile, embryonic and diverse conversation being held between individuals over the Internet and at various small gatherings.“ Rollins, How (Not) to Speak of God (2006), 5. 11 Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“ (2010), 167.
24
1. Einleitung
Zum Kontext der „Emerging Church“-Konversation: Die Herausforderungen der Kirchen Das Auftreten der „Emerging Church“-Konversation im anglo-amerikanischen Kontext ist eingebettet in Veränderungen der religiösen Landschaften der letzten Jahrzehnte. Dazu gehören etwa der Mitgliederverlust der „mainline“-Kirchen in den USA seit den 1960er-Jahren, die Schrumpfung etablierter Großkirchen in Großbritannien,12 der Rückzug und Bedeutungsverlust christlicher Religion im Allgemeinen,13 Veränderungen im anglo-amerikanischen Evangelikalismus sowie der Exodus aus etablierten organisierten christlichen Gemeinschaften und Gemeinden in den westlichen Gesellschaften.14 Kinnaman und Lyons sprechen von einem Phänomen des „UnChristian Faith“15, das sich in den USA etabliert. Callum Brown spricht in diesem Zusammenhang sogar von dem „Death of Christian Britain“.16 Erklärt werden diese Veränderungen und Abbrüche von Vertretern der Säkularisierungs- sowie der Individualisierungsthese oder von Vertretern des religiösen Marktmodells. Dabei wird besonders in den USA und 12 Pickel / Müller, Church and Religion in Contemporary Europe (2009). Während der britische Soziologe Callum Brown diese Tendenzen für Großbritannien mit den Worten „Death of Christian Britain“ zuspitzt, verzeichnet der amerikanische Soziologe Robert Wuthnow einen massiven Wandel der religiösen Landschaft in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg. Brown, The Death of Christian Britain (2009). Wuthnow, Der Wandel der religiösen Landschaft in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg (1996). Wuthnow spricht angesichts der religiösen Vielfalt der modernen amerikanischen Gesellschaft etwa von einem „beyond christian america“. Wuthnow, America and the Challenges of Religious Diversity (2005), 35. Hadaway / Marler, „Growth and Decline in the Mainline“ (2006), 2. Hadaway und Marler benennen folgende Faktoren von „decline“: „When decline did occur, it did so as a result of severe conflict, schism, or, in a few instances, because of a denomation’s becoming severely out-of-step with American culture.“ A. a. O., 1. Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 22–96. 2010 hat das sozialwissenschaftliche Institut „Barna Group“ für die USA belegt: „[…] that by the end of the next decade 40 percent of all church-attending Christians will be worshipping God outside the parameters of a traditional congregational context.“ Zitiert in Tickle, Emer�gence Christianity (2012), 183. Vgl. Fuller / Sanders, „Phyllis Tickle Live 3D & Au Contraire Mon Frere II“, in: Homebrewed Christianity TNT (Podcast) 14.03.2014, https://homebrewed�christianity.com/2014/03/14/phyllis-tickle-live-3d-au-contraire-mon-frere-ii/ am 28.12.2016. 13 „For American religion, this cleavage has become increasingly apparent as a new basis of dif��ferentiation not only between, but also within, major religious bodies […] At present, the two sides seem to be deeply divided, comprising almost separate religious communities whose difference have become far more important than those associated with denominational traditions.“ Wuthnow, The Reconstructuring of American Religion (1988), 316. 14 Mit dem Begriff „Westen“ sind Länder gemeint, in denen die christliche Tradition und Kir�chen eine bedeutende Stellung in der Gesellschaft eingenommen haben. Im Kontext dieser Arbeit sind damit besonders Westeuropa (speziell Großbritannien) und die USA (aber auch Kanada, Neuseeland, Australien) gemeint. 15 Kinnaman / Lyons u. a., UnChristian (2007). Siehe weiter Kinnaman, You Lost Me (2011); Barna / Kinnaman, Churchless (2014). Siehe QR-Code im Vorwort. 16 Brown, The Death of Christian Britain (2009).
1.1 Bedeutung des Themas
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Großbritannien von einer „post-christendom“-Gesellschaft gesprochen.17 Die Vorherrschaft christlichen Gedankengutes, christlicher Wertvorstellungen und Weltdeutung scheint gebrochen zu sein. So haben christliche Gemeinschaften, Gemeinden und Kirchen keine Sonderstellung mehr in der Gesellschaft oder verlieren diese zunehmend und müssen ihre Relevanz neu begründen. Die Religionssoziologen Gladys Ganiel und Gerardo Marti heben hervor, dass die „Emerging Church“-Konversation eine Folge der gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Umbrüche in den westlichen Gesellschaften sei. Sie sagen: „The ECM is a distinct response to the wider social, political, economic, and religious forces that have shaped modernity in the West.“18 Das Entstehen der „Emerging Church“-Konversation ist in gewissem Sinn eine Sonderform christlich-religiöser Orientierung in Form eines vernetzten Diskurses, da sie sich nicht eindeutig in bestehende oder traditionelle Denominationen, Gruppen oder Gemeinschaften einordnen lässt.19 Dabei will die Konversation durch die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien als „Netzwerk von Freunden“20 agieren. Zur Bedeutung der Konversation sagt der US-amerikanische Ethnologe James Bielo: „To conclude […] I will say this: I find it no exaggeration to suggest that Emerging Christianity has become the most vocal, serious, and intense ‚conversation‘ for American Christians since the Religious Right’s rise to prominence beginning in the late 1970s […].“21 Bielo folgert, dass obwohl das Label
17 Vgl. Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 19–21. 18 Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement“ (2014), 28. 19 Zunächst ist die Konversation aus dem US-amerikanischen und britischen Evangelikalismus hervorgegangen und markiert damit einen weiteren Umbruch im anglo-amerikanischen Evangelikalismus seit den 1990er-Jahren. Durch die gesellschaftlichen Veränderungen (häufig als „Postmoderne“ beschrieben) wurde die Frage nach der Relevanz des christlichen Glaubens und der Gemeinde für den Evangelikalismus immer drängender. Frühzeitig wurde die Konversation für andere christliche Denominationen, Konfessionen und Gemeinschaften relevant. Henk de Roest sagt über die „Emerging Church“: „It is a Christian answer to a culture in which the close bonds between the individual and one single institution, i. e. one church, one party, one company, one marriage, are gone. Emerging belongs to a culture in which mobility and selectivity widen the horizon.“ de Roest, „Ecclesiologies at the Margin“ (2008), 261. 20 So beschreibt es etwa die Plattform „Emergent Village“. www.emergentvillage.com/about/ am 16.05.2012. 21 Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America“ (2009), 221. Die Bedeutung der Konversation hebt auch Ostwalt hervor. „For now, suffice to say that the Emerging phenomenon is one of the most important trends to affect the Christian Church in the latter twentieth and early twenty-first centuries.“ Ostwalt, Secular Steeples (2012), 204. Auf die Bedeutung der Konversation wurde von verschiedenen christlichen Gemeinschaften, Denominationen und Autoren gleichermaßen hingewiesen. „Emerging Church“ wurde be�sonders im US-amerikanischen Diskurs über die Zukunft der Religion in Nordamerika als die Zukunft des Christentums beschrieben. Fensham, Emerging from the Dark Age Ahead (2011).
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1. Einleitung
„Emerging Church“ in den USA (sowie in Großbritannien und darüber hinaus) in den letzten Jahren weniger verwendet worden wäre, die Konversation mit ihren Schwerpunkten weiterhin präsent sei.22 Die Religionssoziologen Ganiel und Marti verweisen auf den Einfluss, den die Konversation auf die religiöse Landschaft in den USA und Großbritannien hat, wenn sie sagen: „[…] the ECM is one of the most important reframings of religion within Western Christianity in the last two decades.“23 Fachdiskussion Die „Emerging Church“-Konversation hat sich in der theologischen Fachdiskussion zu „Kirche unter postmodernen Bedingungen“ im anglo-amerikanischen Raum und darüber hinaus etabliert.24
Die bedeutende konservative Zeitschrift „Christianity Today“ identifiziert die „Emerging Church“-Konversation als ein Phänomen, das Kultur und Kirche herausfordert. Crouch: „The Emergent Mystique“, http://www.christianitytoday.com/ct/2004/november/12.36.html am 20.06.2007. 22 Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 5. 23 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 5. 24 Hierin wird etwa der besondere Charakter der anglo-amerikanischen Praktischen Theologie sichtbar, wenn sie einen Schwerpunkt auf gesellschaftliche Veränderungen und mögliche Konsequenzen für theologische Arbeit legt. „Die Praktische Theologie in den USA hat […] einen hermeneutischen Grundcharakter. Die von tiefem gesellschaftlichem und kulturellem Wandel geprägte Situation soll ‚verstanden‘ werden.“ Grethlein, Praktische Theologie (2012), 133. Siehe dafür beispielhaft eine Veröffentlichung, die die anglo-amerikanischen Diskurse in den Blick nimmt: Bolger, The Gospel after Christendom (2012). Neben dem jährlichen Treffen der „American Academy of Religion“ 2013 (23.-26.11.2013) und 2014 („Is the Emergent / ing Church Important?“) hat sich auch 2015 eine Session in vier Vor�trägen mit der Konversation beschäftigt. Die vier Vorträge untersuchten aus verschiedenen Perspektiven die Bedeutung und das Potenzial der Konversation. Die „American Academy of Religion“ fand am 22. November 2015 unter dem Titel „M22-200: Is the Emergent / ing Church Important?“ statt. Das Panel wurde von Randy Reed, Appalachian State University, organis�iert. Reed präsentierte einen Vortrag zum Thema „The Southern Strategy: The Potential for Emerging Church Recruitment among Southern Millennials“. Folgende weitere Vorträge wur� den gehalten: „Certain of the Uncertain: The Emerging Church’s Quest for Authenticity and Meaning through Aesthetic Experience in the Technological Age“ von Shenandoah Nieuws�ma, University of North Carolina. „Playing Defense or Offense? The Theological Playbook of the Emergent / ing Church, with Some Armchair Quarterbacking“ von Michael Zbaraschuk, Pacific Lutheran University. Für die soziologische Debatte siehe Eller, Introducing Anthropology of Religion (2014), 173–174. Auch in der missionstheologischen Diskussion im osteuropäischen Raum ist die „Emerging Church“-Konversation, wenn auch nur am Rande, präsent. Bargár spricht etwa von einer „Emerging Church scene“ in Prag. Bargár, „The Emerging Church Movement“ (2015), 43. Oder bereits früher: Novák, „The Emerging Church“ (2008). Es werden Impulse für die tra� ditionellen Kirchen erhofft und erwartet. Bargár, „The Emerging Church Movement“ (2015), 28. So auch bei Perea, „Emerging Church“ (2010).
1.1 Bedeutung des Themas
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Zwar wurde die „Emerging Church“-Konversation in der deutschsprachigen theologischen Fachdiskussion wahrgenommen, aber bisher noch nicht ausführlich dargestellt und diskutiert.25 So verweist der Praktische Theologe Christian Grethlein auf den besonderen Umstand, dass in der Konversation die Biografie Einzelner als „human living documents“ Beachtung finde, und das als der Tradition gleichzuordnende Norm theologischer Reflexion.26 Grethlein dazu: „Auf jeden Fall verdient bei diesem Entwurf die Verbindung von Ernstnehmen der Individualisierung sowie des Bedürfnisses nach Gemeinschaftserfahrung Aufmerksamkeit.“27 Der methodistische Praktische Theologe Achim Härtner erkennt in der „Emerging Church“-Konversation eine aktuelle Herausforderung der Ekklesiologie28 und der Zürcher Praktische Theologe Thomas Schlag verweist etwa auf „emerging churches“, wenn er davon spricht, dass deutschsprachige Kontexte sich Inspiration und Motivation für das eigene Gemeindesein und die „kirchentheoretische Theoriebildung“ erhofften.29 Der Greifswalder Praktische Theologe Michael Herbst war der Erste, der auf die „Emerging Church“-Konversation (speziell die Protagonisten Dan Kimball und Robert Webber) im deutschsprachigen wissenschaftlichen Diskurs hinwies. Herbst diskutiert die Konversation im Hinblick auf kirchliche Leitungs-
25 Die Konversation hat in Diskursen auf Gemeindeebene auch die deutschsprachige (sowie andere westeuropäische) religiöse Landschaft(en) punktuell berührt. Dies ist sowohl für den protestantischen als auch für den katholischen Raum zu beobachten. Beispielhaft für den protestantischen Raum siehe Faix / Weißenborn, Zeitgeist (2007); Faix / Weißenborn u. a., Zeitgeist 2 (2009). Vogt, Das 1 × 1 der Emerging Church (2006). Hofmann, „Kirche XXL – Von der Megachurch zur Emerging Church“ (2007). Beispielhaft für den katholischen Raum siehe http://theologie.oehunigraz.at/files/2012/11/ Theologicum_Jaen13_web.pdf am 12.06.2013. Keller schildert die „Emerging Church“ als eine Sonderform christlicher Gemeinschaften in der katholischen Diskussion über Entwicklungen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Keller, „Der Wahrheitsbegriff in der Emerging Church Conversation“ (2013). Über den Einfluss im deutschsprachigen Raum siehe Abschnitt II Kapitel 3.5 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Deutschland. Die „Emerging Church“-Konversation ist auch in der europäischen kirchlichen Landschaft angekommen, wie Doornenbal für die niederländische PKN zeigt. Robert Doornenbal weist in seiner Dissertation auf ein niederländisches „Emerging Church“-Netzwerk hin („Emerging Netwerk“ www.emergingnetwerk.nl am 16.10.2014). Er merkt an, dass die größte Protestan�tische Kirche der Niederlande (PKN) die Absicht habe, Impulse aus der „Emerging Church“ in ihre Kirche zu integrieren. Das Impulspapier „De hartslag van het leven“ („Der Herzschlag des Lebens“) unter http://www.pkn.nl/site/uploadedDocs/AZ1126Visienota am 16.10.2014. 26 Grethlein, Praktische Theologie (2012), 133. 27 A. a. O., 132. Aktuell etwa auch in Grethlein, Kirchentheorie (2018), 243–245. 28 Siehe dazu die Beiträge von Achim Härtner in: Haubeck / Heinrichs, Gemeinde der Zukunft (2011). 29 Schlag, „Emotion, Entwicklung und Emergenz“ (2013), 399.
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1. Einleitung
herausforderungen unter postmodernen Bedingungen und hinsichtlich ihrer fluiden Vergemeinschaftungsformen.30 Daneben ist die „Emerging Church“-Konversation im anglo-amerikanischen Raum als Thema der Theologie in der Lehre und Forschung an Universitäten und Ausbildungsstätten verstärkt eingebracht worden.31 Christian Grethlein weist etwa darauf hin, dass die „Emerging Church“-Konversation zur Weiterentwicklung der Praktischen Theologie in den USA beigetragen habe.32 Die anhaltende Aktualität des Themas zeigt sich zudem in den wissenschaftlichen Veröffentlichungen der letzten Jahre über die „Emerging Church“Konversation.33 Die Beschäftigung mit der „Emerging Church“-Konversation in der vorliegenden Arbeit wird (a) dadurch gerechtfertigt, dass die „Emerging Church“ in den USA und Großbritannien in besonderer Weise religiöse Transformationsprozesse und die Bedeutung von christlicher Gemeinschaft unter postmodernen Bedingungen thematisiert. Der Wichtigkeit des Auftretens und der Entfaltung in den angloamerikanischen religiösen Landschaften soll nachgegangen und deren Relevanz für den gegenwärtigen deutschsprachigen Kontext geprüft werden. (b) Zudem wird die Beschäftigung mit der Konversation von der Fachdiskussion nahe-
30 Herbst, „Geistliche Führung wahrnehmen in der Kirche der Postmoderne“ (2008), 242–243. Herbst, Wachsende Kirche (2009), 66–80. Ein Beitrag, der die Konversation ebenfalls auf die Konsequenzen kirchlichen Leitungshandeln im Kontext der religiösen Landschaft in Europa hin befragt, ist jener von Norbert Izsák. Izsák, „What is Emerging in Western Europe / USA“ (2012). 31 Tony Jones schreibt, dass „emergente“ Gedanken sich bereits in theologischen Angeboten von theologischen Universitäten fänden und diese die akademische Welt beeinflussten „Emergent texts have taken up residence on syllabi across the theological spectrum in a number of seminaries and divinity schools, identifying this trend as – one harbinger of the pervasiveness of all things emergent in the church […].“ Jones, The New Christians (2008), 56. An einzelnen Universitäten und Colleges wurden „Emerging Church“-Studiengänge zugänglich ge� macht. Das Cliff College in Großbritannien bietet beispielsweise ein Postgraduiertenstudium mit dem Schwerpunkt „Emerging Church“ an. Vgl. http://www.cliffcollege.ac.uk/page/emer�ging_church am 18.03.2008. Das „Theological Bethel Seminary“ bietet einen „Doctor of Minis�try“-Titel an, der gedacht ist für: „developing leaders of excellence who are uniquely equipped to serve as senior leaders in larger emerging churches“. www.seminary.bethel.edu am 08.05.2010. 32 Grethlein, Praktische Theologie (2012), 130–132. Dabei geht Grethlein auf die Rolle des emergenten Protagonisten Tony Jones ein. Tony Jones ist ordiniert in der „National Association of Congregational Christian Churches“, einem Verbund von über vierhundert Einzelgemeinden. Er erwarb einen Master am Fuller Theological Seminary und wurde promoviert am „Prince�ton Theological Seminary“. 33 Exemplarisch sei hier auf eine aktuelle philosophische Studie verwiesen: Moody, Radical Theo� logy and Emerging Christianity (2015).
1.2 Bestimmung und Eingrenzung
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gelegt, die ersichtlich macht, dass sie als praktisch-theologisches Thema wahrgenommen wurde und im anglo-amerikanischen Raum Bedeutung erlangt hat. Für den deutschsprachigen Raum lässt sich jedoch auf eine ungenügende Kenntnisnahme dieses Themas schließen.
1.2 Bestimmung und Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes „Emerging Church“ 1.2.1 Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes Die „Emerging Church“-Konversation agiert als Diskurs mit verschiedenen Kristallisationsformen.34 • Zunächst kann von der „Emerging Church“-Konversation in Form von emergenten Gemeinschaften gesprochen werden.35 Gemeinschaften sind einerseits dann emergent, wenn sie sich selbst als solche bezeichnen,36 wenn sie eine Mehrzahl der Merkmale der „Emerging Church“ aufweisen (jeweils abhängig von der Definition) oder Leitungspersonen der jeweiligen Gemeinschaft an der Konversation teilnehmen. Zudem haben sich Gemeinschaften als prototypische Gemeinschaften etwa durch die betreffenden Leitungspersonen herausgebildet. Schließlich kann festgestellt werden, dass es Gemeinschaften gibt, die in der „Emerging Church“-Konversation als progressiv und innovativ gelten und als beispielhaft angeführt werden, sich
34 In dieser Arbeit wird der Begriff „Diskurs“ in einem landläufigen Sinn als die Beschreibung einer Debatte, die in unterschiedlichen Kontexten Gestalt annimmt, verwendet. Ein exemplarisches literarisches Zeugnis eines Diskurses ist die Veröffentlichung: Russinger / Field, Practitioners (2005). 35 Die Bezeichnung „Emerging Church“ wird synonym mit der deutschen Übersetzung „emer� gent“ verwendet. Dies ist nicht zu verwechseln mit der Unterscheidung der englischen Begriffe „emerging“ und „emergent“. Zur genaueren begrifflichen Unterscheidung siehe Abschnitt II Kapitel 1.3.1 „emerging“ und „emergent“. 36 Bob Whitesel spricht in seiner Untersuchung an, wie eine Gemeinschaft zu ihrer Bezeichnung kommt: „[Emerging Church] is a self applied label, [it] connotes perceived parallels with the so-called emerging postmodern philosophy […] emerging churches are a branch of Christian expression created and led by young people.“ Whitesel, Inside the Organic Church (2006), X. So auch Lloyd: „At the same time, the Emergent identity is openly available to anyone, or any group who desires to take up the label. This has resulted in a host of interesting emergent-style identities. This engenders what I call a selfstyled inclusion for people to engage the movement on their own terms, and at their own comfort level.“ Chia, „Emerging Faith Boundaries“ (Dissertation, University of Missouri-Columbia, 2010), 203.
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1. Einleitung
selbst aber nicht als emergent bezeichnen würden.37 Hier zeigt sich bereits, dass die Grenzen des Untersuchungsgegenstandes verschwimmen. Die Selbstbezeichnung als emergent kann auch zusätzlich zu einer Denominationszuschreibung erfolgen. In den später angeführten Studien wird deutlich, dass emergente Gemeinschaften und Protagonisten einer Konfession oder Denomination angehören können, sich als „independent“ beschreiben oder als situativ punktuelle Begegnungen im unorganisierten Segment des religiösen Feldes verorten können.38 Gleichzeitig muss darauf hingewiesen werden, dass es Protagonisten gibt, die sich als emergent beschreiben und Teil einer Gemeinschaft sind, die nicht als emergent zu bezeichnen ist. Darüber hinaus gibt es Protagonisten, die Teil der Konversation sind und keiner lokalen Gemeinschaft angehören. Eine Partizipation an der Konversation geschieht neben Veröffentlichungen durch punktuelle und situative Berührungen mit der Konversation oder durch die Teilnahme an den verschiedenen Veranstaltungen und Diskursen – online und offline.39 Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen eine selbstbestimmte Partizipation an der Konversation. Auch hier ist die Selbstbezeichnung als emergent von zentraler Bedeutung. 37 Ein Beispiel dafür ist die „Ikon“-Gemeinschaft in Belfast. http://ikonbelfast.wordpress.com am 16.12.2014. Ich folge Moody, die von einer grundlegenden Gemeinsamkeit des „Emergenten“ spricht und dies über den Begriff „Milieu“ definiert. Moody dazu: „Given this approach to definition, communities that express their identity in the language of emergence, alternative worship and / or fresh expressions of church can all be seen to variously inhabit the discursive and performative space of the emerging church milieu.“ Moody, „I Hate Your Church; What I Want is My Kingdom“ (2010), 498. 38 Mit dem Begriff einer „situativen Vergemeinschaftung“ sind jene flüchtigen Vergemeinschaftungen gemeint, die nicht notwendig an dauerhafte Vergemeinschaftung gebunden sind. Gebhardt, „Flüchtige Gemeinschaften“ (2010), 181. 39 Es fällt auf, dass das Konzept der Zugehörigkeit bei der durch digitale Informations- und Kommunikationstechnologien geprägten Konversation schwer zu umreißen ist. Es gibt Pro tagonisten, die nicht in emergenten Gemeinschaften beheimatet sind oder noch nie an emergenten Konferenzen teilgenommen oder emergente Protagonisten getroffen haben. Trotzdem können sie Teil der „Emerging Church“-Konversation sein und diese vorantreiben, da sie etwa Beiträge prominenter emergenter Protagonisten lesen und von diesen geprägt werden (passiv), zu ähnlichen emergenten Themen vergleichbare Aussagen tätigen (die verlinkt werden) oder emergente Aussagen kommentieren und weiterverbreiten. Zugehörigkeit ist demnach nicht über Mitgliedschaft definiert, sondern über Teilnahme an den Diskursen. Es kann analog zum Ansatz von Adam Reed, Professor an der University of St. Andrews, gedacht werden, der die These vertritt, dass durch „Bloggen“ (d. h. durch interaktive, digitale Kommunikation), in seinem Beispiel: über die Stadt London, ein Beitrag zu einem gemeinschaftlichen „Stadtzugehörigkeitsgefühl“ etabliert werden könne, obwohl die Blogger die Stadt nicht durch reale Besichtigungen kennen würden. Reed verfolgt die These, dass „[…] knowing London […] [is] derived from techniques for knowing the Internet“. Reed, „Blog This“ (2008), 391.
1.2 Bestimmung und Eingrenzung
31
Eine lose Form der Partizipation an der Konversation zeigt sich in der Berührung mit Medien (Bücher, Magazine, Websites, Konferenzen, Studientage, CDs, DVDs, Blogs etc.), die sich mit emergenten Fragen und Impulsen auseinandersetzen. Dies führt jedoch nicht zwangsläufig zu einer Selbstidentifikation als emergent. Zu beachten ist, dass bestimmte „Emerging Church“-Gemeinschaften besonders durch ihre Leitungspersonen einflussreicher sind, als durch die tatsächliche Größe der lokalen Gemeinschaft vermutet werden kann. So hat „House for all Sinners and Saints“ etwa 200 Gottesdienstfeiernde, aber Tausende „follower“ auf Twitter und ist durch die Prominenz der Pastorin Nadia Bolz-Weber international bekannt.40 • Die „Emerging Church“-Konversation ist außerdem stark durch die Präsenz und Kommunikation einzelner charismatischer Protagonisten durch Veröffentlichungen sowie im Internet durch die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien bestimmt: Websites, Blogs, Foren, Netzwerke, Podcasts, Twitter-Feeds – das alles sind Stichworte eines OnlineDialogs, die maßgeblich das Entstehen und Fortlaufen der „Emerging Church“-Konversation prägen. Das Internet sowie Online-Netzwerke dienen einerseits als Plattform für „charismatische Stars“ der „Emerging Church“-Konversation, wie etwa Brian McLaren, Rob Bell, Tony Jones, Peter Rollins, Nadia Bolz-Weber oder Rachel Held Evans sowie für andere Protagonisten.41 Andererseits dienen sie als Kommunikations- und Vergemeinschaftungsorte. Nach dem bisher Gesagten soll darauf hingewiesen werden, dass die „Emerging Church“-Konversation als „Diskursraum“ und unter der kirchentheoretischen Dominante der Bewegung verstanden wird.42 Ausgehend 40 http://www.nadiabolzweber.com am 23.03.2018. 41 Sie verwenden Twitter, Facebook, YouTube, Vimeo, Blogs und andere Formen der virtuellen Präsenz und sind damit Teil einer Online-Konversation. Beispielhaft siehe http://brianmclaren.net/ blog/ am 10.10.2011. http://jonnybaker.blog.com 10.10.2010. http://www.emergentkiwi.org am 07.02.2009. 42 „Diskurs“ wird im Sinne einer Debatte verwendet, die ein komplexes und spannungsreiches Handlungsfeld beschreibt, durch das Bruchlinien verlaufen und Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Akteuren stattfinden. Die Konzeptualisierung der „Emerging Church“ als Bewegung ist bei Ganiel und Marti als Neue Religiöse Bewegung oder bei Tony Jones als Neue Soziale Bewegung zu finden. Vgl. Abschnitt II Kapitel 7.4 Tony Jones „The Church is Flat“ (2011) und Abschnitt II Kapitel 7.6 Gla� dys Ganiel and Gerardo Marti „Deconstructed Church“ (2014). James Bielo beschreibt die Bewegung folgendermaßen: „Might we conceptualize Emerging Christianity as an unfolding field of thought and practice, characterized by particular points of dialogue and populated by a variety of Christian institutions and actors […].“ Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America“ (2009), 220.
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von einem solchen doppelten Verständnis wird einerseits nach den verschiedenen verdichteten Motiven innerhalb des Diskursraumes sowie verschiedener Positionierungen dazu gefragt. Andererseits wird die Konversation im Sinn einer Bewegung als „soziales Durchgangsphänomen“ mit Hauschildt und Pohl-Patalong folgendermaßen verstanden: Der Begriff der sozialen Bewegung beschreibt einen Zusammenhang von Individuen und / oder Gruppen, die ein Veränderungsinteresse eint, aber nicht notwendig weiter organisatorisch über Rollenspezifizierungen strukturiert miteinander verbunden sind, wobei eine hohe symbolische Integration (mit entsprechender emotionaler Verbundenheit) besteht. […] Dabei können einzelne Individuen mit Charisma zu Kristallisationspunkten werden.43
Spezifizieren lässt sich dieses Verständnis über die „Emerging Church“ mit James Smith, der 2005 erstmals von einer „growing sensibility“, genauer gesagt einer „postmodern sensibility“ spricht und nicht von einer „Denomination“, die dieser Bewegung gemeinsam ist.44 Flores spricht hinsichtlich der „Emerging Church“-Konversation von „[…] mood, generative conversation, dialogue, phenomenon, even as a friendship amongst its church leaders that share common features.“45
43 Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche (2013), 144. Die Autoren sagen weiter: „Man kann den Typus der Bewegung streng auf die moderne Gesellschaft beziehen, in der sich Individuen in der zweckrationalen Verfolgung gemeinsamer Interessen an einer Veränderung der Gesellschaft zusammenschließen. Bewegungen sind Ausdruck einer Problemlage, die die etablierten Institutionen und Organisationen nicht ausreichend wahrgenommen haben. Je ausgeprägter die Problemlage ist oder je weniger rezeptiv sich die herrschenden sozialen Einheiten gegenüber den Fragestellungen erweisen, desto stärker prägt sich die Bewegung aus und ergreift immer mehr Individuen […].“ Leitend für den „Bewegungs“-Begriff ist nach Rademacher weiter: „Unter einer Bewegung wird ein Kollektivakteur verstanden, ‚mobilisierte Netzwerke‘, die auf der Grundlage einer kollektiven Identität mit unterschiedlichen Handlungsstrategien versuchen, sozialen Wandel herbeizuführen oder zu verhindern […]. Bewegungen sind als Ganze keine Organisation. Ihre Außengrenzen sind nur unscharf zu ziehen, Autorität ist nur informell verteilt und nicht zentralisiert. Sie haben keine formellen Mitglieder, sondern Teilnehmer und Aktivisten sowie Sympathisanten.“ Rademacher, „Makler“ (2010), 121. 44 Smith, „Emerging Church“ (2005), 40. 45 Flores, „An Exploration of the Emerging Church in the United States“ (2005). Sweatman spricht von „milieu“ in der Tradition des Soziologen Colin Campbell „cultic milieu“. Sweatman, „Derridoxology“ (Master of Arts, The Florida State University, 2016), v. Vgl. auch Wollschleger, der von einer „subcultural identity“ spricht. Wollschleger, „Disenga�ged and Indistinct“ (2015). Der emergente Protagonist Kimball spricht von einem „mindset“, das für Partizipienten der Konversation auszumachen sei. Kimball, The Emerging Church (2003), 14.
1.2 Bestimmung und Eingrenzung
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Damit wird nicht primär danach gefragt, was und wer „Emerging Church“ ist, sondern, wie Bielo sagt: „[…] ‚what are the categories that constitute Emerging as a viable form of identity‘, ‚what are the relevant histories of this discursive field‘, and ‚what do social performances of Emerging look like‘.“46 Damit wird neben den übereinstimmenden Überzeugungen als gemeinsame Größe und differierenden Überzeugungen, danach gefragt, wie sich die verschiedenen Überzeugungen zeigen und warum es zu diesen Überzeugungen kommt. Während Bielo auf eine „form of identity“ verweist, kann analog mit Moody von einem „emergent milieu“47 gesprochen werden, das sich durch eine gemeinsame Orientierung kennzeichnet.48 Es erweist sich als hinreichend begründet von einer einheitsstiftenden Debatte sprechen zu können.
1.2.2 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Da die „Emerging Church“-Konversation ein fluides, sich über einige Jahrzehnte entwickelndes und in ihren Strömungen differenziertes Phänomen ist, ist es wichtig, den Zugang zum Untersuchungsgegenstand zu klären. Die Eingrenzung des Untersuchungsfeldes erfolgt aufgrund folgender vier Kriterien: 1. Die „Emerging Church“-Konversation wird anhand ihrer bedeutenden und prominenten Protagonisten wahrgenommen. Die Prominenz und der Einfluss der jeweiligen Protagonisten wird eruiert durch die Anzahl der Publikationen / Beiträge (z. B. auch durch Blogs, Podcasts oder Ähnlichem),49 Verantwortung in „Emerging Church“-Netzwerken oder „Emerging Church“-nahen Netzwerken und der öffentlichen Wahrnehmung 46 Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America“ (2009), 220. 47 Moody, „I Hate Your Church; What I Want is My Kingdom“ (2010), 12. 48 Katherine Sarah Moody nimmt eine ähnliche Gemeinsamkeit wahr und weist auf ein differenziertes „emerging church milieu“ hin, das sich auf folgende diskursive Cluster beschränke: „(1) ‚glocal‘ contextualisation, (2) ‚ancient-future‘ traditions, (3) organisational experimentation, (4) exploring postmodern thought, (5) (re)thinking theology, and (6) socially, politically and environmentally just living.“ A. a. O., 498. Moody folgert, dass während „fresh expres� sions of Church“ (fxC) sich mehr mit dem ersten Anliegen beschäftigten, Protagonisten der „alternative worship“-Szene sich stärker mit dem zweiten Punkt beschäftigten. Die „Emerging Church“-Konversation verortet sie schwerpunktmäßig beim vierten Diskurs-Cluster. A. a. O., 499. Auf diese Hinweise wird in der Unterscheidung der Begriffe und Konzepte eingegangen. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 1.3.2 „fresh expressions of Church“. 49 Hier ist etwa die vom „Emergent Village“ und dem „Baker“-Verlag gegründete Reihe „Emersion“ zu beachten, da sie relevante Autoren und Themen der „Emerging Church“-Konversation in ihrer Reihe, wenn auch nicht vollständig, präsentiert. Siehe dazu http://bakerpublishinggroup. com/series/emersion-emergent-village-resources-for-communities-of-faith am 28.12.2016.
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über diesen Diskurs. Obwohl Protagonisten in der „Emerging Church“- Konversation es ablehnen, Führungspersönlichkeiten des Phänomens auszumachen, kann einigen Protagonisten eine de facto-Führungsrolle nicht abgesprochen werden.50 2. Zusätzlich wird darauf geachtet, dass neben Print-Veröffentlichungen die Online-Diskurse, etwa auf Plattformen wie die US-amerikanische „Emergent Village“ oder die britische Plattform „Emergent UK“51, Blogs52, Konferenzen53 oder für die Konversation einschlägige Medien berücksichtigt werden.54 Diese werden im Rahmen der wahrgenommenen empirischen Studien beachtet (Ganiel und Marti). Eigens wird eine Auswahl von drei
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Die Prominenz ist beispielsweise auch dadurch sichtbar, dass US-amerikanische Medien das Thema aufgegriffen haben. Dazu gehören: „The New York Times“, „The LA Times“, „The Wall Street Journal“, „Time“, „US News and World Report“, „MSNBC“, „PBS“, „Nightline“ oder „Christianity Today“ (bedeutend für den US-amerikanischen Evangelikalismus). Diese lassen sich beispielsweise dadurch eruieren, dass man die Verantwortlichen des nationalen Leitungsteams für das „Emergent Village“-Netzwerk in den Blick nimmt. Diese sind: Brian D. McLaren, Joseph R. Myers, Ivy Beckwith, Diana Butler Bass, Rodolpho Carrasco, Tim Keel, Heather Kirk-Davidoff, Mark Oestreicher, Chris Seay, Karen Ward, David Robertson. http:// www.emergentvillage.com/about-information/board-of-directors am 16.04.2009. Tony Jones, Doug Pagitt, Spencer Burke, Brian McLaren, Dan Kimball, Andrew Jones und Chris Seay argumentieren in einem Artikel vom 02.06.2005 mit der Überschrift: „Response to Recent Criticism“: „Contrary to what some have said, there is no single theologian or spokesperson for the emergent conversation. We each speak for ourselves and are not official representatives of anyone else, nor do we necessarily endorse everything said or written by one another.“ www.theooze.com/articles/print.cfm?id=1151 am 02.06.2005. Dagegen argumentieren Kevin DeYoung und Ted Kluck: „But if seven men get together to respond to their critics in one article, they should at least admit they not only share much common ground, but they are also some of the lead influencers […] in the conversation.“ DeYoung / Kluck, Why We’re Not Emergent (2008), 19. So auch Hammett: „An Ecclesiological Assessment of the Emerging Church Movement“, http://www.ateam.blogware.com/AnEcclesiologicalAssessment.Hammett.pdf am 12.02.2014. www.emergentvillage.com am 16.05.2012 und http://www.emergent-uk.org am 05.06.2012. Wie beispielsweise „The Jesus Creed“. www.jesuscreed.org am 02.06.2005. Dieser Blog wurde von Scot McKnight, Theologieprofessor am „Chicago’s Northpark Seminary“ geführt. Daneben wird in dieser Arbeit Bezug genommen auf: www.theooze.com 19.07.2009 (Spencer Burke). Die US-amerikanischen emergenten Konferenzen „Solarize“ (und deren nachfolgende Or�ganisation http://hatcheryla.com 12.09.2016), neben „Emergent Village“, oder auch das bri�tische „Greenbelt“-Festival sind prominente Orte, um mit der Konversation in Berührung zu kommen. Weitere Informationen, wenn auch mit beschränkter Auswahl, sind zu finden unter: http://www.opensourcetheology.net/node/849 am 18.03.2008. Ähnliche Tagungen wurden vom Grand Rapids Theological Seminary veranstaltet. Vgl. http://grts.cornerstone.edu/resources/ tpoints/fa05 am 18.03.2008. Beispielhaft sei genannt: http://www.relevantmagazine.com am 29.12.2016. Oder https://sojo.net am 29.12.2016. Zusätzlich ist Literatur durch veröffentliche Diskussionen in Zeitschriften und Blogs zugänglich. http://www.christianitytoday.com/ct/2008/mayweb-only/119-32.0.html am 11.02.2015.
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prominenten Podcasts beachtet.55 Mit diesem Zugang wird Katherine Sarah Moodys Kritik aufgenommen, die davon spricht, dass eine Darstellung der „Emerging Church“-Konversation begrenzt sei, wenn sie, methodisch gesehen, die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien nicht beachte. Sie folgert: These approaches, both supportive and critical, produce unrealistic pictures of emerging Christian communities: they neglect the possible disparity between the way in which individual authors and leaders articulate their identities in books […] interviews […] and public mission / values / descriptive statements […] and the way in which these communities express themselves in more informal and everyday situations, in the ordinary life of the community.56
In dieser Arbeit wird nicht auf Twitter-Feeds eingegangen, da dies einen eigenen methodischen Zugang erfordern würde, wie es in der digitalen Ethnografie geschieht. http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/274/599 am 11.02.2015. An einigen Stellen verschwimmen die Print- und Online-Diskurse. Es gibt Veröffentlichungen, die eine Zusammenstellung von Weblog-Beiträgen sind. Während diese Materialien kontextuelle Resonanzen der „Emerging Church“-Konversation sind, sind sie häufig repetitiv und uneditiert. Beispielhaft: Burke / Peper, Making Sense of Church (2003); Kimball, They Like Jesus but Not The Church (2007). 55 Der erste Podcast, der sich mit den Anliegen der „Emerging Church“-Konversation aus�einandergesetzt hat, war „e-merg“. http://yeredherringe.blogspot.de am 10.12.2016. Das Ziel des mittlerweile eingestellten Podcasts war: „a global conversation about the future church that is emerging now. In each podcast a guest reviews blogs, books, events and more.“ Für diese Arbeit beachtet wurden folgende Podcasts (Podcast 01: Ryan Bolger, Podcast 02: Aaron Flores, Podcast 03: Steve Taylor, Part One, Podcast 03: Steve Taylor, Part Two, Podcast 04: Karen Ward, Podcast 05: Roger Saner). Besondere Beachtung verdient in dieser Arbeit der US-amerikanische Podcast „Homebrewed Christianity“, der seit 2008 Beiträge zur „Emerging Church“-Konversation liefert. Dazu wurden die Beiträge im Zeitraum 14.03.2008 bis 24.12.2016 beachtet. Zusätzlich dazu wurde die Reihe „TNT“ bei „Homebrewed Christianity“ im Zeitraum 18.08.2011 bis 22.12.2016 beachtet. https:// homebrewedchristianity.com am 28.12.2016. „Homebrewed Christianity“ wird von Tripp Fuller und Bo Sanders verantwortet. Über ihre Ziele sagen die Verantwortlichen: „[…] Homebrewed Christianity Podcast has been bringing you the best nerdy audiological ingredients so you can brew your own faith. You will find conversations between friends, theologians, philosophers, and scholars of all stripes.“ https://homebrewedchristianity.com/who-we-are/ am 12.10.2016. Außerdem wurden die Beiträge zur „Emerging Church“-Konversation im britischen Podcast „Nomad“ im Zeitraum 10.02.2009 bis 21.12.2016 beachtet. Der Podcast „Nomad“ wird von Tim Nash und Dave Ward verantwortet. Über ihre Interviewpartner sagen sie: „Every cou� ple of weeks, Tim and Dave pool their theological naiveté and blunder through interviews with the likes of Rachel Held Evans, Nadia Bolz-Weber, Greg Boyd, Steve Chalke, Shane Claiborne, Brian McLaren, Phyllis Tickle, Krista Tippett, Rowan Williams and Tom Wright.“ http://www.nomadpodcast.co.uk/about/ am 29.12.2016. Eine weitere für die Konversation wesentliche Online-Ressource ist „Out of Ur“, die in dieser Arbeit nicht systematisch untersucht wurde, da sie nur für einen kurzen Zeitraum online war. 56 Moody, „Researching Theo(b)logy“ (2009), 238–239.
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1. Einleitung
Die Gewichtung der Quellen stellt ein eigenständiges Problem dar. Bisher gibt es innerhalb der Konversation keinen Konsens zur Verhältnisbestimmung der verschiedenen Quellen. Es lassen sich jedoch anhand der Analyse der Literatur stark rezipierte Quellen feststellen, die hier beachtet werden. 3. Eine weitere Eingrenzung des Untersuchungsfeldes „Emerging Church“ geschieht durch die Auswahl der Veröffentlichungen und Autoren aus dem anglo-amerikanischen Raum. Australische, neuseeländische und andere von der westlichen Gesellschaft geprägte Autoren, die in der „Emerging Church“Konversation vorkommen, werden nicht gesondert dargestellt, jedoch wird, wo ein Anschluss sinnvoll erscheint, in Exkursen auf sie hingewiesen.57 Dies ist damit zu begründen, dass die primären Orte der Aktivität, des Einflusses und der Impulsgenerierung der „Emerging Church“-Konversation von Beginn an in den USA und Großbritannien lagen. Daneben haben sich auch nichtwestliche Konversationsstränge entwickelt, wie etwa das afrikanische Netzwerk „Amahoro“.58 4. Obwohl darauf geachtet wird, Beiträge aus allen drei historischen Phasen der „Emerging Church“-Konversation zu sichten,59 werden besonders die Beiträge aus der zweiten (1999–2010) und der dritten historischen Phase (nach 2010) bis zum Forschungsstand 2015 beachtet. Dies ist folgender57 Dies ist etwa bei Steve Taylor darstellbar, der als Protagonist einer neuseeländischen emergenten Gemeinschaft den Einfluss der britischen Szene auf Neuseeland darstellt. Taylor hat dabei eine Brückenfunktion. Herring, „Steve Taylor, Part One“, in: E-merg (Podcast) 12.04.2006, https:// castbox.fm/episode/e-merg-%3A%3A-podcast-%3A%3A-03-%3A%3A-Steve-Taylor%2C-PartOne-id253649-id39098934?country=de am 12.10.2017; Herring, „Steve Taylor, Part Two“, in: E-merg (Podcast) 12.04.2006, https://castbox.fm/episode/e-merg-%3A%3A-podcast-%3A%3A03-%3A%3A-Steve-Taylor%2C-Part-Two-id253649-id39098933?country=de am 12.10.2017. Eine Untersuchung von ausgewählten australischen emergenten Gemeinschaften ist bei Darren Cronshaw zu finden. Cronshaw, „The Shaping of Things Now“ (Dissertation, Whitley College, 2009). Cronshaws Untersuchung von vier emergenten Gemeinschaften greift Alan Hirschs und Michael Frosts Ansätze auf, die für die „Emerging Church“-Konversation nicht repräsenta�tiv sind, sondern lediglich in der „relevant“-Strömung Einfluss gewonnen haben. Siehe auch Roennfeldt, „Reshaping the Australian Church Experience“ (Doctor of Ministry, Melbourne, 2013). Roennfeldt zeigt in seiner Untersuchung der „Emerging Church“-Konversation in Aus�tralien, die in ihren Ansätzen stark von Frost und Hirsch geprägt ist, den Zusammenhang zur „Church Growth“-Bewegung und die inhaltliche Fortführung dieser Bewegung. „Emerging Church“ wird von Roennfeldt für den australischen Kontext als evangelistische Bewegung ver� standen. A. a. O., 6, 10. Dies ist für die USA und Großbritannien nicht festzustellen. 58 Die Vision von „Amahoro“ ist: „[…] [it] seeks to encourage and facilitate a global conver�sation and network of friendships among Christian leaders engaging with the postcolonial, postmodern world“. Damit vernetzt es ekklesiale Gemeinschaften in Lateinamerika, Afrika und Malaysien. http://www.amahoro.info/ am 28.09.2007. 59 Zu den drei historischen Phasen der „Emerging Church“-Konversation siehe Abschnitt II Ka�pitel 3.1 Die drei Phasen der „Emerging Church“-Konversation.
1.2 Bestimmung und Eingrenzung
37
maßen zu begründen: Erstens verhalf erst der Begriff „emerging church“, der 1999 eingeführt wurde, zu einer Identitätsbildung und bestimmte damit die zweite historische Phase. Zweitens erlangte die Konversation ihre Öffentlichkeitswirksamkeit sowie ihren Einfluss erst nach 1999. Drittens kristallisierten sich die Diskursschwerpunkte (und damit in Abgrenzung zu anderen Bewegungen wie „fresh expressions of Church“ (fxC) oder „missional church“) erst seit Mitte der zweiten historischen Phase heraus.60 In dieser Arbeit wird besonders auf Protagonisten und Meinungen der „reconstructionist“- und „revisionist“-Strömung Bezug genommen, da diese gegen Ende der zweiten und in der dritten historischen Phase den Diskurs dominierten.61 Vertreter der „relevant“-Strömung verließen entweder den Diskurs gegen Ende der zweiten historischen Phase oder bewegten sich in einer anderen Strömung der Konversation. Aus den angeführten Gründen wird aus dem US-amerikanischen Raum Bezug genommen auf: Rob Bell, Nadia Bolz-Weber, Spencer Burke, Shane Claiborne, Rachel Held Evans, Alan Hirsch, Tony Jones62, Dan Kimball, Scot McKnight,
60 Ein „Google Ngram“, welches kulturelle Trends aufgrund der Häufigkeit der eingegebenen Such�begriffe eruiert, bestätigt dies und zeigt für die Jahre 2002–2008 eine erhebliche Popularität der „Emerging Church“-Konversation in der öffentlichen Wahrnehmung. Michel / Shen u. a., „Quantitative Analysis of Culture Using Millions of Digitized Books“ (2011). Und auch Reed, „Emerging treason“ (2014), 68. 61 Zur Unterteilung in drei Strömungen siehe Abschnitt II Kapitel 4 Strömungen in der „Emer� ging Church“-Konversation. Jim Belcher begründet die besondere Auseinandersetzung mit der „reconstructionist“ und „re� visionist“-Strömung damit, dass diese am kontroversesten hinsichtlich des US-amerikanischen Evangelikalismus gewesen seien. „These two camps have received the most pushback from the traditional church. (The relevants have the most in common with the traditional church, at least theologically.) Influenced by Anabaptist and Mennonite sources, the reconstructionists’ biggest challenge to the traditional church lies in the area of ecclesiology and community. The revisionists’ epistemology, influenced by postmodernism, challenges the church’s stance toward culture and its proclamation of the good news.“ Belcher, Deep Church (2009), 47. 62 Zur Prominenz von Tony Jones in Podcasts siehe beispielsweise Fuller / Sanders, „Tony Jones’ New Types of Christians“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 13.08.2011, https://home�brewedchristianity.com/2011/08/13/tony-jones’-new-types-of-christians/ am 28.12.2016; Fuller / Sanders, „Dr. Jones returns“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 03.06.2011, https:// homebrewedchristianity.com/2011/06/03/dr-jones-returns-homebrewed-105/ am 28.12.2016; Fuller / Sanders, „Marcus Borg, Tony Jones, & the Ressurrection w / Jonnie #NerdOut“, in: Homebrewed Christianity TNT (Podcast) 22.10.2013, https://homebrewedchristianity. com/2013/10/22/marcus-borg-tony-jones-the-resurrection-w-jonnie-nerdout/ am 28.12.2016; Fuller / Sanders, „Tony Jones & Peter Rollins on #TheGreatDebacle“, in: Homebrewed Chris�tianity TNT (Podcast) 10.04.2015, https://homebrewedchristianity.com/2015/04/10/tony-jones-peter-rollins-on-thegreatdebacle/ am 28.12.2016.
38
1. Einleitung
Brian McLaren63, Doug Pagitt64 sowie Leonard Sweet.65 Beiträge anderer Exponenten werden ergänzt, wo sie sachlich weiterführen. 63 Ganiel und Marti beschreiben in ihrer Untersuchung in dem Kapitel „Learning from Leaders: ‚So you’re reading a Brian McLaren book …‘“ die Prominenz des Autors, der als Multiplikator, Identifikationsfigur und Einstieg in die Konversation dient. „When participants do make direct connections with or identify with the ECM, it is most often through exposure to prominent leaders. In the United States, this usually means Brian McLaren.“ Ganiel / Marti, The Decon�structed Church (2014), 71. An dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass, obwohl McLaren einer der bekanntesten Protagonisten der „Emerging Church“-Konversation ist, nicht alle Veröffentlichungen von McLaren untersucht werden, da es sich nicht um die spezifische Darstellung eines Autors handelt. McLaren gehört zu den literarisch produktiven Protagonisten in der „Emerging Church“-Kon�versation. Seine Publikationsverträge Anfang des neuen Jahrhunderts mit „Zondervan“ und Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrhundert mit „HarperOne“ führten zu Veröffent�lichungswellen auf dem englischsprachigen Buchmarkt zu Themen der „Emerging Church“Konversation. McLarens Positionen lassen sich anhand dreier Bücher deutlich machen, die seine Entwicklung und theologische Entwicklung, was die „Emerging Church“-Konversation ist und leisten soll, zeigen. Zum Ersten gilt sein Buch „Church on the Other Side“ als wesent�licher Impuls für das Herauswachsen der Konversation aus ihren Wurzeln im „Young Leaders Network“. Zum Zweiten ist die Veröffentlichung des Buches „A Generous Orthodoxy“ wichtig, da sie die Konversation an ihrem Höhepunkt zwischen 2001 und 2009 beschreibt. Als Drittes soll sein 2012 erschienenes Buch „A New Kind of Christianity“ genannt werden, welches As�pekte der Konversation in der dritten historischen Phase beschreibt. Roennfeldt unterteilt McLarens Schaffensperiode in sechs Phasen. In der ersten Phase ist die Leitfrage: „How to do church for the 18–30 year old – A church for the postmodern“. Dies spiegelt sich wider in: McLaren, Reinventing Your Church (1998); McLaren, The Church on the Other Side (2000). In der zweiten Phase ist die Leitfrage: „How to evangelize & disciple people – An apologetic for the postmodern“. Dies spiegelt sich wider in: McLaren, Finding Faith (1999); McLaren, More Ready Than You Realize (2002). Die dritte Phase handelt über: „Philosophy: Christian faith today – Thinking and knowing as a postmodern“. Dies spiegelt sich wider in McLaren, A New Kind of Christian (2001); McLaren, The Story We Find Ourselves In (2003); McLaren, The Last Word and the Word After That (2005). In der vierten Phase liegt der Schwerpunkt auf: „Understanding church history / tradition – Theological reforms for the postmodern.“ Dies spiegelt sich wider in McLaren / Campolo, Ad�ventures in Missing the Point (2003); McLaren, A Generous Orthodoxy (2004). In der fünften Phase wird Folgendes thematisiert: „Kingdom of God: justice and civil issues – Kingdom for the postmodern.“ Dies spiegelt sich wider in McLaren, The Secret Message of Jesus (2006); McLaren, Everything Must Change (2007). Die sechste Phase beschäftigt sich mit: „Cultivating spirituality – Spirituality for the postmodern.“ Dies spiegelt sich wider in: McLaren, Finding Our Way Again. The Return of the Ancient Practices (2008); McLaren, A New Kind of Christianity (2010); McLaren, Naked Spirituality (2011). Roennfeldt, „Reshaping the Australian Church Experience“, 74. 64 Pagitt wird von Phil Johnson folgendermaßen beschrieben: „[…] arguably one of the three most profilic authors in the emerging conversation“. http://www.teampyro.blogspot.com/2007/09/ different-gospels.html am 22.02.2008. 65 Von Kritikern der „Emerging Church“-Konversation werden folgende Autoren beachtet: Brian McLaren, Doug Pagitt, Peter Rollins, Spencer Burke, David Tomlinson, Leonard Sweet, Rob Bell und Tony Jones. DeYoung / Kluck, Why We’re Not Emergent (2008), 19.
1.3 Einordnung in die Praktische Theologie
39
Aus dem britischen Kontext wird primär auf folgende Protagonisten Bezug genommen: Kester Brewin, Steve Chalke, Ian Mobsby, Peter Rollins und Dave Tomlinson.66 Eine Ausnahme bildet Michael Frost aus Australien,67 der in enger Zusammenarbeit mit Alan Hirsch veröffentlichte. Mit dieser Fokussierung sind gleichzeitig die Grenzen dieser Arbeit angezeigt. Im Hinblick auf wesentliche Forschung über emergente Protagonisten und Vergemeinschaftungen wird den Ergebnissen von Edward Gibbs und Ryan Bolger, Robert Whitesel, James Bielo, Tony Jones, Josh Packard sowie Gladys Ganiel und Gerardo Marti gefolgt, die genauer dargestellt werden.
1.3 Einordnung in die Praktische Theologie 1.3.1 Zur Einordnung Die vorliegende Arbeit über die „Emerging Church“-Konversation lässt sich dem Fachbereich der Praktischen Theologie zuordnen.68 Ihre Aufgabe liegt darin, mit dem methodischen Dreischritt „wahrnehmen – urteilen – handeln“ durch die 66 DiebritischenundUS-amerikanischenProtagonistensindüberverschiedeneNetzwerkeoderFreundschaften verbunden, wie dies beispielhaft bei Ian Mobsby sichtbar wird. http://www.ianmobsby.net/ about-ian/ am 29.12.2016. Nash / Ward, „Ian Mobsby – How to be Church in a Post-Secular Culture“, in: Nomad (Podcast) 10.07.2010, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-18-ianmobsby-mission-and-church-in-a-post-secular-culture/ am 29.12.2016. Oder auch: Viele der genannten emergenten Protagonisten sind miteinander befreundet, wie in den Danksagungen in Nadia Bolz-Webers Buch „Pastrix“ zu lesen ist. Es ergehen Dankesworte an Sara Miles, Tony Jones, Doug Pagitt, Rachel Held Evans, Brian McLaren, Phyllis Tickle. Bolz-Weber, Pastrix (2013), 110–111. Weiter war Jonny Baker, ein Protagonist der „alt.worship“-Szene, der Einfluss auf das „Greenbelt“-Festival und den „Glasgow Late Late Service“ hatte, in einigen US-amerikanischen Jugendkonferenzen involviert. Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 242. 67 In dieser Arbeit werden Ansätze von Alan Hirsch und Michael Frost hinsichtlich ihrer Rezeption in der „Emerging Church“-Konversation dargestellt. Hirschs und Frosts theologischen Ansätzen wird man dadurch nur begrenzt gerecht. Zur aktuellsten Veröffentlichung von Alan Hirsch siehe Hirsch, 5Q (2017). 68 Michael Herbst etwa ordnet die „Emerging Church“-Konversation der Kirchen- und Gemeinde� entwicklung zu. Herbst, Wachsende Kirche (2009), 66. Dabei hat die Perspektive der „Entwicklung“, wie Michael Herbst hervorhebt, jenen Vorteil, dass es nicht nur um den „Aufbau“ (wie zuvor im Begriff „Gemeindeaufbau“ deutlich wurde) der kirchlichen Ortsgemeinde gehe, sondern auch um Kirche in ihren unterschiedlichen Sozialformen. Herbst, Aufbruch im Umbruch (2018), 19–39. Der Begriff „Entwicklung“ steht für einen prinzipiell unabgeschlossenen Prozess, der auf eine verbesserte Praxis zielt, mehrere Subjekte hat, jedoch auch normativ aufgeladen ist. Kunz / Schlag, „Diskurslandschaften gegenwärtiger Kirchen- und Gemeindeentwicklung“ (2014). Dabei wird der inhaltlichen Stärke des Begriffs „Gemeindeaufbau“ gefolgt,
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1. Einleitung
Analyse der Gegenwart über die kritische theologische Reflexion zu Ansätzen für die Praxis zu gelangen.69 Dabei wird auf ethnologische und religionssoziologische Studien zur Konversation und den Protagonisten zugegriffen. Es wird der „Wirklichkeitsbezug“, wie Weyel es formuliert, gestärkt. Birgit Weyel fordert eine Auseinandersetzung mit der Soziologie, wenn sie sagt: „Den Wirklichkeitsbezug der Praktischen Theologie zu verstärken zielt darauf, den Herausforderungen der Zeit besser gewachsen zu sein.“70 Da in der „Emerging Church“-Konversation (1) die Veränderung der religiösen Orientierung Einzelner in einem Diskursraum mit verdichteten Knotenpunkten thematisiert wird, verdient sie im Sinn „gelebter Religion“ als „individuell- biografische Suchbewegung“ Beachtung.71 (2) Darüber hinaus wird die Konversation als Kommunikationsnetzwerk mit Themen und Motiven verstanden, die eine Gravitationskraft ausüben. Damit wenn die Hervorhebung des göttlichen Handelns als Voraussetzung für christliches Leben betont wird. Gleichzeitig knüpft der Begriff „Gemeindeentwicklung“ an die bestehenden Verhältnisse an. Grethlein, „Gemeindeentwicklung“ (2007), 494. Auch Tobias Faix reiht die „Emerging Church“-Diskussion als missionarische Herausforderung in einer nachchristlichen Gesellschaft in die Kirchen- und Gemeindeentwicklung ein. Faix, „Mission und Evangelisation“ (2014), 446. Bei einer solchen Einordnung zeigen sich bereits Herausforderungen, denn die „Emerging Church“-Konversation berührt als Phänomen, in dem beispielsweise Vergemeinschaftung durch digitale Informations- und Kommunikationstechnologien geschieht sowie höchst individualisierten Spiritualitätsformen und religiösen Identitätsbildungen Raum gegeben wird, viele Bereiche der Praktischen Theologie. Darunter zählen etwa die Gottesdienstlehre, die Liturgik, die Poimenik, die Homiletik, die Pastoraltheologie, die Aszetik als Erforschung von Spiritualität oder auch die christliche Publizistik. 69 Zulehner spricht von Kairologie, Kriteriologie und Praxeologie. Zulehner, Pastoraltheologie (1991), 15. Praktische Theologie will demnach zu einer „differenzierten Wahrnehmung der Phänomene und Strukturen anregen, kritische Urteilsbildung fördern und auf dieser Basis verändertes oder verbessertes Handeln ermöglichen“. Klessmann, Das Pfarramt (2012), 140. 70 „Gelebte Religion“ ist am Rande religiöser Organisationen beobachtbar oder auch außerhalb organisierter Religion. Streib, „More Spiritual Than Religious“ (2008), 53. Weyel, „Kenntnis des wirklichen Lebens“ (2008), 332. Weyel sagt weiter: „Die Differenzierungen in der modernen Gesellschaft zwischen Individuum, Kirche und Gesellschaft sind also vorauszusetzen, zugleich darf sich die Praktische Theologie nicht auf die Kirche beschränken, sondern muss sich allgemeiner den religiösen Bedürfnissen der Menschen widmen, nicht zuletzt um das kirchliche Leben offen zu halten für diese.“ A. a. O., 333. Die Autorin folgert: „Besonderes Augenmerk liegt auf den sozialen Kontexten und psychischen Dispositionen und den Mechanismen, die wirksam werden, wenn es um Religion geht. Aber auch die kulturellen Kontexte, die Symbole und kommunikativen Muster, die der Darstellung und Mitteilung gelebter Religion dienen, sind in den Blick zu nehmen. Das bindet die Praktische Theologie in den Gesprächszusammenhang von Soziologie, Psychologie und den Kulturwissenschaften ein.“ A. a. O., 339–340. 71 Hermelink, „Kirchentheorie“ (2017), 99–100. Lämmermann spricht davon, dass sich die Praktische Theologie den „postmodernen Religiositäten“ widmen müsse. Lämmermann, Einleitung in die Praktische Theologie (2001), 66–68.
1.3 Einordnung in die Praktische Theologie
41
fällt der Schwerpunkt dieser Arbeit in kirchentheoretische Grundsatzfragen der vielfältigen Vergemeinschaftungsformen. Aus diesem Grund werden die Erkenntnisse der kritischen Darstellung der „Emerging Church“-Konversation primär im Kontext der deutschsprachigen gegenwärtigen praktisch-theologischen Kirchen- und Gemeindeentwicklung besprochen.
1.3.2 Anschlussfähige Diskurse Praktisch-theologisches Arbeiten stehe, laut Christian Grethlein, in den letzten zwei Jahrzehnten vor folgenden Herausforderungen: • Erstens sei ein In-Eins-Setzen von Kirche, Christentum und Religion in einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Bedingungen für eine solche Gleichsetzung nicht mehr gegeben seien, nicht mehr möglich. Grethlein erkennt eine praktisch-theologische Herausforderung darin, dass es beispielsweise in Deutschland Millionen getaufte Menschen gebe, die aus der Kirche und dem organisierten religiösen Segment ausgetreten seien.72 Dabei entstünden Vergemeinschaftungsformen unter anderem als Gruppen und Netzwerke, die sich als christliche Gemeinschaften verstünden, sich jedoch den etablierten Strukturen nicht zuordnen ließen.73 Unabhängig von traditioneller Kirchlichkeit gebe es Anzeichen für die These einer „Re-religionisierung“, die „die Gestalt postsäkularer Religiosität“ habe.74 Weyel stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die „Wahrnehmung der gelebten Religion“ eine neue Aufmerksamkeitsregel aufstelle. „Es geht um die Evaluierung der Reli-
72 Grethlein, Praktische Theologie (2012), 6. Christoph Schwöbel spricht in dem Zusammenhang einer „Marginalisierung der institutionellen Kirche“ von der Aufgabe, Kriterien zu entwickeln, an denen sich die Gestaltung der Kirche ausrichten solle. Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 382–383. 73 Kristian Fechtner weist darauf hin: „Es entstehen vielmehr immer wieder ‚Gemeinden auf Zeit‘ im Kontext des Kirchentages, durch Chorprojekte oder im Umfeld besonderer Gottesdienste etc. So gehört es zu den gegenwärtigen praktisch-theologischen Herausforderungen, Gemeinde in ihren temporären und fluiden Gesellungsformen zu bestimmen und zu gestalten.“ Fechtner, „Volkskirche“ (2012), 166. Religionspsychologische Einsichten kommen beispielsweise von Tatjana Schnell, die darauf verweist, dass „selbstzugeschriebene Religiosität nicht mehr zwangsläufig mit der aktiven Mitgliedschaft in einer spezifischen Tradition gleichgesetzt wird.“ Es werden „Überzeugungen und Praktiken verschiedenster Traditionen nach subjektiven Maßstäben zusammengestellt.“ Schnell, „Religiosität und Identität“ (2008), 169. 74 Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 383.
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1. Einleitung
gion am Ort des Individuums und damit auch um eine ‚Sichtbarmachungsstrategie unsichtbarer Religion‘.“75 • Als Zweites führt Grethlein an, dass sich durch elektronische Medien Kommunikation, Wirklichkeitssicht, Lebensformen und Sozialformen verändert hätten.76 In einem weiteren Beitrag verweist Grethlein spezifisch darauf, dass dem Umgang der „Emerging Church“-Konversation in den USA mit elektronischer Kommunikation für den deutschsprachigen Kontext nachgegangen werden müsste.77 Grethleins zwei genannte Herausforderungen an die Praktische Theologie lassen die Relevanz dieser Arbeit erkennen. Die „Emerging Church“-Konversation verdient dadurch Beachtung, dass sie sich im anglo-amerikanischen Raum als antiinstitutionell, flexibel und fluide versteht und sowohl in etablierten Denominationen, im organisierten religiösen Segment als auch im unorganisierten Segment zu finden ist. Die „Emerging Church“-Konversation wird als Herausforderung der anglo-amerikanischen religiösen Landschaft interpretiert, da sie andersartige Formen christlich religiöser Orientierung vor Augen führt, nämlich stark vom Individuum ausgehend (als „gelebte Religion“), das die gegenwärtigen Informations- und Kommunikationstechnologien zur religiösen Identitätsbildung nutzt. Dabei ist speziell für die Konversation grundlegend, dass sich Motive, Haltungen sowie inhaltliche Bestimmungen von Protagonisten aus Loslösungs- und Abwehrprozessen zu vormaligen Überzeugungen und Praktiken bestimmen lassen.78 Der Relevanz und möglichen Impulsen dieses netzwerkartigen Diskurses für den deutschsprachigen Raum soll im letzten Teil dieser Arbeit nachgegangen werden. Zum anderen zeigt sich in der Konversation, die sich zum großen Teil einer digitalisierten Lebenswelt und einer damit veränderten Herausbildung religiöser 75 Weyel, „Kenntnis des wirklichen Lebens“ (2008), 338. Vergleiche auch „Die Erforschung der Alltagsreligiosität ist ein schwieriges Unterfangen, weil es primär darum geht, die subjektiven Weltanschauungsfragmente der Betroffenen, die sich nur im Ausnahmefall zu geschlossenen Weltbildern verdichten, in ihrer Diffusität zu erfassen.“ Gebhardt / Engelbrecht u. a., „Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“ (2005), 142. 76 Grethlein, Praktische Theologie (2012), 8. 77 Grethlein, „Kirche“ (2012), 149. 78 Das Phänomen dekonversiver Prozesse und die Veränderung der religiösen Orientierung wurden bisher in der kirchlichen Landschaft und der Praktischen Theologie nur vereinzelt beachtet, obwohl die Veränderung der religiösen Orientierung für viele Erwachsene zu ihrer religiösen Biografie gehöre. Studien zu Religiosität im Alter zeigen, dass 42 % der Befragten nach dem Eintritt ins Erwachsenenalter eine stabile religiöse Gestalt über die erwachsene Lebensspanne aufweisen, während etwa ein Drittel bzw. ein Fünftel einmal bzw. zweimal ihre Gestalt der Religiosität wechselten. Kläden, „Die Seniorinnen und Senioren sind nicht mehr die alten“ (2016), 70.
1.4 Aufbau der Arbeit, Fragestellungen und Methodik
43
Identität verdankt, eine mögliche Kristallisationsform gegenwärtiger religiöser Vergemeinschaftungsformen. Die „Emerging Church“-Konversation greift in einmaliger Weise die Möglichkeiten digitaler Kommunikation und virtueller Gemeinschaftsbildung auf.
1.4 Aufbau der Arbeit, Fragestellungen und Methodik a) Im ersten Teil dieser Arbeit (Abschnitt I + II + III) wird dem methodischen Schritt „wahrnehmen“ mit einem phänomenologischen Ansatz gefolgt. Unter „Phänomenologie“ ist die Beschreibung und Klassifikation der Erscheinungen eines bestimmten Gebietes zu verstehen. Der Ausgangspunkt ist dabei jeweils das Vorfindliche. Dementsprechend setzt diese Arbeit damit ein, dass sie die „Emerging Church“-Konversation anhand des beschriebenen Zugriffs auf den Gegenstand anhand einer Literaturanalyse beschreibt und typisiert. Abschnitt I dient der Bestimmung, der Eingrenzung und einer ersten Verortung des Untersuchungsgegenstandes „Emerging Church“. Der Untersuchungsgegenstand wird forschungsgeschichtlich eingebettet. Dies geschieht einerseits hinsichtlich der Veröffentlichungen zur „Emerging Church“-Konversation (Abschnitt I Kapitel 2.2) und andererseits hinsichtlich des spezifischen Zugangs zu diesem Thema, nämlich der Perspektive dekonversiver Merkmale und Phasen (Abschnitt I Kapitel 2.1). Da in der Konversation und den emergenten Vergemeinschaftungen die Klärung des religiösen Selbstverständnisses unter besonderer Berücksichtigung von Abwehr- und Loslösungsdynamiken das bestimmende Thema ist, wird auf die Dekonversionsforschung Bezug genommen. Unter den vielfältigen Transformationsprozessen in der religiösen Landschaft (z. B.: Ent-traditionalisierung, Individualisierung bei wachsendem Bedürfnis nach Gemeinschaft, Einfluss der digitalen Welt auf die Bildung religiöser Identität) nimmt die Frage nach dem Phänomen des Verlassens organisierter Religion und der Veränderung / des Zurücklassens vormaliger religiöser Orientierung (zum Teil ohne Verlassen der religiösen Organisation) eine besondere Rolle ein, die für den Zusammenhang der Fragestellung dieser Arbeit zentrale Relevanz besitzt.79 79 Über den QR-Code sind aktuelle Ergebnisse von Studien aus dem anglo-amerikanischen Kontext gebündelt. Zudem wird der Kontext des Forschungsgegenstandes durch die Darstellung der religiösen Landschaft in den USA und Großbritannien vor Augen geführt. Die angloamerikanische religiöse Landschaft ist deshalb von Interesse, weil das gewählte Beispiel, die
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1. Einleitung
Abschnitt I setzt also den forschungsgeschichtlichen Rahmen, um die „Emerging Church“-Konversation angemessen wahrnehmen zu können. Abschnitt II widmet sich der detaillierten Beschreibung der „Emerging Church“-Konversation. Dazu wird zunächst der Begriff „Emerging Church“ über die Diskussion ähnlicher und doch zu unterscheidender Begriffe, Bewegungen und Phänomene plausibilisert (Abschnitt II Kapitel 1.1–1.3). Um das Spezifikum der „Emerging Church“-Konversation zu verstehen – die Los- und Abwehrprozesse –, benötigt man ein grundlegendes Verständnis der missionstheologischen Grundbegriffe im anglo-amerikanischen Kontext, die in Abschnitt II Kapitel 1.4 dargestellt werden. Nach einer kurzen Einordnung in Definitionsvorschläge (Abschnitt II Kapitel 2) zu dem Phänomen „Emerging Church“ werden die historische Entwicklung der Konversation (Abschnitt II Kapitel 3), die Strömungen in der Konversation (Abschnitt II Kapitel 4), ihre Sozialstruktur (Abschnitt II Kapitel 5) und ihre Besonderheit hinsichtlich digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien vorgestellt. Dadurch dass die „Emerging Church“-Konversation ihr Aufkommen und ihre Entwicklung den medientechnischen Möglichkeiten seit den 1990ern-Jahren verdankt, wird in besonderer Weise auf diese neuen Kommunikationsformen (Blog, Twitter, u. a.) eingegangen (Abschnitt II Kapitel 6). Der phänomenologische Zugang wird in Abschnitt II Kapitel 7 und Kapitel 8–12 durch zwei methodische Schritte realisiert. In Abschnitt II Kapitel 7 werden durch eine literaturanalytische Zusammenschau von sechs Studien über emergente Protagonisten und Vergemeinschaftungen Knotenpunkte und motivische Verdichtungen des Diskurses deutlich.80 Die verdichteten Knotenpunkte werden als fünf Motive identifiziert, die in einem
„Emerging Church“-Konversation, das exemplarisch eine spezifische Form der Veränderung religiöser Orientierung darstellt, ihr Aufkommen und ihre weiteste Verbreitung in eben diesem Kontext erlebte. 80 Durch die Zusammenschau der Studien werden wesentliche Diskursmotive für emergente Protagonisten und Vergemeinschaftungen identifiziert. Durch den Bezug auf sozialwissenschaftliche und religionswissenschaftliche Untersuchungen werden die Wahrnehmungen aus einer anderen Perspektive rezipiert und integriert. Eine solche Außenperspektive kann einen wichtigen Beitrag in deskriptiver Hinsicht leisten. Wohlrab-Sahr, „Religionssoziologie“ (2007). Claudia Schulz pointiert: „Wo etwas wahrgenommen wird, kann diese Wahrnehmung nicht anders als zur Gestaltung der eigenen Arbeit genutzt werden als durch Interpretation und eine implizite Rückbezugnahme oder Anknüpfung an Theorie.“ Schulz, „Mehr ‚Wirklichkeit‘ für die Theorie“ (2012), 158. Sie sagt weiter: „Es geht nicht mehr nur um die Kenntnis, sondern um ein vertieftes Verständnis komplexer Sachverhalte im Blick auf die Gesellschaft, die Kirche und Individuen innerhalb dieser Räume.“ Damit hat die Einbezugnahme die „Funktion des Komplexitätsgewinns“. A. a. O., 159.
1.4 Aufbau der Arbeit, Fragestellungen und Methodik
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zweiten Schritt durch eine ausführliche Primärliteraturrecherche, im Sinne der genannten Eingrenzung, ergänzt, reflektiert und diskutiert wird: Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung in der Konversation (Abschnitt II Kapitel 8), Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation (Abschnitt II Kapitel 9), Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen in der Konversation (Abschnitt II Kapitel 10), Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation (Abschnitt II Kapitel 11), Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken (Abschnitt II Kapitel 12). Die Darstellung der Motive geschieht – ergänzend zu den aktuellen Forschungsergebnissen der Studien – durch die Analyse der wichtigsten Primärliteratur der bereits genannten prominenten Protagonisten aus dem US-amerikanischen und britischen Kontext. Die Beachtung relevanter Online-Beiträge, Online-Kommunikationsplattformen erfolgt, zusätzlich zu Ganiel und Marti, über das Wahrnehmen der Forschung von Paul Teusner und Katharine Moody.81 In Abschnitt II Kapitel 13 werden die kritischen Diskurse zur „Emerging Church“-Konversation zusammengefasst und dargestellt. Zuletzt wird in Abschnitt II Kapitel 14 der Forschungsgegenstand „Emerging Church“Konversation in die missionswissenschaftlichen und kirchentheoretischen Debatten eingeordnet. In Abschnitt III wird der Forschungsgegenstand durch die spezifische Perspektive dekonversiver Prozesse interpretiert. Dazu wird in Abschnitt III Kapitel 1 ein (religionssoziologischer82) Dekonversionsbegriff entwickelt, mit dessen Hilfe die Bedingungen der Möglichkeiten für (vielfältige und teils widersprüchliche) Interpretationen, Haltungen und Anliegen in der „Emerging Church“-Konversation als dekonversiver Konversationsraum
81 Siehe genauer Abschnitt II Kapitel 6 Die „Emerging Church“-Konversation und digitale Infor�mations- und Kommunikationstechnologien. Vgl. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 206. Die digitalen Kommunikationsformen könnten eigens mithilfe digitaler Ethnografie erfasst werden. Dies geschieht in dieser Arbeit nicht, da dieser methodische Zugriff noch nicht ausgereift ist und viele Schwächen aufweist. Siehe dazu Kozinets, Netnography (2009); Kozinets, Netnography (2015). 82 Zum Verhältnis zwischen Theologie und Human- und Sozialwissenschaften und einer „fruchtbaren Relationierung“, wie sie Johannes Zimmermann vorschlägt, siehe Zimmermann, Gemeinde zwischen Sozialität und Individualität (2009), 31, 30–37. Soziologie ist interessiert an konkreten geschichtlichen Gestalten des Sozialen. Dabei ist der Mensch in seinen mitmenschlichen Bezügen (soziale Ordnungen, Strukturen, Rollen, Funktionen etc.) von Interesse. Für kirchliches Handeln ist das insofern interessant, da es bezogenes Handeln ist, bezogen auf die Menschen einer jeweiligen Zeit. Dazu muss der Mensch wahrgenommen und verstanden werden.
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1. Einleitung
diskutiert wird.83 Schließlich wird in Abschnitt III Kapitel 2 der Forschungsgegenstand hinsichtlich dekonversiver Merkmale und Phasen diskutiert. Für den ersten Teil der Arbeit (Abschnitt I+II+III) sind demnach folgende Fragen leitend: Wie lässt sich die „Emerging Church“-Konversation einordnen, beschreiben und darstellen? Wie lässt sich die Konversation strukturieren? Welche dominanten Themen und Motive sind erkennbar? Inwiefern lässt sich die „Emerging Church“ als Konversationsraum hinsichtlich dekonversiver Prozesse beschreiben? Welche Entsprechungen und Differenzen von Indikatoren zwischen dekonversiven Prozessen (sowie Merkmalen und Phasen) und der „Emerging Church“-Konversation lassen sich aufzeigen? b) Der zweite methodische Schritt „urteilen“ bezieht sich auf die kritische Reflexion der Ergebnisse des Untersuchungsgegenstandes „Emerging Church“. In diesem Teil soll ausgehend einem biblisch-theologischen Verständnis von religiösen Transformationsprozessen, speziell Loslösungs- und Abwehrprozessen, eine Brücke zu den Beobachtungen gebaut werden. In Abschnitt IV wird auf reformatorischer Basis eine theologische Kriteriologie entwickelt und der Forschungsgegenstand diskutiert. Dazu erscheint es sinnvoll den Begriff „Zweifel“ als theologisches Interpretament zu etablieren (Abschnitt IV Kapitel 1). Eine theologische Standortbestimmung erfolgt in jener Hinsicht, dass einerseits die produktive (methodischer Zweifel, Anfechtung) und gefährdende Kraft des Zweifels (Unglaube) beachtet wird und andererseits Zweifel als Existenzial expliziert wird. Dazu sind folgende Fragen leitend: In welcher Hinsicht ist es angemessen im Hinblick auf dekonversive Prozesse von Zweifel zu sprechen? Welches Verständnis von Zweifel wird nach reformatorischer Begründung geboten? Wie verhalten sich Zweifel und Glaube zueinander? Welche Denkfiguren des Zweifels sind im Hinblick auf den Forschungsgegenstand sinnvoll und hilfreich? Schließlich wird der Frage nachgegangen, wie ein theologisch verantwortlicher Umgang mit der „Emerging Church“-Konversation aussieht.
83 Mit Roosen kann darauf verwiesen werden: „Neue Methoden bringen veränderte Fragestellungen, veränderte Sichtweisen und folglich auch veränderte Erkenntnisse hervor.“ R oosen, Die Kirchengemeinde (1997), 9. Im Kontext der wachsenden religiösen Mobilität, dem Abbruch tradierter Religionszugehörigkeiten etc. offenbaren sich Motive, welche Personen als Beweggründe angeben, religiöse Orientierung im organisierten Segment zu verlassen oder (und dabei) ihre religiöse Orientierung zu verändern. Bereichert werden diese sozialwissenschaftlichen und religionssoziologischen Ergebnisse durch intraperspektivische Beiträge aus der Dekonversionsforschung (Barbour und vor allem Streib et.al.). Dekonversion wird als ein mehrdimensionaler Loslösungsprozess von einer religiösen Orientierung verstanden, der verschiedene Verläufe haben kann: Ausstieg aus dem religiösen Feld (ins säkulare Feld), Bewegung innerhalb des organisierten religiösen Feldes oder Bewegung in das unorganisierte religiöse Feld.
1.4 Aufbau der Arbeit, Fragestellungen und Methodik
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Der Forschungsgegenstand wird hinsichtlich der Kriterologie Zweifel reflektiert und diskutiert (Abschnitt IV Kapitel 2). Die Diskussion erfolgt entlang der erarbeiteten fünf Motive über die Konversation: Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung – Aspekte einer theologischen Anthropologie (Abschnitt IV Kapitel 2.2) Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft (Abschnitt IV Kapitel 2.3) Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen (Abschnitt IV Kapitel 2.4) Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation (Abschnitt IV Kapitel 2.5) Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken (Abschnitt IV Kapitel 2.6) Die wesentlichen Aspekte werden in Abschnitt IV Kapitel 3 kurz gebündelt. Für den zweiten Teil der Arbeit sind folgende Fragen leitend: Wie lässt sich die „Emerging Church“-Konversation theologisch beurteilen? Welche Stärken und welche Gefahren werden deutlich? c) Im dritten methodischen Schritt „handeln“ werden Impulse für gegenwärtige deutschsprachige praktisch-theologische Diskurse aus den gewonnenen Erkenntnissen abgeleitet (Abschnitt V). Ausgehend von den Erträgen der Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand „Emerging Church“ werden Impulse hinsichtlich eines deutschsprachigen systematisch-theologischen Entwurfs von Hartmut Rosenau generiert (Abschnitt V Kapitel 2). Des Weiteren werden einige wenige gemeindliche Handlungsempfehlungen diskutiert (Abschnitt V Kapitel 3). Für den dritten Teil der Arbeit sind folgende Fragen leitend: Welche Relevanz hat die Beschäftigung mit dem anglo-amerikanischen Phänomen „Emerging Church“ für den deutschsprachigen Kontext?84 Inwiefern sind 84 Die beschriebenen Herausforderungen postmoderner Bedingungen in den USA und Großbritannien und die daraus resultierenden Veränderungen der christlichen Gemeinschaften und Kirchen sind auch in westeuropäischen Kontexten, konkret in Deutschland, beobachtbar. Obwohl die deutschsprachige religiöse Landschaft dem anglo-amerikanischen Raum nicht ähnlich ist, gibt es vergleichbare Entwicklungen (betreffend Mitgliederrückgang / Rückgang der Gottesdienstbesucher, Verlust des christlichen Erbes, Relevanz der christlichen Kirchen für das Individuum und die Gesellschaft) und das trotz unterschiedlicher Wirkfaktoren. Eine Veränderung der religiösen Landschaft ist beispielhaft darin sichtbar, dass Menschen das organisierte religiöse Feld verlassen und einige dabei aber weiterhin ihren christlichen Glauben ausüben. Eine andere vergleichbare Ausführung ist das Entstehen fluider religiöser Formen, wie dies Lüddeckens und Walthert beschreiben. Lüddeckens / Walthert, „Fluide Religion“ (2010), 9 f. Es kommt zu einer Pluralisierung religiöser Ausdrucksformen und Vergemeinschaftungsformen im organisierten und unorganisierten religiösen Segment. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong stellen dies ebenfalls für eine Debatte um die Zukunft der Kirche und Gemeinde fest. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche (2013), 305–310. Die Autoren meinen, dass unterschiedliche Organisationsformen von Kirche und unterschied-
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1. Einleitung
die Ergebnisse über die „Emerging Church“-Konversation für die Kirchenund Gemeindeentwicklung relevant?85
1.5 Methodische Bemerkungen zur Auswahl der Studien Für den ersten Teil der Arbeit werden Forschungsergebnisse aus dem Zeitraum 2000 bis 2014 vorgestellt und anhand einer Literaturanalyse auf ihre vergleichbaren Motive hin zusammengeführt. Dabei soll es zu neuen Erkenntnissen über den Forschungsgegenstand „Emerging Church“ kommen. Sechs Forschungsbeiträge (Gibbs und Bolger 2005, Whitesel 2006, Bielo 2011, Jones 2012, Packard 2012, Ganiel und Marti 2014) zur „Emerging Church“Konversation werden im Folgenden zusammengefasst.86 liche Formen von Gemeinde möglich, ja nötig, sowie theologisch legitim seien. Aufgabe der Organisations- und Sozialform der Gemeinde sei es zum einen, die Kommunikation des Evangeliums als zentrale Aufgabe der Kirche zu fördern, und zum anderen die Relevanz für Individuen und Gesellschaft zu steigern. Die Autoren folgern, dass sich die Formen, in denen sich die Kirche konstituiert, nach den jeweiligen gesellschaftlichen Umständen richten dürften und müssten. A. a. O., 306. Angesichts der Relevanzkrise der Kirchen und der Abbrüche in der Gesellschaft „ist die Kirche in besonderer Weise herausgefordert, Organisationsformen zu entwickeln, in denen das Evangelium Menschen nahe kommen kann.“ Die Autoren folgern weiter: „Die Gemeindeformen müssen so gestaltet werden, dass möglichst vielen Menschen und Bevölkerungsgruppen die Chance eines Zugangs zur christlichen Botschaft und zur Kirche eröffnet wird. Ein besonderes Augenmerk muss dabei auf Menschen liegen, die bislang von der christlichen Botschaft nicht erreicht worden sind.“ A. a. O. Die Beschäftigung mit der „Emerging Church“-Konversation als besondere „Organisationsform“ kann aus Hauschildts und Pohl-Patalongs Anliegen abgeleitet werden. 85 Kunz und Schlag fragen danach, wie sich die Diskurse der Kirchen- und Gemeindeentwicklung weiterentwickeln könnten. Sie fragen, wie sich von dort aus innovative Entwicklungsperspektiven für Praxis und Forschung gewinnen lassen. Kunz / Schlag, „Diskurslandschaften gegenwärtiger Kirchen- und Gemeindeentwicklung“ (2014), 9. Impulse für die deutschsprachigen praktisch-theologischen Diskurse können beispielsweise für fluide und flüchtige Vergemeinschaftungsformen und Erscheinungen wie Netzwerke gewonnen werden. Siehe QR-Code im Vorwort. Netzwerke nehmen, gemäß Stegbauer und Häußling, Beziehungen und Beziehungsgefüge in den Blick. Stegbauer / Häußling, „Einleitung in das Handbuch Netzwerkforschung“ (2010), 13. In dem Begriff „Netzwerk“ verdichten sich die Veränderungen im Kommunikationsverhalten und die Bedeutung und Pflege von Beziehungen. Netzwerk dient hier der Beschreibung von sozialen Gebilden, die aus sozialen Akteuren bestehen, die miteinander interagieren. Siehe Weyel, „Netzwerkanalyse“ (2013). 86 Da die Studienergebnisse nicht als Rohdaten vorliegen, sondern nur in der interpretierten Form der Veröffentlichung, ist die unmittelbare Vergleichbarkeit der Studien nicht möglich. Aus diesem Grund werden die Veröffentlichungen durch eine Literaturanalyse rezipiert. Es lässt sich feststellen, dass die unterschiedlichen Untersuchungszeiträume, Methoden, Interviewpartner und auch Forschungszugänge eine Bereicherung sind. Der Fokus der Rezeption
1.5 Methodische Bemerkungen zur Auswahl der Studien
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Aufgrund der Menge an Publikationen und Konversationsbeiträgen zur „Emerging Church“-Konversation ist es schwierig, die Merkmale zielsicher zu erfassen, weshalb ausgewählte Studien dabei helfen sollen, Motivcluster der Konversation „konzentriert“ zu erkennen. Bevor auf die Besonderheiten der einzelnen Untersuchungen hingewiesen wird, soll dargelegt werden, wie es zu der Auswahl und Gewichtung der Studien gekommen ist. • Erstens werden Untersuchungen aus verschiedenen historischen Phasen der „Emerging Church“-Konversation dargestellt, womit eine gewisse historische Breite und damit Aussagekraft erlangt wird.87 Mit diesem Zugriff wird es möglich, den sich über einen Zeitraum entwickelnden Forschungsgegenstand zu fassen. Gleichzeitig können inhaltliche Schwerpunkte der „Emerging Church“-Konversation in jeweiligen historischen Phasen skizziert werden, da sich die Forschungszeiträume über fast 14 Jahre erstrecken (Gibbs und Bolger 2000–2005 – Ganiel und Marti 2010–2014).88 Besonders in den Veröffentlichungen zu Beginn des neuen Jahrtausends, also in der zweiten historischen Phase, wurde „Emerging Church“ eher als Containerbegriff für eine relevante Ausdrucksform christlicher Gemeinschaft und damit unspezifischer als im Jahr 2013 verstanden. Aus diesem Grund liegt es nahe, die Ergebnisse jener Studien zu gewichten, die verfasst wurden, nachdem sich die Konversation (gegen Ende der zweiten historischen Phase) insofern klarer konturierte, als sie von anderen Bewegungen unterscheidbarer wurde. Es ist darauf hinzuweisen, dass damit etwa Gemeinschaften (beispielsweise bei Whitesel) in die Untersuchung mit aufgenommen wurden, die nach heutigem Ermessen keine „Emerging Church“-Gemeinschaften im engeren Sinn mehr sind oder sich beispielsweise von der Konversation abgewendet haben.89 In dieser Hinsicht verliert Whitesels Studie an Aussagekraft für die Konversation (besonders im Blick auf eine Generalisierbarkeit für die drei historischen Phasen). Zudem weist Whitesels Studie durch eine ausschließlich quantitative Herangehensweise eine methodische Einschränkung auf. • Der Zeitraum der Studien erstreckt sich über die zweite und dritte historische Phase der „Emerging Church“-Konversation. Die Studie von Gibbs liegt auf den interpretierten Forschungsergebnissen und nicht auf den Forschungsansätzen, die trotz unterschiedlicher Studienmethodik (quantitative Interviews, qualitative Interviews, ethnografische Zugänge) vergleichbare Ergebnisse aufweisen. 87 Zu einer Auseinandersetzung mit der Repräsentativität beziehungsweise der Aussagekraft einer Untersuchung siehe Witt, „Statistik ist der Kode“ (2013), 193. 88 Ein Beispiel hierfür ist das Wesensmerkmal Protest, welches in der ersten und zweiten historischen Phase deutlich stärker ausgeprägt ist als in der dritten Phase. 89 Siehe dazu den Kommentar von Tony Jones: http://www.beliefnet.com/columnists/flunkingsainthood/2011/10/the-church-is-flat-a-q-a-with-tony-jones-part-1.html am 13.11.2014.
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1. Einleitung
und Bolger 2005 war die erste Untersuchung, die das Phänomen „Emerging Church“ in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit bekannt machte. Nach den Kriterien für die Einteilung der historischen Entwicklung, wonach die Jahre 1999/2000 als einschneidend und als Beginn der zweiten Phase gedeutet werden, ist Gibbs und Bolgers Studie zu Beginn der zweiten Phase angesetzt (Forschungszeitraum 2000–2004). Whitesels Untersuchung 2006 befindet sich ebenfalls in der zweiten Phase der „Emerging Church“-Konversation. Bielos, Jones’ und Packards Analysen stammen aus der Übergangszeit zwischen zweiter und dritter Phase. Die Übergangszeit ist zwischen den Jahren 2008/2009 und 2010 anzusetzen. Der Schwerpunkt der Beobachtungen von Ganiel und Marti stammt aus den Jahren nach 2010 und damit aus der dritten historischen Phase.90 • Zweitens wird auf den transnationalen Kontext achtgegeben. Um die „Emerging Church“-Konversation als transnationale Konversation anschaulich zu machen, bedarf es Untersuchungen, die dies berücksichtigen. Es ist darauf hinzuweisen, dass sich zwei Untersuchungen (Bielo und Packard) ausschließlich auf US-amerikanische Gemeinschaften beziehen, während vier andere Untersuchungen Vergemeinschaftungen aus dem britischen und kanadischen Kontext miteinbeziehen. Damit sind die Studien von Bielo und Packard in ihrer transnationalen Aussagekraft für die Konversation eingeschränkt und werden weniger gewichtet.91 • Drittens sind Untersuchungen aufgenommen, die die „Emerging Church“Konversation in Form von Gruppen und Gemeinschaften (Jones), situativen Begegnungen (z. B. bei Packard Konferenzen) sowie ihre Bedeutung in der virtuellen Welt beachten. Durch diese Auswahl an Untersuchungen gelingt es, neben „Emerging Church“-Gemeinschaften auch „Emerging Church“Konferenzen, prominente Blogs und Twitter-Feeds (z. B. bei Ganiel und Marti) zu beachten. Aus diesem Grund verdient Ganiel und Martis Studie besondere Beachtung, da sie Konferenzen und ausgewählte Online-Diskurse ebenfalls untersuchen. • Viertens kann angeführt werden, dass weitere Untersuchungen zwar in der späteren Darstellung der Konversation beachtet werden, für die vorliegende Auswahl jedoch entweder nicht geeignet sind, da die Untersuchung zu klein
90 Zur Begründung der Unterteilung siehe Abschnitt II Kapitel 3.1 Die drei Phasen der „Emer� ging Church“-Konversation. 91 Aus diesem Grund ist die dennoch wertvolle Studie von Diana Butler Bass hier nicht eigens aufgeführt. Sie untersucht 50 US-amerikanische Gemeinden aus sechs protestantischen Denominationen, die als verfasste Gemeinden der „mainline“-Kirchen Transformationsprozesse im Blick auf ihr kirchliches Handeln unternommen haben. Butler Bass, Christianity for the Rest of Us (2006).
1.5 Methodische Bemerkungen zur Auswahl der Studien
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ist, oder aus den oben genannten Gründen für eine gesonderte Darstellung ausgeschlossen wurden.92 Gleichwohl die sechs vorliegenden Darstellungen mit ihren Forschungsfragen einstimmig das Anliegen teilen, das Phänomen „Emerging Church“ erfassen zu wollen,93 lässt sich zusammenfassend folgende dreigeteilte Gewichtung der Studien zeigen: 1) Ganiel / Marti, 2) Bolger / Gibbs, Bielo, Packard, Jones 3) Whitesel. Für alle vorliegenden Untersuchungen gilt, dass sie zum Teil (oder ausschließlich, außer Whitesel) mit qualitativen Interviews und / oder quantitativen Methoden gearbeitet haben.94 Unterschiede liegen in der Anzahl der untersuchten Protagonisten und Vergemeinschaftungsformen sowie der Position / Rolle der Interviewpartner in der Gemeinschaft oder Konversation vor. Während Gibbs und Bolger ausschließlich mit Leitern und Verantwortlichen einer Gemeinschaft gesprochen haben, findet sich bei Packard eine Mischung aus Haupt- und Ehrenamtlichen. Bei Jones etwa sind Hauptamtliche und prominente Figuren bewusst ausgespart worden.95 92 „Emerging Church“-Gemeinschaften sind in den letzten Jahren für Soziologen interessant ge�worden: Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America“ (2009). Chia, „Emerging Faith Boundaries“. Lee / Sinitiere, Holy Mavericks (2009). Harrold, „Deconversion in the Emerging Church“ (2006). Wollschleger, „Off the Map“ (2012). Es gibt einige Untersuchungen, die nur eine Gemeinschaft empirisch untersuchen – diese sollen aufgrund ihrer schwer generalisierbaren Aussagekraft nicht eigens vorgestellt werden, werden jedoch in die weitere Darstellung in dieser Arbeit einbezogen. Zum Beispiel Labanow, Evangelicalism and the Emerging Church (2009). Poloma und Hood stellen eine innerstädtische „Emerging Church“-Gemeinschaft in Atlanta vor und verorten diese in der US-amerikani�schen Pfingstbewegung. Poloma / Hood, Blood and Fire (2008). Eine Untersuchung über eine US-amerikanische emergente Gemeinschaft legte Marti 2005 vor. Marti, A Mosaic of Believers (2005). Oder auch Stockdale, der zwei emergente Gemeinschaften, „Novitas“ in Wellingham, England, und „Common Table“ in Springfield, USA, untersucht hat. Stockdale, „Ecclesiolog�ical Contributions of Emerging Churches for their Parent Communities“ (Dissertation, The University of Edinburgh, 2013). 93 Eine zentrale Gemeinsamkeit der Studien sind demnach die vergleichbaren Forschungsfragen. Die Autoren fragen danach, was wesentliche Merkmale der Konversation wie Eigenarten und Alleinstellungsmerkmale sind. Tony Jones’ Einstiegsfragen für seine qualitativen Interviews sollen an dieser Stelle exemplarisch genannt werden: 1. Frage: „Who are you and why do you go to this church?“ 2. Frage: „What are the core practices that set this church apart (from oth�er faith communities in your area)?“ 3. Frage: „What are the core characteristics – theological and practical – of these emerging churches?“ Jones, The Church is Flat (2011), 53. Vergleiche dazu Packard, The Emerging Church (2012), 177–180. 94 In den letzten Jahren ist bei Untersuchungen über die „Emerging Church“ ein dominanter soziologischer Ansatz erkennbar. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 7 Die „Emerging Church“Konversation – eine Standortbestimmung. 95 Tony Jones sagt in seiner Untersuchung, dass viele Zusammenstellungen und Bestandsaufnahmen der „Emerging Church“-Konversation an einer Stelle methodisch scheiterten: „[…] None has as yet investigated the ECM by asking the persons who attend these churches what
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1. Einleitung
Weiter ist zu beachten, wie die Autoren auf die Gemeinschaften gestoßen sind. Während Gibbs und Bolger die Auswahl der „Emerging Church“-Gemeinschaften mit deren erkennbarer virtueller Präsenz begründen,96 reicht der Weg der Auswahl von persönlichen Freundschaften (Tony Jones) bis hin zu durch die Zeit profilierten „Emerging Church“-Gemeinschaften (wie z. B. „Solomon’s Porch“ oder „Church of the Apostles“). Bei drei Untersuchungen überschneiden sich die untersuchten Gemeinschaften: „Church of the Apostles“ und „Solomon’s Porch“ werden bei Gibbs / Bolger, Whitesel sowie Jones genannt, „Vintage Faith Church“ bei Whitesel und Jones. Zuletzt ist anzumerken, dass die Gesprächspartner Teil unterschiedlicher Konfessionen sind.97 Daneben beschreiben viele „Emerging Church“Protagonisten ihre Gemeinschaft als „independent“ oder befinden sich im unorganisierten religiösen Segment. Aus diesem Grund bedarf es einer Verortung im religiösen Feld.
1.6 Schreibweisen und Formalitäten Ich verwende den Begriff „Emerging Church“-Gemeinschaft gleichwertig mit der Bezeichnung „emergente Gemeinschaft“ und nicht die Beifügung „Gemeinde“, da viele dieser Vergemeinschaftungen weder im rechtlichen Sinn eine Gemeinde sind noch einer Dachorganisation angehören oder einige sich selbst nicht als Gemeinde oder Kirche verstehen.98 Viele emergente Gemeinschaften widerstehen zudem dem Begriff „church“ in ihrer Selbstbezeichnung und lehnen damit einen institutionalisierten Gemeinschaftsbegriff ab, z. B. „Jacob’s Well“, „Journey“ oder „Solomon’s Porch“. Der Begriff „Gemeinschaft“
draws them to their respective faith communities […]“. Dabei bezieht er sich auf Untersuch�ungen, die lediglich Leitungspersonen und prominente Verantwortliche in den Vordergrund stellen. Jones, The Church is Flat (2011), 11. 96 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 332. 97 Gibbs, Bolger und Bielo haben die größte Anzahl unterschiedlicher Denominationen aufzuweisen. Siehe Abschnitt II Kapitel 7.1 Edward Gibbs und Ryan Bolger „Emerging Church“ (2005). Bei James Bielo: „United Methodist, Reformed Church of America, General Bap� tist Conference, Southern Baptist Convention, Vineyard Fellowship, Presbyterian Church of America, Presbyterian Church-USA, Church of Christ, Episcopalian, Anglican, Church of the Nazarene.“ Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 23. 98 Im Folgenden wird von emergenten Gruppen und Gemeinschaften sowie von Vergemeinschaftungen gesprochen und nicht von „Kirche“ oder „Gemeinde“, weil damit eine Vielzahl von emergenten Initiativen, Projekten, Gruppen und andere Formate subsummiert werden können.
1.6 Schreibweisen und Formalitäten
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deutet an, dass durch gemeinsam kommunizierte Fragen, Interessen, Werte und Anschauungen eine (oftmals zeitlich begrenzte) Vergemeinschaftung entsteht. Ebenfalls muss darauf hingewiesen werden, dass es schwierig ist, den Begriff „church“ eindeutig zu übersetzen. Im Englischen meint „church“ sowohl Ortsgemeinde, christliche Gemeinschaft sowie eine betreffende Kirchengemeinde einer Denomination99 als auch christliche Kirchen und Gemeinschaften allgemein, also im Sinn der Weltkirche. Im anglo-amerikanischen Kontext wird aufgrund der Verfasstheit der christlichen Religion (hier besonders für jene aus einer Evangelikalismustradition) mit „church“ hauptsächlich die lokale Gemeinde und christliche Gruppe / Gemeinschaft beschrieben. Dabei werden in seltenen Fällen die Mitglieder einer Gemeinde unter „church“ subsummiert, sondern die regelmäßig, z. B. zum Gottesdienst, versammelten Menschen.100 Im „Emerging Church“-Kontext werden die Begriffe Kirche, Gemeinde und Gemeinschaft unscharf verwendet. Man kann für die Konversation sagen, dass mit „church“ zuallererst die lokal oder virtuell sowie punktuell vernetzten Menschen gemeint sind, die in einem Kommunikationszusammenhang stehen.101
99 Mit Stefan Paas kann hervorgehoben werden, dass die Orientierung an der Ortsgemeinde mit der anglo-amerikanischen Evangelikalismus-Tradition zusammenhängt. Er sagt: „Most evangelicals adhere to a congregational and denominational view of the church, […].“ Paas, Church Planting in the Secular West (2016), 6. Unter Denominationen wird in dieser Arbeit verstanden: „[…] religious bodies or associations of congregations that are united under a common historical and theological umbrella, that are presumed equal under the law […].“ Roberts / Yamane, Religion in Sociological Perspective (2011), 187. 100 Diese Form der Zählung gilt auch für den britischen Kontext. 101 Diese Kommunikationszusammenhänge sind vergleichbar mit der von Hauschildt und PohlPatalong beschriebenen „Gruppe“. Sie sagen: „Gruppen sind attraktiv, weil sie auf drei elementare Bedürfnisse eingehen: das Bedürfnis nach persönlicher Wahrnehmung, nach Gefühlen der Zuneigung und nach Wir-Identität. Diese Bedürfnisse fügen sich zusammen im Bedürfnis nach Gemeinschaft.“ Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche (2013), 139–140. Ein häufiges Zentrum der versammelten Gemeinschaft ist dabei der Gottesdienst (im Engl. „worship“) neben anderen Ausdrucksformen wie Kleingruppen oder Dienstgruppen. Eine solche Gemeinschaft kann Teil einer übergreifenden Organisation oder Denomination sein, wie bei den protestantischen und katholischen Kirchen üblich („Lutheran“, „Baptist“, aber auch jüngere protestantische Organisationen wie „Vineyard“ oder „Calvary Chapel“), oder „independent“ sein. Außerdem gibt es emergente Gemeinschaften, die sich nicht dem orga�nisierten religiösen Segment zuordnen würden, sondern als Netzwerke agieren.
2. Forschungsüberblick 2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion 2.1.1 Forschungsgeschichte zum Verlassen der religiösen Orientierung und zu Dekonversionen Obwohl das Zurücklassen einer religiösen Orientierung ein wichtiges Thema in der gegenwärtigen religiösen Landschaft ist, wird dem in der Forschung erst in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit zuteil.1 Im folgenden Kapitel soll ein kurzer forschungsgeschichtlicher Überblick mit jener Maßgabe gegeben werden, dass die Mehrheit der emergenten Protagonisten im jungen Erwachsenenalter sind.2 Die Dekonversionsforschung ist von der Konversionsforschung in der Frühphase ihrer geschichtlichen Entwicklung nicht zu trennen.3 Lange Zeit war Dekonversion kein eigener Forschungsbereich, sondern wurde in Anlehnung an Konversion verhandelt.4 Beide Forschungsgebiete waren und sind aufeinander
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Dies wurde bereits von Roozen erkannt. Roozen, „Church Dropouts“ (1980). Auch Bromley weist auf die Notwendigkeit von Forschung zu Dekonversion hin: Bromley, „Unraveling Reli�gious Disaffiliation“ (1991). Uecker / Regnerus u. a., „Losing My Religion“ (2007). Schweitzer, „Religious Affiliation and Disaffiliation in Late Adolescence and Early Adulthood“ (2000). 2 Marti: „The Emerging Church Movement and Young Adults“, (The Changing Spirituality of Emerging Adults Project Collection), https://cuislandora.wrlc.org/islandora/object/achc-cseapc:2 am 17.05.2018. 3 Für eine ausführliche Darstellung der Forschungsgeschichte der Dekonversionsforschung siehe Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004). Oder auch Hood, „American Psychology of Religion and the Journal for the Scientific Study of Religion“ (2000). James H. Leuba war 1916 einer der ersten, der sich im religionspsychologischen Kontext dem Phänomen des Atheismus zuwandte (und damit eines Ausstiegsverlaufs von Dekonversion). Leuba, The Belief in God and Immortality (1916). Bekehrung und Dekonversion werden erst in der gegenwärtigen Forschung gleichwertig diskutiert. 4 So kam es auch für die Konversionsforschung erst im 20. Jahrhundert, besonders durch die religionspsychologischen Impulse von William James, zu einer verstärkten Zuwendung zu diesem Themengebiet. Einschneidend war dabei das Werk von William James, der 1902 die moderne Forschung zu Konversion einläutete. James / Herms u. a., Die Vielfalt religiöser Erfahrung (2014). Für eine Geschichte der Konversion bis zum 20. Jahrhundert siehe Rambo, „The Psychology of Conversion“ (1992). Für eine genaue Darstellung der Geschichte der religionssoziologischen Konversionsforschung siehe Pollack, Rückkehr des Religiösen (2009), 304–326.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
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bezogen, obwohl das Interesse an Konversion in der Forschung früher anzusiedeln ist.5 Wie kam es nun zur Herausbildung der Dekonversionsforschung? (1) Erst seit den 1970er-Jahren entwickelte sich, zuerst im anglo-amerikanischen Raum, aufgrund der Beobachtung und Untersuchung von Sekten und Neuen Religiösen Bewegungen ein eigenständiges Interesse an diesem Thema.6 Dabei wurde Dekonversion größtenteils als plötzlicher Wendepunkt beschrieben, der von einer Krise oder einem Konflikt ausgelöst oder begleitet wird. Die jüngere Forschung erklärt Dekonversion nicht mehr verengt mit dem Krisenmodell, sondern als einen dynamischen Prozess, in dem Krisen eine Rolle spielen können, aber nicht müssen.7 Die wenigen Studien, die „Apostasie“8 („Abfall vom Glauben“), „alternation“ („Wechsel von religiöser Orientierung“)9 oder „disaffiliation“ („Trennung“ oder 5
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Im Folgenden soll es nicht um eine ausführliche Darstellung der Konversionsforschung gehen, sondern auf exemplarische Bezüge zwischen den beiden Themenkomplexen verwiesen werden. Für eine Darstellung der Konversionsforschung siehe Hood / Hill u. a., The Psychology of Religion (2009), 206–243. Levine, Radical Departures (1984); Skonovd, „Apostasy“ (Dissertation, University of California, 1981). Heute wird der Begriff „Sekte“ nicht mehr verwendet, sondern „Neue Religiöse Bewegung“. Bereits in den 1990er-Jahren fasst Winell folgende Gründe von Interviewteilnehmenden als ausschlaggebende Faktoren zusammen, um eine fundamentalistische Gemeinschaft zu verlassen: „developmental change“, „the bible and fundamentalist doctrine“, „fundamentalist attitudes“, „sexism and patriarchy“, „disappointment with Christian life“, „disenchantment with Christian community“, „new information and other worldviews“, „comfort in the world“, „other fulfillments“. Damit wird Glaubensentwicklung ebenso berücksichtigt wie Kritik am Lebensvollzug, Begegnung mit Alternativen, intellektuelle Zweifel und auch Verlust der Gemeinschaftserfahrung. Winell, Leaving the Fold (1993), 87–101. Bereits Janet Jacobs weist 1987 darauf hin: „[…] the process of leaving as a gradual and volun�tary phenomenon that reflects disillusionment with both the social and emotional dimensions of religious commitment.“ Jacobs, „Deconversion from Religious Movements“ (1987), 294. Hood et al. sagen dazu: „[…] the process may be sudden or gradual or mixed.“ Hood / Hill u. a., The Psychology of Religion (2009), 206–218. Der Einfluss der Konversionsforschung auf die Dekonversionsforschung zeigt sich beispielhaft im Folgenden: In der Konversionsforschung wurden zwei Paradigmen, nämlich jenes eines plötzlichen Sinneswandels und jenes einer prozesshaften Veränderung zur Beschreibung von Konversion herangezogen. Dabei wurde jedoch lange Zeit das erste Modell (abgeleitet von dem plötzlichen Sinneswandel, den Saulus auf dem Weg nach Damaskus erfahren hat) bevorzugt und im Kontext einer Krise, die eine solche Konversion ausgelöst hat, beschrieben. Das hat durch analoge Anwendung dazu geführt, dass Dekonversion eindimensional als „Abfall vom Glauben“ verstanden wurde (Brinkerhoff / Burke) und nicht, wie begründet werden kann, als Prozess, der zuweilen ein „movement between ‚belief and unbelief ‘“ (Streib / Keller) beinhalten kann. So beschreiben es auch 1980 noch Brinkerhoff und Burke. Brinkerhoff / Burke, „Dis�affiliation“ (1980). Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004), 184. Dieser Begriff wird vor allem im Kontext der abrahamitischen Religionen verwendet. Travisano geht sogar soweit, zu sagen, dass seit den 1970er-Jahren ein „age of alternation“ an�gebrochen ist. Siehe dazu beispielhaft Travisano, „Alternation and Conversion as Qualitatively Different Transformations“ (1970), 606.
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2. Forschungsüberblick
„Entfremdung“) im Kontext der religiösen Landschaft untersuchten, befragten dies aus einer hoch-spezialisierten Warte heraus, beispielsweise unter demografischen10 oder geografischen Gesichtspunkten.11 Andere Zuspitzungen sind etwa Glaubensabfall bei speziellen religiösen Gruppen und Gemeinschaften.12 (2) Zum Zweiten wurde und wird Dekonversion im Kontext der Entwicklungspsychologie untersucht, nämlich bei Jugendlichen, die im Übergang ins Erwachsenenalter stehen.13 Dabei werden Aspekte der religiösen Sozialisation, der Tradierung des Glaubens und andere Faktoren beachtet. Dekonversion wird hier mehrheitlich als intellektuell-reflexiver Akt junger Erwachsener beschrieben, die ihre religiöse Sozialisation hinterfragen.14 (3) Drittens wurde die Dekonversionsforschung maßgeblich durch den Rückgang volkskirchlicher Wirklichkeiten, den Weg vieler Menschen aus den organisierten religiösen Gemeinschaften und Kirchen und den Verlust der Deutungshoheit religiöser Institutionen angetrieben.15 Eine Reihe von Studien zu „church leavers“ und „Apostaten“ beschreiben (nicht nur im anglo-amerikanischen Kontext) aus Sicht jener, die eine Denomination oder Konfession
10 Etwa bei Uecker / Regnerus u. a., „Losing My Religion“ (2007). Oder bei College-Studieren�den, siehe Caplovitz / Sherrow, The Religious Drop-outs Apostasy Among College Graduates (1977). 11 Jacobs, „Deconversion from Religious Movements“ (1987). 12 Albrecht / Bahr, „Patterns of Religious Disaffiliation“ (1983). Oder aktueller: Davidman / Greil, „Characters in Search of a Script“ (2007). Oder auch das Verlassen religiöser Gruppen wie die Mormonen. Bahr / Albrecht, „Strangers Once More“ (1989). Für eine Darstellung der Forschungsgeschichte der 1960er- bis 1970er-Jahre siehe Brinkerhoff / Burke, „Disaffiliation“ (1980), 41–42. 13 Wuthnow und Glock zu den ersten Ergebnissen aus dem Jahr 1973: „We know now, as we did not know beforehand, that for these Berkeley students religious defection is not a sign of religious disenchantment alone. Rather, it is only one of a number of signs of a more general disenchantment with the conventional. Moreover, alternative religious commitments seem, if anything, to support rather than dissipate other forms of countercultural behavior.“ Wuthnow / Glock, „Religious Loyalty, Defection, and Experimentation Among College Youth“ (1973), 175. 14 Eine aktuelle Veröffentlichung aus diesem Gebiet im deutschsprachigen Raum wurde in dieser Arbeit aufgenommen, nämlich: Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014). 15 David Bromley dazu: „Recent theory and research on these processes have been stimulated by a variety of developments, such as the historic, absolute decline in mainline church membership coupled with an unanticipated surge in conservative church membership, a mass exodus from traditional religious orders, the rapid growth and subsequent decline of controversial new religious movements, and widespread experimentation with a diverse array of New Age and quasi-religious groups.“ Bromley, „Linking Social Structure and the Exit Process in Reli�gious Organizations“ (1998), 145. Großangelegte Studien haben in der Vergangenheit beispielsweise nach der religiösen Orientierung der Interviewpartner und deren Eltern gefragt, um Differenzen zu erkennen.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
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verlassen haben, die Veränderungen der religiösen Landschaft.16 Das ist ein gegenwärtig relevantes Thema, wie verschiedene Veröffentlichungen zeigen.17 Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass die Veränderungen in der „westlichen“ Gesellschaft, die nicht mehr nur von wenigen dominanten religiösen Traditionen bestimmt ist, Folgen für die Konversions- und Dekonversionsforschung haben. Streib weist darauf hin, dass religiöse Biografien komplexer werden und mehrfache Konversions- und damit auch Dekonversionserfahrungen aufweisen können.18 Was wurde bisher in der Dekonversionsforschung erreicht? Heinz Streib und Barbara Keller fassen es zusammen: We conclude that empirical research on deconversion has made some progress recently: it has stepped out from the crisis model of deconversion; it has opened the field of research to include a broader spectrum of religious orientations and organizations; and it has made attempts to include a developmental perspective in the analysis.19
iese aktuellen Entwicklungen sollen bei dem im Folgenden vorgestellten Dekonversionsbegriff berücksichtigt werden.
2.1.2 Aktuelle Ergebnisse aus der Dekonversionsforschung 2.1.2.1 Vorbemerkungen Es werden im Folgenden Untersuchungen zum Verlassen einer religiösen Gemeinschaft20 („de-churched“-Personen) und dem Verlust einer religiösen Orientierung (Dekonversion) mit besonderem Fokus auf Personen mit vormaliger christ-
16 Für die USA: Altemeyer / Hunsberger, Amazing Conversions (1997). Hunsberger, „Swim� ming Against the Current“ (2000). Für England: Fanstone, The Sheep That Got Away (1993). Francis / Richter, Gone But Not Forgotten (1998). Für Neuseeland: Jamieson, A Churchless Faith (2002). Jamieson / McIntosh u. a., Church Leavers (2006). 17 Folgende Frage ist dabei leitend: „What causes individuals to disaffiliate, i. e., reduce church attendance and / or become nonmembers?“ Siehe dazu beispielhaft Te Grotenhuis / Scheepers, „Churches in Dutch“ (2001). 18 Siehe dazu Streib, „Deconversion“ (2014). 19 Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004), 189. 20 Ebenso sei darauf hingewiesen, dass Studien inkludiert werden, die den Austritt aus einer christlichen Religionsgemeinschaft untersuchen und nicht speziell unter dem Stichwort Dekonversion erkennbar sind (z. B. Francis / Richter, Aisthorpe). Zu den Begriffen und Zugehörigkeiten im religiösen Feld siehe QR-Code im Vorwort.
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2. Forschungsüberblick
licher Orientierung in den USA und England (im Einzelfall aus evangelikalen, konservativen oder fundamentalistischen Gruppen und Gemeinschaften) vorgestellt (Fanstone, Francis / Richter, Aisthorpe, McKnight / Ondrey, Barbour, Jamieson, Streib et al.). Fokus der weiteren Darstellungen ist, wie ehemals Hochverbundene / Hochreligiöse ihre Entfremdung und Loslösung wahrnehmen und beschreiben. Begründet wird dies damit, dass die Mehrheit der Protagonisten in der „Emerging Church“-Konversation religiöse Vorerfahrungen haben und „de-churched“ sind.21 Ergänzt werden diese durch allgemeine Einsichten aus der Dekonversionsforschung.22 Die Relevanz dieser Eingrenzung ergibt sich erstens daraus, dass die „Emerging Church“-Konversation primär ein Phänomen der anglo-amerikanischen religiösen Landschaft ist. Es sollen bevorzugt Ergebnisse aus diesem Kontext vorgestellt werden, in dem Evangelikalismus und christlicher Fundamentalismus eine bedeutende Rolle spielen und für die „Emerging Church“Konversation in ihrer Auseinandersetzung wesentlich sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient die „Bielefeld-based Cross-cultural Study on Deconversion“, die ein Brückenschlag zwischen der US-amerikanischen und deutschen religiösen Landschaft bietet. Durch einen Exkurs zu einer deutschsprachigen Dekonversionsstudie (Faix) wird deutlich, dass die Merkmale, Kriterien und Ergebnisse vergleichbar sind. Diese fließen in die Konzeption des Dekonversionsbegriffs ein.
2.1.2.2 Barbour „Versions of Deconversion“ (1994) 2.1.2.2.1 Inhalt und Ergebnisse Um Dekonversion als Begriff und Konzept angemessen zu erklären, muss man bei dem Literaturhistoriker John Barbour und dessen Veröffentlichung 1994 zu diesem Thema beginnen.23 Barbour präsentierte 1994 eine Analyse bekannter Persönlichkeiten und Theologen der letzten Jahrhunderte und beschreibt deren Glaubensbiografien.24 Er analysiert, warum ehemals hochreligiöse Menschen Glaubensabbrüche erlebten. Damit konstituiert er eine neue literarische Gat-
21 Vgl. Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011), 9. Perriman, Otherways (2007), 10. Ja�mieson, „Post-church groups and their place as emergent forms of church“ (2006), 69. Sie� he dazu genauer Abschnitt II Kapitel 5 Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten. 22 Das heißt auch Studien zum Verlassen von Sekten und anderen religiösen Gruppen und Gemeinschaften. 23 Barbour, Versions of Deconversion (1994). John Barbours Publikation war ein wesentlicher Beitrag, um die Dekonversionsforschung als eigenständiges Desiderat zu etablieren. „Versions of Deconversion“ erwuchs aus Barbours Beschäftigung mit Autobiografien. Siehe dazu Bar�bour, The Conscience of the Autobiographer (1992). 24 Diese reichen von Augustin über John Bunyan und John Henry Newman bis hin zu Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
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tung, indem er Glaubensverlust und die religiöse Autobiografie zusammenbringt.25 Der Autor definiert Dekonversion allgemein als „loss or deprivation of religious faith“26 und meint damit eine Bewegung weg von religiösen Überzeugungen. Für Barbour ist Dekonversion eine sprachliche Metapher, die ganz allgemein religiöse Veränderung beschreibt und andeutet, dass religiöse Individualisierung in den westlichen Gesellschaften zu dominieren beginnt. Barbour spricht über Dekonversion als ein „turning from“ im Gegensatz zu Konversion als ein „turning to“.27 Barbour beschreibt Dekonversion als Verlust des Glaubens an Gott oder den Verlust einer religiösen Tradition und Gemeinschaft, speziell als Lossagen von Dogmen oder Institutionen.28 Er bringt Konversion und Dekonversion wie folgt miteinander ins Verhältnis: „In one sense, every conversion is a deconversion, and every deconversion a conversion. The ‚turning from‘ and ‚turning to‘ are alternative perspectives on the same process.“29 Damit wird Dekonversion für ihn zur Voraussetzung für Konversion und Konversion zur Voraussetzung für Dekonversion.30 Für den Autor hängen Aufkommen und Interesse an Dekonversion zum einen mit einem wachsenden Individualismus und religiösen Pluralismus in der Moderne zusammen (A). Das Interesse an Dekonversion ist beeinflusst vom „[…] belief in the right and duty of each individual to choose his or her beliefs in a responsible manner.“31 Zum anderen sind es vier spezifische Dekonversionsfaktoren, die seiner Meinung nach bei dekonversiven Prozessen auftreten und diese beschleunigen können (B). A) John Barbour beschreibt Dekonversion als Produkt des Strebens nach Authentizität. Dieses Streben nach Authentizität, das in der Moderne begann,32 25 Aikman, „Religious Autobiography“ (2013), 740. Als Literaturkritiker interpretiert er Glaubens�verlust als sprachliche Metapher in den autobiografischen Zeugnissen. 26 Barbour, Versions of Deconversion (1994), 2. 27 Damit meint der Autor, dass sich Menschen mit dekonversiven Erfahrungen von Glaubensüberzeugungen oder religiösen Lebensvollzügen abwenden und diese zurücklassen. Konversion hingegen ist eine bewusste Zuwendung hin zu Glaubensüberzeugungen oder Lebensvollzügen. Barbour meint zu Konversion: „A religious conversion is a profound change in belief and action in relation to what a person conceives of as ultimate reality.“ A. a. O., 1. 28 A. a. O., 5. 29 A. a. O., 3. 30 Diese Gleichsetzung soll in der für diese Arbeit grundlegenden Dekonversionsdefinition differenziert werden. 31 Barbour, Versions of Deconversion (1994), 51. Barbour: „Whereas a story of conversion may not be fully convincing or moving to those who do not hold the author’s final beliefs, a story of deconversion can potentially appeal to readers united only by belief in the right and duty of each individual to choose his or her beliefs in a responsible manner.“ A. a. O. 32 Er erklärt, dass die Suche nach Authentizität mit der urbanen Industrialisierung und der damit verbundenen Entfremdung von Arbeiter und Ware ihren Anfang genommen hat. Charles Lindholm beschreibt diesen Ansatz genauer: Lindholm, Culture and Authenticity (2008).
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2. Forschungsüberblick
wird in der Postmoderne zugespitzt und radikalisiert. Er schildert Authentizität als Flucht vor Autorität, tradierten Paradigmen und vor der Anpassung an überlieferte Formen. Weiter beschreibt Barbour „Authentizität“ als Selbstbestimmung, als individuelle Konzeption der Lebensgestaltung und als Widerstand gegen die Anpassung. Die Bedrohung derselben nähre laut Barbour dekonversive Prozesse.33 Fünf Umstände verdeutlichen gemäß Barbour das Streben der Person nach „original, real, and pure“34: 1. Neben dem Lebensgefühl „unter Fremden zu leben“35 und der damit verbundenen Isolation und Unsicherheit, 2. herrsche die Empfindung vor, dass eine Person getrennt sei von dem Erleben von Wahrhaftigkeit. 3. Darüber hinaus erlebt das Individuum autoritäre Strukturen als bedrückend, 4. gängige Denk- und Glaubensmuster als Last 5. und soziale Uniformität als Druck.36 Das Zusammenspiel dieser fünf Umstände begünstige laut Barbour Dekonversionen.37 B) Barbour identifiziert in seiner Untersuchung vier Merkmale, die alle untersuchten Dekonversionsgeschichten von Augustinus bis Malcom X prägten:38 1. Zweifel oder Ablehnung eines Glaubenssystems oder Wahrheitskonstrukts („Doubt or denial of the truth of a system of beliefs“) 2. Moralische Kritik am Lebensvollzug anderer Christen („Moral criticism of an entire way of life“) 3. Emotionale Leiderfahrung, entweder Trauer, Schuld, Einsamkeit oder Verzweiflung („Emotional suffering that consists of grief, guilt, loneliness and despair“) 4. Ablehnung oder Entfremdung von der Gemeinschaft („Rejection / disaffiliation of a community of belonging“).39 33 Barbour: „[…] deconversion is a subtle yet pervasive impulse and theme not only in autobio�graphies but in a great deal of modern and postmodern thinking. Deconversion is a metaphor for our times that expresses modernity’s search for authenticity, which so often takes the form of a flight from authority, from inherited paradigms of thought, and from various forms of pressure to conform.“ Barbour, Versions of Deconversion (1994), 210. 34 A. a. O., 2. 35 Siehe a. a. O., 3. 36 Zitiert in Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 45. 37 Für Barbour ist Augustinus der ideale Typus eines Dekonvertiten, der die beschriebenen äußeren fünf Bedingungen erlebt hat. 38 Barbour: „[…] the metaphor in Western culture for analogous experience of change involving radical doubt, moral revulsion from a way of life, emotional upheaval, and rejection of a community.“ Barbour, Versions of Deconversion (1994), 35. 39 A. a. O., 2. Bielo, „Belief, Deconversion, and Authenticity Among U.S. Emerging Evangelicals“ (2012), 265.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
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In Barbours Veröffentlichung weisen die Dekonversionsnarrative der untersuchten Protagonisten mindestens drei der vier Merkmale auf.40 2.1.2.2.2 Zusammenfassung und Diskussion Barbours Beitrag liegt darin, dass er kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen (makroperspektivisch) auf deren Einfluss auf Dekonversion hin beobachtet. Damit werden Empfindungen genannt, die in dekonversiven Prozessen eine Rolle spielen können (Entfremdung / Unsicherheit / Erlebnisverlust / Bürde unter Autorität, Tradition und Konformität). Für Barbour ist die Suche nach Authentizität die Zuspitzung solcher (für die Postmoderne üblicher) Lebensgefühle und damit ein wichtiger Faktor in der Beschreibung gegenwärtiger dekonversiver Prozesse. Diese Erkenntnis ist an die Debatte individueller Lebensgestaltung unter postmodernen Bedingungen anschlussfähig. Für postmoderne Menschen ist das Leben, ähnlich wie es Barbour sagt, geprägt von der Suche nach Authentizität – dem „original, real and pure“. Diese Suche findet in einer unsicheren, von traditionellen Strukturen immer mehr entfremdeten, erlebnisdürren Zeit statt. Barbours Hinweis, dass Dekonversion inspiriert ist von der Pflicht des Individuums seinen eigenen Glauben zu konstruieren und zu verantworten, ähnelt Peter Bergers Diktum eines „heretical imperative“. Dieser geht davon aus, dass Menschen im Zuge individueller Wahrheitssuche offen für neue Erfahrungen und Veränderung sind. Des Weiteren folgert er aus der Analyse der untersuchten historischen Dekonversionsnarrative vier Kriterien, die Einfluss auf die Dekonversion haben können. Barbours vier Kriterien, die Dekonversionen prägen, sind zu einem Bezugspunkt in der Dekonversionsforschung geworden. Sie bedürfen jedoch der Erweiterung durch einen weiteren Aspekt, nämlich des Kriteriums der Erfahrung, wie dies Heinz Streib et al. vorschlagen. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass die Dekonversionsdefinition des Autors unzureichend ist. Dekonversion lediglich als „Verlust des religiösen Glaubens“ zu bezeichnen, ist zum einen unscharf formuliert und vernachlässigt zum anderen biografische Entwicklungen im Leben der Dekonvertiten. Barbours Grundunterscheidung Dekonversion als „turning from“ zu kategorisieren (im Gegen40 Dabei unterscheidet er unterschiedliche „versions of deconversion“, die Folgendes inkludieren: „radical changes of identity and character“ (so etwa bei Rousseau, Carlyle, John Stuart Mill), „depiction of spiritual crisis“ (etwa bei Ruskin, Gosse), „multicultural critique of Christianity“ (Frederick Douglass, Charles Eastman, Malcom X, Lame Deer), „moral and ethical considera�tions that guide one’s belief “ (Mary MacCarthy, Anthony Kenny), „the loss of faith in a secular alternative to religion“ (Sartre), „rebellion against God“ (C. S. Lewis, Dorothy Day, Langdon Gilkey, Edwin Muir), „gender identity“ (Mary Daly, Kathleen Norris, Terry Tempest Williams, China Galland, Patricia Hampl) und „cults and deprogramming“ (Sophia Collier, Jeannie Mills, Ted Patrick, Christopher Edwards). Siehe zu dieser Unterteilung Ziolkowski, „Book Reviews“ (1996), 166.
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2. Forschungsüberblick
satz zu „turning to“), relativiert er selbst mit der Aussage, dass Konversion und Dekonversion ineinander verwoben und praktisch austauschbar sind.41 Für Barbour wäre, nach seiner Definition, eine Hinwendung zum säkularen Feld auch Konversion. Eine prinzipielle Einteilung in Konversion und Dekonversion wird damit m. E. obsolet. In dieser Arbeit soll daran festgehalten werden, dass beide Begriffe zwar verwoben sind, aber nicht austauschbar.
2.1.2.3 Jamieson „A Churchless Faith“ (1996, 2001) 2.1.2.3.1 Inhalt und Ergebnisse Der neuseeländische Pastor und Soziologe Alan Jamieson beschäftigte sich in den 1990er-Jahren mit dem Austritt von Personen aus sogenannten „EPC“Gemeinden. „EPC“ steht für Gemeinden evangelikaler, pfingstkirchlicher und charismatischer Prägung.42 Jamieson untersuchte im Zeitraum von 1994 bis 1996 Glaubensentwicklungen bei Personen in Neuseeland, die ihre Gemeinden verlassen hatten, zuvor jedoch hochreligiös waren. Dazu führte er 100 qualitative Interviews mit Personen aus Neuseeland, die viele Jahre mit ihren Gemeinden verbunden waren, oft in leitenden Positionen (z. B. Pastoren) und 50 qualitative Interviews mit gemeindeleitenden Personen.43 Erstmals gab es damit in den 1990er-Jahren eine Untersuchung, die Dekonversion in Zusammenhang 41 Obwohl jeder Dekonversion eine Konversion und jeder Konversion eine Dekonversion (im Sinne Barbours) innewohnt, muss von einer Unterscheidung gesprochen werden. Dies wird in Abschnitt III Kapitel 1.3 Unterscheidung zwischen Konverstion und Dekonversion deutlich. 42 Unter diesen Begriffen sind viele unterschiedliche Gemeindetypen zusammengefasst. Bei dem Begriff „evangelikal“ ist verbindend, dass ein theologisch konservativer Evangelikalis�mus vorherrscht, der einen Primat der „Bekehrung“ hat. Das hat nach Jamieson dazu geführt, dass Anliegen der sozialen Gerechtigkeit, Politik oder auch die Entwicklung des individuellen Glaubens zu kurz kamen. Jamieson, A Churchless Faith (2002), 23. Typisch für pfingstkirchliche und charismatische Prägung ist für Jamieson, dass Leiter aufgrund der Betonung außergewöhnlicher Begabung und außergewöhnlichen Charismas mehr Macht und Einfluss haben als Leiter in traditionellen Kirchen. A. a. O., 24–25. Jamieson bewertet den Einfluss der Gemeindewachstumsbewegung auf die „EPC“-Gemeinden als groß, woran sich die Interviewpartner stießen. Zur allgemeinen Beschreibung siehe a. a. O., 19–28. Jamieson beschreibt diese Gemeinden nach James Fowlers Modell der „faith stages“ auf Sta� dium drei. Während das Stadium der Glaubensentwicklung der Befragten in der religiösen Gemeinschaft gleich war, bewegten sich die Befragten nach dem Lossagen von der Gemeinde in unterschiedliche Richtungen weiter. A. a. O., 120. 43 A. a. O., 9. Er berichtet, dass alle seine Interviewpartner als Erwachsene zum Glauben gekommen waren, wobei die Mehrzahl zum Zeitpunkt des Interviews zwischen 30 und 40 Jahre, berufstätig und mehrheitlich verheiratet war. A. a. O., 11. 94 % hatten eine Leitungsposition inne (Diakon, Kleingruppenleiter, Ältester etc.), davon waren 32 % im hauptamtlichen Dienst. Die Befragten waren im Durchschnitt 15 Jahre im Gemeindeleben aktiv gewesen, wobei 40 % in dieser Zeit mit einem theologischen Studium, Gemeindearbeit oder der Mitarbeit in einer christlichen Organisation beschäftigt waren.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
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mit der Glaubensentwicklung / Glaubensveränderung („faith development“ nach James Fowler44) der Befragten und nicht nur mehr als „Glaubensabfall“ beschreibt.45 Die Studie überschreibt der Autor mit den Worten „a churchless faith“ („ein kirchenloser / gemeindefreier Glaube“) und macht eine der Haupterkenntnisse damit deutlich: Offensichtlich hielten viele Menschen, die sich von einer Glaubensgemeinschaft losgesagt hatten, am christlichen Glauben fest.46 44 James Fowler beschreibt „glauben“ als einen dynamischen, sich verändernden und sich weiterentwickelnden Prozess. Fowler definiert „Glaube“ wie folgt: „Wofür investierst du dich? Wovor fürchtest du dich? Worauf vertraust du? Auf wen oder was verlässt du dich im Leben, im Sterben? Mit wem sprichst du über die geheimsten Hoffnungen und Wünsche für dein Leben? Worin bestehen diese Hoffnungen und Wünsche, was sind deine Ziele, was gibt dir in deinem Leben Sinn?“ Das sind laut Fowler Fragen des Glaubens. Fowler, Stages of Faith (1981), 3. Damit definiert er „faith“ als ein universal menschliches Phänomen, das durch unsere Umgebung reift. A. a. O., 23. Dabei beschäftigt er sich vorranging damit, wie Menschen glauben und nicht damit, was sie glauben. Wenn sich Veränderungen und neue Stufen einstellen, dann tauchen in folgenden Bereichen Veränderungen auf: „1) The way people think; 2) Their ability to see another’s point of view; 3) The way they arrive at moral judgements; 4) The way and extent to which they draw boundaries around their faith community; 5) The way they relate to external ‚authorities‘ and their truth claims; 6) The way they form their world view; and 7) The way they understand and respond to symbols.“ Francis / Richter, Gone But Not Forgotten (1998), 53. Fowler entwirft durch Interviews eine Stufenabfolge, wobei jede Stufe auf der vorherigen aufbaut. Fowler entwickelt folgende sechs Stufen, die in Abhängigkeit zum Alter stehen: 1) „intuitiveprojective faith“ ( 20 Jahre. A. a. O., 37. 106 A.a.O, 38. 107 A. a. O., 137. Bei Michael Fanstone waren es 7 %, die „God issues“ angaben. Fanstone, The Sheep That Got Away (1993), 79–80. 108 Hier wird beispielsweise die Pflicht aufgezählt an den Gottesdiensten regelmäßig teilzunehmen. Francis / Richter, Gone But Not Forgotten (1998), 88. 109 Francis / Richter, Gone But Not Forgotten (1998), 52.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
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„It would be a mistake, however, to conclude, that more lively worship was all the Busters were wanting. They were also keen for their understanding of the underlying meaning of Christianity to be developed.“110 In der Anglikanischen Kirche wurde basierend auf der Studie von Francis und Richter weitergeforscht und es wurden pastorale Handlungsanweisungen generiert.111 Obwohl die geografische Beschränkung der Befragung auf London und Umgebung kritisch anzumerken ist,112 wurde diese Studie zu einem Referenzwerk in der Frage nach Mission und Erneuerung in der Anglikanischen Kirche.113 Die Nachfolgestudie „Gone for Good“, 2007 ebenfalls von Francis und Richter vorgestellt, behob einige methodische Schwächen der vorangegangenen Studie und widmete sich erneut der Frage, warum Menschen die englischen Kirchen (3/5 kamen aus der Church of England, 1/5 aus der römisch-katholischen 110 A. a. O., 50–51. 111 So bezieht sich etwa der „Mission-shaped church“-Report auf die Ergebnisse von Francis und Richter. Cray / Council, Mission-shaped Church (2009), 36–42. Daneben war es die Studie von William Hendricks im US-amerikanischen Kontext, die die englische Forschung beinflusste. Hendricks interviewte Personen, die eine christliche Gemeinschaft verlassen hatten. So sagt es: Murray, Church after Christendom (2004), 48. Hendricks führt als Gründe für das Verlassen an: ein wachsender Vertrauensverlust in die institutionelle Integrität der Kirche, der Verlust von authentischen Beziehungen, Langeweile bei Gottesdiensten, Antipathie gegenüber enggeführten Vorstellungen des christlichen Glaubens, eine Desillusionierung mit dem christlichen Hype, Ermüdung wegen der Vielzahl an gemeindlichen Programmen, das Ablehnen eines Wohlstandsevangeliums, der Effekt von Nachrede und Betrug, Burn-out, Unzulänglichkeit der Gotteserfahrungen in Zeiten der Krise und das Versagen der Kirchen darin, ihre Mitglieder für das tägliche Leben zuzurüsten. Hendricks, Exit Interviews (1993). Eine weitere Studie wurde von Helen Cameron verfasst, die eine Entwicklung der Kohorten zeigt. Es zeigen sich leichte Verschiebungen, die Cameron wie folgt angibt: „churched 25 % with 15 % attend monthly, 2) dechurched 33 % with 5 % open to the idea of returning to church, 3) non-churched 33 % with 1 % open to the idea of going to church, 4) other 9 % with 6 % of another religion.“ Cameron, Resourcing Mission (2010), 7. Cameron folgert aus den Ergebnissen, dass es unterschiedliche kirchliche Ausdrucksformen braucht, um den unterschiedlichen Kohorten gerecht zu werden. Sie unterteilt in t raditionelle (parochiale) Angebote und neue Ausdrucksformen des Glaubens. Camerons Anliegen lässt sich grafisch wie folgt darstellen: Churched
De-churched
Un-churched
Existing form of church
Parishes and gathered congregations
Bridging activities and church plants
Life-cycle rituals; chaplaincy; schools
New forms of church
Diaspora congregations
Emerging church
Fresh expressions of church
A. a. O. 112 Kritik dazu siehe Walker, Testing Fresh Expressions (2014), 40–41. 113 Diese Studie wird unter anderem zitiert in: Mission and Public Affairs Council (Hg.), Missionshaped Church (2004).
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2. Forschungsüberblick
Kirche und 1/5 aus der Methodistischen Kirche) verlassen.114 Nachdem die Bemühungen der englischen Kirchen in den Jahren nach der Studie „Gone but not Forgotten“ gewürdigt werden, schließen die Autoren: „We take the view that programmes and invitations to welcome new members to enter by the front door into church life remain unproductive and inadequate unless attempts are also made to review what is happening at the back door through which churchleavers exit.“115 Francis und Richter folgern, dass die Kirchen den individuellen Persönlichkeiten mehr Raum geben und individuelle Lebens- und Glaubenswege besser wahrnehmen müssten. Ihr Bestreben ist es, Menschen, die die Kirchen verlassen, Möglichkeiten zu geben, wieder Anschluss an kirchliche Angebote zu finden.116 Dabei gelingt das jenen mit größerer Wahrscheinlichkeit, die angaben, dass ihr Alltag mit den kirchlichen Angeboten nichts zu tun hatte.117 Sie schlagen ein Modell vor, genannt „multiplex church“, das eine Vielzahl von verschiedenen Vergemeinschaftungsmöglichkeiten vorsieht (entweder in einem gemeinsamen Gebäude oder an verschiedenen Orten). Jede dieser kirchlichen Ausdrucksformen biete einen anderen Akzent christlicher Spiritualität an. In diesem Zusammenhang schlagen die Autoren weiter vor, dass „church switching“ dem Verlassen der christlichen Kirchen vorzuziehen sei. 2.1.2.4.3 Aisthorpe „Invisible Church“ (2016) Zuletzt soll eine aktuelle Veröffentlichung aus Großbritannien von Steve A isthorpe vorgestellt werden. Aisthorpe ist „Mission Development Worker“ in der Church of Scotland und legte 2016 eine Untersuchung über Personen vor, die eine christliche Gemeinschaft oder Kirche verlassen hatten („church leavers“), mit speziellem Fokus auf Schottland und Wales.118 Darin beschäftigt er sich vorrangig mit 114 Neben der geografischen Ausweitung auf die Bezirke York, Exeter und London verdoppelten die Autoren die Datenbasis im Vergleich zur vorherigen Studie. Francis / Richter, Gone for Good (2007). Die Autoren identifizieren fünfzehn Motive, die ausschlaggebend für das Verlassen einer religiösen Gemeinschaft sind: „matters of belief and unbelief “, „growing up“, „life tran�sitions“, „alternative lives and meanings“, „incompatible lifestyles“, „not belonging and fitting in“, „costs and benefits“, „disillusionment with the church“, „being let down by the church“, „problems with relevance“, „problems with change“, „problems with worship“, „problems with leadership“, „problems with conservativism“, „problems with liberalism“. Auffallend ist das Ergebnis, dass einer von drei Befragten als Hauptgrund angab, den Glauben verloren zu haben. 115 A. a. O., 300. 116 Francis und Richter: „Their story of disengagement offers clear insight into their potential for re-engagement.“ A. a. O., 303. 117 A. a. O., 302–303. Im Gegensatz dazu finden die Autoren heraus: „Those whose church-leaving was associated with matters of belief and unbelief, growing up and changing, incompatible lifestyles, costs and benefits, disillusionment with the church, problems with relevance, and problems with conservatism.“ A. a. O., 303. 118 Aisthorpe, The Invisible Church (2016), 30.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
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dem Phänomen „churchless faith“, also der religiösen Orientierung von „de-churched“-Personen, die sich keiner neuen Gemeinschaft angeschlossen haben. Neben jenen, die eine religiöse Gemeinschaft verlassen haben („de-churched“), gibt es auch diejenigen, die einer religiösen Gemeinschaft nie verbindlich angehört haben und trotzdem eine christlich religiöse Orientierung haben.119 Aisthorpe dazu: „The surveys conducted […] have confirmed the existence of a not insignificant population of Christians with no regular experience of church congregations. In northern Scotland, 15 % of people identifying themselves as Christians but not church-going, they had never been regularly involved with a congregation.“120 Aisthorpes These ist, dass viele Menschen im privatisierten / unorganisierten Segment des religiösen Feldes nach dem Austritt aus einer religiösen Gemeinschaft eine christlich religiöse Orientierung beibehalten und praktizieren.121 Die Gestaltung der religiösen Orientierung der „de-churched“-Personen möchte er erforschen.122 Dazu führt Aisthorpe drei von ihm verfasste Studien aus den Jahren 2013 bis 2015 zusammen.123 Im Folgenden soll auf ausgewählte Ergebnisse hingewiesen werden: a) Aisthorpes Ergebnisse bestätigen die gegenwärtige Forschungslage, die von schrittweisen, bewussten Loslösungsprozessen spricht, in denen auch 119 Dabei beobachtet Aisthorpe auch eine hohe Mobilität, die religiöse Orientierung zu verändern. „Of the thirty non-church-going Christians I interviewed initially, most described experiences of multiple denominations.“ A. a. O., 35. 120 A. a. O., 32–33. 121 Aisthorpe dazu: „However the data suggests that personal Christian faith is more resilient than we often credit.“ A. a. O., 45. Es wurde danach gefragt, ob sich die Befragten als Christen be�zeichnen würden. Christsein wird definiert: „A ‚Christian‘, in the context of this survey, was defined as someone who would identify themselves as having a personal faith in Jesus Christ and would say that they seek to live in line with his teaching and example.“ A. a. O., 52. Die Integration des christlichen Glaubens in den Alltag wurde mit dem „Hodge Intrinsic Religi�osity Scale“ (HIRS) gemessen. Das Ergebnis ist: „44 % of people who identified themselves as Christians who do not attend church on a regular basis, about half were ‚high scorers‘, demonstrating that their faith is central to their life.“ Das heißt: „22 % of the people have a Christian faith that is a prominent influence in their lifes.“ A. a. O., 54. Trotz der Resilienz des christlichen Glaubens geben Dekonvertiten auch Gegenteiliges an: „Several interviewees reported that their faith life had diminished since they ceased regular congregational engagement. Typically, they described finding it difficult to maintain spiritual disciplines.“ A. a. O., 45. 122 Aisthorpe dazu: „The word de-churched tells us what they are not doing, but not what they are doing.“ A. a. O., 6. 123 In der 2013 erschienenen Studie „Faith Journeys Beyond the Congregations“ befragt Aist�horpe 30 Personen mittels qualitativer Befragung. In der Studie „Investigating the Invisible Church“ (2014) wurden 430 ausgewählte Personen (aus 2700 Personen) im Telefoninterview 76 Fragen zu Beweggründen ihres Austritts und ihrer gegenwärtigen religiösen (christlichen) Orientierung gestellt (beschränkt auf Nord-Schottland). In der dritten Untersuchung „Faith in Scotland“ (2015) wurden in fünf repräsentativen Regionen 815 Personen in einem Telefon�interview befragt. A. a. O., 16–17.
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2. Forschungsüberblick
Krisen inkludiert sein können.124 Der Autor findet heraus, dass für Menschen, die eine religiöse Gemeinschaft verlassen haben, eine verbindliche Gemeinschaft von großer Bedeutung ist – sie eine traditionell verfasste religiöse Gemeinde jedoch ablehnen.125 Aisthorpe: „Of the people I have interviewed, all c ontinued to affirm their need for gathering with other Christians and recognised the inherent opportunities in such a context for mutual encouragement and ‚spurring one another on to love and good deeds‘.“126 Viele Dekonvertiten127 gaben an, sich in sogenannten „post-Christian groups“ zu treffen. Damit sind informelle, private Gruppen, Treffen und Angebote gemeint. Dabei bedienen sich die Teilnehmenden bei Elementen aus der Neo-monastischen Tradition, der Pilgertradition oder besuchen „thin-places“.128Auffallend ist, dass diese Gruppen und Gemeinschaften stark beziehungsorientiert ausgerichtet sind.129 b) Bei den Gründen, die zum Verlassen der religiösen Gemeinschaft führen, fällt Folgendes auf: „[…] a motivating factor in disengaging from a congregation is their desire to grow in Christian faith – and finding the congregational context unhelpful in that“.130 Aisthorpe spitzt zu, wenn er sagt: „For many, their departure from church is an expression of faith rather than a denial of it.“131 Damit verbunden ist, dass Dekonvertiten davon sprechen, dass sie in der vormaligen Gemeinschaft nicht authentisch sein konnten.132 124 A. a. O., 61. Aisthorpe betont das Zusammenspiel von dekonversivem Prozess und Krisen: „First, the familiar crisis of life, such as bereavements, debt, unemployment, sickness and relationship breakdowns, often coincided with times when people reconsidered theirs beliefs about God and the role of the Church in their life.“ A. a. O., 128. 125 Der Autor dazu: „[…] the data shows that the majority of ‚churchless Christians‘ whether they are previously church-goers or not, are contently non-congregational.“ A. a. O., 33. Viele De� konvertiten attestieren der vormaligen Gemeinschaft „lack of love“. A. a. O., 43. 126 A. a. O. 127 Aufgrund der begrifflichen Entscheidung in dieser Arbeit verwende ich für jene, die eine religiöse Gemeinschaft verlassen haben, den Begriff Dekonvertit, obwohl Aisthorpe diesen nicht benutzt. 128 Unter „thin places“ werden Orte mit besonderer spiritueller Ausstrahlungskraft verstanden: „[…] locations where the spiritual world is present […]“. Aisthorpe, The Invisible Church (2016), 144. 129 Aisthorpe dazu: „[…] many of these groups recoil from the term ‚church‘ and talk more of ‚getting together with others‘, meeting up to support one another, or gathering to pray and share […].“ A. a. O., 142. 130 A. a. O., 46. 131 A. a. O., 59. Oder auch: 1/3 der Befragten der Studie „Investigating“ stimmten der Aussage zu: „I found that attending church did not help my inner spiritual life.“ A. a. O., 129. Dieser Grund wird auch bei Francis und Richter und bei Jamieson angeführt. Francis / Richter, Gone But Not Forgotten (1998), 64, 100. 37 % der unter 20-Jährigen und 23 % der über 20-Jährigen sagten: „The church was no longer helping me grow.“ Ähnlich auch bei Jamieson, A Churchless Faith (2002), 146. 132 Aisthorpe, The Invisible Church (2016), 83.
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c) Jene, die ihre religiöse Gemeinschaft in einem emotional schmerzhaften Prozess verlassen haben, tun dies nicht leichtfertig, sondern lösen sich nach einer Periode der Frustration von der Gemeinschaft.133 Häufig waren diese Personen jahrelang intensiv mit der Gemeinschaft verbunden und wohnten zum Zeitpunkt der Studie noch immer in der Nähe der vormaligen Gemeinschaft.134 Dekonvertiten drückten ihre Frustration darüber aus, dass ihre vormalige Gemeinschaft in Organisationsstruktur und inhaltlichen Überzeugungen keinen relevanten Bezug zu ihrem Alltag gehabt hätte. Sie wünschten sich mehr Möglichkeiten der Partizipation im gemeindlichen Leben und waren enttäuscht darüber, dass ihre vormalige religiöse Gemeinschaft wenig kulturelle und gesellschaftliche Sensibilität habe.135 d) Aisthorpe beschreibt den Weg von Menschen aus religiösen Gemeinschaften als „road to post-congregational faith“136 in fünf Phasen.137 1) Menschen stellen Fragen und äußern Zweifel, 2) sie kumulieren Enttäuschungen über die unbeantworteten Fragen und die nicht gelösten Spannungen, 3) Dekonvertiten suchen nach Alternativen und experimentieren mit anderen christlichen Ausdrucksformen von Gemeinschaft, Gottesdienst und Jüngerschaft.138 4) In der vierten Phase benötigt es nur kleine weitere Auslöser (im Gesamtkontext vielleicht unbedeutend), um zur Trennung zu führen. 5) Der Dekonvertit befindet sich in der fünften Phase, der Trauer- und „Entgiftungsphase“139, und setzt seinen Weg in der individuellen religiösen Identitätsbildung fort.140 133 Aisthorpe dazu: „It’s not usually the case that church-leavers walk away for trivial reasons […]. First a lengthy period of frustation or disappointment that usually precedes disengagement / second there are often “tipping points, incidents or situations.“ A. a. O., 47. 134 A. a. O., 49. 135 A. a. O., 107, 109, 110. Beispielhaft wird angeführt, dass Dekonvertiten den Dualismus von Welt und Kirche ablehnen: „When congregational prayers focus on missionaries and Sunday school teachers, but exclude those whom God has led into service within the police, the local primary school, bakery, pub, supermarket […] we, in effect, deny God’s interest in, and sovereignty over the whole of life.“ A. a. O., 140. 136 A. a. O., 65. 137 A. a. O., 66–76. 138 Genauer sagt Aisthorpe: „[…] people often begin to look beyond the congregation. They search for alternative opportunities for fellowship, worship and discipleship […] some turn to the internet […] retreat centres, Christian communities, conferences […].“ A. a. O., 70–71. 139 „Detox“ kann einerseits heißen, dass es nach emotionaler Erschöpfung oder emotionalen Ver�letzungen zu einer Erholungsphase kommt. Andererseits kann damit auch eine Rehabilitationsphase gemeint sein, in der Dekonvertiten lernen religiöse Überzeugungen selbstständig zu gestalten und zu verantworten. Der Autor dazu: „[…] in many congregations the Christian faith is parcelled and delivered to its members – digested […].“ Weiter: „[…] as a result they often need to learn or re-earn how to cultivate and live out their faith.“ A. a. O., 75–76. 140 Aisthorpe dazu: „What feels at times like a walk of shame or a march of misery and misunders�tanding, becomes an adventure of faith. Without rotas and responsibilities, with identity no longer propped up by the scaffolding of organisational roles, a refocusing occurs.“ A. a. O., 60.
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2. Forschungsüberblick
Ein Dekonvertit dazu: „Not being involved in a traditional church congregation frees me to pursue what I believe is my Christian calling.“141 Aisthorpes Untersuchung reiht sich nahtlos in die Forschung zum Verlassen christlicher Kirchen in England ein – seine Konsequenzen sind jedoch grundlegend anders. Aisthorpe schließt aus den Ergebnissen für die Kirchen in England, dass ein „congregational-centric view of mission“ (eine „auf die Gemeinde bezogene Sicht der Mission“) zu begrenzt sei. Aisthorpe dazu: „The people I was contacting did not need to be ‚won back to Christ‘.“142 Er sagt, dass sich die christlichen Kirchen in ihrem Sendungsauftrag nicht auf das Christsein innerhalb der Gemeinde beschränken dürften, sondern „unsichtbare Formen“ mitberücksichtigen müssten. Er betont, dass es eine Wirklichkeit von „Christians beyond the congregation“ gebe, die ernst zu nehmen sei und nicht als defizitär bewertet werden dürfe.143 Aisthorpe ermutigt zu einem Nebeneinander von institutionalisierten Gemeinschaftsformen und unsichtbaren Ausdrucksformen christlichen Glaubens, solange es Gemeinschaft und „spiritual practices“ gebe.144 In die Kategorien dieser Arbeit übersetzt, plädiert er für einen Kirchenbegriff, der Christen im organisierten (sichtbaren) und unorganisierten (unsichtbaren) Segment des religiösen Feldes berücksichtigt. Aisthorpe stellt fest, dass jene, die ihre religiösen Überzeugungen innerhalb der christlichen Kirchen leben, nur die Spitze des Eisbergs (Kirche) seien.145 Würdigend ist zu erwähnen, dass der Autor Haltungen und Überzeugungen jener nachzuzeichnen versucht, die einen christlichen Glauben außerhalb der traditionell verfassten christlichen Kirchen und Gemeinschaften leben. Sein Plädoyer für die Beachtung des unsichtbaren religiösen Segments ist ein wichtiger Impuls für die verfassten Kirchen in England. Gleichzeitig muss kritisch nachgefragt werden, inwiefern es theologisch zulässig ist, aus einer deskriptiven Wahrnehmung christlicher Spiritualität ohne gemeindliche Verbundenheit eine normative Aussage zu machen, nämlich, dass diese Form der Spiritualität mit derjenigen im organisierten Segment gleichwertig sei. Aisthorpe geht über die Folgerungen seiner Vorgänger Fanstone, Richter und Francis deutlich hinaus, wenn er sagt, dass die sichtbare Form der Gemeinde für ein christliches Leben nicht konstitutiv ist. Aisthorpes Kirchenbegriff wird an dieser Stelle unscharf 141 A. a. O., 117. 142 A. a. O., 173. 143 A. a. O., 175. 144 A. a. O., 195. Auf Seiten der organisierten religiösen Gemeinschaften muss es für Aisthorpe zu einer „neuen Verwilderung“ („rewildering“) kommen. A. a. O., 201. 145 Der Autor weiter: „Those who have ceased attending a church but remain part of the Church, may be compared to the largely invisible bulk of ice that forms the main mass of icebergs.“ A. a. O., 9.
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und nicht mehr nachvollziehbar, da er die organisierte religiöse Gemeinschaft als nicht notwendig darstellt.146 Überdies verwundert es, dass er sich nicht auf eine Bekenntnistradition oder Ähnliches stützt, sondern den „Christen“-Begriff und auch den Kirchenbegriff induktiv durch die Befragten eruiert und normativ darstellt.
2.1.2.5 McKnight / Ondrey „Finding Faith, Losing Faith“ (2008) Der Neutestamentler Scot McKnight und die Soziologin Hauna Ondrey veröffentlichten 2008 eine Untersuchung zu Glaubensveränderungen („religious switching“) und Glaubensverlust („apostasy“) in den USA. McKnight und Ondrey sind damit aktuelle Vertreter eines Diskurses im US-amerikanischen Evangelikalismus.147 Sie untersuchen vier unterschiedliche Verläufe der Entfremdung von einer Glaubensgemeinschaft und haben dabei verschiedene Gruppen im Blick. Erstens analysieren sie den Austritt evangelikaler Christen aus ihrer vormaligen Glaubensgemeinschaft. Zweitens erforschen die Autoren Juden, die messianische Juden wurden. Drittens untersuchen sie katholische Christen, die zum Protestantismus übertraten. Viertens stellen sie evangelikale Christen dar, die zum Katholizismus konvertiert sind. Für diese Arbeit und den Kontext Glaubensverlust ist das erste Kapitel „Leaving Church, Finding Freedom. Anatomy of Apostasy“148 relevant. Die Autoren definieren „Apostasie“ als Austritt aus einer religiösen Gemeinschaft und das aktive Ablehnen vormaliger Glaubensüberzeugungen (genauer: des orthodoxen Glaubens).149 Außerdem verstehen sie jede „Apostasie“ auch als Zuwendung zu einem neuen Kontext. Damit subsumieren sie „Apostasie“ unter einen breiten Konversionsbegriff, nämlich als eine spezielle Form von 146 Ebenso seine Definition, was Christsein ist und ausmacht. 147 McKnight / Ondrey, Finding Faith, Losing Faith (2008). Weitere Vertreter sind Bisset, Why Christian Kids Leave the Faith (2011). Oder Dyck, Generation Ex-Christian (2010). Bisset macht in seinem erstmals 1992 erschienen Buch darauf aufmerksam, warum christlich aufgewachsene Kinder den Glauben aufgeben. Er nennt vier Ursachen: 1. unbeantwortete Fragen, 2. der Glaube funktioniert nicht, 3. andere Lebensbereiche werden wichtiger als der Glaube, 4. der Glaube wurde nicht für einen selbst in Anspruch genommen. Eine ausführliche Darstellung und Rezeption von Dyck findet sich bei Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 42–45. Im größeren Umfang war es George Barna, der sich als betont evangelikaler Forscher den „church leavers“ in den USA zuwandte. Barna, Re-churching the Unchurched (2000). 148 McKnight / Ondrey, Finding Faith, Losing Faith. Stories of Conversion and Apostasy (2008), 7–64. 149 McKnight und Ondrey definieren den ihrer Untersuchung zugrunde liegenden Begriff „Apos�tasie“ mit „departure from orthodoxy“ und meinen im Kontext des Verlassens christlicher religiöser Gemeinschaften die Entfremdung von evangelikalen Überzeugungen. Diese enge Begriffsdefinition spiegelt den Kontext der beiden Autoren wider, nämlich den US-amerikanischen Evangelikalismus.
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2. Forschungsüberblick
Konversion.150 McKnight: „Theoretically speaking, all conversions are apostasies and all apostasies are therefore conversions. Everyone who converts leaves a former faith, even if that faith is ill-defined.“151 Als zentralen Faktor, der Glaubensveränderungen auslöst, halten die Autoren eine „intellektuelle Krise“ eines Individuums fest, welche zu einer Veränderung der religiösen Orientierung veranlasst.152 Sie bemerken: In essence, those who leave the faith discover a profound, deep-seated and existentially unnerving intellectual incoherence to the Christian faith. The faith that once held their lives together, gave it meaning, and provided direction simply no longer makes sense. For such persons, the whole of life has to be reconstructed from the bottom up.153
Die Autoren nennen sechs Faktoren, die eine intellektuelle Krise bei den Interviewteilnehmern auslösten: 1. ein evangelikales oder fundamentalistisches Schriftverständnis, 2. die Unvereinbarkeit von Naturwissenschaft und Glaube, 3. Mitchristen (z. B. Tele-Evangelisten), 4. die Rhetorik über die Existenz der Hölle, 5. Gottesbild im Alten Testament und schließlich 6. die Kategorie „others“154, die auf verschiedene unzusammenhängende Themen verweist. Als Konsequenz des dekonversiven Prozesses stellen die Autoren fest, dass die intellektuellen Krisen bei ihren Interviewpartnern zu mehr persönlicher Unabhängigkeit führten. Die Protagonisten erlebten dabei „an affective sense of relief “155. Ausgehend von ihren Ergebnissen schlagen die Autoren den christlichen Kirchen vor, sich besonders den intellektuellen Gründen, die zum Verlassen einer religiösen Gemeinschaft führen, zu stellen.
Die Autoren: „Because ‚apostasy‘ which means choosing to walk away from the orthodox Chris�tian faith, is a form of conversion, and because conversion involves at some level a conscious decision to accept a new set of beliefs, those who leave the faith eventually come to ‚decision time‘.“ McKnight / Ondrey, Finding Faith, Losing Faith (2008), 56. 150 A. a. O., 4. 151 A. a. O., 7. 152 „All conversions result from a crisis, and […] the crisis is the most revealing dimension of the conversion process.“ A. a. O., 15. 153 A. a. O. 154 Darunter fallen etwa die strenge Erziehung in christlichen Schulen oder unerfüllte biblische Verheißungen. Siehe dazu a. a. O., 42–46. 155 A. a. O., 57. Diese Form der Erleichterung entsteht laut der Autoren deswegen, weil eine Lösung für die innere Krise gefunden wurde.
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McKnight und Ondrey leisten einen Beitrag darin, die intellektuelle Dimension dekonversiver Prozesse im US-amerikanischen Evangelikalismus aufzuzeigen. Dekonvertiten nennen Themenbereiche, die in der „Emerging Church“Konversation identisch diskutiert werden (beispielsweise Schriftverständnis, Sexualethik oder Hamartiologie).156 Gleichzeitig verkürzen sie den Dekonversionsbegriff auf zwei Aspekte, nämlich einerseits auf die intellektuelle Auseinandersetzung mit religiösen Überzeugungen und andererseits auf das Risiko, das von intellektuellen Dissonanzen ausgeht, eine Krise auszulösen.157 Der dieser Arbeit zugrunde liegende Dekonversionsbegriff soll im weiteren Verlauf des Kapitels etwa in Anlehnung an Barbour oder Streib et al. vielschichtiger dargestellt werden.
2.1.2.6 Exkurs zu Deutschland: Faix / Hofmann / Künkler „Warum ich nicht mehr glaube“ (2014) Mit einer explorativen qualitativen Untersuchung (in Form von fünfzehn Interviews) und einer im Vorfeld der Interviews durchgeführten Online-Befragung158 fragen die Autoren nach den Glaubensverlusterfahrungen bei 18- bis 35-Jährigen in Deutschland.159 Die Autoren beschreiben die Abwendung von vormals Hochverbundenen vom christlichen Glauben mit dem Begriff „Entkehrung“ (als Übersetzung von „De-Konversion“). Mit „Entkehrung“ wird eine gegenläufige Bewegung zu „Be-kehrung“ definiert. Faix, Hofmann und Künkler sprechen einerseits von einer prozessualen, bewussten Ab-Wendung im Gegensatz zu einer gezielten Hin-Wendung, andererseits von einer unbewussten Bewegung und Entfremdung. „Zu einem gewissen Grad ist die Dekonversion also sowohl ein Widerfahrnis […] als auch eine bewusste Entscheidung […].“160 Eingegrenzt ist die Untersuchung darin, dass die Autoren dekonversive Prozesse von Perso156 Siehe Abschnitt II Kapitel 10 Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen in der „Emerging Church“-Konversation. 157 Außerdem missachtet dieser enge Dekonversionsbegriff jene, die unbewusst abgleiten und eine „decision time“ haben. 158 Aus dieser Vorab-Befragung identifizierten sie folgende Themenblöcke, die geclustert auf die Frage „Ich glaube nicht mehr, weil …“ als Antwortoptionen angegeben wurden: a) Zweifel an der Lehre, Probleme mit der Bibel, Neuer Atheismus, b) Mündigkeit und Emanzipation, c) Negative Erfahrungen mit Christen / Negative Erfahrungen mit Gemeinde und / oder Kirche, d) Erkenntnis der Zufälligkeit, e) negative Auswirkungen des Glaubens f) keine Auswirkungen des Glaubens, g) keine Erlebnisse – fehlendes Gefühl, h) Diskrepanz zwischen Glaube und Leben, i) Theodizee – Leiden am Leid, j) andere Glaubensentwürfe, k) sonstige Gründe („nicht mehr wollte / konnte“). Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 52–65. Es wurden 155 von 259 Fragebögen ausgewertet. A. a. O., 50. 159 Durchgeführt wurde die Studie von Frühjahr 2012 bis August 2013 durch das Forschungsinstitut für Jugendkultur und Religion „empirica“. A. a. O., 215. 160 A. a. O., 172.
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2. Forschungsüberblick
nen in den Blick nehmen, die dem religiösen Feld den Rücken gekehrt haben und sich im säkularen Feld befinden. Es kristallisieren sich vier Leitmotive heraus, die im Prozess des Glaubensverlusts wichtig sind.161 Jedes Leitmotiv entspricht einem Faktor, der für den Dekonvertiten in seiner Dekonversion als besonders tragend festgemacht wurde. Jeder dieser Dekonversionsfaktoren wird von den Autoren in je zwei Typen unterteilt. Exemplarisch für jeden Typ stehen acht Lebensgeschichten im Zentrum.162 Das erste Leitmotiv ist die Moral. Die Autoren geben an, dass Dekonversionen dadurch beeinflusst wurden, wie Fragen nach der richtigen Lebensführung und damit verbundenen moralischen Standards bzw. Regeln der christlichen Gemeinschaft Personen dazu bewegten, sich vom Glauben abzuwenden. Eng mit Moral verknüpft sind Strukturen, die eine verletzende Machtausübung in der Gemeinde ermöglichen.163 Die Autoren: „Der Verlust des Glaubens geht einher mit einem Bruch mit den betreffenden Personen und dient auch dazu, wieder die Souveränität über das eigene Leben zu erlangen.“164 Daraus ergibt sich eine Unterteilung in die Typen: A) die Eingeengten, die sich von den moralischen Vorstellungen ihrer vormaligen Gemeinde eingeengt fühlen und B) die Verletzten, also jene, die durch das Verhalten der christlichen Gemeinde verletzt wurden.165 Das zweite Leitmotiv ist der Intellekt. Die Autoren geben an, dass dekonversive Prozesse am häufigsten durch intellektuelle Zweifel angestoßen wurden.166 Besonders innere Zweifel und der Konflikt zwischen naturwissenschaftlichen Erklärungen und Glauben167 werden hier genannt. Es folgt eine Unterteilung in die Typen: C) der Zweifelnden und D) der Grübler. Dekonvertiten dieser Ausprägung (Zweifelnde) haben oft einen langen Prozess des Ringens hinter sich. Grübler hingegen, so die Autoren, […] zweifeln weniger an der Wahrheit des Glaubens, sondern vielmehr an sich selbst und der menschlichen Fähigkeit, Wahrheit zu erkennen oder Gott zu erfahren. Sie fühlen sich häufig entmutigt von der Fähigkeit anderer Menschen, den christlichen Glauben ‚einfach so‘ zu glauben. Stattdessen nehmen sie häufig sehr sensibel Dissonanzen oder Widersprüche in der christlichen Lehre oder Frömmigkeit wahr.168 161 A. a. O., 66–71. 162 A. a. O., 66–124. 163 In Einzelfällen kam es auch zu körperlichem und sexuellem Missbrauch. A. a. O., 69. 164 A. a. O. 165 Dieser Themenkreis ist der dritthäufigste. A. a. O., 57. 166 A. a. O., 52. 167 Oder auch Fragen nach der Autorität der Bibel oder dem neuen Atheismus. 168 Vgl. http://www.ethikinstitut.de/fileadmin/ethikinstitut/redaktionell/Texte_fuer_Unterseiten/ Jugend_und_Werte_Newsletter/24-Dekonversion.pdf am 07.09.2016.
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Das dritte Leitmotiv ist die Identität. Dekonversive Prozesse werden demnach zum einen durch die Frage nach dem Ich (Verlust des „kindlichen Glaubens“, Dissonanzen und Konflikte) und zum anderen durch Dissonanzen der Identität innerhalb der Gemeinschaft geprägt. Personen empfinden, dass ihre Persönlichkeitsentwicklung, ihr Lebensstil und ihre Lebensentscheidungen nicht mehr mit den Erwartungen der Gemeinde übereinstimmen. Es findet sich eine Unterteilung in die Typen: E) die Entwachsenen und F) die Zerrissenen. Entwachsene lassen ihren in der Kindheit erlernten Glauben hinter sich und bilden ihre Identität ohne weitere religiöse Einflüsse aus.169 Die Zerrissenen wenden sich bewusst gegen den Glauben. Die Autoren dazu: „Zerrissene haben häufig neben der Sozialisation in der christlichen Gemeinschaft noch soziale Kontakte „draußen“, die andere Lebensentwürfe vermitteln und die Vorgaben der christlichen Prägung in Frage stellen. Dies führt zu Spannungen zwischen den zwei Welten, die am Ende in eine Richtung aufgelöst werden.“170 Das vierte Leitmotiv ist die Gottesbeziehung. Die Autoren stellen fest, dass es zum Verlust religiöser Orientierung kommen kann, wenn für die Dekonvertiten die persönliche Gottesbeziehung gestört ist. Dies kann durch Enttäuschungen, Trauererfahrungen oder den Verlust der religiösen Erfahrung ausgelöst werden. Hier gibt es folgende Typen: G) die Enttäuschten und H) die Geplagten. Die Enttäuschten wenden sich vom christlichen Glauben ab, weil ihren Erwartungen nach einem erfüllenden Glauben nicht entsprochen wurde. Die Geplagten wenden sich vom Glauben ab, da sie beispielsweise Schicksalsschläge und Leiderfahrungen nicht mit ihrem Gottesbild in Einklang bringen können. Die Lebensgeschichten verdeutlichen, dass für eine Dekonversion biografischindividuelle Aspekte, soziale, intellektuelle und emotionale Gründe miteinander korrespondieren. Die Autoren stellen fest, dass sich bei allen Dekonvertiten mindestens zwei der vier Leitmotive in den Dekonversionsnarrativen wiederfinden.171 Dabei gilt für alle Befragten, dass sie ihre Dekonversion als schmerzhaften Prozess verstehen. Die Untersuchung der Autoren Faix, Hofmann und Künkler ist eine aktuelle deutschsprachige Veröffentlichung, die für das Thema Dekonversion in christlichen Gemeinden sensibilisiert und ein Bewusstsein für einen wertschätzenden Umgang mit Dekonvertiten schaffen will. Dabei geht es den Autoren nicht darum, 169 Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 107. 170 Vgl. http://www.ethikinstitut.de/fileadmin/ethikinstitut/redaktionell/Texte_fuer_Unterseiten/ Jugend_und_Werte_Newsletter/24-Dekonversion.pdf am 07.09.2016. 171 Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 67.
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2. Forschungsüberblick
anhand der Erkenntnisse neue Missionsstrategien für christliche Gemeinschaften zu entwickeln. Trotzdem wollen sie Anregungen und Denkanstöße für Christen und Gemeinden geben, über die genannten Motive und Kriterien dekonversiver Prozesse ins Gespräch zu kommen.172 Dabei ist es ihnen ein besonderes Anliegen, auf die „heißen Eisen“ in christlichen (besonders in evangelikalen) Gemeinden, beispielsweise den Umgang mit Macht und Machtmissbrauch, einzugehen. Die Ergebnisse bestätigen Befunde aus dem anglo-amerikanischen Raum, wie etwa, dass Glaubensentfremdung und Dekonversion im jungen Erwachsenenalter eine hohe Wahrscheinlichkeit haben.173 Eine gewichtige Rolle messen die Autoren dem Aspekt bei, dass Mündigkeit und Emanzipation zwei wichtige Triebfedern des Nicht-mehr-Glaubens sind (besonders in der PostAdoleszenzphase).174 Während dies von Streib et al. oder anderen nicht eigens aufgezählt wird, nehmen Faix et al. dieses Kriterium zum Anlass, Konsequenzen für gemeindliches Handeln zu ziehen.175
2.1.2.7 Streib et al. „Bielefeld-based Cross-cultural Study on Deconversion“ (2009) 2.1.2.7.1 Aufbau und Inhalt der Studie In einer der bedeutendsten Studien über Dekonversion im deutschsprachigen Raum hat ein internationales und interdisziplinäres Team von Psychologen, Soziologen und Theologen aus Deutschland und den USA die Vielfalt von Dekonversionen erforscht. Dies geschieht mit dem Hauptaugenmerk auf typische Persönlichkeitsmerkmale, Motivationen, Einstellungen, psychisches Wohlbefinden und Wachstum sowie biografische Verläufe und Prozesse der „FaithDevelopment“176 von Dekonvertiten.177 Die Dekonversionsstudie, verantwortet von Streib, Hood, Keller, Csöff & Silver, integriert einerseits eine quantitative Erhebung aus einem Zeitraum von vier Jahren (2002–2005) mit 1.196 Personen in Deutschland und den USA, die „neureligiös-fundamentalistische Gruppen“ verließen (Dekonvertiten).178 Von den 1.196 172 A. a. O., 173–212. Dazu stellen die Autoren beispielsweise zehn Fragen, die den Leser anregen sollen, sich selbst und seine Gemeinde zu reflektieren. 173 A. a. O., 33. Die Autoren geben an, dass die Ergebnisse für die Kohorte der 18- bis 35-Jährigen sich nicht von den der anderen unterscheiden. 174 A. a. O., 56. 175 A. a. O., 171. 176 Der Fachterminus „Faith Development“ wird fortan mit „Glaubensentwicklung“ übersetzt. 177 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009). Der Ansatz von Streib et al. ist ein häufig rezipierter Ansatz. Siehe beispielsweise Brewster / Robinson u. a., „Arrantly Absent“ (2014). 178 Dies ist eine kulturvergleichende Studie über Dekonversion. Bereits in den 1990er-Jahren hat eine Kommission des 13. Deutschen Bundestages eine Studie zu dekonversiven Prozessen aus sogenannten Sekten und Psychogruppen in Auftrag gegeben.
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Personen sind 129 Personen Dekonvertiten und 1.067 „in-tradition members from the religious group which the deconverts left.“179 Andererseits stehen in der Studie 99 qualitativ erhobene Dekonversionsgeschichten im Vordergrund (insgesamt wurden 129 erhoben).180 Zusätzlich wurden 177 „Glaubensentwicklungen“ („faith development interviews“) von Noch-Mitgliedern der verlassenen Organisationen qualitativ erhoben (als Kontrastgruppe). Die Dekonvertiten wurden interviewt, nahmen an Persönlichkeits- und Glaubensentwicklungstests teil und bekamen einen allgemeinen Fragebogen. Besonderes Augenmerk wurde bei der Studie auf die Vielfalt der Biografieverläufe, das psychische Wohlbefinden und die religiöse Entwicklung gelegt.181 Die Besonderheit dieser Studie liegt in der Erhebung psychometrischer und biographischer Daten. Außerdem wurden, neben Dekonvertiten aus Neuen Religiösen Bewegungen und fundamentalistischen Gruppen, Menschen, die „mainline denominations“ oder „integrated groups“182 verlassen hatten, befragt. Die Auswahl macht die Studie besonders interessant, denn Dekonvertiten aus religiös fundamentalistischen Gruppen, Neuen Religiösen Bewegungen und „mainline“-Kirchen sind mit den biografischen Hintergründen vieler emergenter Protagonisten vergleichbar.183 2.1.2.7.2 Zum Dekonversionsbegriff Streib et al. verstehen Dekonversion als intensive biografische Veränderung, die sowohl individuelle als auch soziale Aspekte beinhaltet. Zu den individuellen Aspekten zählen auf Erfahrung beruhende, motivationale, intellektuellideologische sowie moralische Aspekte. Diese werden von den Autoren durch psychologische Untersuchungen und Fragestellungen erhoben. Zu den sozialen Aspekten zählen die Veränderung oder Terminierung der Mitgliedschaft und die möglichen Migrationsverläufe innerhalb und außerhalb des religiösen Feldes. 179 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 63. Die Autoren weiter: „The structure of our quanti�tative data reflects our typology: We have 58 deconverts in the German sample, almost equally distributed among the three types of religious organizations […].“ A. a. O., 64. Dies bedeutet, dass 71 US-Dekonvertiten in der quantitativen Erhebung erfasst wurden. 180 A. a. O., 93. Die Autoren: „Faith development interview (FDI) scores resulting from classi�cal FDI evaluation for 99 deconverts and 177 in-tradition members (total n = 276).“ A. a. O., 65. Von den 99 qualitativen Interviewteilnehmern waren 49 Personen aus Deutschland und 50 Personen aus den USA. A. a. O., 99. 181 Dazu wurden verwendet: „NEO-FFI personality measure“, „Ryff Scale on Psychological WellBeing and Growth“, „Religious Fundamentalism Scale“ und „Right-Wing Authoritarianism Scale“. A. a. O., 55–63. 182 „Integrated groups“ sind Gemeinschaften, die in der Gesellschaft eine hohe Legitimität ge�nießen. Damit bezeichnen die Autoren etwa die Lutherische Kirche oder die römisch-katholische Kirche. 183 Siehe dazu die Darstellung der Sozialstruktur emergenter Protagonisten in Abschnitt II Kapitel 5 Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten.
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2. Forschungsüberblick
Der Dekonversionsbegriff wird inhaltlich in Anschluss an John Barbour anhand von fünf Merkmalen definiert: (1) Zweifel oder Ablehnen eines Glaubenssystems, (2) moralische Kritik am Lebensvollzug Einzelner oder der Gemeinschaft, (3) emotionale Leiderfahrung, entweder Trauer, Schuld, Einsamkeit oder Verzweiflung, (4) Ablehnung oder Entfremdung von einer Gemeinschaft und (5) der Verlust von religiösen Erfahrungen.184 Folgende Aspekte sind weiter für den Dekonversionsbegriff relevant: a) Die Autoren fragen speziell nach dem Stadium der Glaubensentwicklung der Dekonvertiten.185 Dabei übernehmen sie Ansätze von James Fowler, die in der Konversionsforschung rezipiert wurden. James Fowler unterscheidet zwischen „structural conversion“ und „lateral conversion“. Konversion kann laut Fowler die „faith stages“ beeinflussen oder nicht. Analog meint „structural deconversion“ demnach, dass durch Dekonversion eine Veränderung der Stufe in der Glaubensentwicklung möglich ist. „Lateral deconversion“ heißt, dass Dekonversion kein „faith development“ nach sich zieht.186 b) Zudem entwickeln die Autoren Fowlers Modell der „faith stages“ weiter.187 Ein entscheidender Unterschied liegt in der Begriffsbezeichnung und der damit verbundenen Idee. Es wird nicht mehr von „faith stages“, sondern „faith styles“ gesprochen. „Styles“ haben weniger stark ausgeprägte Grenzen, sind flexibler und zwingen nicht zu gleichsam natürlichen Entwicklungen von A nach B. Damit werden die Grenzen zwischen Ausprägungen durchlässiger. Streib et al.: „Going more into detail this means that the religious styles perspective understands styles as consisting of one or more schemata. Examples for schemata are: holding on to the truth of texts and teachings of one’s own religion, or being open for the truth of the other.“188 Ein Stil kann verschiedene Schemen haben. Streib definiert: Religious styles are distinct modi of practical-interactive (ritual), psychodynamic (symbolic), and cognitive (narrative) reconstruction and appropriation of religion which originate in relation to life-history and life-world and which, in accumulative 184 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 22. Vgl. dazu auch Streib / Keller, „Variety of Decon�version Experiences“ (2004), 191. 185 Mit einem weiterentwickelten Modell in Anlehnung an James Fowler (das Ich-psychologische Entwicklungskonzept eines „Lebens-Glaubens“) untersuchen die Autoren die Glaubensentwicklung der Dekonvertiten. 186 Keller / Klein u. a., „Deconversion and Religious or Spiritual Transformation“ (2013), 123. 187 Dies geschieht besonders durch Einbeziehen der Emotionen der Person, der biografischen Entwicklung oder dem Verhältnis der Person zu anderen Personen. Siehe dazu a. a. O., 124. Für eine genauere Darstellung der Weiterentwicklung von Fowlers Modell siehe Streib, „Religion as a Question of Style“ (2003). 188 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 24.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
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deposition, constitute the variations and transformations of religion over a life time, corresponding to the styles of interpersonal relations.189
Glaubensentwicklung wird nicht mehr wie bei James Fowler durch Kognition vorangebracht, sondern wird multiperspektivisch begründet (lebensgeschichtlich, Selbst-Andere-Dynamik, lebensweltliche Bedingungen etc.). Dekonversion bedeutet nun, einen religiösen Stil zurückzulassen („turning from“) und nach einer neuen religiösen Identität zu suchen. Dekonversion heißt, dass eine Person aus dem organisierten religiösen Segment die religiöse Orientierung ändert und ihren „style of religious being“ modifiziert. Die Autoren dieser Studie stehen in der Nachfolge von Allen Jamieson und unterstützen die These James Fowlers, dass in Dekonversionen Glaubensentwicklungen (positiv oder negativ) möglich sind.190 c) Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass die Autoren Dekonversionen als Bewegungen und damit als Veränderungen der religiösen Orientierung innerhalb des religiösen Feldes (organisiertes und privatisiertes Segment) und auch heraus aus dem religiösen Feld begreifen. Die Autoren dazu: „Deconversions which are moves and changes within the zone of organized religion, those which are moves into the periphery without organizational structure, and those which are exiting the religious field altogether.“191 Zusammengefasst lehnen Dekonvertiten aufgrund von intellektuellem Zweifel vormalige Glaubensüberzeugungen ab. Dekonvertiten schildern moralische Kritik an dem Lebensvollzug Einzelner und / oder der Gemeinschaft und erleben emotionales Leiden – das kann der Schmerz über das Fehlen sozialer 189 Streib, „Variety and Complexity of Religious Development“ (2003), 132. Oder auch Streib, „Faith Development Theory Revisited“ (2001), 149. 190 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 24. Streib et al. sprechen hier von „regressions“ oder „revivals“. Keller / Klein u. a., „Deconversion and Religious or Spiritual Transformation“ (2013), 124. Damit gehen die Autoren deutlich über James Fowler hinaus, der in seiner ursprünglichen Komposition der „stages of faith“ nicht von Regressionen ausgeht. Streib formuliert einen Teil seiner Kritik folgendermaßen: „My critique of faith development theory centres on the prob�lem of overestimating cognitive development as the motor of religious development, thus excluding dimensions of content, experience, and function of religion. […] the overburdening of cognitive development leads to the disregard for dimensions which are just as crucial for the constitution and development of religion: the psychodynamic-intrapersonal dimension (the psychodynamic of the self-self-relationship); the relational-interpersonal dimension (the dynamic of the self-other-relationship); the interpretative, hermeneutic dimension (the dynamic of the self-tradition relationship); the life-world dimension (the dynamic of the self-social world relationship).“ Streib, „Faith Development and a Way Beyond Fundamentalism“ (2007), 157. 191 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 26. Oder anders gesagt: Für die Autoren ist Dekonversion Migration im organisierten religiösen Segment und Emigration aus dem organisierten religiösen Feld („deconversion migration“). Vgl. a. a. O., 28–31.
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2. Forschungsüberblick
Unterstützung, Stabilität oder Sicherheit sein. Weiter erleben Dekonvertiten den Verlust spezifischer religiöser Erfahrungen, womit auch der Verlust eines erfahrbaren sinnstiftenden Rahmens gemeint ist. Zuletzt und fünftens ist eine Distanzierung und Abwendung von der Gemeinschaft erkennbar. 2.1.2.7.3 Dekonvertit – und vorher? I. Die religiöse Biografie der Dekonvertiten in der vormaligen religiösen Gemeinschaft spielt für dekonversive Prozesse eine wesentliche Rolle. Die Autoren definieren eine Typologie, die sie für ehemalige Mitglieder fundamentalistischer Gruppen entwickelt und für dekonversive Prozesse adaptiert haben. a) Der erste Typ ist der Tradition unterworfen („type governed by tradition“), d. h. diese Person wurde in dieser Gruppe geboren und ist in eine fundamentalistische Anschauung hineingewachsen. b) Der zweite Typ ist der einmalige Konvertit, der eine Entscheidung für eine religiöse Orientierung getroffen hat, die er zuvor nicht hatte („mono-convert“). c) Der dritte Typ repräsentiert eine Person, die schon mehrfach seine / ihre religiöse Orientierung gewechselt hat („accumulative heretic“).192 II. Wenn man danach fragt, wo Dekonvertiten innerhalb ihrer ehemaligen religiösen Gruppe standen, unterscheiden Streib et al. vier Positionen. Sie schlagen eine Einteilung vor, die die Position der Person in der zurückgelassenen Gruppe beschreibt. Die Autoren zählen „ex-members“ („Ex-Mitglieder“), „ex-leaders“ („Ex-Leitungspersonen“), „ex-peripherals“ („Ex-Teilnehmende am Rand“) und „ex-marginals“ („Ex-Teilnehmende am Rand“) auf.193 Mitglieder und Leitungspersonen sind selbsterklärend. Eine Erklärung bedarf es bei peripheren und marginalen Teilnehmenden. Während „peripherals“ sich in der Gemeinschaft noch nie völlig eingebracht haben, sind „marginals“ Personen, die sich nach einer Konversion mit Teilen der Organisation und den vorgeschlagenen Glaubensüberzeugungen nicht mehr identifizieren können. Sie werden damit zu „RandPersonen“, da sie es aufgrund von innerem und äußerem Druck nicht schaffen, sich abzuschirmen. Streib et al. weisen darauf hin, dass es jene „marginal“-Personen sind, die häufig eine längere Dekonversionsgeschichte hinter sich haben.194 III. Doch nicht nur die vormalige religiöse Biografie und Position der Person in der Gemeinschaft spielen eine Rolle, sondern auch die Art der Gemeinschaft, die verlassen wurde. Streib et al. unterteilen diese in drei Kategorien:
192 Streib, Biographies in Christian Fundamentalist Milieus and Organizations (2000). 193 Die deutschsprachige Übersetzung verbirgt bedauerlicherweise an dieser Stelle die englische Differenzierung. 194 Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004), 193.
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a) „integrated religious organizations“ („integrierende religiöse Organisationen“ – z. B. römisch-katholische Kirche), b) „accommodated religious organizations“ („angepasste religiöse Organisationen“ – z. B. Adventisten) und c) „oppositional religious organizations“ („oppositionelle religiöse Organisationen“ – z. B. Scientology). Die drei Organisationstypen genießen in der Gesellschaft einen unterschiedlich hohen Grad an Legitimität.195 Integrierende religiöse Organisationen stehen in keiner Spannung zur Gesellschaft und sind für die Autoren etwa die römischkatholische Kirche oder die Lutherische Kirche. „Accommodated“ und „oppositional“ religiöse Organisationen sind Gemeinschaften mit einer mittleren oder hohen Spannung und Nicht-Legitimation durch die Gesellschaft. „Accommodated organizations“ sind beispielsweise „Pentecostal churches, Seven Day Adventists or Church of Christ“, „Oppositional organizations“ zum Beispiel „Unification Christ, The Family, Scientology, and groups inspired by Eastern Religiosity“196.197 Diese Typologie dient den Autoren dazu, die Bewegungen innerhalb des religiösen Feldes zu beschreiben. Dekonvertiten verlassen eine religiöse Organisation, die sich im organisierten religiösen Feld befindet, bewegen sich in das unorganisierte religiöse Feld oder wechseln ihre religiöse Orientierung in dem Segment der organisierten Religion – zwischen den Polen „tension“ und „no tension“ – entweder zu einer Gruppe mit weniger („oppositional exit“) oder mehr („integrating exit“) gesellschaftlicher Legitimität.198 2.1.2.7.4 Ergebnisse 2.1.2.7.4.1 Allgemeines Im Folgenden sollen die wichtigsten Ergebnisse der Studie vorgestellt werden.199 Zunächst ist es den Autoren ein Anliegen zu zeigen, dass Dekonversion im religiösen Feld der Gegenwart sehr häufig vorkommt. Dabei wollen sie die Vielfalt an Herkunftsgruppen, Verläufen und persönlichen Sinn-Konstruktionen inkludieren. a) 2/3 der Dekonversionen (besonders in den USA) sind Migrationen innerhalb des religiösen Feldes. Davon verliefen 37 % der Dekonversionen (D + USA insgesamt) innerhalb des organisierten religiösen Feldes. Personen wechsel195 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 26. 196 A. a. O., 64. 197 Für diese Studie haben die Autoren 50 % der Dekonvertiten aus „oppositional“- und „accom�modating“-Gruppen gewählt. A. a. O., 237. 198 Siehe a. a. O., 75–76, 226. 199 Vgl. zu den Ergebnissen a. a. O., 217–240. Vgl. zu den statistischen Angaben a. a. O., 93–12. Auf die Unterschiede zwischen den Ergebnissen für Deutschland und USA soll, wenn relevant, bei den einzelnen Aussagen eingegangen werden.
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ten von einer „tension“ zu einer „no tension“ religiösen Gemeinschaft oder umgekehrt. Der Rest migrierte in das unorganisierte Feld. Diese werden mit dem Item „spirituell“, in Form einer Selbstidentifikation, erfasst.200 „Spirituell“ wird als Selbstbeschreibung von Personen verstanden, die indizieren, dass sie etwas anderes suchen als die traditionelle, etablierte Religion.201 24 % der Dekonvertiten, die die religiöse Gemeinschaft im organisierten Segment verlassen haben, üben weiterhin eine private Religiosität aus. 29 % der Befragten nehmen nach der Dekonversion ein säkulares Weltbild an und wenden sich von allem Religiösen ab. b) Zunächst zeigt sich, dass das religiöse Umfeld der Dekonvertiten eine wesentliche Rolle für ihre Dekonversion spielen kann. Die Autoren verneinen jedoch, dass das religiöse Umfeld der einzige Auslöser für Dekonversionen (oder den Ausbruch psychischer Krankheiten) ist.202 Es zeigt sich ein Zusammenspiel von religiösem Umfeld, Persönlichkeitsstruktur, religiöser Biografie und den genannten Kriterien. c) Das vorherrschende Muster dekonversiver Prozesse ist eine „one-time gradual disaffiliation“203, d. h. eine einmalige, schrittweise Loslösung. Insgesamt haben 3/4 der Befragten „mono-deconversions“ erlebt. Daneben treten aber auch „multiple deconversions“204 auf. Laut den Autoren treten diese häufiger bei Personen auf, die ein vormaliges Konversionserlebnis hatten, als bei jenen, die in einer Glaubenstradition aufgewachsen sind.205 In zehn Narrativen spielte ein einschneidendes Ereignis im Leben eine entscheidende Rolle. Bei einigen waren es wichtige Impulse von anderen Personen, die den Prozess der Dekonversion auslösten. In nur sechs Fällen wurde eine plötzliche Dekonversion beobachtet. 90 % der Dekonversionen verliefen schrittweise und allmählich. Diese deutliche Mehrheit zeigt gemäß den Autoren, dass Dekonvertiten eine hohe 200 Die Autoren: „To be sure, all religious migration in Germany happens on a significantly lower level when compared to the United States: ‚more spiritual‘ preferences are lower, secularity is much higher. This may support an expectation that we have more secular exiters in Germany than in the United States.“ Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 43. 201 Keller / Klein u. a., „Deconversion and Religious or Spiritual Transformation“ (2013), 132. 202 Die Autoren dazu: „In some cases a problematic life situation or a fragile personality structure may have other causes – and, for some, already motivated conversion into the group. And for some others of our deconverts, a religious high-tension environment with an authoritarian leadership style and strict rules may have provided the stability they had not found elsewhere […].“ Streib / Hood, Deconversion (2009), 230. 203 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 95. 204 A. a. O. Hier gaben die Interviewteilnehmenden an, „more than one previous religious prefe�rence“ gehabt zu haben. 205 Übertragen auf die Herkunftsbiografie heißt das, dass mehrfache Dekonversionen eher bei dem Typ „mono convert“ zu finden sind als bei dem Typ „type governed by tradition“. A. a. O.
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Eigenverantwortlichkeit für ihre Entscheidungen aufweisen.206 Die Autoren schildern Dekonversion und die Suche nach einer neuen religiösen Orientierung deshalb als Suche nach „liberation“ („Befreiung“).207 d) Schließlich stellen die Autoren einen Zusammenhang zwischen postmodernen Bedingungen und Dekonversion her. Sie sagen: „[…] the ‚suspicion‘ against religious institutions, of an ‚irreverence‘ and of institutional abandonment involves attitudes and acts of deconversion, or at least points to deconversion […].“208 Darüber hinaus sagen sie: „Individualization, subjective agency and heresy belong to the necessary elements of deconversion.“209 2.1.2.7.4.2 Intraperspektivische Ergebnisse a) Im Kontext der „Ryff Scale of Psychological Well-Being and Growth“ zeigt sich:210 Ein Dekonvertit weist als stärksten kulturell übereinstimmenden Faktor das Persönlichkeitsmerkmal einer höheren Offenheit für Erfahrung („openness to experience“) auf (für Deutschland und USA gleich). Differenzen zwischen Deutschland und den USA zeigen sich jedoch im Folgenden: Während in den USA hohe Werte bei den Themenkomplexen Persönliches Wachstum und dem Wahrheitsanspruch eines Textes und der Lehre Indikatoren für Dekonversion sind, werden in Deutschland ein Streben nach Autonomie, Umgang mit der Umgebung, Selbstannahme und Pflichtbewusstsein mit Dekonversionen assoziiert.211 Diese sechs Charakteristika kommen also in einer unterschiedlichen Gewichtung vor.212 206 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 97. 207 Die Autoren: „The search for ‚liberation‘ has been the strongest motivation to buy a new pro�duct in the spiritual supermarket.“ Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004), 184. 208 A. a. O., 183. Vgl. auch Streib, „Religious Praxis“ (2007), 167. 209 Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004), 190. 210 Folgende Themenkomplexe wurden erfragt, um Dekonvertiten im Vergleich zu „in-tradition“Mitgliedern zu bewerten und damit persönlichkeitsspezifische Aussagen über Dekonversionsprozesse zu machen: „openness to experience“, „religious fundamentalism“, „right-wing author�itarianism“, „truth of texts and teachings“, „personal growth“, „autonomy“, „religious schema scale fairness, tolerance and rational choice“, „xenosophia, inter-religious dialog“. Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 232. Für die quantitative Persönlichkeitsbeschreibung der Dekonvertiten und Noch-Mitglieder wurde das „Five-Factor“-Modell in der aktuellen „NEO-FFI“Version verwendet. Siehe dazu Keller / Klein u. a., „Deconversion and Religious or Spiritual Transformation“ (2013), 132. 211 Obwohl Selbstbestimmung und Autonomie nachweislich für beide Gruppen wichtiger werden: „Deconversion, this is especially visible for German deconverts, appears as a stepping out into the realm of freedom to agree or disagree and to define one’s own rules.“ Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 89. Die Autoren weisen darauf hin, dass es Beispielgeschichten in ihrer Untersuchung gibt, die dieser Generalisierung nicht entsprechen. A. a. O., 233. 212 Keller / Klein u. a., „Deconversion and Religious or Spiritual Transformation“ (2013), 133–134. Und auch Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 226.
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b) Für Deutschland und die USA gilt, dass ein Dekonvertit niedrigere Werte auf der Skala zur Messung von religiösem Fundamentalismus sowie höhere Glaubensstufen („faith development“) aufweist als „in-tradition members“.213 c) Auf der anderen Seite zeigen sich besonders bei den deutschen Interviewpartnern niedrigere Werte (im Vergleich zu den US-Interviewpartnern) in Bezug auf sich selbst (emotionale Stabilität, Selbstakzeptanz) und auf andere Menschen (positive Beziehung zu anderen, Extraversion). Darüber hinaus wird die Alltagsbewältigung von deutschen Dekonvertiten als schwieriger empfunden.214 Die Autoren folgern aus diesen Ergebnissen, dass in Deutschland häufiger Krisen-Symptome auftreten, weil es dort weniger Möglichkeiten zu einer neuen Affiliation auf dem religiösen Markt gibt.215 d) Wie bereits erwähnt, steht Dekonversion im Zusammenhang mit Glaubensentwicklung.216 Dabei wurde deutlich, dass Dekonvertiten im Durchschnitt 1/3 oder 1/2 Glaubensstufe höher einzuordnen sind als „in-tradition members“ (mit der Terminologie von Fowler).217 Dekonversive Prozesse lösen eine Bewegung aus, die hauptsächlich zwischen Stil 3 und Stil 4 zu verorten ist („structural deconversion“218). 63,2 % der Befragten konnten Stil 3 (dem „synthetic-conventional“-Glauben) zugeordnet werden. 30,3 % konnten Stil 4 (dem „individuative-reflective“-Glauben) zugeordnet werden. Lediglich 5,1 % waren dem 2. Stil („mythic-literal“) und 1,4 % dem 5. Stil („conjuctive“) zuordbar.219 Dekonvertiten haben mehrheitlich den 4. Stil der Glaubensentwicklung (etwa 50 %). Die Autoren schließen: […] deconverts have a considerably larger share in individuative-reflective style than in synthetic conventional style, as well as higher scores on the RSS subscales of fair-
213 Streib / Hood, Deconversion (2009), 75–76,226. 214 Streib, „Deconversion“ (2014), 89. Die Autoren schließen daraus: „Deconversion in Germany appears to be associated with some kind of mild crisis.“ A. a. O., 283. 215 Die Autoren schließen, dass wenn es in Deutschland mehr Gemeinschaften für dekonvertierte Menschen gäbe, weniger Krisensymptome bei den Einzelnen auftreten würden. 216 Die Autoren messen dies mit einem „religious styles“-Modell, einer Weiterentwicklung von Fowlers Glaubensentwicklungs-Modell. 217 Die Autoren dazu: „Results indicate that between 70 % (Germany) and 80 % (United States) of the in-tradition members are at stage 3, while half of the deconverts in both countries are at stage 4. This is evidence that people may prefer an individuative-reflective religious style when they deconvert.“ Streib, „Deconversion“ (2014), 285. Für eine genauere Erklärung der „Faith Development“-Stufen siehe Abschnitt I Kapitel 2.1.2.2.1 Inhalt und Ergebnisse. 218 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 223. 219 A. a. O., 100–104.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
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ness, tolerance and rational choice, and xenosophia / inter-religious dialog and lower scores on the subscale of truth of texts and teachings.
Sie kommen zu dem Schluss: „This suggests that changes in faith development, religious styles, and religious schemata are characteristics of deconversion.”220 Es zeigt sich, dass Dekonvertiten eine ausgeprägte individuell-reflektierende Haltung, eine ausgeprägte Orientierung für Fairness, Toleranz und den Interreligiösen Dialog haben. Weniger evident sind dagegen Wahrheitsansprüche, die Texte oder Lehraussagen vermitteln.221 Eine Forschungsfrage der Autoren war, unter welchen Bedingungen Dekonversion als Fortschritt im Sinn einer Glaubensentwicklung beobachtbar wird. Es zeigt sich eine Tendenz: […] members in integrated religious organizations tend to be more conventional and need less individuative reflection than members of religious groups which are in tension to their host culture, since oppositional and accommodating attitudes require more explicit reasoning and argumentative justification.222
Gleichzeitig machen Streib et al. deutlich, dass Protagonisten einer „notension religious organizations“ („integrated“) mehrheitlich den 3. Stil (Deutschland 80 %, USA 90 %) bevorzugen.223 Die Autoren stellen den idealtypischen Dekonvertiten als eine Person dar, die stärker vom Nutzen als von dem Verlust ausgehend von einer Dekonversion geprägt ist. Ein Dekonvertit ist, nach intraperspektivischen Gesichtspunkten: […] a person who open-mindedly explores new religious orientations, is ready for inter-religious encounter, rejects fundamentalism, authoritarianism and absolute-
220 Streib, „Deconversion“ (2014), 14. 221 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 107. 222 A. a. O., 101. Für alle Ergebnisse zu dieser Frage siehe a. a. O., 101–103. 223 „In terms of groups and their relation to society, the no-tension (integrated) religious orga��nizations show a stronger presence of Stage Three (Germany: 80.0 %; United States: 90.0 %). This could reflect a difference between tension and no-tension groups: members in integrated religious organization may tend to be more conventional and need less individuative reflection than members of religious groups which are in tension with their host culture. Oppositional and accommodating attitudes may require more explicit reasoning and argumentative justification. The majority of in-tradition members in both cultures and in both tension groups show Stage Three orientations. This appears to be the characteristic of in-tradition groups, while Stage Four assignments are the minority.“ A. a. O., 104.
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ness claims, has advanced and transformed in faith development, and, especially when living in the United States, owns a strong sense of personal growth and autonomy.224
2.1.2.7.4.3 „More spiritual than religious“ Auf ein Forschungsergebnis soll gesondert eingegangen werden. Die Dekonvertiten wurden in der Studie gefragt, ob sie sich als „religiös“, „spirituell“ oder in einer differenzierten Verhältnisbestimmung zwischen den beiden Begriffen beschreiben würden („mehr religiös als spirituell“, „gleichermaßen religiös und spirituell“, „mehr spirituell als religiös“, „weder spirituell noch religiös“).225 Folgendes wird deutlich: a) 80,3 % der US-amerikanischen Dekonvertiten lehnen es ab, sich mit der Aussage „being religious one way or the other“ zu identifizieren, in Deutschland lehnen dies 57,7 % der Dekonvertiten ab. b) Dabei geben nur 6,9 % (USA) und 7,9 % (D) an, keines von beiden zu sein, d. h. weder „religiös“ noch „spirituell“. 40,6 % (D) geben an „more religious than spiritual“ zu sein, in den USA lediglich 9,8 %. Der Aussage „I am equally religious and spiritual“ stimmten 44,0 % (USA) und 31,3 % (D) der Dekonvertiten zu. c) Auffallend sind die Angaben zu dem Item „more spiritual than religious“. Dem stimmten 39,3 % (USA) und 20,3 % (D) aller Befragten (Dekonvertiten und „in-tradition members“) zu.226 Mit Blick auf die Dekonvertiten wird deutlich: 63,5 % der US-amerikanischen Dekonvertiten und 36,5 % der deutschen Dekonvertiten identifizieren sich mit der Aussage „[I am] more spiritual than religious“.227 Diese Zahl der selbstidentifizierten „more spiritual than religious“-Dekonvertiten ist fast doppelt so hoch wie die selbstidentifizierten „more spiritual than religious“-„in-tradition members“ (18 % in D und 37 % in den USA). Die Autoren schließen auf einen starken Zusammenhang zwischen Dekonversion und einer Selbstidentifikation als „spirituell“.228 Was die Befragten unter dem Item „spirituell“ verstehen, wurde nicht gesondert untersucht. Die Autoren vermuten, dass der Begriff 224 A. a. O., 232. 225 Zur Auswahl standen die Items: „I am neither religious nor spiritual“, „I am more spiritual than religious“, „I am equally religious and spiritual“ und „I am more religious than spiritual“. Vgl. a. a. O., 82–88. 226 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 89. A. a. O., 82–88. Streib dazu weiter: „For the Ger� man situation we should add that, when separating out the mainline members, the percentage of “more spiritual„ respondents in our data drops to 13,2 % […].“ Streib, „More Spiritual than Religious“, 61. 227 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 85. 228 A. a. O., 86.
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„spirituell“ für die Dekonvertiten einen Mehrwert haben könnte, der in der Eröffnung einer neuen Sprachwelt zwar für eine veränderte aber fortbestehende religiöse Identität oder für die Suche danach besteht.229 In dieser Studie kann induktiv auf einen Spiritualitätsbegriff geschlossen werden. „More spiritual“ im Vergleich zu „more religious“ geht Hand in Hand mit: „greater openness for experience“, „greater personal growth“, „lower authoritarianism“, „higher scores in Xenosophia or readiness for inter-religious dialog“, „lower scores on absoluteness of religious truth claims“. Einen Zusammenhang zwischen „more spiritual than religious“-Identifikationen (insgesamt) gibt es auch mit niedrigerer Zustimmung zu fundamentalistischen Aussagen.230 Weiter zeigen sich niedrige Werte für „religious fundamentalism, right-wing authoritarianism and truth of texts and teachings“231. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich Dekonvertiten sowohl in den USA als auch in Deutschland auffällig häufig für den Begriff „spirituell“ entscheiden und der Begriff „religiös“ offensichtlich deutlich seltener als passend empfunden wird. Dekonvertiten zeigen eine starke Präferenz für die Selbstidentifikation „more spiritual than religious“ und in einem geringeren Ausmaß eine Präferenz für die Identifikation mit „neither religious nor spiritual“.232 Im Umkehrschluss kann gefolgert werden, dass bezogen auf die Auswahl die Selbstidentifikation „spiritual“ mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Dekonversion hinweist.233 2.1.2.7.4.4 „Ausstiegsverläufe“ von Dekonvertiten Streib et al. schlagen in ihrer Studie sechs „Flugbahnen“ (oder „Ausstiegsszenarien“) vor, um Dekonversionsprozesse zu verstehen. Damit beschreiben sie, welchen Weg Menschen aus dem organisierten religiösen Feld einschlagen und wo Menschen durch ihre Dekonversion „landen“.234 Wenn man über Dekonversion und das Zurücklassen religiöser Orientierung spricht, wird eher ein Weg in die religionslose Existenz erwartet. Die Mehrheit der Dekonvertiten emigriert jedoch nicht in ein unbestimmtes Feld, sondern es zeigt sich, dass es strukturierte Verläufe oder Andockstationen in anderen Segmenten des reli-
229 A. a. O., 88–90. 230 A. a. O., 87. 231 A. a. O., 90. 232 A. a. O., 87. 233 Dieses Ergebnis ist laut Autoren eine Überraschung. Streib et al. vermuten, dass Dekonversion mit der Suche nach Spiritualität zusammenhängt, da diese anscheinend im religiösen Feld unzureichend vorkommt. A. a. O., 87. 234 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 26–28.
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giösen Feldes gibt. In der Studie wird dementsprechend sichtbar: von den 99 dargestellten Dekonversionen wählten lediglich 29 Personen den Weg in die religionslose Existenz. Streib et al. schildern dies mit dem ersten Szenario, nämlich dem „säkularen Ausstieg“. Zu den Ausstiegsverläufen: 1. Der „säkulare Ausstieg“ („secularizing exit“) meint das Beenden religiöser Praxis, das Ablegen religiöser Überzeugungen und die Entfremdung von organisierter Religion. Von den 29 Personen, die diesen Verlauf wählten, waren 22 Personen zuvor in einer „tension religious organization“ (entweder angepasst oder oppositionell) und 7 Personen in einer „no tension religious organization“.235 2. Der „oppositionale Ausstieg“ („oppositional exit“) meint die Annahme eines gegensätzlichen Glaubenssystems und andersartiger ritueller Praktiken. Es geschieht ein Affiliieren mit einer hochverbindlichen Gemeinschaft, die als oppositionelle religiöse Organisation agiert (z. B. Konversion in eine fundamentalistische Gruppe). Hier wechselten 8 Personen von einer „no tension religious organization“ zu einer „tension religious organization“.236 3. Der „religiöse Wechsel“ („religious switching“) klassifiziert die Migration in eine religiöse Organisation mit ähnlichem Glaubenssystem und ähnlichen Ritualen (von „oppositional“ zu „accommodating“ und umgekehrt). Dies wählten 13 Personen.237 4. Der „integrierende Ausstieg“ („integrating exit“) ist die Annahme eines anderen Glaubenssystems und anderer Praktiken, wo eine versorgende, religiöse Organisation vorherrscht. Es zeigt sich, dass 16 Personen von einer „tension religious organization“ zu einer „no tension religious organization“ wechselten.238 5. Der „privatisierte Ausstieg“ („privatizing exit“) klassifiziert die Entfremdung von einer religiösen Organisation, eventuell durch die Kündigung der Mitgliedschaft. Private religiöse Überzeugungen und Praktiken werden jedoch weitergeführt. 17 Personen von einer „tension religious organization“ und 7 Personen von einer „no tension religious organization“ wurden zu unsichtbaren religiösen Akteuren.239 235 Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den USA und Deutschland. Streib et al. machen diesen Unterschied anhand der ISSP-Daten deutlicher und weisen darauf hin, dass auf der Datenlage von ISSP in Deutschland 9,4 % säkulare Aussteiger sind und in den USA 3,7 %. Sie begründen dies mit der allgemein hohen säkularen Grundstruktur in Deutschland und schließen: „Deconversion in the United States seems to be more different from decon�version in Europe than expected.“ Streib, „Deconversion“ (2014), 289. 236 Streib, „More Spiritual Than Religious“ (2008), 61. 237 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 86. 238 A. a. O., 89. 239 Streib, „Deconversion and Spirituality“ (2016), 22.
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6. Der „häretische Ausstieg“ („heretical exit“) ist die Entfremdung von einer religiösen Organisation (letztlich mit der Kündigung der Mitgliedschaft) und die Bildung eines individuellen häretischen Glaubenssystems. Der Ausstieg erfolgt in Richtung der unorganisierten religiösen Szene. Dies kann sich auch in einem Engagement in unterschiedlichen Glaubenspraktiken ohne neue religiöse Affiliation zeigen. Aus der „tension religious organization“ sind 4 Personen und aus der „no tension religious organization“ 5 Personen in dieses Feld gewandert, also insgesamt 9 Personen.240 Folgende Grafik veranschaulicht dies.241
Abbildung 4: Quantitative Ergebnisse von Dekonversions-Dynamiken im religiösen Feld 240 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 236. 241 A. a. O., 236.
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Mit den dargestellten Segmenten und Organisationstypen im religiösen Feld wird deutlich: Säkulare Dekonvertiten verlassen das religiöse Feld, oppositionelle und integrierende Dekonvertiten migrieren zwischen Kirche und Sekte, religiöse Wechsler wechseln zwischen Gemeinschaften mit einem ähnlichen Verhältnis zur Gesellschaft. Privatisierende und häretische Ausstiege könnten in einem religionswissenschaftlichen Modell, wie dies etwa Weber oder Troeltsch vorschlagen, nicht erfasst werden. Bei den Dekonvertiten, die einen privatisierten oder häretischen Ausstieg wählen, ist Folgendes besonders: […] because they continue holding religious beliefs and engage in religious praxis of some sort – eventually a rather different sort, or a kind of quilt composition of beliefs and practices – but privatizing and heretical exiters do not care about, and turn their back on, the organized religious actors (church, sect) and only few may have become private clients of magicians.242
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass etwa 2/3 der Dekonvertiten das Segment der organisierten Religion in unterschiedliche Richtungen verließen. Außerdem gaben von den 62 Dekonvertiten, die das organisierte religiöse Feld verließen, 28 Personen, also fast 50 %, als Selbstidentifikation „more spiritual than religious“ an.243 Während eine leichte Mehrheit (29 Personen) den säkularen Ausstieg wählte, entschieden sich 24 Personen dazu, ihre Religion privat auszuüben. Eine dritte Gruppe wählte den häretischen Ausstieg (9 Personen), die ohne eine Re-affiliierung oder ohne eine neue Mitgliedschaft ihre eigene Religiosität (Patchwork-Religiosität) verfolgte.244 2.1.2.7.4.5 Dekonversionstypen In der Dekonversionsstudie kristallisieren sich laut den Autoren vier Dekonversionsnarrative (oder Dekonversionsbiografien) heraus. Die folgende Typologie ist idealtypisch formuliert und erleichtert das Erfassen verschiedener Ausformungen.245 Dabei werden die Intentionen, Beweggründe und Auslöser dekonversiver Prozesse deutlich.246 242 Streib, „Deconversion and Spirituality“ (2016), 21. Vgl. auch Streib / Keller, Was bedeutet Spiritualität (2015). 243 Streib / Keller, Was bedeutet Spiritualität (2015), 13. 244 Für Deutschland fällt auf: „The religious field in Germany apparently does not offer enough alternatives for church-leavers to affiliate anew with a religious organization. In terms of our typology: religious switching, integrating exit, but also oppositional exit do not seem likely for large groups […].“ Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 41. 245 Die Reihenfolge und Priorisierung der fünf Dekonversionskriterien bestimmen nach Streib et al. die Typisierung eines bestimmten Dekonversionstyps. A. a. O., 23. 246 Die Autoren entwickelten diese Typen auf Grundlage der bereits dargestellten Fundamentalismus-Typen. Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 113–216.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
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1. Der erste Typ: „der Autonomiestrebende“ („pursuit of autonomy“). Dieser Typ kennzeichnet sich durch eine schrittweise Entfremdung und Loslösung von einer religiösen Überzeugung. Die Suche nach Individualität und die Entwicklung eigener Glaubensüberzeugungen stehen im Vordergrund. Der Autonomiestrebende wählt vornehmlich den säkularen und häretischen Ausstieg (wobei auch der „integrated exit“ eine Option ist).247 Dieser Typ entspricht oftmals jungen Menschen, die durch ihre Eltern in die vormalige religiöse Gemeinschaft gekommen waren, dem Glauben dieser Gemeinschaft jedoch entwachsen sind.248 2. Der zweite Typ: „der Paradiesvertriebene“ („debarred from paradise“). Dieser Typ ist mit der religiösen Tradition emotional tief verbunden und erhofft sich Heilung eines frühen Traumas oder persönlichen Verlusts. Viele dieser Personen haben eine Konversion im mittleren Lebensalter erlebt, die oftmals mit einer eindeutigen Entscheidung verbunden war. Charakteristisch für diesen Dekonversionstyp sind enttäuschte Erwartungen, das Aufgeben früherer Hoffnungen oder der Verlust der Zuwendung religiöser Leiter.249 Der Paradiesvertriebene wählt vornehmlich den säkularen, privaten und häretischen Ausstieg. Er wird sich höchstwahrscheinlich keiner neuen religiösen Organisation mehr anschließen und verlässt das Segment organisierter Religion.250 Dieser Typ ist charakterisiert durch eine dramatische Dekonversion. 3. Der dritte Typ: „der Referenzrahmen-Wechsler“ („finding a new frame of reference“).251 Dieser Typ sucht nach mehr Intensität und Anleitung im eigenen religiösen Leben. Er gehörte vormals einer „mainline“-Kirche an, in der er aufgewachsen war.252 Der Referenzrahmen-Wechsler wählt vornehmlich den oppositionellen Ausstieg und strebt zu einer Gemeinschaft mit „higher tension“. In diesem Fall wird Dekonversion als eine Re-Konversions247 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 113–137. Genauere Angaben werden von Streib et al. wie folgt gemacht: „It is generally associated with the prevalence of the individuative-reflec�tive religious style and with low scores on the truth of text and teachings subscale of the Religious Schema Scale. Scores on psychological well-being appear to be high for U.S. deconverts of this type but, in contrast, moderate or low for German deconverts.“ Streib, „Deconversion“ (2014), 286. 248 Vergleichbar mit dem Fundamentalismus-Typ, der in der Tradition der Eltern aufgewachsen ist. 249 „For all of them emotional suffering is a criterion of deconversion, often requiring therapeutic help.“ Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 169. 250 Streib et al. weiter dazu: „With only rare exceptions, this type of deconvert is characterized by very low scores on the religious fundamentalism scale, indicating very strong rejection of the former belief system, and by high scores in faith development, including individuative- reflective and conjunctive styles.“ Streib, „Deconversion“ (2014), 222. 251 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 171–193. 252 „Most of these deconverts disaffiliate from an integrated religious organization. They turn away from the mainline religion in which they grew up.“ A. a. O., 192.
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2. Forschungsüberblick
Erfahrung erlebt. Dieser Typ zeichnet sich durch das Erleben einer neuen persönlichen Religiosität aus (z. B. einer intensiven Jesus-Beziehung).253 Die Optionen für soziale Assoziation und Integration sind hier ausschlaggebend (deutsche Dekonvertiten haben hier laut Streib et. al weniger Möglichkeiten). 4. Der vierte Typ: „der lebenslange Sucher“ („life-long quests“). Dieser Dekonversionstyp verlässt eine religiöse Umgebung und die damit verbundene Orientierung einmal oder mehrfach, weil sie seine persönlichen Erwartungen und Bedürfnisse nicht stillt. Der lebenslange Sucher sucht immer wieder nach etwas „Besserem“ und wählt deshalb den privaten und häretischen Ausstieg.254 Es können auch mehrere Dekonversionen erfolgen, die den Wechsel zu einer anderen religiösen Gemeinschaft und deren Ritualen („integrated exit“) nach sich ziehen. Besonders für die ersten zwei Dekonversionstypen und den letzten Dekonversionstyp stellen Streib et al. in der Untersuchung der Narrative fest, dass Dekonversion von den Befragten als ein befreiender Schritt und als Gewinn empfunden wird. Streib dazu: „Deconversion appears to be a step into freedom, autonomy, and personal growth.“255 Der Gewinn von Autonomie oder der Wechsel des Referenzrahmens wird als Errungenschaft gedeutet. Der zweite Typ dagegen zeigt, dass Dekonversion auch mit Verlust und Krise zu tun haben und eine Opfer- oder „Überlebenden“-Narrative entstehen lassen kann.256
253 Streib weiter: „Before the (re-) conversion, there may be a kind of moratorium that may involve orientations such as atheism, interest in other world religions, depression, or perhaps the t aking of drugs. Thus, the new religiosity is portrayed as a complete change of life and morality.“ A. a. O., 223. 254 Streib / Hood u. a., Devonversion (2009), 195–216. Streib dazu weiter: „Some deconverts of this type are on a lifelong journey pursuing an individual project such as coming to terms with a traumatic childhood, finding the most fitting mystical or spiritual environment, or attaining the inner peace that they desire.“ Streib, „Deconversion“ (2014), 287. 255 A. a. O., 289. 256 A. a. O. Krisen und Verluste sind in den vier Typen ungleich verteilt. Aus kulturvergleichender Perspektive lässt sich beobachten, dass Verlust und Krisen bei den deutschen Befragten häufiger vorkommen. Streib et al. diskutieren, wie Dekonvertiten mit den Krisen und Brüchen in dem Dekonversionsnarrativ umgehen, und weisen nach, dass die Verlusterfahrungen als Gewinn erlebt werden. So korrespondiert der Verlust religiösen Erlebens mit einer verstärkten „openness to experience“. Intellektuelle Bedenken und Zweifel verweisen auf eine kognitive Krise, die ein Zeichen für eine Veränderung der Glaubensstufe ist. Moralische Kritik verweist auf eine Zunahme religiöser Autonomie. Emotionale Leiderfahrung kann mit persönlichem Wachstum in Verbindung gebracht werden. Zuletzt deutet der Verlust der Gemeinschaft auf ein erhöhtes Bedürfnis nach „connectedness“ und eine höhere Assoziation mit „spiritual“ hin.
2.1 Das Verlassen der religiösen Orientierung und Dekonversion
105
2.1.2.7.5 Würdigung und Kritik Die kulturvergleichende und internationale Studie zu Dekonversion in den USA und Deutschland ist zu einem Standardwerk in der Dekonversionsforschung geworden.257 Besondere Beachtung verdienen die kulturvergleichenden Ergebnisse, das internationale und interdisziplinäre Forschungsteam sowie die zahlreichen Methoden, Skalen, Tests und Ansätze, die in dieser Studie zusammengeführt werden. Die Studie besticht durch den vielschichtigen Forschungsansatz (qualitativ, quantitativ) und die Größe der Datensätze, die die Aussagen validieren. Positiv fällt auf, dass die fünf Merkmale für Dekonversion sowohl für das aktive Subjekt Raum lassen, das sich mit seinem Glauben auseinandersetzt, als auch für von außen hereinbrechende Erfahrungen (Krise), die Teil der Dekonversion sein können. Bei den Kriterien für Dekonversion wird jedoch nicht klar, wie viele der fünf Merkmale erfüllt sein müssen, um von einem dekonversiven Prozess sprechen zu können. Die Autoren weisen zwar darauf hin, dass der idealtypische Dekonvertit in ihrer Studie nur wenige Male vorkommt, viele Dekonvertiten jedoch im Schnitt vier Kriterien erfüllen. Die Studie ragt in der Forschung heraus, da sie durch die sechs Ausstiegsverläufe und die vier Dekonversionstypologien eine sinnvolle Klassifizierung der Dekonversionsverläufe und -narrativen bietet. Eine weitere Stärke liegt in der Bestimmung der Art der Gemeinschaft und der Position, die die Person in der verlassenen Gruppe eingenommen hat. Die sechs Ausstiegsverläufe, Dekonversionstypen sowie Organisationstypen der verlassenen Gemeinschaft werden meiner weiteren Arbeit zugrunde liegen. Gleichzeitig bleibt die Frage unbeantwortet, wie die Dynamik und die Bewegung innerhalb der vormaligen Gemeinschaft abgebildet werden können. So können Personen beispielsweise in der vormaligen Gemeinschaft unterschiedliche Positionen eingenommen haben (z. B. aufgrund von Lebensabschnittsschwerpunkten). Dies könnte bereits als Instabilität oder Suche nach einer religiösen Orientierung verstanden werden und damit schon Teil des dekonversiven Prozesses sein (ohne die fünf Merkmale abzubilden). Die Studie offenbart eine weitere methodische Schwäche, nämlich in der Abfrage der Persönlichkeitsmerkmale der Dekonvertiten. Es wird nicht deutlich, welche Wechselwirkungen zwischen der Persönlichkeitsstuktur und einer Dekonversion bestehen.258 Außerdem fällt auf, dass die Unterteilung in integrierende, angepasste und oppositionelle religiöse Organisationen einer kontextabhängigen Beurteilung 257 Auffallend ist, dass es meines Erachtens keine bedeutende kritische Debatte zu den hier präsentierten Ansätzen und Ergebnissen gibt. 258 Dieser Schwäche sind sich die Autoren bewusst, wie sie selbst angeben. Streib, „Deconversion and Spirituality“ (2016), 21. Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 233.
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2. Forschungsüberblick
bedarf. Gesellschaftliche Legitimität kann in unterschiedlichen Kontexten verschieden aussehen und eingeschätzt werden. Der Dekonversionsbegriff, der dieser Studie zugrunde liegt, ist sehr weit gefasst. Er eignet sich, um die verschiedenen Dekonversionsverläufe der Befragten unter einer Bezeichnung zu vereinen. In seiner unscharfen Abgrenzung zu Konversion ist er jedoch kritisch zu sehen (worauf die Autoren selbst hinweisen). Die Dekonversionsbeschreibung „Veränderung des religiösen Stils“ ist allgemein gehalten und kann unterschiedliche Glaubensveränderungen, also auch Konversion, beinhalten. Nichtsdestotrotz ist Streib et al. darin recht zu geben, dass die Veränderung des religiösen Stils im Zusammenspiel mit den anderen Kriterien zu einer hinreichenden Beschreibung von Dekonversion führt. Obwohl es nicht Teil der Fragestellungen der Studie war, bleibt offen, wie es um nicht dargestellte Bewegungen im religiösen Feld steht. Die Annahme ist, dass Dekonversion lediglich aus dem organisierten religiösen Feld heraus, innerhalb des Feldes oder raus aus dem organisierten Feld heraus geschieht. Wie steht es um Ausstiegsszenarien aus dem privatisierten religiösen Feld in die säkulare Existenz? Wie steht es um dekonversive Migration aus dem privatisierten Segment (eventuell zurück) in das organisierte religiöse Feld? Besonders die Bewegungen innerhalb des organisierten religiösen Feldes („religious switching“, „integrating exit“, „oppositional exit“) beleuchten den Umstand, dass zu den dekonversiven Prozessen konversive Prozesse hinzukommen. Das Wechselspiel des Zurücklassens und neu Annehmens wird deutlich. Zuletzt sei auf einen Nachteil bei der Auswahl der Interviewpartner hingewiesen. In dieser Studie wurden Personen aus vormals neureligiösen und fundamentalistischen Gruppen (Christen, Mormonen, Moslems u. a. religiösen Gruppen) befragt. Damit ist, worauf die Autoren selber hinweisen, keine repräsentative Darstellung der religiösen Felder in Deutschland und den USA möglich. Kritisch fällt auf, dass die unterschiedlichen Teilnahmevoraussetzungen und Mitgliedschaftsbedingungen der Interviewpartner nicht gesondert diskutiert wurden. Wenn Kündigung der Mitgliedschaft als Teil des Loslösens von einer Mitgliedschaft verstanden werden kann, dann ist an dieser Stelle erkennbar, dass die Vergleichbarkeit mit anderen religiösen Gruppen eingeschränkt ist.259 Positiv an der Befragten-Einschränkung ist jedoch, dass dies die Diskussionsgrundlage mit der „Emerging Church“-Konversation nicht negativ beeinflusst, sondern sogar stärkt, da viele emergente Protagonisten aus Gruppen und Gemeinschaften mit evangelikalem Hintergrund kommen und vergleich259 Die Autoren geben an, die Mitgliedschaftsfrage nicht bearbeitet zu haben, denn „[…] the pri�vatizers and heretics are not accounted for as religious persons, but mixed up with secularists, even though they may practice or search for their religion.“ Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 237.
2.2 „Emerging Church“
107
bare Dynamiken (siehe Sekten-Typ) mit fundamentalistischen Gruppen und Gemeinschaften erkennbar sind.
2.2 „Emerging Church“ 2.2.1 „Emerging Church“ – ein Überblick Der folgende kurze Überblick konzentriert sich naturgemäß auf anglo-amerikanische Monografien zu dem Untersuchungsgegenstand „Emerging Church“. Im US-amerikanischen und britischen Kontext sind folgende Veröffentlichungen über die „Emerging Church“-Konversation erwähnenswert: (A) Die erste sowie vielleicht wichtigste Veröffentlichung zum Phänomen „Emerging Church“ stammt von den US-amerikanischen Missionstheologen Edward Gibbs und Ryan Bolger. Sie waren die Ersten, die 2005 das Phänomen anhand 50 qualitativer Interviews mit Leitungspersonen emergenter Gemeinschaften in den wissenschaftlichen Diskurs einführten. Die Studie „Emerging Churches. Creating Christian Community in Postmodern Cultures“ untersucht in Nordamerika und Großbritannien Gemeinsamkeiten und Merkmale der „Emerging Church“-Konversation. Als Grundannahmen stellen Gibbs und Bolger fest: „There is now a growing realization that churches in the West face a missional challenge, one that is increasingly cross-cultural in nature. This chasm widens as the mainstream culture diverts from its spiritual heritage and society becomes increasingly pluralistic.“260 Die Autoren identifizieren drei Werte und sechs Praktiken die den untersuchten Gemeinschaften gemeinsam sind: Emerging churches (1) identify with the life of Jesus, (2) transform the secular realm, and (3) live highly communal lives. Because of these three activities, they (4) welcome strangers, (5) serve with generosity, (6) participate as producers, (7) create as created beings, (8) lead as a body, and (9) take part in spiritual activities.261
Gibbs’ und Bolgers Studie wurde zum Standardwerk für weitere Untersuchungen über die „Emerging Church“-Konversation. Der transatlantische Bezug, der
260 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 16. 261 A. a. O., 45. Die Erkenntnisse der Studie werden im Laufe dieser Arbeit genauer vorgestellt. Vgl. Abschnitt II Kapitel 7.1 Edward Gibbs und Ryan Bolger „Emerging Churches“ (2005).
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2. Forschungsüberblick
qualitative Ansatz und die präzisen Definitionen der Merkmale zeigen die Bedeutung und Reichweite dieses Phänomens auf. (B) Ray Anderson, ehemals Professor am Fuller Theological Seminary, hat 2006 einen ersten tieferen theologischen Einblick in eine „Emerging Church“Konversation gegeben.262 Anhand eines Vergleichs mit den Auseinandersetzungen in der frühen Kirche zwischen den Gemeinden in Jerusalem und Antiochien skizziert er ein mögliches Verhältnis zwischen emergenten Gemeinschaften und etablierten evangelikalen Gemeinschaften. Er folgert, dass die antiochenischen Christen, genau wie emergente Gemeinschaften, durch den hohen Grad an Kontextualisierung für ihre Nachbarschaften und Zielgruppen an Relevanz gewinnen können, da sie sich den postmodernen Bedingungen besser anpassen.263 Auffallend an Ray Andersons Veröffentlichung ist, die Konversation als Ansatz einer kontextuellen Theologie zu skizzieren. Erstaunlich ist, dass Andersons Beitrag in der Konversation und in der Forschung kaum rezipiert oder in den Diskurs aufgenommen wurde. (C) Jim Belcher veröffentlichte 2009 mit seiner Arbeit über die „Emerging Church“-Konversation einen Beitrag im Kontext des US-amerikanischen Evangelikalismus.264 Belcher versteht die Konversation als Suchbewegung. Auf der einen Seite fordert er eine Erneuerung traditioneller evangelikaler Gemeinschaften, auf der anderen Seite mahnt er zur Vorsicht, wenn Protagonisten der „Emerging Church“-Konversation evangelikale Überzeugungen dekonstruieren (beispielsweise Wahrheit, Evangelisation, Evangelium, Lobpreis, Predigt). Belcher schlägt einen „third way“ („dritten Weg“) vor, der sich im Diskurs des „post-foundationalism“ verortet. Belchers Veröffentlichung zeigt das Ringen evangelikaler Autoren mit der Konversation und ist insofern ein Beitrag zur wachsenden Diskussion am Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrhunderts. (D) Ein weiterer Forschungsbeitrag aus dem US-amerikanischen Raum kommt von der Autorin Phyllis Tickle. Mit ihren 2008 und 2012 erschienenen Veröffentlichungen schildert sie die „Emerging Church“-Konversation als Teil eines sich weiterentwickelnden Evangelikalismus, den sie „Emergence Christianity“ nennt.265 Sie beschreibt die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in der 262 Anderson, An Emergent Theology for Emerging Churches (2006). 263 Er sagt: „The Christian community that emerged out of Antioch constitutes the original form and theology of the emerging church as contrasted with the believing community at Jerusalem.“ A. a. O., 11. 264 Belcher, Deep Church (2009). 265 Tickle, The Great Emergence (2012); Tickle, Emergence Christianity (2012). Tickle weist die Frömmigkeitstraditionen der protestantischen Kirchen vier Quadranten zu. Zum ersten Quadranten zählen jene, die um eine liturgische Ausdrucksform bemüht sind, zum Zweiten jene, die um soziale Gerechtigkeit bemüht sind, zum Dritten jene, die nach Erneuerung streben (Pfingstkirchen und charismatische Bewegungen) und als Viertes jene, die in ihren Überzeugungen darum bemüht sind, die konservative Wahrheit hoch zu halten (von Tickle
2.2 „Emerging Church“
109
religiösen Landschaft der USA als Anzeichen eines neuerlichen Wendepunkts in der Kirchengeschichte. Diese Entwicklungen seien vergleichbar mit dem großen Schisma im 11. Jahrhundert oder der Reformation im 16. Jahrhundert. Tickle tritt, wie auch Robert Webber, als Protagonistin des US-amerikanischen Evangelikalismus für eine Öffnung des Evangelikalismus für andere Traditionen und Entwicklung ein.266 Beide haben den progressiven Flügel des US-amerikanischen Evangelikalismus prägend mitgestaltet.267 Robert Webbers Beiträge sollen an dieser Stelle nur kurz erwähnt werden,268 da seine These der „younger evangelicals“ und sein Konzept des „ancient future“ im Rahmen der Konversation zu einem späteren Zeitpunkt genauer vorgestellt werden.269 (E) Eine wesentliche Veröffentlichung im britischen Kontext ist, neben den Beiträgen zu christlichen Vergemeinschaftungen in „post-christendom“ im Allgemeinen von Stuart Murray 270, eine Darstellung der britischen „Emerging Church“-Konversation von Doug Gay.271 Gay hebt hervor, dass die Konversation (für Personen aus der „low church“) als ein heuristisches System hilfreich ist, um gemeindliches Handeln sowie Spiritualität unter postmodernen Bedingungen neu zu interpretieren. „For the alt / emerging activists who came from LCP [„low church protestantism“] backgrounds, they were crucial factors in creating a new climate of freedom and permission to audit and question church traditions.“272 Der Autor sieht die Konversation darin als Weiterentwicklung der „alter„doctrinal evangelicals“ genannt). Die Autorin beschreibt eine Vermischung der sonst strikt getrennten Bereiche und sieht „Emerging Church“-Gemeinschaften als Vorreiter künftigen Christseins, nämlich eine Bewegung in die moderate Mitte. In eine ähnliche Kerbe schlägt Bruce Sanguin, wenn er von „God’s post-patriarchal kingdom“ spricht. Sanguin, The Emerging Church (2008), 50. 266 Siehe dazu die Veröffentlichungen von Tickle, die eine liturgische Orientierung im Evangelikalismus vorschlägt. Tickle, The Divine Hours (2006); Chittister / Tickle, The Liturgical Year (2010). Siehe auch die Veröffentlichungen von Robert Webber: Webber, Evangelicals on the Canterbury Trail (1985); Webber, The Divine Embrace (2006); Webber, Evangelicals on the Canterbury Trail (2012). 267 In dieser Hinsicht sind auch folgende Autoren zu erwähnen, jedoch nicht eigens darzustellen, da sie lediglich ausführliche Hinweise auf die „Emerging Church“-Konversation verfasst haben: Lee / Sinitiere, Holy Mavericks (2009). Sine, The New Conspirators (2008). Becky Garrisons Beitrag ist insofern hilfreich, als sie eine Veröffentlichung von Interviewbeiträgen mit „main�line“-Gesprächspartnern und deren Sicht auf die „Emerging Church“-Konversation liefert. Garrison, Rising from the Ashes (2007). 268 Webber, Ancient-Future Faith (1999); Webber, The Younger Evangelicals (2002); Webber, Ancient-Future Evangelism (2003); Webber, Ancient-Future Time (2004); Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007). 269 Vgl. Abschnitt II Kapitel 1.4.1.2.1 Robert Webber (2002). 270 Murray, Church after Christendom (2004); Murray, Post-Christendom (2004); Murray, Changing Mission (2005). 271 Gay, Remixing the Church (2011). 272 A. a. O., 17.
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2. Forschungsüberblick
native worship“-Bewegung in der Anglikanischen Kirche. Doug Gay identifiziert drei kontextuelle Veränderungen, die die „Emerging Church“-Konversation begünstigen und herausgefordert haben: Zum Ersten weist er auf den Einfluss des Ökumenischen Rates der Kirchen mit Studien zu den Themen Ekklesiologie, Mission und Gottesdienst hin; zum Zweiten hebt er das neue Klima nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil hervor (hier wird die Bereitschaft der katholischen Kirche, liturgische Veränderungen zu initiieren, betont); zum Dritten identifiziert er die Veränderung des Missionsverständnisses nach dem Zweiten Weltkrieg und die Entwicklung eines postkolonialen Missionsbegriffs.273 (F) Schließlich soll auf den Forschungsbeitrag von Don A. Carson, Professor für Neues Testament an der „Trinity Evangelical Divinity School“, verwiesen werden, der mit seiner Veröffentlichung einer der prominenten Kritiker der Konversation ist.274 Seine Kritik bezieht sich vorwiegend auf den emergenten Protagonisten Brian McLaren und seine epistemologischen Grundvoraussetzungen, die für ihn mit dem Evangelikalismus nicht vereinbar sind.275 Ein anderer kritischer Überblick über die „Emerging Church“-Konversation ist Bob DeWaays Veröffentlichung, in der er das zentrale Merkmal der Konversation in einer präsentischen eschatologischen Auffassung des „Reiches Gottes“ sieht und dies ebenfalls auf Grundlage evangelikaler Überzeugungen ablehnt.276 (G) Zuletzt soll auf die holländische Veröffentlichung von Robert Doornenbal aus dem Jahr 2012 hingewiesen werden.277 Doornenbals Veröffentlichung ist der erste kontinentaleuropäische Beitrag zur Konversation mit dem speziellen Fokus auf missionarische Leitung und Implikationen für theologische Ausbildung in den Niederlanden. Dabei konzentriert sich der Autor besonders auf die „relevant“-Strömung der Konversation und die Überschneidungen zur „missional church“, also jene Strömung, die nach dem missionarischen Auftrag der Kirche unter postmodernen Bedingungen fragt. Ausgehend von ihren missionarischen Impulsen bespricht der Autor die Relevanz einer „missionsorientierten“ und „missionsformatierten“ Ausbildung der Leitungspersonen kirchlichen Handelns in der PKN („Protestantse Kerk in Nederland“). (H) Eine Veröffentlichung über die Konversation aus philosophischer Perspektive stammt von der Britin Katharine Sarah Moody.278 Sie untersucht die 273 A. a. O., 106. 274 Carson, Becoming Conversant with the Emerging Church (2005). 275 Eine aktuelle theologische Auseinandersetzung mit der Konversation stammt von Hannah Steele, die vergleichbar mit Carson um eine Darstellung und Kritik aus evangelikaler Per spektive bemüht ist. Steele, New World, New Church (2017). 276 Dewaay, The Emergent Church (2009). Auf die Kritik an der Konversation wird an späterer Stelle ausführlicher eingegangen. Vgl. Abschnitt II Kapitel 13 Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation. 277 Doornenbal, Crossroads (2012). 278 Moody, Radical Theology and Emerging Christianity (2015).
2.2 „Emerging Church“
111
philosophischen Ideen, genauer John D. Caputos dekonstruktivistische Theologie und Slavoj Zizeks materialistische Theologie, und deren Einflüsse auf die „Emerging Church“-Konversation. Dabei geht sie besonders auf die Praktiken von Peter Rollins und der „Ikon“-Gemeinschaft sowie auf Kester Brewin und die „Vaux“-Gemeinschaft ein. (I) Die wesentlichen soziologischen und religionssoziologischen Untersuchungen zur „Emerging Church“-Konversation279 werden in der empirischen Annäherung an den Forschungsgegenstand im Laufe der Arbeit vorgestellt.280 Neben der Studie von Gibbs und Bolger handelt es sich um fünf weitere Studien, die den Gegenstand dieser Arbeit differenzierter erschließen werden (Bob Whitesel 2006, James Bielo 2011, Tony Jones 2011, Josh Packard 2012, Gladys Ganiel und Gerardo Marti 2014).
2.2.2 Weitere wissenschaftliche Forschungsarbeiten Eine Vielzahl von Dissertationen hauptsächlich aus den USA und Großbritannien281 beschäftigen sich mit ausgewählten Perspektiven der „Emerging Church“-Konversation, so wie beispielsweise mit der „Worship“- und Predigtkultur,282 Mission und Evangelisation,283 sozialpolitischen Einstellungen emer-
279 Neben verfügbaren Monografien sollen beispielhaft eine Dissertation und ein Artikel genannt werden. Whitesel, „Recurring Patterns of Organic Churches“ (PhD Diss, Fuller Theological Seminary, 2009). Wollschleger, „Off the Map“ (2012). 280 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 7 Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standort�bestimmung. 281 Wie bereits in der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes dargelegt, sollen bevorzugt Arbeiten aus den USA und Großbritannien wahrgenommen werden. An dieser Stelle soll auf Forschungen an australischen Universitäten hingewiesen werden. Beispielsweise: Cronshaw, „The Shaping of Things Now“. Roennfeldt, „Reshaping the Australian Church Experience“. 282 Baker, „A Critical Analysis of the Theory and Practice of Preaching in the Emerging Church Movement“ (PhD Dissertation, Mid-America Baptist Theological Seminary, 2006). Dun�can, „A Critical Analysis of Preaching in the Emerging Church“ (Doctor of Philosophy, The Southern Baptist Theological Seminary, 2011). Gatzke, „Preaching in the Emerging Church and Its Relationship to the New Homiletic“ (PhD Dissertation, Brunel University, 2008). Milosavljevic, „Emergent Worship“ (Honors Thesis, Andrews University, 2012). Kim, „An Evangelical Critique of the Emergent Church’s Hermeneutics and Its Effects on Theology, Message, and Method of Evangelism“ (Dissertation, Southwestern Baptist Theolo gical Seminary, 2012). Wiseman, „Grace Space“ (PhD Diss, Drew University, 2006). Williams, „Emerging Music“ (Honors Theses, Western Michigan University, 2009). 283 Woo Joon Kims Dissertation setzt sich aus evangelikaler Perspektive mit Evangelisation in der Konversation auseinander und zeigt auf, dass sich die „Emerging Church“-Konversation von einem evangelikalen Verständnis von Evangelisation entfernt habe. Kim, „An Evangelical
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2. Forschungsüberblick
genter Protagonisten,284 ekklesiologischen Perspektiven285. Weitere Perspektiven sind die Betonung der Relationalität in emergenten Gemeinschaften286 oder die Betonung postmoderner Bedingungen im Gespräch mit der Konversation.287 Daneben gibt es Untersuchungen zu den Ansätzen einzelner Protagonisten in der Konversation.288 Andere Dissertationen thematisieren Herausforderungen in emergenten Gemeinschaften, wie etwa den Widerstand sich zu institutionalisieren,289 die Bemühungen emergenter Gemeinschaften Brücken zu anderen Glaubensund Frömmigkeitstraditionen zu bauen,290 missionarisch orientiert zu sein,291 Leitungsrollen in der Konversation292 oder Online-Kommunikation.293
Critique of the Emergent Church’s Hermeneutics and Its Effects on Theology, Message, and Method of Evangelism“. Steele, „The Missiology of the Emerging Church in Portland, Oregon“ (PhD Diss, Trinity Evan� gelical Divinity School, 2012). 284 McKelvie, „The Emerging Church Movement“ (Master of Arts, Oregon State University, 2013). 285 Odejayi, „Towards an Understanding of the Implication and Challenge of the Emerging Church Movement for Ecclesiology in Post-colonial Africa“ (Dissertation, Stellenbosch University, 2012). Skead, „An Examination of the Missional Ecclesiology of the ‚Emerging Church Move� ment‘“ (Dissertation, University of Pretoria, 2009). Springer, „An Articulation and Evaluation of an Emerging Church Ecclesiology“ (Master of Theology, Biola University, 2008). Stockdale, „Ecclesiological Contributions of Emerging Churches for their Parent Communities“. Sweat�man, „Derridoxology“. 286 Simcox argumentiert, dass emergente Gemeinschaften die traditionellen Wege der Gotteserkenntnis ablehnen, indem sie Gotteserkenntnis durch die Relationalität der lokalen Gemeinschaft bevorzugen. Simcox, „Performing Postmodern Christian“ (Dissertation, Bowling Green State University, 2005). Jones, The Relational Ecclesiology of the Emerging Church Movement in Practical Theological Perspective (2011). 287 Karen Wiseman untersucht die Verwendung der Räumlichkeiten in emergenten Gemeinschaften. Sie sagt, dass Gemeinschaften gottesdienstliche Orte schaffen „[that] provide a blank canvas for décor, for art, for aesthetic and technological imaging […]“. Es wird Folgendes ge�boten: „[…] opportunities for diverse worship arrangements […]“ und „[…] possibility of a transcendent experience through art and imagery […]“. Wiseman, „Grace Space“, 216. 288 Beispielsweise: Ring, „The Ministry of Dan Kimball“ (Doctor of Philosophy, The Southern Baptist Theological Seminary, 2011). Burson / McLaren, Brian McLaren in Focus (2016). 289 Packard, „Organizational Structure, Religious Belief, and Resistance“ (PhD thesis, Vanderbilt University, 2008). 290 Chia, „Emerging Faith Boundaries“. 291 Ballard: „Experience, Story, and Mission. Exploring the Emerging Church Conversation in the United States“, (Tren Dissertation), http://place.asburyseminary.edu/trendissertations/2563 am 12.10.2016. Stewart, „The Influence of Newbigin’s Missiology on Selected Innovators and Early Adopters of the Emerging Church Paradigm“ (Dissertation, The Southern Baptist Th eological Seminary, 2013). 292 Breznau, „Emerging from the Emergent“ (Master of Arts, Dallas Theological Seminary, 2011). 293 Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“.
2.2 „Emerging Church“
113
Einen anderen Ansatz wählen jene, die einzelne Aspekte der Konversation in anderen theologischen Kontexten betrachten, so etwa Rowell, der „Emerging Church“ mit Dietrich Bonhoeffer,294 Erin Wyble, die feministische Theorien,295 Patrick Oden, der die Pneumatologie Jürgen Moltmanns, als Gesprächspartner vorschlägt296, sowie jene, die exegetische Fragestellungen wählen.297 Eine weitere akademische Arbeit, die sich auf die „Emerging Church“- Konversation in Großbritannien fokussiert, ist jene von Janine Paden Morgan, die die eucharistische Praxis in emergenten Gemeinschaften untersucht.298 Eine der ersten detaillierten Untersuchungen einer einzelnen emergenten Gemeinschaft in Großbritannien sowie eine Fokussierung auf deren zentrale theologische Themen bietet Corey Labanows Forschungsarbeit.299
2.2.3 Forschungsüberblick im deutschsprachigen Raum Im deutschsprachigen Raum gibt es keine ausführliche wissenschaftliche Übersicht der „Emerging Church“-Konversation. Außer wenigen theologischen Hausarbeiten und Diplomarbeiten sowie populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen sind keine wesentlichen Monografien oder Forschungsergebnisse aufzuweisen.300
294 Rowell: „Innovative Ecclesiological Practices. Emerging Churches in Dialogue with Dietrich Bonhoeffer“, http://www.andyrowell.net/andy_rowell/files/bonhoeffer_and_emerging_church_ sample_paper_5.pdf am 10.12.2012. 295 Wyble, „Telling Stories“ (Doctor of Philosophy, The Pennsylvania State University, 2006). Oder auch Alvizo, „A Feminist Analysis of the Emerging Church“ (Dissertation, Boston University School of Theology, 2015). 296 Odens These wird in dem 2009 erschienen Artikel deutlich: Oden, „An Emerging Pneuma�tology“ (2009). 297 Brown, „Discipleship in a Postmodern Culture“ (DMin thesis, Southwestern Baptist Theolo�gical Seminary, 2008). 298 Morgan, „Emerging Eucharist“ (PhD Diss, Fuller Theological Seminary, 2009). 299 Corey E. Labanows Dissertation lautet „The Challenges of Reconstruction“ (PhD thesis, Uni�versity of Aberdeen, 2006) und wurde veröffentlicht als: Labanow, Evangelicalism and the Emerging Church (2009). 300 Eine der ersten Hausarbeiten war jene von Denton Gandy. Gandy: „Die Emerging Church Bewegung“, Lemgo, (Bibelschule Brake), http://soomah.weblogs.us/files/ecm_gandy.pdf am 10.04.2018. Diplomarbeiten: Eine der ersten exegetischen Untersuchungen des „Reich Gottes“Begriffs in Brian McLarens Veröffentlichungen bietet Siegfried Kröpfel. Patrick Todjeras fragt nach der Relevanz des Predigtansatzes von Doug Pagitt für postmoderne Menschen. Benjamin Battenberg untersucht die Rolle der Pneumatologie in der Konversation. Kröpfel, „Emerging Church“ (Diplomarbeit, Universität Wien, 2008). Todjeras, „Emerging Church Gemeinden“ (Diplomarbeit, Universität Wien, 2007). Oder auch Battenberg, „Amtskirche, Geistkirche und Emerging Church“ (Master of Arts, University of Gloucestershire, 2006).
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2. Forschungsüberblick
Zwei erwähnenswerte Beiträge stammen von Achim Härtner, Professor an der Theologischen Hochschule Reutlingen, der die Konversation im Kontext der britischen „fresh expressions of Church“-Bewegung bespricht.301 Zuletzt soll auf die ins Deutsche übersetzten prominenten Primärwerke in der Konversation aufmerksam gemacht werden.302
2.2.4 Forschungsüberblick „Emerging Church“ hinsichtlich dekonversiver Prozesse Obwohl in den Quellen zur „Emerging Church“-Konversation das Zurücklassen einer religiösen Orientierung und auch das Aufnehmen einer neuen Orien
Populärwissenschaftliche Veröffentlichungen: Vogt, Das 1 × 1 der Emerging Church (2006). Eine weitere Betrachtung des Phänomens „Emerging Church“ ist in der zweiteiligen Veröffentli�chung „Zeitgeist“ zu finden. Diese Veröffentlichungen gelten als der erste Versuch die Einflüsse der Konversation in Deutschland im Kontext eines deutschsprachigen „Emerging Church“Netzwerks sichtbar zu machen. Faix / Weißenborn (Hg.), Zeitgeist (2007); Faix / Weißenborn u. a. (Hg.), Zeitgeist 2 (2009). Einen ersten Einblick bekommt man auch bei David Schäfer, siehe Schäfer, Die jungen Wilden (2006). Erwähnenswert sind die kritischen Beiträge aus evangelikaler Perspektive zur Konversation vom „Maleachi-Kreis“. Maleachi-Kreis, Verführung auf leisen Sohlen (2014). 301 Härtner, „Emerging Church“ (2009); Härtner, „Neue Ausdrucksformen von Gemeinde als Herausforderung“ (2011). Auf die kurzen Beiträge von Michael Herbst zur Konversation wurde bereits hingewiesen. Herbst, Wachsende Kirche (2009), 66–80. Michael Herbst bezieht sich im Sammelband „Kirche in der Postmoderne“ auf Dan Kimballs Ausführungen zu Leitungspersonen in der Postmoderne. Herbst, „Geistliche Führung wahrnehmen in der Kirche der Postmoderne“ (2008), 242–243. Martin Reppenhagen widmet der „Emerging Church“-Konversation ein Kapitel in seiner Untersuchung über „missional church“. In seinen Ausführungen beschreibt er die Konversation als postmoderne Gemeindeform. Kritisch ist zu erwähnen, dass er sich lediglich auf Dan Kimballs und Robert Webbers Einschätzung stützt. Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 310–332. Der Schweizer Nägelin bezieht sich auf Frosts und Hirschs Ansätze und fordert von der Kirche der Zukunft mehr Freiheit in organisatorischen Fragen der Vergemeinschaftung. Nägelin, Kirchen die Menschen mögen (2011), 72–73. Zuletzt soll auf den Beitrag des Züricher Praktischen Theologen Ralph Kunz hingewiesen werden, der in einem Referat im Schweizer IGW Kongress 2009 danach fragt, wie Alan Hirschs Ansätze in den landeskirchenkirchlichen Strukturen der Schweiz Anschluss finden können. https://youththeology.wordpress.com/2009/02/23/emerging-church-in-landeskirchlichenstrukturen-finden-und-wecken/ am 23.02.2009. 302 Exemplarisch seien genannt: Frost / Hirsch, Die Zukunft gestalten (2008). Frost / Hirsch, Der wilde Messias (2010). Hirsch, Vergessene Wege (2011). McLaren, Höchste Zeit, umzudenken (2008); McLaren, Dem Leben wieder Tiefe geben (2009); McLaren, Nachfolge auf neuem Kurs (2012). Rollins, Der orthodoxe Häretiker und andere unglaubliche Geschichten (2014). Bell, Das letzte Wort hat die Liebe (2011).
2.2 „Emerging Church“
115
tierung thematisiert werden, wird dies in der Innenperspektive nicht mit den Begriffen „Dekonversion“ oder „Konversion“ thematisiert. Auch in der kritischen Auseinandersetzung mit der Konversation wird nur vereinzelt auf mögliche dekonversive Prozesse hingewiesen, und sie werden nicht explizit mit dieser Begrifflichkeit benannt. In der Forschung verweist erstmals Philipp Harrold 2006 auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dekonversiven Erfahrungen emergenter Christen und der „Emerging Church“-Konversation. Er äußert den Verdacht, dass emergente Protagonisten gemeinsame Dekonversionserfahrungen haben könnten. Harrold sagt weiter: „[…] a turning-from orientation tends to dominate the narrative of religious autobiography more than the turning-to orientation which has traditionally marked the successful religious conversion.“303 Harrold untersucht emergente Blogger und die Veröffentlichungen prominenter Protagonisten und hebt die Schilderungen hinsichtlich Glaubensverlust hervor und bringt seine Beobachtungen mit John D. Barbours vier Merkmalen dekonversiver Prozesse (Zweifel, moralische Kritik, emotionale Leiderfahrung, Verlust der Gemeinschaft) ins Gespräch. Er weist darauf hin, dass in der „Emerging Church“-Konversation Folgendes dominiert: „[…] struggles over doubt or moral judgment, the emotional distress associated with alienation, or the challenges of distancing oneself from a faith community […].“304 Erstens beschreibt Harrold das Ringen emergenter Protagonisten mit der Postmoderne mit dem Merkmal „Zweifel“. Zweitens zeigt sich das Merkmal „moralische Kritik“ der Christen mit der Kritik an einem konsumorientierten Christentum. Drittens erkennt er, dass emergente Protagonisten sich bei der Suche nach neuen Ausdrucksformen des Glaubens neuen sprachlichen Metaphern zuwenden. Viertens wird für Harrold die Ich-Orientierung und Selbstthematisierung in der emergenten Konversation dem Merkmal „Verlust der Gemeinschaft“ untergeordnet. Auch John Drane stellt fest: „[…] it is often easier to discern what they are against than what they are for […].“305 Auf einen möglichen Zusammenhang zwischen dekonversiven Prozessen und der „Emerging Church“-Konversation wird zudem bei den Soziologen Alan Jamieson, James Bielo und bei den Religionssoziologen Ganiel und Marti hingewiesen.306 Dies geschieht mit dem Hinweis auf „deconversion narratives“, d. h. biographischen religiösen Erzählungen, die vorwiegend Loslösungsmomente
303 Harrold, „Deconversion in the Emerging Church“ (2006), 79. 304 A. a. O. 305 Drane, „Editorial“ (2006), 7. 306 Jamieson, „Post-church groups and their place as emergent forms of church“ (2006). Bielo, „Belief, Deconversion, and Authenticity Among U.S. Emerging Evangelicals“ (2012). Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America“ (2009).
116
2. Forschungsüberblick
und Ablehnung hinsichtlich vormaliger Überzeugungen und Praktiken thematisieren sowie der von John Barbour entwickelten Dekonversionstypologie. James Bielo spricht von dekonversiven Prozessen im Blick auf eine Abwendung vom US-amerikanischen Evangelikalismus – ohne dies jedoch systematisch zu besprechen. Darüber hinaus betont er zwei Kriterien, die für emergente Protagonisten zu einer Auseinandersetzung mit der religiösen Orientierung führen: „[…] here are at least two further elements of deconversion worth sketching: objections to the megachurch model of church growth, and the political prominence of the Christian Right.“307 Besonders für die US-amerikanische „Emerging Church“-Konversation ist die Auseinandersetzung mit einer „right-wing“-Politisierung des christlichen Glaubens ein Thema der Auseinandersetzung.308 Einen weiteren Hinweis liefert Corey Labanow in seiner Untersuchung 2009, nämlich, dass emergente Gemeinschaften sich durch vier Kriterien ausweisen, von denen sich die ersten beiden mit der religiösen Orientierung beschäftigen. Emergente Gemeinschaften weisen sich aus durch eine Kultur, in der Zweifel, Fragen und Fehler offen angesprochen werden können, weisen sich aus als Ort für persönliches Wachstum und Reifung – selbst wenn es wenig Konsens darüber gibt, was „Reifung“ bedeute –, weisen sich aus durch Experimentierfreude, speziell in der Kommunikation mit Christen weltweit. Schließlich weisen sie sich aus durch ein problematisches Verhältnis zum Evangelikalismus und werden dadurch zu einer Brutstätte neuer religiöser Identitäten.309 Ein kleiner Hinweis ist bei Michael Herbst zu finden, der über die Bedeutung der Wahrnehmung dekonversiver Prozesse für praktisch theologisches Handeln spricht. Dabei nimmt er auf die Bielefelder Dekonversionsstudie und Jamiesons „churchless faith“-Bezug und verweist in diesem Zusammenhang kritisch auf „emerging church“, wo „leibliche“ Zugehörigkeit zu einer sich lokal versammelnden Gemeinschaft, zurückhaltend diskutiert wird.310
Jedoch gibt es keine empirischen Untersuchungen zu Dekonversion und „Emerging Church“. So auch Jason Clark: http://www.jasonclark.ws/2010/07/is-de-converion-the-new-conversion/ am 11.02.2011. 307 Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America. Notes on the interaction of Christianities“ (2009), 228. 308 Auf dieses Spezifikum weisen Studebaker und Beach hin und stellen auch für kanadische emergente Gemeinschaften fest: „Absent from emerging churches is a desire to participate in the ‚cul�ture wars‘.“ Die Autoren weiter: „Where some churches recognize the collapse of Christendom and run to defend the remaining ramparts of Christian cultural influence, emerging churches see Christendom as a lost cause.“ Studebaker / Beach, „Emerging Churches in Post-Christian Canada“ (2012), 872. 309 Labanow, Evangelicalism and the Emerging Church (2009). 310 Herbst, „Konversion und Gemeindeaufbau“ (2012), 209–214, 217–218.
2.2 „Emerging Church“
117
Weiter stellen die Religionssoziologen Ganiel und Marti in ihrer Untersuchung fest: „For Emerging Christians, deconstructing their previous, personal faith is central to their religious orientation. ‚Coming out of Christianity‘ stories are continual manifestations of deconstruction […].“311 Ganiel und Marti beschreiben die Dekonversionserfahrungen ihrer Interviewpartner als Fähigkeit, Kritik gegenüber ihren früheren religiösen Erfahrungen zu äußern.312 Die Autoren beschreiben emergente Gemeinschaften mit der Phrase „A Church for recovering Christians“. Ganiel und Marti merken an, dass es in den von ihnen untersuchten emergenten Gemeinschaften erstaunlich viele ehemals katholische Christen gibt und bezeichnen diese mit „recovering Catholics“313. Sie sagen: „A lot of people who are coming here are disillusioned with the church. They have a church background. They feel like they were talked down to in the regular church and not getting enough.“314 Die möglichen Dekonversionserfahrungen vieler emergenter Christen werden anhand der Anzahl zurückgelassener religiöser Gemeinschaften deutlich. Die Aussage eines „Emerging Church“-Protagonisten ist dafür bezeichnend: „I was raised Catholic, and then Baptist, and then Presbyterian. Seems like three different lives.“315 Es zeigt sich, dass viele emergente Christen diverse religiöse Traditionen erlebt haben und mit sich tragen.316 Anhand des forschungsgeschichtlichen Überblicks kann festgestellt werden, dass, obwohl es im anglo-amerikanischen Kontext eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der „Emerging Church“-Konversation gibt, es weder eine umfassende Darstellung insbesondere hinsichtlich aller drei historischen Phasen gibt, noch eine Lesart der Konversation, wie sie durch die Dekonversionsforschung möglich wird, existiert. In dieser Hinsicht wird die gegenwärtige Forschung durch die vorliegende Arbeit ergänzt, da sie mit der Interpretation der Konversation durch durch die Merkmale und Phasen dekonversiver Prozesse eine wesentlich neue Perspektive hinzufügt. Zudem wird der Forschungsgegenstand für die deutschsprachige theologische Landschaft erschlossen.
311 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 59. 312 A. a. O. Die Autoren verweisen zwar auf Bielo (2011) und Harrold (2006), gehen dem aber nicht weiter nach. 313 A. a. O., 65. 314 A. a. O., 40. 315 A. a. O., 41. 316 In der Beschreibung der religiösen Biografie ist kein Anspruch darauf, dass sich die Erfahrungen ergänzen oder dass die unterschiedlichen Traditionen harmonisiert werden.
Abschnitt II Darstellung des Untersuchungsgegenstandes „Emerging Church“-Konversation
„A lot of people who are coming here are disillusioned with the church. They have a church background. They feel like they were talked down to in the regular church and not getting enough.“1 Emergenter Protagonist über die „Emerging Church“-Konversation
1. Begriffe und Konzepte 1.1 „Emerging Church“ als „Konversation“ Der Begriff „Emerging Church“ wird mit vielem in Verbindung gebracht: einer Bewegung, einem Prozess, einer Konversation, einer Haltung, einem heuris tischen System oder einem Prisma2. Alle Bezeichnungen weisen auf etwas Dynamisches, Flexibles, Kreatives aber auch Inhomogenes hin. Besonders die Beifügung „Konversation“ wird von Sprechern und Vertretern in dem „Emerging Church“-Diskurs häufig benutzt und soll auch in dieser Arbeit präferiert werden.3 Der emergente Protagonist Ian Mobsby erklärt, dass damit eine Haltung in der „Emerging Church“ impliziert wird, nämlich „equality, participation, attention to 1 2
3
Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 40. Beispielhaft bei Kimball, Emerging Church (2005), 14. Andrew Jones, ein einflussreicher Blogger in der „Emerging Church“-Konversation meint: „I have tried to define it and have failed miserably. My apologies. It may be of some console for you to know that no one else has succeeded in defining it, and some of us have been at it a long time. Maybe that is okay. People in the emerging church do not really want or need such definition. And some of us are hesitant to give one, because behind the practices and models of emerging church lies a radically different mindset, value system, and worldview.“ Siehe dazu http://tallskinnykiwi.typepad.com/ tallskinnykiwi/2004/02/emerging_church.html am 28.05.2012. Moynagh, Professor am Cliff College Oxford, bezeichnet die „Emerging Church“-Konversa�tion als Prisma im Sinn einer Verstehenshilfe für Kultur und Evangelium. Ein Prisma wird in der Optik angewendet, um Licht zu brechen und optische Effekte zu erzielen. Moynagh, Emergingchurch.intro (2004), 51. Der Soziologe Lloyd Chia bestätigt in seiner Untersuchung die dominante Verwendung des Begriffs „Conversation“ (innerhalb der Bewegung). „The Emerging Church uses the meta�phor ‚conversation‘ to describe itself. In doing so, it seeks to de-emphasize insider / outsider boundaries, and hopes to engage everyone in an inclusive conversation.“ Chia, „Emerging Faith Boundaries“, 61. Lloyd Chia, Soziologe an der Spring Arbor University, diskutiert den Begriff „Konversation“ genauer a. a. O., 189–203.
122
1. Begriffe und Konzepte
listening, respect, inclusion and love“4. Daneben werden eine Verpflichtung und eine Einladung zum Dialog deutlich.5 Ein Dialog, der unterschiedliche Standpunkte wahrnehmen und integrieren will. Jeder (auch im überkonfessionellen Sinn) darf an dem Gespräch über religiöse Orientierung unter postmodernen Bedingungen teilnehmen. Außerdem verweist das Verständnis der „Emerging Church“ als Konversation auf deren dezentrale Natur. Mit dem Selbstverständnis eine Konversation zu sein, wird darauf hingewiesen, dass Protagonisten und Gemeinschaften sich damit beispielsweise inhaltlicher Festlegungen entziehen. Der Begriff deutet auf ein Bestreben hin, zu verhindern, „institutionalisiert“ zu werden. Solange die Konversation fortwährt, können Einzelne und Gemeinschaften ihre Standpunkte, Bezugspunkte und auch Entwicklungen jeweils neu bestimmen. Gladys Ganiel und Gerardo Marti weisen darauf hin, dass auch die sozialen Kristallisationspunkte der „Emerging Church“-Konversation (damit meinen sie Gemeinschaften sowie Netzwerke) somit weiterhin „fleeting and impermanent“6 sind. Beispielhaft kann auf den Namen der emergenten Gemeinschaft „Moot Community“ hingewiesen werden, die den Konversationscharakter in die Bezeichnung ihrer Gemeinschaft aufgenommen haben. „Moot“ bedeutet „diskutieren, argumentieren“. Die Gemeinschaft setzt sich zum Ziel: „[…] to moot upon and listen to the presence and absence of God in our lives […] finding visual and verbal ways of communicating with and encountering our Creator God.“7 Neben dem Begriff „Emerging Church“ kommen in der Konversation in der zweiten und dritten historischen Phase auch andere Begriffe wie „emergent christianity“, „Emerging Christianity“ (Marti / Ganiel, 2014), „emergence Christianity“ (Moynagh 2012, Tickle 2008, 2012), „emerging evangelicals“ (Bielo 2011), „the church: emerging“ (Gay 2010) oder auch „emerging church milieu“ (Moody 2014) vor. Die Mehrheit der Begriffe findet keine maßgebliche Verbreitung. In der dritten historischen Phase kommt es zu einer begrifflichen Neuorientierung. Statt „Emerging Church“ wird vermehrt von „emergent christianity“ und „emergence christianity“ gesprochen.8 Damit wird ausgedrückt, dass sich die Konversation verstärkt mit dem Wandel religiöser Identitätsbildung in der Christenheit beschäftigt. 4 5 6 7 8
Siehe Mobsbys Kommentar unter http://www.ianmobsby.net/mobblog/?p=9 am 30.08.2010. O.V., Art. „Emerging Church“ (2010), 123. So auch: „Emergent“ zu sein heißt, „you ask a lot of questions, remain open-minded, resist resolutions, and encourage dialogue as the golden key of enlightment“. Slusser, Zeal for His House (2011), 176. Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement“ (2014), 29. Lizzy Mowbray, Why the Name Moot?, in http://www.moot.uk.net/docs/mootname.pdf am 31.01.2008. Stellvertretend seien genannt: Tickle, Emergence Christianity (2012). und Roberts, Emerging Prophet (2013), 5–7.
1.2 „Emerging Church“ und die Emergenztheorie
123
Die Begriffe betonen, dass „emerging“ mehr zu fassen versucht, als eine bestimmte Ausdrucksform gemeindlichen Lebens, wie dies zum Beispiel die „Willow Creek Community Church“ als „seeker-sensitive“-Kirche will. Es wird ein Grundanliegen der Konversation deutlich: Die religiöse Orientierung soll sich über etablierte Organisationsformen christlicher Vergemeinschaftung hinaus bewegen, zum Beispiel in die Richtung von fluiden Gemeinschaften, Netzwerke sowie in die virtuelle Welt.
1.2 „Emerging Church“ und die Emergenztheorie Auf einen Zusammenhang zwischen Emergenztheorien und der Konversation wird sowohl in den Quellen der Konversation als auch in Untersuchungen über die „Emerging Church“9 verwiesen. Vertreter und Protagonisten in der „Emerging Church“-Konversation lehnen sich begrifflich und sachlich an verschiedene Ansätze der Emergenztheorie an.10 Im Folgenden sollen diese Bezüge dargestellt werden.11 Conwy Lloyd Morgan entwickelte mit dem Philosophen Samuel A lexander erste Ansätze der Emergenztheorie.12 Sie besagt, dass die Bewusstseinsbildung 9 Siehe dazu Tickle, Emergence Christianity (2012), 31–33. Mobsby, Emerging and Fresh Expressions of Church (2007), 30. Hirsch / Altclass, The Forgotten Ways Handbook (2009), 207. Brewin, The Complex Christ (2004), 52–54, 75–78. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 7. Beispielhaft kann auf McLarens Bezug hingewiesen werden. McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 314. 10 McLaren / Haselmayer u. a., A is for Abductive (2003), 107–109. Oder auch Dan Kimball in Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 83–84. Hirsch / Altclass, The Forgotten Ways Handbook (2009), 207. Oder auch Mobsby, Emerging and Fresh Expressions of Church (2007), 30. Im deutschsprachigen Kontext: Härtner, „Emerging Church“ (2009), 109. 11 Auch in der Anglikanischen Kirche wird der Entstehungsprozess einer „fresh expression“ mit Emergenz in Verbindung gebracht. Croft, Mission-shaped Questions (2010), 98. Michael Herbst schildert: „Wenn eine Gemeinde in einen neuen Kontext einwandert und sich das Evangelium dort inkarniert, entsteht etwas Neues im Zusammenkommen von Evangelium, Kirche und Kultur. Es ist nicht identisch mit dem, was die Kirche am alten Ort war, nicht identisch mit der Kultur, in die die Kirche einwandert. Es entsteht etwas Neues. Etwas das nicht ableitbar ist und auch nicht vorhersagbar war.“ Herbst, Wachsende Kirche (2009), 68. 12 Der erste geschichtliche Beleg der Theorie von emergenten Eigenschaften eines Systems findet sich im Fachbereich der Philosophie bei Aristoteles. In seinem Werk „Metaphysik“ schreibt er: „Das was aus Bestandteilen so zusammengesetzt ist, dass es ein einheitliches Ganzes bildet, ist nicht nach Art eines Haufens, sondern wie eine Silbe, das ist offenbar mehr als bloß die Summe seiner Bestandteile. Eine Silbe ist nicht Summe ihrer Laute: ba ist nicht dasselbe wie b und a, und Fleisch ist nicht dasselbe wie Feuer plus Erde.“ Zitiert in Sedlacek (Hg.), E mergenz
124
1. Begriffe und Konzepte
beim Menschen mehr ist als nur ein biologisch evolutionärer Prozess.13 Das menschliche Bewusstsein entsteht als unvorhersehbares Neues aus dem Zusammenspiel biologischer und chemischer Prozesse. Der Begriff „Emergenz“ bezeichnet in der Naturwissenschaft das spontane Auftauchen und das spontane Entstehen einer neuen Ordnung innerhalb eines bestehenden Systems. So lassen sich die Eigenschaften des Ganzen nicht aus der Summe der Eigenschaften der einzelnen Teile erklären, denn es treten unerwartete, neue Eigenschaften hinzu.14 Niklas Luhmann nahm die Emergenztheorie prominent in seine sozialwissenschaftliche Systemtheorie auf. Für Luhmann ist eine flache Hierarchie im System nötig, um einen Prozess bestmöglichen Zusammenwirkens und Anpassung einzelner Systemkomponenten zu erwirken. Unter Emergenz versteht er die Entstehung neuer Seinsschichten, die in keiner Weise aus Eigenschaften einer darunterliegenden Ebene ableitbar, erklärbar oder voraussagbar sind.15 Zentrales Kriterium eines solchen Prozesses ist für Luhmann die Qualität der Kommunikation unter den beteiligten Elementen.16 Grundsätzlich muss gesagt werden, dass der Begriff „Emergenz“ und die verschiedenen dahinterstehenden Konzepte bisher keineswegs eindeutig definiert noch trennscharf sind.17 Folgende Aspekte fließen in die Konversation über den Begriff „Emerging Church“ ein und werden rezipiert: (A) Kester Brewin, britischer Protagonist in der emergenten Konversation und seit den 1990er-Jahren in den Vorläufern der Konversation aktiv, schlägt fünf Charakteristika emergenter Systeme und damit auch der Konversation vor.18 Brewin konzentriert sich auf emergente Gemeinschaften, die er als emergente
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(2010), 47. Aristoteles formuliert, was in der deutschen Sprache ein geflügeltes Wort wurde: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Das alte deutsche Wort „emergieren“ (lat. „emer�gere“ – „auftauchen“, „erscheinen“) lässt sich aus der aristotelischen Betrachtung herleiten. Siehe dazu a. a. O., 48. Siehe dazu besonders Greve / Schnabel, Emergenz (2011). Vgl. Krohn / Küppers, Emergenz (1992), 398. „Ein soziales System kommt zustande, wann immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkung der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikation.“ Luhmann, Ökologische Kommunikation (2008), 269. Siehe dazu Greve / Schnabel, Emergenz (2011), 9. Argumentationslinien sind: Emergenz wird oft im Sinn des Auftretens von Neuartigem verwendet oder im Sinn von Nichtvorhersehbarem. Weiter bezieht sich der Begriff auf das Verhältnis zweier Ebenen, z. B. Teil-Ganzes-Beziehung. Drittens verweist der Begriff auf eine Irreduzibilität. Brewin, Signs of Emergence (2007), 97–116.
1.2 „Emerging Church“ und die Emergenztheorie
125
Systeme beschreibt und kontrastiert diese mit traditionellen Gemeinden – für ihn negativ assoziierten etablierten Systemen. 1. Der Autor beschreibt die emergente Gemeinschaft als offenes System (im Gegensatz zu geschlossenen Systemen) und erkennt in Veränderungen, die an der Basis beginnen, einen „change from within“. 2. Emergente Gemeinschaften seien adaptierbare Systeme, die sich von lokalen und nicht von globalen Umständen leiten ließen und damit einer Zentralisierung widerstünden. 3. Emergente Gemeinschaften seien lernende und sich selbst erneuernde Systeme. 4. Dabei würde Wissen gemeinschaftlich und nicht hierarchisch oder autoritär verwaltet. Die Suche nach Wahrheit sei ein gemeinsames Bestreben und würde zum gemeinsamen Erleben. 5. Zuletzt beschreibt Brewin, dass in emergenten Gemeinschaften ein Modell der dienenden Leitung vorherrsche, deren Rolle es sei, auf eine Situation zu reagieren und nicht selbst Veränderung zu gestalten. (B) Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Bruce Sanguin meint, dass die „Emerging Church“-Konversation drei emergenztheoretische Dynamiken beinhalte:19 1. Die Dynamik des Neuen: Aus allem, was zusammengetragen wird und sich vermischt, entsteht etwas Neues. Das neue Ganze ist größer als die Summe der einzelnen Teile, es ist komplexer und unterwirft sich einer neuen Ordnung. 2. Die Dynamik der Selbst-Organisation: Das Neue organisiert sich selbst und strebt einer Komplexität zu. Sanguin meint, dass es die Aufgabe gemeindlicher Organisation ist, eine Kultur zu schaffen, die solcher Dynamik Raum gibt. „The challenge is to develop congregational cultures and structures that are congruent with this emergent dynamic.“20 3. Die Dynamik der Transzendenz und Inklusion: Ein Organismus, ein System oder ein Individuum wächst, indem es sich von dem vorherigen System unterscheidet und es gleichzeitig konstituierende Teile des alten inkludiert.21
19 Sanguin, The Emerging Church (2008), 24–25. Es fällt auf, dass Sanguin sich hier nicht explizit auf eine Emergenztheorie bezieht. 20 A. a. O., 28. 21 Sanguin dazu: „But the point is this: everything that has worked in the past is brought forward into the future. […] Nothing – at least nothing that worked – is ever lost. It’s carried forward, transcended and included in the new form.“ A. a. O., 29.
126
1. Begriffe und Konzepte
(C) Innerhalb der „Emerging Church“-Konversation beziehen sich Leonard Sweet, Brian McLaren und Jerry Haselmayer auf die Emergenztheorie von John H. Holland „Emergence: From Chaos to Order“ und zitieren sechs Funktionen zur Selbstorganisation eines Systems, die sie analog für die Konversation verstehen:22 1. „Self-propagation“ – Eine eigenständige Verbreitung und Weiterentwicklung des Systems ist notwendig. 2. „Self-nourishment“ – Das System soll sich selbst ernähren können. 3. „Self-education“ – Damit es zur Selbstorganisation kommen kann, soll sich das System selbst weiterbilden können. 4. „Self-governance“ – Das System soll sich selbst steuern können. 5. „Self-healing“ – Das System soll sich selbst heilen können. 6. „Self-fulfilling“ – Das System soll sich selbst genug sein. Störungen des Systems bedingen demnach, dass es sich neu organisiert und neuartige Verknüpfungen geschlossen werden. Dies setzt aber voraus, dass es einen offenen Informationsfluss gibt. Übertragen auf christliche Gemeinschaften schließen die Autoren: „Emergence has two components: We make it up as we go along. […] The whole is greater than the sum of its parts.“23 Emergenz entsteht damit zufällig, beiläufig und unkontrolliert, sozusagen „im Vorübergehen“. Die Entwicklung digitaler Medien und des Internets werden von den Autoren als Beispiel eines solchen emergenten Impulses in der „Emerging Church“-Konversation herangezogen. Durch die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien, durch Beiträge und Mitwirken entsteht ein unvorhersehbares Neues. (D) Eine ausführliche Beobachtung zum „Emergenz“-Begriff findet sich bei Phyllis Tickle.24 Sie verortet den Begriff und das Konzept der Emergenz als Phänomen in Abgrenzung zum Reduktionismus der Moderne, der im theologischen Denken des US-amerikanischen Evangelikalismus Einzug gehalten hat. Für Tickle führen emergenztheoretische Ansätze zu epistemologischen Neuorientierungen und Adaptionen. Tickle dazu: „Theology influenced by emergence theory rejects reductionism and foundationalism entirely, denouncing the modern project of ‚irreducible‘ truths in favor of […] holism.“25 Außer22 McLaren / Haselmayer u. a., A is for Abductive (2003), 107–109. 23 A. a. O., 108. Sweet, McLaren und Haselmayer übertragen das System von Holland auf die Kirche und meinen, dass die altruistischen Werte wie zum Beispiel Liebe und Tugendhaftigkeit aus dem Chaos der Selbsterhaltung und des Überlebenskampfes entstanden sind. Sie meinen, dass es im Emergenzbegriff angelegt ist, Spannungen wie zum Beispiel zwischen Naturwissenschaft und Glauben, zu überwinden. So ist Emergenz „[…] a faith-friendly view of the world that dethrones reductionist thinkers the modern world adjectivalized: Freudian, Darwinian, Marxist.“ A. a. O., 109. 24 Tickle, The Great Emergence (2008, 2012), 181–183. 25 A. a. O., 183.
1.2 „Emerging Church“ und die Emergenztheorie
127
dem wird ein gemeinschaftliches Element in Emergenz betont und „never is there a hierarchy“. Aktivitäten werden nicht horizontal, sondern in vertikaler Richtung ausgeübt, das heißt, nicht um Hierarchien zufriedenzustellen, sondern um der eigenen Bestimmung zu folgen.26 (E) Auch Alan Hirsch verweist auf die Begriffe „Self-organization and Emergence“ und deutet an, dass in komplexen Systemen Veränderungen emergent geschehen, damit meint er „from the bottom up rather than get planned before hand from the top down“27. Dies wird durch die Interaktion der Agenten im System und ihr Beziehungsgeflecht wahrscheinlich gemacht.28 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Herkunft des Begriffs „Emerging Church“ durchaus sachliche wie auch begriffliche Nähen zu unterschiedlichen Emergenztheorien, besonders im Bereich der Chaostheorie, aufweist. Folgende Aspekte werden in die Konversation eingebracht: Selbstorganisation, Dynamik des Neuen, Gemeinschaften als lokale, lernende, anti-institutionelle, basisorganisierte Systeme sowie die Offenheit von Systemen.29 Im Hinblick auf die Emergenztheorie zeigt sich bei der Verwendung des Begriffs „Emerging Church“ sowohl bei den Untersuchungen über die „Emer�ging Church“ als auch innerhalb der „Emerging Church“- Konversation: Es wird keine Differenzierung unterschiedlicher Ansätze der Emergenztheorien vorgenommen. Einflüsse für das Entstehen des Begriffs in der „Emerging Church“Konversation werden weder klar beschrieben noch differenziert behandelt.30 26 27 28 29
Tickle, Emergence Christianity (2012), 33. Hirsch / Altclass, The Forgotten Ways Handbook (2009), 207. Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 262–264. Es fällt auf, dass in der Begriffsdebatte keine theologischen Argumentationen bemüht werden, beispielsweise pneumatologische Begründungen. 30 Auch Tobias Faix und Daniel Ehniss beschreiben die Herkunft und Wirkungsgeschichte der Emergenztheorie, die jedoch in der Literatur der „Emerging Church“-Primärliteratur in dies� er Form nicht zu finden ist. Siehe dazu Faix / Weißenborn (Hg.), Zeitgeist (2007), 138. Neuere Aufsätze verweisen in der Begriffshistorie über die „Emerging Church“ auf Einflüsse aus naturwissenschaftlicher und sozialwissenschaftlicher Emergenztheorie, leiten dies aber nicht aus der „Emerging Church“-Literatur her. Härtner, „Emerging Church“ (2009), 108–109. Einflüsse und Ansätze von Émile Durkheim, Talcott Parson oder Niklas Luhmann werden in der „Emerging Church“-Konversation weder dargestellt noch nachgewiesen. Charakteristische Be�griffe für die Emergenztheorien, wie Irreduzibilität, Unvorhersagbarkeit oder Kontextbedingung, werden weder in Untersuchungen über die Begriffsverwendung noch innerhalb der „Emerging Church“ genannt, obwohl Bezüge vereinzelt erkennbar sind. Siehe zu Charakteristika und wesent�lichen Kriterien unterschiedlicher Emergenztheorien Sedlacek (Hg.), Emergenz (2010), 55–109. Der Herkunftsstrang des Emergenz-Begriffs wird weder bei Untersuchungen über die „Emer� ging Church“ noch bei prominenten Vertreten der „Emerging Church“-Konversation deutlich. Es finden sich wenige ausgewiesene Hinweise in den „Emerging Church“-Quellen darüber,
128
1. Begriffe und Konzepte
1.3 Begriffsunterscheidungen Da es in der „Emerging Church“-Literatur immer wieder zu begrifflichen Unklarheiten kommt, soll das folgende Kapitel dazu dienen die Begriffe und dahinterstehenden Konzepte „emerging“, „emergent“, „fresh expressions of Church“ (fxC), „missional church“, „alternative worship“ u. a. zu differenzieren und ins Verhältnis zur „Emerging Church“ zu setzen.
1.3.1 „emerging“ und „emergent“ Während die Begriffe „emerging“ und „emergent“ bis zum Beginn der zweiten historischen Phase in der Konversation synonym gebraucht wurden, trat allmählich eine Unterscheidung hervor. Eine frühe Differenzierung legte fest, dass mit dem Begriff „emergent“ ein globales, etabliertes Konversationsnetzwerk (besonders in den USA und Großbritannien) beschrieben wird (hier speziell „Emergent Village“), während mit „emerging“ die auf die Praxis orientierte Konversation geschildert wird.31 Scot McKnight sagte: „Emerging is the wider, informal, global, ecclesial (church-centered) focus of the movement, while Emergent is an official organization in the U. S. and the U. K. Emergent Village, the organization, is directed by Tony Jones […] a world traveler on behalf of all things both Emergent and emerging.“32
welche Ansätze unterschiedlicher emergenztheoretischer Strömungen in welchem Umfang mit welcher Rechtfertigung aufgenommen, welche abgelehnt oder adaptiert wurden. Es scheint, als ob der Begriff ohne weitere Reflexion integriert wurde. 31 Der US-amerikanischen Homepage www.emergentvillage.org (am 16.05.2007) ist folgendes Statement zu entnehmen: „We began meeting because many of us were disillusioned and disenfranchised by the conventional ecclesial institutions of the late 20th century. The more we met, the more we discovered that we held many of the same dreams for our lives, and for how our lives intersected with our growing understandings of the Kingdom of God.“ Dan Kimball sagt: „[…] emergent was first used formally on June 21, 2001 when Tony Jones, Brian McLaren and Doug Pagitt met and had a conference call with some others to come up with a name for a new network they were starting. The reason they were starting ‚Emergent‘ was because Leadership Network had originally formed a theological working group as part of their Young Leaders Network […]. The […] Young Leaders theology group was disbanding and had ended. So, Doug, Tony, Brian and some others reformed it and named it ‚Emergent‘ on June 21, 2001, and got the domain name ‚emergentvillage.org and.com‘ on that day.“ http://www.dankimball.com/vintage_faith/2006/04/origin_of_the_t.html am 11.05.2009. 32 McKnight: „Five Streams of the Emerging Church“, (Christianity Today), http://www.christ� ianitytoday.com/ct/2007/february/11.35.html am 22.05.2010.
1.3 Begriffsunterscheidungen
129
Eine andere Unterscheidung ist etwa bei Kimball zu finden, der „emergent“ als die theologische Auseinandersetzung und „emerging“ als die konkreten Vergemeinschaftungsformen in der Konversation bezeichnet.33 Im Laufe der Konversation zeigen sich weitere Verschiebungen in den Begriffsunterscheidungen. So ist etwa bei Tickle eine inhaltliche Differenzierung zu lesen. Tickle beschreibt beide Begriffe als verschiedene Orientierungen in der Konversation und sagt über „emergent“: „[…] [they] are aggressivly all-inclusive and nonpatriarchal. They are far more interested in the actuality of Scripture than in its historicity or literal inerrancy.“ Für Tickle sind „emerg ing“-Personen noch stärker in ihrer religiösen Heimattradition verbunden und haben zum Ziel: „[…] to infuse Emergence methods and proclivities into worship, but they wish also to retain traditional theology.“34 Es kann festgestellt werden, dass während sich die Begriffsunterschiede zu Beginn der Konversation auf strukturelle Unterschiede konzentrierten – „emergent“ stand für ein überregionales Netzwerk und „emerging“ für die lokale Praxis – im Laufe der Konversation inhaltliche Differenzierungen auftraten. Zunächst wurde, gemäß Kimball, „emergent“ als theologische Reflexion der ekklesiologischen Praxis („emerging“) verstanden. Tickle machte inhaltliche Unterschiede deutlich, indem sie „emerging“ mit einer Form der Kontextualisierung in Verbindung brachte, die für einen Brückenschlag zwischen Bestehendem und Neuem stand. Dagegen wurde „emergent“ für eine theo33 Kimball: „At the same time, the term ‚emerging church‘ was being used to describe the broa�der movement by those involved with Leadership Network and thus, the resulting confusion of terms. […] Through time people started even saying ‚Emergent Church‘ instead of ‚Emerging Church‘ or use both terms as describing the same thing – instead of having Emergents focus more on theology and Emerging Church more on methodology as it started initially.“ http:// www.dankimball.com/vintage_faith/2006/04/origin_of_the_t.html am 11.05.2009. Ray Anderson, Professor am Fuller Theological Seminary, meint dazu: „[…] the term emer�gent refers primarily to theological change and discussion while emerging has more to do with those who are rethinking church and ecclesiology as any missionary would as we enter new cultures. Many emerging churches focus primarily on more ecclesiological rethinking and pragmatic change, whereas emergent is more about rethinking theology as a whole.“ Anderson, An Emergent Theology for Emerging Churches (2006), 12. 34 Tickle, Emergence Christianity (2012), 142. Sie sagt weiter: „As a result, Emerging is usually patriarchal in its worship style and understanding of right order. It condems homosexuality as biblically forbidden, though it increasingly tends to accept homosexuals into fellowship; and it tends to emphasize the experience of worship itself […].“ Tickles Beschreibung kann für die „relevant“-Strömung nachvollzogen werden. Siehe Abschnitt II Kapitel 4 Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation. Eine ähnliche Gewichtung der Begriffe ist bei Mark Driscoll zu finden, der wie Tickle von verschiedenen Orientierungen spricht und dabei den „emergent“-Flügel als „liberal“ und den „emerging“-Flügel als „evangelical“ beschreibt. A. a. O., 143.
130
1. Begriffe und Konzepte
logische Loslösung vormaliger konservativer Überzeugungen verstanden.35 Am Ende der zweiten historischen Phase haben sich solche Zuordnungen verfestigt, sodass beide Begriffe für Strömungen innerhalb der Konversation gebraucht wurden.36 Gleichwohl etwa der prominente Protagonist Doug Pagitt vorschlug, die Begriffe „emergent“, „progressive“ [u. a.] hinter sich zu lassen, da es innerhalb der Konversation und auch in der Fremdwahrnehmung zu Unklarheiten kam,37 wurde „emergent“ vermehrt mit der „revisionist“-Strömung innerhalb der Konversation identifiziert und „emerging“ mit der „relevant“-Strömung. Für den sprachlichen Duktus dieser Arbeit wird der englische Begriff „emergent“ nicht mit der „revisionist“-Strömung gleichgesetzt und „emerging“ damit nicht als Bezeichnung für andere Strömungen innerhalb der Konversation herangezogen, da es in historischer Hinsicht zu einer unübersichtlichen Handhabung des Begriffs „Emerging Church“ für die gesamte Bewegung kommen würde. „Emerging Church“ wird als Überbegriff für die gesamte Konversation verwendet, in der zugegebenermaßen der „emergent“-Flügel besonders gegen Ende der zweiten historischen Phase und in der dritten Phase dominant wird. Zur Darstellung verschiedener Strömungen in der Konversation wird eine in
35 So versteht es auch McKnight 2008, der nicht mehr wie 2006 von drei Strömungen in der Konversation spricht, sondern von zwei. Scot McKnights Vorschlag „emerging church“ für die „relevant“- und „reconstructionist“-Strömung zu verwenden, kann nicht gefolgt werden, da sich Protagonisten wie etwa Hirsch, Frost oder Kimball von der Konversation gelöst haben. McKnights Verweis geht dahingehend, dass diese die „wahre“ „Emerging Church“ sind. Damit rückt der Begriff in die Nähe des „revisionist“-Begriffs. Siehe zur Darstellung Abschnitt II Ka� pitel 4 Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation. 36 Während „emergent“ mit den Protagonisten Brian McLaren, Tony Jones und Doug Pagitt in Verbindung gebracht wird (und damit mit der „revisionist“-Strömung), definiert Scot McKnight für „Emerging“: „The emerging movement, the larger movement of which emergent is a seg� ment, remains more or less connected to the core of evangelicalism. It contains a variety of missional impulses; it remains concerned about the church; and its theological ideas will undoubtedly continue to impact evangelicalism.“ http://www.christianitytoday.com/ct/2008/ september/38.59.html am 10.02.2015. McKnight identifiziert mit „emerging“ eine Mischung von „orthodox, missional, evangeli�cal, church-centered, and social justice leaders and lay folk.“ Scot McKnight dazu: „When I think of this broader emerging movement, I think of Dan Kimball at Vintage Faith Church in Santa Cruz, Dave Dunbar at Biblical Seminary in Hatfield, Pennsylvania, Michael Frost and Alan Hirsch and their book The Shaping of Things to Come, and Donald Miller’s Blue Like Jazz. Some of this was anticipated by Lesslie Newbigin’s many writings and is now sketched in Tom Sine’s The New Conspirators. Furthermore, I see emerging trends in megachurches like Willow Creek Community Church and Saddleback Church.“ http://www.christianitytoday. com/ct/2008/september/38.59.html am 10.02.2015. 37 Pagitt, Church in the Inventive Age (2010).
1.3 Begriffsunterscheidungen
131
der Konversation akzeptierte Kategorisierung („relevant“, „reconstructionist“, „revisionist“) herangezogen.38
1.3.2 „fresh expressions of Church“ (fxC) 1.3.2.1 Darstellung „Fresh expressions of Church“ (fxC) ist eine missionarische Reform- und Erneuerungsbewegung, die zuerst auf die Anglikanische und Methodistische Kirche Großbritanniens zurückgeht.39 Sie hat ihre Wurzeln in Reformprozessen seit den 1950er-Jahren, die ab den 1980er-Jahren einflussreich gesamtkirchlich diskutiert wurden.40 38 So könnte man „emergent“ bei der „revisionists“-Strömung zuordnen und „emerging“ bei der „relevant“- und „reconstructionsts“-Strömung. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 4 Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation. 39 Heute sind auch andere „mainline“-Denominationen wie „The United Reformed Church“, „The Congregational Federation“ und andere para-church Organisationen Teil davon. Es ist kein großer Einfluss auf die US-amerikanische religiöse Landschaft auszumachen. Siehe für die USA http://freshexpressionsus.org am 05.06.2017. Diese Bewegung ist ebenfalls im deutschsprachigen Raum diskutiert. Siehe dazu exemplarisch: Croft, „Gemeindepflanzung in der Anglikanischen Kirche“ (2006). Herbst, „Wir brauchen auch in Deutschland ‚fresh expressions of church‘!“ (2006). Herbst, Kirche mit Mission (2013), 192–198. Hempelmann / Herbst u. a., Gemeinde 2.0 (2011). Herbst, „Fresh Expressions of Church“ (2012). Hempelmann, „Ortsgemeinden und Fresh Expressions im Spannungsfeld“ (2012). Weimer, „On the Move“ (2012). Elhaus / Stoltmann u. a., Kirche2 (2013). Reppenhagen, „Fresh Expressions – Kirchenentwicklung in England“ (2015); Müller, „Volkskirche weit gedacht – Fresh Expressions of Church“ (2016). Pompe / Witt u. a., Fresh X (2016). Müller, Fresh Expressions of Church (2016). Wrogemann, Missionstheologien der Gegenwart (2013), 230– 238. Müller, „Fresh Expressions of Church“ (2014). Darüber hinaus ist auf die deutschsprachige Übersetzung des „Mission-shaped church“-Re�ports hinzuweisen. Herbst, Mission bringt Gemeinde in Form (2006). Weitere deutschsprachige Übersetzungen: Moynagh, Fresh Expressions of Church (2016); Moynagh, Fresh X (2016). 40 Einflüsse auf diese Reformbewegung werden von George Lings dargestellt. Er spricht von sechs Strömungen, die in der britischen Landschaft Wirkung entfalteten: die ökumenische Bewegung seit der Weltmissionskonferenz in Edinburgh 1910, die Kleingruppenbewegung seit den 1950er-Jahren, die Laienleiter-Bewegung seit den 1960er-Jahren, die charismatische Bewegung seit den 1960er-Jahren, die liturgische Bewegung seit den 1960er-Jahren, die Gemeindewachstumsbewegung seit Mitte der 1970er-Jahren. Lings, „A History of Fresh Expres�sions“ (2012). Eine weitere inhaltliche Spur dieser Bewegung findet sich in der britischen Gemeindepflanzungsbewegung, die sich auf die 1994 erschienene Studie „Breaking New Ground“ aus�wirkte. Bereits 1987 wurde das Modell „Gemeinde pflanzen“ von dem damaligen anglikanischen Erzbischof George Carey als kirchenleitende Strategie aufgenommen. In der Dekade der
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1. Begriffe und Konzepte
Für fxC ist die Erkenntnis ausschlaggebend, dass sich zum einen die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen stark verändert haben sowie dass Kirche es versäumt hat, darauf zu reagieren. Zum anderen wird in der Wiederentdeckung einer in Gott begründeten Mission („missio Dei“) kirchliches Handeln neu interpretiert.41 Zum ersten Mal wird der Begriff fxC von Bischof Graham Cray im „Missionshaped Church“-Report der „Church of England and the Methodist Church“ definiert. Cray war Vorsitzender einer anglikanischen und methodistischen Arbeitsgruppe, die sich mit Erneuerungen in der Kirche auseinandersetzte.42 Im Report werden neue, zum Teil missionarische Bewegungen innerhalb der Kirchen wahrgenommen und beschrieben. Christliche Kaffeehaus-Gemeinschaften, Zellgemeinschaften, Gemeindepflanzungsprojekte und andere Initiativen werden unter dem Begriff fxC zusammengefasst.43 Im Mai 2006 wurde die offizielle Definition von Graham Cray, damals Leiter der Arbeitsgruppe „fresh expressions of Church“, vorgestellt: Evangelisation (Ende der 1980er-Jahre ausgerufen), die 1990 bis 2000 durchgeführt wurde, wurde neben Glaubenskursen, wie Alpha-Kursen, die Idee der „Gemeindepflanzung“ in der Anglikanischen Kirche gefördert und durchgeführt. Siehe weiter dazu Hopkins, Church Planting (1988). Der Begriff „Church-planting“ wird 2004 im „Mission-shaped Church“-Report aufgegriffen und erweitert: „Church Planting is the process by which a seed of the life and message of Jesus embodied by a community of Christians is immersed for mission reasons in a particular culture of geographic context. The intended consequence is that it roots there, coming to life as a new indigenous body of Christian disciples well suited to continue in mission.“ Mission and Public Affairs Council (Hg.), Mission-shaped Church (2004), 32. „Gemeindepflanzung“ meint entweder die Gründung einer Tochtergemeinde durch entsandte Personen oder das Entstehen gemeindlichen Lebens in den Räumen einer bestehenden Gemeinde oder aber eine Mischung. Siehe dazu Herbst, „Eine Perspektive der Gemeindentwicklung in nach-volkskirchlicher Zeit“ (2006), 56–58. Für die Jahre 1980–2004 wird die Zahl der Gemeindepflanzungen mit 370 angegeben. Siehe dazu a. a. O., 66. Eine andere Perspektive des Gemeindepflanzungsbegriffs ist zuerst im „Mission-shaped Church“-Report sowie in weiterer Folge im Report „The Day of Small Things“ festzustellen. Die Autoren sprechen in Bezugnahme auf den Report „Breaking New Ground“ von vier Modellen der Gemeindepflanzung: „runner“, „graft“, „transplant“, „seed“. Während in dem 1994 erschienen Report diese vier Bezeichnungen hinsichtlich der Größe des Gemeindegründungsteams verwendet wurden „runner“ (3–20+), „graft“, „trans� plant“ (2–50), „seed“ (1–2), werden sie zu Modellen weiterentwickelt. Lings, The Day of Small Things (2016), 65. 41 Während in der „Emerging Church“-Konversation die Diskussion einer vergangenen Mo�derne und einer gegenwärtigen Postmoderne geführt wird, wird in der fxC-Bewegung die Wahrnehmung geteilt, dass die Kirche in Moderne und Postmoderne gleichzeitig lebe. John Finney verwendet dafür das Bild eines Vogels, der schräg fliegt. Finney, Wie Gemeinde über sich hinauswächst (2007), 123. 42 http://www.chpublishing.co.uk/uploads/documents/0715140132.pdf am 17.09.2014. 43 Steven Croft erläutert, dass bewusst ein neuer, nicht vorbelasteter Begriff ausgewählt wurde, um sich von anderen Bewegungen abzugrenzen. Siehe dazu Mission and Public Affairs Council (Hg.), Mission-shaped Church (2004), 43–44.
1.3 Begriffsunterscheidungen
133
A fresh expression is a form of church for our changing culture established primarily for the benefit of people who are not yet members of any church. It will come into being through principles of listening, service, incarnational mission and making disciples. It will have the potential to become a mature expression of church shaped by the gospel and the enduring marks of the church and for its cultural context.44
Der Ausdruck fxC entstand für nicht-parochial strukturierte Gruppen und Gemeinschaften in der Church of England und darüber hinaus.45 In weiterer Folge sollte zwischen neuen missionarischen Initiativen und traditionellen, vorfindlichen Strukturen vermittelt werden. Der damalige anglikanische Erzbischof Rowan Williams benutzte dafür den Begriff „mixed economy church“ – der Begriff sollte eine „Brückenfunktion“ übernehmen – und machte damit die kirchenleitende Strategie deutlich. Der Begriff steht für ein Nebeneinander („die Vision einer doppelten Gestalt“46) von etablierten und neuen Formen kirchlichen Lebens. Die Bewegung ist darum bemüht, die Initiativen nicht als Brücken in etablierte Gemeinden zu verstehen, sondern gesteht ihnen zu, selbst Kirche zu sein.47 Wesentlich sind vier Merkmale, die zusätzlich zur Definiton erarbeitet wurden. Eine fxC ist demnach „missional“ („serving people outside church“), „contextual“ („listening to people and entering their culture“), „formational“ („making discipleship a priority“), „ecclesial“ („forming church“).48 44 Vgl. http://www.freshexpressions.org.uk/guide/about/whatis am 10.10.2015. Siehe zur deutschsprachigen Definition: http://freshexpressions.de/ueber-fresh-x / was-isteine-fresh-x/ am 17.09.2014. 2004 war die Beschreibung einer fxC noch unschärfer. Damals hieß es: „A fresh expression is a church plant or a new congregation. It is not a new way to reach people and add them to an existing congregation. It is not an old outreach with a new name (‚rebranded‘ or ‚freshened up‘). Nor is it a half-way house, a bridge project, which people belong to for a while, on their way into Christian faith, before crossing over to ‚proper‘ church. This is proper church!“ Diese Defintion stammt von Graham Cray. Siehe https://www.freshexpressions.org.uk/about/introduction am 14.10.2013. 45 Es gibt etwa 20 verschiedene Typen von fxC. Die vier häufigsten sind: „messy church“, „café church“, „child-focused church“ und „church plants“. Lings, The Day of Small Things (2016), 11. 46 Vgl. http://freshexpressions.de/ueber-fresh-x/ am 17.09.2014. 47 Steven Croft: „Eine neue Ausdrucksform ist eine Art von Kirche, die sich an unserer sich wandelnden Kultur orientiert und sich in erster Linie zugunsten derer entwickelt, die bis jetzt noch in keiner Kirche Mitglieder sind. Sie wird lebendig durch die Prinzipien des Zuhörens, des Dienstes, der inkarnatorischen Mission und dem Berufen von Jüngern. Sie hat das Potential, eine reife Ausdrucksform von Kirche zu werden in ihrem eigenen kulturellen Kontext, indem sie geprägt ist durch das Evangelium und die dauerhaften Wesensmerkmale der Kirche.“ http://freshexpressions.de/ueber-fresh-x/was-ist-eine-fresh-x/ am 17.09.2014. Oder auch Härtner, „Neue Ausdrucksformen von Gemeinde“ (2011), 79. 48 Vgl. Moynagh, Church for Every Context (2012), xiv. Zur deutschsprachigen Übersetzung der Begriffe: „missional“ („missional“), „contextual“ („kontextuell“), „formational“ („lebens� verändernd“), „ecclesial“ („ekklesial“). Für weitere inhaltliche Ausführungen siehe: Moynagh, Church for Life (2017). Moynagh, Being Church, Doing Life (2014).
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1. Begriffe und Konzepte
Dabei zeichnen sich fxC dahingehend aus, dass sie vornehmlich eine GehStruktur vertreten. Das heißt, dass sich kleine christliche Gemeinschaften auf die Lebenswelten verschiedener Zielgruppen einlassen.49 Moynagh beschreibt diesen Zugang als „incarnational“.50 Leitende Paradigmen sind die Kontextualität, Partikularität und Pluralität der fxC.51 Im „Mission-shaped Church“-Report wird das inkarnatorische Prinzip mit dem kreuzestheologischen Prinzip in enger Verbindung gesehen.52 Michael Moynagh beschreibt den Entstehungsprozess einer fxC mit sechs Schritten, genannt „serving first journey“: „listening“, „loving and serving“, „building community“, „exploring discipleship“, „church taking shape“, „do it again“.53 Diese Schritte beschreiben den Weg der Gründung einer fxC und sind trotz der Intention einer gewissen Reihenfolge so zu verstehen, dasss sie wiederholt und zirkulär angewendet werden können. Dabei entstehen kleine christliche Gemeinschaften (im Schnitt 35–55 Personen), die ausgehend von einem Gründungsteam (2–12 Personen) durchschnittlich 40 % Christen, 27 % „dechurched“-Personen und 33 % „non-churched“ Personen erreichen.54 Die Auswirkungen dieser Bewegung innerhalb der „Church of England“ und der „Methodist Church“ sind weitreichend, wie in den Studien „From Anecdote to Evidence“ und „The Day of Small Things“ vom „Church Army Research Center“ herausgestellt wird.55 So wurden Tausende von neuen christlichen Gemeinschaften gegründet, vielerorts parochiales Leben erneuert und Kirchenferne für den christlichen Glauben und Gemeinde begeistert.56 49 In der Anglikanischen und der Methodistischen Kirche haben sich hierzu auch zusätzliche Ausbildungsformate für Pionierpersönlichkeiten entwickelt. In der „Church of England“ gibt es neben dem MSM-Kurs („Mission-shaped Ministry“-Kurs) für Ehrenamtliche ver�schiedene Zweige eines „Pioneer Ministry“. In der methodistischen Kirche wird eine äh� nliche Ausbildung angeboten „VentureFX“. https://www.cofepioneer.org am 12.09.2016. http://www.missionshapedministry.org am 12.09.2016, http://www.venturefx.org.uk am 12.09.2016. Vgl. http://www.freshexpressions.org.uk/sites/default/files/Encouraging%20lay%20pioneer%20 ministry.pdf am 19.09.2014. 50 Moynagh, Church for Every Context (2012), xvii. Sabrina Müller sagt: „Was meines Erachtens von den fxC überzeugend gelebt und dargestellt wird, ist der Paradigmenwechsel von einer Komm-Struktur hin zu einem liquideren Modell, bei dem sich Geh- und Komm-Struktur situativ abwechseln oder gar vermischen.“ Müller, Fresh Expressions of Church (2016), 300. 51 Siehe dazu mehr in Müller, „Fresh Expressions of Church“ (2014), 455. 52 Herbst, Mission bringt Gemeinde in Form (2006), 165–168. 53 Moynagh, Church for Every Context (2012), 197–221. 54 Lings, The Day of Small Things (2016), 10–11. 55 The Church Growth Commissioners for England, From Anecdote to Evidence (2014). Lings, The Day of Small Things (2016), 10. 56 Zur Kritik an dieser Bewegung siehe exemplarisch Hull, Mission Shaped Church (2006).
1.3 Begriffsunterscheidungen
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1.3.2.2 Nähe und Differenz zur „Emerging Church“ Zunächst kann festgestellt werden, dass im britischen Kontext fxC und „Emerging Church“ zu Beginn der Konversation sowie bis zum Ende der zweiten historischen Phase häufig synonym verwendet und nicht voneinander unterschieden wurden.57 Es gibt besonders in den Anfangsjahren der fxC-Bewegung Schnittmengen, die es zu beachten gilt.58 Zum einen wird der sich wandelnde Kontext als Ausgangspunkt für die Notwendigkeit einer sich wandelnden Kirche gesehen.59 Sowohl in der fxC-Bewegung als auch in der „Emerging Church“Konversation wird dies diskutiert, beziehungsweise beeinflussen sich die Diskurse gegenseitig.60
57 Für die US-amerikanische Diskussion ist dies nicht feststellbar, da fxC erst in der dritten historischen Phase in der US-amerikanische religiöse Landschaft auftauchte. Neben Moynagh auch bei Stuart Murray. Siehe dazu Moynagh, Church for Every Context (2012), x–xv. Murray, Post-Christendom (2004), 253–255. Gray-Reeves und Perham verwenden den Begriff „emerging“ und beschreiben damit aber die sakramentale Strömung innerhalb der „Fresh X“ innerhalb der „Church of England“. GrayReeves / Perham, The Hospitality of God (2011). Auch im deutschsprachigen Raum gibt es dazu verwirrende Angaben. David Jäggi etwa setzt beide Bewegungen gleich: „[…] dass eine Fresh-X den Merkmalen einer EmC entspricht. […] Wer sich also am Dialog um Fresh-X beteiligt, beteiligt sich unmittelbar auch am emergenten Dialog, selbst wenn er sich dessen nicht bewusst ist.“ Jäggi, Fresh Expressions of Church (2014), 39. Auch Achim Härtner verwendet „Emerging Church“ als Überbegriff und fxC als Unterkate� gorie. Härtner, „Neue Ausdrucksformen von Gemeinde“ (2011), 40. Im englischen Kontext wird es beispielsweise gleichgesetzt von: Moynagh, Emergingchurch.intro (2004), 9–36. 58 Es fällt auf, dass das deutschsprachige fxC-Netzwerk, genannt Fresh X-Netzwerk (2012), im Vergleich zur deutschsprachigen emergenten Plattform „Emergent Deutschland“ (2006) spät etabliert wurde. Zur Geschichte des deutschsprachigen Fresh X-Netzwerks siehe Witt, „Das deutschsprachige Fresh X-Netzwerk“ (2016). Hempelmann / Herbst u. a., Gemeinde 2.0 (2011). Elhaus / Stoltmann u. a., Kirche2 (2013). Dabei zeigt sich, dass im deutschsprachigen Kontext Protagonisten aus der emergenten Szene vereinzelt in dem Fresh X-Netzwerk vorkommen. Dies betrifft etwa Protagonisten wie Tobias Faix oder Sandra Bils. 59 An dieser Stelle soll auf einen Unterschied in der Wahrnehmung der gesellschaftlichen Umbrüche hingewiesen werden. In der „Emerging Church“-Konversation werden vorwiegend epis� temologische Diskussionen geführt, die für das Auftauchen neuer sozialer Formen christlicher Gemeinschaft genannt werden, zum Beispiel der Zusammenbruch einer allgemeingültigen Metanarrative oder der Untergang der Moderne. In der „Fresh X“ werden Begriffe wie Moderne und Postmoderne zurückhaltend eingebracht. Der „Mission-shaped Church“-Report spricht dagegen von gesellschaftlichen und demografischen Umwälzungen, die auf die Kirche eine Auswirkung haben müssen. Im „Mission-shaped Church“-Report wird im ersten Kapitel der „changing context“ geschildert. Dazu gehören: Mobilität, Arbeitslosigkeit, Wohnungswesen, Familienkonstellationen, Freizeit, digitale Medien, fragmentierte Gesellschaft und anderes. Mission and Public Affairs Council (Hg.), Mission-shaped Church (2004), 1–15. 60 So hatte zum Beispiel der „Mission-shaped church“-Report Einfluss auf die Konversation. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 21–22.
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1. Begriffe und Konzepte
Zum anderen bemühen sich beide um kontextsensible Ausdrucksformen des Glaubens. Eddi Gibbs formuliert es so: „They both call for a radical re-envisioning of the church in response to the deep-level comprehensive, cultural transitions […].“61 Ihrer beider Anliegen sind liturgische Innovation, kontextrelevante Gottesdienste und sowohl aus als auch in dem jeweiligen Kontext geformte christliche Gemeinschaft.62 Diese Schnittmengen lassen sich vorwiegend zwischen fxC und der gemäßigten und historisch frühen „relevant“- und „reconstructionist“-Strömung innerhalb der „Emerging Church“-Konversation ausmachen. Es zeigen sich aber auch strukturelle und organisatorische Ähnlichkeiten: flache Hierarchien, charismatische Pionierpersönlichkeiten, kleine fluide Gemeinschaften, erlebnisorientierte Zugänge zu Spiritualität – um nur einige wenige zu nennen. Weiter kann festgestellt werden, dass es im britischen Kontext eine wachsende Diskussion darüber gab, wie sich die „Emerging Church“-Konversation zur fxC verhält.63 Es war zu beobachten, dass einzelne emergente Protagonisten, wie Dave Tomlinson oder Jonny Baker, in die Anglikanische Kirche eintraten. Zudem wechselten emergente Gemeinschaften, wie z. B. „Grace“ oder „Moot Community“ in die fxC-Bewegung. Andere wiederum distanzierten sich von der fxC-Bewegung. Dabei wurde die Kommerzialisierung des fxC-Begriffs sowie eine Einflussnahme der verfassten Kirchen auf emergente „grassroot“-
61 Gibbs, ChurchMorph (2009), 41. 62 Zudem sehen beide Bewegungen die „alternative worship“-Bewegung als Vorreiter für ihre Anliegen. Bei fxC sind außerdem die Einflüsse der ökumenischen Kommunität „Iona Com�munity“ (Schottland) prägend. Zum Einfluss der „Iona Community“ siehe a. a. O., 142. 63 Ian Mobsby, Priester der Anglikanischen Gemeinde St. Mary Aldermary in London und Protagonist der emergenten „Moot Community“, untersuchte 2007 „Emerging Church“-Gemein�schaften in Großbritannien und den USA und fragte danach, ob sie als fxC unter dem Dach der Anglikanischen Kirche Platz hätten. Mobsby, Emerging and Fresh Expressions of Church (2007), 68–86. Mobsby bezieht sich dabei unter anderem auf den 2004 erschienen „Toyne“Report, der Kriterien dafür aufstellt, was aus juristischer Perspektive „anglikanisch“ ist und was nicht. Der „Toyne“-Report „A Measure for Measures“ erläutert sechs kirchenrechtliche Vorgaben und Forderungen an die fxC. So wird zum Beispiel in dem dritten Punkt deutlich, dass es zu einer Anpassung an die „Church of England“ kommen soll: „They should not un� dermine the virtues of the parochial system and should not threaten the different integrities of the Church of England. […]“. A. a. O., 9. Trotz kirchenrechtlicher und theologischer Begriffsbestimmungen sind diese juristischen Fragestellungen in den letzten Jahren verstummt. Neben juristischen Kriterien werden geschichtliche und theologische Kriterien erläutert. Er kommt zu dem Schluss, dass es notwendig ist „Emerging church“-Gemeinschaften fxC in die Anglikanische Kirche aufzunehmen, da: „Fresh expressions are able to respond to the opportunities and challenges of this form of contextual mission […].“ A. a. O., 90.
1.3 Begriffsunterscheidungen
137
Gemeinschaften kritisiert.64 In seinem Beitrag „Biting the hand that feeds: an apology for encouraging tension between the established church and emerging collectives“65 kritisiert Rollins, dass verfasste Kirchen wie die „Church of England“ einem echten Wandel dadurch entgehen, dass sie kritische Strömungen, wie fxC in ihre Organisation integrieren. Ihnen wird ein Platz zugewiesen und damit wird jegliche Spannung und Störung, die eine Veränderung bringen soll, aufgelöst.66 Rollins glaubt, dass fxC damit die Kraft verloren haben, sich gegen die verfassten Strukturen zu wenden und diese kritisch zu hinterfragen. Rollins’ Anti-Institutionalismus, der für die Konversation kennzeichnend ist, ist nicht zu verkennen. Rollins definiert damit die Aufgabe der „Emerging Church“-Gemeinschaften, die außerhalb der anglikanischen und methodistischen Kirchenstruktur geblieben sind, als: These groups are not seeking to merely take the message of the church and present it in a culturally sensitive manner to those outside the institution, or attempting to speak a new message, rather they are showing how the radical message of Christianity s peaks in a revolutionary way both to those outside the church and to the church itself.67
Rollins macht, wenigstens für einen Teil der Konversation, deutlich, dass der christliche Glaube sich außerhalb verfasster Strukturen anti-institutionell organisieren und damit außerhalb des organisierten Segments auf der religiösen Landkarte ereignen soll. Von Seiten der fxC-Bewegung wurden vom „Church Army’s Research Center“ Kriterien (später „Indikatoren“ genannt) festgelegt, um Klarheit darüber zu erlangen, unter welchen Umständen beispielsweise eine Initiative, ein Projekt als „fresh expression“ und anglikanisch bezeichnet werden kann.68 Neben den vier Merkmalen einer fxC sind es zehn Indikatoren, die über organisatorische und kirchliche Verfasstheit (Treffen mindestens einmal pro Monat, Eigenständigkeit), inhaltliche Orientierung (wollen Menschen erreichen, die bis jetzt noch
64 Neben Kester Brewin, Theologe und vormaliger Leiter der emergenten Gemeinschaft „Vaux“ ist Peter Rollins, Sprecher der „Ikon“-Gemeinschaft in Belfast, eine besonders kritische Stim� me. 65 Rollins, „Biting the Hand that Feeds“ (2008). 66 Rollins kritisiert, dass fxC ihre kirchenkritische Position aufgegeben haben und damit zu einem Instrument institutionalisierter Kirche verkommen. „With the embrace of a mixed economy, new religious movements on the finge of church life are integrated into the institutional edifice with the idea of providing them with space while, at the same time, reducing any possible antagonism between them and other parts of the body.“ A. a. O., 75. 67 A. a. O., 77. 68 Dalpra / Vivian, Who’s There (2016), 64.
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1. Begriffe und Konzepte
nicht kirchlich erreicht sind), gesunde Entwicklung und die Verbindlichkeit zur Anglikanischen Kirche Auskunft geben.69 Zusammenfassend lässt sich bereits ein bedeutender Unterschied zwischen der Konversation und der fxC-Bewegung skizzieren. Während „fresh expressions“ als gleichwertige Ergänzung zum parochialen Modell (und anderen gemeindlichen Formen) in der Anglikanischen Kirche gewollt sowie gewünscht sind und sie damit die kirchliche Landschaft bereichern sollen, geht es in der „Emerging Church“-Konversation vorwiegend um einen gemeinschaftlich gelebten Glauben abseits kirchlicher institutioneller Visionen, Ziele und Formen.70 Für fxC ist das Ziel klar formuliert: Menschen sollen zum Glauben und in die Kirche geführt werden. FxC dient damit dem Wachstum der Kirchen.71 Dabei findet eine Ein- und Unterordnung in die Handlungslogiken der verschiedenen verfassten Kirchen statt.72 In dieser Hinsicht lässt sich ein zweiter Unterschied markieren. Obwohl in der „Emerging Church“-Konversation mit dem Begriff „missional“ angedeutet wird, sich ausgehend von einem „missio Dei“-Verständnis Menschen mit der christlichen Botschaft zuzuwenden, ist dies lediglich für die „relevant“ und „reconstructionist“-Strömung zu sagen. Dabei ist ein kreuzestheologisches Verständnis von Christsein, wie es für die fxC-Bewegung auszumachen ist, für die Konversation höchstens für die „relevant“-Strömung zu erkennen. Für Vertreter der „revisionist“-Strömung ist ein Missionsverständnis, das sich um die Verbreitung des christlichen Glaubens bemüht, nicht auszumachen.73 Die Differenz zwischen den beiden Bewegungen wird ab Ende der zweiten histori69 In Punkt sechs wird genannt: „Is it Anglican or an Ecumenical project which includes an An�glican partner? ‚Anglican‘ here means the Bishop welcomes it as part of the diocesan family, not whether it only uses centrally authorised worship texts, or has a legal territory (parish).“ A. a. O. 70 Stockdale stimmt dem zu, wenn er sagt: „I do not recognize a one-to-one correlation between ‚fresh expressions of church‘ and ‚emerging church‘ – most notably because of the institutional origins and hierarchical modus operandi of the former.“ Stockdale, „Ecclesiological Contri�butions“, 100. 71 In der 2014 herausgegebenen Studie über Wachstumsorte innerhalb der „Church of England“, die den bezeichnenden Titel „From Anecdote to Evidence“ hat, zeigt sich, dass neben fxC drei weitere Wachstumsorte in der Anglikanischen Kirche ausgemacht wurden: lebendige Parochien, Kathedralengemeinden und Gemeindepflanzungen. Siehe dazu The Church Growth Commissioners for England, From Anecdote to Evidence (2014), 14–24. 72 Damit ist etwa gemeint, wie sich fxC mithilfe der Bischöfe (z. B. anhand eines „bishop mission orders“) innerhalb parochialer Bedingungen einordnen und über parochiale Bedingungen hinwegsetzen. 73 Darauf verweist auch: „Practically there are differences. Emerging church in North America tends to be about doing church differently for Christians, though there are exceptions. Fresh expressions, as we have defined them, have a focus on those who don’t attend church.“ https://www.freshexpressions.org.uk/ask/emerging am 12.12.2016.
1.3 Begriffsunterscheidungen
139
schen Phase umso deutlicher, wenn sich „relevants“ und „reconstructionists“ aus der Konversation zurückziehen. Zuletzt soll auf eine dritte Differenz hingewiesen werden, die sich aus den verschiedenen Missionsverständnissen ableitet, nämlich die Zielsetzungen der Bewegungen. Während fxC deutlich machen, dass sie kontextuelle christliche Gemeinschaften für Kirchen- und Glaubensferne ermöglichen wollen (und dem auch empirisch nachgewiesen nachkommen), wird für die Konversation deutlich, dass vornehmlich Menschen mit komplexen religiösen Biografien an den Diskursen und Gemeinschaften teilnehmen.74
1.3.3 „Alternative worship“ 1.3.3.1 Darstellung Die „alternative worship“-Bewegung ist für die liturgischen Reform- und Erneuerungsbestrebungen innerhalb der Anglikanischen Kirche im britischen Kontext relevant geworden. In der „Church of England“ entwickelten sich seit Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts „alternative worship“-Gemeinschaften (oder auch: „alt.worship“) heraus, die innerhalb bestehender Parochialgemeinden eine zusätzliche alternative gottesdienstliche Ausdrucksform anboten.75 „Alternative worship“ bedeutet übersetzt „alternative(r) Gottes-
Zur Darstellung der unterschiedlichen Missionsverständnisse in der Konversation siehe Abschnitt II Kapitel 10.3 Missionstheologische Ansätze. 74 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 5 Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Pro tagonisten. 75 Baker / Gay u. a., Alternative Worship (2004), vii. In der Anglikanischen Kirche wurde die „alternative worship“-Bewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren stark durch John Wimber, den Gründer der Vineyard Gemeindebewegung in den USA, beeinflusst und geriet dadurch aber auch ins Abseits. Baker et al. sagen, dass eine Mehrheit der Teilnehmenden aus folgender Kohorte kommen: „the mainstream of charisma�tic-evangelical Christianity“. A. a. O., ix. Gemäß Matthew Guest und Steve Taylor war es die Desillusionierung mit dem Evangelikalismus, die die Partizipienten auf die „alternative worship“-Bewegung aufmerksam machte. Sie verstanden die neue Bewegung als: „a post-modern response to the shortcomings of main�stream evangelicalism“. Guest / Taylor, „The Post-Evangelical Emerging Church“ (2006), 50. Für eine genauere Beschreibung der „alternative worship“ Bewegung siehe Robert, Alternative Worship in the Church of England (1999). Atkinson, „Alternative Worship“ (2006). Spinks, The Worship Mall (2011), 91–124.
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1. Begriffe und Konzepte
dienst / Lobpreis / Anbetung sowie religiöse Ausdrucksform“.76 Das Bedürfnis war es demnach, Gottesdienst, Anbetung und religiöses Erleben in verschiedenen Formen und Formaten auszudrücken.77
1.3.3.2 Nähe und Differenz zur „Emerging Church“ Spinks sieht in den Versuchen der „alternative worship“-Bewegung Parallelen zu „Emerging Church“. Er sagt über die Ähnlichkeiten: „Were these [damit sind die Ausdrucksformen der 1970er-Jahre gemeint] postmodern avant-la-lettre? Or is it the case that much of what passes for postmodern worship is in fact ‚retro‘ – worship of the 1970s, but remixed and reframed with current video, computer and music synthesizer technology?“78 Gemeinsamkeiten zwischen „alternative worship“ und spirituellen Ausdrucksformen, die in der „Emerging Church“-Konversation vorkommen, sind: partizipatorische Gemeinschaften, die „Verwendung“ populärer Kultur in der Ausübung unterschiedlicher Frömmigkeitsstile, die Besinnung auf alte liturgische Formen und deren Kombination mit digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien, eine Betonung visueller und erfahrungszentrierter Ausdrucksformen im Gottesdienst und die Überzeugung, in der Postmoderne zu leben und diese für ihre religiöse Praxis in Gebrauch zu nehmen.79 Während viele Formate spiritueller Ausdrucksformen zwischen „alternative worship“ und Formaten in der „Emerging Church“-Konversation vergleichbar sind,80 sind folgende Unterschiede auszumachen: • Die „alternative worship“-Bewegung beschäftigt sich im Gegensatz zur „Emerging Church“-Konversation ausschließlich mit liturgischer Erneue-
76 Bryan Spinks, Experte anglikanischer Liturgie, schildert die Anfänge: „I recall attending ‚ex�perimental worship‘ in a London church in late 1975, which included contemporary music, banners, candles and balloons.“ Spinks, The Worship Mall (2011), 62. 77 Steve Taylor argumentiert, dass diese neuen Gemeinschaften Folgendes vereinte: „[…] seemed to explore more participatory, creative and culturally connected approaches to faith and worship […].“ Taylor, „New Way of Being Church“ (Dissertation, University of Otago, 2004), 350. 78 Spinks, The Worship Mall (2011), 62. 79 Für eine ausführliche Darstellung der Gemeinsamkeiten siehe Collins: „A Definition of Alter�native Worship“, http://www.alternativeworship.org/definitions_definition.html am 21.05.2012. 80 In den USA erlangte der Begriff keine Verbreitung. Collins: „Alternative Worship & Emerging Church“, http://www.alternativeworship.org/definitions_awec.html am 21.05.2012. Eine Vielzahl von gottesdienstlichen Ausdrucksformen der „alternative worship“-Bewegung finden sich bei Dan Kimballs Beschreibungen über Gottesdienste in „Emerging Church“-Ge�meinschaften wieder. Siehe dazu Kimball, Emerging Worship (2004), 209–224.
1.3 Begriffsunterscheidungen
141
rung.81 In der Konversation kommen hingegen eine Vielzahl von Themencluster vor, die, ausgehend von einer Neubestimmung religiöser Identität, einen gelebten Glauben in einer neuen Sozialform vorschlagen.82 • Obwohl unbestritten ist, dass diese Gemeinschaften ein Nährboden für die zeitlich später folgende „Emerging Church“-Konversation waren (wie dies etwa bei Protagonisten wie Jonny Baker oder Andrew Jones sichtbar ist)83, ist bei „alternative worship“ eine starke Innenorientierung festzustellen. Gibbs und Bolger stellen dar: Alternative worship groups are highly participatory communities that celebrate Eucharist; utilize popular culture in worship; have no identified or paid leadership; and have a strong working understanding of postmodernity, an appreciation of the visual arts, and nonlinear worship. Their primary missiological contribution is their method of making worship for themselves in ways that are native to their own culture.84
Die in der „alternative worship“ festgestellte Innenorientierung wird in der Konversation als Außenorientierung, etwa sozial-diakonisches, gesellschaftliches, politisches oder missionarisches Engagement sichtbar.
1.3.4 „Missional church“ 1.3.4.1 Darstellung Der Begriff und das Konzept „missional church“ („missionarische Kirche“) ist eng mit den Anliegen des US-amerikanischen, protestantischen Netzwerks „The Gospel and Our Culture Network“ (GOCN) und den Hauptprotagonisten Craig van Gelder, Darrell Guder, George Hunsberger und Alan Roxburgh ver-
81 Das führt Collins zur Feststellung: „however ‚emerging church‘ label identified by some only with ‚low church‘ ‚postmodern evangelical tendency‘“, „consequently ‚alternative worship‘ la�bel reclaimed by some to indicate liturgical ‚high church‘ background“. Collins, A Definition of Alternative Worship. 82 Collins betont, dass es „alternative worship“-Protagonisten nicht um gemeindliche Formen oder Vergemeinschaftungsformen gehe. A. a. O. 83 Besonders durch Andrew Jones, prominenter Blogger in der „Emerging Church“-Szene, kommt es seit einigen Jahren zu einer Renaissance der Bewegung. Siehe dazu http://www.theundergroundrailroad.org/ministryhandbook/typesofministry/alternative-worship/ am 16.10.2014. 84 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 39.
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1. Begriffe und Konzepte
bunden.85 Das Netzwerk sowie der Begriff beziehen sich auf das Vermächtnis von L esslie Newbigin, anglikanischer Bischof und Missionar, der diesen Begriff selbst aber nicht verwendete. Lesslie Newbigin hatte in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts die Frage aufgeworfen, was die enge Verbindung der christlichen Kirchen Europas mit der westlichen Kultur für eine neue missionarische Ausrichtung der Kirchen bedeute.86 Für Newbigin war die Kirche ein Zeichen, ein Vorgeschmack und ein Instrument des „Reiches Gottes“ in dieser Welt.87 Van Gelder und Zscheile schildern, dass es in der nordamerikanischen „missional conversation“ darum gehe, das Verhältnis von Mission, Kirche und Kultur neu zu bestimmen. Mit der Einführung des neuen Begriffs „missional church“ wird Mission trinitarisch und im Anschluss an die „missio Dei“ verortet, und nicht ekklesiologisch als Aufgabe der Kirche.88 Inwieweit nun Kirche in der Kultur eingebettet und damit Teil der Kultur ist oder sich als Kontrastgesellschaft verstehen soll, wird seit den 1990er-Jahren in der US-amerikanischen Missionstheologie verhandelt.89 Die Protagonisten der „missional church“ haben das Anliegen eine 85 „Missional church“ kann übersetzt werden mit „missionarische Kirche / Gemeinde“, aber auch mit „missionale Kirche / Gemeinde“. Der englische Begriff „missional“ wird erstmals im neunzehnten Jahrhundert in der kolonialen, missiologischen Debatte verwendet, wird aber erst in den letzten Jahrzehnten im Kontext der missionarischen Bemühungen in Nordamerika und Europa gebraucht. Saayman, „Missionary or Missional“ (2010), 13. Bis in die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts werden „missional“ und „missionary“ gleichwertig und ohne spezielle Dif� ferenzierung verwendet, danach rückt „missionary“ in den Hintergrund. Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 15–19. GOCN wurde 1987 als informelles und ökumenisches Netzwerk mit folgender Vision gegründet: „Social and cultural analysis. What kind of setting are we in and how do we understand its im�� portance in light of God’s mission in the world? Biblical and theological reflection. As we take this setting seriously, how are we ourselves faced with the meaning of the gospel in new ways? Vision for the church and its mission. What kind of church do we need to be to show what it means to believe the gospel, and to live and speak as though it is true?“ http://www.gocn.org/ network/about am 01.10.2014. Roxburgh / Boren, Introducing the Missional Church (2009). Für eine detaillierte Darstellung des Begriffs und des Konzepts siehe Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 97–283. 86 Newbigin, The Other Side of 1984 (1983); Newbigin, Foolishness to the Greeks (1986); Newbigin, The Gospel in a Pluralist Society (1989). Genauer zu Newbigins Einfluss siehe Wrogemann, Missionstheologien der Gegenwart (2013), 222. Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 97–154. 87 Siehe bei Guder (Hg.), Missional Church (1998), 100–102. 88 Darrell Guder zu „missional“: „With the term missional we emphasize the essential nature and vocation of the church as God’s called and sent people.“ A. a. O., 11. Guder beschreibt „mis�sional“ mit fünf Kennzeichen: „biblical“, „historical“, „contextual“, „eschatological“ und „can be practiced“. A. a. O., 11–12. 89 „Much of the missional literature today fails to adequately engage the complex interaction bet��ween the gospel and our culture(s). It tends to follow the logic of the approach of a sending God. This logic conceives of the world as something ‚out there‘ into which the church is being
1.3 Begriffsunterscheidungen
143
„missional ecclesiology“ („missionarische Ekklesiologie“) zu etablieren, die keine „church-centered“-Perspektive („kirchen-zentrierte Perspektive“) für Mission hat, sondern eine „god-centered“-Perspektive („Gott-zentrierte Perspektive“).90 „The church became redefined as the community spawned by the mission of God and gathered up into that mission.“91 Die „gesandte“ Gemeinschaft nimmt Anteil an dem Wesen Gottes, indem sie an Gottes Sendung in der Welt partizipiert.
sent. The church’s embeddedness in culture is left unexplored, and the reciprocal interactions between church and culture are left unexamined.“ van Gelder / Zscheile, The Missional Church in Perspective (2011), 61. So wird nicht die Kirche als Institution mit einer Aufgabe zur Mission verstanden, sondern Gott ist in dem Sinn missionarisch, als er seinen Sohn in diese Welt sendet, um das Heil dieser Welt zu bewirken. Die Kirche soll an der kontinuierlichen Sendung des Heiligen Geistes teilhaben. Gottes Handeln und Existenz in dieser Welt werden anerkannt und damit menschliches, missionarisches Handeln mit einer Partizipation an göttlichem Agieren definiert werden. „The missional church represents God in the encounter between God and human culture. It exists not because of human goals or desires, but as a result of God’s creating and saving work in the world. It is a visible manifestation of how the Good News of Jesus Christ is present in human life and transforms human culture to reflect more faithfully God’s intentions for creation. It is a community that visibly and effectively participates in God’s activity, just as Jesus indicated when he referred to it in metaphorical language as salt, yeast, and light in the world.“ http://www.gocn.org/ am 12.03.2007. 90 „A missional imagination is not about the church; it’s not about how to make the church bet��ter, how to get more people to come to church, or how to turn a dying church around. It’s not about getting the church back to a cultural respectability in a time when it has been marginalized.“ Roxburgh / Boren, Introducing the Missional Church (2009), 20. Im Dokument „Transforming Churches Towards Mission“ definiert das GOCN Indikatoren für „missional churches“: „1. The missional church proclaims the Gospel. 2. The missional church is a community where all members are involved in learning to become disciples of Jesus. 3. The Bible is normative in this church’s life. 4. The church understands itself as different from the world because of its participation in the life, death, and resurrection of its Lord. 5. The church seeks to discern God’s specific missional vocation for the entire community and for all of its members. 6. A missional community is indicated by how Christians behave toward one another. 7. It is a community that practices reconciliation. 8. People within the community hold themselves accountable to one another in love. 9. The church practices hospitality. 10. Worship is the central act by which the community celebrates with joy and thanksgiving both God’s presence and God’s promised future. 11. This community has a vital public witness. 12. There is a recognition that the church itself is an incomplete expression of the reign of God.“ Zitiert in Gibbs, ChurchMorph (2009), 201–202. 91 Hunsberger, The Story That Chooses Us (2015), 47.
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1. Begriffe und Konzepte
Der Begriff „missional church“ wird mittlerweile weit über das Netzwerk hinaus verwendet, um den grundlegenden missionarischen Wesenszug der Kirche zu beschreiben.92
1.3.4.2 Nähe und Differenz zur „Emerging Church“ Vertreter der „missional church“-Bewegung sehen in Teilen der „Emerging Church“-Konversation („relevant“-Strömung) befruchtende Aspekte.93 Eine entscheidende Nähe zwischen der „missional church“ und Teilen der „Emerging Church“-Konversation ist das Selbstverständnis unter postmodernen Bedingungen missionarisch zu sein – und in diesem Kontext über das missionarische Wesen der Kirche nachzudenken.94 Dies ist besonders für Protagonisten wie Hirsch und Frost für den australischen Kontext sowie für die „relevant“-Strömung in der Konversation zu eruieren.95 92 An dieser Stelle ist eine zusätzliche Verhältnisbestimmung des Begriffs „missional church“ zu den anderen (für diese Arbeit relevanten) US-amerikanischen missionstheologischen Konzepten nötig („church growth“ und „mega-church“). Henning Wrogemann stellt fest: „Der pragma�tischen Ausrichtung des klassischen Church-Growth Movement und der Marktorientierung der Mega Churches wird hier [mit „missional church“] ein Modell von auch qualitativer Mission entgegengesetzt, das eine kulturkritische Funktion kirchlichen und gemeindlichen Lebenszeugnisses festhält.“ Wrogemann, Missionstheologien der Gegenwart (2013), 222–223. Dieses Vorhaben wird auch in der Verwendung des neuen Begriffs „missional“ deutlich. Van Gelder kritisiert, dass Wachstum nicht nur aus strategischem Handeln (wie bei „Church Growth“), sondern auch aus Unvorhersehbarem, Misslichem oder Unterbrechungen hervor�geht. van Gelder, „Gospel and our Culture View“ (2010), 92–93. Weiter betont Wrogemann, dass während in „Church Growth“ biblische Textpassagen als di�rekte Handlungsanweisungen für missionarisches Handeln angewendet werden, „The Gospel in Our Culture Network“ ebenso die Natur und das Wesen des Evangeliums erkunden will. Wrogemann, Missionstheologien der Gegenwart (2013), 223. Van Gelder dazu: „What is the gospel? – must be asked in more culturally particular ways. And the more particular question, the more will be our sense that the answer will emerge in unexpected ways.“ Hunsberger / van Gelder, The Church Between Gospel and Culture (1996), 24. 93 Patrick Keifert, eine prominente Stimme in der „missional church“, meinte über Tim Keel, Brian McLaren und Karen Ward: „[…] [they] are providing truly innovative models of mis�sional church.“ Keifert, We are Here Now (2006), 142. 94 So etwa: van Gelder / Zscheile, The Missional Church in Perspective (2011), 8–9. 95 Eine Sonderform in dem Containerbegriff „Emerging Church“ ist die von Michael Frost und Alan Hirsch verwendete Bezeichnung „emerging missional church“. Sie sagen: „An emerging missional church […] has abandoned the old Christendom assumptions and understands its role as an underground movement, subversive, celebratory, passionate, and communal.“ Frost und Hirsch beschreiben „emerging missional church“ als Erneuerungsbewegung, die sich zwar auch anti-institutionell versteht, jedoch evangelikalen Überzeugungen (z. B. individuelle Heilsaneignung) zustimmt. Neben Frost und Hirsch sind es Tim Condor, Doug Gay sowie Eddi Gibbs, die in ihren Untersuchungen ebenfalls diesen Schwerpunkt betonen. Gibbs, ChurchMorph (2009), 40. Damit sind sie der „relevant“- und teilweise der „reconstructionist“-Strö�-
1.3 Begriffsunterscheidungen
145
Sowohl die „missional church“ als auch die skizzierten Teile der Konversation beziehen sich in ihrem Verständnis eines „sendenden Gottes“ auf David Bosch96 und Lesslie Newbigin. Der darin vorgestellte Begriff „missio Dei“ ist zum Leitbegriff beider Ansätze geworden (auch über die skizzierten Teile innerhalb der Konversation hinaus). An dieser Stelle lassen sich aber auch deutliche Unterschiede erkennen, wenn das Missionsverständnis in der „missional church“ dem Missionsverständnis von Teilen der „reconstructionist“- und der „revisionist“-Strömung gegenübergestellt wird.97 Protagonisten jener Strömungen misstrauen einem auf das Individuum fokussierten Heilsverständnis bzw. lehnen ein solches ab. Weitere Unterschiede sind in der institutionellen Verfasstheit beider Bewegungen und der Intention beider auszumachen. Deutlich ist für den Kontext der „missional church“, im Gegensatz zur „Emerging Church“-Konversation, die verfasste Kirche als Ort und Ziel eines kontextuellen, missionarischen Ansatzes zu sehen. Während die „Emerging Church“-Konversation stärker anti-institutionelle Züge (auch als z. B. in fxC) aufweist, dominiert in der „missional church“ eine starke kulturkritische Auseinandersetzung, die in der Konversation nur vereinzelt vorkommt. Außerdem fällt auf, dass Vertreter der „missional church“ hauptsächlich in den „mainline churches“ beheimatet, akademisch gebildet und in vielen Fällen ordinierte Geistliche sind.98 Im Gegensatz dazu spielen vorwiegend Laientheologen und Laien-Gemeindegründer in der „Emerging Church“-Konversation eine bedeutende Rolle.
mung zuzuordnen. Mit dem Begriff „missional“ meint etwa Conder: „By ‚missional‘, I mean that the emerging church seeks to be a community that embodies and supports God’s mission of establishing a present and future redemptive kingdom.“ Conder, The Church in Transition (2006), 25. Mark Driscoll, Pastor von Mars Hill Church in Seattle, versteht seine Gemeinde ebenfalls als „emerging and missional church“, wie in folgendem Buchtitel zu lesen ist: Driscoll, Confessi� ons of a Reformission Rev (2006). Es finden sich zudem einzelne Gemeinschaft, wie „Safe Space“ (Telford) in Großbritannien, die sich als „emerging missional community“ verstehen. http://markjberry.blogs.com/ am 17.09.2014. 96 Bosch, Transforming Mission (1991), 368–393. Guder (Hg.), Missional Church (1998), 77–83. 97 Zum Missionsverständnis in der „revisionist“-Strömung siehe Abschnitt II Kapitel 4 Strömun�gen in der „Emerging Church“-Konversation. 98 Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 5. Eine wichtige Plattform ist die jährliche „Missional Church Consultation“, verantwortet von „Luther Seminary“ (St. Paul, Minnesota) und die „Missional Church Series“, herausgegeben von Eerdmans.
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1. Begriffe und Konzepte
1.3.5 Weitere Begriffe Andere Bezeichnungen, die in der „Emerging Church“-Konversation vorkommen, jedoch wenig verbreitet sind, sind: „deep church“, „organic church“, „liquid church“.99 Sie wollen durch das jeweils verwendete Adjektiv einer bestimmten Idee von Kirche einen besonderen Ausdruck verleihen. Mit dem Begriff „deep“ versucht Jim Belcher den Graben zwischen „traditional“ und „emerging evangelicals“ zu überbrücken. Mit dem Adjektiv „organic“ wird ein organisches Herauswachsen von Kirche aus der jeweiligen Kultur geschildert und gleichsam ein Widerstand gegenüber Gemeindepflanzungsmodellen artikuliert. Mit diesem Begriff beklagt Neil Cole besonders, dass Kirche sich als „Sonderkultur“ von den vorherrschenden Milieus abgrenzt und sich stattdessen als Bewegung in kleinen Gemeinschaften etablieren soll. Die Bezeichnungen „liquid church“ oder „fluid church“ betonen den flachen hierarchischen Aufbau sowie die soziale, zeitliche und inhaltliche Instabilität von emergenten Gemeinschaften.100
99 Belcher, Deep Church (2009), 51–68. Bob Whitesel meint in seiner Untersuchung, dass er mit dem Begriff „organic church“ die „Emerging Church“ in der „Church Growth Movement“ ver� ortet. Whitesel, Inside the Organic Church (2006), xxv. „This ‚organic‘ has generally described a church that is composed of a network of interdependent people who thrive in relative harmony as a living and growing entity. In the Church Growth Movement, ‚organic church growth‘ is employed to describe this wholistic, growing, and healthy matrix of people and ministries.“ Cole, Organic Church (2005). Coles Ansatz weist eine erhebliche Nähe zur „House Church Movement“ in Nordamerika auf. Vgl. Nash / Ward, „Frank Viola – Organic Church“, in: No�mad (Podcast) 10.09.2009, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-8-frank-viola-and-organic-church/ am 29.12.2016. Der Begriff „liquid church“ geht auf Pete Ward zurück, der in späteren Ausführungen genauer dargestellt wird. Ward, Liquid Church (2002). Steve Chalkes Begriff „intelligent church“ ist nur auf sein Buch bezogen und wird hier deshalb nicht aufgelistet. Chalke, Intelligent Church (2006). 100 Gleichzeitig teilt der Begriff mit, dass das Bemühen einer Gemeinschaft, „Emerging Church“Gedanken umzusetzen, nicht zwangsläufig nachhaltig und verbindlich ist. Es spiegelt sich die Vorstellung wider, dass eine „Emerging Church“-Gemeinschaft heute existieren, sich morgen aber bereits aufgelöst haben kann.
1.4 Missionstheologische Grundbegriffe
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1.4 Missionstheologische Grundbegriffe aus dem anglo-amerikanischen Kontext Im Folgenden sollen zwei für die „Emerging Church“-Konversation wesentliche Aspekte geklärt werden. Zuerst sollen das Verhältnis des Evangelikalismus (mit US-amerikanischen und britischen Bezügen) zur „Emerging Church“- Konversation dargestellt werden. Die Verbindungen werden exemplarisch nachgewiesen. Danach werden die „Mega-Church“-Ansätze in ihren Grundzügen dargestellt.101 Die „Church Growth“-Bewegung und der „Megachurch“Ansätze sind besondere Formen im US-amerikanischen Evangelikalismus, die für die „Emerging Church“-Konversation wesentliche Gesprächspartner sind, insbesondere in der Abgrenzung davon.102 Der Evangelikalismus ist als theologiegeschichtliche Strömung Hintergrund und Nährboden für die daraus entstandene „Emerging Church“-Konversation.103 Die Reflexion der Themen und Überzeugungen wird in der Konversation von auffällig vielen prominenten Stimmen aus ehemals konservativen, evangelikalen und manchmal fundamentalistischen Gemeinden geführt.104 Es kann festgestellt werden, dass Merkmale emergenter Gemeinschaften, wie zum Beispiel
101 Robert Webber unterscheidet zwischen einem biblischen, theologischen, historischen und kulturellen Gebrauch des Wortes „evangelical“. Webber, The Younger Evangelicals (2002), 14. Auf diese Unterteilung soll Rücksicht genommen werden, wenn der historische und der theologische Gehalt des Begriffs diskutiert wird. An dieser Stelle soll der biblische Gebrauch vernachlässigt werden. Der kulturelle Gebrauch des Begriffs „evangelical“ soll in der Beschreibung der „Megachurch“ konkretisiert werden. Siehe QR-Code. Für eine soziologische Betrachtung siehe Marsden, Evangelicalism and Modern America (1984). 102 So sagt etwa Teusner über emergente australische Blogger: „While bloggers do not dismiss Protestant Evangelicalism outright, they see the mega-church model of ministry as contrary to the Gospel.“ Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 126. So folgert auch Rep� penhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 326. 103 Rah sagt dazu: „American evangelicalism’s response to postmodernity has focused on the move� ment known as the emerging, or emergent church.“ Rah, The Next Evangelicalism (2009), 109. Auf einen Zusammenhang verweisen beispielsweise: Hutchinson / Wolffe, A Short History of Global Evangelicalism (2012), 266. Sweatman, „Derridoxology“, 1–51. Oder auch Scott Ba�der-Saye, der sagt, dass die „Emerging Church“-Konversation folgendermaßen zu beschreiben sei: „[…] a conscious reaction against evangelical theology and subculture […].“ Bader-Saye, „Improvising Church“ (2006), 13–14. 104 Drane, „Editorial“ (2006), 4. Auch Tony Jones betont, dass viele prominente emergente Prota� gonisten im Umfeld der „seeker-sensitive“-Bewegung und der „Megachurch“-Kultur groß ge�worden sind. Jones, The New Christians. Dispatches from the Emergent Frontier (2008), 109. Diese Beobachtung wird durch die Selbstbeschreibung von 50 emergenten Leitungspersonen in Gibbs’ und Bolgers Buch gestützt. Siehe Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 239–328.
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1. Begriffe und Konzepte
das Bedürfnis nach hoher Partizipation in einer Gemeinschaft, die Präferenz für kleine flexible Gemeinschaften oder das Ablehnen propositionaler dogmatischer Aussagen, neben kulturellen Gründen (postmoderne Bedingungen) sowie dekonversiven Indikatoren durch die Auseinandersetzung mit den spezifischen US-amerikanischen gemeindlichen Ausformungen („Church Growth“ und „Megachurch“) geprägt und durch sie verstärkt wurden.
1.4.1 Evangelikalismus 1.4.1.1 Das Verhältnis der „Emerging Church“-Konversation zum Evangelikalismus Die „Emerging Church“-Konversation wurde sowohl von Befürwortern als auch von Gegnern mit den Entwicklungen des nordamerikanischen und britischen Evangelikalismus der letzten Jahrzehnte in Verbindung gebracht.105 Der Sozio-
Beispielhaft für den Frömmigkeitshintergrund vieler emergenter Protagonisten ist McLaren, der seinen Hintergrund beschreibt als „conservative-Bible-believing-Evangelical-Fundamen�talist Christian“. McLaren, Naked Spirituality (2011), 7. 105 Tony Jones schildert aus der Entstehungszeit der „Emerging Church“-Konversation: „[…] a contingent of the most influential mega-church pastors had noticed a trend that, in their opinion, GenXers were not following the Baby Boomer pattern of dropping out of church in college, only to rejoin church when they married, settled in the suburbs, and had children. Whether this was actually a trend among Baby Boomers is disputed, but it was at least the assumption of these suburban mega-church pastors. GenXers raised in the church were indeed dropping out of their parents’ churches in college, if not before, but they were not coming back to church in their twenties.“ Jones, The Relational Ecclesiology (2011), 44. Sweatman beschreibt den Zusammenhang zwischen dem US-amerikanischen Evangelikalismus und der „Emerging Church“-Konversation positiv, wenn er sagt: „The ECM, from this perspective, is the next step in an ongoing history of productive tensions that have kept evangelicalism a vital force in American culture. The ECM is, then, as much a reactive force in evangelicalism as a creatively generating one; through a focus on determining what Christianity ‚is‘ and ‚is not‘, particularly in regard to fundamentalism and political conservatism, and through institutionalized conversations about the direction and momentum of C hristianity, the ECM utilizes the tools of organizational definition developed during the twentieth century by fundamentalists and progressives alike to create groupings that, though unique in terms of theological and philosophical affiliation, are foundationally in keeping with a century of evangelical tradition.“ Sweatman, „Derridoxology“, 3. Skead stellt fest: „There is much for the Evangelical church to gain from its interaction with the ECM. Although there is much that would concern them theologically, the ECM in its example provides a strong call for the Church to rediscover its missional identity as a sent community participating in God’s mission of love, reconciliation and renewal in Jesus Christ.“ Skead, „An Examination of the Missional Ecclesiology of the ‚Emerging Church Movement‘“, 138. Daneben ist auch Mills eine positive
1.4 Missionstheologische Grundbegriffe
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loge James Bielo unterstreicht, dass besonders das öffentlichkeitswirksame Auftreten des Evangelikalismus in Nordamerika in den Jahren 1995 bis 2005 zum Aufbrechen der „Emerging Church“-Konversation führte, die neben anderen106 eine Kritik am US-amerikanischen Evangelikalismus vornahm.107 Für die USamerikanische Öffentlichkeit ausschlaggebend waren etwa: die Popularität der „Left Behind“-Bücherreihe von Tim LaHaye und Jerry B. Jenkins (1995–1999).108
Stimme, die sagt: „The emerging church can now be said to be a positive development within the current culture because of its missional and incarnational ecclesiology. It has been clearly demonstrated to value incamational theology and to put it into practice within its ecclesiology. The same can be said for a missional understanding of theology and ecclesiology. The emerging church is shaped by both an incarnational and missional theology.“ Mills, „The Promise of the Emerging Church“ (Master of Arts, McMaster Divinity College, 2010), 160. Siehe weiter dazu Carson, Becoming Conversant with the Emerging Church (2005). Von konservativ-evangelikalen Protagonisten in den USA, wie zum Beispiel Pastor John McArthur, wird die Konversation als liberaler Protestantismus beschrieben oder auch als liberale Reformbewegung innerhalb des Evangelikalismus und mit dem Stichwort „hipster Christianity“ ver�sehen. Siehe dazu Crouch, The Emergent Mystique. Oder: Kapitel 7 bei McCracken, Hipster Christianity (2010). Oder auch Henard / Greenway (Hg.), Evangelicals Engaging Emergent (2009). Vgl. „The Emerging evangelical movement thrives on a wide-ranging cultural critique of main�stream evangelicalism (and, to a lesser extent, liberal Protestantism and Catholicism). The individuals in my fieldwork harbored deep suspicions about Christianity-as-practiced in the United States.“ Piatt (Hg.), Banned Questions About Christians (2014), 72. 106 In den letzten zwei Jahrzehnten wurde zunehmend von einer theologischen Krise des Evangelikalismus gesprochen. Warner, „Fissured Resurgence“, 12–22. So hat sich ein Streit zwis�chen der „American Evangelical Theological Society“ (die von Akteuren der „religious right“ dominiert wird) und evangelikalen Akteuren, wie Roger Olson, Jonathan Wilson, Stanley Grenz, Lindbeck, Vanhoozer, N. T. Wright, rund um Fragen der Bibelhermeneutik verdichtet. A. a. O., 17. Warner folgert: „Following the so-called ‚culture war‘ between the religious right and the urban and secularized liberal elite, a further culture war within American evangelicalism seems almost inevitable.“ A. a. O., 18. David Wells stellt sogar fest, dass Evangelikalismus „descriptively anaemic“ geworden ist. Wells, No Place for Truth (1993), 134. 107 Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 7–8. Auf den Zusammenhang zwischen progressiven Strömungen im US-amerikanischen Evangelikalismus in den 1970er- und 1980er-Jahren und der „Emerging Church“-Konversation geht Sweatman ein. Sweatman, „Derridoxology“. Warner, „Fissured Resurgence“, 12–22. 108 In Dan Kimballs Ausführungen findet sich Bielos Urteil wieder. Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 87–89. Warner spricht vom Establishment des Evangelikalismus in der US-amerikanischen Öffentlichkeit, wenn er sagt: „This begs the question whether evangelicalism may have become a quasi- established, structurally differentiated religion, baptizing materialism and the American Way.“ Warner, „Fissured Resurgence“, 9. Zur Bedeutung von Tim LaHaye siehe Guest, Evangelical Identity and Contemporary Culture (2007), 200.
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1. Begriffe und Konzepte
Die Romanreihe veranschaulicht eine dispensationalistische Vorstellung vom Ende der Welt.109 Außerdem wurden in den 1990er-Jahren prominente Pastoren und Gemeindegründer zu Sprachrohren evangelikalen Gewissens in den USA. Es kam zu einer Politisierung evangelikaler Orientierung und zu einer Evangelikalisierung öffentlicher Politik.110 Neben Rick Warrens Erfolg mit seinem Buch „Purpose Driven Life“ (1995) gewann die „Willow Creek Community Church“ (Pastor Bill Hybels) an internationaler Bekanntheit. „Willow Creek“ veranstaltete 1995 ihren ersten „Leadership Summit“ und prägte damit die internationale „Church Growth“-Szene entscheidend mit.111 Ein weiterer Höhepunkt des US-amerikanischen Evangelikalismus war die „Promise Keepers“-Bewegung, die 1997 ihre zahlenmäßig größte Veranstaltung inszenierte. Schließlich ist die Popularität von Wohlstandspredigern, wie Joel Osteen (und anderer Teleevangelisten), der lange Zeit die größte „Megachurch“ in den USA leitete, ein zusätzlicher Faktor für die Veränderung des US-amerikanischen Evangelikalismus.112 Im US-amerikanischen (und britischen) Kontext kann von einer evangelikalen Subkultur gesprochen werden, die, wie Kent Hughes argumentiert, sich in einer gemeinsamen Sprache und einem gemeinsamen Verhalten zeigt, die zu einer evangelikalen Identitätsbildung führen. Warner stellt fest, dass diese Subkultur in der US-amerikanischen Kultur eine hohe Akzeptanz genießt und
109 Der Dispensationalismus ist die vorherrschende Deutung evangelikaler Eschatologie. Besonders im US-amerikanischen Evangelikalismus ist der Dispensationalismus dominant. Grundsätzlich gilt: Dispensationalisten unterscheiden zwischen den Erwartungen und somit den Evangelien (Botschaften Gottes) für Israel und die Gemeinde. Das alttestamentliche Israel habe irdische Erwartungen, während die Gemeinde (bestehend aus allen Gläubigen der jetzigen Dispensation, auch Israeliten) eine himmlische Erwartung habe. Im Dispensationalismus wird die Meinung vertreten, dass die Herrschaft des Antichristen und die Entrückung der Gemeinde in den Himmel vor dem Tausendjährigen Reich geschehe. Über den Ablauf im Einzelnen gibt es auch unter Dispensationalisten unterschiedliche Theorien. Die zweite, sichtbare Wiederkunft Jesu Christi werde die Herrschaft des Antichristen beenden. Darauf erfolge das Millennium, wo Christus zusammen mit seiner Gemeinde die Herrschaft auf der Erde ausüben werde. Anschließend werde Satan noch einmal losgebunden; es folge eine letzte große Schlacht Armageddon und das Weltgericht. Es schließe sich als letzter Äon die Neue Erde und der Neue Himmel an. Prominent werden die Thesen des Dispensationalismus von N. T. Wright kritisiert. Wright verwirft das System als eskapistisch und weltabgewandt, da es die Entrückung und Errettung von dieser Erde vermittle, anstatt der biblischen Hoffnung auf das „Reich Gottes“ nachzugehen. 110 Dies ist für Großbritannien nicht zu beobachten und gilt als Unikum der US-amerikanischen Diskussion. Ebensowenig ist dies für den deutschsprachigen Evangelikalismus unisono zu behaupten. Herbst, „‚My God is mighty to save‘ (Teil I)“ (2017). 111 Dieser Meinung ist auch Robert Webber. Webber, The Younger Evangelicals (2002), 41. 112 Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 7–8.
1.4 Missionstheologische Grundbegriffe
151
im Wirtschaftsleben und der Politik von Vorteil ist.113 Hughes spricht auch davon, dass die Anerkennung einer evangelikalen Subkultur in den USA den Preis einer kulturellen, theologischen und moralischen Vermischung nach sich zieht. Hughes spricht von der Dreieinigkeit US-amerikanischer Evangelikaler, wenn es heißt, dass folgende Überzeugungen zusammengehören: „pro-American“,„pro-life“ und „pro-gun“.114 Während es seit dem US-amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan eine starke republikanische Orientierung evangelikaler Wähler gegeben hat, weist die Kulturwissenschaftlerin Marcia Pally mit der Präsidentschaft von George W. Bush und dem Irakkrieg auf eine Wende hin. Diese „New Evangelicals“, wie Jim Wallis, Bill Hybels u. a., zählen nicht zum rechten republikanischen Spektrum, sondern stehen für eine Trennung von Staat und Kirche, engagieren sich für illegale Einwanderer, für Menschen in prekären Verhältnissen, für Inklusion, gegen Rassismus und vieles mehr.115
1.4.1.2 Das Verhältnis des Evangelikalismus zur „Emerging Church“Konversation Gleichwohl der Evangelikalismus für die „Emerging Church“-Konversation ein wichtiger Gesprächspartner ist, gilt auch Umgekehrtes: Für den US-amerikanischen Evangelikalismus ist die „Emerging Church“-Konversation zu einem Diskussionspartner in der Frage, wie mit einer sich ändernden Kultur umgegangen werden soll, geworden.116 Dabei reicht das Spektrum der Aus113 Warner, „Fissured Resurgence“, 39. So auch Conder: „For more than a century, segments of the church have been locked in a theological cold war that has defined the very essence of our congregations, practices, and convictions. This cold war has dominated our identity – determining what political candidates to support, what seminaries are trustworthy, what organizations to support and avoid, and what leaders are credible.“ Conder, The Church in Transition (2006), 87. 114 Hughes, Are Evangelicals Born Again? (1995). Schmalzbauer sagt: „Whatever one thinks of evangelical popular culture, it is big. While the headquarters for Focus on the Family occupies an entire zip code […], Christian retailers take in almost $7 billion a year […]. The sheer size of evangelicalism’s media presence has inspired a generation of researchers […], making televangelism the most studied American religious genre […].“ Schmalzbauer, „Popular Cul� ture“ (2010), 263. Für die „Emerging Church“-Konversation gilt, dass sie sich vom Evangelikalismus sowohl in den „mainline“-Kirchen als auch von „non-denominational evangelical churches“ abgrenzt (darunter versteht man das freikirchliche Lager im nordamerikanischen Protestantismus). So beschreibt es Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 20. 115 Pally, Die neuen Evangelikalen in den USA (2010), 102–103, 112. 116 Randall Reed spricht beispielsweise von einer Krise des US-amerikanischen Evangelikalismus’ und einem daraus resultierenden Interesse an der „Emerging Church“-Konversation. Reed, „Emerging treason“ (2014), 67.
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1. Begriffe und Konzepte
einandersetzung von ästhetischen Adaptionen spiritueller Ausdrucksformen hin zu theologischen Neuorientierungen; beide Partner befruchteten einander, wie in der Darstellung der „Hyphenates“ gezeigt wird.117 Im Folgenden sollen drei Ansätze, die die Verbindung der Konversation mit dem US-amerikanischen Evangelikalismus zeigen, dargestellt werden. 1.4.1.2.1 Robert Webber (2002) Webbers Beitrag aus dem Jahr 2002 (und damit aus der Anfangszeit der Konversation), der die „Emerging Church“-Konversation im US-amerikanischen Evangelikalismus verortet, ist besonders für die zweite historische Phase wichtig.118 Robert Webber sieht in der „Emerging Church“-Konversation eine notwendige Weiterentwicklung des US-amerikanischen Evangelikalismus.119 Webber hat durch seine Schriften und seinen Einfluss im Evangelikalismus die „Emerging Church“-Konversation besonders am Übergang von der ersten zur zweiten historischen Phase und zu Beginn der zweiten Phase wesentlich mitgeprägt und die Konversation als Gesprächspartner etabliert.120 Bereits 117 Es gibt auch jene, die ein Gespräch mit der „Emerging Church“-Konversation verweigern. Gilley, This Little Church Stayed Home (2006). 118 In der fortschreitenden Ausdifferenzierung der „Emerging Church“-Konversation und dem Zurücklassen gemäßigter Formen innerhalb der Konversation werden Webbers Ausführungen jedoch relativiert. 119 Ein anderer Ansatz stammt von Jim Belcher, der von der „Emerging Church“-Konversation als „third way“ im US-amerikanischen Evangelikalismus spricht. Belcher, Deep Church (2009). Webber erkennt die Diversität der Konversation und sieht einen prophetischen Auftrag der Konversation für den US-amerikanischen Evangelikalismus. Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 198–201. Robert Webber erkennt innerhalb des US-amerikanischen Evangelikalismus eine Bewegung von „Geschichtslosigkeit zu Tradition“, in der Theologie „von Propositionalismus zu Narration“, in der Apologetik „von Rationalismus zu Verkörperung“, in der Ekklesiologie „von unsichtbar zu sichtbar“, im Amtsverständnis von Pastoren „von Macht zu Dienst“. Weiter: „Being Church: From Market to Mission, Pastors: From Power to Servanthood, Youth Ministers: From Parties to Prayer, Educators: From Information to Formation, Spiritual Formation: From Legalism to Freedom, Worship Leaders: From Program to Narrative, Artists: From Constraint to Expression, Evangelists: From Rallies to Relationships, Activists: From Theory to Action“ Webber, The Younger Evan�gelicals (2002), 7–8. Webbers fast proklamatorische Kapitelüberschriften, die einen strengen Dualismus zwischen dem traditionellen Evangelikalismus und den „Younger Evangelicals“ aufzeigen wollen, müssen in ihrer Vereinfachung kritisiert werden und können als moderner Fortschrittsoptimismus interpretiert werden. Die „younger evangelicals“ im Sinn einer historischen Zwangsläufigkeit zu bestimmen, verkennt die realen historischen Gegebenheiten des US-amerikanischen Evangelikalismus. Denn auch zu ihrer wirksamsten Phase (2004–2009) ist die „Emerging Church“-Konversation im Vergleich zu anderen Bewegungen und Phänomenen eine quantitativ kleine Bewegung. Zudem ist Webbers Generationeneinteilung eine Vereinfachung, die der Komplexität soziologischer Wirklichkeit keinesfalls gerecht wird. 120 Besonders durch folgende Veröffentlichung: Webber, The Younger Evangelicals (2002).
1.4 Missionstheologische Grundbegriffe
153
Anfang der 1980er-Jahre propagierte er als Vertreter evangelikaler Theologie eine Öffnung konservativ-evangelikalen Denkens für liturgische Formen und Rituale, wie sie in „mainline“-Kirchen üblich sind.121 Obwohl Dan Kimball, ein wichtiger Protagonist in der „Emerging Church“, die Konversation als generationsübergreifend beschreibt122, sieht Robert Webber in dieser Bewegung hauptsächlich die Generation der sogenannten „younger evangelicals“ vertreten – für ihn also ein Evangelikalismus für die „Gen X“ und „Gen Y“. Webber unterteilt den US-amerikanischen Evangelikalismus nach 1945 in drei Gruppen:123 • Erstens nennt er „traditionelle Evangelikale“ (bis 1970). Damit ist die Nachkriegsgeneration, geprägt von den Evangelisten Billy Graham u. a., gemeint. Sie sind als Traditionelle geprägt durch ein rationales und logisch evidentes Glaubensverständnis. Die Verbreitung eines christlichen Weltbildes geschieht vorzugsweise über Printmedien. Christenheit und Gesellschaft werden als fast deckungsgleich erlebt und gewünscht. Diese Kohorte ist pastoren- und gemeindezentriert, steht künstlerisch-medialen Formen, etwa in Gottesdiensten, distanziert gegenüber und ist mit dem Phänomen der Massenevangelisation groß geworden. • Zweitens beschreibt er die „pragmatischen Evangelikalen“ (1975–2000), beeinflusst durch die 1960er-Revolutionen. Ein Vertreter dieser Kohorte ist Pastor Bill Hybels. Zielgruppe ist die Generation („boomer“), die ein modernes Gepräge hat und Glaube als Therapie versteht, der dem Leben Sinn gibt. Im Evangelikalismus findet zu dieser Zeit die Orientierung an Kirchenfernen statt („seeker service“) und der Pastor wird als CEO präsentiert. Es finden generationsspezifische Angebote sowie „market driven“Angebote statt, zeitgenössische Musik und Erscheinung sind relevant. Damit geht das Aufkommen der Megakirchen einher. • Drittens nennt er die „jüngeren Evangelikalen“ („younger evangelicals“), geprägt durch die Postmoderne und die post-9/11-Ära. Für ihn sind das jene, die sich an der „Emerging Church“-Konversation beteiligen. Ein Vertreter dieser Kohorte ist Brian McLaren. Webber stellt fest, dass sich „younger evangelicals“ bewusst sind, dass sie in der „Postmoderne“ aufgewachsen sind, und dass „younger evangelicals“ von den Ereignissen rund um „9/11“ geprägt sind.124 Sie unterscheiden sich von ihren Vorgängern in ihrem Ver121 Webber, Evangelicals on the Canterbury Trail (1985). 122 Kimball, The Emerging Church (2003), 237. 123 Webber, The Younger Evangelicals (2002), 14–46. 124 Webber beschreibt die vorkonstantinische Zeit analog zur Postmoderne als Zeit, in der das Priestertum aller Gläubigen sowie Mission ernst genommen wurden, da keine staatliche Struktur für die geistliche Versorgung seiner Mitglieder gesorgt hat. Webber beschreibt die vor-
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1. Begriffe und Konzepte
ständnis und im Zugang zu christlichem Leben und Nachfolge. Sie haben ein verstärktes Bewusstsein für soziale Angelegenheiten, die klassische Dichotomie evangelikaler Lehre (gut – böse, verloren – gerettet, Himmel – Hölle) wird von ihnen durchbrochen und gilt für sie als gescheitert. „Younger evangelicals“ leben mit technologischem Fortschritt (digitale Informations- und Kommunikationstechnologien) und erleben Technologie als spirituelles Betätigungsfeld. Sie lernen visuell und durch Geschichten. Kunst wird zu einer Ausdrucksform der „younger evangelicals“, Symbole werden zu Ausdrucksformen des Glaubens. Der Autor beschreibt das tiefe Verlangen, zu einer Gemeinschaft zu gehören, welche die Individualisierung durchbricht und gleichzeitig achtet.125 Webber versteht deren alternative Vergemeinschaftung kontextuell als „visible, tangible, enfleshed group of disciples of Jesus“.126 Ganzheitlichkeit, Authentizität und Spiritualität sind weitere Merkmale der „younger evangelicals“. Für den Autor sind „younger evangelicals“ die Protagonisten und Innovatoren in der „Emerging Church“-Konversation. Das Verhältnis dieser Gruppe zu den vorangegangen beschreibt er folgendermaßen: They reject the traditionalist notion of the ‚purity of the church‘ or the ‚Great Commission ecclesiology‘ as too reductionistic. And they have turned away from the megachurch movement to find a visible smaller fellowship of believers drawn from
konstantinische Zeit als Vorbild gemeindlichen Handelns und identifiziert ähnliche Kriterien in der Postmoderne. So wurden Missionare in der konstantinischen Kirche ausgesandt, was einem postmodernen Verständnis widerspricht. Webber meint: „In the pre-Constantinian and now postmodern paradigms, the church does not ‚send‘ missionaries nor does it have ‚a missionary program‘. Instead it is mission, no matter where it is geographically.“ A. a. O., 121. Vergleichbar sagt es Fred Burnham. Fuller / Sanders, „9/11 & the Emerging Church with Fred Burnham“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 11.09.2008, https://homebrewedchristia�nity.com/2008/09/11/911-the-emerging-church-with-fred-burnham-homebrewed-christianity-ep-23/ am 28.12.2016. 125 Webber ermutigt die „younger evangelicals“ als eine alternative Gemeinschaft die konstanti�nische Zivilreligion abzulegen. „They live and act as a witness to the overthrow of evil, to the kingdom that is to come and thus point to the vision of a new heaven and a new earth where God’s shalom will rest over the whole world.“ Webber, The Younger Evangelicals (2002), 118. Webber führt weiter aus, dass sich emergente Gemeinschaften von der „Church Growth“-Be� wegung absetzen und bewusst auf kleine, organische Gemeinschaften setzen, die ihre eigene Kultur entwickeln. „Emerging Churches“ wollen „intergenerational, intercultural and post�denominational“ sein. Vgl. a. a. O., 119. 126 A. a. O., 114. Webber erläutert in seiner Untersuchung, dass die Mehrheit der „younger evan�gelicals“ neue Gemeinden pflanzen und sieht darin eine Pioniertätigkeit. Diese Gemeinde�pflanzungen sind besonders in Städten und in sozial benachteiligten Vierteln einer Region zu beobachten. A. a. O.
1.4 Missionstheologische Grundbegriffe
155
all the tradition that affirms the whole church and seeks to embody Christ’s presence in a particular neighborhood, often in the city.127
Webbers Ansatz, die „Emerging Church“-Konversation im US-amerikanischen Evangelikalismus zu beheimaten, ist auf den ersten Blick für „relevants“ und „reconstructionists“ nachvollziehbar. Besonders wenn man den Evangelikalismus als Boden der entstehenden emergenten Diskussion versteht, ist Webber zuzustimmen. Dies gilt einerseits jedoch nur für die erste und die Anfangszeit der zweiten historischen Phase in der Entwicklung der „Emerging Church“Konversation. Andererseits ist diese Einteilung auf den US-amerikanischen Kontext beschränkt.128 Webbers Beiträge, die bis zu seinem Tod 2007 im USamerikanischen Evangelikalismus zu einer positiven Sicht der Konversation geführt haben, sind bis zur zweiten Hälfte der zweiten historischen Phase der Konversation relevant.129 Durch das Zurücklassen der gemäßigten Protagonisten („relevants“)130 löst sich die Konversation in der dritten historischen Phase größtenteils von ihrem Gesprächspartner „Evangelikalismus“ und wird von-
127 A. a. O., 122. 128 Das Buch „The Younger Evangelicals“ ist 2002 erschienen und hat damit die Entwicklung hin zu der Rezeption dekonstruierender Ansätze nicht beachtet. Weiter ist der Blick zu sehr auf den Evangelikalismus beschränkt, besonders wenn Studien wie jene von Ganiel und Marti zeigen, dass ein großer Prozentteil ehemals katholischer Christen Teil der Konversation ist. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 5 Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten. 129 Webbers Ansatz erweckt den Eindruck, als ob es sich beim US-amerikanischen Evangelikalismus um ein einheitliches, homogenes Phänomen handle. Zum einen ist die Homogenität zurückzuweisen, zum anderen die Vorstellung, dass es bis zu Webbers Aufruf in den vorangegangenen Stationen des Evangelikalismus kein Traditionsbewusstsein, keine Narration oder keine dienende Leitung gegeben hätte. Webber vermittelt den Eindruck, als ob Rationalismus oder Fragen der Macht als „moderne“ Versatzstücke ausgedient hätten und getrost zurück� gelassen werden können. Mark Noll etwa sagt: „Since its origins, evangelicalism has always been diverse, flexible, adaptable, and multiform. In particular, contextual settings have regularly colored the shape of evangelicalism (making, for example, some expressions very conservative politically and at least a few quite radical). Evangelical movements have sometimes been shapers of culture, for example, in the Scottish Highlands and throughout all of Wales in the nineteenth century; in wide areas of Canada, Britain, and the United States into the twentieth century; and more recently in some non-Western regions like South Korea, Singapore, East Africa, and several islands in the Pacific. Yet the degree to which evangelicals have adapted to local situations has also sometimes left evangelicals pervasively shaped by their particular cultures.“ Noll, „The Future of Protestantism“ (2004), 424. Es scheint so, als ob Webber sein Anliegen, welches bereits in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts deutlich wird, nämlich (neue) liturgische Formen für den US-amerikanischen Evangelikalismus fruchtbar zu machen, auf die „Emerging Church“-Konversation überträgt. Dadurch wird „Emerging Church“ zum Hoffnungsträger seiner alten Vision. Webber, Evangelicals on the Caterbury Trail (1985). 130 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 4 Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation.
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1. Begriffe und Konzepte
seiten evangelikaler Vertreter nicht mehr als „Weiterentwicklung“ des Evangelikalismus’ betrachtet. 1.4.1.2.2 Scot McKnight (2007) Scot McKnight, emergenter Protagonist und Professor am „North Park Theological Seminary“, war für die theologische Meinungsbildung in der Konversation bis 2009 ein wichtiger Impulsgeber und Vordenker.131 Er bespricht emergente Gemeinschaften in der frühen Phase der Konversation hinsichtlich ihres Ertrags für den US-amerikanischen Evangelikalismus nach fünf Gesichtspunkten:132 1. „Emerging Church“ sei prophetisch. Mit „prophetisch“ meint McKnight, dass „Emerging Church“-Gemeinschaften meinen, Gemeinden müssten sich in ihrer Praxis ändern und auf postmoderne Herausforderungen reagieren. Gleichzeitig würden es „Emerging Church“-Vertreter wagen außerhalb ihrer konfessionellen und theologischen Grenzen zu denken und Neues auszuprobieren. Damit könnten sie eine prophetische Rolle für die etablierten Kirchen spielen.133 2. Emergente Protagonisten würden glauben, dass die Postmoderne die Moderne abgelöst habe. „Emerging Church“-Gemeinschaften hätten wenige Ressentiments gegenüber dem kulturellen Wandel, den sie Postmoderne
131 Durch seine Zusammenarbeit mit Brian McLaren, Tony Jones sowie Phyllis Tickle (und anderen), durch seinen Blog (www.jesuscreed.com) und seine Veröffentlichungen hat er die „rele�vant“- und „reconstructionist“-Strömung in der Konversation geprägt. McKnight, A Commu�nity Called Atonement (2007); McKnight, The Real Mary (2007); McKnight, The Jesus Creed (2004); McKnight, Five Streams of the Emerging Church; McKnight, Church in the Present Tense (2011); McKnight, The Blue Parakeet (2008). Scot McKnights Blog: http://www.patheos.com/blogs/jesuscreed/ am 31.05.2012. Sein Blog wurde von Technorati.com zum einflussreichsten Blog in der „Emerging Church“-Diskuss� ion gewählt. http://www.beliefnet.com/columnists/jesuscreed/bio-scot-mcknight.html/ am 31.05.2012. Scot McKnight wandte sich im Jahr 2009 von der Konversation ab. 132 McKnight, Five Streams of the Emerging Church. An anderer Stelle verweist Scot McKnight auf Punkte 2–5 als Quellen, die auf die Konversation Einfluss nehmen: „There are four rivers flowing into Lake Emerging, […] Each of these rivers – postmodern, praxis, postevangelical, and politics – flows with its own integrity into Lake Emerging.“ McKnight: „What is the Emerging Church“ (2006). 133 So auch Webber, siehe vorher. Auch Tim Conder meint in seiner Untersuchung über „Emer� ging Church“-Gemeinschaften: „The emerging church can play a prophetic role for established churches, charting the path into new territory. Although the emergent movement did not begin with this goal, this opportunity to guide the existing church into new lands presents itself as a great potential blessing for the emerging church.“ Conder, The Church in Transition (2006), 33. Conder sieht in der Konversation einen Angriff auf das Lagerdenken und den Versuch einer Überwindung. A. a. O., 87.
1.4 Missionstheologische Grundbegriffe
157
nennen. Sie nähmen Veränderungen als positv wahr und brächten diese Umstände ins Gespräch mit dem Evangelium und lebten darin Gemeinschaft. 3. „Emerging Church“ sei praxisorientiert. McKnight unterteilt die Praxis in emergenten Gemeinschaften in: „Worship, Orthopraxy, Justice and Missional“. 4. „Emerging Church“ sei post-evangelikal. McKnight erkennt, dass viele emergente Christen einen evangelikalen Frömmigkeitshintergrund hätten, der in der Konversation verarbeitet werde. 5. „Emerging Church“ sei politisch engagiert. Einerseits erkennt McKnight eine Auseinandersetzung mit der politischen Orientierung, die im Zusammenhang von evangelikaler Frömmigkeit mit der Republikanischen Partei in den USA stehe. Andererseits betont er das gesellschaftspolitische Engagement emergenter Protagonisten. McKnight schildert den Versuch post-evangelikaler Menschen, einen Beitrag zum Gelingen eines gesellschaftlichen Miteinanders zu leisten. Sozial-ethische Themen, wie Armut, Gerechtigkeit, Krieg und Hunger kämen für die Konversation auf die Tagesordnung.134 1.4.1.2.3 Don Carson (2005) Obwohl Kritiker wie Don Carson die „Emerging Church“-Konversation als Protestbewegung zum US-amerikanischen Evangelikalismus sehen, beschreibt er sie in der zweiten historischen Phase doch als Teil des Evangelikalismus. Carson unterteilt den US-amerikanischen Evangelikalismus in drei Gruppen: (1) „confessional“, (2) „heterodox“ und (3) „middle ground“. Als „confessional“ beschreibt er bekenntnistreue Evangelikale. Sie seien: „[…] bible based and evangelical in their approach and still grounded in good theology […]“135. Für ihn befindet sich die Mehrheit emergenter Protagonisten in der Gruppe „heterodox“, wenn sie ihre Theologie unter postmodernen Bedingungen entwickeln, und für ihn damit Irrlehre produzieren. Die Kategorie „middle ground“ beschreibt eine balancierte Zwischenebene, worunter Carson „progressive Evangelikale“ (von Pally als „neue Evangelikale“ beschrieben) einordnet. Für die „Emerging Church“-Konversation stellt Carson fest, dass sie ein „Abfall vom rechten Glauben evangelikaler Theologie“ sei. Die Verbindungen zwischen US-amerikanischen evangelikalen Vertretern, Organisationen und Netzwerken mit der „Emerging Church“-Konversation
134 Scot McKnight nennt folgende Bücher für diesen Diskurs: Balmer, Thy Kingdom Come (2006). Kuo, Tempting Faith (2006). 135 http://vanguardchurch.blogspot.co.at/2007/02/da-carson-versus-emerging-church.html am 07.09.2009.
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1. Begriffe und Konzepte
sind seit dem Ende der zweiten historischen Phase und in der dritten historischen Phase zurückgegangen.136
1.4.2 Der „Megachurch“-Ansatz 1.4.2.1 Darstellung Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass „Megachurches“ („Megakirchen“) ein bedeutendes, erfolgreiches, neues Phänomen im US-amerikanischen Evangelikalismus, geprägt von der „Church Growth“-Bewegung, sind.137 „Megachurches“ stehen demnach für eine bestimmte organisatorische Form christlicher Gemeinde, also ein religiöses Organisationsmodell.138 Obwohl damit keine theo-
136 Das Abebben der Flut an Veröffentlichungen in dem renommierten US-amerikanischen evangelikalen Magazin „Christianity Today“ zeigt die entstandene Distanz des „mainline“-Evan�gelikalismus in den USA zur Konversation. Für eine Sammlung der erschienen Artikel siehe http://www.christianitytoday.com/ct/topics/e/emergent-movement/ am 11.02.2015. Scot McKnight, einer jener evangelikalen Theologen, die die Konversation zum Übergang in die dritte historische Phase verlassen haben, fasst es mit folgenden Worten zusammen: „Brian McLaren has grown tired of evangelicalism. In turn, many evangelicals are wearied with Brian.“ http://www.christianitytoday.com/ct/2010/march/3.59.html am 11.02.2015. 137 Daneben hat sich die religiöse Landschaft in den USA in den letzten Jahrzehnten durch die Ausbreitung der „Megachurches“ nachhaltig verändert. Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 286. In den USA ist seit den 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts ein Wachstum von „Megachurches“ erkennbar. Dazu ist auf die 24 Kennzeichen von Schaller hinzuweisen, der sich mit den Gründen der Entstehung dieses Phänomens beschäftigt. Schaller, „Megachurch“ (1990). Hierbei kann man nicht von einer Bewegung, sondern von einem Phänomen sprechen, wie Scott Thumma vorschlägt. Scott Thumma, führender „Megachurch“-Forscher, ist eine zentrale Referenzperson im Gespräch über Definition, Wachstum und Entwicklung dieses Gemeindemodells. Thumma: „Exploring the Megachurch Phenomena. Their Characteristics and Cul�tural Context“, Hartford Seminary, Hartford CT, (Hartford Institute for Religion Research), http://hirr.hartsem.edu/bookshelf/thumma_article2.html am 10.12.2014. Oder: Th umma / Travis, Beyond Megachurch Myths (2007). Darüber hinaus haben sie einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Kirche und Glaube, obwohl sie nur 0,5 % der religiösen Gemeinschaften in den USA ausmachen. Siehe dazu a. a. O., xvii. und a. a. O., 1. Etwa 53,8 % der „Megachurches“ haben eine Besucherzahl von 2000–2999 Personen. A. a. O., 8. 138 Dieses Organisationsmodell war sich in den letzten Jahren erheblichen Veränderungen ausgesetzt. Im folgenden Kapitel werden Charakteristika vorgestellt, die für die Auseinandersetzungen in der „Emerging Church“ wichtig geworden sind. Dies betrifft hauptsächlich den Zeitraum der ersten und zweiten historischen Phase der Konversation. Zudem muss festgestellt werden, dass es neben den hier vorgestellten Generalisierungen unzweifelhaft Ausnahmen gibt.
1.4 Missionstheologische Grundbegriffe
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logische Richtung definiert wird, ist besonders im US-amerikanischen und britischen Kontext der Evangelikalismus davon geprägt und damit verbunden.139 Der Missionstheologe Edward Gibbs beschreibt mit dem Begriff „megachurch factor“ jenen Umstand, dass bei der Forschung über Religiosität in den USA eine Auseinandersetzung mit „Megachurch“ unweigerlich notwendig ist.140 „Megachurch“ ist neben der Organisationsform ein Sammelbegriff für ein nationales, kirchliches Gefühl schlechthin, so Gibbs,141 und wird in der „Emerging Church“-Konversation als wesentliche Negativfolie gebraucht. Thumma meint über „Megachurch“-Ansätze, dass sie die „religious landscape in modern American society“ dominieren – und zwar nicht aufgrund ihrer Größe, sondern wegen ihrer Öffentlichkeitswirksamkeit. Er sagt weiter über sie: „[…] of their being an exemplary model for the new ways, churches are restructuring themselves and implementing new forms of religious life.“142 Der Begriff „Megachurch“ bedeutet „sehr große Kirche“, bezeichnet eine große lokale Gemeinde und bezieht sich nicht auf einen bestimmten Inhalt, eine theologische Orientierung oder Konfession.143 „Megachurches“ gibt es weltweit, für diese Arbeit wird jedoch der Fokus auf den US-amerikanischen Kontext gelegt.144 Das Hartford Institut für Religionsforschung schätzt, dass es
139 71 % der „Megachurches“ sind, laut einer Studie von 2011, Teil des US-amerikanischen Evange� likalismus (8 % „pentecostal“, 5 % „charismatic“, u. a.). Daneben sprechen Thumma und Travis davon, dass es vier Typen US-amerikanischer „Megachurches“ gibt. Zum einen jene „Mega�church“ (30 % der US-amerikanischen „Megachurches“), die an eine traditionelle Denomination gebunden ist (wie „Southern Baptist“ (etwa 20 %) oder „United Methodist“ (etwa 9 %)). Zum Zweiten die, die unabhängig oder „non-denominational“ sind (36 %) und damit weniger liturgisch gebunden. Zum Dritten betont er die Bindung an pfingstlerische und charismatische Traditionen (25 %) und viertens sogenannte „new paradigm“ „Megachurches“ (10 %), die eine Rückkehr zu altkirchlichen Formen betonen. Thumma / Travis, Beyond Megachurch Myths (2007), 31. 140 Gibbs, ChurchMorph (2009), 87–108. 141 A. a. O., 87. Siehe auch Rah, The Next Evangelicalism (2009), 96. 142 Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 194. 143 In diesem Kapitel werden die Begriffe „Kirche“ und „Gemeinde“ synonym verwendet und meinen eine lokale christliche Gemeinschaft und nicht eine größer verfasste, institutionalisierte Organisationsform. Der Begriff „Megachurch“ bezieht sich nicht auf eine Dachorganisation, hier ist „church“ verwirrend, sondern auf eine lokale Gemeinschaft. Der Begriff „Megachurch“ ist in weiterer Folge von der „Church Growth“-Bewegung zu unterscheiden. Während die Ge�meindewachstumsbewegung („Church Growth“) theoretische und wissenschaftliche Impulse zum (meist numerischen) Wachstum einer Gemeinschaft liefert, ist eine „Megachurch“ eine konkrete Gemeinschaft, die sich dieser Impulse bedienen kann, aber nicht muss. Zum Verhältnis von „Megachurch“ und „Church Growth Movement“ siehe Maier, Gemeindeaufbau als Gemeindewachstum (1995), 120–122. 144 Für die britische „Emerging Church“-Konversation spielt die Auseinandersetzung mit „Mega churches“ eine nachgeordnete Rolle.
160
1. Begriffe und Konzepte
in den USA ca. 1600 „Megachurches“ gibt.145 Diese Schätzung bezieht sich auf protestantische Kirchen in den USA.146 Eine „Megachurch“ ist zunächst dadurch charakterisiert, dass sie mit über 2000 Gottesdienstteilnehmenden pro Woche eher einer religiösen Organisation ähnelt als einer vertrauten Gemeinschaft.147 Dabei schafft sie es trotz starker Fluktuation ihre Mitgliederzahlen auf hohem Niveau zu stabilisieren.148 Paul Knox definiert: „The conventional definition of a megachurch is based on Protestant congregations that share several distinctive characteristics: 2000 or more persons in attendance at weekly worship; a charismatic senior minister; a seven-day-a-week congregational community; and multiple social and outreach activities.“149 Die wichtigsten Faktoren, welche die Gottesdienstbesucher binden, sind der „worship style“, der „senior pastor“ und, nach Thumma und Bird, die „church reputation“ sowie „music / arts“.150 Der Gottesdienst einer „Megachurch“ ist
145 Scott Thumma geht in seiner Untersuchung von 1250 „Megachurches“ für das Jahr 2007 aus, die von etwa 4,5 Millionen Menschen besucht werden. Das Hartford Institut für Religionsforschung errechnet (2011), dass, wenn es sich bei „Megachurches“ um eine Denomination handeln würde, sie zahlenmäßig die größte unter allen christlichen Gemeinschaften in den USA wäre. Thumma / Travis, Beyond Megachurch Myths (2007), 6. Siehe dazu Callahan (Hg.), Religious Leadership (2013), 103. 146 http://hirr.hartsem.edu/megachurch/definition.html am 22.10.2014. Unter „protestant cong�regation“ sind in dieser Schätzung protestantische Denominationen (lutherisch, reformiert, baptistisch, u. a.) aber auch Gemeinschaften ohne Dachorganisation, jedoch mit protestantischer Theologie, gemeint. An dieser Stelle soll lediglich auf die Vielfalt protestantischer Strömung verwiesen werden. Siehe dazu Noll, Protestantism (2011), 2–4. 147 Hier wird von „attendance“ gesprochen und nicht „membership“. Siehe dazu Thumma / Travis, Beyond Megachurch Myths (2007), xix. Thumma weiter: „The megachurch is more than just an ordinary church on steroids. The size of the organization has altered the features and characteristics of these congregations that make them distinctive.“ Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 195. 148 Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 287. Nach Kern und Schimank gelingt es Megakirchen in einem dreistufigen Prozess bei Interessenten eine starke Bindung aufzubauen. „Zunächst können die Megakirchen eine große Anzahl von Gläubigen zu einer unverbindlichen ‚Besichtigung‘ ihres Angebots bewegen. Auf dieser Grundlage wird sodann ein deutlich kleinerer Anteil dieser Interessenten, der aber zahlenmäßig im Vergleich zu konventionellen Gemeinden immer noch groß ist, dauerhaft eingebunden. Von ihnen wiederum fühlt sich schließlich ein größerer Teil zunehmend der Gemeinde verpflichtet und bringt sich entsprechend ein.“ A. a. O., 288. 149 Knox, Metrourbia, USA (2008). 150 Thumma, Exploring the Megachurch Phenomena. Kern und Schimank betonen: „Drei dieser vier Faktoren, mit Ausnahme der vagen ‚church reputation‘, verweisen klar auf eine affektive Ansprache. Demgegenüber spielt die ‚denomination‘, also die theologische und liturgische Ausrichtung der Gemeinde, nur eine untergeordnete Rolle.“ Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 294.
1.4 Missionstheologische Grundbegriffe
161
gekennzeichnet durch positive, praktisch anwendbare Predigten151, der Prediger ist ein „spiritual entrepreneur“, dessen Person mit der Organisation verschmolzen ist.152 „Megachurches“ sind aufgrund ihrer Größe und den baulichen Notwendigkeiten (neben einem Versammlungsraum / Gottesdienstraum, der einem Stadion ähnlich konstruiert ist, gibt es häufig eine eigene kleinstädtische Infrastruktur mit Kaffeehäusern, Kindergärten, Ausbildungsstätten, Altenheimen usw. auf dem Campus) in sogenannten „suburbs“ erbaut.153 Weiter kann über das Wachstum einer typischen „Megachurch“ ausgesagt werden: „Megachurches tend to grow to their great size within a very short period of time, usually in less than ten years, and under the tenure of a single senior pastor. Nearly all megachurch pastors are male, and are viewed as having considerable personal charisma.“154 Die zeitlich gesehen kurze Wachstumsdynamik geschieht oftmals unter dem Leiter, der auch Gründer dieser Gemeinschaft ist.155 Stellvertretend für den Leitungstyp können folgende prominente „Megachurch“- Leiter genannt werden: Rick Warren („Saddleback Church“ in Orange Coun151 Scott Thumma betont, dass fast alle „Megachurches“ eine konservative Theologie haben. 88 % der „Megachurches“ wählten als ihre theologische Orientierung „konservativ“, 48 % „evan�gelikal“, 11 % „pfingstlerisch“, 14 % „charismatisch“, 8 % „traditionell“, 3 % „seeker-sensitive“, 2 % „fundamentalistisch“ und 3 % andere. Keine Gemeinde beschrieb sich als „liberal“. Siehe dazu Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 196. 152 Diese Organisationsform zentralisiert Ressourcen und Energien. Beiträge in Gottesdiensten werden von Experten geplant und durchgeführt (z. B. dem „worship team“). Daneben wird der Einsatz von multimedialer Technologie für den Gottesdienst fruchtbar gemacht (Projektionsleinwände, Soundsysteme, Kunstinstallationen). „Die Struktur des Gottesdienstes wird entsprechend den massenmedial erzeugten Entertainment-Gewohnheiten der meisten US- Amerikaner so getaktet, dass keine Langeweile bei den Besuchern aufkommt.“ Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 304. Mehr als die Hälfte der „Megachur� ches“ sind „multi-site“, das heißt, es existieren mehrere Versammlungsräume, in denen der Gottesdienst übertragen wird. Callahan (Hg.), Religious Leadership (2013), 103. Eine Ausnahme stellt die Entwicklung von der „Willow Creek Community“ in den letzten Jahren dar, die die „Übertragungsorte“ zu eigenständigen Gemeinden entwickeln will. Zum Zusammenhang zwischen der Leitungsperson und der Organisation siehe Packard, The Emerging Church (2012), 36. 153 Laut Scott Thumma sind 45 % der Kirchen in neueren „suburbs“ und 29 % in älteren „sub�urbs“ errichtet. Thumma / Travis, Beyond Megachurch Myths (2007), 9. Sam Hey bestätigt für den australischen Kontext in seiner Untersuchung den suburbanen Charakter vieler „Mega� church“-Gemeinden. Hey, Megachurches (2013), 7–24. Siehe auch Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 196. Es zeigt sich eine optische Ähnlichkeit der Gebäude mit Einkaufszentren oder Kinos und der zurückhaltenden Verwendung christlicher Symbole (Kreuz, Altar). Aufgrund der Größe wird geistliches Leben und Gemeinschaft bevorzugt durch organisierte Kleingruppenarbeit gestaltet. 154 http://hirr.hartsem.edu/megachurch/definition.html am 22.10.2014. 155 Dem Seniorpastor kommen vor allem zwei Funktionen in der Gemeinde zu: die Entwicklung einer überzeugenden Vision und es wird erwartet, dass er mit seinen Predigten die Zuhörer begeistern kann. Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 301.
162
1. Begriffe und Konzepte
try, Kalifornien156), Joel Osteen („Lakewood Church“157) oder der ehemalige Leiter Bill Hybels („Willow Creek Community Church“ in Palatine, Illinois). Prominente Persönlichkeiten wie Warren oder Osteen sind medial vertreten, haben ihre eigenen „ministries“158 („Arbeitszweige“) und repräsentieren mehr als nur eine Gemeinde, sie repräsentieren ein Produkt und einen Lebensstil.159 Die Programmatik von Megakirchen zielt darauf ab, Mitgliedschaft attraktiv zu gestalten, in der „[…] die Gläubigen immer weniger merken sollen, dass sie sich in einem religiösen Kontext bewegen, der sie in bestimmter Hinsicht auch fordert.“160 Kern und Schimank stellen für viele Megakirchen eine systematisch konzipierte und implementierte Wachstumsstrategie fest. Sie sagen: Wachstum ist den Megakirchen vielmehr eine wertrationale, also um ihrer selbst willen verfolgte Idee. Der ideelle ‚Weichensteller‘ […], der das Wachstumsinteresse hervorbringt, ist die Vorstellung, dass Mitgliederwachstum ein ‚Wahrheitsbeweis‘ für die eigenen religiösen Überzeugungen und das daran orientierte ‚richtige‘ religiöse Handeln in der eigenen Gemeinde darstellt.161
„Megachurches“ werden nicht nur von den jeweiligen Besuchern wahrgenommen, sondern sind innovative Organisationen im Bereich Gottesdienst, Lobpreis und einer Vielzahl von kirchlichen Handlungsfeldern (oft diakonischer Art) für kleinere Gemeinschaften und die kirchliche Landschaft insgesamt. Beispielsweise waren „Megachurches“ die ersten Gemeinden, die Rockmusik und
156 http://saddleback.com am 02.12.14. 157 http://www.lakewoodchurch.com/Pages/Home.aspx am 02.12.14. Die „Lakewood Church“ in Houston, Texas, gilt nach Kern und Schimank mit über 40000 Gottesdienstbesuchern als größte Gemeinde in den USA. Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 286. 158 „Ministries“ sind ausgewählte kirchliche Arbeitszweige, zum Beispiel in Form sozial-diako�nischer oder evangelistischer Arbeit, die wie eine Marke forciert werden. Dahinter steht eine starke Leiterpersönlichkeit, die durch ihren Bekanntheitsgrad und Einflussbereich den Arbeitszweig fördert und bewirbt. 159 Soong-Chan Rah dazu: „Pastor’s conferences, books hyping the latest ministry idea, e-mails and other resources serve to provide a uniform range of ideas applied to all churches and ministry contexts.“ Rah, The Next Evangelicalism (2009), 93. Siehe auch Kern / Schimank, „Meg�akirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 300–301. 160 Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 289. Die Autoren weiter: „Stattdessen findet im Rahmen von Diakonie Geselligkeit, Freizeit, Sport, Therapie, politisches Engagement, Eheberatung, medizinische Selbsthilfe und anderes statt. Gleichzeitig wird die Seelsorge auf wenige einschneidende Lebensereignisse wie Geburt, Heirat, Krankheit und Tod zurückgedrängt und kommt selbst bei diesen Gelegenheiten, weil die Gläubigen entwöhnt sind, kaum zur Geltung. Darüber hinaus wird Seelsorge oft etwa mit Mitteln der Kunst oder Popkultur ‚eventisiert‘, um sie auch für die ‚religiös Unmusikalischen‘ unterhaltsamer zu machen.“ 161 A. a. O., 290.
1.4 Missionstheologische Grundbegriffe
163
Lobpreisbands für christliche Gemeinden salonfähig machten.162 „Megachurches“ zielen grundsätzlich nicht darauf ab, Tochtergemeinden zu gründen, sondern multiplizieren ihre Anliegen durch Kongresse, Seminare und Tagungen.163 „Megachurches“ sind hoch organisierte Unternehmen,164 die christliches Leben, Gottesdienst und christlichen Lebensvollzug wie eine Ware ihren Kunden anbieten. Christsein in den USA ist längst als eigene „Marke“ etabliert, worin „Megachurches“ einen erheblichen Beitrag leisten. Aus dem „Megachurch“-Phänomen ist der „seeker-sensitive“-Ansatz geboren.165 Damit ist gemeint, dass Menschen, die keine regelmäßigen Gottesdienstbesucher sind oder der Kirche und dem Glauben gegenüber fernstehen, ein zugänglicher, angenehmer Ort für eine Begegnung mit dem christlichen Glauben geboten wird. Ziel ist es, die kulturellen Hürden, die traditionelle Kirchen haben, abzubauen und den Menschen mit ihren (auch ästhetischen) Bedürfnissen zu begegnen.
1.4.2.2 Exkurs: Diskussion über „Megachurch“ Kritisch wird formuliert, dass „Megachurches“ Christsein als ein operationalisierbares Produkt präsentieren, das stark von marketingstrategischen Überlegungen geprägt ist.166 Christlicher Lebensvollzug wird auf nachvollziehbare
162 Callahan (Hg.), Religious Leadership (2013), 103. So auch: Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 287. 163 Wrogemann, Missionstheologien der Gegenwart (2013), 225–226. So fanden in Deutschland in den letzten 20 Jahren Willow-Creek Kongresse statt. Umgekehrt kommen Reisegruppen nach Chicago, um die Arbeit der „Willow Creek Community Church“ kennenzulernen. Für Willow Creek ist zu betonen, dass die Tochtergemeinden nicht mehr nur als „multi-site“-Ab�leger „verwaltet“ werden, sondern zunehmend Gemeinden in Eigenständigkeit werden. 164 Kern und Schimank sagen: „Die durchschnittliche US-Megakirche hat ein Jahresbudget von geschätzten 6,5 Millionen US-Dollar […], 60 Angestellte und knapp 3600 regelmäßige Gottesdienstbesucher […].“ Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 286. 165 Unter „seeker-sensitive“ versteht man eine besucherfreundliche Ausrichtung kirchlichen und hier besonders gottesdienstlichen Handelns. Besonders die „Megachurch“-Bewegung in den USA gestaltet ihr kirchliches Leben am religiösen Konsumenten orientiert. Beispiele hierfür sind „Willow Creek Community Church“ (Chicago) oder „Saddleback Church“ (Los Angeles). 166 Siehe Ellingson, The Megachurch and the Mainline (2008), 186. Der starke Zug zu Kategorisierungen in missionarischem Handeln findet sich beispielsweise bei McGravan (der sich an dieser Stelle auf Winter bezieht), der von E-0-Evangelisation spricht und die Arbeit unter Namenschristen und denjenigen meint, die schon zur Gemeinde gehören. Daneben gibt es die E-1-Evangelisation, die die Arbeit unter Nicht-Christen mit gleichen kulturellen Bedingungen meint, die E-2-Evangelisation, die sich an Nicht-Christen mit ähnlichem kulturellen Hintergrund richtet und die E-3-Evangelisation, die kulturübergreifend unter Nicht-Christen stattfindet. McGavran, Understanding Church Growth (1990), 48.
164
1. Begriffe und Konzepte
Schritte vereinfacht und attraktiv dargestellt, z. B. sieben Schritte zur Heilung, drei Schritte zur Buße usw.167 Ziel ist es, kulturell relevante Formen gottesdienstlichen und gemeindlichen Lebens zu schaffen, in denen Menschen sich wohlfühlen. Kern und Schimank sagen: „Die zentrale Leistung der Megakirchen für ihre Mitglieder besteht dann weniger im praktischen Vollzug bestimmter Liturgien und theologischer Bekenntnisse als in der Vermittlung spiritueller Erfahrungen.“168 Auf drei Stärken der „Megachurch“ soll in aller Kürze hingewiesen werden, nämlich einerseits ihre Innovationskraft und andererseits ihre Risikobereitschaft hinsichtlich der Adaption kulturrelevanter Elemente gemeindlichen Lebens sowie spiritueller Ausdrucksformen innerhalb der Organisation. Außerdem haben „Megachurches“ eine dominante missionarische Ausrichtung, die auf die Gewinnung von kirchlich-distanzierten Personen zielt. Auf der anderen Seite stehen sie unter dem Verdacht, eine homogene Gemeinde („same race, class and political preferences“169) anzuziehen und eine besucherorientierte „Gottesdienstshow“ zu veranstalten. Gottesdienstbesucher werden oftmals als religiöse Konsumenten verstanden, deren Bedürfnisse pragmatisch befriedigt werden sollen.170 Zudem wird die Abhängigkeit von charismatischen Leitern kritisiert, die den Pastor mehr als Entertainer denn als Hirten beschreiben. Schließlich zeigen Studien, dass eine „Megachurch“ darin begrenzt ist, über mehrere Generationen hinweg eine geistliche Heimat zu bieten.171
167 Kern und Schimank dazu: „Mit der dominanten Wachstumsausrichtung koppeln sich die Megakirchen von spezifischen theologischen Bekenntnissen der etablierten protestantischen Denominationen immer stärker ab. Fragen der richtigen Theologie und Liturgie treten in den Hintergrund.“ Weiter: „Die theologische Unterbestimmtheit dieser evangelikalen ‚doctrinal minimalists‘ ist der Wachstumsorientierung in dem Sinne förderlich, als niemand durch spezifische denominationale Zugehörigkeiten und Bekenntnisse ausgeschlossen wird.“ Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013), 291. Die Autoren führen weiter aus, dass der dogmatische Minimalismus vieler Megakirchen den Boden bereitet für ein umstrittenes „prosperity gospel“. „Physisches und psychisches Wohlbefinden sowie wirtschaftlicher Erfolg sind demzufolge zentrale Themen des Glaubens.“ A. a. O. 168 A. a. O., 292. 169 Thumma / Travis, Beyond Megachurch Myths (2007), 135. 170 Und das obwohl, nach Thumma, 96 % der untersuchten „Megachurches“ ihre Gemeindemit� glieder stark dazu anhalten, einen ehrenamtlichen Dienst in der Gemeinde zu übernehmen. Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 199. Rah dazu: „With the megachurch model becoming the model of evangelical church success, an overwhelming pragmatism began to shape ministry.“ Rah, The Next Evangelicalism (2009), 96. 171 Vgl. dazu Kern / Schimank, „Megakirchen als religiöse Organisationen“ (2013).
1.4 Missionstheologische Grundbegriffe
165
1.4.2.3 Bezug zur „Emerging Church“-Konversation Der Begriff und das Konzept einer Megakirche haben in der „Emerging Church“Konversation einen symbolischen Charakter und sind ein Platzhalter für eine Vielzahl von Dynamiken, die von emergenten Christen abgelehnt werden. Hierbei werden sicherlich die problematischen Aspekte vieler MegakirchenAnsätze als negative Folie herangezogen (Pastorenzentrierung, Glaube als operationalisierbares Produkt, Glaube als Lifestyle etc). Es fällt auf, dass in der Konversation vor allem in der ersten und zweiten historischen Phase Diskurse im Hinblick auf eine Abgrenzung zum Evangelikalismus und MegakirchenAnsätzen dominierten. Diese waren beispielsweise die Rolle der nachbarschaftlichen Bezüge emergenter Gemeinschaften, die Authentizität christlicher Nachfolge, die Operationalisierbarkeit christlichen Lebens u. a. Die vielen neueren Entwicklungen in dem US-amerikanischen und britischen Evangelikalismus und der Megakirchenkultur in den USA flossen nicht in die Konversation ein. Neuere Entwicklungen betreffen beispielsweise die Unterscheidung von religiösem und politischem Bekenntnis, die Veränderung der Organisationsformen, wie die Gründung von Tochtergemeinden, die Fokussierung auf nachbarschaftliche Wirkung etwa durch diakonische Angebote etc.172 Obwohl die Mehrheit der emergenten Protagonisten vormals in keiner „Megachurch“ Mitglieder waren,173 wird „Megachurch“ als institutionalisierte Religion schlechthin wahrgenommen.174 Für Packard heißt dies: „The megachurch can be understood as the ultimate triumph of modernity in organized religion.“175 Emergente Protagonisten kritisieren den Verlust notwendiger lokaler, flexibler, gemeinschaftsorientierter Sozialformen und individueller religiöser Glaubensentwicklung.176 Emergente Protagonisten beklagen eine Konzentration auf charismatische Leitungspersonen, wenden sich gegen spirituellen Pragmatismus und eine Operationalisierbarkeit religiöser Orientierung.
172 Vgl. zu den neueren Entwicklungen siehe Pally, Die neuen Evangelikalen in den USA (2010). 173 Packard, The Emerging Church (2012), 34. 174 Diese Wahrnehmung ist für den britischen Kontext nicht relevant. Exemplarisch weist etwa Tickle auf die Bedeutung der „Megachurch“ für die Konversation hin. Tickle, Emergence Christianity (2012), 63–64. 175 Packard, The Emerging Church (2012), 39. 176 „Emerging Church“-Gemeinschaften verneinen dieses zentrale Modell und verstehen sich als „hyperlocal congregations“. A. a. O., 33.
2. Definitionen des Phänomens „Emerging Church“
Der Zugang zum Phänomen „Emerging Church“ wird zunächst über Definitionsvorschläge gewählt. Es gibt eine Vielzahl von Definitionsversuchen und Ansätzen „Emerging Church“ innerhalb der Konversation zu beschreiben. Während beispielsweise Ray Anderson die Konversation als Ausdruck „postmoderner Mission“ versteht,1 konzentrieren sich andere Vorschläge auf Haltungen,2 Werte,3
1
Anderson definiert: „[…] emerging churches represent a contemporary expression of the firstcentury church’s existence and mission in a postmodern world“.Anderson, An Emergent The�ology for Emerging Churches (2006), 14. Auf ähnliche Art und Weise konstatieren Alan Hirsch und Michael Frost zwölf Prinzipien für „the emerging missional church“: „1. The missional church proclaims the gospel. 2. The missional church is a community where all members are involved in learning to become disciples of Jesus. 3. The Bible is normative in this church’s life. 4. The church understands itself as different from the world because of its participation in the life, death, and resurrection of its Lord. 5. The church seeks to discern God’s specific missional vocation for the entire community and for all of its members. 6. A missional community is indicated by how Christians behave toward one another. 7. It is a community that practices reconciliation. 8. People within the community hold themselves accountable to one another in love. 9. The church practices hospitality. 10. Worship is the central act by which the community celebrates with joy and thanksgiving both God’s presence and God’s promised future. 11. This community has a vital public witness. 12. There is a recognition that the church itself is an incomplete expression of the reign of God.“ Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 11 f. 2 Tim Conder’s Definition einer „Emerging Church“-Gemeinschaft ist angelehnt an Gibbs’ und Bolgers Untersuchung und beschreibt die Haltungen einer Gemeinschaft als „rule of life“: „(1) The pursuit of the gospel expressed and explained in community; (2) A passion for living out the values of Jesus’ kingdom in the present; (3) Comfort with mystery and uncertainty; (4) A spiritual holism that calls forth a radical and comprehensive discipleship; (5) A reading of Scripture that intersects with local stories and contexts; (6) An experiental approach to both worship and the pursuit of truth; (7) A ministry that honors the beauty of God’s creation and the creative spirit found in humanity.“ Conder, The Church in Transition (2006), 25. 3 Doug Pagitt etwa erläutert die „passions and perspectives“ („Leidenschaften und Perspek� tiven“) der „Emerging Church“-Konversation: „(1) Emerging Churches strive to be positive about the future, (2) Churches within the emerging community are committed to God in the way of Jesus, (3) The Kingdom of God is a central conversation in emerging communities, (4) The emerging church values communal life – living like family, (5) Emerging Churches seek to live as missional communities, (6) Friendship and hospitality are transformational pieces in the emerging church, (7) Communities in the emerging movement value theology.“ http://www.relevantmagazine.com/god_article.php?id=6365&print=true am 17.10.2007.
2. Definitionen des Phänomens „Emerging Church“
167
Überzeugungen,4 Inhalte5 oder Organisationsstrukturen, die als Kennzeichen ausgemacht werden können.6 Dabei konzentrieren sich soziologische Untersuchungen vorwiegend auf Merkmale emergenter Gemeinschaften, vernachlässigen jedoch den Online-Diskurs und somit den Netzwerk-Charakter der Konversation. Während in der „Emerging Church“ selbst seit Beginn der Konversation über Charakteristika, Merkmale und Definitionen diskutiert wurde, wurde der Begriff „Emerging Church“ in seiner Vielfalt erst gegen Ende der zweiten und zum Beginn der dritten historischen Phase in Enzyklopädien und Lexika aufgenommen.7 4 Liederbach und Reid wählen einen Zugang über die Definition von sechs Überzeugungen, die in der „Emerging Church“-Konversation geteilt werden: „vintage (or historic faith), mis�sional emphasis, holistic orthopraxy, communal authenticity, contextual relevance, and postevangelical movement“. Siehe dazu Liederbach / Reid, The Convergent Church (2009), 86–97. Tom Sine schlägt acht Charakteristika emergenter Gemeinschaften vor: Erstens herrscht wenig Interesse an propositionalen, dogmatischen Zugängen zu Theologie und christlichem Leben. Dagegen wird das Evangelium als Narrativ verstanden. Zweitens werden kreative, innovative Wege erkannt um sich auf die Kultur und den Kontext vor Ort einzulassen. Drittens zeigen sich experimentelle, visuelle und sinnliche Versuche den Glauben auszudrücken. Viertens werden alte und neue Symbole gleichwertig und gleichzeitig in Lobpreis und gottesdienstlichen Ausdruck verwendet. Fünftens werden Menschen zu einem authentischen und holistischen Zugang zum Glauben eingeladen. Sechstens wird Mission als ein sich Einbringen und Einflussnehmen auf eine ortsgebundene Gemeinschaft verstanden. Siebtens sind emergente Gemeinschaften organisch und beziehungsorientiert, dabei lehnen sie Hierarchien ab. Achtens, zeigt sich eine Identifikation mit dem Bestreben nach Gerechtigkeit in sozialen Belangen, Widerstand gegen Ungleichheit und Bewahrung der Schöpfung. Dies zeigt sich in der Außenorientierung, um auf die Nöte dieser Welt zu antworten. Sine, The New Conspirators (2008), 39. Fuller / Sanders, „Tom Sine on the New Conspirators“, in: Homebrewed C hristianity (Podcast) 01.08.2008, https://homebrewedchristianity.com/2008/08/01/tom-sine-on-the-newconspirators-homebrewed-christianity-ep18/ am 28.12.2016. 5 Für Moritz werden „Emerging Churches“ durch folgende Stichworte definiert: „(1) a rejection of modernist dichotomies such as matter / spirit, truth / value, science / religion and sacred / secular; (2) a claim that individualism and consumerism are forces of alienation in urban society and contemporary Christianity; (3) a desire to retrieve ancient liturgical and devotional practices that reflect authentic community living; (4) valuing multi-media, multi-sensory communal worship; and (5) a disdain for systematic theology.“ Zitiert in: Teusner, „Imaging Religious Identity“ (2010), 114. Vgl. dazu Moritz, „Beyond Strategy “ (2008), 30–32. 6 Vgl. dazu Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011). 7 So zum Beispiel: Leonard, Art. „Emerging Church Movement“ (2012). Brekus / Gilpin (Hg.), American Christianities (2011), 372. Ryan Bolger und Shawn Landres beschreiben unter dem Begriff „emergent religion“ die Konversation in: Juergensmeyer / Roof, Encyclopedia of Glo�-
168
2. Definitionen des Phänomens „Emerging Church“
Die Aufnahme der „Emerging Church“-Konversation in die „Encyclopedia of Religion in America“ spiegelt den Einfluss dieser Konversation gegen Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend in der US-amerikanischen religiösen Landschaft wieder.8 Unter dem Begriff „Emerging Church Movement“ definiert Warren Bird die Konversation in eben jener Enzyklopädie folgendermaßen: „The emerging church movement is a loosely aligned conversation among Christians who seek to re-imagine the priorities, values and theology expressed by the local church as it seeks to live out its faith in postmodern society. It is an attempt to replot Christian faith on a new cultural and intellectual terrain.“9 Der erste Teil der Definition fasst das Grundanliegen der Diskussion zusammen, nämlich eine Neuevaluierung, eine Erneuerung oder wie Bird sagt „re-imagine“ („ein sich neu ausmalen und ausdenken“) ortsgemeindlicher Wirklichkeit, wie sie in den Werten, dem Wirken, ihren Prioritäten und ihrer Theologie sichtbar wird. Grund für diese Neuorientierung ist ein neues kulturelles und intellektuelles Terrain, die Postmoderne.10 Die „Emerging Church“-Konversation entzündete sich als eine Diskussion um lokales gemeindliches Handeln und ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Sichtbar wird die „Emerging Church“ als Konversation, also als netzwerkartiger Kommunikationsraum. Dadurch ergibt sich gemäß Bird in einem zweiten Teil der Definition eine zweifache inhaltliche Betonung in der „Emerging Church“-Konversation: (1) „[…] an eagerness to explore new ways of articulating and living out their faith“ und (2) „central emphasis on Jesus“.11 Mit dieser Definition kann die „Emerging Church“-Konversation, wie bereits geschildert, als „gelebte Religion“ im Kontext christlicher Religiosität beachtet werden. Eine weitere Spezifizierung wird von Gallagher und Newton geboten. Sie schildern „Emerging Church“ als: bal Religion (2011), 339–341. Auch wird „Emerging Church“ in dem Kapitel „Innovations in Religion“ bei Putnam und Cambell verhandelt. Putnam / Campbell, American Grace (2010), 161–179. Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006). 8 Es findet sich auch ein Beitrag im „Handbook of Denominations in the United States“ unter dem Begriff „Emergent Village“, der an dieser Stelle nicht behandelt werden soll, da sich der Artikel nicht auffallend von dem hier besprochenen unterscheidet. Atwood, Art. „Emergent Village“ (2010). Oder auch Mallinson, Art. „The Emergent Church“ (2016). Im britischen Kontext ist ein fachwissenschaftlicher Umgang durch die Aufnahme in Enzyklopädien und Handbücher mit der Konversation nicht beobachtbar. 9 Bird, Art. „Emerging Church Movement“ (2010). 10 Es wird die Überzeugung geteilt, dass das „Christendom“ durch die Postmoderne ersetzt wurde. Emergente Christen erleben, dass der christliche Glaube für die „Baby Boomer“-Generation nicht relevant gemacht wurde. 11 Siehe Bird, Art. „Emerging Church Movement“ (2010), 682–683.
2. Definitionen des Phänomens „Emerging Church“
169
[…] an experimental and eclectic expression of Christianity that is distinctly engaged in conversation with a postmodern culture, suspicious of institutions and tradition, and yet broadly evangelical and relational in its theology. Churches within this movement (what proponents describe as a ‚conversation‘) envision themselves as engaged in the deconstruction and reconstruction of ‚authentic faith‘ and service within a postmodern and global society.12
Die Autoren weisen darauf hin, dass „deconstruction“ und „reconstruction“ wesenhafte Mechanismen hinsichtlich einer „authentischen“ christlichen Religiosität sind. Damit wird die Aufmerksamkeit auf Merkmale gerichtet, die vergleichbar in Dekonversionsprozessen eine Rolle spielen. Im Folgenden wird einem religionssoziologischen Definitionsvorschlag gefolgt, der einerseits Gallaghers und Newtons Spezifizierung aufnimmt und noch stärker beim Individuum, also beim emergenten Protagonisten als „human living document“ ansetzt.13 Damit können verschiedene Kristallisationspunkte der Konversation in Online-Diskursen sowie in Gemeinschaften angemessen erfasst werden. Die Religionssoziologen Ganiel und Marti definieren die „Emerging Church“ ausgehend von den Individuen, die an der Konversation teilnehmen, folgendermaßen: We […] define Emerging Christians in terms of sharing a religious orientation built on a continual practice of deconstruction. We characterize the ECM [Emerging Church Movement] as an institutionalizing structure, made up of a package of beliefs, practices, and identities that are continually deconstructed and reframed by the religious institutional entrepreneurs who drive the movement and seek to resist its institutionalization. As such, the ECM is best seen as a mix of both reactive and proactive elements, vying for the passion and attention of Christians and nonbelievers. Emerging Christians react primarily against conservative / evangelical / fundamentalist Protestantism but also against other forms of traditional Christianity that they have ex-
12 Gallagher / Newton, „Defining Spiritual Growth“ (2009), 243. 13 Auch Tickle setzt beim emergenten Individuum an, wenn sie schildert was emergente Protagonisten gemeinsam haben: „[…] deinstitutionalization; nonhierarchical organization; a comfortable and informed interface with physical science; dialogical and contextual habits of thought; almost universal technologically savvy; triple citizenship with triple loyalities and obligations; a deeply embedded committment to social justice with an accompanying, though largely unpremeditated, assumption of all forms of human diversity as the norm; and the vocation toward greenness.“ Tickle, Emergence Christianity (2012), 137. Bei Tickle werden die einzelnen Elemente jedoch nicht, wie bei Ganiel und Marti, als eine übergreifende Orientierung dargestellt.
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2. Definitionen des Phänomens „Emerging Church“
perienced as stifling or inauthentic. At the same time, they proactively appropriate practices from a range of Christian traditions to nourish their individual spirituality and to enhance their life together as communities.14
Es kann festgehalten werden: Emergente Protagonisten teilen eine gemeinsame Orientierung, deren Bedingungen auf kontinuierliche Dekonstruktionsprozesse zurückzuführen sind, die Ähnlichkeit zu dekonversiven Prozessen haben. Daneben haben emergente Entrepreneure eine bedeutende Rolle die Diskurse zu fördern. Zugleich ist Widerstand gegen Institutionalisierungsprozesse der Konversation integriert und Protagonisten reagieren auf religiös-biographische Suchbewegungen. Auf der Grundlage dieser Definition, die die spezifische Perspektive dekonversiver Prozesse wahrnimmt, wird nach der Darstellung der Themen und Motive die Verhältnisbestimmung zu dekonversiven Prozessen diskutiert.
14 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 25–26.
3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
Nachdem eine begriffliche Abgrenzung zwischen dem Begriff „Emerging Church“ und anderen Begriffen (sowie konkurrierenden Bezeichnungen) vorgenommen wurde, wird in diesem Kapitel die historische Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation dargestellt. Die Entwicklung wird unter spezieller Berücksichtigung des US-amerikanischen und britischen Kontextes, seit den 1990er-Jahren bis zu Beginn der 2010er-Jahre, vorgestellt.1 Damit ist eine wesentliche Erkenntnis über die „Emerging Church“-Konversation postuliert, nämlich, dass es sich um zwei Traditionsstränge handelt: jenen in den USA und jenen in Großbritannien. Da von diesen beiden Ländern die größten Einflüsse herrühren, werden sie im Mittelpunkt stehen, dabei jedoch nur jene Impulse, die in Primär- und Sekundärliteratur der „Emerging Church“-Konversation
1
Erstmals taucht der Begriff im Zusammenhang mit Kirchen- und Gemeindeentwicklung in den 1960er-Jahren des 20. Jahrhunderts auf. Wilkins / Kalt, The Emerging Church (1968); Kalt / Wilkins, The Emerging Church (1968). Neben einigen katholischen Veröffentlichungen, die den Begriff „Emerging Church“ ver�wenden, ist das Buch „The Emergent Church: The Future of Christianity in a Postbourgeois World“ (1981) von Johann Baptist Metz für die Begriffsgeschichte wesentlich, so Andrew Jones, prominenter Blogger in der „Emerging Church“-Konversation. Siehe dazu Andrew Jones Blog: http://tallskinnykiwi.typepad.com/tallskinnykiwi/2009/11/3things-the-emerging-church-took-from-the-catholics.html am 12.09.2014. Metz diagnostiziert das Bedürfnis nach einer erneuten Reformation für die westliche Kultur. Er kündigt eine Reformation der Sinne für die Protestantischen Kirchen, eine Reformation der Gnade für die Katholische Kirche und eine neue Form von Gerechtigkeit in Gesellschaft und Politik an. Metz meint, dass die „emergent church“ als demokratische Basisorganisation diese Reformationen einläuten wird. Als katholischer Theologe verfasst er seine Anliegen im Nachklang des Zweiten Vatikanischen Konzils. In der Deutschen Katholischen Kirche wird nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil das Bedürfnis nach „Kirche von unten“ offenbar. In diesem Kapitel werden etwa die Einflüsse US-amerikanischer evangelikaler Theologie auf die „Emerging Church“-Konversation bis in die 1990er-Jahre nicht berücksichtigt. In Abschnitt II Kapitel 1.4.1.2 Das Verhältnis des Evangelikalismus zur „Emerging Church“-Konversation wird zwar auf eine Verortung der „Emerging Church“-Konversation in dem US-amerikanischen Evangelikalismus hingewiesen, dies jedoch in aller Kürze. Für eine genauere Darstellung beginnend mit Hiley Wards Buch „Religion 2101 A.D“ (1975) siehe den dreiteiligen Blogbeitrag unter: http://herescope.blogspot.de/2009/05/emergingchurch-circa-1970.html am 16.10.2014.
172
3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
prominent vertreten sind.2 In einem Exkurs soll die historische Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Deutschland dargestellt werden.
3.1 Die drei Phasen der „Emerging Church“-Konversation Zunächst muss festgestellt werden, dass die geschichtliche Entwicklung in den USA und in Großbritannien unterschiedlich verlief und aus diesem Grund verschieden dargestellt wird. Während für die USA von drei historischen Phasen der „Emerging Church“-Konversation gesprochen werden kann, können die Phasen für Großbritannien nur in abgeschwächter Weise übertragen werden. Abgeschwächt, weil die Konversation einerseits weniger populär war und andererseits durch die Entwicklungen der fxC-Bewegung an den Rand gemeindlicher und kirchlicher Interessen gerückt wurde. Deshalb werden die Entwicklungen in Großbritannien anhand von wesentlichen Impulsgebern, Veröffentlichungen und Veranstaltungen dargestellt.
2
Besonders die „Emerging Church“-Konversation im Kontext des US-amerikanischen Evange�likalismus und der Anglikanischen „low church“ Großbritanniens wird fokussiert. Der Ein� fluss auf die US-amerikanische „mainline church“ und die Anglikanische „high church“ ist für die Entstehungsgeschichte zweitrangig. Der Einfluss der Konversation etwa auf die „mainline church“ wird im Rahmen der Wirkungsgeschichte beleuchtet. Siehe Abschnitt II Kapitel 9.4 Emergente Gruppen und Gemeinschaften in verfassten religiösen Organisationen. Während präzise quantitative Zählungen für emergente Gemeinschaften und die Größe der Konversation nicht verfügbar sind, kann gesagt werden, dass die Konversation in den USA, Kanada, Großbritannien, Australien und Neuseeland präsent ist. Für eine genauere Darstellung der „Emerging Church“-Konversation in Kanada siehe Stude�baker / Beach, „Emerging Churches in Post-Christian Canada“ (2012). Bibby / Russell u. a., The Emerging Millennials (2009). Obwohl etwa der australische Missionswissenschaftler Michael Frost und der in Südafrika geborene australische Theologe Alan Hirsch wesentliche Protagonisten für die Fragestellung dieser Arbeit sind, bekommen Australien oder andere von westeuropäischer Ideengeschichte geprägte Länder keinen besonderen Stellenwert in dieser Arbeit. Dies ist damit zu begründen, dass die wesentlichen Impulse der Konversation bisher aus dem anglo-amerikanischen Raum kommen, auch dann wenn sie beispielsweise von Hirsch oder Frost ausgehen. An dieser Stelle soll auf zwei Protagonisten in Australien neben Michael Frost hingewiesen werden. In Australien und Neuseeland waren es Mike Ridell und Mark Pierson, die ab 1989 eine Vorreiterrolle in der „Emerging Church“-Konversation einnahmen. 2000 erschien das Buch „The Prodigal Project“, in dem die Autoren über die Wut, Enttäuschung und Desillusionierung innerhalb traditioneller evangelikaler Gemeinden reflektierten. Siehe dazu Riddell / Pierson u. a., The Prodigal Project (2000). Für eine ausführliche Darstellung der „Emerging Church“Konversation in ihrer Anfangszeit in Australien und Neuseeland siehe Guest / Taylor, „The Post-Evangelical Emerging Church“ (2006). Und Herring, „Steve Taylor, Part One“, in: E-merg (Podcast); Herring, „Steve Taylor, Part Two“, in: E-merg (Podcast).
3.1 Die drei Phasen der „Emerging Church“-Konversation
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Ich folge Tony Jones’ Dreiteilung für die USA in der geschichtlichen Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation.3 Jones stellt fest, dass die erste Phase die 1990er-Jahre des 20. Jahrhunderts betrifft. Die zweite Phase beginnt zum Jahrtausendwechsel und endet für ihn mit dem Aufgeben der offiziellen Leitungsstruktur des Netzwerks „Emergent Village“ 2009. Seitdem befindet sich die Konversation in der dritten Phase. Diese Arbeit stützt sich insofern auf Jones Ergebnisse, als ebenfalls drei Phasen ausgemacht werden, dafür aber leicht veränderte Zeithorizonte. • Für die erste Phase der Konversation wird Jones gefolgt, der Unzufriedenheit jüngerer christlicher Leiter im US-amerikanischen Evangelikalismus in den 1990er-Jahren feststellte.4 Dabei ist der Beginn der ersten Phase nicht genau festzustellen und damit als fließend zu bestimmen. • Während Jones den Übergang in die zweite Phase mit dem Jahr 2000 bestimmt und sich damit an dem Beginn der Flut von Veröffentlichungen orientiert, meine ich, dass durch die Einführung des Begriffs „emerging church“ 1999 durch Karen Ward bereits eine Zäsur auszumachen ist. Die Zäsur wird durch einen identitätsstiftenden Begriff, der die Konversation prägt, eingeleitet. • Jones ist zuzustimmen, wenn er zwischen 2008/2009 und 2010 eine dritte Phase angebrochen sieht.5 Jones begründet dies mit der veränderten Leitungsstruktur des „Emergent Village“-Netzwerks. Für die dritte Phase war die Dezentralisierung der nationalen Koordinationsposition am 31. Oktober 2008 ein wesentlicher Meilenstein.6 Die Stelle als nationaler Koordinator, die Tony Jones bis dahin innehatte, wurde aufgegeben. Eine dritte Phase seit 3 Jones, The Church is Flat (2011), 44–50. 4 Dies ist besonders für den US-amerikanischen Raum nachvollziehbar. Für den britischen Kontext ist dies nicht auf die 1990er-Jahre festzulegen, da die Schnittmengen zu anderen Bewegungen (wie etwa „alt.worship“ oder den Vorläufern der fxC-Bewegung) bereits in den 1980er-Jahren in Personen und Inhalten deutlich sind. 5 So auch Bill Dahl in Dahl: „The Decline of the Emerging Church?“, http://www.billdahl.net/ articles/the-decline-of-the-emerging-church/ am 12.10.2014. Oder auch Brian LePort https:// nearemmaus.wordpress.com/2009/12/29/the-end-of-the-emergent-church/ am 29.12.2016, Ian Mobsby http://www.ianmobsby.net/so-what-is-happening-with-the-emerging-church-in-theuk-in-2010/ am 29.12.2016. So auch Breznau, der in seiner Untersuchung vom Aufstieg und Fall der „Emerging Church“-Konversation spricht. Breznau, „Emerging from the Emergent“. Shields: „Ten Years Out. A Retrospective on the Emerging Church in North America“, http:/// www.the-next-waveezine.info/issue121/index.cfm?id=44+ref=COVERSTORY am 18.03.2010. Relevant, „The End of the Emergent Movement? A Look Back at the Controversial Movement’s History and Forward to its Uncertain Future“ (2010). Viola: „Will the Emerging Church Fully Emerge?“, http://frankviola.net/emergingchurch/ am 02.05.2018. 6 http://www.christianitytoday.com/ct/2009/january/6.13.html am 11.02.2015. Oder auch Hall, „Is the Emerging Church Movement Waning? Deacon Hall’s Response“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 10.01.2010, https://homebrewedchristianity.com/2010/01/10/is-theemerging-church-movement-waning-deacon-halls-response/ am 28.12.2016.
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
2008/2009 ist weiter damit zu begründen, dass sich in diesem Zeitraum etwa der in den USA lebende prominente neuseeländische Blogger Andrew Jones7 und die einflussreichen emergenten Protagonisten Dan Kimball8, Mark Driscoll9, Scot McKnight10, Leonard Sweet11 oder auch Alan Hirsch12 von der Konversation abgewandt haben.13 Zuletzt sei auf den Einfluss der 7 Andrew Jones hat einen provokativen Artikel geschrieben, der ein Nachruf auf die „Emerging Church“-Konversation ist. „2009 marks a turning point for the emerging church. Its difficult to make broad statements about a movement that hit each country at different times, in successive waves, and at different places. […] In my opinion, 2009 marks the year when the emerging church suddenly and decisively ceased to be a radical and controversial movement in global Christianity. In many places around the world, the movement has already been either adopted, adapted, or made redundant through the traditional church catching up or duplicating EC efforts. In some countries there have been strategic partnerships during 2009 or a significant r ethinking process that has led to a new level of maturity, a sense of completion, or an re-evaluation of original vision and current practices. In 2009, the emerging church either grew up, stopped being offensive, switched gear from experimental to normal, became the new mainstream, or a bit of each.“ Siehe http://tallskinnykiwi.typepad.com/tallskinnykiwi/2009/12/emerging-churchmovement-1989---2009.html am 12.10.2015. Tony Jones wendet sich gegen Andrew Jones und spricht von einer neuen Phase. http://www.patheos.com/blogs/tonyjones/2009/12/30/lonniefrisbee-and-the-non-demise-of-the-emerging-church/ am 29.12.2016. 8 „The word no longer communicates what I want it to“, sagte er „so even though I will still be in support of emerging church ventures […] I will no longer be using the word for myself and the ministries that we support.“ http://www.christianitytoday.com/ct/2009/january/6.13.html am 11.02.2015. „Christianity Today“ berichtete am 22. Februar 2008 davon, dass Shane Claiborne aus einem Vortrag an einer baptistischen Schule ausgeladen wurde, da die „Emerging Church“Konversation im US-amerikanischen Evangelikalismus zunehmend als liberal verstanden wurde. http://www.christianitytoday.com/ct/2008/februaryweb-only/107-22.0.html am 11.02.2015. 9 Vgl. Driscoll in http://www.Equip.org/articles/navigating-the-emerging-church-highway am 26.09.2014. Ausführlich bespricht Driscoll seine Rückkehr zu theologischen konservativen Positionen. Driscoll, Religion Saves. And Nine Other Misconceptions (2009), 209–242. 10 McKnight dazu: „If evangelicalism is characterized by David Bebbington’s famous quadri�lateral – that is, biblicism, crucicentrism, conversionism, and activism – then Brian [McLaren] has poked and, to one degree or another, criticized, deconstructed, and rejected each.“ http:// www.christianitytoday.com/ct/2010/march/3.59.html am 11.02.2015. 11 Leonard Sweet über die „Emerging Church“-Konversation: „The emerging church has become another form of social gospel. And the problem with every social gospel is that it becomes all social and no gospel. All social justice and no social gospel. It is embarrassing that evangelicals have discovered and embraced liberation theology after it destroyed the main line, old line, side line, off line, flat line church.“ Stetzer, „The Emergent / Emerging Church. A Missio� logical Perspective“ (2008), 71. 12 http://www.theforgottenways.org/blog/2008/06/23/missional-the-new-emergent-not-on-myshift/ am 12.10.2014. 13 Der Theologe Scot McKnight und der Pastor Mark Driscoll, beide einflussreiche Protagonisten in der Konversation, traten in einer öffentlichen Debatte aus dem Diskurs aus und distanzierten sich von den Aussagen und Praktiken bedeutender Leiter wie Rob Bell, Brian McLaren oder Pete Rollins. Deutliche Kritik von McKnight siehe http://www.christianitytoday.com/ct/2008/september/38.59.html am 10.02.2015.
3.2 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in den USA
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Veröffentlichungen von Rob Bell, „Love wins“14 (2011), und Brian McLaren, „A New Kind of Christianity“15 (2010) in der dritten Phase hinzuweisen, die darauf hindeuten, dass viele Protagonisten des gemäßigten Flügels zu diesem Zeitpunkt die Konversation verlassen haben.16 Außerdem ist die dritte Phase dadurch gekennzeichnet, dass die „Emerging Church“-Konversation zu einem Kampfbegriff im US-amerikanischen Evangelikalismus geworden ist.17
3.2 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in den USA Die „Emerging Church“-Konversation ist in den USA aus dem evangelikalen „Leadership Network“ (LN) in den 1990er-Jahren hervorgegangen.18 Dieses 14 Die Bedeutung dieses Buches wird unter anderem bestätigt von: Leonard, Art. „Emerging Church Movement“ (2012). 15 Brian McLaren formuliert das Anliegen der „Emerging Church“-Konversation für das Eintreten in die dritte historische Phase mit zehn Fragen für die Konversation: „1. Narrative – What is the shape of the biblical narrative? 2. Authority – How is the Bible authoritative? 3. God – Is God violent? How do we deal with violent Bible passages? 4. Jesus – Why is he important? 5. Gospel – What is the Gospel? Do Jesus and Paul have the same one? 6. Church – What do we do about the church? 7. Sexuality – How do we deal with sexual issues – including, but not limited to, homosexuality? 8. Eschatology – Can we find a better vision for the future? 9. Pluralism – How should followers of Jesus relate to people of other religions? 10. What-dowe-do-now? How do we continue these conversations without killing each other?“ McLaren, A New Kind of Christianity (2010). 16 Auch Phillis Tickle beschreibt 2010 als einen Bruch in der „Emerging Church“-Konversation. Tickle, Emergence Christianity (2012), 181–190. 17 Sarah Pulliam Bailey dazu: „Top Three Adversaries of Christian Conservatives: Communism, Islam … and the Emergent Church?“ http://www.christianitytoday.com/gleanings/2013/au�gust/values-voter-summit-emergent-church-america-adversary.html am 11.02.2015. Es kann festgestellt werden, dass die „Emerging Church“-Konversation im Laufe der zweiten und dritten historischen Phase so weit von den Themen und Überzeugungen evangelikaler Theologie abgerückt ist, dass evangelikale Überzeugungen zu einem „Anathema“ geworden sind, wie Ganiel und Marti sagen. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 167. 18 Das LN ist ein Forum hochrangiger christlicher Führungskräfte und Managementexperten, das von Bob Buford gegründet wurde. Das Anliegen ist es, Leitungsfragen und bibelorientierte Spiritualität zu verbinden. Dieses Forum spielte bei der Ausrichtung vieler Leiter der Gemeindewachstumsbewegung eine entscheidende Rolle. Der emergente Chronist Andrew Jones schrieb, dass 1994 das Jahr war, in dem für US-Amerikaner „the tickle became a stream“. Siehe http://tallskinnykiwi.typepad.com/tallskinnyskiwi/2009/12/emerging-church-movement-1989---2009.html am 12.10.2015.
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
Netzwerk verantwortete das „Young Leaders Network“ (YLN), aus dem bei einer Konferenz 1997 („Gen-X 2.0“) eine neue, lose Plattform hervorging; die Geburtsstunde der „Emerging Church“-Konversation.19 1997 wurde Doug Pagitt, vormals Jugendreferent einer prominenten evangelikalen Gemeinde in Minnesota, leitender Angestellter des „Young Leaders Network“. YLN hatte drei fundamentale Anliegen:20 • Zum Ersten wurde eine substanzielle Kritik am konservativen Evangelikalismus geäußert. Protagonisten meinten, dass konsumentenorientiertes Handeln in christlicher Gemeinschaft (wie es in „Megachurch“-Ansätzen erlebt und beobachtet wurde) „authentisches“ und „relevantes“ Christsein ersetzte.21 Protagonisten in YLN wollten die „evangelikalen“ Meinungen zu Politik (Politisierung der Religion), Theologie, Gottesdienst, Evangelisation und Ekklesiologie nicht mehr als gegeben hinnehmen, sondern im Licht aktueller gesellschaftlicher Veränderungen diskutieren.22 • Zum Zweiten sollten die Wahrnehmungen von Protagonisten diskutiert werden, die einen wachsenden kulturellen Spalt zwischen den in den 1980erund den in den 1990er-Jahren Geborenen sahen. Ein weiterer Spalt wurde zwischen den Unkirchlichen und den religiös (evangelikal) Sozialisierten ausgemacht. „[…] they wanted to address what they considered a detrimental problem facing the future of U.S. Christianity: a cultural dissonance between Gen-Xers and Millenials and the organization, style, priorities, and assumptions of 20th-century-evangelicals.“23 • Zum Dritten waren sie davon überzeugt, dass ein Paradigmenwechsel von „modern“ hin zu „postmodern“ stattfand.24 Dies sollte weitreichende Fol19 Siehe dazu Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 32. Unterstützt wurden die ersten YLN-Konversationen von „Leighton Ford Ministries“ und „Inter�Varsity Christian Fellowship“, zwei großen evangelikalen Netzwerken für Jugend- und Studenten�arbeit in den USA. Zu finden bei Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 23. 20 Bielo, „Belief, Deconversion, and Authenticity Among U.S. Emerging Evangelicals“ (2012), 261–262. 21 Die Kritik zielt dabei besonders auf Ansätze in der „Megachurch“-Szene. Siehe dazu genauer Abschnitt II Kapitel 1.4.2 Der „Megachurch“-Ansatz. 22 Impulse von im US-amerikanischen Evangelikalismus prominenten Autoren wie Greg Boyd halfen dabei evangelikale Glaubensinhalte und Auffassungen kritisch zu diskutieren. Greg Boyd distanzierte sich als evangelikaler Theologe etwa davon, politisch an ein republikanisches Bekenntnis gebunden zu sein. Siehe dazu Boyd, The Myth of a Christian Nation (2005). Dies hat Marcia Pally inzwischen für weite Teile der US-evangelikalen Bewegung gezeigt. So sind beispielsweise die „Willow Creek Commuity“ und die „Saddleback Church“ durchaus Vorreiter für politisch nicht im rechten Lager beheimatete evangelikale Kirchen. Pally, Die neuen Evangelikalen in den USA (2010). 23 Bielo, „Belief, Deconversion, and Authenticity Among U.S. Emerging Evangelicals“ (2012), 261. 24 James Bielo nennt folgende Diskussionspunkte der emergenten Szene der ersten Stunde: „First, American Evangelicalism is a ‚modern‘ institution trying to witness to a ‚postmodern culture. […] Second, the seeker-sensitive model of congregational life – typified by Willow
3.2 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in den USA
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gen für die kirchliche Praxis und die Ausdrucksformen christlichen Lebens haben.25 Die Leiter und Verantwortlichen des YLN fanden mit dem später eingeführten Begriff „Emerging Church“ einen Raum außerhalb bestehender Strukturen, um sich diesen drei Fragen zu stellen.26 Doug Pagitt versammelte in diesem Prozess der neuen Herausforderungen eine Gruppe von Protagonisten: Tony Jones, Mark Driscoll und Dan Kimball. Bei der dritten YLN-Konferenz 1998 („Gen-X 3.0“) tauchte erstmals der Pastor und Theologe Brian McLaren als Vortragender auf, der zum Nukleus des „Emerging Church“-Phänomens in den USA wurde.27 Die intensive Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Postmoderne“ führte zur Arbeitsgruppe „Terra Nova Theological Project“28, welches sich später zu dem Netzwerk „Emergent Village“ entwickelte.29 Vertreter der ersten Stunde waren: Doug Pagitt, Tim Keel, Karen Ward, Ivy Beckwith, Chris Seay, Dan Kimball, Tony Jones, Mark
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Creek Community Church – that catered to Baby Boomers and was so successful in the 1980s and 90s is becoming an outmoded formula. […] Third, in turn, there is a revival of interest in worship activites associated with Eastern Orthodox, ‚ancient‘, and ‚mystical‘ Christianities.“ Bielo, Words upon the Word (2009), 132. Carson fasst Anliegen der „Emerging Church“-Konversation zusammen, wenn er sagt: „The emerging church movement honestly tries to read the culture in which we find ourselves and to think through the implications of such a reading for our witness, our grasp of theology, our churchmannship, even our self-understanding.“ Carson, Becoming Conversant with the Emerging Church (2005), 45. Tony Jones, Protagonist der ersten Stunde, zitiert aus der Themensammlung für die YLN: „‚re�present a framework for discussion the church of the future, the church on the New Edge‘: Community, Experience, Mysticism, Story, Leadership, Missional.“ Zitiert in Jones, The Church is Flat (2011), i. In diesem Kontext ist McLarens Buch „A New Kind of Christian: A Tale of Two Friends on a Spiritual Journey“ entstanden. Auf die Bedeutung von McLaren und den Einfluss dieser Ver� öffentlichung weisen mehrere Autoren hin: Crouch, The Emergent Mystique. Oder Sweet, The Church in Emergent Culture (2003), 55–57. Time Magazine hat Brian McLaren zu einem der einflussreichsten evangelikalen Theologen in Amerika gekürt. http://www.time.com/time/specials/packages/0,28757,1993235,00.html 13.06.2012. McLaren, geboren 1956, gehört augenscheinlich einer anderen Generation an als viele andere emergente Protagonisten. Roennfeldt spricht auch vom „the elder statesman of Emerging Church“. Roennfeldt, „Reshaping the Australian Church Experience“, 72. Diese Plattform bot die Möglichkeit für junge Gemeindegründer (Doug Pagitt, Chris Seay, Andrew Jones, Tony Jones, Mark Driscoll, Tim Conder), mit erfahrenen Theologen und Praktikern (Brad Smith, Alan Roxburgh, Todd Hunter, Leonard Sweet, Stanley Grenz, John Franke, Dallas Willard) und Pastoren (Brian McLaren) ins Gespräch zu kommen. Gibbs/Bolger dazu: „The consensus was that the evangelistic challenge for the church was not generational angst but a philosophical disconnect with the wider culture.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 32.
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
Driscoll,30 Mark Oestreicher, Dieter Zander31, Tim Conder und Brian McLaren. Vertreter des „Emergent Village“-Netzwerks beschreiben die Motivation der Gründer: „We began meeting because many of us were disillusioned and disenfranchised by the conventional ecclesial institutions of the late 20th century.“32 Enttäuschung und Ablehnung von den traditionellen Gemeindeformen und Relevanzverlust gelebter Spiritualität sind bereits frühe Kennzeichen des sich erst später entwickelnden Begriffs „post-evangelical“33. Karen Ward brachte 1999 den seit dem bekannten Begriff „emerging church“ in den Diskurs ein und läutete damit die identitätsbildende Phase der Konversation ein.34 Damals Pastorin der „Evangelical Lutheran Church of America“ (ELCA) war sie die Leiterin der Gemeinschaft „Church of the Apostles“ (Seattle) und war Mitgründerin des ersten Netzwerkes www.emergingchurch.org.35 Gegen Ende der ersten historischen Phase entstanden die ersten Gemeinschaften in US-amerikanischen Städten (Minnesota, Kansas City, Houston, Seattle, Grand Rapids (Michigan), San Diego, Cedar Ridge (Maryland), Pittsburgh, Cincinnati), die sich bewusst als „emergente“ Gemeinschaften verstanden.36 Ab 2000 wurde der US-amerikanische christliche Buchmarkt mit dem Label „emerging church“ geradezu überflutet. 2002 fand die erste internationale „Emerging Church“-Konferenz37 in Verbindung mit der „National Pastors Conference“ (eine der größten evangelikalen Konferenzen in den USA) in San Diego statt.38 Das Jahr 2004 war ein entscheidender Beschleuniger in der Verbreitung der „Emerging Church“-Konversation. Besonders zwei Veröffentlichungen haben die Diskussion über kontextualisierte Sozialformen befeuert: Zum einen der 30 Mark Driscoll veränderte seine Position und grenzt sich mittlerweile, wie auch Dan Kimball, von der „Emerging Church“-Konversation ab. 31 Zander begründete die erste Gen X-Gemeinde: Celek / Zander u. a., Inside the Soul of a New Generation (1996). 32 http://emergentvillage.org/?page_id=42 am 16.05.2012. 33 Carson, Becoming Conversant with the Emerging Church (2005), 36–41. 34 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 30. 35 www.emergingchurch.org am 31.03.2007. 36 Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America“ (2009), 221. 37 Der Versuch der Initiatoren die Versammlung als „anti“-Konferenz zu etablieren, zeigte sich daran, dass weder bezahlte Redner eingeladen noch professionelle Musikgruppen oder eine Tagungsstruktur vorgegeben waren. Jones meint: „[…] everyone who arrived was expected to contribute to the content, worship, and food preparation of the event.“ Jones, The Church is Flat (2011), 18. 38 Die Zusammenlegung der Konferenzen zeigt zum einen das Herauswachsen der „Emerging Church“-Konversation aus dem US-amerikanischen Evangelikalismus, zum anderen, dass die „Emerging Church“-Konversation in der US-amerikanischen evangelikalen Gemeinde�wachstumsbewegung eine wesentliche Rolle spielte.
3.2 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in den USA
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„Mission-shaped Church“-Report in der Anglikanischen Kirche und zum anderen Brian McLarens Buch „A Generous Orthodoxy“, das deutlich macht, dass eine religiöse Identität mehrdeutig und widersprüchlich sein kann.39 Gegen Ende der zweiten historischen Phase wurde der Begriff „Emerging Church“ zusehends durch alternative Begriffe ersetzt oder gemieden, da er zu einem Kampfbegriff innerhalb des US-amerikanischen Evangelikalismus geworden war. Dies führte neben den inneren Veränderungen, wie einer dezentralen Leitungsstruktur des Netzwerks, zu einer neuen Wahrnehmung in der religiösen Landschaft der USA und damit in die dritte historische Phase der Konversation. Während beispielsweise das „American Council of Christians Churches“ 2009 in einer Resolution die „Emerging Church“ offiziell ablehnte und sie als „häretisch“ bezeichnete, etablierte sich die Konversation in der USamerikanischen religiösen Landschaft.40 Das Jahr 2010 wird in der neueren Forschung über die „Emerging Church“ als Schlüsseljahr betrachtet, da das US-basierte Netzwerk „Emergent Village“ in das amerikanische „Handbook of Denomination“, einem Standardwerk für die Beschreibung der religiösen Landschaft in den USA, aufgenommen wurde.41 Seit dem Einläuten der dritten historischen Phase (2008–2010) wurde mehrfach das Ende oder das „Zu-Grabe-Tragen“ der „Emerging Church“-Konversation zur Diskussion gestellt.42 Es fällt auf, dass der öffentliche Einfluss durch Veröffentlichungen oder die Präsenz durch und in Online-Netzwerken deut-
39 Tickle geht so weit und behauptet, dass dieses Buch der Bedeutung von Martin Luthers Thesenanschlag an der Wittenberger Schlosskirche gleichkommt. Tickle, Emergence Christianity (2012), 101. Ein für die Konversation wichtiges Buch in der zweiten historischen Phase war jenes von Donald Miller „Blue Like Jazz“. Zur Bedeutung des Buches siehe Lee / Sinitiere, Holy Mavericks. Evangelical Innovators and the Spiritual Marketplace (2009), 85. 40 Die Ansätze von Rob Bell, Brian McLaren, Erwin McManus werden als „errors“ beschrieben und verurteilt. http://sharperiron.org/article/american-council-of-christian-churches-2009-resolutions-part-1 am 07.11.2014. 41 Siehe dazu Tickle, Emergence Christianity. What It Is, Where It Is Going, and Why It Matters (2012), 113–114. 42 http://www.reclaimingthemind.org/blog/2013/01/what-happened-to-the-emerging-church/ am 05.02.2015, http://www.worldmag.com/2010/04/farewell_emerging_church_1989_2010 am 16.12.2014 oder auch von Deacon Hall am 10.01.2010 https://homebrewedchristianity.com/2010/01/10/is-the-emerging-church-movement-waning-deacon-halls-response/ am 29.12.2016. Andrew Jones meinte etwa, dass 2009 das Ende des emergenten Ethos sei. Auch das Magazin „World“ eröffnete 2010 einen Artikel mit dem Titel „Farewell, Emerging Church“. Jonathan Brink in „State of Emergence“ 2010, gepostet im Januar 2011: „In many ways this public decla�ration of death was needed. What arguably died was a perception of the slick marketing model aimed at middle class, white, hipster saddled in the corner of Starbucks with their Macs. This stereotype has run its course and run out of favor. It had to die. What didn’t die were the un-
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
lich zurückgegangen ist. Deshalb hat Brian McLaren auf die Frage nach der Zukunft der Konversation Stellung genommen und sieht die Konversation weiter am Wachsen, jedoch abseits „emergenter“ Stukturen. Die Zukunft der Konversation sieht er in den „mainline“-Kirchen, da sich viele US-amerikanische evangelikale Protagonisten und Netzwerke offiziell gegen die „Emerging Church“-Konversation ausgesprochen haben.43 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die „Emerging Church“Konversation in den USA in der YLN ihre Wurzeln hat. Ab Mitte der 1990erJahre führten Spannungen innerhalb führender evangelikaler Netzwerke zu dem Versuch eines Neuanfangs, der in die „Emerging Church“-Konversation mündete. Es war die Kritik von Protagonisten innerhalb des YLN, die neue Plattformen und die „Emerging Church“-Konversation entstehen ließen. Dabei verfolgten sie die Anliegen kulturelle und geistesgeschichtliche Veränderungen wahrzunehmen, darauf gemeindlich zu reagieren sowie Kritik am US-amerikanischen Evangelikalismus zu äußern.
3.3 Das US-amerikanische Online-Netzwerk „Emergent Village“ Das US-amerikanische Netzwerk „Emergent Village“ wurde 2001 gegründet und wurde bis 2009 von Tony Jones geleitet.44 Der Begriff „village“ greift das Selbstverständnis in der emergenten Konversation auf: „Village, as in ‚it takes a village to raise a child‘, was what Emergent groups should emulate in their self-perception, and it certainly was the way the overarching, larger body of conversationalists should think of themselves.“45 derlying questions that fueled the movement in the first place.“ Erschienen im Post von emer�gentvillage.com http://www.emergentvillage.com/weblog/brink-state-of-emergence-2010 am 20.06.2012. 43 Das Thema Gleichheit und Inklusivität für Homosexuelle wird als entscheidendes Kriterium für ihre Ablehnung gesehen. McLaren zu den Gründen: „The Evangelical community has, by and large, decided to double down against LGBT inclusion and equality, and because many emergence leaders see equality as a natural and unavoidable expression of the gospel, their voices have been marginalized by prominent gatekeepers.“ http://brianmclaren.net/archives/ blog/more-on-the-emergent-conversatio.html?utm_source=twitterfeed&utm_medium=twitter&utm_term=Brian+McLaren+Blog&utm_content=Latest+Blog+Updates am 17.11.2014. 44 „Emergent Village“ kooperierte mit den Verlagen „Baker Books“, „Abington Press“ und „Jos�sey-Bass“. Daneben ist die gegründete Verlagsgruppe „emergentYSBooks“ zu erwähnen. Das Label „Emerging Church“ ist in den USA mehr als nur ein Perspektivenwandel, sondern auch ein medienwirksamer, wirtschaftlicher Faktor. Der Produktname „emergentYSBooks“, eine eigene Veröffentlichungslinie, die über den Zondervan Verlag veröffentlicht wird, bedient sich bewusst der zum Teil inszenierten Dynamik und Dramaturgik innerhalb der Konversation. 45 Tickle, Emergence Christianity. What It Is, Where It Is Going, and Why It Matters (2012), 100.
3.3 Das US-amerikanische Online-Netzwerk „Emergent Village“
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„Emergent Village“ existierte als Plattform, die den einzelnen Beitragenden und Gemeinschaften weltweit einen Kommunikationsraum bot.46 Lokale Konversationsgruppen, genannt „Cohort“, waren wie folgt organisiert: Cohorts are local, incarnational expressions of the emerging church conversation that come together for various purposes and in a variety of different forms. They meet of their own accord, at their own time and place, and discuss what they choose. What binds the cohorts together is a common desire to be in robust and respectful conversation about things that matter.47
Verantwortliche in diesem Netzwerk waren Doug Pagitt, Chris Seay, Tim Keel, Karen Ward, Ivy Beckwith, Brian McLaren und Mark Oestreicher.48 In der Beschreibung gemeinsamer Werte fällt der Begriff „commitment“ auf – zu übersetzen mit „Hingabe“, „Bekenntnis“ oder „Verpflichtung“. Mitglieder dieses Netzwerks verpflichten sich als Kommunikationsgemeinschaft zu einer konfessionsübergreifenden christlichen Nachfolge, bekennen sich zu ihrem Nächsten und wollen ihre Hingabe für Gottes Welt bezeugen.49 „Emergent Village“ veranstaltete Tagungen und Konferenzen, die sich sowohl mit theologischen als auch mit gesellschaftsrelevanten Themen hinsichtlich postmoderner Bedingungen auseinandersetzten und bot damit Protagonisten situative und punktuelle Begegnungen an.50 In einer Partnerschaft zwischen dem Verlag „Baker Books“ und „Emergent Village“ wurde die Edition „Emersion“ gegründet, die die „Emerging Church“-Konversation vorantreiben sollte. Ende 2008 / Anfang 2009 trat Tony Jones als Leiter zurück. Das Auflösen der Leitungsstrukturen von „Emergent Village“ war ein Versuch, „emergent“ nicht 46 Daneben gibt es beispielsweise die von Spencer Burke betriebene Plattform „TheOOZE“ seit 1998. Burke dazu: „In the beginning, our focus was on documenting emerging trends in min�istry before the term ‚emerging church‘ was even coined. Year after year, we introduced new features to the website that facilitated the conversation surrounding ministry in a postmodern world.“ http://www.spencerburke.com/theooze/ am 05.02.2015. Daneben ist www.gink�world.net (am 05.02.2015) eine freiwillige Datenbasis selbst identifizierter emergenter Gemeinschaften. 47 http://maps.google.com/maps/ms?ie=UTF&msa=0&msid=108667317640045249964.00046 b62335fa810a442f am 16.05.2012. 48 Vgl. Tickle, Emergence Christianity. What It Is, Where It Is Going, and Why It Matters (2012), 99–100. 49 Werte des Netzwerks werden wie folgt geschildert: „1. Commitment to the way of Jesus, 2. Commitment to the Church in all its Forms, 3. Commitment to God’s World, 4. Commitment to One Another.“ http://emergentvillage.org/?page_id=77 am 16.05 2012. 50 Daneben gab es zwischen 2000 und 2011 die Konferenzreihe „Soularize“ verantwortet von Spencer Burke. http://www.spencerburke.com/soularize/ am 05.02.2015.
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
als Organisation zu führen, sondern stärker als Netzwerk – dies sollte durch eine Ent-hierarchisierung und Dezentralisierung erreicht werden.51 2013 löste sich das Netzwerk „Emergent Village“ auf und ging in die Nachfolge-Organisation „Emergent Voices“ über, die sich weiterhin der Herausforderungen christlicher Nachfolge in postmoderner Zeit widmet. Dieses Netzwerk lebt von den BlogBeiträgen von 36 ehrenamtlichen, „emergenten“ Stimmen. An dieser Stelle ist auf weitere wesentliche Online-Plattformen hinzuweisen. Von besonderer Bedeutung waren besonders in der zweiten historischen Phase „ TheOoze“ und „The Jesus Creed“.52 Beide Plattformen sind gegen Ende der zweiten historischen Phase eingestellt worden. Daneben hat sich eine neue Plattform, ein Podcast, etabliert, der seit der zweiten historischen Phase mit monatlich 30000 Hörern bedeutend geworden ist: „Homebrewed Christianity“. Auf Initiative von Tripp Fuller wurde der Podcast 2008 gegründet und versteht sich als: „conversations between friends, theologians, philosophers and scholars of all stripes“.53
3.4 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien Obwohl die geschichtliche Entwicklung der britischen „Emerging Church“Konversation getrennt dargestellt wird und bereits darauf hingewiesen wurde, dass die Einteilung in drei historische Phasen, wie von Jones vorgestellt, nicht zutreffend erscheint, lassen sich bereits früh Verbindungen zwischen britischen und US-amerikanischen Protagonisten sowie Einflüsse von Veröffentlichungen und informellen Netzwerken erkennen.54
51 Siehe dazu http://www.christianitytoday.com/ct/2009/january/6.13.html am 11.02.2015. 52 Vgl. Burke, Out of the Ooze. Unlikely Love Letters from Beyond the Pew (2007). Tickle, Emergence Christianity. What It Is, Where It Is Going, and Why It Matters (2012). 53 Gesprächspartner sind: „Previous guests have included Rob Bell, N.T. Wright, Catherine K eller, Marcus Borg, Brian McLaren, John Dominic Crossan, Walter Brueggemann, Bart Ehrman, Tony Jones, Phyllis Tickle, Elizabeth Johnson, Diana Butler Bass, John Caputo, Richard Rohr and many other influential and emerging Christian thinkers.“ https://homebrewedchristian� ity.com/who-we-are/ am 12.10.2016. 54 Josh Packard verweist in seiner Untersuchung darauf, dass etwa die Anliegen von den Engländern Larson und Osborne auch die US-amerikanische „Emerging Church“-Szene geprägt haben. Packard, „Organizational Structure, Religious Belief, and Resistance. The Emerging Church“, 60.
3.4 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien 183
3.4.1 Vorläufer der Konversation in Großbritannien Die historische Entwicklung der britischen „Emerging Church“-Konversation ist deutlich komplexer als es in den USA zu sein scheint. Besonders das Herauswachsen aus der „alternative worship“-Bewegung und die Nähe zu fxC weisen auf die Komplexität der Entstehung hin.55 Grundsätzlich kann Doug Gays Einschätzung vorangestellt werden, demnach er für die britische „Emerging Church“-Konversation vier Einflüsse ausmacht. „[…] there are four key sources for the Church: Emerging – evangelicalism, the Charismatic Renewal, the Liturgical Movement and the Ecumenical Movement.“56 Im Folgenden soll auf drei Autoren und deren Beiträge hingewiesen werden, die für die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien bis 1999 wesentlichen Einfluss hatten.57 • Begriffsgeschichtlich sind die Theologen Bruce Larson und Ralph Osborne die ersten, die 1970 den Begriff „Emerging Church“ in Großbritannien in 55 Tom Sine schrieb in einem Artikel im „Leadership Journal“ im Herbst 2000: „In the last 12 years, a new generation of leaders in Britian is engaging postmodern culture. They are relational, and experiential, involve the arts, are more into narrative than propositional theology. They are more tribal and local […]. In the U.K. they tend to display more global awareness than their U.S. counterparts.“ Zitiert in Sine, The New Conspirators. Creating the Future One Mustard Seed at a Time (2008), 35. Der britische Soziologe Doug Gay unterstreicht in seiner Untersuchung gleichermaßen den Einfluss der „Radical Orthodoxy Movement“ auf die britische „Emerging Church“-Konversa�tion. Diese steht der römisch-katholischen Erneuerungsbewegung „nouvelle theologie“ nahe. Siehe dazu genauer Gay, Remixing the Church (2011), 29. Steve Taylor hebt etwa die Wurzeln der britischen „Emerging Church“-Konversation in der „alter�native worship“-Bewegung hervor. Herring, „Steve Taylor, Part Two“, in: E-merg (Podcast). 56 Gay, Remixing the Church (2011), 106. Vergleichbar sagt es Phyllis Tickle für die USA. Tickle stellt bildhaft die vier in der Konversation vertretenen theologischen Prägungen dar: „conservatives“ (Evangelikale, evangelikale Fun�damentalisten), „social justice christians“ (der politisch engagierte Flügel, vor allem in den „mainline“-Kirchen), „renewalists“ (Pfingstkirchen und Charismatische Bewegungen) und „li�turgicals“ (hierzu gehören die orthodoxen Kirchen, Kommunitäten und Klöster). Tickle weist darauf hin, dass sich für postmoderne Menschen in ihrer religiösen Identitätsbildung die Grenzen zwischen diesen Strömungen aufgeweicht haben und es in der Mitte der Felder zu Überschneidungen und Vermischungen gekommen sei. Diese Mischung werde in der „Emerging Church“-Konversation sichtbar. Gemäß Tickel sind alle vier Einflüsse nötig, um den Heraus�forderungen der veränderten gesellschaftlichen und religiösen Situation zu begegnen. Tickle, The Great Emergence. How Christianity is Changing and Why (2012), 123–144. 57 Da im Jahr 1999 der Begriff „emerging church“ erstmals offiziell für die Konversation ver�wendet wird, dient diese Jahreszahl auch für den britischen Kontext als Zäsur. Doug Gays historische Perspektive für die „Emerging Church“-Konversation liegt weiter zu�rück, wenn er die Entwicklung und Ergebnisse des Zweiten Vatikanischen Konzils für die Ökumene und des sich öffnenden „low church“-Protestantismus mit einbezieht.
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
ihrem Buch „The Emerging Church“ verwendeten.58 Sie beschreiben damit die Kontextualisierungsfähigkeit der Kirchen und sagen: „A church should not change just to be different. It should change because the context of the culture about it requires its organizations to restructure themselves so church tasks can be effectively fulfilled.“59 Kirche soll sich verändern und je nach kulturellen Anforderungen neu ausrichten sowie neue Formen annehmen. Larson und Osborne dazu: If we intend to realistically proclaim the truth of Christ’s redemption to nonevangelicals, we must have a significantly different form of outreach. This, in turn, requires significantly new forms of training and study. Organizational structures not deliberately geared to prepare us and effectively carry out our witness would be revised to a more functional format.60
Um die Handlungsfelder und Strukturen einer „herauswachsenden Kirche“ („Emerging Church“) neu bestimmen zu können, bedarf es zuerst einer frischen theologischen Ausrichtung. Larson und Osborne verbinden mit dem Begriff „Emerging Church“ eine Forderung – sie drängen darauf, dass die Kirche missionarisch und kontextrelevant sein soll.61 Kennzeichen sind demnach das Überwinden dualistischer Vorstellungen, weshalb persönliche Frömmigkeit und politisches Engagement miteinander
58 Auf diesen ersten Gebrauch in der Literatur bezieht sich beispielsweise Packard, The Emerging Church. Religion at the Margins (2012), 6. 59 Diese Aussage stammt von Ralph Neighbour zitiert in Larson / Osborne, The Emerging Church (1970), 77. 60 A. a. O. 61 Dabei beschreiben sie die Aufgaben einer solchen „Emerging Church“: „1. Rediscovering contextual & experimental mission in the western church. 2. Forms of church that are not restrained by institutional expectations. Open to change and God wanting to do a new thing. 3. Use of the key word […] ‚and‘. Whereas the heady polarities of our day seek to divide us into an either-or camp, the mark of the emerging Church will be its emphasis on both-and. For generations we have divided ourselves into camps: Protestants and Catholics, high church and low, clergy and laity, social activists and personal piety, liberals and conservatives, sacred and secular, instructional and underground. 4. It will bring together the most helpful of the old and the best of the new, blending the dynamic of a personal Gospel with the compassion of social concern. It will find its ministry being expressed by a whole people, wherein the distinction between clergy and laity will be that of function, not of status or hierarchical division. 5. In the emerging Church, due emphasis will be placed on both theological rootage and contemporary experience, on celebration in worship and involvement in social concerns, on faith and feeling, reason and prayer, conversion and continuity, the personal and the conceptual.“ A. a. O., 9–11.
3.4 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien 185
verbunden und ein integrativer Lebensansatz gefordert werden. Weiter soll durch den Rückbezug auf die Tradition das Erbe der Kirchen für die Gegenwart gesichert und aktualisiert werden. Zuletzt wird betont, dass Gottesdienst (im engl. „worship“62) und christliche Nachfolge erfahrungszentriert sein sollen. Für Larson und Osborne ist „Emerging Church“ damit ein Kontextualisierungsversuch einer bestehenden Kirche (die Anglikanische Kirche) in einer sich wandelnden Kultur.63 • In den 1990er-Jahren wurde der Begriff „emerging church“ von Robert Warren im Kontext der Anglikanischen Kirche als Bezeichnung für „building missionary congregations“64 verwendet. In seinem Buch „Being Human, Being Church“ beschreibt Warren, wie eine gesunde Kirche sich auf die Kultur einlässt und sich zu einer missionarisch gesinnten Gemeinschaft entwickelt. Bereits 1995 setzt er voraus, dass die Welt sich in einem radikalen Wandel – hin zur Postmoderne – befindet. Robert Warren stellt den Begriff „emerging church“ dem Begriff „inherited church“ gegenüber. Mit „inherited church“ („geerbte Kirche“) stellt er die traditionelle Kirche dar, die charakterisiert ist durch: „church = building + priest + stipend“ („Kirche = Gebäude + Priester + Gehalt / Besoldung“). Den Begriff „emerging church“ charakterisiert er mit: „church = worship + community + mission“.65 Die „herauswachsende Kirche“, die für neue gesellschaftliche Umstände gewappnet sein wird, ist gekennzeichnet durch ein Zusammenwirken von „Gottesdienst“/„religiösem Lebensvollzug“, „Gemeinschaft“ und „Mission“. Zentral ist für ihn, dass die drei Merkmale von Kirche, also „worship“ („Gottesdienst“), Gemeinschaft und Mission durch Spiritualität zusammengehalten werden.66 Robert Warren schreibt vorausschauend (da es 1995 offiziell noch kein „Emerging Church“-Netzwerk gab): The structures of the emerging church will be more flexible than fixed; its leadership will be more collaborative than clerical; its focus more whole-life than church-life;
62 Der Begriff „worship“ meint tatsächlich mehr als nur Gottesdienst. Es ist auch übersetzbar mit „Lobpreis“, „Anbetung“, meint aber auch den gesamten christlichen Lebensvollzug. „To worship“ heißt gleichermaßen die Religiosität zu praktizieren. 63 Ihre Anliegen wurden in dem von der „Church of England“ herausgegebenen „Mission-shaped Church“-Report eingebracht und auf deren Bedeutung verwiesen. Die „Church of England“ befasste sich in den letzten Jahrzehnten auf breiter Basis mit dem Anliegen einer missionarischen Kirche in postmoderner Zeit. Dieser Prozess, der bereits in den 1980er- und 1990erJahren angestoßen wurde, mündete in der Reformbewegung fxC. 64 Warren, Being Human, Being Church (1995), 37–51, 83–98. 65 A. a. O., 21–36, 83–98. 66 A. a. O., 88–89.
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
its form more community than organization; its pastoral goal more holy than happy; its expression more diverse than single; and its orientation more future than past.67
Warrens Anliegen klingen wie ein Nachhall der Forderungen von Larson und Osborne. Sein Postulat ist zu einem wesentlichen Impuls für die Konversation im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts geworden.68 Abschließend und zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff „Emerging Church“ in Großbritannien bis in die 1990er-Jahre als Impuls für missionarische Erneuerung in der Anglikanischen Kirche benutzt wurde. Sowohl bei Larson und Osborne als auch bei Warren führen die Unzufriedenheit mit dem vorherrschenden kirchlichen und gemeindlichen Leben sowie die Auseinandersetzung mit der Kultur zu der Forderung, dass sich Kirche und Gemeinden missionarisch orientieren müssen. Neben Mission wird außerdem Gemeinschaft betont, basisdemokratisches Denken, politisches Engagement, Spiritualität und Erfahrungszentrierung. Alle diese Forderungen werden in die „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien nach 1999 aufgenommen.
3.4.2 Veranstaltungen und Personen Für eine zusammenhängende Darstellung dieses Kapitels ist es sinnvoll, wesentliche Veranstaltungen als Orte der Inspiration und deren wichtige Protagonisten als Inspiratoren zu nennen. Im Folgenden wird neben der Veranstaltung, „Nine O’Clock Service“ (NOS), das jährlich stattfindende „Greenbelt“-Festival als Katalysator der Konversation in Großbritannien vorgestellt. Danach wird gesondert auf John Drane und Dave Tomlinson eingegangen, die einen großen Anteil an der aufkommenden Dynamik der britischen „Emerging Church“-Konversation in den 1990er-Jahren hatten. An dieser Stelle sind neben den bereits genannten einige der wesentlichen Protagonisten der ersten Stunde zu nennen: Jonny Baker, Ian Mobsby, Kevin Draper, Ana Draper, Brian Draper und Sue Wallace.69 67 A. a. O., 97. 68 In dem Buch „Church after Christendom“ meint der Baptist Stuart Murray, dass Robert Warrens Thesen Voraussetzung für die Entstehung und Entwicklung der „Emerging Church“ in Großßbritannien waren. Stuart Murray dazu: „[…] that the ‚emerging church‘ has begun to respond to this need to engage with forms for worship, mission and community that resonate with postmodern culture, by holding it as a ‚primary motivation‘ in the early twenty-first century.“ Murray, Church after Christendom (2004), 73–74. 69 Artikel von Steve Collins unter www.alternativeworship.org/definitions_awec.html am 09.09.2016.
3.4 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien 187
3.4.2.1 „Nine O’Clock Service“ (NOS) Die „Emerging Church“-Konversation, wie sie sich in Großbritannien geformt hat, hat mit dem Aufkommen des „Nine O’Clock Service“ 1985 einen wesentlichen historischen Kristallisationspunkt.70 Geprägt durch charismatische Einflüsse (besonders durch die Vineyard-Bewegung und deren Leiter John Wimber) entwickelte sich in der CofE in Sheffield (unter dem Dach der Gemeinde „St. Thomas Crooke’s Anglican Church“) ein alternativer Gottesdienst, genannt „Nine O’clock Service“, aus dem eine kirchliche Gemeinschaft inmitten der Raveclub-Kultur Englands hervorging. Innerhalb weniger Jahre wurde NOS nicht nur in kirchlichen Kreisen (beispielsweise durch ihre Beiträge beim „Greenbelt“-Festival) als Beispiel für alternative Gemeindeformen, sondern auch für die säkulare Raveclub-Kultur prägend.71 Die Erfahrung vieler Mitglieder und Gottesdienstfeiernder kann exemplarisch anhand des Zitats eines emergenten Protagonisten veranschaulicht werden: Walking into the Nine O’Clock Service was like entering into a hybrid of a charismatic worship service, an Anglo-Catholic worship service, a packed and excited club and a postmodern art installation. One striking feature, which set it apart from 1980s’ seeker services, was the theological, artistic and technological nous or intelligence that underpinned the performance of the liturgy and the way in which this worked with the grain of popular forms.72
NOS war in seiner Anfangszeit in den 1980er-Jahren Teil der „alternative worship“-Bewegung und entwickelte sich zu einem Hybrid aus gesellschaftsrelevantem Gottesdienst und Rave-Klub, der sich in der Folgezeit „Planetary Mass“ nannte.73 70 Die Zielgruppe von „NOS“ waren 18- bis 30-Jährige. Für eine genaue Darstellung siehe Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 82–87. Für die ausführlichste Darstellung siehe Howard, The Rise and Fall of the Nine O’Clock Service (1996). Auch Tickle, Emergence Christianity (2012), 92–94. 71 Anfang der 1990er-Jahre entfernte sich NOS von den Werten der Anglikanischen Kirche, im Besonderen im Bereich der mit der Kirche vereinbarten, organischen Leitung, und baute eine stark hierarchische Struktur aus, die schließlich zu ihrem Ende führte. Bis zu ihrer Auflösung war sie Teil der Anglikanischen Kirche. Für eine ausführliche Darstellung der NOS siehe http:// nineoclockservice.tripod.com/page2.html am 10.04.2007. Spinks, The Worship Mall (2011), 32–33. 72 Gay, Remixing the Church (2011), 8. 73 Tickle dazu: „Over the ensuing months, the Planetary Mass experience as it was practiced in Sheffield became more and more involved in raves and other experimental worship forms, even as it became farther and farther separated from orthodox Christian belief.“ Tickle, Emergence Christianity (2012), 93.
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
Nachdem sich NOS 1988 als eigenständige Gemeinde etablierte, wurde es zu einem Sammelbecken für Kirchendistanzierte und religiös Suchende.74 Ende der 1990er-Jahre kollabierte NOS. Eine autoritäre Leitungsstruktur hatte sich etabliert, welche sich von der Anglikanischen Kirche abwandte.75 Der Leiter Chris Brain etablierte zunehmend eine Personalgemeinde, die nach seiner Absetzung zerfiel. Der Einfluss von NOS auf die „Emerging Church“-Konversation lässt sich zweifach feststellen. Zum einen wurden kreative liturgische Formen im Zusammenspiel mit kulturrelevanten Technologien in Verbindung gebracht und es entstanden erste Versuche bricolageartiger Ausdrucksformen spirituellen Lebens. Zum anderen sind britische emergente Protagonisten direkt von der NOS-Szene geprägt worden.76
3.4.2.2 „Greenbelt“, ausgewählte prominente Protagonisten und Netzwerke Ein wesentlicher Faktor für die Entstehung der „Emerging Church“-Szene in Großbritannien war das „Greenbelt Festival“ in Cheltenham (seit wenigen Jahren dezentral veranstaltet). Bei diesem jährlich stattfindenden Festival wurden seit 1974 progressive, kreative Formen gemeindlichen und spirituellen Lebens vorgestellt und diskutiert.77 „Greenbelt“ hat sich erst in den letzten zehn Jahren zu einem internationalen Festival entwickelt.78 Bis dahin war es für die alternative, christliche Szene Großbritanniens ein Sammelbecken innovativer Ansätze (abseits der etablierten kirchlichen und gemeindlichen Strukturen). Neben Kunst, Spiritualität und sozialem Einsatz für Gerechtigkeit sind Initia74 http://mikemorrell.org/2012/03/the-nine-o-clock-service-the-vibrant-troubling-birth-of-theemerging-church/ am 01.10.2014. 75 Tickle dazu in ihrer Gesamtbewertung des Phänomens: „Emergence Christianity had had its first lesson in the devastating consequences of straying too far from Mother Church.“ Tickle, Emergence Christianity (2012), 94. 76 Stockdale hat die Leitungspersonen in der Untersuchung von Gibbs und Bolger auf ihre Verbindung zu NOS überprüft und stellt fest: „For instance, early emerging church leaders in the U. K. like Paul Roberts (Resonance, Bristol), Andy Thornton (Late Late Service, Glasgow), Sue Wallace (Visions, York), Mal Calladine (Tribal Generation, Sheffield), Simon Hall (Revive, Leeds), and Ian Mobsby (Moot, London) were all directly influenced by their encounters with NOS.“ Stockdale, „Ecclesiological Contributions of Emerging Churches for their Parent Communities“, 89. Der Einfluss wird auch auf Jonny Baker und seine emergente Gemeinschaft „Grace“ und auf Kester Brewin und seine Gemeinschaft „Vaux“ festgestellt. Vgl. Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 239–243, 248–250. 77 Tickle dazu: „The need to celebrate, to sing, to cry out and be glad was as much a part of Emer�gence’s birthing years as were those other, more ponderous issues.“ Tickle, Emergence Chris�tianity (2012), 86. 78 Dies zeigt sich an den Einladungen an Brian McLaren, Jim Wallis, Rob Bell und anderen USAmerikanern.
3.4 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien 189
tiven im Spannungsfeld von Theologie, Gemeinde und Kunst mit der „Greenbelt“-Gemeinschaft erprobt worden.79 Die Vision wird vom Leitungsteam folgendermaßen beschrieben: „Greenbelt is a collision of the arts, faith and justice. Engaged with culture, inspired by the arts, sustained by faith, we aspire to be an open generous community reimagining the Christian narrative for the present moment.“80 In diesem Klima und in Verbundenheit mit „Greenbelt“ war John Drane, ordinierter Priester der „Church of Scotland“ und bis 2004 Professor für Praktische Theologie an der University of Aberdeen, in den 1990er-Jahren ein weiterer Katalysator und Ideengeber für die „Emerging Church“-Konversation. Sein Buch „The McDonaldization of the Church: Spirituality, Creativity, and the Future of the Church“81 (2000) griff die aufkeimende anti-institutionelle und gleichzeitig erlebnisorientierte Haltung vieler Christen in Großbritannien auf.82 Seine Kritik äußerte er im Kontext des Rückgangs kirchlichen Lebens in Großbritannien, wie dies auch Stuart Murray83 oder Doug Gay feststellten.84 Eine außergewöhnliche Bedeutung für den britischen Kontext hat der Theologe und heutige anglikanische Priester Dave Tomlinson, der in seinem stark autobiografisch geprägten Buch „The Post-Evangelical“ die Frage nach einer postmodernen Ausdrucksform evangelikalen Glaubens stellt.85 Tomlinson hinterfragt die unausgesprochenen theologischen Voraussetzungen seines evangelikalen Frömmigkeitshintergrunds (Evangelikalismus in der britischen 79 Das US-amerikanische Pendant dazu ist einerseits das „Wild Goose Festival“ und das „Bur�ning Man Festival“: „[…] annual gathering in the desert of northern Nevada that promotes decommodification, radical self-reliance, radical expression, community, and civic responsibility.“ Jones, The Church is Flat (2011), 18. Oder auch „Transmission“, eine alternative litur� gische Gemeinschaft, die auch Events veranstaltet. Siehe hierzu Gibbs, ChurchMorph (2009), 187–188. 80 http://www.greenbelt.org.uk/about/organisation/vision/ am 23.09.2014. 81 Drane, The McDonaldization of the Church (2002). 82 Drane versteht unter „McDonaldization“: „[…] the process by which the principles of the fastfood restaurant are coming to dominate more and more sectors of American society as well as the rest of the world.“ A. a. O., 32. Damit meint er zum Beispiel: Effizienz, Berechenbarkeit, Kontrolle und Weiteres. Neben Drane war die Gesellschaftsanalyse von George Ritzer wesentlich für eine sich entwickelnde Konversation. Ritzer propagiert, dass es in einer sich wandelnden Kultur neue organisatorische Formen von kirchlichen Gemeinschaften braucht. Ritzer, The McDonaldization of Society (1996). Sein Einfluss wurde auch von Gibbs und Bolger wahrgenommen. Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 20–21. 83 Murray, Church after Christendom (2004); Murray, Post-Christendom (2004). 84 Gay dazu: „[…] rapid rates of decline in membership and attendance raised urgent questions […].“ Gay, Remixing the Church (2011), 84. 85 Tomlinson, The Post-Evangelical (1995).
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
Hauskirchenbewegung) und löst damit eine beachtenswerte Diskussion über die Zukunft evangelikal-geprägter Gemeinschaften und der Zukunft authentischer christlicher Spiritualität aus. Er schließt damit, dass der Evangelikalismus ein Produkt der Moderne sei, das in der Postmoderne ausgedient habe, und Christen und Christinnen in weiterer Folge zu einem „post-evangelikalen“ Glauben kommen müssen.86 Er sagt: „Post-evangelicals are more at ease with a meccano set which still has a basic set of components but which offers you an instruction book full of different possible models which can be constructed – some more basic and others highly elaborate.“87 Während post-evangelikale Christen Folgendes ablehnen: „personality jostling, political manoeuvrings and empire-building […].“88, wünschen sie sich: „[…] a fresh sense of spirituality“ und wenden sich damit symbollastigen und kontemplativen Traditionen der Christenheit zu.89 Mit seiner Veröffentlichung ist er ein Vorreiter der Diskussion um das Dekonstruieren der religiösen Orientierung in der Konversation.90 Dave Tomlinson war zur Zeit der Veröffentlichung seines Buches 1995 Leiter der „Holy Joes“-Gemeinschaft. „Holy Joes“ traf sich wöchentlich in einem Pub, um theologische Diskussionen in einer ungezwungenen Atmosphäre zu führen. Eingeladen waren kirchlich distanzierte Menschen, Konfessionslose, Menschen, die „at the backdoor of Christian church“91 waren. Tomlinson stieß in Großbritannien auf große Resonanz. Sein Buch hat die evangelikale Landschaft in Großbritannien und darüber hinaus dahingehend erschüttert, dass es unter evangelikalen Personen eine große Zustimmung für seine Ansätze gab.92 86 Dazu Dave Tomlinson: „ The post-evangelical impulse does not necessarily imply a move away from Christian orthodoxy or evangelical faith – though it does for some. Rather it demonstrates that in order to remain true to a tradition, we must come to terms with its changing cultural context so that an authentic expression of that tradition can be found […].“ http://www.davetomlinson.co.uk/post-evangelical/ am 21.09.2014. 87 Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 82. 88 A. a. O., 144. 89 A. a. O., 10. 90 In Dave Tomlinsons Werdegang zeigt sich eine Abkehr von charismatischen und später auch konservativ-evangelikalen Einflüssen. Nash / Ward, „Dave Tomlinson – Coming Back to the In�stitution“, in: Nomad (Podcast) 11.02.2015, https://www.iheart.com/podcast/263-Nomad-Pod�cast-27601493/episode/nomad-78-dave-tomlinson-coming-back-to-the-institution-27601635/ am 29.12.2016. Auf diesen gemeinsamen Nenner vieler „Emerging Church“-Protagonisten, nämlich der „deconversion narrative“, wird später eingegangen. Siehe Abschnitt III Kapi�tel 2.2.1 Die Thematisierung der Veränderung der religiösen Orientierung. 91 Diese Formulierung stammt aus einem persönlichen Gespräch mit Dave Tomlinson aus dem Jahr 2008. 92 Nachdem Tomlinsons Buch 1995 veröffentlicht wurde, eruierte das britische evangelikale Magazin „Third Way“ in einer Umfrage, dass sich 24 % ihrer Leser mit dem von Tomlinson be�schriebenen „post-evangelical“-Begriff identifizierten. Siehe dazu http://www.davetomlinson. co.uk/post-evangelical/ am 21.09.2014. Auch bei Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 9.
3.4 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien 191
Dies führte zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem britischen Evangelikalismus und Tomlinsons Thesen.93 Zuletzt sei auf das britische „Emerging Church“-Netzwerk, genannt „Emergent UK“, verwiesen. 2003 wurde Jason Clark, Pastor einer Londoner Vineyard Gemeinde, zum Verantwortlichen der Schwesterorganisation von „Emergent Village“ berufen.94 Seit der Jahrtausendwende hat sich der Kontakt zwischen der britischen und US-amerikanischen Konversation durch gemeinsame Buchbeiträge sowie punktuelle Begegnungen verstärkt. Stockdale beschreibt die Zusammenarbeit beider Netzwerke folgendermaßen: „Through this alliance, and through Clark’s consultation with emerging participants in North America, emerging communities in the U.S. and the U.K. continued their mutual influence on one another.“95 Im März 2009 wurde auch dieses Netzwerk aufgelöst. Die britische Akteure der „Emerging Church“-Konversation vernetzten sich in weiterer Folge über die Plattformen „deep church“96 und „reflective practice“97. Jason Clark ist mit seinen Beiträgen weiterhin auf www.jasonclark.ws präsent. Seitdem die britische Website im Übergang zur dritten historischen Phase in den USA eingestellt wurde, hat sich der Austausch zwischen USA und Großbritannien auf informelle Kontakte und Netzwerke beschränkt. Die „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien ist, abgesehen von einigen Impulsgebern, nicht mehr als eigenständiges Netzwerk erkennbar.98 Protagonisten haben sich teilweise in die fxC-Bewegung integriert und wurden damit Teil der CofE (Tomlinson, Baker, Mobsby) oder sind unabhängig geblieben (Rollins, Brewin99). 93 Kritisiert wurde, dass Tomlinson die Komplexität und die Variationen des modernen Evangelikalismus nicht wahrnimmt, und so schließt Alister McGrath: „[this book is] best seen as an expression of discontent rather than a sustainable and plausible positive proposal […].“ Zitiert in: Francis / Richter, Gone But Not Forgotten (1998), 57. Weitere Kritik folgte von Warner: „Tomlinson’s sub-type will probably prove to be a transitional reaction against evangelical modernity that results in rapid re-absorption into the liberal or post-liberal mainstream, since post-evangelicals define themselves negatively and seem unlikely to develop a sustainable and distinct theological agenda.“ Warner, „Fissured Resurgence“, 288. 94 „Emergent UK“ hat sich 2009 aufgelöst. http://www.emergent-uk.org am 05.06.2012. 95 Stockdale, „Ecclesiological Contributions of Emerging Churches for their Parent Communi�ties“, 97. 96 www.deepchurch.org.uk am 17.09.2014. 97 www.reflectivepractice.net am 17.09.2014. 98 http://www.ianmobsby.net/so-what-is-happening-with-the-emerging-church-in-the-ukin-2010/ am 29.12.2016. 99 Kester Brewin hat seine Distanz zum christlichen Glauben ausgedrückt und ist in religiösen Diskursen seit wenigen Jahren nicht mehr präsent.
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
Festzuhalten ist, dass die Konversation in Großbritannien durch das Ringen christlicher Gemeinschaften und Einzelner mit einer sich verändernden Kultur und der abnehmenden Bedeutung und Relevanz christlichen Glaubens begann. Damit entspricht die „Emerging Church“-Konversation (mit eigener Ausprägung) einem bereits seit dem Zweiten Weltkrieg existierenden Ringen der christlichen Kirchen um relevante Ausdrucksformen. Sie zeichnet sich als eine Initiative Einzelner oder kleiner Gemeinschaften und Netzwerke aus, die nach relevanten Ausdrucksformen christlichen Lebens fragt.100 Es zeigt sich für die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Großbritannien, dass sie viel mehr von dem Niedergang der institutionellen Kirchen (CofE) beeinflusst war, als es für die Konversation in den USA zu beobachten ist. Sowohl John Drane als auch Dave Tomlinson sind dabei wesentliche kritische Stimmen, die kulturelle Veränderungen schilderten und die Schwierigkeiten der Kirche, darauf zu antworten, besorgt wahrnahmen.
3.5 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Deutschland Im Folgenden soll auf die „Emerging Church“-Konversation im deutschsprachigen Raum eingegangen werden. Da die kurze Online-Diskussion in Österreich 2009 verstummt ist und die Konversation in der Schweiz keine erkennbare Größe hat101, wird an dieser Stelle ausschließlich Deutschland in den Blick genommen. Das Netzwerk „Emergent Deutschland“ wurde im Jahr 2006 gegründet.102 Seitdem ist es das Anliegen der Verantwortlichen, für den deutschsprachigen Raum eine theologische Diskussionsplattform zu den Themen Postmoderne, 100 Siehe dazu Mobsby, Emerging and Fresh Expressions of Church. How Are They Authentically Church and Anglican? (2007), 24. 101 Auf eine besondere Veranstaltung in der Schweiz sei hingewiesen: Der australische Missionstheologe Michael Frost nahm 2009 an einem vom Institut für Gemeindeaufbau und Weltmission (IGW) veranstalteten Kongress teil. Siehe dazu http://youththeology.wordpress. com/2009/03/26/emergent-church-in-landeskirchlichen-strukturen-wecken-und-fordern/ am 15.10.2015. Für eine genauere Geschichte und evangelikale Kritik der „Emerging Church“-Konversation in der Schweiz siehe http://www.das-wort-der-wahrheit.de/irrlehren-5 am 22.09.2014. 102 www.emergent-deutschland.de am 15.10.2014. Siehe dazu auch Faix / Aschoff, „Was ist Emerging Church“ (2009), 162–163.
3.5 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Deutschland
193
Kirche, Evangelium und Kultur zu bieten. „Emergent Deutschland“ ist keine sichtbare Kirche, sondern eine Plattform, die Dialog- und Netzwerkcharakter hat.103 Gleichzeit gibt es in Deutschland Gemeinden und Gemeinschaften, die sich als „emergent“ verstehen.104 Auf der Website www.emergent-deutschland. de findet man die Vision der Verantwortlichen: Emergent Deutschland versteht sich als Begegnungsplattform und offener Ereignisraum im Rahmen eines wachsenden Netzwerkes von und für Christen unterschiedlicher Prägung. Es ist eine Initiative jenseits konfessioneller Engführung ohne das Bestreben, eine kirchliche Parallelorganisation aufzubauen. Vielmehr geht es darum, in Bezug auf bereits Bestehendes und in Hinblick auf zukünftige Entwicklungen Kommunikationsstrukturen zu schaffen, Gedankenaustausch zu fördern und kreative Initiativkraft zu stärken.105
In Form von Tagungen, Konferenzen und regionalen Gruppen („Kohorten“) sollen Christen, unabhängig von konfessioneller Beheimatung einen Ort des Austausches finden.106 Verantwortliche dazu: „Emergent Deutschland verfolgt damit das Ziel, in diversen kulturellen Kontexten den sich wandelnden theo-
103 Siehe dazu Bachmann / Künkler u. a., Emerging Church verstehen (2012), 11. Folgende Namen wurden mit „Emerging Church“ Deutschland, neben den bereits genannten, in Verbindung gebracht: Björn Wagner, Jens Stangenberg, Dagmar Begeman, Andreas Balsam (Kirche21). Akteure wie Björn Wagner haben sich aus dem deutschsprachigen „Emerging Church“-Diskurs aufgrund ihrer Theorielastigkeit entfernt. Wagner gründete etwa das auf die missionarische Praxis ausgerichtete Netzwerk www.novavox.org am 12.04.2010. 104 Auf der Website von „Emergent Deutschland“ werden folgende Gemeinden und Gemeinschaften genannt: „Brunch-n-More, Augsburg (http://www.brunch-n-more.de/); CityChurch, Würzburg (http:// citychurch.de); Die Basis e. V., Mainz (http://www.die-basis.org); Erlöserkirche, Chemnitz (http://www.erloeserkirche.net); eXper!ence, Dresden (http://www.selberglauben.de); Jecheskiel Jachin Krebs, Jestetten; jesusfriends.de, Hamburg (http://www.jesusfriends.de); Konventgemeinde, Urbach (http://www.konventgemeinde.de); Kubik, Karlsruhe (http://kubik-karlsruhe.de/); Laurentiuskonvent (Lebensgemeinschaft), Schöffengrund (http://laurentiuskonvent. de); Meike Eilers, Aurich; Ökumenisches Projekt Zellen der Liebe, Spiegelau (http://zellen-derliebe.de); Treffpunkt Leben Carlsberg, Carlsberg (http://www.treffpunkt-leben.info); Volxkirche in der St.-Pauli-Gemeinde, Lemgo (http://Volxkirche.info); Zellgemeinde Bremen, Bremen (http://www.zellgemeinde-bremen.de)“ am 22.09.2014. Gegenwärtig können folgende Gemeinschaften im „Emerging Church“-Diskurs verortet wer� den: „Motoki“, „Kubik“ (Karlsruhe). „Kubik“ hat sich 2017 aufgelöst. 105 http://emergent-deutschland.de/verstehen/ am 22.09.2014. 106 So zum Beispiel auch durch die Plattformen „Novavox“ (www.novavox.org am 12.04.2014), „Netzwerk für missionale Gemeindeinnovation“ oder „ZeitGeist“ (www.zeit-geist.info am 22.09.2014). „Novavox“ hat sich nach wenigen Jahren aufgelöst.
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
logischen Angangswegen und den daraus resultierenden Ansätzen für die Glaubens- und Gemeindepraxis Rechnung zu tragen.“107 Ein Koordinationskreis leitet und verantwortet die Aktivitäten des Netzwerks. Wie in der Entwicklung von „Emergent Village“ beschrieben, hat auch „Emergent Deutschland“ keine hierarchische Leitung, sondern will basis demokratische, offene und organische Leitungsstrukturen haben.108 Das Netzwerk „Emergent Deutschland“ findet besonders im deutschsprachigen evangelikalen Frömmigkeitskontext Gesprächspartner.109 Besondere Bedeutung in der Gründungsphase hatten Dr. Peter Aschoff, ehemals Pastor der evangelikal-charismatisch orientierten „ELIA“-Gemeinde in Erlangen, und Prof. Dr. Tobias Faix, gegenwärtig Professor an der CVJMHochschule in Kassel.110 Ihr Einfluss lässt sich anhand der öffentlichen Wahrnehmung in den deutschsprachigen Netzwerken und der Zahl ihrer Veröffentlichungen messen. „Emergent Deutschland“ hat im Verlag der Francke-Buchhandlung einen Partner für ihre Veröffentlichungen gefunden und die „emergent edition“ gegründet. Ein Beispiel für die Veröffentlichungspraxis sind die Bücher „Zeitgeist“, die neben grundlegenden Beiträgen zu postmoderner Theologie, „Emerging Church“ sowie Kontextwahrnehmung, Praxisbeispiele von kontextualisierten,
107 http://emergent-deutschland.de/verstehen/ am 22.09.2014. 108 „Die Teilnehmer des Koordinationskreises sind weder Delegierte einzelner Abteilungen noch offizielle Repräsentanten einer ‚emergenten Szene‘. Ebenso wenig ist der Koordinationskreis ein ‚innerer Zirkel von Berufenen‘. Die derzeitige Zusammensetzung ergibt sich schlicht aus den gewachsenen Beziehungen von aktiv Beteiligten, die sich unter dem o. g. Hauptanliegen zusammengefunden haben.“ http://emergent-deutschland.de/verstehen/verstehen-koordinationskreis/ am 22.11.2017. 109 Nach den Sinus-Milieus würde man emergente Protagonisten in Deutschland bei den Experimentalisten einordnen, die sich in die bürgerliche Mitte hineinbewegen. Faix / Aschoff, „Was ist Emerging Church“ (2009), 168–169. 110 Weitere einflussreiche Persönlichkeiten werden auf dem Blog www.narjesus.de genannt: http://www.narjesus.de/apologetik/inchurch/emergent/emergent_d.html am 22.09.2014. Durch seinen Blog „peregrinatio“ ist Aschoff einer breiten deutschsprachigen evangelikalen Öffentlichkeit zugänglich; zum Beispiel mit www.jesus.de verlinkt (am 22.09.2014). Faix hat sich durch den Aufbau des Studienzweiges „Gesellschaftstransformation“ in der deutschsprachigen Szene profiliert und ist gemeinsam mit Aschoff, neben anderen, als theologischer Denker in der deutschsprachigen „Emerging Church“-Konversation, vertreten. http://www.eliagemeinschaft.de/wordpress/ am 22.09.2014. Peter Aschoff und Tobias Faix entstammen einer charismatischen, evangelikalen Prägung und öffneten ihre Anschauungen zugunsten einer ökumenischen Ausrichtung, wie sie selbst beschreiben. Siehe dazu Peter Aschoffs Beitrag unter: http://www.elia-gemeinschaft.de/wordpress/2014/09/26/erlebt/zaehe-gespraeche-fruchtbare-gespraeche-und-warum-wir-beidesbrauchen am 16.10.2014.
3.5 Die Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation in Deutschland
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innovativ-missionarischen Projekten in Deutschland vorstellen.111 Daneben wurden wesentliche Werke für die „Emerging Church“-Konversation ins Deutsche übersetzt.112 Für ihre Veröffentlichungspraxis der eigenständigen Werke ist kennzeichnend, dass Haupt- und Ehrenamtliche, Laien und Theologen für einen Praxis-Theorie-Mix sorgen. Von der anglo-amerikanischen Diskussion unabhängige Veröffentlichungen, die die deutschsprachige Diskussion vorantreiben wollen, stammen von Björn Wagner und Daniel Ehniss sowie Peter Aschoff.113 Erst in den letzten Jahren entwickelte sich zunehmend ein eigenes Profil mit eigenen Themen und Impulsgebern. Emergente Protagonisten wie Brian McLaren, Shane Claiborne, Alan Hirsch, Michael Frost, Jonny Baker oder zuletzt Nadia Bolz-Webber wurden häufig rezipiert, ihre Veröffentlichungen ins Deutsche übersetzt sowie zu deutschsprachigen Veranstaltungen eingeladen. Das deutschsprachige Netzwerk kristallisiert sich in regionalen Initiativen, im Internet (Blogs), durch Veröffentlichungen und zuletzt in regelmäßigen Foren heraus.114 Für Gemeinschaften, die sich an „Emergent Deutschland“ beteiligen, sind flexible und kontextualisierte Formen ihrer Treffen kennzeichnend.115 So trifft sich die Gemeinschaft „Brunch-n-More“ (Augsburg) einmal im Monat zu Diskussion und einem gemeinsamen Essen. Diese Gemeinschaft bildet etwas ab, was für die gesamte Konversation gilt und damit auch für den deutschsprachigen Raum. Zum einen sind Sprecher, Vertreter, Verantwortliche und Blogger äußerst kreativ und ansprechend in der medialen Präsentation ihrer Fragestellungen und Diskussionsbeiträge. Zum anderen sind viele von ihnen außergewöhnlich präsent und aktiv in der digitalen Welt vertreten. Kommunikation durch Blogs, Foren und Chats ist ein wesentliches Existenzkriterium dieser Gemeinschaften. Umgekehrt kann man sagen: Wenn die Kommunikation in der virtuellen Welt verstummt, ist meist das Lebensende der Gemeinschaft erreicht.116 Derzeit existieren drei Initiativen, die sich aus der deutschsprachigen „Emerging Church“-Konversation ergeben haben: Die Theologische Initiative, die
111 Faix / Weißenborn (Hg.), Zeitgeist (2007); Faix / Weißenborn u. a., Zeitgeist 2 (2009). 112 Beispielsweise von Björn Wagner, der den australischen Theologen Alan Hirsch im deutschsprachigen Raum profiliert hat. 113 Exemplarisch: Wagner / Ehniss (Hg.), Beziehungsweise Leben (2009). Aschoff, Kaum zu fassen (2010). 114 Für das Jahr 2014 wurde ein neues Format für die Vorstellung und Diskussion „emergenter“ Ideen gewählt. Im Herbst 2014 fand die Konferenz „CON:FUSION 2014“ statt. 115 Eine Gemeinschaft, die mit emergentem Gedankengut in Verbindung gebracht wird, ist „Kubik“. Eine andere deutschsprachige Plattform war: http://beziehungsweise-leben.de am 12.10.2016. 116 Ein Beispiel dafür ist http://emergingaustria.blogspot.de/ am 22.09.2014 oder auch http:// emergent-oesterreich.blogspot.de/ am 22.09.2014.
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3. „Emerging Church“ – ein geschichtlicher Abriss
Gleichberechtigungsinitiative und die Initiative für kommunitäres Leben. Diese Initiativen sind Arbeitsgemeinschaften, die über die ausgewählten Themen reflektieren, bloggen und Impulse in das Netzwerk einspeisen. Die zentrale Frage für „Emergent Deutschland“ ist, wie Arne Bachmann 2012 formuliert: „Wie kann Christsein, Nachfolge, Kirche in den unterschiedlichen Kontexten gelebt werden?“117 Diese Frage wird bewusst in Distanz zum ortsgemeindlichen Kontext gestellt.
117 http://emergent-deutschland.de/podcast-2/ am 22.09.2012.
4. Strömungen in der „Emerging Church“Konversation 4.1 Annäherung In dem vorliegenden Kapitel soll eine Unterteilung in drei Strömungen innerhalb der „Emerging Church“-Konversation vorgestellt und diskutiert werden. Damit wird etwa Wollschlegers Hinweis ernst genommen, wenn er sagt: „Emerging Church is not a cohesive subculture.“1 Aufgrund der Vielfalt und der sich über einen längeren Zeitraum erstreckenden Konversation gibt es einerseits nur schwer festzustellende (und auch sich verändernde) Gravitationspunkte, die für eine Unterteilung jedoch notwendig sind. Andererseits wird die Pluralität innerhalb der Konversation erst durch eine Klassifikation deutlich. Diese Problematik wird im folgenden Vorschlag insofern beachtet, als mit einer gewissen Vorsicht von den Grenzen der Strömungen gesprochen wird. Nichtsdestotrotz verhilft eine Einteilung in Strömungen zu einem tieferen Verständnis über die Konversation und stellt sie in ihrer Komplexität dar. Zu Beginn soll die grundlegende Unterteilung des niederländischen Theologen Robert Doornenbal für die Konversation angeführt werden.2 Er stellt dar, dass es in der „Emerging Church“-Konversation zwei Dynamiken mit unterschiedlichen Handlungsmustern gibt, jene, die „reactive“ („reaktionsfreudig“ / „auf einen Umstand reagierend“) handeln, und jene, die „proactive“ („proaktiv“) handeln.3 Obwohl die Religionssoziologen Ganiel und Marti feststellen, dass jede emergente Gemeinschaft beide Handlungsmuster zugleich ausübt, also sowohl auf einen Umstand, wie etwa postmoderne Bedingungen, reagiert als auch proaktives Verhalten an den Tag legt,4 kann in den Veröffentlichungen und den emergenten Debatten beobachtet werden, dass ein Handlungsmuster tendenziell stärker betont wird. In einer ersten Annäherung kann
1 Wollschleger, „Off the Map“ (2012), 75. 2 Doornenbal, Crossroads (2012), 39–40. 3 Dies ähnelt der Ansicht von John Drane, der meint, dass jede „Emerging Church“-Vergemein�schaftung folgendes sei: „[…] either emerging from a positive relationship with the ancient tradition, or from a negative reaction against the historically more recent tradition of Protestant fundamentalism.“ Drane, „Editorial“ (2006), 6. 4 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 26.
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4. Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation
dies als „Sehhilfe“ dienen, um die Stimmen innerhalb der Konversation einzuteilen. Auf der einen Seite gibt es jene, die sich „reactive“ verhalten, also sich gegen beispielsweise einengende Ansichten im US-amerikanischen Evangelikalismus, „seeker-sensitive“-Zugänge, „Megachurch“-Ansätze oder „mainline“ Erfahrungen wenden. Auf der anderen Seite stehen jene, die um eine proaktive Auseinandersetzung („proactive“) mit der sich verändernden Kultur und den impliziten missionarischen Folgen ringen. Im Vergleich zu Doornenbal schlägt Ed Stetzer eine komplexere Unterteilung vor, die dargestellt und weiterentwickelt werden soll.5 Er bemüht sich darum, das theologische Spektrum der Konversation anhand von drei Begriffen zu beschreiben, die er als Strömungen in der Konversation schildert.6
4.2 Drei Strömungen: „relevants“ – „reconstructionists“ – „revisionists“ Der im US-amerikanischen Evangelikalismus beheimatete Missionstheologe Ed Stetzer schlägt eine Systematisierung der „Emerging Church“-Konversation mittels des Kontextualisierungsverständnisses und -verhaltens emergenter Protagonisten vor.7 Er fragt danach, wie das Evangelium in den betreffenden Kontexten eingebracht und mit dem Kontext ins Verhältnis gebracht wird, und unterteilt Protagonisten, Gruppen und Gemeinschaften in der „Emerging Church“-Kon-
5 Stetzer, „The Emergent / Emerging Church“ (2009). Im Folgenden wird auf Stetzers Unter�teilung Bezug genommen, sie unterscheidet sich nicht von McKnights. www.bpnews.net/ bpnews.asp?Id=22406 am 21.10.2014. Siehe dazu Doornenbal, Crossroads (2012), 41. 6 An einer anderen Stelle betonen Stetzer und Putnam: „The emerging church appears to have forked in three directions. One fork takes the same gospel in the historic form of church but seeks to make it understandable to emerging culture. A second stream takes the same gospel but focuses on questioning and reconstructing much of the form of the church. The third stream and more extreme approach focuses on questioning and revisioning the gospel and the church.“ Stetzer / Putman, Breaking the Missional Code (2006), 187–188. 7 Ed Stetzers Klassifizierung erfreut sich großer Beliebtheit und wird in vielen Untersuchungen rezipiert: Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 38–42. Doornenbal, Crossroads (2012), 41–48. Liederbach / Reid, The Convergent Church (2009), 99–102. Belcher, Deep Church (2009), 45–47. Im deutschsprachigen Raum: Faix / Weißenborn (Hg.), Zeitgeist (2007), 139–140. Wollschleger unternimmt ebenfalls eine Dreiteilung, benennt sie aber in seiner Untersuchung anders. Er spricht von „relevant congregation“ (vergleichbar mit „relevants“), „wilderness con�gregation“ (vergleichbar mit „reconstructionists“) und „emerging congregations“ (vergleichbar mit „revisionists“). Wollschleger, „Off the Map“ (2012), 75–76.
4.2 Drei Strömungen: „relevants“ – „reconstructionists“ – „revisionists“
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versation in drei Strömungen.8 Damit wird ein theologisches Spektrum innerhalb der Konversation deutlich. 1. „Relevants“ („die Relevanten“): Obwohl es auch innerhalb dieser Strömung ein Spektrum theologischer Anschauungen gibt, ist eine gemeinsame Orientierung auszumachen.9 Die Vertreter der ersten Strömung bleiben in ihrem (zumeist evangelikalen) Bibelverständnis haften, lediglich die Ausformung des christlichen Lebens für eine postmoderne Generation wird überdacht.10 Stetzer nennt sie „relevants“, weil sie danach streben, die Formen der Verkündigung, der Praxis und des Gemeindelebens stärker an postmoderne Bedingungen anzupassen.11 Sie erkennen die Relevanz bestehender Interpretationen des Evangeliums an, streben aber danach die Form dieser „gültigen Wahrheiten“ in ihre Zeit zu übersetzen.12 Driscoll drückt dies etwa mit 8 Stetzer: „Understanding the Emerging Church“, http://www.bpnews.net/bpnews.asp?Id=22406 am 10.12.2010. Und auch: http://www.bpnews.net/22406 am 21.10.2014. 9 Seine Unterteilung und Wahrnehmung ist ausgehend vom US-amerikanischen Evangelikalismus entwickelt. Doornenbal sagt dazu: „On the conservative end, we see a growing group of Emerging Reformers or Reformed relevants […] such as the New Zealander Michael Beck or the American Mark Driscoll. […] On the more progressive end of the spectrum, we encounter John Burke […]. Other well-known relevant leaders and writers from the United States are Darrin Patrick, Matt Chandler, and Rick McKinley.“ Doornenbal, Crossroads (2012), 42–43. Gleichzeitig gilt für die einzelnen Protagonisten: „Some may increasingly lean toward strong revisionist views, while others may perhaps find themselves becoming more cautious and ‚relevant‘ in their outlook.“ A. a. O., 47. 10 Beispielsweise Mark Driscoll, John Burke und Dan Kimball sind Teil des „relevant“-Flügels der Konversation. John Bohannon weist darauf hin von wem Driscoll beeinflusst ist: John Stott, Francis Schaeffer, J. I. Packer, Charles Colson, Billy Graham, D. A. Carson, Wayne Grudem, John Piper und John MacArthur. Driscoll distanzierte sich im Laufe der zweiten historischen Phase von der „Emerging Church“-Konversation. Seine Kritik: „If both doctrine and prac� tice are constantly changing, the result is living heresy, which is where I fear the Revisionist Emergent tribe of the Emerging church is heading.“ Driscoll, „A Pastoral Perspective on the Emerging Church“ (2006), 90–91. Driscoll sagt weiter: „But, what I find frightening is the trend among some to drift from what I consider to be faithful conservative evangelical theological convictions in favor of a less distinctively Christian spirituality. The result is a trip around the same cul-de-sac of false doctrine that a previous generation spent their life driving around while touting their progress.“ Aus�führlicher zu seiner Distanzierung, siehe Driscoll, Confessions of a Reformission Rev. Hard Lessons from an Emerging Missional Church (2006), 21–23. 11 Scott Bader-Saye leitet den Begriff „relevant“ von dem Wort „elevate“ („hochheben“) ab und kommt zu einer theologischen Deutung: „The church’s witness in the world could be con�strued as a reiteration of the moment when the priest elevates the host during the traditional Eucharistic liturgy. Seen in this way, relevance (re-elevation) is about lifting up Christ so that he may be seen by the world.“ Bader-Saye, „Improvising Church“ (2006), 20. 12 Diese Gruppe ist vergleichbar mit den „new paradigm churches“ der 70er- und 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Ziel der Bewegung war es eine „user-friendly church“ zu werden. Ein Bei�spiel dafür ist das „Jesus People movement“. Für genauere Ausführungen siehe Miller, Rein� venting American Protestantism. Christianity in the New Millennium (1997), 13–16.
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4. Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation
dem Begriff „relevant orthodoxy“ aus: „[…] relevantism, by which doctrinal principles remain in a closed hand and cultural methods remain in an open hand […].“13 Ihr Ziel besteht in einer zeitgemäßen Kontextualisierung des Evangeliums (Vertreter sind Dan Kimball14, Erwin McManus, John Burke15 oder Mark Driscoll), das damit anschlussfähig, verständlich, einladend und die Bedürfnisse der Menschen ansprechend wird. Protagonisten dieser Strömung wollen sich auf ihre lokale „community“ („Nachbarschaft“) einlassen und diese für den christlichen Glauben gewinnen. „The churches of the ‚relevants‘ are not filled with the angry white children of evangelical megachurches. They are, instead, intentionally reaching into their communities […] and proclaiming a faithful biblically-centered Gospel there.“16 Stetzer stellt fest, dass sich „relevants“ nicht in einer prinzipiellen Protesthaltung gegenüber evangelikalem Gedankengut befinden, sondern frische Ausdrucksformen ihrer religiösen Orientierung suchen. Robert Doornenbal schildert das Verhältnis dieser Strömung zu postmodernen Menschen mit: „‚Relevants‘ minister to postmoderns“, d. h. „die Relevanten“ dienen postmodernen Menschen in ihrem Kontext.17
Joshua M. Moritz, Herausgeber von „Dialog: A Journal of Theology“, gibt dazu eine ein�führende Bemerkung: „Differing from the evangelical New Paradigm seeker-sensitive Church’s generational focus, and the organizational unity and routines of Mainline Protestant denominations the Emerging Church conversation endeavors to create committed, authentic, dayto-day communities that embrace ecumenical and ancient Christian theology and practices in order to live out the reality of the in-breaking kingdom of God.“ Moritz erwähnt in seinem Definitionsvorschlag wesentliche Schlagwörter: Zum einen eine Abgrenzung zu „evangelical New Paradigm seeker-sensitive Church“ – hier wird ihr generationsspezifischer Zugang ge�schildert –, zum anderen eine Abgrenzung zu den organisierten Körperschaften und routinierten Praktiken der „Mainline Protestant denominations“. Moritz, „Beyond Strategy, Towards the Kingdom of God. The Post-Critical Reconstructionist Mission of the Emerging Church“ (2008), 27. 13 Driscoll, „The Church and the Supremacy of Christ in a Postmodern World“ (2007), 143. 14 Kimball meint: „Ed Stetzer has probably done a good job in wording of the primary divisions. There’s a group he calls the Relevants – those who are basically evangelicals who are passionate about evangelism and not afraid to break tradition or change forms and expression of ministry, how people learn, or even ecclesiology in the sense of ‚What does leadership look like?‘ I would personally fit in that particular realm – I don’t like the word relevant, but that’s that.“ Zitiert aus Bohannon, Preaching & The Emerging Church. An Examination of Four Founding Leaders. Mark Driscoll, Dan Kimball, Brian McLaren and Doug Pagitt (2010), 164. Für eine ausführliche Darstellung der Person und der Veröffentlichungen Kimballs siehe Ring, „The ministry of Dan Kimball. A model for reaching emerging generations“. 15 Die Rolle von Burke ist in der kritischen Auseinandersetzung zur „Emerging Church“-Kon�versation unklar. Duncan ordnet Burke in die „revisionist“-Strömung ein. Duncan, „A Criti� cal Analysis of Preaching in the Emerging Church“, 13. 16 http://www.bpnews.net/22406 am 21.10.2014. 17 Doornenbal, Crossroads (2012), 41.
4.2 Drei Strömungen: „relevants“ – „reconstructionists“ – „revisionists“
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2. „Reconstructionists“ („die Rekonstruktionisten“): Die Protagonisten der zweiten Strömung werden „reconstructionists“ genannt. Sie wenden sich vom Modell der besucherorientierten Gemeinde ab und meinen, dass die vorherrschenden Gemeindemodelle dekonstruiert werden müssen, da sie darin irrelevant und ineffektiv sind, Menschen außerhalb gemeindlicher Strukturen zu erreichen. Das Evangelium soll (ohne es zu kompromittieren) in lokale Kontexte übersetzt werden. Gleichwohl sehen sie sich dem christlichen Glauben, wie sie ihn kennengelernt haben, weiterhin verpflichtet. Im Zusammenspiel von Evangelium und lokalem Kontext entstehen neue Formen gemeindlichen Zusammenlebens. Sie stellen traditionelle Gemeindekonzepte infrage und vertreten eine organische Form von Leitung. Dan Kimball beschreibt das Anliegen folgendermaßen: „[…] we must rethink leadership, church structure, the role of a pastor, spiritual formation, how community is lived out, how evangelism is done, how we express our worship, etc. It’s not just about what we do in the worship service, but about every thing.“18 So soll nicht die Welt durch attraktive Formen in die Gemeinde gelockt, sondern die Gemeinde in die Welt gebracht werden.19 Vertreter sind: Neil Cole, Michael Frost20, Alan Hirsch21.22 Robert Doornenbal beschreibt den Umgang der Missionstheologen Michael Frost und Alan Hirsch mit der Postmoderne wie folgt: For reconstructionists the implications of postmodernity do not alter the gospel message, but they do have consequences for church and mission. Reconstructionists such as Frost and Hirsch seek to thoroughly contextualize the church, making it indigenous to its culture, while rediscovering its nature as a missionary movement.23 18 Kimball, „The Emerging Church and Missional Theology“ (2007), 86. 19 Diese Strömung wendet sich vor allem gegen die amerikanische „Seeker-sensitive“-Bewegung und gegen „Megachurch“-Ansätze. 20 Michael Frost ist der Vizedirektor des „Morling College“ und Gründer des „Tinsley Institute“ in Sydney, Australien. 1998 war Frost einer der Gründer des „Forge Mission Training“-Netz� werks in Melbourne und 2001 hat er die Gemeinschaft „smallboatbigsee“ gegründet. 21 Ursprünglich kommt Alan Hirsch aus der „Church Assembly“ in Australien und der „Church Planting“-Bewegung. Alan Hirsch ist Gründer des „Forge Mission Training“-Netzwerks. Er ist auch Gründer der Plattform „shapevine.com“ und leitet das Netzwerk „Future Travelers“, eine Lerngemeinschaft, die „missional-inkarnatorische“ Ansätze in bestehenden Gemeinden etablieren will. https://www.youtube.com/watch?v=rd1UwJ3xfD4 am 05.05.2016. Er besucht die emergente Gemeinschaft „The Tribe“ in Los Angeles. 22 Doornenbal benennt den Einfluss, den diese Strömung hat: „They are influenced by theologi�ans of an earlier generation such as Lesslie Newbigin and David Bosch, and by contemporary theologians such as N.T. Wright, Miroslav Volf, and Dallas Willard, and sometimes by the Anabaptist tradition as well (e. g. John Howard Yoder and the UKbased Baptist writer Stuart Murray Williams).“ Doornenbal, Crossroads (2012), 44. 23 A. a. O., 95.
202
4. Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation
Durch die Kontextualisierung der biblischen Botschaft wird das missionarische Wesen einer „Emerging Church“-Gemeinschaft in dieser Strömung zugespitzt. Doornenbal überschreibt diese Strömung mit: „‚Reconstructionists‘ minister with postmoderns.“24 – „Rekonstruktionisten“ dienen gemeinsam mit Menschen postmoderner Prägung. 3. „Revisionists“ („die Revisionisten“): Stetzer schildert den Zugang der Protagonisten der dritten Strömung, die er als „revisionists“ bezeichnet, als am deutlichsten von einer evangelikalen Frömmigkeit entfernt. In dieser Strömung geht es aus Sicht Stetzers um die weitreichendsten Veränderungen, die zu einer Theologie ausgehend von den Lebenswelten der Menschen führen.25 Revisionismus bedeutet, dass bisher geltende Erkenntnisse, Positionen und Vergemeinschaftungsformen überprüft, infrage gestellt, neu bewertet sowie umgedeutet werden. So kommt es beispielsweise bei den Themen Kirchenund Gemeindebegriff, Sühneverständnis, „Reich Gottes“ Theologie u. a. dazu, dass diese kritisch hinterfragt und für postmoderne Bedingungen neu gedeutet werden.26 Stetzer dazu: „Revisionists are questioning (and in some cases denying) issues like the nature of the substitutionary atonement, the reality of hell, the complementarian nature of gender, and the nature of the Gospel itself.“27„Revisionisten“ lehnen evangelikale Antworten zu Themen, wie die Deutung des Todes Jesu als Sühnetod, die Wirklichkeit der Hölle oder die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Beziehungen, ab. Sie sehen die beiden anderen Strömungen hinsichtlich postmoderner Anpassung als nicht radikal genug an.28 Vertreter sind: Brian McLaren,
24 A. a. O., 43. Robert Doornenbal, der die Einteilung von Stetzer weiterdenkt, meint: „In the reconstructionist stream, often informal, missional incarnational, and organic church forms, such as house churches, are proposed.“ 25 Vgl. Stetzer, Understanding the Emerging Church. Tony Jones meint: „The hope of emergents, their ministry, their message is, more than anything, a call for a reinvigoration of Christian theology – not in the ivy towers, not even in pulpits and pews, but on the street […].“ „Emer� gents believe that theology is local, conversational, and temporary.“ Jones, The New Christians (2008), 104, 111. 26 Exemplarisch können Burkes und Taylors Aussagen dazu gelten: „At this point in our history, I believe God is to be questioned as much as obeyed, created again and not simply worshipped. Our views must be continually revised, reconsidered, and debated.“ Burke / Taylor, A Heretic’s Guide to Eternity (2006), xxii. 27 http://www.bpnews.net/22406 am 21.10.2014. 28 Kester Brewin sagt: „My problem with many of these ‚Emerging Church‘ projects is that they are still attempting to bring church up to date by ‚train spotting‘ some aspects of culture and making church fit it. I want to argue that in the ‚Emergent Church‘ the emphasis will be on being the train, rather than trainspotting: rather than trying to import culture into church and make it ‚cool‘, we need instead to become ‚wombs of the divine‘ and completely rebirth the Church into a host culture […].“ Brewin, The Complex Christ (2004), 70.
4.2 Drei Strömungen: „relevants“ – „reconstructionists“ – „revisionists“
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Doug Pagitt, Tony Jones, Peter Rollins, John Caputo, Spencer Burke, Rob Bell oder Kester Brewin.29 Doornenbal betitelt diese Strömung mit: „Revisionists minister as postmoderns.“30 „Revisionisten“ verstehen ihren Dienst als Christen in dieser Welt als postmoderne Menschen, die die christliche (evangelikale) Botschaft nicht mehr als unverrückbar betrachten, sondern sie dekonstruieren und neu konstruieren müssen.31 Für Stetzer sind die Relevants und Reconstructionists hilfreiche Gesprächspartner für den sich ändernden US-amerikanischen Evangelikalismus. Daneben stellt er für die Revisionisten fest, dass die Protagonisten dieser Strömungen nicht mehr als „evangelicals“ („Evangelikale“) bezeichnet werden dürfen, da sie das „evangelical understanding of Scripture“32 nicht mehr teilen. Stetzer selbst favorisiert eine biblisch-orientierte, missionarische Ausrichtung der Kirche und kritisiert eine Vernachlässigung biblischer Lehren in Kirche, Theologie und Praxis. Eine solche Vernachlässigung wird für ihn in der dritten Strömung sichtbar, was seiner Meinung nach schnell zum Abdriften vom
29 In der dritten Strömung sind Einflüsse von folgenden Protagonisten zu verorten: John Caputo, Mark Taylor, John Hick, Matthew Fox und Catherine Pickstock. Das bestätigt auch Soziologe Doug Gay und fügt hinzu: „Some – I suggest they are the mi�nority – have embraced a radically deconstructive route, aligning themselves with the theological and a / theological positions of thinkers such as John Caputo or Mark C. Taylor. Some have been greatly influenced by the ‚deep ecumenism‘ of John Hicks or Matthew Fox. Some, I believe a larger percentage, have taken a post-liberal or post-evangelical route, identifying themselves with the work of George Lindbeck, Hans Frei, Walter Brueggemann, Miroslav Volf, Stanley Hauerwas and, perhaps, Karl Barth. Some identify more explicitely with parts of the program of Radical Orthodoxy […].“ Gay, Remixing the Church (2011), 103–104. 30 Doornenbal, Crossroads (2012), 45. Doornenbal dazu weiter: „In America, revisionists are particularly found within Emergent Village-circles.“ A. a. O. 31 An dieser Stelle soll auf eine Differenzierung innerhalb der dritten Strömung hingewiesen werden. Abhängig von welcher theologischen Tradition Protagonisten kommen, kann von einem „postliberalen Flügel“ und einem „postkonservativen Flügel“ gesprochen werden. Michael Wittmer bezeichnet die dritte Strömung als gelungene Vereinigung beider Flügel: „as the pro�ductive union of postliberalism on the left (e. g. Hans Frei and George Lindbeck) and postconservatism on the right (e. g. John Franke and Roger Olson).“ Wittmer, „Don’t Stop Believing“ (2008), 119. „Revisionists“ stehen im US-amerikanischen Evangelikalismus unter dem Verdacht, einen Neo-Liberalismus zu vertreten. Matthew Gallion meint dazu: „If emergence Christianity is to radically enact or incarnate transformative change – as it purportedly desires to do – then it will have to face its overwhelming similarities to classical liberalism and move beyond them.“ Gallion, „The Postmodern Pan and the ForeverNeverland“ (2011), 89. 32 Als Baptist bezieht sich Ed Stetzer auf Überzeugungen des Evangelikalismus. Siehe QR-Code im Vorwort, dort: Kennzeichen.
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4. Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation
Glauben führt.33 Stetzer schildert, dass vieles von der Kritik, die an der „Emerging Church“-Konversation laut wurde, die dritte Strömung betraf.
Stetzer / Doornenbal-Modell „relevants“
•
•
Evangelium soll relevant dargestellt werden „minister to postmoderns“
„reconstructionists“
•
•
Evangelium wird in den Kontext eingepflanzt; es entstehen neue Formen von Kirche „minister with postmoderns“
„revisionists“
•
•
Evangelium und Kirche werden neu bewertet und definiert „minister as postmoderns“
Abbildung 5: Darstellung der Strömungen nach dem Stetzer/Doornenbal-Modell
4.3 Diskussion Es ist zweifellos richtig, dass jegliche Klassifikation Phänomene vereinfacht festlegt. Trotz dieser Gefahr hilft ein solches Vorgehen, um ein komplexes Phänomen, wie die „Emerging Church“-Konversation, zu beschreiben. Zunächst soll auf die Stärken hingewiesen werden: Durch diese Kategorien ist es möglich eine große Bandbreite von Autoren, Sprechern und Gemeinschaften abzudecken. Der Vorschlag von Ed Stetzer scheint aus Sicht eines Vertreters des US-amerikanischen Evangelikalismus angemessen, wenn es darum geht, theologische Tendenzen der „Emerging Church“-Protagonisten und Gemeinschaften hinsichtlich ihres „evangelikalen Charakters“ zu erfassen. Gleichwohl hat diese Darstellung genau hierin ihre Begrenzung, da Stetzer als Vertreter des US-amerikanischen Evangelikalismus einen begrenzten Blick aufweist. Schließlich blieb die „Emerging Church“-Konversation nicht auf den Evangelikalismus begrenzt, 33 Ed Stetzer warnt die Teilnehmer dieser Strömung lediglich davor: „[to] rearrange dissatisfied Christians“. Diese Strömung soll seiner Meinung nach die missionarische Ausrichtung, Men�schen zum christlichen Glauben einzuladen, nicht verlieren. http://www.bpnews.net/22406 am 21.10.2014.
4.3 Diskussion
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obwohl er daraus hervorgegangen ist und als Gesprächspartner bestehen blieb. Es muss darauf verwiesen werden, dass Stetzer als implizites Kriterium der Kontextualisierung einen von ihm vertretenen US-amerikanischen Evangelikalismus nennt. Hiermit ist die Generalisierbarkeit der Einteilung gewissermaßen beschränkt, zum Beispiel wenn es sich um Frömmigkeitsströmungen in der Konversation handelt, die keinen Bezug zum US-amerikanischen Evangelikalismus haben, oder wenn transatlantische Bezüge wahrgenommen werden sollen.34 Nichtsdestotrotz ist Stetzers Unterteilung insofern hilfreich, als die „Emerging Church“-Konversation als Reaktion auf erlebte Formen des Evangelikalismus (oder andere konservative Frömmigkeitsstile) ernst genommen und unter Gesichtspunkten der Kontextualisierung wahrgenommen wird. Dies ist jedoch kein hinreichendes Kriterium für eine umfassende Einteilung. Des Weiteren erweist sich der Vergleichsparameter, der Stetzers Ansatz zugrunde liegt, als problematisch, da es schwer zu beurteilen ist, wie sich eine Gemeinschaft, ein Protagonist oder eine Aussage zum „Evangelium“ (aus evangelikaler Sicht) verhält. Stetzers Prämisse wird deutlich: Einerseits meint er, dass von einer „reinen“, abstrahierbaren Form des Evangeliums gesprochen werden kann. Andererseits ist zu fragen, wer diese Unterteilung und damit das Urteil vornehmen soll.35 Es ist anzumerken, dass besonders in der zweiten und dritten historischen Phase die Strömungen innerhalb der emergenten Konversation, die der Postmoderne verhalten und distanziert gegenüberstanden („relevants“ und Teile der „reconstructionists“), nahezu verschwunden sind und die prinzipielle Vorsicht der Postmoderne gegenüber weggefallen ist. Gleichzeitig muss erwähnt werden, dass die kritische Distanz zur Postmoderne und damit eine Distanz zur Kultur ein nicht zu unterschätzendes Merkmal des Evangelikalismus ist.36 An dieser Stelle ist die Differenzierung des Niederländers Robert Doornenbal hilfreich, wenn er die Stellung zur Postmoderne als zweiten Vergleichsparameter zu Hilfe nimmt und damit die Einteilung erweitert. Stetzers Ansatz wird 34 Dies gilt insbesondere für die dritte historische Phase. 35 Ed Stetzer geht bei der „Emerging Church“-Konversation von einer Bewegung innerhalb des US-amerikanischen Evangelikalismus aus und orientiert sich dabei an dem Konsens evangelikalen Bibelverständnisses. Vielleicht ist Stetzer angemessener verstanden, wenn man davon spricht, wie Vertreter und Aussagen zum Vergleichsparameter „Evangelium“, wie es im USamerikanischen Evangelikalismus verstanden wird, stehen. In Selbstaussagen von Protagonisten aller drei Strömungen wird zudem deutlich, dass sie aus ihrer Sicht das „Evangelium“ nicht betrügen, sondern ihm gerecht werden wollen und deshalb nach Relevanz und Deutungsmöglichkeiten fragen. 36 Für eine genaue Darstellung evangelikaler Auseinandersetzung mit der Postmoderne siehe Groothuis, Truth Decay. Defending Christianity Against the Challenges of Postmodernism (2000), 17–138.
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4. Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation
durch Doornenbals Differenzierung bereichert, nämlich um die Bestimmung, wie die Vertreter einer Strömung zu den sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen stehen („minister to postmoderns“, „minister with postmoderns“, „minister as postmoderns“).37 Damit ist ein zweites Kriterium eingefügt, das eine Verallgemeinerung des Modells (und damit Erweiterung auf andere religiöse Traditionen und Länder) ermöglicht. Es ist in gewissem Sinn ein epistemologisches Kriterium, wenn nämlich danach gefragt wird, wie etwa Erkenntnis der Wahrheit in den drei Strömungen verstanden wird.38 Die Dreiteilung zeigt sowohl Unterschiede als auch eine Weiterentwicklung auf. Während Vertreter der ersten Strömung das Evangelium für postmoderne Menschen relevant präsentieren und Vertreter der zweiten Strömung inkarnierend vorgehen wollen, suchen Protagonisten in der dritten Strömung selbst als postmoderne Menschen nach dem Evangelium in ihrem Kontext. Alle drei Strömungen weisen ein unterschiedliches Selbstverständnis religiöser Orientierung auf. Emergente Protagonisten der dritten Strömung scheinen Bedingungen der Postmoderne in ihre religiöse Orientierung sowie in ihr Handeln aufgenommen zu haben. Dazu zählt das Erleben einer Spannung zwischen universaler und partikularer Wahrheit, die Ablehnung von Objektivität, die Betonung des Mysteriums und der Zweifel – als Gegenüber von Gewissheit. Es fällt auf, dass in den drei Strömungen verschiedene Modelle der Kontextualisierung dominieren. Stephen Bevans hat sechs Modelle der Kontextualisierung vorgestellt, die hilfreiche Beschreibungen bieten, um die Kontextualisierungsprozesse in der Konversation zu explizieren.39 1. Das Übersetzungsmodell. Darin geht es um die Übersetzung christlicher Wahrheiten in den Kontext.40 Während der Kerninhalt der Wahrheit gleich bleibt, können sich die Gestalten und Formen der Wahrheitsvermittlung 37 Auch hier muss kritisch angemerkt werden, dass es keinen gesellschaftlichen oder wissenschaftlichen Konsens dazu gibt, wie die gesellschaftlichen Veränderungen zu deuten sind. 38 Damit wird auf der Erkenntnis von etwa Hunt aufgebaut, der die Auseinandersetzung mit postmodernen Epistemologien für die Konversation für relevant hält: „Post-modern episte� mology is fundamental to the Emerging Church movement’s beliefs. Thus ‚emergents‘ have endeavoured to forge a post-foundational theology which rejects certainty in favour of a disposition they describe as more conjectural in which their views are merely just several among many legitimate, non-dogmatic religious voices engaging in dialog. In this sense ‚emergents‘ maintain that it is necessary to deconstruct, reconstruct and reshape Christianity in order to engage post-Christian Western culture in a two-way ‚conversation‘, rather than proclaim a message that is alien to that culture.“ Hunt: „The Emerging Church. Characteristics and Ty�pology – The Case of Ikon“, 79. So auch Stuvland, der in der „Emerging Church“-Konversation einen dominanten „post-foundationalism“ vertreten sieht. Stuvland, „The Emerging Church and Global Civil Society“ (2010), 230. 39 Bevans, Models of Contextual Theology (2002). 40 A. a. O., 37–53.
4.3 Diskussion
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ändern. Inhalt und Form werden strikt voneinander getrennt. Der Kontext ist der Bereich, dem Gott fern ist und in den Gott „gebracht“ werden müsse. Die Aufgabe dieses Modells besteht darin, die christliche Botschaft unterschiedlich zu übersetzen und damit verschiedenen Kontexten die christliche Wahrheit zu bringen. Das anthropologische Modell. Darin wird davon ausgegangen, dass Gott in den jeweiligen Kontexten präsent ist und von den religiösen Subjekten entdeckt werden kann. Das Evangelium wird demnach aus dem Kontext heraus gewonnen. Jeder Kontext kann dazu anleiteten, eine lokale Theologie unter Einbeziehung der jeweiligen Bilder und Werte zu entwickeln. Begrenzt ist dieser Ansatz in der Hinsicht, dass eine optimistische Perspektive auf das religiöse Subjekt, den Kontext sowie auf die Gegenwart und besonders hinsichtlich der wahrnehmbaren Gegenwart Gottes geltend gemacht wird. Das Praxismodell. Dieses Modell basiert darauf, Theologie auf der Grundlage eines reflektierten Handelns zu betreiben. Praxis ist dabei reflektiertes Handeln und handelnde Reflexion zugleich. Die permanente Bewegung zwischen Praxis und Reflexion führt zu neuem Handeln.41 Der immanente Ausgangspunkt, nämlich die vorherrschende Praxis, ist Stärke und gleichzeitig Schwäche dieses Ansatzes. Ein solcher Zugriff lässt unter Umständen keine Wirklichkeit außerhalb der vorfindlichen erlebten Praxis zu. Das Konversationsmodell oder das synthetische Modell: Dieses Modell will anleiten, Spannungen hinsichtlich der Anwendung der anderen fünf Modelle auszuhalten. Dabei gilt, dass es „zurückgreift auf die Ressourcen anderer Kontexte und theologischer Ausdrucksformen, sowohl im Blick auf die Methode als auch den Inhalt der eigenen Artikulation des Glaubens.“42 Der Begriff „Konversation“ macht deutlich, dass es um eine dialogische Beschäftigung mit unterschiedlichen theologischen Positionen geht. Das Modell hat seine Stärke in der Wahrnehmung und Würdigung verschiedener theologischer Kontexte. Die Schwäche besteht in der fehlenden Kritik oder Infragestellung solcher Traditionen, die über eine Balance der Verschiedenheit hinausgehen muss. Das gegenkulturelle Modell. Dieses bezieht sich stark auf den Kontext, jedoch in kritischer Distanz dazu. Es werden jene Aspekte des Kontextes identifiziert, die mit dem Evangelium nicht in Einklang gebracht werden können, diesem sogar schaden können.43 Die Stärke besteht darin, dass die Kultur durch das Evangelium interpretiert und kritisiert wird. Die Schwäche besteht darin, aus einer vermeintlichen Bewahrung des Evangeliums und durch die kritische Distanz den Bezug zum Kontext zu verlieren.
41 Siehe dazu a. a. O., 72. 42 A. a. O., 89–90. Übersetzung nach: Moynagh, Fresh Expressions of Church (2016), 181. 43 Bevans, Models of Contextual Theology (2002), 123.
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4. Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation
6. Das subjektive Modell. Dieses Modell, auch transzendentales Modell genannt, beginnt bei der Innenwelt der Glaubenden. Bevans dazu: „Bei diesem Wechsel geht es darum, statt mit einer Welt der Objekte mit der Welt des Subjekts zu beginnen, der inneren Welt des Menschen […]. Es geht um das Begleiten der transzendentalen Subjektivität des Einzelnen und somit darum, da sie sich naturgemäß nach der Wahrheit ausstreckt, dass man eine authentische kontextuelle Theologie treibt.“44 Zentral ist die Frage, ob eine Person eine authentische Glaubenserfahrung macht, und nicht die Frage nach der Offenbarung, die sich in Schrift, Kultur oder im Dialog ereignet.45 Die Stärke des Modells liegt in der Betonung des Wirkens Gottes in einer Person. Gleichwohl macht es die subjektive Erfahrung zum Maßstab, der ebenfalls einer Kritik und Distanz bedarf. Bevans spricht davon, dass jedes Modell Stärken und Schwächen besitzt und sie darum miteinander in Verbindung gebracht und angewendet werden sollen, um nicht in theologische Einseitigkeit zu geraten.46 Hinsichtlich der „Emerging Church“-Konversation wird deutlich, dass Protagonisten in den verschiedenen Strömungen bestimmte Modelle und ModellMischungen präferieren. Für „relevants“ kann festgestellt werden, dass sowohl das Übersetzungsmodell (etwa bei Driscoll oder Kimball) sowie das gegenkulturelle Modell (etwa die neo-monastischen Ansätze bei Claiborne) vorkommen. Für „reconstructionists“ kann festgestellt werden, dass Ansätze des anthropologischen Modells, des gegenkulturellen Modells sowie das Praxismodell (Frost, Hirsch) vorkommen. Bei „revisionists“ fallen Ansätze des anthropologischen und subjektiven Modells (McLaren, Bell, Brewin), des gegenkulturellen Modells (Rollins, McLaren) sowie des Konversationsmodells (Pagitt, McLaren) auf. Während Protagonisten der „relevant“-Strömung, ähnlich wie Vertreter im US-amerikanischen Evangelikalismus, das Übersetzungsmodell bevorzugt behandeln, werden besonders bei „revisionists“ das synthetische und transzendente Modell kontextueller Theologie herangezogen.47
44 A. a. O., 104. Übersetzung nach: Moynagh, Fresh Expressions of Church (2016), 182. 45 Moynagh dazu: „Indem wir unsere authentischen Glaubenserfahrungen beschreiben, helfen wir anderen auf ihren spirituellen Reisen, so wie sie uns ebenfalls behilflich sein können.“ Moynagh, Fresh Expressions of Church (2016), 182. 46 Bevans, Models of Contextual Theology (2002), 32–33. 47 Bereits Ian Mobsby weist darauf hin, dass in der „Emerging Church“-Konversation vorwiegend ein „synthetisches“ oder „transzendentes“ Modell kontextueller Theologie verwendet wird. Mobsby, Emerging and Fresh Expressions of Church (2007), 28–31.
4.4 Ein weiterentwickeltes Modell
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4.4 Ein weiterentwickeltes Modell Stetzers Modell soll an dieser Stelle um ein zusätzliches Kriterium ergänzt werden. Neben der Betonung der „Stellung zum Evangelium“ (Stetzer) und dem Verhältnis zur Postmoderne (Doornenbal) werden die Kontextualisierungsansätze der Strömungen um das Element Dekonstruktion bereichert.48 Dieses Kriterium ist bereits in Stetzers und Doornenbals Kriterien angelegt, da beide bereits nach dem Verhältnis von Evangelium und Kultur fragen und dekonstruierende sowie konstruierende Prozesse implizieren. Bereits Eddward Gibbs weist auf einen „dekonstruierenden“ Charakter in der Konversation hin, wenn er sagt, dass es darum gehe „[to] renegotiate religious beliefs and practices“49.50 Er wirbt für ein positives Verständnis von „Dekonstruktion“: „Among emerging church leaders, deconstruction signifies not destruction, but a breakthrough. It means to undo or take apart in order to arrive at a deeper understanding, allowing for a creative rereading.“51 Gibbs folgert: „[…] we understand that members of the ECM actively deconstruct congregational life by placing into question the beliefs and practices that have held sway among conventional Christians.“52 Gibbs schlägt vor, parallel dazu
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So auch die Einschätzung von Murray, der sagt: „So the Emerging Church does have a dis�tinctively new, or can I say old theological approach to what it does, modeled on a synthetic model of doing contextual theology. This model attempts to listen to culture for basic patterns and structures, analyzing culture in order to discover its basic system of symbols.“ Murray, Post-Christendom (2004), 255. Mit „Dekonstruktion“ wird nicht auf ein bestimmtes philosophisches oder sprachtheoretisches Modell rekurriert, sondern pragmatisch nach der Bedeutung einzelner Elemente, Formen, Sätze und Inhalte für den jeweiligen Kontext gefragt. Wichtig ist dabei, dass Form und Inhalt für Protagonisten relevant und anschlussfähig werden. Gibbs, ChurchMorph (2009), 17. Vgl. auch Carson, Becoming Conversant with the Emerging Church (2005), 36. Oder auch die Aussage von Bob Robinson: „If postmodernity is right that all metanarratives are social constructions, then deconstruction is the only right thing to do to them – in order to understand how those local communities built these concepts in the first place. We need not fear postmodern deconstruction – for it is beneficial because it tears down what Bruce Benson calls the ‚Graven Ideologies‘ of modernity. Once our modern idols have been destroyed, we Christians will be capable of living a more pure Christian faith.“ http://vanguardchurch.blogspot.com/2005/09/im-situated-in- local-communityand.html am 28.02.2007. Gibbs, ChurchMorph (2009), 17. A. a. O.
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4. Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation
die Begriffe „reimagining“ und „morphing“ zu verwenden. Damit wird dem „Neuformieren“ und „Neuerdenken“ eine wesentliche Aufgabe zugesprochen.53 Die von Gibbs beschriebene „Dekonstruktion“ als Kriterium der Konversation kann mit den von Stetzer und Doornenbal vorgestellten Kriterien der drei Strömungen ins Verhältnis gesetzt werden. Dies führt zu folgender Unterteilung, welche die Dekonstruktion in zwei Pole deutlich macht: a) Dekonstruktion der Ästhetik und gemeindlich struktureller Vorgaben b) Dekonstruktion der religiösen Orientierung Dabei kann ein möglicher aber nicht zwangsläufiger Verlauf der Dekonstruktion von Form (a) für „relevants“ und „reconstructionists“ zu Inhalt und Überzeugungen (b) für „revisionists“ deutlich werden.54 a) Vertretern der ersten Strömung („relevants“) ist es wichtig, Inhalte und Formen anschlussfähig und relevant an den Kontext darzustellen. Dazu wird beispielsweise gottesdienstliches Handeln durch Dekonstruktion äußerer Formen angepasst.55 So werden äußere Formen wie der Gottesdienstraum, die Orte, das Raumarrangement, die Prinzipalien (Altar, Kanzel, Ambo, Taufstein – falls vorhanden) ihrer vormaligen Bedeutung enthoben und 53 Mehrere Studien über die „Emerging Church“-Konversation haben bereits darauf hingewiesen, dass Protagonisten die Möglichkeiten und Grenzen theologischer Aussagefähigkeit unter postmodernen Bedingungen diskutieren. Bielo dazu: „If language poses inherent problems of me�diation in acts of reading, interpreting, translating and teaching then the assent to propositional belief becomes less attractive as a foundation for faith.“ Bielo, „Belief, Deconversion, and Authenticity“ (2012), 262. Es gibt eine kritische Diskussion des Einflusses von dekonstruierenden Methoden in der Konversation. Beispielhaft zeigt sich das bei Bohannon, der über die Autorität der Schrift schreibt. Bohannon dazu: „If the text is not guarded, the deconstructionist voices of Jacques Derrida, Michel Foucault, Richard Rorty, and Stanley Fish may be heard trumpeting over the voices of Paul, Peter, John, and even Jesus in the hermeneutical and homiletical practices of emergent leaders.“ Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 178. Auch Roennfeldt spricht von zwei Polen der Reaktion in der „Emerging Church“-Konversa� tion: „deconstructionist“ und „constructionist“. Die erste Gruppe schildert er folgendermaßen: „Committed to deconstruction of inherited Christendom ecclesial structures, theological models, and theology / ecclesiology.“ Die zweite Gruppe als: „Committed to constructively cultivating missional initiatives, rediscovering Jesus, his message, and an apostolic ecclesiology.“ Es lassen sich in der Beschreibung von Roennfeldt Entsprechungen mit den zwei Strö�mungen „relevant“ und „revisionist“ finden. Roennfeldt, „Reshaping the Australian Church Experience“, 29. 54 Einen solchen Verlauf stellt auch Ian Mobsby für die britische „Emerging Church“-Konversa�tion als historische Phasen fest. Siehe http://www.ianmobsby.net/so-what-is-happening-withthe-emerging-church-in-the-uk-in-2010/ am 29.12.2016. 55 Dan Kimball, als ein prominenter Vertreter dieser Richtung, führt diese Veränderungen für den Gottesdienst detailliert aus. Kimball, Emerging Worship (2004).
4.4 Ein weiterentwickeltes Modell
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neu interpretiert. Das kann einerseits einen freieren Zugang zu strenger Handhabung mit Prinzipalien bedeuten (etwa in „mainline“-Kirchen) oder zu einer Entdeckung von liturgischer Tradition führen (etwa für Gemeinschaften aus evangelikaler Tradition). Bei Vertretern der zweiten Strömung („reconstructionists“) wird im Zusammenspiel von Form und Inhalt grundlegender danach gefragt, was das Wesen, der Auftrag und die Gestalt der Kirche sind, und also nicht mehr von einer vorgegebenen (konfessionellen) Antwort her gedacht. Gemeinde, vormals als attraktionale Gemeinschaft verstanden, ist nun eine inkarnierende Gemeinschaft. Dekonstruiert werden also Vorstellungen, wie christliche Gemeinschaft aussehen kann.56 Die Vermischung mit kulturell attraktiven Ausdrucksformen (z. B. Kirche im Pub) führt dazu, dass Kirche und christliche Gemeinschaft aus einem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext heraus geboren werden. b) Bei Vertretern der dritten Strömung („revisionists“) werden Inhalte existenzieller verhandelt, nämlich anhand einer Neukonfiguration der religiösen Orientierung.57 Hier wird grundsätzlicher als in den anderen Strömungen danach gefragt, was überhaupt die Inhalte des christlichen Glaubens sowie einer christlichen Gemeinschaft sind.58 In weiterer Folge sind Protagonisten dann auf der Suche nach für sie relevanten und authentischen Ausdrucksformen spirituellen Lebens. Ziel dabei ist es, einen authentischen Zugang zu Gott, zur Welt und zur christlichen Gemeinschaft zu finden. Zusätzlich zu der inhaltlichen Weiterführung in den einzelnen Strömungen soll auf zwei Aspekte hingewiesen werden. • Im Gegensatz zu Stetzer und auch Doornenbal, die die Strömungen getrennt voneinander und eigenständig betrachten, zeigen emergente Biografien in der „Emerging Church“-Konversation, dass es Bewegungen sowie eine gra-
56 Belcher pointiert für Protagonisten der „reconstructionists“: „Influenced by Anabaptist and Mennonite sources, the ‚reconstructionists‘ biggest challenge to the traditional church lies in the area of ecclesiology and community.“ Belcher, Deep Church (2009), 47. 57 Besonders die Entwicklung des „revisionist“-Flügels zeigt eine Nähe zu den Ansätzen von Harvey Cox, Marcus Borg oder auch Adolf von Harnack. Scot McKnight weist darauf hin. http://www.christianitytoday.com/ct/2010/march/3.59.html am 11.02.2015. Bei Peter Rollins kann eine Nähe zur „radical theology“ und Caputo festgestellt werden. R ollins sagt: „[…] what if Christ does not fill the empty cup we bring to him but rather smashes it to pieces, bringing freedom, not from our darkness and dissatisfaction, but freedom from our felt need to escape them?“ Rollins, The Idolatry of God (2013), 4. 58 Belcher spricht von der epistemologischen Herausforderung dieser Strömung und sagt dazu: „The revisionists’ epistemology influenced by postmodernism, challenges the church’s stance toward culture and its proclamation of the good news.“ Belcher, Deep Church (2009), 47.
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4. Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation
duelle Entwicklung geben kann.59 Protagonisten wie Rob Bell oder Brian McLaren, die sich zuerst die Frage gestellt haben, wie kontextualisierte christliche Gemeinschaften aussehen können, fragen später, was den christlichen Glauben wesenhaft ausmacht.60 Während sich ihre ersten Veröffentlichungen der „relevant“- und „reconstructionist“-Strömung zuordnen lassen, fallen ihre Veröffentlichungen aus der dritten historischen Phase in die dritte Strömung. Gleichzeitig ist hier nicht von einer historischen Zwangsläufigkeit zu sprechen, also dass Protagonisten aus der ersten in die dritte Strömung driften müssen.61 Es ist jedoch zu beobachten, dass jene, die sich in Abwehr-, Loslösungs- oder Neukonfigurationsprozessen der religiösen Orientierung befinden, bereits eine ästhetische sowie auf strukturelle Vorgaben bezogene Dekonstruktion betrieben haben. • Der zweite Aspekt betrifft den Zusammenhang zwischen den drei Strömungen und den bereits beschriebenen historischen Phasen. Anhand der veröffentlichten Literatur und der Häufigkeit der Präsenz verschiedener emergenter Protagonisten kann festgestellt werden, dass die drei Strömungen unterschiedliche Bedeutung in den drei historischen Phasen hatten. Für die erste (bis 1999) und zweite historische Phase (bis 2008–2010) lässt sich in dem öffentlichen Diskurs und durch die Beobachtung der Literatur 59 Doornenbal weist zwar anhand des Beispiels von Donald Miller und seinem Buch „Blue Like Jazz“ darauf hin, dass Miller Aussagen tätigt, die allen drei Strömungen zugeordnet werden können, betont dabei aber den Aspekt, dass eine Person verschiedene Strömungen integriert. Doornenbal, Crossroads (2012), 46–47. 60 Mark Driscoll, ehemaliger Pastor von Mars Hill (Seattle), der sich zunächst als „relevant“ be�zeichnete und schließlich eine gesonderte Kategorie – „relevant reformed – gründete, ist eines von vielen Beispielen für komplexe Bewegungen innerhalb und außerhalb der Einordnungen. Driscoll sieht sich selbst als „relevant“, jedoch mit einem Zusatz. Er beschreibt seine Kirche als eine „[…] that thrive on engaging the postmodern culture with the unchanging message of Jesus Christ“ (zitiert in Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 40. Driscoll erläutert das Bekenntnis der „relevant reformed“: „[…] have a commitment to the Reformed theological tradition as shaped by such historical figures as Augustine, Martin Luther, John Calvin, the Puritans, Jonathan Edwards, Charles Spurgeon, along with such broadly recognized evangelical leaders as Billy Graham, J. I. Packer, Francis Schaeffer, and John Stott. Emerging Reformers look to contemporary men such as John Piper, D. A. Carson, and Wayne Grudem for theology, along with Tim Keller and Ed Stetzer for missiology.“ http://www.equip.org/ar�ticle/navigating-the-emerging-church-highway/ am 26.09.2014. Siehe auch Driscoll, Religion Saves (2009), 214–216. Doornenbal, Crossroads (2012), 42. Die Tendenz, in den US-amerikanischen Evangelikalismus reformiertes Gedankengut aufzunehmen, wird von Collin Hansen beobachtet und mit dem Stichwort „Reformed uptick“ ver�sehen. Hansen, Young, Restless, Reformed (2008). Oder auch www.christianitytoday.com/ct/ article_print.html?id=38821 am 17.11.2014. 61 Eine Bewegung von „revisionist“ zu „relevant“ ist nicht zu beobachten.
4.4 Ein weiterentwickeltes Modell
213
ein Schwerpunkt der „relevants“ und „reconstructionists“ ausmachen. Es zeigt sich, dass „revisionists“ erst gegen Ende der zweiten Phase auftreten (oder Protagonisten aus der zweiten in die dritte Strömung wandern). Nach 2008–2010 liegt der Schwerpunkt der „Emerging Church“-Konversation bei den „Revisionisten“ und kaum bei den „Rekonstruktionisten“.62 Die Strömung der „relevants“ ist in der dritten historischen Phase fast nicht mehr präsent.63 Neben dem Fehlen an Veröffentlichungen aus der ersten Strömung sind es vor allem Distanzierungen und „Austritte“ zur „Emerging Church“-Konversation, die dies nahelegen.64 Zudem lässt sich feststellen, dass sich „relevants“ und „revisionists“ in der zweiten Hälfte der zweiten historischen Phase bis hin zur dritten historischen Phase zunehmend polarisieren.65 Abschließend und zusammenfassend ist festzuhalten, dass in der „Emerging Church“-Konversation nach 2008–2010 mehrheitlich Protagonisten der dritten Strömung vertreten sind und sich damit auch die inhaltliche Auseinandersetzung der Konversation auf Fragen der dritten Strömung fokussiert.66
62 Diese Polarisierung führte dazu, dass Kenner der Konversation, wie Tobias Faix und Peter Aschoff, 2009 von nur mehr zwei Strömungen in der Konversation sprechen. Faix sagt: „In den USA hat sich die ‚Emerging-Bewegung‘ grob in zwei große Bewegungen geteilt, zum einen in den ‚Emerging Flügel‘, der davon ausgeht, dass sich die Methoden verändern müssen, da sich die Gesellschaft verändert, um Menschen für Gott zu erreichen, die Theologie hingegen bleibe gleich. Vertreter sind u. a.McManus oder Dan Kimball. Die ‚Emergent‘ Vertreter […] hingegen sagen, dass sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen auch die jeweilige Theologie verändert, da sie vom jeweiligen Denken (der zeitgeschichtlichen Epoche) abhängig ist. Vertreter sind McLaren oder Doug Pagitt.“ Faix / Aschoff, „Was ist Emerging Church“ (2009), 169–170. 63 Diese haben sich beispielsweise unter anderen Begriffen wie „younger evangelicals“ oder „hips�ter Christians“ außerhalb der „Emerging Church“-Konversation positioniert. 64 Vgl. Abschnitt II Kapitel 3.1 Die drei Phasen der „Emerging Church“-Konversation. 65 Für eine genauere Darstellung siehe Doornenbal, Crossroads (2012), 47–48. Im für emergente Protagonisten relevanten Podcast „Homebrewed Christianity“ stellen Bo Sanders und Tripp Fuller etwa die Frage: „How are we to understand Christian unity with somebody like Mark Driscoll?“ Fuller / Sanders, „Christian Unity, Mark Driscoll and Progressive Problems“, in: Home�brewed Christianity (Podcast) 30.09.2011, https://homebrewedchristianity.com/2011/09/30/ christian-unity-mark-driscoll-and-progressive-problems-tnt-week-of-sept-29/ am 28.12.2016. 66 Doornenbal dazu: „Clearly the revisionist stream is the most controversial substream of the Emerging Church Movement, especially among American evangelicals who are averse to what they perceive to be liberalism.“ Doornenbal, Crossroads (2012), 48.
214
4. Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation
Aspekte des Dekonstruierens „relevants“
„reconstructionists“
ästhetisches Dekonstruieren
kontextuelles / strukturelles Dekonstruieren
„revisionists“
theologisches Dekonstruieren
Phase 1 Phase 2 Phase 3
Abbildung 6: Darstellung der Strömungen nach den Aspekten des Dekonstruierens – eigenes Modell
5. Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten 5.1 Sozio-demografische Daten emergenter Protagonisten Die in diesem Kapitel präsentierten Zahlen stellen demografische Einzelheiten emergenter Protagonisten dar und haben eine Aussagekraft für die „Emerging Church“-Konversation insgesamt.1 An dieser Stelle soll die Untersuchung der Soziologen Ganiel und Marti (2014) an erster Stelle genannt werden, da Ganiels und Martis Datensatz 1771 Personen umfasst und damit die größte Untersuchung von „Emerging Church“Vergemeinschaftungen ist.2 Ganiel und Marti stellen fest, dass die Mehrheit der Protagonisten in emergenten Gemeinschaften zwischen 18 und 35 Jahre alt ist.3 54,5 % der Befragten sind Frauen, trotz der männlichen Dominanz in repräsentativen Positionen in der „Emerging Church“-Konversation.
Abbildung 7: Ganiel und Marti-Studie, Altersverteilung emergenter Protagonisten 1 In dieser Arbeit werden die Ergebnisse für emergente Gemeinschaften auf die Demografie der „Emerging Church“-Konversation übertragen. Die Konversation ist größer als konkre�te Gemeinschaften, ist von dieser aber nicht losgelöst. Zur Konversation gehören neben den lokalen Gemeinschaften, Onlineplattformen und virtuellen Plattformen, Kommunikationsnetzwerke aber auch Konferenzen und Tagungen. Es kann davon ausgegangen werden, dass es zwischen emergenten Teilnehmenden realer und virtueller Gemeinschaft und realer und virtueller Kommunikation eine große Schnittmenge gibt. 2 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 204–206. Für eine genaue Darstellung der gesamten Studienergebnisse siehe Abschnitt II Kapitel 7.6 Gladys Ganiel und Gerardo Marti „The Deconstructed Church“ (2014). 3 A. a. O., 23. Die Geschlechterverteilung zeigt, dass etwa die eine Hälfte der Teilnehmenden männlich und die andere weiblich ist.
216
5. Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten
Dies spiegelt sich mit den Ergebnissen anderer Untersuchungen, auf die kurz Bezug genommen wird. Tony Jones’ Berechnung für die von ihm untersuchten emergenten Gemeinschaften ergibt einen Altersschnitt von 32,6 Jahren. Jones stellt fest, dass 32 % zwischen 18 und 25 Jahre alt, 37 % zwischen 26 und 35 Jahre alt, 32 % über 35 Jahre alt sind.4 Diese Ergebnisse ähneln Packards Aussage, der die Mehrheit seiner Interviewpartner in der Altersgruppe der Zwanziger und Dreißiger verortet.5 Der berechnete Altersdurchschnitt seiner Interviewpartner liegt bei 31,7 Jahre.6 Labanow errechnet bei seinen Interviewpartnern einen Altersdurchschnitt von circa 38 Jahren.7 James Bielo gibt in seiner Untersuchung aus dem Jahr 2013 von 90 Interviewpartnern (68 Männer und 22 Frauen) an, dass „[…] nearly all were middle-class whites; and all were born between 1958 and 1989 […]“8, die Mehrheit davon zwischen 1970 und 1980. Es kann somit festgestellt werden, dass emergente Gemeinschaften schwerpunktmäßig jüngere Menschen beheimaten.9 Weiter ist zu sagen: Von den Befragten der Ganiel und Marti-Studie sind 92,8 % Anglo-Amerikaner („white“), 2,4 % asiatischer Herkunft („asian / pacific Islander“), 2,2 % lateinamerikanischer Herkunft („hispanic“), 1,30 % AfroAmerikaner („black“), 0,30 % gehören der nordamerikanischen indigenen Bevölkerungsgruppe an („Native American“) und 0,8 % gaben an, eine andere Herkunft („other“) zu haben.10 Die Autoren Ganiel und Marti halten in ihrer Erhebung fest, dass fast 40 % der Teilnehmenden einen Bachelor oder eine fachliche Berufsausbildung haben, 12,3 % eine Form von „graduate“ Ausbildung und etwa 23 % haben einen Master- oder Doktortitel. Von den Befragten hat also die große Mehrheit eine Ausbildung über dem „High school“-Diplom abgeschlossen.11 4 5
Jones, The Church is Flat (2011), 187. Packard, The Emerging Church (2012), 19–20. So auch Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in Ame�rica“ (2009), 219. Dies deckt sich beispielsweise mit der Selbstwahrnehmung einer emergenten Gemeinschaft, etwa von „House for All Sinners and Saints“. Siehe Bolz-Weber, Pastrix (2013), 101. 6 Packard, The Emerging Church (2012), 19–20. Oder in einer anderen Studie Packards bei 32,1 Jahre. Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011), 30–32. 7 Labanow, Evangelicalism and the Emerging Church (2009). 8 Bielo, „Promises of Place“ (2013), 1. 9 Diese Ergebnisse korrespondieren mit den Beobachtungen zu emergenten Protagonisten: Crouch beschreibt die Bewegung z. B. als „[…] frequently urban, disproportionately young, overwhelmingly white […].“ Crouch, The Emergent Mystique. 10 Obwohl fast 93 % Angloamerikaner sind, weisen Ganiel und Marti darauf hin, dass emergente Gemeinschaften im Verhältnis zu den jeweiligen anderen christlichen Gemeinschaften vor Ort (evangelikal, katholisch, „mainline“ oder anderen) einen signifikant höheren Anteil an ethnischer Diversität haben. 11 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 204–206.
5.1 Sozio-demografische Daten emergenter Protagonisten
217
Von den Befragten in der Jones-Untersuchung haben 95 % einen CollegeAbschluss und insgesamt 23 % eine höhere Ausbildung als einen CollegeAbschluss.12 Es kann festgestellt werden, dass emergente Protagonisten einen hohen Bildungsgrad aufweisen.
Abbildung 8: Ganiel und Marti-Studie, Bildungsgrad emergenter Protagonisten
Bei der Frage nach dem Familienstand geben 50,3 % an, alleinstehend zu sein, und 42,5 % geben an, verheiratet zu sein.13 Weiter kann festgestellt werden, dass 68 % der Befragten angeben, keine Kinder zu haben. 30,7 % geben an, Kinder im Kleinkindalter zu haben. 1,3 % der Befragten haben Kinder im Erwachsenenalter. Es fällt auf, dass sich große Ähnlichkeiten bei Altersverteilung, Geschlechterverteilung, Ausbildungsstand und Familienstand zwischen den Angaben einzelner Untersuchungen zeigen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich
12 Jones, The Church is Flat (2011), 189. 13 5,5 % geschieden, 1,3 % leben in einer Lebensgemeinschaft und 0,5 % sind verwitwet. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 205.
218
5. Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten
in emergenten Gemeinschaften vorwiegend Personen finden, die zwischen 18 und 35 Jahre alt sind. Bei emergenten Protagonisten zeigt sich ein hohes Bildungsniveau. Dabei ist die große Mehrheit emergenter Protagonisten Anglo- Amerikaner.14 Damit zeigt sich anhand der demografischen Daten, dass sich emergente Gemeinschaften vorwiegend auf das beschriebene ethnische Segment, Alters- und Bildungs-Segment konzentrieren lassen und als NischenGemeinschaften (im Kontext der christlichen Gruppen und Gemeinschaften in den USA) beschrieben werden können.15
5.2 Religiöses Selbstverständnis emergenter Protagonisten Die Religionssoziologen Ganiel und Marti fragen in ihrer Untersuchung nach dem religiösen Selbstverständnis der Teilnehmenden emergenter Gemeinschaften. Die Autoren stellen ihren Studienteilnehmenden zwei Fragen, die im Kontext dieser Arbeit fruchtbar sind: 1. „Aus welcher Tradition / aus welchem religiösen Hintergrund kommen Sie?“ 2. „Welcher Tradition / welcher religiösen Orientierung fühlen Sie sich derzeit zugehörig?“16
14 Das hohe Bildungsniveau und die Überzahl der Mittdreißiger lässt eine hohe Dichte Alleinstehender vermuten, was durch die Daten von Ganiel und Marti widerlegt wird. Etwa ein Drittel der emergenten Protagonisten geben an, Kinder zu haben. 15 Darauf hat Josh Packard mit dem Begriff „niche“ hingewiesen, jedoch mit einem geringen Datenmaterial in diese Richtung verwiesen. Er meint, dass emergente Gemeinschaften für eine bestimmte demografische Gruppe ein passendes Angebot sind. An dieser Stelle wird durch die ergänzenden Studien das Argument der „Nischen-Gemeinschaft“ deutlich stärker dargestellt. Packard, The Emerging Church (2012), 135–140. 16 Dazu gaben sie Antwortmöglichkeiten vor, die einerseits hilfreich sind, um Kategorien zu bilden. Andererseits sind die Vorgaben aufgrund der möglichen Konnotationen, die die Begriffe zulassen, unscharf. Es bleibt offen, wie die Teilnehmenden die Kategorien füllen und was sie genau darunter verstehen.
5.2 Religiöses Selbstverständnis emergenter Protagonisten
219
1.
Abbildung 9: Emergente Protagonisten stammen aus folgender Tradition (nach Ganiel und Marti)
Ganiel und Marti stellen fest, dass der größte Anteil der Befragten aus dem „mainline“-Protestantismus (30,7 %) stammt. 28,5 % der interviewten Protagonisten aus emergenten Gemeinschaften geben an, aus einem evangelikalen Hintergrund zu stammen. 13,5 % der Befragten haben eine „independent / nondenominational“-Vergangenheit. 12,6 % der Befragten haben Bezüge zur römisch-katholischen Kirche. 9,2 % haben einen agnostischen / atheistischen / nicht-religiösen Hintergrund17 und nur 3,4 % fühlen sich der pfingstlerischen Tradition verbunden.18 Man sieht, dass der „mainline“-Protestantismus und der Evangelikalismus gefolgt von „independent / non-denominational“ und der katholischen Tra-
17 An dieser Stelle wird deutlich, dass die von Ganiel und Marti untersuchten emergenten Gemeinschaften nur wenige Menschen beheimaten, die als „un-churched“ gelten. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der Untersuchung von Cronshaw über australische emergente Gemeinschaften. Er sagt: „For instance, the four emerging churches are not reaching as many unchur�ched people as their ideals suggest […].“ Cronshaw, „The Shaping of Things Now“, 289. 18 Eine Schwäche, die in an dieser Stelle deutlich wird, ist, dass die Angaben der Befragten nicht mit einer vormaligen Mitgliedschaft gleichzusetzen sind. Zur Problematik von Befragungen religiösen Selbstverständnisses und Mitgliedschaft siehe Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 42.
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5. Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten
dition mehrheitlich die Frömmigkeits-Herkünfte emergenter Protagonisten ausmachen. Des Weiteren fragen Ganiel und Marti die Interviewteilnehmenden, welcher Tradition sie sich zum Zeitpunkt der Befragung zuordnen würden. Es werden deutlich andere Schwerpunkte sichtbar.19 2.
Abbildung 10: Emergente Protagonisten identifizieren sich mit folgender Orientierung (nach Ganiel und Marti)
Es zeigt sich, dass emergente Protagonisten sich mehrheitlich, d. h. 63 % als „independent / non-denominational“ verstehen. 21,2 % verstehen ihre religiöse Orientierung als „evangelikal“, 8,1 % der Befragten fühlen sich dem „mainline“Protestantismus zugehörig. 1,3 % bezeichnen sich als „römisch-katholisch“ und 1 % geben „pfingstlerisch“ an. 4,5 % Prozent geben „andere“ an. In emergenten Gemeinschaften geben nur 0,9 % der Befragten an, die Kategorie „agnostisch / atheistisch / nicht religiös“ als ihre religiöse Orientierung zu bevorzugen.20 Obwohl anhand dieser zwei grafischen Darstellungen keine Bewegungen und Wanderungen religiösen Selbstverständnisses Einzelner nachgewiesen
19 A. a. O., 205–206. 20 A. a. O.
5.3 Religiöse Orientierung der emergenten Gemeinschaft
221
werden können, werden Schwerpunktverschiebungen erkennbar. Erstens fällt auf, dass das Selbstverständnis „independent / non-denominational“ für emergente Protagonisten offenbar eine angemessene Form ist, die eigene religiöse Orientierung zu beschreiben. Dieser Zuwachs kann darauf hinweisen, dass es für emergente Protagonisten schwieriger geworden ist, sich einer inhaltlich klar bestimmten Kategorie zuzuordnen. Zweitens wird deutlich, dass trotz intensiver Abgrenzungen zum Evangelikalismus in der „Emerging Church“-Konversation sich noch 21,2 % der Befragten als evangelikal verstehen.
5.3 Religiöse Orientierung der emergenten Gemeinschaft In der Untersuchung von Ganiel und Marti wird emergenten Protagonisten zudem die Frage gestellt, welcher religiösen Orientierung sie ihre Gemeinschaft zuordnen würden.21 Es kann festgestellt werden, dass 37 % ihre Gemeinschaft als „emergent“, 27,5 % als „independent“ und 11,7 % als „evangelikal“ bezeichnen. 14,2 % der Befragten beantworten die Frage nach der religiösen Orientierung ihrer Gemeinschaft mit „ich weiß es nicht“, etwa 8 % mit „keine der möglichen Kategorien“ und 2 % verorten ihre Gemeinschaft im „mainline“-Protestantismus.
Abbildung 11: Verständnis emergenter Protagonisten bezüglich der religiösen Orientierung ihrer Gemeinschaft (nach Ganiel und Marti)
21 A. a. O.
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5. Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten
Diese Ergebnisse können darauf hinweisen, dass die inhaltliche Zuordnung einer emergenten Gemeinschaft für die Partizipienten einer Gemeinschaft wenig wichtig ist oder dass Teilnehmende darüber keine Kenntnis besitzen. Es fällt auf, dass die unbestimmten Begriffe „emergent“ und „independent“ (obwohl keine Dominanz sichtbar wird) für die Befragten geeignet scheinen ihre Gemeinschaft zu beschreiben. Da es keine allgemeingültige Beschreibung der religiösen Orientierung „emergent“ gibt, kann darauf geschlossen werden, dass emergente Protagonisten den Begriff subjektiv füllen. Ebenso wird deutlich, dass eine relativ große Gruppe, nämlich 14,2 % ihre Gemeinschaft nicht kategorisieren können / wollen. Obwohl sich die Fragestellungen, nämlich persönliche religiöse Orientierung und religiöse Orientierung der Gemeinschaft, nicht in ein direktes Verhältnis bringen lassen, wird deutlich, dass emergente Protagonisten offensichtlich einen erheblichen Unterschied zwischen persönlicher religiöser Orientierung und ihrem Verständnis der religiösen Orientierung ihrer Gemeinschaft machen.22 Während in der Selbstbeschreibung „independent / non-denominational“ (63 %) und evangelikal (21,2 %) dominieren, ist für emergente Protagonisten die religiöse Orientierung ihrer Gemeinschaft weniger eindeutig.
5.4 Exkurs: „Gen X“ – „Emerging Church“, eine Jugendkirche? In der „Emerging Church“-Konversation spielen die Stichworte „Generationenabbruch“ und das „Überwinden von Generationsgrenzen“ hinsichtlich der Ausdrucksform religiösen Lebens in der ersten und zu Beginn der zweiten historischen Phase eine große Rolle. Ausgangsimpuls der „Emerging Church“Konversation waren die Diskussionen im Kontext der NOS (in Großbritannien) und des „Young Leaders Network“ (in den USA), dass Ausdrucksformen christlichen Glaubens und gemeindlichen Lebens auf die Bedürfnisse der Generation X („Gen X“) reagieren sollten.23 Die US-amerikanischen Soziologen Neil Howe und William Strauss haben 1991 die US-amerikanische Gesellschaft seit dem 16. Jahrhundert untersucht und dabei Generationen unterschieden.24 In ihrer Einteilung erstreckt sich eine Generation über ungefähr zweiundzwanzig Jahre. Der Begriff „Generation“ 22 Es lassen sich beide Ergebnisse nicht miteinander vergleichen, da man individuelle Veränderungen und Wanderungen der Befragten nicht nachverfolgen kann. Nichtsdestotrotz kann hier von einer Auffälligkeit gesprochen werden. 23 Dies ist etwa auch bei Robert Webber mit dem Begriff „younger evangelicals“ festzustellen. 24 Howe / Strauss, Generations (1991), 32. Siehe auch Howe / Strauss, 13th Gen (1993). http:// www.lifecourse.com/about/method/the-generational-constellation.html am 27.11.2017.
5.4 Exkurs: „Gen X“ – „Emerging Church“, eine Jugendkirche?
223
dient dazu kulturelle und historische Bedingungen in der US-amerikanischen Geschichte und deren Einfluss auf die in dieser Zeit geborenen Menschen zu untersuchen. Für den Kontext der „Emerging Church“-Konversation sind die Generationen nach dem Zweiten Weltkrieg relevant, besonders die „Gen X“, da viele prominente emergente Protagonisten Teil dieser Generation sind.25 • Die Generation jener, die zwischen 1946 und 1961 geboren wurden, wird als „Boomer Generation“ bezeichnet.26 • „Gen X“ beschreibt in der US-amerikanischen soziologischen Diskussion die Generation, die zwischen 1961 und 1981 geboren wurde. Howe und Strauss beschreiben für den US-amerikanischen Kontext die Zusammensetzung der „Gen X“. Dieser Generation gehören „Post Baby Boomers“ (zwischen 1961 und 1964 geboren) und im engeren Sinn die „Generation X“ an (zwischen 1964 und 1980 geboren).27 • Personen, die zwischen 1982 und 2002 geboren wurden, werden als „Millenial“ oder „Generation Y“ beschrieben.28 Howe und Strauss legen für jede Generation einen Archetyp fest, der diese Generation idealtypisch repräsentiert. Für die „Gen X“ ist dies der Typ „Nomad“. Sie sagen: Nomad generations are born during a spiritual awakening, a time of social ideals and spiritual agendas when youth-fired attacks break out against the established institutional order. Nomads grow up as underprotected children during this awakening, come of age as alienated young adults in a post-awakening world, mellow into pragmatic midlife leaders during a historical crisis, and age into tough post-crisis elders. By virtue of this location in history, such generations tend to be remembered for their rising-adult years of hell-raising and for their midlife years of hands-on, get-it-done leadership.29 25 Dieser Hinweis ist wichtig, da die Emerging Church Diskussion häufig als „Generations�problem“ ausgemacht wurde. Siehe dazu Flory / Miller, Gen X Religion (2000), 3. Für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg legen Howe und Strauss folgenden Begriff fest: „Si�lent“-Generation (geboren 1925–1942). 26 Gibbs und Bolger beschreiben den Zugang der „Boomer Generation“ zu gemeindlichem Leben: „As an example of their standardized religious approach, many Boomer churches removed the last remaining symbols, images, and rituals from the church as they built new suburban churches that reflected the corporate culture of affluent functionality.“ Gibbs / Bolger, Emerg�ing Churches (2005), 21. 27 In der Literatur wird für „Gen X“ auch der Begriff „Baby Busters“, „Nowhere Generation“, „Mille�nial Generation“ oder „Boomerang Generation“ verwendet. Vgl. Howe / Strauss, 13th Gen (1993). 28 In der neueren Forschung werden unter „generation Y“ jene Personen bezeichnet, die zwischen 1978 und 1994 geboren sind. Sheahan, Generation Y (2006), 3. Es fällt auf, dass die Jahresangaben variieren. 29 http://www.lifecourse.com/about/method/generational-archetypes.html am 27.11.2017.
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5. Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten
Die Soziologen Flory und Miller identifizieren vier Typen in der „Gen X“, die auf Veränderungen hinsichtlich „spiritual and ecclesial practices“30 verschieden reagieren. Die „innovators“ repräsentieren jene, die geistliche Praxis und Glaubensüberzeugungen neu entwickeln. Die „appropriators“ wollen christliches und gemeindliches Leben für junge Menschen relevant darstellen, indem sie sich aktuelle kulturelle Trends aneignen. Die Gruppe der „resisters“ versucht die Auswirkungen der Postmoderne kleinzureden und stützt sich auf schriftliche christliche Zeugnisse und Bekenntnisse. Die „reclaimers“ reagieren auf die postmodernen Bedingungen, indem sie sich für altkirchliche Traditionen öffnen. Flory und Miller beschreiben emergente Protagonisten und Gemeinschaften als „innovators“ mit Anteilen der „reclaimers“. Flory und Miller schildern für die „Gen X“ Kriterien hinsichtlich der christlichen Gottesdienst- und Lebensgestaltung folgendermaßen: „experiential“, „entrepreneurial“, „communal“, „race-, ethnic-, and gender-inclusive“, „authentic“.31 Die Autoren stellen zuallererst fest, dass der Gottesdienst („worship“) partizipativ, kreativ experimentell und an die visuellen Bedürfnisse der postmodernen Generation gekoppelt sein soll. Zweitens sind „innovators“ daran interessiert, ihren Dienst in den Bedürfnissen ihres Kontextes zu verorten. Als Drittes stellen sie fest, dass organisch entstehende Gemeinschaft angestrebt wird. Als Letztes machen sie die Fähigkeit aus, alte Traditionen mit aktuellen Anliegen zu verknüpfen und Rituale für den geistlichen Weg der Menschen zu gestalten.32 Weiter definieren Flory und Miller emergente Gruppen und Gemeinschaften im Generationen-Kontext wie folgt: 30 31 32
Flory / Miller, Finding Faith (2008), 7–15. Flory / Miller, Gen X Religion (2000), 234–241. Flory / Miller, Finding Faith (2008), 159–160. Gibbs und Bolger schildern die Erfahrungen von „Gen X“-Gottesdienstbesuchern in US-amerikanischen Gemeinden: „To generalize, the church service were characterized by loud, passionate worship music directed toward God and the believer (not the seeker); David Letterman-style, irreverent banter; raw, narrative preaching; Friends (the popular TV series) type relationships; and later, candles and the arts. The bulk of church practices remained the same as their conservative Baptist, seeker, new paradigm, purpose-driven predecessors; only the surface techniques changed.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 30. Die Autoren beschreiben den Gottesdienst mit Stichworten einer US-amerikanischen Kulturrelevanz. Unter „David Letterman-style“ verstehen sie, dass der Liturg als Moderator agiert, der die Gottesdienstgemeinde als Publikum in ein gestaltetes Erlebnis mitnimmt. Laute, leidenschaftliche Musik, narrative Predigten und erlebnisorientierte Ausdrucksformen des Glaubens kennzeichnen diesen Stil. Gibbs und Bolger sagen weiter: „Their approach to ministry is modern, with their dualistic / spiritualized / interiorized understanding of Jesus, their embrace of the sacred / secular split, […].“ A. a. O., 45. Für eine genaue Einordnung innerhalb der US-amerikanischen Gemeindewachstumsbewegung, siehe Miller, Reinventing American Protestantism (1997).
5.4 Exkurs: „Gen X“ – „Emerging Church“, eine Jugendkirche?
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First, there is a prevalence of visual representations and expressions of the sacred; second, most of these congregations tend to be small in size and high in commitment; third, there is a general disinterest in established forms of religion; and fourth, there is both an inward experience and an outward expression of the spiritual.33
Durch Howes und Strauss’ sowie Florys und Millers Untersuchungen lassen sich zeigen, dass sich für die „Gen X“ im US-amerikanischen Kontext durch historische und kulturelle Konstellationen, Bedingungen und Problemhorizonte verdichten, die in der „Emerging Church“-Konversation aufgegriffen werden. Dazu gehört, dass in der Konversation Ende der 1990er-Jahre nicht nur ein Generationenbruch diskutiert wird, der sich an Fragen des Gottesdienststiles oder anderer Ausdrucksformen zeigt, sondern ein geistesgeschichtlicher Paradigmenwechsel, der im Besonderen von der „Gen X“ wahrgenommen wurde.34 Dan Kimball, Protagonist der ersten Stunde, beschreibt die Entwicklung der Bewegung: When we realized that the ‚Gen X‘ thing was not just an age-group but a cultural change, it shifted to ‚postmodern‘ which soon became totally misunderstood and equated with a ‚style‘ of music or ministry or worship service rather than a philosophical response to modernism – and most of us were not philosophers and realized we were over our heads trying to even explain it. So the word ‚emerging church‘ seemed safer and more non-age specific and began being used more and more, not only for churches and ministries focused on younger generations, but for churches focusing on the fact the culture was really changing and shifting. So the term moved past a generational focus to more of a cultural focus.35
Kimball verortet die „Emerging Church“-Konversation nicht ausschließlich im Spannungsfeld eines Generationenkonflikts und grenzt damit die Konversation nicht auf eine Generationen-Zielgruppe ein, sondern identifiziert eine geistesgeschichtliche Wende, die in und durch die Konversation thematisiert wird. „Emerging Church“ ist für ihn im Zuge dessen nicht eine Form von Jugendkirche, die gegen die Konventionen der Religiosität der Eltern rebelliert.36
33 Flory / Miller, Finding Faith (2008), 39–40. 34 Mark Driscoll u. a.identifizieren einen Bruch Mitte der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts, wo ein Übergang von „Gen X“ zur Postmoderne erkennbar ist. Driscoll, Confessions of a Reformis�sion Rev (2006), 98. Driscoll, The Radical Reformission (2004), 18. 35 http://www.dankimball.com/vintage_faith/2006/04/origin_of_the_t.html am 11.05.2009. 36 Obwohl an der „Emerging Church“-Konversation mehrheitlich junge Menschen teil� nehmen, wollen sich entsprechende Gemeinschaften nicht als Jugendkirchen definieren lassen. Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 28. Andrew Jones betont in dieser Hinsicht:
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5. Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten
Unterstützt wird Kimballs Ansatz von dem Missionstheologen Ed Stetzer, der feststellt: „The transition between the modern era and our world today has been taking place in and among what commonly has been called ‚Generation X‘.“37 Ed Stetzers Hinweis ist hilfreich, um den Zusammenhang zwischen der „Gen X“ und den Debatten bezüglich der Postmoderne zu verstehen. Er sagt, dass das Erleben eines Paradigmenwechsels stärker mit der „Gen X“ zusammenhänge und dass es seit dieser Generation zu einem verdichteten und beschleunigten Erleben postmoderner Bedingungen gekommen sei als mit anderen Generationen. Die „Emerging Church“-Konversation erwächst in der ersten historischen Phase aus der Spannung, wie verschiedene Generationen mit einem gemeindlichen und gottesdienstlichen Angebot sowie mit dem christlichen Glauben erreicht werden können. In der US-amerikanischen religiösen Landschaft kam es für Vertreter der „Gen X“ bei dieser Frage zum Bruch mit im Evangelikalismus vorherrschenden Antworten und Modellen. „Emerging Church“-Protagonisten kritisierten bedürfnisorientierte Gemeindemodelle und pragmatische Operationalisierung christlichen Lebens, wie sie für Megakirchen sowie für „seeker-sensitive“-Ansätze erkannt wurde.
„Emerging church is open to intergenerational involvement and is probably suspect of attempts to isolate and fragment into age-specific ministry.“ http://tallskinnykiwi.typepad.com/ tallskinnykiwi/2004/02/emerging_church.html 28.05.2012. Gibbs meint dazu: „Neither do we believe emerging churches to be halfway houses of a p arent church, establishes to provide holding tank for younger members until they emerge from their adolescent years or ‚worldly ways‘. Identifying the emerging church with youth church is to miss the point.“ A. a. O. 37 Vgl. dazu Stetzer, Planting Missional Churches (2006), 126.
6. Die „Emerging Church“-Konversation und digitale Informationsund Kommunikationstechnologien 6.1 Online- und Offline-Kommunikation in der Konversation Kommunikation spielt in der „Emerging Church“-Konversation, bei emergenten Protagonisten und Gemeinschaften eine wesentliche Rolle. Damit ist sowohl die Kommunikation nach innen gemeint, d. h. innerhalb emergenter Netzwerke, Kommunikationsräume und emergenter Gemeinschaften, als auch nach außen, beispielsweise mit Kritikern oder anderen Bewegungen. In dieser Hinsicht spielt sowohl die Online- als auch die Offline-Kommunikation eine gewichtige Rolle.1 Robert Webber, Protagonist in der ersten und zweiten historischen Phase und ein Impulsgeber für die „relevant“- und „reconstructionist“-Strömung stellt für emergente Protagonisten, gemäß den Forderungen des katholischen Kommunikationsforschers Pierre Babin, als Kommunikationskriterien fest:„[…] three characteristics of modern life that we must keep in mind in our approach to younger generations: the resurgence of the imagination, the importance of affective relationship and values, and the dissolution of national and c ultural frontiers.“2 Kommunikation unter postmodernen Bedingungen ist demnach geprägt von der Wiederkehr des Bildhaften (und Multisensorischen), der Wichtigkeit der Beziehung zwischen den Kommunikationspartnern und dem Auflösen vorgegebener nationaler oder kultureller Grenzen.3 Hierfür spielen 1
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Über Merkmale der Offline-Kommunikation wird im Rahmen des Gemeinschaftsverständnisses in der Konversation Auskunft gegeben. Den Forderungen beispielsweise nach partizipativer oder inklusiver Kommunikation wird in den Darstellungen der Gottesdienstverständnisse und der Leitungsverständnisse nachgegangen. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft. Babin, The New Era in Religious Communication (1991), 4. Die drei Charakteristika postmoderner Kommunikation werden in der „Emerging Church“Konversation beispielsweise von Webber aufgenommen. Webber, The Younger Evangelicals (2002), 64–65. Ein vierter Punkt lässt sich im Kontext der „Emerging Church“-Konversation noch ergänzen, nämlich jener der Überwindung konfessioneller Grenzen. Es ist eine „Entgrenzung“ nicht nur in nationaler, kultureller, sondern auch in konfessioneller Hinsicht zu beobachten. Entgrenzung meint in der „Emerging Church“-Konversation, dass kategoriale Zuordnungen hin�fällig werden und verstärkt interdisziplinär, interkonfessionell und ganzheitlich (im Sinn einer
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6. Die „Emerging Church“-Konversation
die Möglichkeiten der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien eine bedeutende Rolle in der Kommunikation. Diese sind ein wesentlicher Grund für das Entstehen und die Verbreitung der „Emerging Church“-Konversation.4 Grundsätzlich lässt sich in allen Strömungen und durch alle historischen Phasen hindurch eine positive Grundhaltung digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien gegenüber ausmachen.5 Moody begründet dies zweifach: Firstly, these communities tend to be technologically proficient and comfortable with a variety of media in their communal and individual lives. They are very quick to apply and / or adapt new technologies, articulating them within a discourse which con-
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5
Vielzahl von sich zum Teil widersprechenden Zugängen) gedacht wird. Vgl. Fuller / Sanders, „Transgressing Emergence. AAR and the Church“, in: Homebrewed Christianity TNT (Pod� cast) 20.11.2014, https://homebrewedchristianity.com/2014/11/20/transgressing-emergenceaar-and-the-church/ am 28.12.2016. Der vielzitierte Satz McLuhans „the medium is the message“ führt Webber zu einer Appli�kation für emergente Protagonisten und Gemeinschaften. Babin, The New Era in Religious Communication (1991), 5. Er sagt: „First, the real message of Christianity is not rational pro�positions but the person of Jesus Christ with whom a personal relationship is possible. Second, this personal relationship is experienced and communicated in a community – the church, his body. Third, to communicate a relationship with Jesus Christ, the church must be an embodied presence, an authentic and real community in whom the Spirit dwells. Fourth, the primary concern of the church is to communicate not dogma, though it does have its place, but faith. Fifth, the primary way of communicating faith is through a combination of oral, visual, and print forms of participatory immersed communication (or cultural transmission).“ Webber, The Younger Evangelicals (2002), 65. John Drane erklärt: „The emerging church would certainly not be what it now is, were it not for the worldwide web that has facilitated the organic growth of an international network of individuals and groups who are exchanging ideas about it on a daily basis. Indeed, without ready access to this form of instant communication, the emerging church may not exist at all.“ Drane, „Editorial“ (2006), 9. Hier ist eine Entwicklung durch die historischen Phasen beobachtbar. Während in der ersten und bis zur Mitte der zweiten Phase Websites, Blogs und Netzwerke dominierten, ist seit dem Aufkommen von Twitter 2006 ein neues Medium zentral geworden. Erstaunlicherweise spielt Facebook oder LinkedIn für die „Emerging Church“-Konversation als Ganzes keine wesentliche Rolle, lediglich als Kommunikationstool innerhalb bestimmter Gemeinschaften. Der Einfachheit halber werden alle diese „social media“-Formen ohne Unter�scheidung diskutiert. Der Einfluss von Twitter oder den sozialen Netzwerken ist für die „Emerging Church“-Konver� sation bisher nicht untersucht. Hier zeigt sich ein weiteres Forschungsdesiderat. Auf den frühen Einfluss der folgenden Websites und Blogs im US-amerikanischen Kontext sei hingewiesen: www.emergentvillage.org (am 16.05.2007), www.theooze.com (am 19.07.2009), www.the-nextwave.org (19.07.2009), der internationale Blogger Andrew Jones mit www.talkskinnykiwi.com (am 19.07.2009) und auch www.smallfire.org (am 19.07.2009) und www.emergingchurch.info (am 16.05.2007). Simcox, „Performing Postmodern Christian“, 63. Dies wird nicht zuletzt durch die Präsenz der „Emerging Church“-Konversation in Websites, Blogs, Podcasts und anderen Formen deutlich.
6.2 Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien
229
structs these technologies as apposite for religion and spirituality. Secondly, the Internet is vital for the emergence and development of emerging Christian communities.6
In der „Emerging Church“-Konversation werden das Internet und OnlineKommunikationsformen willkommen geheißen und als verheißungsvolle Mittel der Kommunikation in der Postmoderne gesehen.7 Dabei werden reale Begegnungen und Online-Diskurse nebeneinander und als einander ergänzend betrachtet.8
6.2 Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien und die „Emerging Church“-Konversation Die „Emerging Church“-Konversation verdankt ihre Prominenz der seit den 1990er-Jahren vielen Menschen zugänglichen Kommunikationstechnologien.9 Die „Emerging Church“-Konversation hat davon profitiert, dass das Inter6 Moody, „Researching Theo(b)logy“ (2009), 239. 7 Leonard Sweet ruft Christen beispielsweise dazu auf: „[…] hoist sail and catch God’s tidal“, wenn über den Einsatz des Internets gesprochen wird. Oder auch Pete Ward, der grundsätzlich zu den Möglichkeiten des Internets sagt: „The Internet dissolves the rigidities of Cartesian space and time, reenchanting the real through technology (which reverses Max Weber’s dis enchantment thesis), and combining information with entertainment, the aesthetic with the anesthetic.“ Sweet, Soul Tsunami (1999), 21. Ward, „Theology and Postmodernism“ (2012), 471. Kimball, The Emerging Church (2003), 52, 75. Moody in ihrer Untersuchung über die Bedeutung des Internets für die Konversation: „[…] the Internet provides a global space for encouragement, experiment, inspiration and challenge between and beyond these geographically dispersed communitites. Through it, the communities can become ‚glocal‘.“ Moody, „Researching Theo(b)logy“ (2009), 239. 8 Damit ist die „Emerging Church“-Konversation beispielhaft für die Ergebnisse der „Pew“-Studie, die nachweist, dass jene, die das Internet für religiöse Zwecke verwenden, es als Ergänzung zu offline-Diskursen sehen, also „[…] a supplement to, rather than a substitute for offline religious life.“ Hoover / Schofield Clark u. a.: „Faith Online“, (Pew Internet & American Life Project), www.pewinternet.org/files/old-media/Files/Reports/2004/PIP_Faith_Online_2004.pdf.pdf am 12.10.2014. Das Verweben der Online- und Offline-Aktivitäten lässt sich beispielsweise in der Veröffentlichungspraxis beobachten, wenn Blogeinträge abgedruckt oder in Blogs Bücher vorgestellt und diskutiert werden. 9 Die seit den 1990er-Jahren verstärkt aufgekommenen Kommunikationstechnologien haben die religiöse Landschaft in den USA und Großbritannien in höchstem Maße beeinflusst. Folgende Werke waren in der anglo-amerikanischen Diskussion hinsichtlich der religiösen Identitätsbildung sehr einflussreich: Dawson / Cowan (Hg.), Religion Online (2013). Højsgaard / Warburg (Hg.), Religion and Cyberspace (2005). Daneben:
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6. Die „Emerging Church“-Konversation
net als Ort sozialer Bindungen und Gemeinschaftsbildung verstanden werden kann.10 Im selben Maße wie prominente emergente Protagonisten ihre Kommunikationsräume neben Printveröffentlichungen über Online-Präsenz
Hutchings, „The Internet and the Church“ (2010). George, Religion and Technology in the 21st Century (2006). Campbell, Exploring Religious Community Online (2005); Campbell, „Religion and the Internet“ (2013). Beispielhaft plädiert etwa Leonora Rand für kirchliche Existenz beispielsweise auf Facebook, da ein Ort geboten wird „[…] where on a daily basis we can confess our sins, weep together and laugh together, know the intimate details of one another’s lives and pray for one another in very specific ways.“ Rand: „The Church on Face� book. Why We Need Virtual Community“, (Christian Century), http://www.christiancentury. org/article/2009-06/church-facebook am 10.04.2018. Hutchings dazu: „This new form of networked, personalized, mobile, always-accessible so�ciety has wide-ranging influence, transforming economics and politics as well as social relations.“ Hutchings, „The Internet and the Church. An Introduction“ (2010), 13. Der Autor weit�er: „The Internet is part of a shift in society towards ‚personal communities‘ and ‚networked individualism‘, with support and relationships increasingly provided through ever-changing, loosely-tied webs of connections maintained through digital communications.“ A. a. O., 18. 10 Plattformen wie Facebook oder LinkedIn haben die Massenkommunikation erheblich beeinflusst. Siehe dazu Dijck, „You Have one Identity“ (2013), 210. Art Silverblatt präsentiert einen Ansatz, der zeigt, dass Massenmedien, wie beispielsweise das Internet, als soziale Institutionen verstanden werden können. Art Silverblatts Argument lautet, dass Medien die Rolle von sozialen Institutionen übernähmen. „Within this context, it can be argued that the mass media have emerged as a social institution, fulfilling many of the functions that are no longer being served by traditional social institutions such as the family, church, and school.“ Silverblatt, „Media as Social Institution“ (2004), 39. Charakteristika einer medialen „mass culture“ seien laut Silverblatt Globalisierung, Urbanisierung, Industrialisie�rung, Modernisierung, Kommunikation und Demokratisierung. A. a. O., 38. Als Funktionen sozialer Institutionen lassen sich folgende Punkte von Silverblatt zusammenfassen. Erstens seien Personen Teil oder Mitglieder einer Gruppe, durch die ihre Identität geformt werde. Zweitens böten soziale Institutionen Zugang zu Menschen und wirkten so Isolation oder Einsamkeit entgegen. Drittens böten soziale Institutionen gemeinsame Erfahrungen an und vereinten damit unterschiedliche Lebenswelten. Viertens werde ein System der Ordnung und Stabilität angeboten. Fünftens werde Menschen die Hilfestellung geboten, mit Veränderungen umzugehen, etwa durch Rituale. Sechstens definierten soziale Systeme, was für sie Erfolg und Niederlage sei. Siebtens definierten Systeme ihre eigenen Werte. Achtens würden Verhaltensregeln für Mitglieder bestimmt. Neuntens sei darauf hingewiesen, dass soziale Institutionen den Mitgliedern eine Bestimmung und Zielvorstellung anböten. Zehntens würden in sozialen Institutionen Vorbilder als Inbegriff der eigenen Werte geschaffen. Elftens bildeten und formierten Systeme ihre Mitglieder. Zwölftens böten soziale Institutionen Informationen über die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft an. Dreizehntens böten diese einen sicheren Raum an, um Ideen auszutauschen, und seien damit eine Pufferzone zur Gesellschaft (vierzehntens). Schließlich, fünfzehntens, kontrollierten soziale Institutionen abweichendes Verhalten. Dieses Argument muss für die „Emerging Church“-Konversation, die in großem Ausmaß durch digitale Medien und Online-Austausch Fahrt aufgenommen hat, mitgedacht werden. A. a. O., 36–38.
6.2 Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien
231
etabliert haben,11 haben die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien die „Emerging Church“ als Bewegung befeuert.12 Dabei kann festgestellt werden, dass das Zusammenspiel von Offline- und OnlineKommunikation in der Konversation vorkommt sowie ein integraler Bestandteil für das Entstehen eines Zusammengehörigkeitsgefühls ist.13 Der australische Theologe Paul Teusner stellt in seiner Studie fest, dass die „Emerging Church“-Konversation wegen ihrer digitalen Erreichbarkeit und ihrer „virtuellen Praxis“ überhaupt existiere.14 Bei Katharine Sarah Moody ist ein ähnliches Argument festzustellen, wenn sie sagt: „While such communities remain resistant to definition, the Internet is a space where self-identity is being worked out.“15 Erstmals wurde die Bedeutung des Internets für die Konversation von John Drane herausgestellt, der sagt: „[…] without ready access to this form of instant communication, the emerging church may not exist at all […].“16 Teusner streicht die Besonderheit des Bloggens für die „Emerging Church“Konversation hervor.17 Teusner untersuchte sechsundzwanzig australische 11 Vgl. Lindner, „Postmodern Christianity“ (2006). Teusner: „Identity Construction in the ‚Emer� ging Church‘ blogosphere. Building a Theoretical Framework“, www.paulteusner.org/docs/ theory.pdf am 12.06.2009; Teusner: „Researching Individual and Communal Identity among Religious Blogs“, www.paulteusner.org/docs/aoir8paper2.pdf am 12.06.2009. Vgl. www.tallskinnykiwi.typepad.com/tallskinnykiwi/2004/01/blogging_and_em.html am 12.06.2009. Verweise bei Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 29, 41, 165. Ganiel / Marti, The Decon structed Church (2014), 18, 167, 198, 206, 220. Online-Präsenz ist nicht nur bei prominenten Protagonisten festzustellen, sondern auch bei anderen Protagonisten in verantwortlichen Positionen. 12 So etwas: Ryan / Switzer, God in the Corridors of Power (2009), 68–69. Dies meint auch: Handlin, Dirty Deals (2014), 254. Der Einfluss von „social media“ auf Neue Soziale Bewegungen wurde bereits untersucht. Siehe beispielhaft Juris, „Reflections on #Occupy Everywhere“ (2012). 13 Dieses Zusammenspiel wird etwa auch betont von: Murthy / Lewis, „Social Media, Collabora�tion, and Scientific Organizations“ (2015), 152. Nicht die Trennung von „offline“ und „online“, sondern die Verwendung beider ist nach Camp�bell Kennzeichen internetbasierter religiöser Bewegungen. Campbell, „Religion and the Inter�net“ (2013), 684. Campbell dazu: „Because online practices are often informed by offline ways of being, the online is closely connected with the offline reality of its users.“ A. a. O., 685. Ex� emplarisch wird die an der „Emerging Church“-Konversation thematisiert. Campbell / Teus�ner, „Internet and Social Networking“ (2015). 14 Er folgert, dass die Konversation in ihrem eigentlichen Wesen nur „online“ verfügbar ist. „The emerging church exists as a global movement only online.“ Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 69. In seiner Untersuchung hat er 1500 „posts“, 5900 Kommentare von 770 Lesern auf 26 Blogs untersucht. A. a. O., 90. 15 Moody, „Researching Theo(b)logy“ (2009), 237–238. Moody stellt aber auch fest, dass das Verhältnis von on- zu offline in der Konversation nicht geklärt sei. A. a. O., 240. 16 Drane, „Editorial“ (2006), 9. 17 Teusner sagt: „The blogosphere is valued as a place of safety, control and authentic expression. Bloggers find that the environment provides for a parliament on religious practices, symbols and doctrines. In this place is the potential to build an emerging church identity that places a
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6. Die „Emerging Church“-Konversation
emergente Blogger und ihre Blogs18 zwischen September 2006 und Mai 2007 und sagt: „The blogsphere provides a global setting for new identities that cross denominations and distance, binding people together in not just language, but in the creation of an alternative ‚space‘, done through the construction of a esthetic experiences, according to the affordances given to users by the technology.“19 Mit dem Begriff „blogsphere“ benennt er einen virtuellen Raum, der nicht konfessionell oder theologisch vorherbestimmt ist. Teusner sieht gerade darin das verbindende Element in der „Emerging Church“-Konversation, nämlich im gemeinsamen Erstellen eines „alternativen Ortes“,20 der als ein Ort „ästhetischer Formation“ angesehen wird. Teusner genauer dazu: They represent an endeavour to create online spaces for the expression of faith outside the confines of the Church. Moreover, the literal and visual texts found in these sites display a challenge to the held notions of appropriate and inappropriate religious discourse, and show the bloggers enjoy playing with dualisms, such as feminism / femininity, art / dirt, faith / doubt, Christian / pagan, sacred / secular, hope / meaninglessness. Indeed, it appears the intention of these bloggers is to talk of religion from the perspective of the ‚outsider‘: to offer a space for talk of faith, religious practice, and theology that embraces difference, doubt and unbelief.21
Teusner stellt fest, dass der diskursive Charakter religiöser Identitätsbildung den postmodernen Bedingungen entspreche.22 Teusner sieht in der Art wie „Emerg ing Church“-Protagonisten kommunizieren, eine weitere Besonderheit. Er sagt: „Emerging church bloggers represent an evolution in the religious landscape, premium value on incarnational mission in a new culture.“ Teusner, „Emerging Church Blog�gers in Australia“, 4. Eine weitere Untersuchung über das Bloggen als formationaler Akt in der „Emerging Church“Konversation stammt von Moody, die dies mit dem Begriff „theo(b)logy“ beschreibt. Sie sagt: „Their use of blogging and open source software is instrumental for their construction of what I shall call ‚theo(b)logy‘ and ‚open space Christianity‘.“ Moody, „Researching Theo(b)logy“ (2009), 239. Eine weitere Untersuchung stammt von Bryan Murley. Er untersucht, in welchem Ausmaß das Top 50-Ranking der Website www.technorati.com (am 12.06.2009) Einfluss auf emergente Blogs hatte. Murley: „The Mediahood of All Receivers. New Media, New ‚Church‘ and New Challenges“, Civitas Conference, Michigan 2005.Vgl. auch www.emergingchurch.bryanmur�ley.com am 12.06.2009. 18 Die Auswahl der Blogger, Zeitraum und methodische Besonderheiten erläutert Teusner unter: Teusner, „Imaging Religious Identity“ (2010), 118–119. 19 A. a. O., 125. 20 So auch Moody, die von „protected spaces“ spricht. Moody, „The Desire for Interactivity and the Emerging Texts of the Blogosphere“ (2008), 110. 21 Teusner, „Imaging Religious Identity“ (2010), 124. 22 Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 15–16.
6.2 Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien
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where personal religious identity is less defined by denominations and their structures, and more defined by the networks that individuals create.“23 Der Autor schließt darauf, dass durch die Online-Kommunikation christliche Identität neu und auch individuell definiert werden könne.24 Es sind weniger inhaltliche und strukturelle Merkmale ausschlaggebend, sondern das Anteilnehmen an einem alternativen, virtuellen Raum wird zum Identitätscharakteristikum. Es bildet sich eine „Online-Identität“, die Teusner für australische „Emerging Church“-Blogger folgendermaßen formuliert: [they] look beyond their local faith communities for alternative networks, relationships, and modes of expressing religious identity, [they] see in the blogosphere the promise of, and potential for, an open parliament on Christian symbols, language and practices, [they] endeavour to make the blogosphere a trusting environment for authentic expressions and explorations of religion, and [they] create and consume both literal and visual text (including design elements) in the production of blog pages that express a blogger’s identity and construct a space for interaction.25
1. „Online-Identität“ ist offen für andere „Identitäten“ und nicht beschränkt auf die eigene Gemeinschaft – sie sieht über den Horizont des eigenen christlichen Hintergrunds hinaus. 2. Emergente Protagonisten sehen in der virtuellen Welt den Freiraum, christliche Symbole, Traditionen, Sprache und Praktiken ohne Einschränkung zu benutzen. Sie dürfen beliebig einfügen und weglassen, um ihrem Glauben Ausdruck zu verleihen, und müssen der Tradition darin nicht treu bleiben. Teusner beschreibt dies als „intertextual play“ und „eclectic itchings“26. Er sagt: Intertextuality refers to the merging of texts from two or more different types of discourse within a piece of text or speech. Intertextuality is a device that encourages the audience of a text to read it in a different way than it has been read according to custom, tradition, or culture, or where audiences would intuitively expect to see such text. Audiences, therefore, are challenged to glean a different meaning from it.27
23 Teusner, „Imaging Religious Identity“ (2010), 125. 24 Er sagt weiter: „Emerging church bloggers represent an evolution in the religious landscape, where personal religious identity is less defined by denominations and their structures, and more defined by the networks that individuals create.“ A. a. O. 25 A. a. O., 117–118. 26 A. a. O., 123–124. 27 A. a. O., 121.
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6. Die „Emerging Church“-Konversation
3. Für emergente Protagonisten wird die virtuelle Welt als Ort der Suche nach Authentizität und der Suche nach Glaube und Religion geschildert – in Abgrenzung zu den Ortsgemeinden, wo nach Aussagen emergenter Protagonisten wenig Platz für Zweifel und Glaubenssuche sei.28 4. Es werden visuelle Elemente und Design als Ausdruck der Identität, aber auch als Einladung zur Konversation eingesetzt (wie im vorherigen Zitat angedeutet wird). Neben Teusner ist es Katharine Moody, die sich mit dem Online-Kommunika tionsverhalten in der „Emerging Church“-Konversation beschäftigt. Sie sagt: It is assumed that the interactivity of these technologies facilitates the desired move from Christians as passive consumers towards Christians as active creators, participants in the creative agency of a creative God, and their suggested participatory, collaborative, and egalitarian nature is held to reflect emerging concerns about outdated social structures among Christian communities.29
Moody hebt hervor, dass emergente Protagonisten über die Form ihrer OnlineKommunikation, nämlich über „social media“, das Bedürfnis nach Interaktivität ausdrückten und auch stillten. Interaktivität geschehe beispielsweise über die technischen Möglichkeiten des Kommentierens und des Verlinkens.30 Moody: Commenting on ‚emerging church‘ blogs particularly facilitates cognitive and affective conversations about the nature and experience of Christianity in theological, geographical, social and political contextual localities, and are regulary used by the diverse collective of emerging Christian communities in their theological reflections about any number of contemporary and historical phenomena.31
Die Grenzen zwischen Lese- und Schreibprozessen verschwömmen in dem Prozess der Partizipation und Produktion, ein Kommentator sei zugleich Leser und Schreiber. Es entstehe eine synchrone und diachrone Gleichzeitigkeit, oder wie Ward sagt „hypertextuality“, die es dem Nutzer ermögliche, Vergangenheit
28 Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 221. 29 Moody, „The Desire for Interactivity and the Emerging Texts of the Blogosphere“ (2008), 100. 30 Die Verbindung zwischen auf Autoren fokussierter und netzwerkbasierter Kommunikation wird etwa bei der christlichen Website „Ship of Fools“, auf die in emergenten Diskursen Bezug genommen wird, deutlich. „Ship of Fools“ ist sowohl eine Online-Gemeinschaft als auch ein Magazin sowie eine Plattform für Ressourcen für die religiöse Orientierung und gemeindliches Handeln. http://shipoffools.com/shipstuff/index.html am 02.02.2017. 31 Moody, „The Desire for Interactivity and the Emerging Texts of the Blogosphere“ (2008), 104.
6.2 Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien
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und Gegenwart, jegliche Informationen und Wissen auf einer Ebene zur Verfügung zu haben.32 Neben der Nutzung von „social media“ stellt Katharina Moody fest, dass in der „Emerging Church“-Konversation „open source“-Software genutzt würden und damit eine Haltung der „open source“ geprägt werde, die den Wunsch einer „Open Source Christianity“ forme.33 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass durch die digitalen Informationsund Kommunikationstechnologien Einzelnen viel Freiraum in der christlichen Identitätsfindung und auch Verantwortung zugesprochen wird. Teusner betont, dass neue Technologien durch das veränderte Kommunikationsverfahren neue Aspekte von religiöser Orientierung und Gemeinschaft betonten. Teusners Merkmale einer emergenten Online-Identität lassen sich auf die Diskurse und Praktiken der Konversation insgesamt, online und offline, übertragen. Merkmale bricolageartigen sowie hypertextuellen, entgrenzten (geografisch, inhaltlich sowie konfessionell) und mutisensorischen Verhaltens bestimmen die „Emerging Church“-Konversation sowohl in den Suchbewegungen der Veränderung religiöser Orientierung, in dem Verständnis von Gemeinschaft, in den theologischen Diskursen, in den Verhältnisbestimmungen zum Kontext sowie in den Werten, Haltungen und Praktiken. Die Offenheit und Möglichkeit, an den Diskursen durch Kommentare, Verlinkung oder Reproduktion in neuen Sinn-Kontexten teilzunehmen, das prinzipielle Dialogverhalten, die Teilnahme als Interessensgemeinschaft, die unabgeschlossene sowie vorläufige Kommunikation sowie das Etablieren eines alternativen Raumes sind Merkmale, die die „Emerging Church“-Konversation formen.
32 Ward dazu: „Hypertextuality, which creates a single surface of all knowledge and makes availa� ble both the past and present, is the adjunct of what French sociologist Jean Baudrillard terms ‚hyperreality‘, the order of simulation, the domination of simulacra.“ Ward, „Theology and Postmodernism“ (2012), 471. 33 Moody, „Researching Theo(b)logy“ (2009), 241. Dies begründet sie mit einer durch die digi� talen Informations- und Kommunikationstechnologien geprägten Verwendung von Texten. Moody sagt: „Blogs can be understood as cultural products which utilize new textual proces�ses to increase the levels of interaction possible between text and reader.“ Moody, „The Desire for Interactivity and the Emerging Texts of the Blogosphere“ (2008), 102.
7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
Nachdem nun Begriffsbestimmungen erfolgt sind und die historische Entwicklung der „Emerging Church“-Konversation unter Berücksichtigung des US-amerikanischen und britischen Kontextes dargestellt wurde, sollen in diesem Kapitel Kennzeichen der „Emerging Church“-Konversation beschrieben werden. Dies geschieht zunächst anhand von sechs empirischen Studien.1 Die Untersuchung von Eddie Gibbs und Ryan Bolger ist die früheste empirische Untersuchung zur „Emerging Church“-Konversation, die in deren Primär- und Sekundärliteratur zu einem Referenzwerk geworden ist. Diese Studie fragt als erste nach Kennzeichen der Konversation im US-amerikanischen und britischen Kontext. Die Besonderheit an Robert Whitesels Untersuchung ist sein Verständnis der „Emerging Church“-Konversation als Teil des Evangelikalismus, genauer gesagt der US-amerikanischen „Church Growth“-Bewegung. Daneben fällt James Bielos Perspektive als Anthropologe durch die hohe Qualität der Studie mit 90 Interviews auf. Er sieht die dominante Form der „Emerging Church“Konversation als kleine, flexible Gemeinschaften in Anlehnung an Hauskirchen. Tony Jones, der selbst Teil der Konversation ist, ordnet die „Emerging Church“Konversation als „new social movement“ ein und liefert einen Beitrag aus systematisch-theologischer Perspektive. Josh Packards Untersuchung eröffnet einen neuen Horizont, wenn er mit organisationstheoretischen Ansätzen nach dem Gefüge der „Emerging Church“-Konversation fragt. Bei Gladys Ganiel und Gerardo Marti ist dagegen der religionssoziologische Forschungsausgangspunkt interessant. Ihre leitende Erkenntnis ist, dass das Dekonstruieren ein zentrales Motiv von „Emerging Church“ ist. Im Folgenden werden die einzelnen Studien detailliert vorgestellt. Dies dient nicht nur einem forschungsgeschichtlichen Überblick der prominenten empirischen Untersuchungen, sondern führt im letzten Teil dieses Kapitels zu einer Zusammenführung und damit zu einer Zusammenschau der wesentlichen Kennzeichen der „Emerging Church“-Konversation.
1
Über die Auswahl der Studien wurde Rechenschaft abgelegt. Siehe Abschnitt I Kapitel 1.5 Methodische Bemerkungen zur Auswahl der Studien.
7.1 Edward Gibbs und Ryan Bolger „Emerging Churches“ (2005)
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7.1 Edward Gibbs und Ryan Bolger „Emerging Churches“ (2005) Dr. Edward Gibbs und Dr. Ryan Bolger, beide Professoren am Fuller Theological Seminary (Los Angeles), beschreiben in ihrer explorativen Studie basierend auf 50 qualitativen Interviews „Emerging Church“-Gemeinschaften als „[…] missional communities arising from within postmodern culture and consisting of followers of Jesus who are seeking to be faithful in their place and time.“2 Dieser Definitionsversuch bezieht sich auf qualitative Interviews mit leitenden Protagonisten in der „Emerging Church“-Konversation aus Großbritannien und den USA, welche zwischen 2000 und 2005 geführt wurden.3 Besonders in den Blick genommen wurden jene Gemeinschaften, die einerseits in besonderer Weise kulturell relevant erschienen. Die Autoren dazu: „They maintain a strong corporate expression outside the church walls through the forms of popular culture, such as club culture with DJs, dance, imagery, pub culture, artistic communities, or youth culture.“4 Andererseits wurde auf einen multisensorischen Kommunikationszugang der Gemeinschaft geachtet. Diese Kriterien ermöglichen eine Zuspitzung und sind zugleich eine Begrenzung. Gibbs und Bolger stellen fest, dass emergente Protagonisten ihre Gemeinschaften als „new expression of church“5 verstehen, die als religiöse Weggemeinschaften gemeinsame Praktiken ausüben. Sie verstehen „Emerging Church“ als neue Form christlicher Gemeinschaft. Kennzeichen dieser Form sind die Anliegen, „relevant“ zu sein und Glaube in die gegenwärtige Sprache zu übersetzen. Emergente Gemeinschaften wollen dabei jedoch nicht als Prototyp von Kirche identifiziert werden. 2 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 28. Herring, „Ryan Bolger“, in: E-merg (Podcast) 14.06.2006, https://castbox.fm/episode/e-merg%3A%3A-podcast-%3A%3A-01-%3A%3A-Ryan-Bolger-%3A%3A-id253649-id39098937?country=de am 12.10.2017. 3 Ihre erweiterte Interviewmethode beschreiben sie folgendermaßen: „We triangulated our rese� ach using multiple methods (interviews, observations, document analysis, video, and personal experience). Triangulation involves using more than one research method in a study. This is done to minimize the weakness in any one particular approach and to provide a more comprehensive picture.“ Siehe dazu die Fußnote bei Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 329. Neben den Interviews wurden außerdem Vor-Ort-Beobachtungen und veröffentlichte Literatur beachtet. Als Auswahlkriterium für eine emergente Gemeinschaft folgten sie sechs Entscheidungen: 1) „They are located in the Western world – those countries that fully experi�enced modernity and are now embroiled in a cultural transition. 2) They consider themselves Christians or Christ followers. 3) They consider themselves a congregation or a mission. […]. 4) They meet at least monthly. […] 5) They are still meeting. […] 6) Their group or movement is less than twenty years old. […].“ A. a. O., 330. 4 A. a. O. 5 A. a. O., 235.
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7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
Als Auslöser für das Aufkommen der „Emerging Church“-Konversation stellen Gibbs und Bolger vier Faktoren fest: ein stetiger Niedergang der Kirchen (sowohl „mainline“ als auch andere christliche Denominationen), Säkularisierung, pluralistische Lebensformen und eine geistesgeschichtlichen Wende (von Moderne zu Postmoderne). Sie schildern die neuen Aufgaben der Kirchen: „There is now a growing realization that churches in the West face a missional challenge, one that is increasingly cross-cultural in nature. This chasm widens as the mainstream culture diverts from its spiritual heritage and society becomes increasingly pluralistic.“6 Die Autoren stellen fest, dass „churches in the West“ (damit sind christliche und kirchliche Gemeinschaften / Denominationen geprägt von westlicher Ideengeschichte gemeint – hier speziell USA, Großbritannien, Europa), missionarische Herausforderungen zu überwinden haben. Sie verorten einen Bruch in der kulturgestaltenden Kraft des Christentums in diesen Ländern. Diese Auswirkungen auf Kirche und Welt verlangen ein missionarisches Aufbrechen. Gibbs und Bolger identifizieren durch Interviews mit verantwortlichen „Emerging Church“-Protagonisten jene Werte und Haltungen, die allen Gemeinschaften gemeinsam sind: Emerging churches (1) identify with the life of Jesus, (2) transform the secular realm, and (3) live highly communal lifes. Because of these three activities, they (4) welcome strangers, (5) serve with generosity, (6) participate as producers, (7) create as created beings, (8) lead as a body, and (9) take part in spiritual activities.7
Die ersten drei Punkte werden als grundlegende Werte beschrieben, aus denen sechs „practices“ („Übungen“, „Haltungen“) folgen. Der erste Punkt „identify with the life of Jesus“ („sich mit dem Leben Jesu identifizieren“) umschreibt drei Inhalte:8 eine Wiederentdeckung und Betonung der Menschlichkeit Jesu und infolgedessen der Lehre Jesu (als die Verkündigung des „Reiches Gottes“) sowie der Inkarnation Jesu als Gottes Mission in dieser Welt. Wie Jesus in den jüdischen Kontext inkarnierte, so wollen auch „Emerging Church“-Gemeinschaften in ihren Kontext inkarnieren. Emergente Gemeinschaften verstehen sich in Anschluss an Jesu Sendung gesandt in ihren Kontext. Zuletzt wird eine Identifikation mit der Botschaft Jesu vom „Reich Gottes“ als ein neuer Weg in diesem Leben betont. Das Ziel gemeinschaftlichen Bemühens ist es, das „Reich Gottes“ in dieser Welt zu verkündigen und vorzuleben. 6 7 8
A. a. O., 16. A. a. O., 45. A. a. O., 47–64.
7.1 Edward Gibbs und Ryan Bolger „Emerging Churches“ (2005)
239
In dem zweiten Anliegen „transform the secular realm“ („säkularen Raum transformieren“) wird erläutert, dass ein Dualismus zwischen sakralem und profanem Bereich abgelehnt wird.9 Für emergente Protagonisten gilt es als Konstruktion zu meinen, dass es Räume gebe, in denen Gott noch nicht präsent sei.10 Es wird darauf hingewiesen, dass Gott Raum und Zeit durchdringe und es damit keinen „gottfreien“ Raum gebe. Dies geschieht in Ablehnung des Gedankens, dass Kirche oder christliche Gemeinschaft ein „mehr“ an Gottesgegenwart habe. In weiterer Folge kann Gott den Menschen auch nicht „gebracht“ werden, sondern Gott wird im Leben anderer entdeckt. Diese Einstellungen kritisieren, dass Kirche ein „heiliger Raum“ sei, während alles außerhalb als „unheilig“ und „erlösungsbedürftig“ dargestellt werde. Dieses Verständnis verdeutlicht sich in der Verwendung säkularer Musik, Filme und Literatur für gottesdienstliche Handlungen. Als drittes kristallisieren die Autoren folgenden Anspruch emergenter Gemeinschaften heraus: „live highly communal lives“ („ein intensives gemeinschaftliches Leben leben“).11 „Emerging Church“-Gemeinschaften sind intentionelle Gemeinschaften, die gemeinsames Leben hoch schätzen. Diese Gemeinschaften verstehen sich als Ausdruck des kommenden eschatologischen Reiches Gottes – teilweise bereits im Hier und Jetzt verwirklicht. Gemeinschaftliches Leben ist deshalb nicht nur für den inneren christlichen Zirkel gedacht, sondern auf Engagement und ein Sicheinlassen auf die lokalen Gemeinschaften ausgerichtet, wie zum Beispiel Nachbarschaften, politische Gruppen usw. „By emphasizing church as relationships, emerging church thinkers are advocating not inwardly focused huddles but rather multiple circles of relationships lived out in the wider community.“12 Für Gibbs und Bolger folgen aus den beschriebenen drei Werten sechs „practices“ („Haltungen“), die das Leben einer „Emerging Church“-Gemeinschaft bestimmen. 1. „Welcome strangers“ („Fremde willkommen heißen“):13 Das zentrale Stichwort ist „Inklusion“. Menschen aus unterschiedlichen Hintergründen und mit unterschiedlichen Meinungen werden in der Gemeinschaft willkommen geheißen. Unterschiede werden dabei wertschätzend angenommen. Die Autoren sind überzeugt: „Emerging Churches resemble the kingdom when they contain many differing perspectives yet remain committed in 9 10 11 12 13
A. a. O., 65–88. A. a. O., 66–67. A. a. O., 89–116. A. a. O., 52. A. a. O., 117–134.
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7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
relationships.“14 Wegweisend ist die Verbindlichkeit zur Gemeinschaft und nicht eine gemeinsame theologische Orientierung. Menschen sind mit ihren individuellen Anschauungen in die Gemeinschaft eingeladen. Glaubensüberzeugungen sind demnach kein Kriterium, um Teil der Gemeinschaft zu sein, sondern können ohne Bedingungen in der Gemeinschaft erst entdeckt werden.15 Außenstehende werden nicht durch apologetische Zugänge vom Glauben und der Gemeinschaft überzeugt, sondern die Gemeinschaft lebt in ihren Haltungen und Handlungen missionarisch und gewinnend. Gibbs und Bolger fassen diese Haltung folgendermaßen zusammen: „[…] moving from verbal apologetics to embodied apologetics.“16 2. „Serve with generosity“ („großzügig dienen“):17 „Generosity“ („Großzügigkeit“) ist neben „hospitality“ („Gastfreundlichkeit“) eine hochgeschätzte Haltung im Dienst an der Welt (die sich häufig in lokalen Nachbarschaften ausdrückt). Darin wenden sich Protagonisten gegen konsumorientiertes Verhalten in zwischenmenschlichen Beziehungen, wie es etwa in Megakirchen als Mittel des Gemeindewachstums kritisiert wird. Sie meinen damit, dass das Prinzip „wie du mir, so ich dir“ abzulehnen sei. „Marketing makes a science out of the relationships between producers and consumers. The pastor or church staff must relate to a church visitor in a prescribed way so that the person is moved to the next step in the marketing strategy.“18 Emergente Protagonisten wollen das Evangelium für andere gastfreundlich und großzügig vorleben („to embody“). 3. „Participate as producers“ („als Produzenten partizipieren“):19 Emergente Protagonisten verstehen sich nicht als religiöse Konsumenten, sondern wollen an gottesdienstlichem und gemeindlichem Handeln partizipieren. Dabei wird die Eigenverantwortung im Gottesdienst aber auch als Christen in der Welt betont. Jeder soll demnach die Möglichkeit bekommen, die eigene Geschichte und individuelle Begabung in die Gemeinschaft einzubringen. Diese Haltung verlangt ein hohes Maß an Flexibilität. Interaktivität und Dialog sind darin herausragende Kennzeichen. 4. „Create as created beings“ („als Geschaffene gestalten“):20 Kreativität ist in „Emerging Church“-Gemeinschaften von großer Bedeutung. Kreativität
14 A. a. O., 122. 15 Hier geschieht der Rückbezug auf Grace Davies Ansatz „belonging before believing“. A. a. O., 157–158. 16 A. a. O., 124. 17 A. a. O., 135–154. 18 A. a. O., 137. 19 A. a. O., 155–172. 20 A. a. O., 173–190.
7.1 Edward Gibbs und Ryan Bolger „Emerging Churches“ (2005)
241
unterstützt individuelle Zugänge und ermöglicht die eigene Auseinandersetzung mit einem Thema. Dies zeigt sich in Gottesdiensten oder Ausdrucksformen des Glaubens in Stationen, die es ermöglichen, gestalterisch tätig zu werden oder Impulse zu bekommen (z. B. visuelle Impulse). Das Einsetzen technischer Mittel und das Aufgreifen populärer Kultur, um diese für Glaubenserfahrungen nutzbar zu machen, sind Kennzeichen einer „Emerging Church“-Gemeinschaft. Man ist überzeugt: Kreative Zugänge unterstützen authentische und relevante Ausdrucksformen.21 Auch Rituale sind ein Bestandteil kreativer Darstellung. Dabei ist man sich jedoch auch der Gefahren bewusst: „It is important to maintain the link between creativity and participation, otherwise creativity will become elitist and disempowering of those not considered creative […].“22 5. „Lead as a body“ („als ein Leib leiten“):23 In „Emerging Church“-Gemeinschaften wird gemeinschaftliche Leitung betont. So kann es durchaus hauptamtliche Leiter geben, die allerdings von der Gemeinschaft bestimmt werden und Teil einer Leitungsgemeinschaft sind. In der „Emerging Church“-Konversation taucht in dieser Hinsicht immer wieder Kritik an einem autoritären Leitungsverständnis auf. Leitung steht in der Konversation offenbar unter dem Verdacht, in negativem Sinn Macht auszuüben. Die Interviewteilnehmenden berufen sich diesbezüglich auf das Priestertum aller Gläubigen, welches antihierarchisch interpretiert wird. „The only tools allowed in the kingdom are noncoercive.“24 Viele Leiter von „Emerging Church“Gemeinschaften verstehen sich selbst nicht als Pastoren oder Leiter, da der Verdacht eines „kontrollierenden Amtes“ mitschwingt. Leitung und Engagement werden gabenzentriert verhandelt. Teilnehmende meinen, dass „Emerging Churches“ sich netzwerkförmig und nicht hierarchisch formieren. Sie erhoffen sich durch den Begriff „Netzwerk“ die lokale Gemeinschaft in den größeren Kontext christlicher Gemeinschaft einordnen zu können. 6. „Take part in spiritual activities“ („an spirituellen Aktivitäten teilnehmen“):25 Der Begriff „Spiritualität“ ist wesentlich in der „Emerging Church“-Konversation und wird dem Begriff „Religion“ oft entgegengesetzt. Mit „religiös“ wird eine institutionalisierte Form christlichen Glaubens ausgedrückt. „Spiritualität“ als Begriff für authentische religiöse Orientierung wird zu einem Leitbegriff in der „Emerging Church“-Konversation und hinsichtlich einer verstärkten Erfahrungs- und Handlungsorientierung religiöser Pra21 22 23 24 25
A. a. O., 181. A. a. O., 190. A. a. O., 191–216. A. a. O., 193. A. a. O., 217–234.
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7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
xis interpretiert. So zeigen viele Gemeinschaften beispielsweise eine hohe Wertschätzung des Abendmahls. Während wortreiche Predigten tendenziell in den Hintergrund rücken, werden liturgische, rituelle Handlungen wichtiger. Das zeigt sich in dem Bezug auf monastische Spiritualität („connecting with ancient spirituality“26). Robert Webber hat hierfür den Begriff „ancient-future“ eingeführt, der meint, dass ein frischer Rückbezug auf alte Traditionen die Zukunft christlicher Gemeinschaften prägen wird. Eddie Gibbs’ und Ryan Bolgers Darstellung der „Emerging Church“-Konversation bis zum Jahr 2005 ist zu einem Grundlagenwerk in der Erforschung der Konversation geworden.27 Mit ihrer Untersuchung erlangen sie „cross-cultural“ Ergebnisse, die sie zu 9 Clustern (drei „Werten“ und sechs daraus resultierenden „Übungen“) zusammenfassen und damit die wissenschaftliche Erforschung der Konversation anstoßen. Nachteilig ist, dass Gibbs und Bolger keine Klassifizierung unterschiedlicher Strömungen innerhalb der Konversation vornehmen und es damit nicht möglich ist, Tendenzen und Varianten zu unterscheiden. Zudem liegt dieser Studie das Verständnis zugrunde, dass „Emerging Church“ lediglich als organisationell verfasste Gruppe oder Gemeinschaft verstanden wird und damit Netzwerke sowie punktuelle Begegnungen nicht erfasst werden. Außerdem sind die Interviewpartner, ausschließlich Leitungspersönlichkeiten aus „Emerging Church“-Gemeinschaften, nur bedingt weitreichend auskunftsfähig für die komplexe Konversation. Zuletzt sei darauf verwiesen, dass die Autoren keine ausreichende Differenzierung zwischen britischer und US-amerikanischer Kultur vornehmen.28
26 A. a. O., 220. 27 Die Bedeutung hebt etwa Scot McKnight, ein einflussreicher Theologe und Blogger („The Jesus Creed“) in der zweiten Phase der „Emerging Church“-Konversation, hervor, wenn er Gibbs und Bolgers Definitionsvorschlag emergenter Gemeinschaften weiterführt: „Emerging Churches are missional communities emerging in postmodern culture and consisting of followers of Jesus seeking to be faithful to the orthodox Christian faith in their place and time.“ Zitiert in Jones, The New Christians (2008), 56. 28 Gibbs und Bolger verweisen lediglich auf wenigen Seiten auf kulturelle Unterschiede. Siehe Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 24–26. Kritik an der Berücksichtigung der kulturellen Unterschiede wurde etwa von Ed Trimmer vorgebracht. Trimmer, „A Review of Emer� ging Churches by E. Gibbs and R. Bolger“ (2007).
7.2 Bob Whitesel „Inside the Organic Church“ (2006)
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7.2 Bob Whitesel „Inside the Organic Church“ (2006) Bob Whitesel29, Professor an der Indiana Wesleyan University, untersucht anhand eines qualitativen Fragebogens zwölf „Emerging Church“-Gemeinschaften in den USA (zehn Gemeinschaften), Kanada (eine Gemeinschaft: Edmonton, Alberta) und England (eine Gemeinschaft: St. Thomas).30 Die Größe der untersuchten Gemeinschaften variiert. Er stellt zwischen 25 und 10000 Teilnehmende fest. Fünf Gemeinschaften haben unter 200 Teilnehmende und zwei fallen in die Kategorie „Megachurch“ mit über 1500 Teilnehmenden. Einige der Gemeinschaften treffen sich am Stadtrand, andere sind in das Stadtzentrum gezogen, um präsenter zu sein. Viele dieser Gemeinschaften haben Kleingruppen und engagieren sich für soziale Gerechtigkeit in ihrer Nachbarschaft. Whitesel verortet die „Emerging Church“-Konversation in der „Church Growth“-Bewegung in der Nachfolge des US-amerikanischen Missiologen Donald A. McGavran. Er spricht von vier „melodies“ („Melodien“), die alle zwölf Gemeinschaften aufweisen. Daneben deckt er „rhythms“ („Rhythmen“) auf, die als zweite Dimension auf der Ebene der Haltungen verstanden werden. Als Erstes stellt er „the melody of orthodoxy“ („die Melodie der Orthodoxy“) fest.31 Dahinter verbirgt sich, dass sich alle Gemeinschaften zum einen mit ihrem theologischen Erbe (abhängig von ihrer Denomination) und zum anderen mit theologischen Themen allgemein auseinandersetzen. Er zeigt auf, dass in dieser Hinsicht die theologische Reflexion der eigenen Praxis eine wesentliche Säule ist. Als Zweites beschreibt er „the melody of authenticity“ („die Melodie der Authentizität“).32 Whitesel verortet hier das Bedürfnis, „Wahrhaftigkeit“ wiederzuentdecken. Einige Interviewpartner meinen, dass diese zugunsten konsumorientiertem Verhalten durch „Megachurch“-Ansätze verloren ging. Im Gegensatz zur traditionellen „Church Growth“-Bewegung, die vorschlägt, durch den
29 Robert Whitesel ist Professor für Missional Leadership. Sein Buch wurde von dem „Outreach Magazin“ als Finalist für die Ressource des Jahres 2006 für „Postmodern Outreach“ geehrt. 30 Whitesel beschreibt „Emerging“ folgendermaßen: „[…] is a self applied label, [it] connotes per�ceived parallels with the so-called emerging postmodern philosophy […] emerging churches are a branch of Christian expression created and led by young people.“ Whitesel, Inside the Organic Church (2006), x. Der Autor untersuchte folgende Gemeinschaften: „Solomon’s Porch“ (Minneapolis), „Vintage Faith Church“ (Santa Cruz), „Mars Hill“ (Grandville), „St. Thomas Church“ (Sheffield), „The Bridge“ (Phoenix AZ), „Bluer“ (Minneapolis), „Church of the Apos�tles“ (Seattle), „the sol café“ (Edmonton), „Freeway“ (LA), „One Place“ (Phoenix), „Scum of the Earth“ (Denver), „The Tribe of LA“ (Los Angeles). 31 A. a. O., xiii–xiv. 32 A. a. O., xiv–xvi.
244
7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
Einsatz von medialen Mitteln Brücken zu kirchendistanzierten Menschen zu bauen, schlagen „Emerging Church“-Protagonisten vor, einfache Mittel zu verwenden, um authentische christliche Gemeinschaft zu sein. Die Kritik lautet: „Your churches want professional music so you can build roads to other Christians. You’re losing the heart of worship and just trading sheep.“33 Gemäß Whitesel stehen strategische und konzeptionelle Zugangsweisen für „Emerging Church“-Protagonisten unter dem Verdacht, nicht authentisch zu sein. Als Drittes schildert Whitesel „the melody of engagement: social and spiritual“ („die Melodie von Engagement: sozial und spirituell“).34 Damit meint er das Bestreben, gesellschaftlich präsent zu sein und soziale Verantwortung zu übernehmen. Dies geschieht etwa durch die Unterstützung lokaler oder regionaler sozialer Aktivitäten, wie Essensausgaben, Förderung von Fair-Trade-Produkten oder politischem Engagement. Das soziale und politische Anliegen wird als geistlicher Auftrag verstanden. Christsein soll gesellschaftlich relevant gelebt werden. Als Viertes erläutert Whitesel „the melody of missional church growth“ („die Melodie missionarischen Gemeindewachstums“).35 Der Autor sieht die untersuchten Gemeinschaften einerseits in der Tradition der „Church Growth“Bewegung und andererseits in der Tradition des US-amerikanischen „GOCN“Netzwerks.36 Emergente Protagonisten sind der Meinung, dass sie sich in einer nachchristlichen Zeit befinden, in der die Kirche Einfluss und Überzeugungskraft verloren hat. Whitesel dazu: „It is this keen awareness of a post-Christian, even anti-church culture that drives the ideology and strategies of the emerging organic church.“37 Die Protagonisten verstehen ihren missionarischen Auftrag darin, als Gemeinschaft in diese Welt gesandt zu sein. Evangelisation wird in diesem Zusammenhang nicht als Auftrag verstanden, sondern als Lebensvollzug gemeinschaftlichen Lebens. Whitesel sieht zusätzlich drei neue „Melodien“ für die Zukunft der „Emerging Church“-Konversation erklingen.38 1. „The melody of persistence“ („die Melodie der Beständigkeit“). Damit erklärt er, dass die neuen Gemeinschaftformen die Intention haben, den Ort langfristig zu prägen. 2. „A variety of melodies“ („eine Vielfalt an Melodien“). Darunter versteht er, dass die Gemeinschaften zum einen in unterschiedlichen Größen hervor33 34 35 36
A. a. O., XV. A. a. O., xvi–xvii. A. a. O., xvii–xix. In seinen Interviews stellt er den Einfluss von Darrell Guder und anderen Vertretern des GOCN auf viele seiner „Emerging Church“-Interviewpartner fest. A. a. O., xviii–xix. 37 A. a. O., xix. 38 A. a. O., 129–131.
7.2 Bob Whitesel „Inside the Organic Church“ (2006)
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brechen und dabei aber: „[…] maintaining intimacy while expanding […].“39 Zum anderen werden sie sich in unterschiedlichen Stilen und mit verschiedenen theologischen Prägungen etablieren. 3. „The melody of replication“ („die Melodie der Vervielfältigung“). Whitesel prognostiziert, dass die Gemeinschaften den Drang haben werden, neue Formen von Gemeinschaften für unterschiedliche Kontexte zu etablieren. Neben den beschriebenen auftauchenden „Melodien“ stellt Whitesel gemeinsame „Rhythmen“ vor (überdies hat jede Gemeinschaft auch einen „unique rhythm“, der hier nicht dargestellt wird). Er weist darauf hin, dass sich alle Gemeinschaften zu folgenden Themen im Diskurs befinden:40 „rhythm of place“, „rhythm of worship“, „ryhthm of discipleship and the word“. Die Auswahl der Räumlichkeiten und der Lokalität spielt für die Gemeinschaften eine entscheidende Rolle. „Worship“ wird nicht als linearer Weg verstanden, sondern soll durch den Einsatz unterschiedlicher Stil- und Ausdrucksmittel („dance, painting, sculpture, poetry, prose, theatre, video, […]“41) einen offenen Raum darstellen. Mit dem dritten „Rhythmus“ beschreibt Whitesel die Bemühungen, Christsein als Nachfolger Jesu zu gestalten. Jüngerschaft wird von den Protagonisten ernst genommen, ihr Christsein wird eigenverantwortlich und individuell gestaltet. Besondere Anstrengungen zeigen sich in der Auseinandersetzung mit der Bibel. In der Mischung von Stilmitteln in gottesdienstlichen Handlungen, Predigtexperimenten sowie dem Einsatz von Symbolen wird deutlich, dass Sprache als begrenzt empfunden wird. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Whitesel in seiner Untersuchung vier Haltungen in Form von „Melodien“ formuliert (Orthodoxy, Authentizität, soziales und spirituelles Engagement, missionarisches Gemeindewachstum) und darin Achtsamkeiten in Form von „Rhythmen“ (Lokalität, Gottesdienst, Nachfolge Jesu) entdeckt. Kritisch muss erwähnt werden, dass in der Auswahl der „Emerging Church“-Gemeinschaften Mängel deutlich werden. Es werden keine Unterscheidungen zu „Megachurches“ und Gemeinschaften innerhalb der „Church Growth“-Bewegung erkennbar, obwohl Auseinandersetzungen mit den Megakirchen sowie den Ansätzen der Gemeindewachstumsbewegung deutlich sind. Eine solche Auseinandersetzung geschieht unter dem Aspekt der Ablehnung und Loslösung. Nichtsdestotrotz weist Whitesel mit seiner Studie auf jene Gemeinschaften hin, die zu Beginn der zweiten historischen Phase der Konversation „Emerging Church“ hauptsächlich als ästhetische und liturgische 39 A. a. O., 130. 40 A. a. O., xxxiv–xxxv. Da in einigen Fällen eine genaue Übersetzung nicht möglich ist, verwende ich hier die englischen Bezeichnungen. 41 A. a. O., xxxv.
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7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
Neuerung verstanden haben und ist in dieser Hinsicht eine Hilfe, um besonders die „relevants“-Strömung wahrzunehmen.
7.3 James Bielo „Emerging Evangelicals. Faith, Modernity, and the Desire for Authenticity“ (2011) James Bielo, Anthropologe an der Miami University in Oxford (Ohio), beschäftigt sich in einer ethnografischen Studie mit der „Emerging Church“ als Teilbewegung des US-amerikanischen Evangelikalismus. Bielo untersucht in einer Feldstudie zwischen 2007 und 2010 ausschließlich US-amerikanische emergente Protagonisten. In 90 Interviews (22 Frauen, 68 Männer) sind emergente Protagonisten aus 40 Gemeinschaften vertreten.42 56 der 90 Interviewpartner waren Teil eines „urban ministries“ („städtischen Dienstes“), 34 beschrieben ihren Dienstort als „suburban“ („vorstädtisch“).43 Weil Gemeindepflanzungen und Hauskirchen-Gemeinschaften („house church“) relevante Ausformungen in der „Emerging Church“-Konversation sind, finden in dieser Studie 27 Gemeindegründer und 24 Hauskirchenmitglieder besondere Berücksichtigung. Bielo macht vier zentrale Kennzeichen für die „Emerging Church“-Konversation aus.
7.3.1 „Authenticity“ – „commodification and the limits of language“ „Emerging Church“-Protagonisten wollen authentisches Christsein leben. Viele fühlen sich vom US-amerikanischen Evangelikalismus eingeengt, distanzieren sich davon und gehen durch Phasen der Ablehnung und Loslösung von vormaligen Überzeugungen und Praktiken. Bielo weist in dieser Hinsicht auf die „deconversion narratives“44 vieler „Emerging Church“-Protagonisten hin. Bielo: 42 Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 23. In diesen 40 Gemeinschaften sind 11 Denominationen repräsentiert (United Methodist, Reformed Church of America, General Baptist Conference, Southern Baptist Convention, Vineyard Fellowship, Presbyterian Church of America, Presbyterian Church-USA, Church of Christ, Episcopalian, Anglican, Church of the Nazarene). Bielo, „Promises of Place“ (2013), 1. 43 In Form von qualitativen Interviews, Beschreibungen der Rituale und Literaturrecherche stellt Bielo seine Ergebnisse vor. 44 Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 28–46.
7.3 James Bielo „Emerging Evangelicals (2011)
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Invariably, when asked to tell their Christian story Emerging Evangelicals posit a distance between their sense of self and the conservative Evangelical subculture. They explain carious elements of Evangelicalism that they no longer accept, how their distastes became realized, and how the details of their current life respond to those perceived shortcomings.45
Für emergente Protagonisten geht es nicht um die Abwendung vom christlichen Glauben, vielmehr unterziehen sie Überzeugungen und Praktiken einer Revision und Neuinterpretation. „In their terms, they want something more real, more genuine, more meaningful, more relevant, more honest, more biblical – something more.“46 Bielo führt die Ergebnisse der explorativen Untersuchung ausgewählter Dekonversionsnarrativen zusammen und stellt fest, dass emergente Protagonisten vorrangig ihre Authentizität zurückgewinnen wollen.47 James Bielo benennt für „Emerging Church“-Protagonisten zwei Hindernisse hinsichtlich deren Empfinden für Authentizität: „commodification and the limits of language“48. „Commodification“ („Kommodifikation“) meint, dass Werte und Handlungen zu „Gütern“ erhoben werden. Darunter versteht er, dass Werte wie Gastfreundschaft oder Großzügigkeit in „Megachurch“-Ansätzen zu Gütern erhoben, unternehmerisch verstanden und in ein Produzent-Kunden-Verhältnis eingeordnet werden. Auf die „Emerging Church“-Konversation übertragen, heißt das, dass der „Megachurch“-Ansatz: „how-to-church“ – eine planbare Gemeinschaft in einer bestimmten Abfolge von Schritten zu gewährleisten – als nicht authentisch empfunden wird. Gastfreundschaft und Großzügigkeit wollen zum Beispiel nicht mit dem Zweck einer Bekehrung verbunden werden. Mit der Bezeichnung „limits of language“49 („Grenzen der Sprache“) folgt er der Idee vieler „Emerging Church“-Protagonisten, dass Sprache hinsichtlich Glaubensaussagen immer subjektiv und begrenzt ist. Das zeigt sich exemplarisch darin, dass in der „Emerging Church“-Konversation auf kein „statement of faith“ verwiesen wird.50 Sprachliche Festlegungen können den Eindruck
45 46 47 48 49 50
A. a. O., 29. A. a. O., 31. Vgl. A. a. O., 44–46. A. a. O., 51. A. a. O., 56. A. a. O., 55–61. LeRon Shults, mittlerweile Professor für Theologie und Philosophie an der University Agder in Kristiansand (Norwegen), meint: „[…] fixation with propositions can easily lead to the at� tempt to use the finite tool of language on an absolute Presence that transcends and embraces all finite reality. Languages are culturally constructed symbol systems that enable humans to communicate by designating one finite reality in distinction from another. The truly infinite God of Christian faith is beyond all our linguistic grasping […] and so the struggle to capture God in our finite propositional structures is nothing short of linguistic idolatry.“
248
7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
erwecken, eine endliche und fassbare Wirklichkeit zu erzeugen. Sprache als kulturell konstruiertes Symbolsystem kann Gott nicht fassen, so Shults. Er vergleicht sprachliche Festlegung mit sprachlicher Idolatrie. Ein möglicher Weg in der Konversation, die Begrenzungen sprachlicher Mitteilung im religiösen Erleben zu überwinden, ist z. B. Ironie als Stilmittel einzusetzen.51 Damit entgeht man, laut Shults, propositionalen Festlegungen, die Gottes Wirklichkeit nicht fassen können. Ein zweiter Weg, um die Begrenzungen der Sprachfähigkeit beispielsweise im „worship“ („Gottesdienst“, „Lobpreis“) zu überwinden, ist der Rückbezug auf liturgische Formen und Rituale, wie sie in der monastischen Tradition vorkommen. „Worship“ („gottesdienstliches Handeln“) wird von emergenten Protagonisten insofern problematisiert, als in der evangelikalen Tradition, aus der viele Protagonisten stammen, Gottesdienste als wortlastig sowie, durch einen streng geordneten Ablauf, als einengend empfunden werden. Aus diesem Grund finden viele Konversationsteilnehmende Hilfen in der „ancient-future“-Tradition. Ancient-future worship demonstrates a different response: the strategic use of varied semiotic channels for religious experience. This phenomenon – ‚embracing tradition‘ and remembering ‚lost secrets of the ancient church‘ – is one means by which Emerging Evangelicals are formed as religious subjects.52
Neben den „ancient-future“-Impulsen bietet die „new monasticism“-Bewegung eine Quelle zur Sprachfindung und eine situative sowie punktuelle Beheimatung für „Emerging Church“-Protagonisten. James Bielo verweist auf den emergenten Protagonisten Shane Claiborne53, der Sprach-grenzen durch Rituale und monastische Formen entgegentritt: „new monasticism as lived religion“54. Dabei werden monastische Elemente (z. B. lectio divina) in den Alltag der Protagonisten integriert, ohne aber einer verbindlichen lokalen Gemeinschaft anzugehören.
51 52 53 54
Zitiert in: a. a. O., 56. LeRon Shults hat für das „Emergent Village“-Netzwerk das „statement of faith“ mitformuliert, welches besagt, dass sie kein „statement of faith“ besitzen. Siehe auch Fuller / Sanders, „Reforming Ecclesiology in Emerging Churches with LeRon Shults“, in: Ho�mebrewed Christianity (Podcast) 01.09.2009, https://homebrewedchristianity.com/2009/09/01/ reforming-ecclesiology-in-emerging-churches-with-leron-shults-homebrewed-christianity-61/ am 28.12.2016. Bielo unterscheidet zwischen „Irony as Introspection“ und „Irony as Self-Deprecation“ Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 62–69. A. a. O., 71–74. A. a. O., 100. Claiborne, The Irresistible Revolution (2006). Claiborne, Jesus for President (2008). Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 99.
7.3 James Bielo „Emerging Evangelicals (2011)
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7.3.2 „Missional“ Als zweites Kennzeichen stellt Bielo fest, dass emergente Protagonisten missionarisch ausgerichtet sind, was in ihrem Verständnis vom „Reich Gottes“ begründet ist.55 Protagonisten beschreiben sich als „everyday missionaries“56 und verstehen Mission nicht als einen Arbeitszweig ihrer Gemeinschaft. Mission ist eine Ausdrucksweise ihres Christseins, das sich in ihrem Lebensstil und als gelebte Praxis zeigen soll. „[…] Emerging Evangelicals define missional as being a missionary to one’s own society. […] It encompasses ways of speaking, everyday acts of embodiment, the design of institutions, and desired aesthetics; […]“57 Ein solches Missionsverständnis will die religiöse Orientierung hinsichtlich der Sprache prägen, der täglichen Entscheidungen, dem Aufbau gemeindlicher Strukturen sowie ihrem ästhetischen Empfinden. Emergente Protagonisten fordern folglich: sprachliche Sensibilität, voraussetzungsfreie Sprache, flache Hierarchien, die Entdeckung der missionarischen Dimension von Schönheit und Ästhetik. Bielo beschreibt die Verkörperung der missionarischen Gesinnung vieler „Emerging Church“-Protagonisten am Beispiel des Gottesdienstes: „Worship – as a style, an aesthetic, and a space – is one possibility. Local activism is another. […]“58
7.3.3 „Church planting“ Als drittes Kennzeichen emergenter Protagonisten schildert Bielo ihre Ausrichtung auf „church planting“. „Emerging Church“-Protagonisten verstehen ihre Gemeinschaft, in der sie ihre Spiritualität leben, als eine Gemeindegründung und streben danach, neue Gruppen und Gemeinschaften zu ermöglichen. Das Wesen einer Gemeindegründung unterscheidet sich aber essenziell von Leitlinien der „Church Growth“-Bewegung, für emergente Protagonisten als „Gemeindepflanzung in der Moderne“ kritisiert. Sie meinen, dass Gemeindepflanzungen stark von überholten „Megachurch“-Ansätzen geprägt sind und dort eine Kultur des Wachstums unter dem Gesichtspunkt des „measurements“ („Größe“, „Vermessung“) Einzug genommen hat.59 Protagonisten kritisieren an „Megachurch“-Ansätzen die 55 56 57 58 59
A. a. O., 138–156. A. a. O., 118. A. a. O., 119. A. a. O., 123. „The discourse of measurement hinges on an impulse: all phenomena, human and natural, even the most unwieldy and excessive, can and should be measured, mapped, and mastered.“ A. a. O., 160.
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7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
Wichtigkeit der Quantifizierung von Raumgröße, Bühnengröße, Gottesdienstteilnehmerzahl bis hin zu festgesetzten Schritten zum geistlichen Wachstum eines Christen. „Emerging Church“-Protagonisten verstehen ihre Gemeindegründung als authentische, flexible Gemeinschaften mit lokalem Bezug.60 Für emergente Protagonisten ist es ein wesentliches Element der Gemeinschaft, kultur- und konsumkritisch zu sein. Dazu eignen sich speziell kleine Formen (Zellgruppen, Hauskirchen), um eine solche kulturkritische Gemeinschaft zu leben. Bei einer solchen Neugründung wird besonders auf die örtlichen Gegebenheiten geachtet. Der Autor dazu: „[…] the significance of place in the Emerging movement can be understood in terms of a response: the valuation of place in an expression of their status as late modern subjects discontented with deterritorialization and the social conditions that accompany economic restructuring.“61 Die Betonung der örtlichen Gegebenheiten folgt dem Wunsch, lokal und nachbarschaftlich präsent zu sein und nicht, wie in „Megachurch“-Gemeinden üblich, einen Campus an den äußeren Stadtbezirken zu errichten. Zusammenfassend zeigt sich bei James Bielo für „Emerging Church“-Protagonisten, dass die Suche nach Authentizität und das Erleben der Grenzen religiöser Ausdrucksformen zu einer Favorisierung von „ancient-future“-Traditionselementen und neuen monastischen Ausdrucksweisen führen. Es offenbart sich, dass eine missionarische Lebenshaltung wesentlich ist und in weiterer Folge neue Gemeindepflanzungen hervorbringt. Dabei kristallisieren sich die drei Kennzeichen im Gegenüber zu Impulsen aus dem US-amerikanischen Evangelikalismus und besonders zu Megakirchen-Ansätzen und Gemeindewachstums-diktionen heraus.62 Bielos Studie ist eine wesentliche Ergänzung zu den bereits vorgestellten Untersuchungen. Sie verortet die „Emerging Church“-Konversation, wie auch andere Untersuchungen, im US-amerikanischen Protestantismus. Außerdem richtet Bielos Hinweis auf eine „deconversion narrative“ den Blick des Beobachters auf die biografischen Hintergründe vieler Protagonisten. 60 Bielo führt aus, dass es für eine emergente Gemeinschaft kein Manual gibt, das man durcharbeiten muss, um eine Gemeindepflanzung nach bestimmten Kriterien überlebensfähig zu gestalten. Es gibt auch keinen vorgeschlagenen Ablauf, wann und wie eine Gründung erfolgreich ist und man zur nächsten Pflanzung voranschreiten kann. Diese Freiheit ist gleichzeitig ein Nachteil, da viele Gemeinschaften nicht verbindlich genug sind, um nachhaltig und dauerhaft zu bestehen. 61 Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 192. 62 James Bielo ist in diesem Zusammenhang davon überzeugt, dass die „Emerging Church“Konversation dem US-amerikanischen Evangelikalismus dabei helfen kann, sich weiterzuentwickeln und zu einem dialogischen Evangelikalismus zu werden.
7.3 James Bielo „Emerging Evangelicals (2011)
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Der Autor fällt mit dem Begriff „church planting“ aus der Reihe der vorliegenden Untersuchungen und lädt insofern zum Missverstehen ein, als die Konversation als Weiterführung der im Evangelikalismus prominenten Gemeindewachstumsideologie verstanden werden kann. Obwohl Bielo bei emergenten Protagonisten auf eine Krise der Authentizität hinweist, muss an dieser Stelle weiter kritisch nachgefragt werden. Es bedarf der weiteren Klärung, ob emergente Gemeinschaften nicht vielmehr aus einem Drang nach Individualismus und dem Wunsch nach einer selbstverwirklichten Spiritualität heraus entstehen sowie wie dies theologisch zu begründen ist.
7.4 Tony Jones „The Church is Flat“ (2011) Während andere Protagonisten in der „Emerging Church“-Konversation vorsichtig sind, ihre Rolle innerhalb des Phänomens festzulegen, stellt Tony Jones, Visiting Associate Professor am Fuller Theological Seminary, sein Selbstverständnis als „a founder of the movement“63 selbstbewusst dar.64 In seiner Untersuchung durchleuchtet Jones die Konversation aufgrund persönlicher Erfahrungen und einer Studie von acht emergenten Gemeinschaften.65 Seine These ist: I will argue that the ECM [Emerging Church Movement] is practising a new form of congregationalism – a ‚relational ecclesiology‘, significant because this burgeoning ecclesiology is not only reflective of the social-media-saturated world in which we now live, but also because it resonates strongly with the ecclesiology proposed by Jürgen Moltmann in the late-twentieth century.66
Jones stellt fest, dass „Emerging Church“ eine beziehungsorientierte Gemeinschaft lebt, wie sie Jürgen Moltmann mit seinem Begriff der „relationalen Ekklesiologie“ vorschlägt67 – eine neue Form des Kongregationalismus68. Er sagt: 63 Jones, The Church is Flat (2011), i. 64 Tony Jones ist ordiniert in der National Association of Congregational Christan Churches, einem Verbund von über vierhundert Einzelgemeinden. Er hat langjährige Erfahrung im Bereich Youth Ministry. 65 Jones, The Church is Flat (2011), 2. A. a. O., 50–53. 66 A. a. O., 1. 67 A. a. O. 68 Das Grundprinzip des Kongregationalismus liegt in der theokratisch-christokratisch gemeinten kirchlichen Vollmacht und Selbstständigkeit der Einzelgemeinde, ihrer Unabhängigkeit von weltlicher Obrigkeit, Bischofsamt und Synode. Dahinter steht der Wille, die urchristliche Ge-
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7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
„And within this it would seem it is a proposal that the E / C has been in search of an ecclesial rational that Moltmann provides, and that Moltmann’s ecclesiology has been in search of some concrete socialities to manifest itself.“69 Zuerst bestimmt Jones die „Emerging Church“-Konversation als „New Social Movement“ (NSM) im Anschluss an Theorien Sozialer Bewegungen.70 Jones untersucht im Zeitraum 2005–2006 acht Gemeinschaften:71 „Solomon’s Porch“ (gegründet von Doug Pagitt), „Cedar Ridge Community Church“ (gegründet von Brian McLaren), „Vintage Faith Church“ (gegründet von Dan Kimball),
meindegestalt als sichtbare Gemeinschaft wiederzugewinnen. Infolgedessen ist das ökumenische Bewußtsein lebendig ausgeprägt: christliche Gemeinschaft besteht überall da, wo sich Jünger Jesu im Gehorsam gegen sein Wort unter Leitung seines Geistes zusammenfinden. 69 Jones sagt im Gespräch mit Jason Clark: Clark: „A Sociality in Search of an Ecclesiology? Jason Clark Reviews Tony Jones’s ‚The Earth is Flat‘“, http://theotherjournal.com/churchand�pomo/2012/05/21/a-sociality-in-search-of-an-ecclesiology-jason-clark-reviews-tony-jonessthe-earth-is-flat/# am 12.10.2016. 70 Tony Jones definiert „new social movements“ (NSM) als ein Produkt der „neuen sozialen Mittelklasse“ in den USA, die Teil einer post-industriellen, westlichen Zivilisation ist. Die „neue soziale Mittelklasse“ überschreitet klassische Einteilungen (Bildung, Wohnort, Einkommen). Dieses ist das einzige Kennzeichen, das laut Jones nicht auf eine „Emerging Church“-Gemein�schaft übertragen werden kann, da die Mehrheit „overwhelmingly white“ und „highly educat�ed“ ist. Jones, The Church is Flat. A Relational Ecclesiology of the Emerging Church Movement (2011), 80. Als zweites Kennzeichen identifiziert er einen Pluralismus an Ideen und Werten, der in ihrer Bewegung zugelassen wird. Entscheidungsfindungen erfolgen pragmatisch. Drittens formen NSM vorher schwach ausgeprägte oder nicht vorhandene Anteile ihrer Identität besonders stark aus (wie zum Beispiel Gastfreundschaft oder Inklusivität). Als viertes Kennzeichen einer NSM wird das hohe individuelle, verantwortliche Verhalten der Gemeinschaft betont. Das fünfte Kennzeichen ist, dass NSM sich auf private Aspekte des Lebens konzentrieren, wie zum Beispiel Sexualität, Konsumverhalten oder Authentizität. Als sechstes Kriterium wird beschrieben, dass ihr Auftauchen aufgrund einer Krise traditioneller Institutionen gerechtfertigt wird. Eine NSM will durch ihren Einsatz weitreichende Veränderung bewirken. Siebtens organisieren sich NSM dezentral und wollen gemeinschaftlich leiten. Als achtes und letztes Kriterium einer NSM wird angeführt, dass neue Technologien genutzt werden. Siehe a. a. O., 11–21. Jones führt die Ergebnisse seiner quantitativen und qualitativen Interviews zu Bereichen zusammen, die im engeren Sinn nicht Alleinstellungsmerkmale einer „Emerging Church“-Ge� meinschaft sind, er sie aber durch diese neuartige Kombination als „New Social Movement“ charakterisiert. Zur Methode von Tony Jones: „Using a phenomenological method, I primarily listened for ways that they describe their experiences in the congregation, […] Finally, I conducted a church census survey […] resulting in 2020 returned surveys which reveal a plethora of quantitative data about these congregations.“ A. a. O., 2. 71 Die Auswahl der Gemeinschaften erfolgt aus folgenden Gründen: „[…] their reputation as re� presentative of the emerging church movement, the presence of the founding pastor, the personal identification of the pastor and the congregation with the ECM, and the willingness of the congregation’s leadership to be involved in the study.“ A. a. O., 51.
7.4 Tony Jones „The Church is Flat“ (2011)
253
„Tribe of Los Angeles“, „House of Mercy“, „Journey“, „Pathways Church“, „Church of the Apostles“, „Jacob’s Well“.72 Jones stellt als eine auffallende Gemeinsamkeit der acht Gemeinschaften fest, dass sie alle von charismatischen Persönlichkeiten geleitet werden. Diese hatten einen großen Einfluss auf die Gründung der jeweiligen Gemeinschaft.73 Zweitens wird der Lokalität der Gemeinschaft eine hohe Bedeutung zugemessen. Alle Gemeinschaften sind in den vergangenen Jahren mehrfach umgezogen und haben die Gemeinschaftsräume regelmäßig neu arrangiert.74 Er identifiziert vier gemeinsame Betonungen im gottesdienstlichen Geschehen („practices“75), die alle Gemeinschaften gemein haben: 1) „Communion“ („Abendmahl“), 2) „Worship“ („Anbetung“), 3) „Preaching“ („Predigt“) und 4) „Community“ („Gemeinschaft“).76 Die regelmäßige Abendmahlsfeier („Communion“) ist für Gemeinschaften aus evangelikalen Traditionen ursprünglich nicht üblich, für emergente Protagonisten aber ein Zeichen der Wiederentdeckung traditioneller Formen. Emergente Christen versammeln sich zum „worship“, der als informell und dezentral beschrieben wird. Die Dominanz der wortorientierten Predigt im Gottesdienst wird kritisiert. Nichtsdestotrotz spielt der Verkündigungsdienst eine wesentliche Rolle, der jedoch im Sinn eines Konversationsbeitrags verstanden wird. „For one, the weakening of the role of clergy in the movement undermines the pastor’s traditional hermeneutical authority in the congregation, opening the interpretation of scripture to all community members.“77 Schließlich spielt die „Community“ als „koinonia“ real und virtuell eine große Rolle. Es zeigt sich eine hohe Verbindlichkeit in den Beziehungen. Darüber hinaus identifiziert Tony Jones fünf „practices of virtue“ („tugendhafte Handlungsweisen“):78 1. „Hospitality“ („Gastfreundschaft“) 2. „Theology“ („Theologie“) 3. „Creating Art“ („künstlerische Tätigkeit“) 4. „Priesthood of All Believers“ („Priestertum aller Gläubigen“) 5. „Sacred Space“ („geheiligte Orte“)
72 73 74 75 76 77 78
A. a. O. A. a. O., 77. A. a. O., 77–81. Eine Beschreibung des Gebrauchs des Begriffs „practice“ siehe a. a. O., 82–100. A. a. O., 100–110. A. a. O., 106. A. a. O., 111–121.
254
7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
Dabei ist Relationalität das verbindende Kennzeichen der Handlungen. Unter Relationalität versteht Jones die Erfahrung gelebter Beziehung untereinander und mit Gott. Jones’ Gemeinschaftsverständnis soll im folgenden (ausführlichen) Zitat deutlich werden: There is a binding characteristic of all the foregoing practices: these are ultimately practices of relationality. That is, each of these practices has grown out of the fact that, in the emerging church movement, relationality is placed at a premium. By ‚relationality‘ I mean the experience of lived relations between human beings, and between human beings and God. By arranging the seating in the round and on couches, the leaders of Solomon’s Porch and Journey are placing relationality at a higher premium than capacity, for each church could seat more people if they opted for a more efficient seating structure. By walking up the center aisle and calling on interlocuters by name, Tim Keel is making clear that voices other than his are also important in the sermon. And by committing to practices of hospitality and a generous view towards other theologies, all of these congregations are vaunting inter-human relationships above doctrinal accuracy or denominational identity.79
Für Tony Jones sind alle „practices“ beziehungsorientierte Handlungen. Es handelt sich dabei nicht nur um Werte, die vermittelt und gelebt werden, sondern die sich bis hin zur Aufstellung der Sitzmöglichkeiten (nämlich bevorzugt in Kreisform) widerspiegeln. Beziehungs-orientierung steht damit vor einer gemeinsamen theologischen Orientierung. Durch diese Orientierung werden theologische Uneinigkeiten überbrückt und konfessionelle Hürden nivelliert. Darin sieht Jones die Schlagkraft der „Emerging Church“-Konversation, nämlich durch die Orientierung am beziehungsorientierten Leben Jesu ihre sozialpolitische Wirkung zu entfalten. Er sagt: „The emerging church movement may have a chance at being both robustly christocentric and robustly political, as Moltmann advises, while also avoiding the denominationalism that he warns against, but it will do so only by making pragmatic choices that circumvent Moltmann’s idealism.“80 Für Jones hat die „Emerging Church“-Konversation Potenzial im US-amerikanischen Evangelikalismus einen Beitrag zu folgenden Themen zu leisten: • Sakralisierung der Welt und die De-sakralisierung der Kirche • Entwicklung gleichberechtigter und demokratischer Zugänge zu gemeindlichen Ämtern 79 A. a. O., 121. 80 Für Jones ist Moltmanns Ekklesiologie der theoretische Unterbau für die Praxis emergenter Gemeinschaften. Er meint die Verkörperung von Moltmanns theologischen Ansätzen bei emergenten Christen zu sehen. A. a. O., 152. Charakteristika für „Emerging Church“-Gemein�schaften, die sich aus Moltmanns Theologie ableiten lassen, sind: a. a. O., 164–176.
7.5 Josh Packard „The Emerging Church. Religion at the Margins“ (2012)
255
• Ermutigung zu interreligiösen und überkonfessionellen Beziehungen auf der Basis von Vertrauen • Förderung von dialogischen Formen in Predigt und Lehre Abschließend kann festgehalten werden, dass Tony Jones die „Emerging Church“-Konversation als NSM verortet und darin eine Form des Kongregationalismus verwirklicht sieht. Sein systematisch-theologischer Zugang rückt jedoch durch die sozialwissenschaftlich empirische Arbeit und das Beschreiben der „Emerging Church“-Konversation in den Hintergrund. Hervorzuheben ist die Historiografie der „Emerging Church“. Als Insider und prominenter Protagonist der Konversation leistet er einen einzigartigen Beitrag zu der historischen Aufarbeitung (zum Beispiel durch seine Dreiteilung der historischen Phasen). Sein systematisch-theologischer Zugang, etwa mit dem Gesprächspartner Jürgen Moltmann, ist auf den ersten Blick ein fruchtbarer Hinweis. Wenn man genauer danach fragt, wie eine Bewegung der letzten Jahrzehnte mit dem theologischen Entwurf aus den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts korreliert, werden die Verbindungen jedoch nicht ganz deutlich. Der sich entwickelnde Ansatz Moltmanns wird als Ekklesiologie der „Emerging Church“ übernommen, ohne die besonderen gesellschaftspolitischen und theologischen Rahmenbedingungen trennscharf zu bestimmen oder zu nennen.
7.5 Josh Packard „The Emerging Church. Religion at the Margins“ (2012) Josh Packard, Soziologieprofessor an der Midwestern State University, präsentierte 2012 eine Untersuchung über emergente Protagonisten, von denen die Mehrheit Teil von christlichen Gemeinschaften waren, einige als „Emerging Church“-Konferenzteilnehmende befragt wurden und einer in dem US-amerikanischen „Emergent Village“ verantwortlich war. Anhand einer qualitativen Erhebung führte mit 59 Personen Interviews (darunter waren „congregant“, „pastor“, seminary student“, „former congregant“, sowie Personen mit Aufgaben in den Gemeinschaften).81 Von den sechs Gemeinschaften waren drei, ihre Denomination betreffend, nicht gebunden, eine Gemeinschaft war Teil der „Southern Baptist Church“ und zwei waren Teil der „Lutheran Church“.82 Die 81 Packard, The Emerging Church (2012), 19–20. 82 A. a. O., 21.
256
7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
jüngste Gemeinschaft traf sich seit 2 Jahren, die älteste bestand seit 10 Jahren. Drei Gemeinschaften hatten im Leitungsteam einen Pastor, der universitärtheologisch ausgebildet war. In nur einer Gemeinschaft war der theologisch ausgebildete Pastor hauptamtlich angestellt, in den anderen leitete entweder ein Team oder es leiteten gewählte ehrenamtliche Älteste und Diakone. Die Gemeinschaftsgröße variierte: Während die kleinste Gemeinschaft aus 30 Teilnehmenden bestand, zählte die größte 500 „congregants“ (Personen, die die angebotenen religiösen Veranstaltungen einer Gemeinschaft besuchen).83 Die untersuchten Gemeinschaften werden wie folgt strukturiert: Tabelle 1: Gemeindecharakteristika – Eigene Darstellung nach Josh Packard84 Congregation Crossroads
Faith
Calvary
Fellowship
Incarnate Word
Living Word
Seminary Trained Pastor
Y [yes]
Y
N
N
N
Y
Paid Pastor
N [no]
Y
N
N
N
N
Denomi- None national Affiliation
None
None
Southern Baptist
Lutheran
Lutheran
Own Building
Y
Y
N
Y
Y
N
Size
500
350
30
150
50
200
Length of Time
7 YRS [years]
6 YRS
7 YRS
2 YRS
3 YRS
10 YRS
Leadership
Elders and Deacons
Elders
Whole Group
3 Founding Pastors
Core Team
Elders
Region
Midwest
Midwest
South
Southeast
South
Midwest
Packard fragt mit organisationstheoretischen Ansätzen nach den Organisationsformen in der „Emerging Church“-Konversation. In drei Teilen geht er dem nach.
83 A. a. O., 20–28. 84 A. a. O., 21.
7.5 Josh Packard „The Emerging Church. Religion at the Margins“ (2012)
257
Zuerst bestimmt er Faktoren, wie es bei der „Emerging Church“-Konversation zu Gemeinschaftsformen kommt. Packard nennt diese „resistent“-Organisationen. Anschließend fragt er danach, wie sich die Organisationen am Leben erhalten, und in einem dritten Teil, welche unaufgebbaren Merkmale zum Überleben dieser Gemeinschaften wesentlich sind.85 Packard definiert die „Emerging Church“-Konversation als anti-institutionelle Bewegung. Er sagt: „From the beginning the spirit of the movement has been in opposition to dominant, mainstream religious practices.“86 Der Autor findet in den Biografien der Interviewteilnehmenden heraus, dass die Mehrheit der Befragten seiner Studie eine „deconversion narrative“ („Dekonversions-Narrative“) aufweist. Er beschreibt diese als „narrative of disillusionment and turning away from institutional church and corporate governing structures“87. Dabei stellt er fest, dass die „Emerging Church“-Konversation mehrheitlich für „de-churched“ („Entkirchlichte“) und nicht für „un-churched“ („Unkirchliche“) Heimat bietet.88 Packard definiert „Emerging Church“-Gemeinschaften als „alternative organizations“ mit folgenden Kennzeichen: „[…] [they] rely on collective decision making through democratic of consensual method, with an explicitly non- hierarchical stance promoting an egalitarian organizational structure with minimal division of labor.“89 Alternative Organisationen bemühen sich darum, Leitung nicht-hierarchisch auszuüben. Gemeinschaftliche Entscheidungsprozesse sollen von allen getragen werden und an der Durchführung sollen möglichst alle beteiligt sein. Packard ordnet die „Emerging Church“-Konversation in die gesellschaftlichen und kulturellen Umbrüche der 1990er-Jahre des 20. Jahrhunderts ein: „In a general sense, the Emerging Church can be seen as part of a larger tendency in society of some people turning away from monolithic, rationalized organizations in favor of a more contingent and contextual mentality.“90 Der Autor schildert das Aufkommen der „Emerging Church“-Konversation mit der Hinwendung zu kontextualisierten Organisationsformen. „Emerging Church“-Gemeinschaf-
85 Mit der „extended case method“ (ECM) schlägt Packard vor: „The goal of this study is to iden� tify specific practices within the anti-institutional Emerging Church that allows the movement, and specific congregation and groups to resist and avoid institutional pressures.“ A. a. O., 18. 86 A. a. O., 6. 87 A. a. O., 58. 88 A. a. O., 8. 89 A. a. O., 13. 90 A. a. O., 30.
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7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
ten wenden sich gegen die Homogenisierung ihrer Organisationsformen, wie dies etwa in „Megachurch“-Ansätzen formuliert wird.91 Der Wunsch von Protagonisten der „Emerging Church“-Konversation ist es, Teil einer „local community“ zu sein. Dieses „Inkarnieren“ in die lokalen Umstände vor Ort ist Teil ihres Missionsverständnisses, so Packard. Dadurch wird unter anderem das „social environment“ wesentlich. Laut Packard wird, trotz des Bestrebens sich nicht zu institutionalisieren, Leitung wahrgenommen, jedoch unter besonderen Gesichtspunkten. Als ein zentrales Kriterium, um sich für Leitungsverantwortung zu qualifizieren, nennt Packard „experience over credentials“92. Den Interviewteilnehmenden ist es wichtig, besonders in der Leitung ihrer Gemeinschaft Diversität93 zu repräsentieren. Gemäß Packard besteht ein implizierter Verdacht darin, dass ein theologisch ausgebildeter Hauptamtlicher Macht und Autorität durch sein Amt beanspruchen würde. Emergente Christen messen jedoch der inneren Berufung mehr Bedeutung zu als einer kirchenorganisatorischen Funktion. Packard fasst dieses Ergebnis mit der Phrase „called to, not called by“, zusammen. Er sagt weiter: „The expecation that the pastor will serve the congregation leads rather quickly to the institutionalization of particular routines and processes […]“94 Wenn der Autor danach fragt, wie sich „Emerging Church“-Gemeinschaften erhalten, geht er zunächst von Folgendem aus: „[…] Emerging Church stands out in the religious landscape both for its ideological commitments and for its organizational structure.“95 Die organisatorische Struktur leitet Packard von der Beobachtung „ideologischer Bekenntnisse“ ab. Diese sind gemäß Packard folgende:96 • „anti-growth strategy“ („anti-Wachstumsstrategie“): „Emerging Church“Gemeinschaften sind der Meinung, dass numerisch kleine Gruppen geeignet sind, um in postmodernen Zeiten kontextualisiert zu leben. Es wird nicht nur kein Versuch unternommen, Wachstumsstrategien anzuwenden, sondern diese werden sogar abgelehnt.97 • „messiness“ („Unordnung“): Die Gemeinschaften zeichnen sich durch dezentrales Ressourcenmanagement aus. Gaben und Ressourcen werden 91 Packard beschreibt diese Unzufriedenheit als Ergebnis seiner Untersuchung und bezeichnet den Gegenentwurf einer „Emerging Church“-Gemeinschaft als „the megahouse church“. A. a. O., 42–49. 92 A. a. O., 101. 93 A. a. O., 106. 94 A. a. O., 109. 95 A. a. O., 123. 96 A. a. O., 123–143. 97 Der Autor fasst mit diesem Punkt Ablehnung gegen „Megachurch“-Wachstumsansätze zusammen. Packard / Sanders, „The Emerging Church as Corporatization’s Line of Flight“ (2013), 444.
7.5 Josh Packard „The Emerging Church. Religion at the Margins“ (2012)
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nicht für vorgegebene Ziele eingesetzt, sondern Ressourcen werden zur Verfügung gestellt, damit Partizipienten einer Gemeinschaft ihre Ziele erreichen können. Zudem sind unterschiedliche theologische Anschauungen willkommen und sollen nicht homogenisiert werden. Der Begriff „messiness“, der von Packard eingeführt wird, wird folgendermaßen gedeutet: „Messiness then, is pure potential; it is process rather than product. Messiness (as represented by fluidity, contingency, provisionality, etc.) is critical for the Emerging Church because that is what distinguishes it from other corporatized and consumer-friendly churches.“98 • „DIY, DIO“ („do it yourself “, „do it ourselves“ – „mach es selbst“, „machen wir es selbst“): Teilnehmende von „Emerging Church“-Gemeinschaften verstehen sich selbst als Teilhaber von und aktiv Teilnehmende an religiösen Aktivitäten. „[…] the mindset of the people in the Emerging Church is that they don’t want to be passively consuming a religious product […]“99. Packard stellt eine Kritik an traditionellen Gemeindeformen und Kirchen fest, denen emergente Protagonisten vorwerfen, konsumorientiertes Gottesdienstverhalten zu generieren. „Where the institutional church offers a readymade religious experience that congregants can consume, the Emerging Church offers a readymade opportunity where people can choose to create.“100 Protagonisten in der Konversation sehen sich selbst und ihre Gemeinschaft als Agenten für eine Erneuerung gemeindlichen und gottesdienstlichen Lebens. • „niche market“ („Nischenmarkt“): Packard erkennt, dass es aufgrund der Fehler der traditionellen Kirchen einen großen Nischenmarkt für anti-in stitutionelle Organisationen wie die „Emerging Church“ gibt. Das Bedürfnis einer „meaningful religious activity“ wird an den Rändern der traditionell organisierten Kirchen aufgegriffen. „Instead of resisting dominant structures simply for ideological gain, they are able to avoid conforming to dominant structures because of their ideological stance which allows them to gain resources that the dominant organizations are not able to obtain.“101 Der Autor fragt in einem letzten Teil der Untersuchung danach, wie sich die Organisation „Emerging Church“ am Leben erhält. Unter der Phrase „sustaining faith, sustaining resistance“102 („Glaube erhalten, Widerstand behalten“) fasst 98 Packard, The Emerging Church (2012), 129–131. 99 A. a. O., 132. 100 A. a. O. 101 A. a. O., 137. 102 A. a. O., 145–170.
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7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
der Autor Prinzipien zusammen, die er für den Fortbestand der „Emerging Church“-Konversation festmacht: 1. „intentional“ („intentional“): Den flachen hierarchischen Strukturen und der hohen Partizipation der Teilnehmenden liegt ein intentionales Verständnis von christlicher Nachfolge zugrunde. Christsein heißt demnach Beteiligung und Verantwortung. 2. „disruptive“ („störend“): Die „Emerging Church“-Konversation wird weitergeführt, indem „disruptive“ („störende“, „Unruhe stiftende“) Themen und Ansätze aufgenommen werden und die Teilnehmenden sich den ihnen fremden theologischen Ansätzen nicht versperren. 3. „independent“ („unabhängig“): Wesentlich für den Fortbestand der „Emerging Church“-Konversation ist Unabhängigkeit von strukturellen und theologischen Positionen – Packard nennt dies Angst vor Vereinnahmung und Inanspruchnahme. 4. „inclusive“ („inklusiv“): Zuletzt wird die Inklusivität der Konversation angesprochen. Menschen mit ihren unterschiedlichen Hintergründen und Anschauungen werden ohne Vorbehalt in die „Emerging Church“ eingeladen, es werden keine Voraussetzungen verlangt. John Packard stellt in seiner Untersuchung Kennzeichen der „Emerging Church“ als alternative Organisation an den Rändern institutionalisierter protestantischer „mainline“-Gemeinden dar. Eine Stärke der Untersuchung ist die Vielfalt der ausgewählten Gemeinschaften. Eine Besonderheit innerhalb der Forschungslandschaft ist der explizite „mainline“-Bezug. Kritisch ist an seinem Ansatz zu erwähnen, dass er fxC mit „Emerging Church“ gleichsetzt.103
7.6 Gladys Ganiel und Gerardo Marti „The Deconstructed Church“ (2014) Gladys Ganiel, irische Religionssoziologin am Trinity College Dublin, und Gerardo Marti, Soziologe am Davidson College Southern California, beschreiben die „Emerging Church“-Konversation als „[…] one of the most important reframings of religion within Western Christianity in the last two decades […].“104
103 A. a. O., 9. 104 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 5.
7.6 Gladys Ganiel und Gerardo Marti „The Deconstructed Church“ (2014)
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Die 2014 erschienene Veröffentlichung widmet sich dem Erfassen des Phänomens „Emerging Church“ im anglo-amerikanischen Raum. Zur methodischen Herangehensweise der Untersuchung: Die Autoren arbeiten mit einer Vielzahl von Methoden und führen diese zusammen (qualitative Untersuchungen, quantitative Untersuchungen und Gespräche mit Verantwortlichen, Leitern und 127 Teilnehmenden). Nach mehr als zehn Jahren im Forschungsfeld, auf Konferenzen, Tagungen zwischen 2010 und 2013, in Fokusgruppen, mit Fragebögen für Gemeinschaften, durch Beobachtung der Interaktion in sozialen Medien – auch Zugang zu Tony Jones Rohdaten und eine Neuauswertung seiner Daten – leisten sie mit einer hochwertigen Untersuchung einen wesentlichen Beitrag bezüglich der „Emerging Church“-Konversation. Sie selbst waren in diesen Jahren Teil der „Emerging Church“-Konversation und bringen ihre Erfahrungen und Gesprächsprotokolle mit den Teilnehmenden ein (das meiste Datenmaterial ist zwischen 2010 und 2013 gesammelt worden).105 Die Autoren untersuchen aus religionssoziologischer Perspektive vier Vergemeinschaftungsformen in der „Emerging Church“-Konversation: „pub churches“ („Pub-Gemeinschaften“), „Emerging Christian conferences“ („Emerg ing Church“-Konferenzen), „web-based networks“ („web-basierte Netzwerke“) und „neo-monastic communities“ („neue monastische Gemeinschaften“).106 Die Autoren schließen sich der Argumentation von Tony Jones an, der die „Emerging Church“-Konversation als Bewegung im Sinn einer sozialen Bewegung und damit die Protagonisten mit sozialen Aktivisten vergleichen.107 Ganiel und Marti definieren aus religionssoziologischer Sicht die „Emerging Church“ folgendermaßen: „This leads us to characterize the ECM as an institutionalizing structure, made up of a package of beliefs, practices and identities which are continually deconstructed and reframed by the religious institutional entrepreneurs who drive the movement.“108 Ganiel und Marti basieren ihre These auf der Erkenntnis, dass Dekonstruktion eine treibende Kraft in der Konversation ist. Sie definieren „deconstruction“ als Leitbegriff ihrer Untersuchung folgendermaßen: „[…] a form of micropo105 Bei den qualitativen Untersuchungen wurden die Interviewpartner zunächst gebeten, ihre religiöse Biografie zu schildern. Danach folgte die Frage, wie sie in ihre Gemeinschaft gekommen sind, usw. Fragen sind dokumentiert bei Ganiel und Marti: a. a. O., 203. Bei der Literaturrecherche haben sie sich auf die Veröffentlichungen von Brian McLaren, Rob Bell, Tony Jones und Peter Rollins gestützt. Zusätzlich dazu zwischen 2010 und 2012 eine Vielzahl von Twitter-Feeds abonniert, verfolgt und ausgewertet. A. a. O., 197–208. 106 A. a. O., 11–21. 107 A. a. O., 6. Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement. Exploring the Significance of Peter Rollins and the Ikon Collective“ (2014), 30. 108 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 8.
262
7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
litics in which actors establish competetive arenas in response to pressure for conformity […]“.109 Dekonstruktion als zentrale Haltung und Handlung in der „Emerging Church“-Konversation meint weiter: „This practice of deconstruction encourages individualism and deep relationships with others; explores new ideas around the nature of truth, doubt, and God, and has led to innovations in preaching, worship, Eucharist, and leadership.“110 Ganiel und Marti stellen fest, dass die andauernde dekonstruierende Praxis das Fundament der religiösen Orientierung in der „Emerging Church“-Konversation ist.111 Personen, die sich demnach an der „Emerging Church“-Konversation beteiligen, haben eine gemeinsame Orientierung: Sie praktizieren Dekonstruktion.112 „Dekonstruktion“ als verbindendes Element der Gemeinschaft in der „Emerging Church“-Konversation führt zu Innovationen in gottesdienstlichen Handlungen (Predigt, Lobpreis, Leitung). Diese erkunden sie im Gespräch mit anderen Frömmigkeitstraditionen und in Abgrenzung von „Megachurch“-Ansätzen oder Erfahrungen im „mainline“- Protestantismus.113 Die Autoren betonen die Abwehrhaltung gegenüber etablierten, formularähnlichen Ausdrucksformen: „For Emerging Christians, both seeker and staid models are formulaic, having devolved religious devotion to strict rubrics, and thus have lost the base mean ing, formation, and conversation necessary for the construction of significant and formative corporate worship.“114 Die Autoren zeigen, dass sich „Emerging Church“-Gemeinschaften in Dekonstruktions-prozessen ständig neu formen. Diese Gemeinschaften befinden sich in der Spannung zwischen Individualität und Gemeinschaftsorientierung. Die Autoren dazu: „Emerging Christians want to create Christian communi109 A. a. O., 26. 110 Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement. Exploring the Significance of Peter Rollins and the Ikon Collective“ (2014), 29. 111 Sie folgern: „Emerging Christians are sharing a distinct religious orientation built on a conti�nual practice of deconstruction.“ A. a. O. Siehe auch Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 6. 112 Die Autoren unterscheiden den Begriff „orientation“ von dem Begriff „identity“, da es ein brei�tes Spektrum von Glaubensüberzeugungen, Glaubensformen und Identitäten innerhalb der Konversation gibt. Mit der Bezeichnung „orientation“ wird der Tatsache Rechnung getragen, dass Menschen innerhalb dieser Konversation gleichzeitig unterschiedliche Konfessions- oder Frömmigkeitsidentitäten haben können. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 8. 113 A. a. O., 110–133. 114 A. a. O., 111. Dabei bleiben emergente Protagonisten verbunden mit: Gebet, Singen, der Heiligen Schrift, Lehre in gemeinschaftlichen Kontexten. Der Unterschied liegt in der intentionellen Auswahl und Strukturierung verschiedener Elemente. „Every moment of every ECM mee�ting is layered with intended meenings […].“ A. a. O. Das Spontane wird wertgeschätzt sowie offene Räume für Reflexion und mit der Möglichkeit, Antworten zu geben. „The purpose of gatherings are, then, not to ‚convert‘ or ‚lead‘ people to God through established recipes but to create open opportunities to see, hear and respond to God.“ A. a. O., 112.
7.6 Gladys Ganiel und Gerardo Marti „The Deconstructed Church“ (2014)
263
ties that allow for a sustainable religious autonomy, ones where a broad scope of freedom in individual belief and religious conviction reign.“115 Ganiel und Marti schildern „Emerging Church“-Gemeinschaften als „pluralist congregations“ („pluralistische Gemeinschaften“), die Individualismus fordern und gleichzeitig Gemeinschaft durch „shared experience“ („geteilte Erfahrung“) und „relationships“ („Beziehungen“) anbieten.116 Ausdruck einer solchen „pluralist congregation“ ist Folgendes: „[…] [they] foster, direct interaction between people with religiously contradictory perspectives and value system.“117 Trotz unterschiedlicher Wertesysteme und Weltsichten können diese nebeneinander koexistieren und sind miteinander im Dialog. Dabei wird die Autonomie des Einzelnen genauso geachtet wie die Beziehungen zueinander. „Pluralist Congregation“ wird definiert als sozialer Raum, der den Dialog zwischen unterschiedlichen theologischen und individuellen Perspektiven willkommen heißt und fördert.118 Diese Prozesse werden von „religious institutional entrepreneurs“ („religiösen institutionellen Unternehmern“) initiiert.119 In ihrer Untersuchung schreiben sie den Leitern und Ideengebern emergenter Gemeinschaften großen Einfluss auf die Gemeinschaften und Netzwerke zu. Die Autoren fassen zusammen, wie „Dekonstruktion“ alle aufkommenden Themen und Haltungen in der „Emerging Church“-Konversation prägt und bestimmt:120 1. „Emerging Christians“121 sind anti-institutionell und integrieren plurale theologische Anschauungen, sie werden damit zu einer „pluralist congregation“. Die Autoren stellen fest: „[…] their openness and commitment to tolerating radically diverse viewpoints“122.
115 A. a. O., 26. Ganiel und Marti sprechen von den Individualisierungstendenzen in emergenten Gemeinschaften und von einer Sakralisierung des Individuums. Da Gottes Eingreifen, Wirken und Handeln in dieser Welt fern scheint, ist es die Aufgabe des Einzelnen, „gottgleich“ einzuspringen. 116 Die Autoren übernehmen von Ulrich Beck hierfür den Begriff „kooperativer Egoismus“. Siehe a. a. O., 34–35. 117 A. a. O., 34. 118 Ganiel und Marti dazu: „Emerging Christians find various openings for relationships with people outside their congregation and engagement with loftier concerns that extend beyond congregational ministries. Rather than being individualistic, the religious practices of Emerging Christians are individuated through a highly conscious embrace of broader relational commitments and larger social values.“ A. a. O., 136. 119 A. a. O., 80–81. 120 A. a. O., 27–31. 121 Die Autoren verwenden diesen Begriff, um die Protagonisten in der „Emerging Church“-Kon�versation zu beschreiben. 122 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 34.
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7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
2. Emergente Christen dekonstruieren evangelikale theologische Ansichten, zum Beispiel zur Sühnevorstellung Jesu und werden damit im ökumenischen Diskurs dialogfähig. „Emerging Christians’ approach to issues ranging from salvation, sanctification, and eschatology – especially alongside a great concern for social justice – encourages a form of ecumenism that transcends many theological and ecclesial boundaries“123 3. „Emerging Christians“ widerstehen hierarchischen Strukturen und wollen gemeinschaftlich leiten und entscheiden. 4. Experimentierfreude und Kreativität sind zentrale Haltungen der Protagonisten. 5. Emergente Gemeinschaften verstehen ihre Beziehungen als den Ort, an dem offen und ohne Vorbehalte diskutiert werden darf. „Emerging Christians negotiate potential religious polarization by striving to create a new type of ‚neutral religious space‘ that is church-ish without being church-y.“124 Die Autoren erkennen vier inhaltliche Orientierungen, die kennzeichnend für die „Emerging Church“ sind. Sie finden in ihrer Untersuchung heraus, dass den Teilnehmenden an „Emerging Church“-Gemeinschaften ein ähnlicher Zugang zu bestimmten inhaltlichen Themen gemeinsam ist: Sie haben eine vergleichbare Orientierung, wenn es um epistemologische und theologische Fragen geht (Wahrheit, Zweifel, Natur Gottes). • Zum Ersten wird die neutestamentliche Sühnevorstellung der Notwendigkeit des Todes Jesu abgelehnt. Diese Form der Sühnevorstellung ist die vorrangige Vorstellung und Interpretation evangelikaler Theologie, gegen die sie sich wenden. Ganiel und Marti kommen zu dem Schluss: „[…] E merging Christians have preferred to conceive the crucifixion either in terms of scape goating (drawing on Rene Girard’s theories) or as Christ’s voluntary identification with our suffering, particularly the suffering of the socially and politically marginalized.“125Die Autoren verorten eine theologische Schwerpunktverschiebung in der Deutung des Kreuzesgeschehens. So wird Jesu freiwillige Identifikation mit den Schwachen und Marginalisierten betont und ein Sühnetodverständnis abgelehnt. • Zum Zweiten verstehen die Protagonisten „Wahrheit“ nicht als objektiv erfahrbar und vermittelbar. Obwohl „Wahrheit“ durch das Leben Jesu auf Erden offenbart wurde, ist objektive Wahrheit nicht aus der Bibel extrahierbar. Wahrheit wird durch „stories“ („Geschichten“, „Narration“) erfahren und vermittelt.
123 A. a. O., 28. 124 A. a. O., 29. 125 A. a. O., 30–31.
7.6 Gladys Ganiel und Gerardo Marti „The Deconstructed Church“ (2014)
265
• Zum Dritten gelten Zweifel im Glauben nicht als verwerflich. Es wird im Gegenteil ermutigt, sich mit Bedenken und innerem Zwiespalt auseinanderzusetzen und diesen nicht einfach als „Unglauben“ und einem daraus resultierenden Heilsverlust zu deuten. Ganiel und Marti zitieren aus ihrem Interview mit Peter Rollins: „Rollins says churches protect people from the trauma of doubt. Ministers shield people with their sermons of certainty.“126 • Zuletzt erkennen die Autoren die inhaltliche Betonung der Dreieinigkeit Gottes.127 Die Betonung des irdischen Lebens (und damit die soziale, politische und gesellschaftliche Gestaltung des Lebens) und die Geistbegabung der Christen und Christinnen hat in der „Emerging Church“-Konversation Konjunktur. Abschließend soll auf die Definition der Autoren für die „Emerging Church“Konversation hingewiesen werden, die in der Forschung über die Konversation als umfassend und weitreichend gilt und die Darstellung der Autoren angemessen zusammenfasst: The ECM is a case if collective institutional entrepreneurship that is forging a religious orientation suited to the society in which we live. Emerging Christians engage in micropolitics against pressures toward conformity from forms of Christianity they perceive to be false and oppressive. As religious institutional entrepreneuers, Emerging Christians participate in pluralist congregations in which liturgical and devotional practices are deliberately open, inclusive, and drawn from various traditions, which allow people to strategically select which religious practices work best for them. The ECM therefore fosters corporate settings for the enactment of a strategic religiosity that allows Emerging Christians to seek out and legitimate a broad spectrum in forms of religiosity while other familiar, often widespread, and often more conventional forms are rendered inadequate. The ECM accommodates multiple paths of spirituality accessible through diverse responses to congregational activities. The practices of emerging congregations help people accommodate apparently contradictory priorities: exercising individual religious autonomy while participating in a collective congregational life. Rather than being strictly individualistic, their religious practices are individuated while encouraging a consciousness of corporate responsibility. Moreover, congregational participation is not the sole concern for Emerging Christians; their activities and priorities extend holistically to more expansive social, ethical, and spiritual concerns that inhere to their everyday lives.128
126 A. a. O., 3. 127 A. a. O., 104. Vgl. Moritz, „Beyond Strategy, Towards the Kingdom of God“ (2008), 32. 128 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 163–164.
266
7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
Ganiels und Martis Untersuchung verdient es aufgrund der methodischen Präzision sowie der vielfältigen Zugänge als empirisches Grundlagenwerk über die „Emerging Church“-Konversation herangezogen zu werden. Durch die großen Datensätze ermöglicht es diese Untersuchung, ein umfassendes und weitreichendes Bild der Konversation zu zeichnen. Schließlich wird ein bestimmender Faktor der Konversation, nämlich die dekonversiven Momente, unterstrichen, womit sich die Bedeutung der vorliegenden Arbeit weiter plausibilisiert. Nachteilig ist der begrenzte Zeitraum der Untersuchung und damit die fehlende historische Dimension sowie die damit verbundene Konzentration auf wenige Autoren, die ausschließlich in der dritten Strömung – „revisionists“ – beheimatet sind. Die vorliegende Arbeit folgt er Einschätzung der Autoren, dass die Konversation seit der dritten historischen Phase vorwiegend durch die dritte Strömung („revisionists“) geprägt ist, nimmt jedoch einerseits mehr Stimmen in der Konversation wahr und andererseits auch die anderen Strömungen in den Blick und weitet somit das Verständnis darüber, was die „Emerging Church“Konversation ist.
7.7 Ertrag und Zwischenfazit An dieser Stelle sollen die sechs vorgestellten Studien zusammengefasst werden. Die Studien stellen in gewisser Weise die empirisch wahrnehmbare Wirklichkeit emergenter Gemeinschaften und der Konversation dar, wenn auch auf die Auswahl der Studien begrenzt. Dabei gehen die Autoren Ganiel und Marti am weitesten, wenn sie emergente Vergemeinschaftungsformen auch in Netzwerken und Konferenzen wahrnehmen. Bereits auf den ersten Blick zeigen sich neben einigen Unterschieden, beispielsweise in der Definition der „Emerging Church“ und den unterschiedlichen Studienformaten129, viele Doppelungen und Ähnlichkeiten in der Wahrnehmung emergenter Gemeinschaften. 129 Aufgrund der unterschiedlichen Studienansätze ist es erklärbar, dass verschiedene Definitionsvorschläge vorgestellt werden, was „Emerging Church“ ist. Von „Emerging Church“ wird als missionarische Gemeindepflanzungs-Bewegung (Gibbs / Bolger), als „resistent organisation“, die einen Nischenmarkt für religiöse Aktivitäten ermöglicht und ihre Gruppengröße kontrolliert klein hält (Packard), als Teil der „church-planting“-Bewegung (Whitesel), als Neue So�ziale Bewegung (Jones) oder als kooperativ-egoistische Gemeinschaft, die anti-institutionell mit pluralistischem Anspruch strukturiert ist (Ganiel / Marti), gesprochen. Weiter wird eine Bandbreite von Erklärungsmöglichkeiten angeboten, warum es zum Aufkommen der „Emer�ging Church“-Konversation gekommen ist. Hier werden sowohl gesellschaftliche Bedingungen und Veränderungen als auch persönliche biografische Brüche genannt.
7.7 Ertrag und Zwischenfazit
267
Durch die Zusammenschau der Studien wird geklärt, welche Themen für emergente Gemeinschaften relevant sind.130 Diese sollen wie folgt geordnet werden: Es kann festgestellt werden, dass das übergreifende Thema in der Konversation die religiöse Identitätsbildung ist.131 Emergente Protagonisten setzen sich mit ihrem religiösen Selbst-verständnis unter besonderer Beachtung von religiösbiografischen Loslösungs- und Abwehrdynamiken auseinander. Die Klärung religiöser Orientierung geschieht hinsichtlich vier Richtungen. • Erstens thematisieren emergente Protagonisten die Veränderung ihrer religiösen Orientierung. Einige haben sich von einer religiösen Gemeinschaft gelöst (und sind damit „de-churched“), sie haben die religiöse Gemeinschaft (und häufig die Denomination) gewechselt oder sind in ihrer Gemeinschaft geblieben. Explizit genannt wird dies bei: Bielo („deconversion narrative“), Packard („deconversion narrative“ und „de-churched“), Ganiel / Marti („deconversion“), Gibbs / Bolger und Jones. Bei Whitesel dagegen fehlt ein solcher Bezug. • Zweitens spielt Relationalität leiblich und / oder virtuell eine wesentliche Rolle. Gemeinschaft ist jener zentrale Bezugspunkt in der Konversation, in der die Klärung der religiösen Identität voranschreiten soll. Explizit wird die zentrale Rolle der Gemeinschaft genannt bei: Bielo (im Sinn einer kulturkritischen Gemeinschaft), Packard (eine nicht hierarchische, alternative Organisation, die als Gemeinschaft „intentional“, „disruptive“, „independent“, „inclusive“ ist), Gibbs / Bolger („live highly communal lives“), Ganiel / Marti (Gemeinschaft als „collective institutional entrepreneurship“, „cooperative egoism“ und „anti-institutionell“) und Jones („community“). Schließlich verstehen emergente Christen Leiten und Führen als gemeinschaftliche Leitung. Explizit wird dies genannt bei: Packard, Gibbs / Bolger („lead as a body“), Ganiel / Marti, zudem bei Bielo („called to not called by“), Jones (unter dem Stichwort „Priestertum aller Gläubigen“ und „egalitarian church governance. Dieses Merkmal fehlt bei Whitesel. • Drittens zeigt sich ein Prozess der Klärung ihres religiösen Selbstverständnisses darin, dass sich emergente Protagonisten mit ihrer theologischen
130 Dadurch wird der Untersuchungsgegenstand „Emerging Church“ in einem weiteren Schritt eingegrenzt. Siehe zu den Kriterien der Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes Abschnitt I Kapitel 1.2.2 Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes. 131 Eine solche Einteilung wird etwa durch Katharine Moodys Einschätzung bestätigt, die sagt: „In active conversation with emerging cultures, emerging Christian communities are ciritcal of Christianity’s capitulations to modernism and explore Christian identity, theology and community in shifting paradigms.“ Moody, „Researching Theo(b)logy“ (2009), 238.
268
7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
Tradition und ihren theologischen Überzeugungen auseinandersetzen. Explizit genannt wird dies bei: Gibbs / Bolger („identify with Jesus“), Whitesel („melody of orthodoxy“ und auch Auseinandersetzung mit der Bibel), Jones („Theology“), Ganiel / Marti (Themenschwerpunkte: Sühneverständnis, Wahrheit, Zweifel, Trinität), Bielo („limits of language“). Dieser konkrete Bezug fehlt bei Packard (kann aber unter „disruptive“ inkludiert werden). • Viertens sind emergente Protagonisten darum bemüht, ihr Verhältnis zu verschiedenen Kontexten (Welt, Kirche / Gemeinde, Ort, Christenheit) zu klären. Emergente Protagonisten verstehen ihre religiöse Orientierung auf die Welt ausgerichtet (und damit wird ein besonders starker Bezug zur Welt, zum Kontext, zur Nachbarschaft deutlich). Sie wollen einen geistlich-säkularen Dualismus durchbrechen. Explizit genannt wird das bei: Whitesel („melody of engagement: social, spiritual“), Gibbs / Bolger („transform secular culture“), Jones (emergente Christen streben nach der Sakralisierung der Welt und der De-Sakralisierung der Kirche), Packard („being part of a local community“) zudem bei Bielo (emergente Gemeinschaften leben kulturkritisch) und Ganiel / Marti („social concern“). Das kann in Form einer missionarischen Ausrichtung geschehen. Die Bedeutung dessen, was „missionarisch“ ist, wird vielfältig gefüllt. Explizit genannt wird dies bei: Bielo, Whitesel („missional church growth“), Jones (Interreligiösität und „sacralising the world“), Packard („being part of a local community“). Gibbs / Bolger definieren emergente Gemeinschaften grundsätzlich als missionarische Gemeinschaften, ohne es als ein Merkmal zu definieren. Für emergente Christen hat der Ort der Gemeinschaft eine wesentliche Bedeutung. Explizit genannt wird dies bei: Whitesel („rhythm of place“), Ganiel / Marti („neutral religious space“), Bielo („church-planting“), zudem bei Jones („sacred space“), indirekt bei Gibbs / Bolger („transform secular realm“) und Packard („being part of local community“). Im Prozess der Klärung der religiösen Orientierung werden Werte, Haltungen und Praktiken deutlich, die im Diskurs verdichtet diskutiert werden. 1. Emergente Christen suchen und streben nach Authentizität. Authentizität wird zum Prüfstein religiöser Orientierung, individuellen spirituellen Ausdrucks, gemeinschaftlicher Praxis sowie Engagements in der Welt. Explizit wird dies genannt bei: Bielo und Whitesel, zudem bei Gibbs / Bolger, Jones, Packard und Ganiel. 2. Emergente Christen sind in doppelter Hinsicht konsumkritisch. Zum einen wird konsumorientiertes Handeln im christlichen und gottesdienstlichen Leben abgelehnt (Ablehnung von „Megachurch“ und „Church Growth“Zugängen). Zum anderen wird die Konsumkritik in einer sozialpolitischen Hinsicht verstanden, zum Beispiel in der Wahl des Gebäudes oder in der
7.7 Ertrag und Zwischenfazit
3.
4.
5.
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7.
269
Durchführung lebensgemeinschaftlicher Praktiken. Explizit genannt wird dies bei: Gibbs / Bolger („anti-consum“), Bielo („commodification“), Jones („community“ als konsumkritische Gemeinschaft), Packard (indem Leitung in Form von „experience over credentials“ gedacht wird, werden autoritäre Strukturen abgelehnt), Ganiel / Marti („social concern“). Für emergente Christen spielen Experimentierfreude und Kreativität bei den spirituellen Ausdrucksformen eine bedeutende Rolle. Explizit genannt wird dies bei: Ganiel / Marti, Jones („creating art“), Bielo (aufgrund der „limits of language“), Gibbs / Bolger („create as created beings“), Packard („messiness“). Dieser Bezug fehlt bei Whitesel. Emergente Gemeinschaften zeichnen sich aus durch partizipative Strukturen und Angebote. Explizit genannt wird dies bei: Gibbs / Bolger („participate als producers“), Jones („relationality“), Packard („intentional“), Bielo („church-planting“ einer verbindlichen, flexiblen Gemeinschaft), zudem indirekt bei Ganiel / Marti (Gemeinschaft als „religious institutional entrepreneurs“). Bei Whitesel fehlt dieser Bezug. Emergente Gemeinschaften zeichnen sich aus durch ihre inklusive Haltung. Inklusion soll durch positive Haltungen ermöglicht werden. Explizit genannt wird dies bei: Ganiel / Marti, Packard („messiness“), Gibbs / Bolger („welcome strangers“, „serve with generosity“), Jones („relationality“, „hospitality“), Bielo (es soll die „commodification“ durchbrochen werden). Dieser Bezug fehlt bei Whitesel. Emergente Christen gestalten ihr Christsein individuell, eigenständig, eigenverantwortlich und gleichzeitig dialogisch. Explizit genannt wird dies bei: Gibbs / Bolger („participate als producers“), Packard („DIY“), Ganiel / Marti (das Fördern der Individualität), Jones („priesthood of all believers“). Dieser Bezug fehlt bei Whitesel und Bielo (hier kann angemerkt werden, dass die Suche nach Authentizität eine individuelle Angelegenheit ist). Für emergente Christen sind geistliche Aktivitäten, geistliches Leben und gottesdienstliche Veranstaltungen wichtig. Explizit wird dies genannt bei: Whitesel (mit zwei Begriffen: „rhythm of discipleship“ und „rhythm of worship“), Gibbs / Bolger („spiritual activities“), Bielo („ancient-future“ und „new monasticism“), Jones („communion“, „worship“, „preaching“), zudem bei Packard („meaningful religious activity“ finden in Nischen statt), Ganiel / Marti (durch „shared experience“ wird die Gemeinschaft konstituiert).
Es kann zusammenfassend festgestellt werden, dass das übergreifende Thema in der „Emerging Church“-Konversation die Klärung der religiösen Orientierung ist. Eingebettet in dialogisch-relationale Prozesse sowie leibliche und virtuelle Gemeinschaft können fünf Themencluster, genauer Motive, identifiziert werden:
270
7. Die „Emerging Church“-Konversation – eine Standortbestimmung
• Motiv I: die Thematisierung der Veränderung der eigenen religiösen Orientierung unter besonderer Berücksichtigung von Abwehr- und Loslösungsdynamiken • Motiv II: die spezifischen Bedeutungen von Relationalität • Motiv III: die Beschäftigung mit theologischen Themen und Herangehensweisen • Motiv IV: die Thematisierung des Verhältnisses zu verschiedenen Kontexten (Welt, Nachbarschaft, Gemeinde, Ort, Christentum) • Motiv V: die Bedeutung von Werten, Haltungen und Praktiken In den nächsten fünf Kapiteln werden die aus den Studien gewonnenen fünf Motive durch eine umfassende Literaturrecherche expliziert und ausgeführt werden. Wo dies notwendig erscheint, wird auf Differenzen zwischen Studien und Literatur hingewiesen.
8. Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung in der Konversation 8.1 Vorbemerkung Über die „religiöse Entwicklung“ emergenter Christen sagt Tony Jones (von ihm auch „New Christians“ genannt): „We are not becoming less religious, as some people argue. We are b ecoming differently religious. And the shift is significant. Some call it a tectonic shift, others seismic or tsunamic. Whatever your geographical metaphor, the changes are shaking the earth beneath our feet.“1 In der „Emerging Church“-Konversation sprechen Autoren und Protagonisten offen und öffentlich über die Veränderung ihrer religiösen Orientierung und weisen dabei auf Differenzerfahrungen zu vormaligen Überzeugungen, religiöser Praxis, Erfahrungen sowie gemeindlichen Strukturen hin.2 All dies findet sich in der Konversation in verdichteten Themenclustern wieder, prägt die Konversation und die religiöse Orientierung Einzelner. Dabei bieten die Konversation und die Gemeinschaften Anregungen sowie Hilfestellungen, beispielsweise durch die Begegnung und Interaktion mit Alternativen, durch das sprachliche Neuformulieren von dogmatischen Begriffen wie Hölle und Sünde oder auch durch erweiterte Deutungshorizonte des stellvertretenden Leidens Jesu am Kreuz. Ebenso wird die Moderne und der „Gefangenschaft“ der Kirchen in dieser problematisiert. Es wird angeregt, die individuelle religiöse Orientierung zu prüfen, zu reflektieren und einer Revision zu unterziehen.3 1 2
3
Jones, The New Christians (2008), 2. Es ist eine Tendenz zu beobachten, nämlich dass Protagonisten der „reconstructionist“ und „revisionist“-Strömung Veränderungen ihrer religiösen Orientierung mehr thematisieren als „relevants“. Dies mag mit der bereits in Abschnitt II Kapitel 4 Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation angesprochenen Differenzierung der Strömungen anhand verschieden�er Grade dekonstruierender Herangehensweisen zusammenhängen. Am Beispiel von Doug Pagitts Veröffentlichung „Reimagining Spiritual Formation“ wird deut�lich, wie beispielsweise mit der Öffentlichkeit umgegangen wird, wenn Protagonisten der Gemeinschaft „Solomon’s Porch“ ihre Erlebnisse in der Gemeinschaft notieren. Pagitt, Reimagi� ning Spiritual Formation (2003), 23–24. Dabei ist zu beobachten, dass beispielsweise in der US-amerikanischen religiösen Landschaft das Thema der Veränderung der religiösen Orientierung mit dem Schwerpunkt auf Verlustund Loslösungserfahrungen an verschiedenen Stellen auftaucht. Beispielsweise: Hempton, Evangelical Disenchantment (2008).
272
8. Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung
Dieses Kapitel dient dazu, um deutlich zu machen, dass das Thema der individuell erlebten Glaubensveränderung, besonders der Abgrenzung zur vormaligen religiösen Orientierung (zum Beispiel in Form von Kritik am erlebten gemeindlichen Leben), eine bedeutende Rolle für die „Emerging Church“Konversation spielt. Dazu soll ein Einblick gegeben werden, einerseits wie verschiedene emergente Protagonisten über die Veränderung des Glaubens sprechen und andererseits wie Stimmen außerhalb der Konversation die Thematisierung der Glaubensveränderungen wahrnehmen und deuten.
8.2 Wie wird in der „Emerging Church“-Konversation über religiöse Veränderungsprozesse gesprochen? In der „Emerging Church“-Konversation verwenden Protagonisten unterschiedliche Begriffe und Selbstbeschreibungen, um ein Ringen mit ihrer religiösen Orientierung zu beschreiben.4 Dies wird in einer ersten Annäherung an die Konversation in den eigenwilligen Titeln vieler Bücher sichtbar: „how (not) to speak of god“, „a heretic’s guide to eternity“ oder „a generous orthodoxy“ sind nur einige prominente Beispiele dafür. Es fällt auf, dass Teilnehmende der „Emerging Church“-Konversation in unterschiedlichen Graden mit religiösen Selbst- und Festschreibungen Schwierigkeiten haben bzw. sich davon lösen wollen.5 Dabei wird die Chiffre „authentisch“ als Kriterium für den Prozess 4 Beispielsweise lädt Dave Tomlinson emergente Protagonisten ein, sich selbst zu entdecken, wenn er sagt: „It’s a statement that starts with a legitimate emphasis on the self and moves to�wards the needs of the world, as does our fourfold recipe for a meaningful life: Self-worth – learning to love myself. Personal authenticity – learning to be myself. Relationships – learning to give and receive love. Vocation – learning to contribute to the world. What sort of person do we wish to be? This is the real question behind religion, behind this book, behind life itself.“ Tomlinson, How to be a Bad Christian (2012), 201. 5 Peter Rollins schildert in einer Anekdote seine Reise in der „Emerging Church“-Konversation als Loslösungsbewegung: „away from here“. Rollins, How (Not) to Speak of God (2006), 6. Oder wie Stockdale feststellt: „away from here becomes the destination“. Stockdale, „Ecclesio�logical Contributions of Emerging Churches for their Parent Communities“, 8. Jon Myers, Mitglied bei „Church of the Apostles“, sagt beispielsweise: „I am realizing that I can no longer call myself a Christian. I am comfortable in saying that I am becoming Christian. I’m going to continue to stick with Jesus in hopes that his presence and his teachings will change me. But my heart is dark. And it will take time I suppose. Lord I believe, help my unbelief.“ Er sagt weiter: „I’ve encountered God tonight. I am still encountering God as I type and as the worship continues around me. This idea of blogging my worship experience is helping me be aware of what is actually happening throughout the gathering. It is helping really reflect on the songs we sing, the sermons that are preached, and the readings that are read. At the same
8.2 religiöse Veränderungsprozesse
273
der Veränderung religiöser Orientierung deutlich. Die Chiffre „authentisch“ kann als Suchbewegung religiöser Selbstvergewisserung und Identitätssuche interpretiert werden.6 Auffallend ist die Thematisierung religiös-biografischer Einschnitte emergenter Protagonisten. Emergente Protagonisten, wie Nadia Bolz-Weber, schildern beispielsweise im Kontext der Konversation die Aufarbeitung ihrer religiösen Erziehung (im Fall von Bolz-Weber einer christlich-fundamentalistischen Erziehung).7
6
7
time, I am still a little hard. I still don’t want to chat with people. My mind is still disorganized and flooded. I still am having a hard time knowing who I am and understanding why I am angry at heart. So worship it seems, at least tonight, is transforming at COTA. That means the world to me and I think to God to, since it is God that is doing the transforming.“ http://jon�myers.wordpress.com/2006/08/27/experiment-with-worship/ am 15.12.2007. Anders fasst es Samir Selmanovic, der über die begrifflichen Selbstbeschreibungen sagt: „At dif�ferent times in my life, I have belonged to Muslim, atheist, and Christian camps. In every one, I was rather certain. I believed that we – whichever ‚we‘ I was part of were right. And for us to be right, I thought, others had to be wrong. There were insiders and there were outsiders, and I found comfort in being on the inside.“ Selmanovic, It’s Really All About God (2009), 5–6. Oder bei Rachel Held Evans. Evans, Faith Unraveled (2010); Evans, Searching for Sunday (2015); Nash / Ward, „Rachel Held Evans – Losing My [Evangelical] Religion“, in: Nomad (Podcast) 23.05.2015, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-83-rachel-held-evans-losing-my-evangelical-religion/ am 29.12.2016. Nash / Ward, „Mike McHargue – ‚The Best Thing That Ever Happended to My Faith was Los ing it‘“, in: Nomad (Podcast) 08.05.2015, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-82-mikemchargue-the-best-thing-that-ever-happened-to-my-faith-was-losing-it/ am 29.12.2016. Vgl. Tomlinson, The Bad Christian’s Manifesto (2014). Vgl. dazu Abschnitt II Kapitel 12.2 Der Begriff „Authentizität“ in der Konversation. Vgl. auch Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 143. Bielo sagt über die „Emerging Church“-Konversation: „In displacing belief with ritual, emer� ging evangelicals are responding to at least two puzzles in religious life: how to mediate the relationship between self and authentic faith, and how to maintain a cohesive local community.“ Bielo, „Belief, Deconversion, and Authenticity Among U.S. Emerging Evangelicals“ (2012), 272. Bolz-Weber, Pastrix (2013), XVIII, 43. Nadia Bolz-Weber schildert ihre Glaubensveränderungen als Verlust vormaliger (evangelikaler) Überzeugungen und das Verlassen der christlichen Gemeinschaft. Sie sagt: „By the time I left church, I questioned everything I had ever been told and knew, based on the criteria that I was for sure ‚not-Christian‘, but I still didn’t manage to be an atheist […].“ A. a. O., 14. Für Bolz-Weber führte etwa die Auseinandersetzung mit ihrer evangelikalen Vergangenheit zu einer Revision des Glaubens, zu einer Neudeutung ihres Gottesbildes. „It wasn’t that I didn’t believe in God. I had never managed to actually be an atheist. I believed there was something in the universe, some great creative force that bound everything together. Something I was connected to. I liked to call it spirit and goddess, and now and again I was willing to maybe call it God, as long as Christianity stayed out of it.“ A. a. O., 38. Nadia Bolz Weber dazu: „Most of what I had been taught by Christian clergy was that I was created by God, but was bad because of something some chick did in the Garden of Eden, and that I should try really hard to be good so that God, who is an angry bastard, won’t punish me.“ A. a. O., 48. In der ELCA („Evangelical Lutheran Church of America“) hat
274
8. Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung
Die „Emerging Church“-Konversation wird von Protagonisten häufig als „sicherer Hafen“ beschrieben, den sie in der Zeit der religiösen Verunsicherung ansteuern.8 Dies ist auch für die Online-Diskurse festzustellen, wie Teusner nachgewiesen hat.9 Beispielhaft gibt Gordon Lynch in seinem Buch „Losing my religion? Moving in from Evangelical Faith“ eine bezeichnende Anweisung für emergente Protagonisten, die ihren Glauben „verlieren“. Er schlägt vor, dass sie sich an das „Greenbelt Festival“ halten sollen, denn es ist: „[…] an important way of meeting with other people who are sharing a similar spiritual journey.“10 Im Folgenden soll ein unvollständiger Einblick in die Begriffswelt der Konversation gegeben werden, basierend auf der gesichteten Literatur in den bereits angegebenen Zeiträumen. Bereits die Begriffskonstellation „emergenter Christ“ („emerging“, „emergent“, „emergence“) wird in der Konversation als Chiffre für einen Prozess der religiösen Neuorientierung / Neusortierung oder allgemein: der Veränderung der religiösen Orientierung herangezogen.11 Dabei sagt der Begriff „emerging“ nichts über ein inhaltliches Bekenntnis aus, sondern bezeichnet, dass eine Person sich mit der eigenen religiösen Orientierung (dazu gehören Lehre, Erfahrungen, Praxis, Gemeinschaft usw.) auseinandersetzt.12 Dabei werden Begriffe wie „Konversation“, „Dialog“ oder engl. „journey“ von emergenten Interviewpartnern in Bezug auf ihren Glauben verwendet, zum Beispiel „faith
8
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10 11 12
sie als Pastorin der Gemeinde „House for all Sinners and Saints“ (HFASS) Heimat gefunden. Sie gründete die Gemeinde 2008 in Denver. Diese Gemeinde ist eine angesehene Gemeinde in der „Emerging Church“-Konversation, die sich stark auf der Basis von Inklusion Außen�stehender versteht. Sie ist Teil der GLBTQ („gay, lesbians, bisexual, transgender, queer“) -Be� wegung, die sich stark vom US-amerikanischen Evangelikalismus distanziert. Beispielsweise sagt der Blogger Johnny: „I was drawn into the emerging conversation through reading Brian Mclaren’s ‚A New Kind of Christian‘, which probably saved me from spiritual suicide.“ Siehe die Profilbeschreibung des Bloggers http://yeredherringe.blogspot.de am 10.12.2016. Teusner sagt: „These statements about mission and evangelism cast a light on the nature of emerging church blogging, as sites not designed to rally the troops, or convert people to their way of thinking. Instead, these blogs host confessions that their experience of Christianity is not all they have wanted it to be, and that the world they know is not the same world their churches think it is.“ Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia. Prophets, Priests and Rulers in God’s Virtual World“, 122. Lynch, My Religion (2003), 56. So stellt es etwa Schwartzentruber mit der Wendung „the emerging christian way“ fest. Schwart�zentruber, The Emerging Christian Way (2006). Vgl. zum Begriff „religiöse Orientierung“ QR-Code im Vorwort, dort: Exkurs: Anschlussfähig�keit des Dekonversionsbegriffs an Kerndimensionen der Religiosität.
8.2 religiöse Veränderungsprozesse
275
as conversation“.13 Neben dem Begriff „emerging“ tauchen eine Vielzahl von anderen Bezeichnungen auf. Tony Jones spricht von „new Christians“ und betont die Unterscheidung zu vorherigen Überzeugungen.14 Alan Hirsch spricht von „exiles“ und betont den Aspekt, dass emergente Christen ihre Spiritualität nicht mehr von der US-amerikanischen christlichen Konsumkultur prägen lassen wollen. Er sagt: Exiles have figured out that churches don’t value people who won’t turn up for every meeting, attend ever event, and locate all their significant friendships within the congregation. They have decided to slip away from the ever-spiraling vortex of so-called Christian fellowship. It sucks you in, demanding everything of you, leaving you completely socially disconnected from your neighbors, your community.15
In eine ähnliche Richtung verweisen folgende Begriffe, die emergente Protagonisten in die Konversation einbringen: „trickster“16, „fool“17 „heretic“18, „beta 13 Doug Pagitt bezieht sich auf Henry Churchill King und sein Buch „Reconstruction in Theolo� gy“, das ein wesentlicher Beitrag für die liberale Theologie am Ende des 19. Jahrhunderts war. Bezüge auf ihn finden sich bei Doug Pagitt, Brian McLaren und anderen, besonders durch die Verwendung von Kings Begrifflichkeiten „emergent evolution“, „theology as conversation“, „sacredness of the person“, „progressive revelation“, „personal relation“. 14 Jones, The New Christians (2008), 2. 15 Frost, Exiles (2006), 63. Frost nennt emergente Christen „exiles“, die folgenden Auftrag haben. „[They] are called to action based on the following promises“. Sie sind authentisch, dienen ei�nem größeren Grund als sich selbst, wollen missionale Gemeinschaften gründen, sind großzügig und einladend und wollen rechtschaffen sein. A. a. O., 81. 16 Pagitt dazu: „Tricksters are revolutionary figures that challenge the natural order. They poke holes in what everyone takes for granted and fight systems that oppress. They work within a given religious or political system, but they wrestle with it, challenge it and transform it.“ https://reli� gionnews.com/2015/01/28/theologian-says-jesus-trickster-not-offensive-think/ am 14.05.2018. 17 Frost, Jesus the Fool (2010). 18 Für Burke und Taylor müssen Christen „heretics“ werden, deren Aufgabe es ist, die biblische Botschaft für aktuelle Kontexte weiterzuentwickeln. Burke / Taylor, A Heretic’s Guide to Eternity (2006), 16. Spencer Burke dazu: „At this point in our history, I believe God is to be questioned as much as obeyed, created again and not simply worshiped. […] Spirituality in the twenty-first century is nor etched in stone but fashioned our of the fabrics of our lives in new and ever-changing permutations.“ A. a. O., xx. Deshalb braucht es die „Häretiker“, wie Burke und Taylor emergente Christen beschreiben, um die Grenzen zu überwinden. Burke und Taylor schreiben über ihr Selbstverständnis und ihre Aufklärungsarbeit, die sie leisten: „[…] a heretic is someone who sees the truth that contradicts the conventional wisdom of the institution – and remains loyal to both entities. This is how I see myself as I begin this endeavor.“ A. a. O., xxii. Taylor und Burke beschreiben ihren emergenten Glauben als eine Weiterentwicklung ihres Glaubens nach der Skala von James Fowler und verstehen sich in der am weitesten entwickelten Kategorie „universalized faith“. Sie sagen: „It’s where belief about God becomes participation in the sacred beyond religion.“
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8. Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung
faith“19, „flipped“20, „bad Christian“21 oder sie sprechen von einem „repainting“ des Glaubens22. Damit wird versucht den Status einer neuen Orientierung zu beschreiben, genauer gesagt, wird ein „Werden“ beschrieben, das in der Konversation häufig mit der Selbstbezeichnung „journey“ umschrieben wird. Auf dieser Reise wollen emergente Protagonisten keine „tour guides“ sein, sondern Reisende, wie etwa Spencer Burke sagt: Tour guides don’t feel free to deviate from the ‚route‘ other Christians have set. What’s more, they’re apt to impose that same kind of rigid structure on others. Becoming a traveler, however, enables you to be true to yourself […] As a traveler, I am free to love and to be loved. I’m not worried about taking a wrong step or losing my position. I’m just one more person on the journey – a beloved child of God.23
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Der Theologe und Methodistenpfarrer James W. Fowler entwickelte in Anlehnung an Lawrence Kohlberg, Jean Piaget und Erik Erikson eine Darstellung der stufenmäßigen Entwicklung des Glaubens. Stufe O ist der undifferenzierte Glaube (Säuglingsalter), Stufe 1 der intuitiv-projektive Glaube (Alter zwei bis sieben Jahre), Stufe 2 der mythisch-wörtliche Glaube (Grundschulalter), Stufe 3 der synthetisch-konventionelle Glaube (Teenager), Stufe 4 der individuelle-reflektierende Glaube (ab dem achtzehnten Lebensjahr), Stufe 5 der verbindende Glaube und Stufe 6 der universalisierende Glaube. Fowler, Stufen des Glaubens (1991). Fowler / Nipkow u. a., Stages of Faith and Religious Development (1992). Fuller / Sanders, „Beta Faith with Philip Clayton, Spencer Burke, and Oozers“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 03.03.2010, https://homebrewedchristianity.com/2010/03/03/beta-faithwith-philip-clayton-spencer-burke-and-oozers/ am 28.12.2016. Fuller / Sanders, „Flipped LIVE w / Doug Pagitt & Heatherlyn“, in: Homebrewed Christianity TNT (Podcast) 02.04.2015, https://homebrewedchristianity.com/2015/04/02/flipped-live-wdoug-pagitt-heatherlyn/ am 28.12.2016. Dave Tomlinson beschreibt etwa das Ziel seiner Veröffentlichung „How to be a bad Christian and a better human being“: „This book is written for them, for you, for countless ordinary people, who may cinge at organised religion, have little time for creeds and doctrines and churchgoing, yet nethertheless attempt, albeit falteringly, to live in the spirit of Christianity or true religion – to be in ‚the way‘. So hey, if the cap fits, wear it. Congratulations! You’re a bad Christian!“ Tomlinson, How to be a Bad Christian. And a Better Human Being (2012), 11. Bell, Velvet Elvis (2005). In seinem Buch schlägt Bell in sieben Kapiteln (mit eigenwilligen Überschriften „Jump“, „Yoke“, „True“, „Tassels“, „Dust“, „New“, „Good“ vor, dass Christen alles hin�terfragen sollten, denn Spiritualität ist überall. Bell wurde nach dem Erfolg seines Buches vom Zondervan-Verlag gesponsert, eine Vortragstour, genannt „Everthing is Spiritual“, zu machen. Auf der Website „TheNextWave.org“ wird von „re-calibration, re-focusing“ und „re-thinking“ gesprochen. http://www.the-next-wave-ezine.info/about-2/index.html am 15.05.2018. Burke / Peper, Making Sense of Church. Eavesdropping on Emerging Conversations about God, Community, and Culture (2003), 45. So auch Dave Tomlinson, der sagt: „Evangelism should be seen as an opportunity to ‚fund‘ people’s spiritual journeys, drawing on the highly relevant resources of ‚little pieces‘ of truth contained in the Christian narrative.“ Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 138. Oder auch Rollins: Rollins, How (Not) to Speak of God (2006), 6.
8.2 religiöse Veränderungsprozesse
277
Das für emergente Protagonisten neuseeländische Netzwerk „spiritedexchanges“ spricht in diesem Zusammenhang von „off-road faith“. In Anlehnung an James Fowlers Glaubensstufen wird von Bewegungen innerhalb der sechs Stufen gesprochen, die zu einem „post-critical faith“ führen.24 Eine weitere Bezeichnung führte Dave Tomlinson 1994 im britischen Kontext mit dem Buch „The Post-evangelical“ ein, nämlich das Adjektiv „post-evangelical“. Tomlinson beschreibt damit ein Zurücklassen evangelikaler Orientierungen und Deutungshorizonte. Tomlinson weiter: „[Evangelicalism is] supremely good at introducing people to faith in Christ, but distinctly unhelpful when it comes to the matter of progressing into a more ‚grown up‘ experienced faith.“25 Tomlinson bezieht sich auf vier Stufen geistlichen Wachstums, welche er folgendermaßen bezeichnet: 1) „self obsessed“, 2) „conformist“, 3) „individualist“, 4) „integrated“.26 Tomlinson vermutet, dass viele Postevangelikale sich von Stufe 2 zu Stufe 3 bewegen und ihrer Gemeinschaft damit entwachsen (oder sich in wenigen Fällen auf Stufe 1 zurückbewegen).27 Tomlinson kritisiert den britischen Evangelikalismus, wenn er sagt: „There is [a] high level of expected conformist thinking and behaving – without which one quite quickly feels marginalised.“28 Sein Ansinnen ist es, Menschen zu ermutigen, ihren Glauben zu prüfen und „weiterzuentwickeln“.29 Damit wird ein Protest gegenüber einem im US-amerikanischen und englischen Kontext verbreiteten Evangelikalismus ausgedrückt, der sich besonders im Kontext der „Megachurch“-Bewegung herausgebildet hat.30 Der Protest richtet sich speziell gegen hierarchische Strukturen im Gemeindeleben, eng empfundene moralische Verhaltensregeln oder unzufriedenstellende Antworten auf Fragen des Lebens.31 D. A. Carson geht sogar so weit, die „Emerging 24 Jenny McIntosh dazu: „The crucial adult faith-shifts involve a move from conventional faith (which Fowler would call stage 3 faith) into a period of faith dislocation, exploration, self ownership and expression (Fowler’s stage 4) and on into a new embracing of faith and life as intimately entwined and inseparable, a desire for mystery, ritual and symbolism and a relishing of the paradoxical nature of truth (Fowler’s stage 5). […]Through these changes a global culture is emerging which fosters the personal shift from conventional to postconventional faith.“ McIntosh: „A Forum for People Struggling With Faith and Church Issues“, http://www.spiritedexchanges.org.nz/store/doc/issue%2036.pdf am 26.03.2018. 25 Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 3. 26 Tomlinson bezieht sich auf: Peck, The Different Drum (1990). 27 Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 50. 28 Dave Tomlinson zitiert in: Francis / Richter, Gone But Not Forgotten (1998), 57. 29 Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 7. 30 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 1.4.2 Der „Megachurch“-Ansatz. 31 Auch Andrew Perriman gibt einen Hinweis darauf, dass sich die „Emerging Church“-Kon� versation aus „Proteststimmen“ zusammensetzt, ein Protest, der auch darin münden kann, dass „Christians have simply opted out of organized church altogether“. Perriman, Otherways (2007), 10.
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8. Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung
Church“-Konversation (besonders im US-amerikanischen Kontext) über ihren Protest zu definieren. Er sagt, dass der Konversation gemeinsam sei, dass sie 1. ein Protest gegenüber dem Evangelikalismus sei, 2. ein Protest gegenüber der Moderne und 3. ein Protest gegenüber dem „seeker-sensitive“-Ansatz und der „Megachurch“ sei.32 In den Selbstbeschreibungen emergenter Ausdrucksformen aus dem angelsächsischen Sprachraum stößt man auf Attribute wie „post-evangelical“, „postliberal“, „post-protestant“, „post-denominational“ oder „post-confessional“.33 Während diese Begriffe so interpretiert werden können, dass es emergenten Protagonisten „[…] genügt […] zu Jesus zu gehören und in einer Gemeinde engagiert zu sein, ohne das Etikett einer ‚Markenkirche‘ zu tragen“34, kann auch darauf geschlossen werden, dass dekonversive Erfahrungen eine neue Zuordnung erschweren, wenn nicht sogar unmöglich gemacht haben. Hunt zum Präfix „post“: „In whichever way the preface ‚post‘ is employed, it nevertheless indicates a sweeping departure from standard forms of the faith.“35 Es ist auffallend, dass „post“-Begriffe in der „Emerging Church“-Konversation als Substraktion und nicht als Additionen im Kontext religiöser Orientierung verstanden werden.36 Allgemeiner beschreibt Brian McLaren die Unsicherheiten über die eigene christliche Identität in einer multireligiösen Welt mit dem Begriff „conflicted religious identity syndrom“ (CRIS).37 Er sagt: „Many of us haven’t gone as far as quitting Christianity, but we too show signs of CRIS when we compulsively add adjectives in front of the noun Christian […]. We might fill the blank with a single, simple adjective like ‚progressive‘ or ‚emergent‘ or […] ‚bad‘.“38 Für McLaren nährt sich dieses Syndrom von der Unzufriedenheit mit der Christenheit und der Ablehnung dessen, was in ihrem Namen geschehen ist. Für M cLaren entsteht in einer solchen Auseinandersetzung eine „oppositional identity“ zu der er sagt: „[…] we oppose, therefore we are or we know who we are because we
32 Carson dazu genauer: Der Protest richtet sich gegen „conservative, traditional, evangelical churches, sometimes with a fundamentalist streak“. Carson, Becoming Conversant with the Emerging Church (2005), 14. A. a. O., 36. So auch Tickle, Emergence Christianity (2012), 130. 33 Diese Begriffe sind zitiert nach Pagitt, Church Re-Imagined (2005), 45. 34 Härtner, „Neue Ausdrucksformen von Gemeinde als Herausforderung. Emerging Churches und Fresh Expressions of Church im internationalen Kontext“ (2011), 59. 35 Hunt: „The Emerging Church“, 72. 36 Tickle, Emergence Christianity (2012), 129. 37 McLaren, Why Did Jesus, Moses, the Buddha and Mohammed Cross the Road (2012), 15. 38 A. a. O.
8.3 Wie sprechen Kritiker über die Veränderung religiöser Orientierung
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know whom we oppose […].“39 Für McLaren muss die christliche Idenität verändert werden, nämlich „[…] redeemed and transformed into what we need“40.
8.3 Wie sprechen Kritiker über die Veränderung religiöser Orientierung in der „Emerging Church“-Konversation? Kritiker der „Emerging Church“-Konversation bewerten die Art und Weise, wie Glaubensveränderungen in und durch die „Emerging Church“-Konversation thematisiert werden, mehrheitlich negativ. Dabei wird die Konversation etwa als „conversation of heresy“41 oder emergente Protagonisten werden auch als „burned-out evangelicals“42 bezeichnet. Die Veränderung der religiösen Orientierung und dabei besonders das Ablegen vormaliger Überzeugungen und Praktiken werden von einigen Vertretern im US-amerikanischen Evangelikalismus beispielsweise als „Apostasie“ kritisiert. So bewertet etwa der evangelikale Missionswissenschaftler Ed Stetzer viele emergente Protagonisten als nicht rückgewinnbar für den Evangelikalismus. Er sagt dazu: „Very few emergent folks I have encountered have any chance of returning to a robust, traditional evangelical […].“43 Scot McKnight beschreibt die Form des Loslösens von evangelikalen Überzeugungen als „ironic faith of emergents“. Das Ergebnis eines solchen „ironischen Glaubens“ ist: „[They] either abandon traditional evangelicalism for an emergent form of post-evangelical Christianity, or abandon Christianity altogether.“44
39 A. a. O., 20. 40 A. a. O., 67. 41 Bouma: „Pagitt and Pelagius. An Examination of an Emerging Neo-Pelagianism – Introduc�tion“, http://www.jeremybouma.com/pagitt-and-pelagius-an-examination-of-an-emergingneo-pelagianism-1/ am 12.02.2010. 42 DeYoung / Kluck, Why We’re Not Emergent (2008), 78. 43 http://www.christianitytoday.com/ct/2008/september/39.62.html am 11.02.2015. 44 http://www.christianitytoday.com/ct/2008/september/39.62.html am 11.02.2015. Für McKnight sind es acht Faktoren, die zu einem Glaubensverlust von einer evangelikalen Orientierung führen können: 1) Die Irrtumslosigkeit der Bibel wird abgelehnt. 2) Wenn Gegensätze zwischen Bibel und Naturwissenschaften auftauchen, wird der Bibel nicht mehr der Vorrang gegeben. 3) Die Integrität von populären evangelikalen Vertretern in den Medien wird beschädigt. 4) Durch die Annahme, dass christlicher Pluralismus eine angemessene, zeitgerechte Form ist, wird eine Verbindlichkeit zu Jesus neben andere Verbindlichkeiten gestellt und nicht mehr über alle anderen gestellt. 5) Emergente Christen haben dekonstruierende Methoden in ihrem Umgang mit der Bibel. 6) Glaube und Wirklichkeit sind geprägt durch Sprache, dadurch wird eine „multilingual approach to theology“ praktiziert. 7) Fragen der sexuellen Orientie� -
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8. Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung
Für McKnight zeigt sich der „ironic faith“ besonders als intellektuelle Auseinandersetzung (z. B. mit der Bibel oder mit der evangelikalen Lehre) der betreffenden Personen.
8.4 Beispielhafter Werdegang emergenter Protagonisten Beispielhaft für die Veränderung religiöser Orientierung emergenter Protagonisten sollen vier kurze Veränderungen religiöser Orientierung prominenter Protagonisten (Rob und Kristen Bell, Brian McLaren und Kathy Escobar) dargestellt werden. Alle vier emergenten Protagonisten können der „revisionist“Strömung zugeordnet werden. Ihre Darstellungen sind exemplarisch zu verstehen und skizzieren, wie die Protagonisten Glaubensveränderungen, speziell Glaubensverlusterfahrungen, selbst deuten. Dabei sollen bei jedem Protagonisten nicht die gesamten öffentlichen Äußerungen und Veröffentlichungen untersucht und damit eine vollständige biografische Darstellung präsentiert werden, sondern ein herausragender Aspekt beachtet werden.
8.4.1 Rob und Kristen Bell Der Autor und prominente emergente Protagonist Rob Bell schildert, dass er gemeinsam mit seiner Frau Kristen Bell einen Prozess des Hinterfragens ihrer christlichen Überzeugungen und Praktiken erlebt hat. Diesen Prozess hat er in den Veröffentlichungen der letzten Jahre verarbeitet.45 Rob und Kristen Bell kritisieren an ihren vormaligen Erfahrungen im USamerikanischen Evangelikalismus, dass ihre christliche Gemeinschaft eine eigene Subkultur hervorbrachte. Diese war geprägt von eigenen Regeln, strengen moralischen Vorstellungen, gesellschaftspolitischen Engführungen und rung und des Schwangerschaftsabbruchs wollen diskutiert werden. 8) Theologie ist an Sprache gebunden und damit haben auch biblische Aussagen ihre sprachliche Begrenzung. Vgl. https://newcovenantbeliever.wordpress.com/2009/10/21/more-from-mcknight-on-the-ironicfaith-of-emergents/ am 15.05.2018. 45 Beispielsweise nachzulesen in den Veröffentlichungen Bell, Love Wins (2011); Nash / Ward, „Rob Bell – Millones Cajones and How to Find Your True Self “, in: Nomad (Podcast) 11.12.2015, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-95-rob-bell-millones-cajones-and-how-to-find-yourtrue-self/ am 29.12.2016; Williamson / Narloch, „HERE! with ROB BELL!“, in: The Decons�tructionist Podcast (Podcast) 09.03.2016, https://thedeconstructionists.com/ep-4-here-withrob-bell/ am 28.05.2018.
8.4 Beispielhafter Werdegang emergenter Protagonisten
281
einem für sie unnatürlichen Umgang mit Nichtchristen. „Life in the church had become so small“ sagt Kristen Bell. „It had worked for me for a long time. Then it stopped working.“46 Die Bells erlebten eine einengende evangelikale Gemeinschaft. In den aufkommenden Zweifeln setzten sie sich besonders mit der Rolle der Bibel für ihre Spiritualität auseinander.47 Dabei veränderte sich ihre Sicht auf die Bibel. Sie beschreiben die Veränderung ihrer Hermeneutik insofern, dass sie die Bibel vielmehr als menschliches Produkt denn als göttliches Produkt wahrzunehmen begannen. Sie legten die evangelikale Anschauung einer Verbalinspiration ab. Sie beschreiben die Bibel weiterhin als zentral für ihre Spiritualität, jedoch in veränderter Form: „[…] but it’s a different kind of center. We want to embrace mystery, rather than conquer it.“ Sie sagen weiter: This [way of doing church] is not just the same old message with new methods […] We’re rediscovering Christianity as an Eastern religion, as a way of life. Legal metaphors for faith don’t deliver a way of life. We grew up in churches where people knew the nine verses why we don’t speak in tongues, but had never experienced the overwhelming presence of God.48
Kristen Bell schreibt über ihre intellektuelle Krise mit der Bibel: „I grew up thinking that we’ve figured out the Bible that we knew what it means. Now I have no idea what most of it means. And yet I feel like life is big again – like life used to be black and white, and now it’s in color.“49 Kristen Bell beschreibt, dass sie eine evangelikale Bibelhermeneutik zu einem Schwarz-Weiß-Denken geführt hat. Dies hat zu einer Enge in ihren christlichen Leben geführt, von der sie sich befreien wollten. Die Bells beschreiben ihr Loslösen von einem einengenden evangelikalen Fundamentalismus, besonders einer evangelikalen Bibelhermeneutik, das für sie ein neues positives Lebensgefühl hervorbrachte.
46 Zitiert in: http://www.brianmclaren.net/emc/archives/resources/brians-annotati.html/ am 12.07.2015. 47 Bell, Velvet Elvis (2005), 66. Rob Bell etwa sagt in Velvet Elvis, wir müssten „uns vor Augen halten, daß die Bibel kein vom Himmel gefallenes Buch ist. Sie wurde von Menschen geschrieben. Menschen, die sich Geschichten erzählten und mündliche Überlieferungen weitergaben, die sich hinsetzten und mit dem Stift etwas zu Papier brachten (…) Es sind zuallererst keine zeitlosen Wahrheiten […].“ 48 https://brianmclaren.net/brians-annotation-to-the-emergent-mystique-ct-article/ am 15.05.2018. 49 Crouch, The Emergent Mystique.
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8. Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung
8.4.2 Brian McLaren Der einflussreiche emergente Protagonist Brian McLaren spricht besonders in seinen Büchern „Generous Orthodoxy“ und „Naked Spirituality“ über die Veränderungen seiner religiösen Orientierung und die notwendigen Glaubensentwicklungen für Christen im Zusammenspiel von Dekonversion und Konversion.50 Im biografischen Rückblick schildert er den Verlust und das Wiedergewinnen bestimmter Gottesbilder und christlicher Handlungen in den unterschiedlichen Lebensphasen.51 Er spricht beispielsweise davon, dass er mit seinen vormaligen evangelikalen Überzeugungen in schmerzhaften Agonien gelandet ist.52 Er spricht von „the seven Jesus’ I know“. Während das eine „Jesus-Bild“ das „Reich Gottes“ betonte, konzentrierte sich das andere „JesusBild“ auf soziale Gerechtigkeit. McLaren zählt sieben Jesusbilder auf, die ihn in seiner Biografie begleitet haben.53 Dabei betont jedes Bild einen anderen Aspekt von Jesu Leben, der vorher in McLarens religiöser Orientierung nicht vorkam. Aufgrund von inneren oder äußeren Krisen kam es wiederholt zu einer Revision der vorhandenen Gottesbilder. McLaren folgert, dass er nach einer langen Glaubensreise (mit Glaubensverlustmomenten und Momenten des Neugewinnens) zu einem integrativen Jesus- und Gottesbild gelangt sei.
50 McLaren betont, dass seine schriftstellerische Tätigkeit ihm helfe seine religiöse Identität zu bilden. Er sagt: „Writing it has been part of my ongoing therapy for CRIS, and reading will, I hope, be part of yours.“ McLaren, Why Did Jesus, Moses, the Buddha and Mohammed Cross the Road? Christian Identity in a Multi-faith World (2012), 20. An vielen anderen Stellen spricht er über seine negative Sicht auf organisierte christliche Religion, wie er sie erlebt hat. 51 McLaren: „I grew up in a religious home. A full-dose, hard-core, shaken-together-and-mycup-runneth-over, conversative, Bible-believing, Evangelical, fundamentalist Christian home.“ McLaren, Naked Spirituality (2011), 5. 52 McLaren, A New Kind of Christianity (2010), 1–3, 8–10. 53 McLaren schildert seine Dekonversionserfahrung im Zusammenhang mit seiner Erschöpfungserfahrung (Burn-Out). Fuller / Sanders, „Naked Spirituality with Brian McLaren“, in: Home�brewed Christianity (Podcast) 14.03.2011, https://homebrewedchristianity.com/2011/03/17/ naked-spirituality-with-brian-mclaren-homebrewed-christianity-93/ am 28.12.2016. McLaren, geboren 1956, schildert, dass er mit sechzehn Jahren eine Konversion zum christlichen Glauben erfahren hat. Nach einer ersten Zeit der erneuten Vergewisserung in der Universität, begann er 1978–1986 englische Literatur zu unterrichten. In dieser Zeit war er seit 1982 in einer Gemeindegründung involviert. 1986–2006 war er Pastor der „Cedar Communi� ty Church“. 1998 veröffentlichte er sein Buch „Reinventing Your Church“, welches 2000 unter dem Titel „The Church on the Other Side“ neu herausgegeben wurde. Er beschreibt, dass er in den Jahren 1998 bis 2003 in einer Phase der „Glaubensdekonstruktion“ gewesen sei, die in eine Phase der Rekonstruktion gemündet habe. 2006 hat er die Pastorenposition aufgegeben und ist seidem im Kontext der „Emerging Church“-Konversation als Redner und Schriftsteller tätig.
8.4 Beispielhafter Werdegang emergenter Protagonisten
283
Besonders in seinem Buch „Naked Spirituality“ beschäftigt er sich mit den notwendigen Glaubensveränderungen unter postmodernen Bedingungen. Dabei kritisiert er vor allem die unterschiedlichen Organisationsformen christlicher Gemeinschaften. Es sagt: „Its about stripping away the symbols and status of public religion – the Sunday-dress version people often call ‚organized religion‘.“54 Das Buch richtet sich gezielt an Menschen, die „a deeper experience of God“ suchen und „don’t feel that traditional ‚organized religion‘ helps very much“.55 Für sich selbst sagt er: […] I want to distinguish the wine of spirituatlity from the wineskin of the religion in which I experienced it. […] I have discarded those theological wineskins […] That suit of theological clothing doesn’t fit me anymore, but the naked spirituality that sustains me today originally came to me dressed in it.56
McLaren will Anleitung für Christen geben, die spirituell auf der Suche sind und sich von traditionellen Formen abwenden. I hope you can see that even if a particular style of religious clothing now feels stiff, tight, and ill-fitting for you – Roman Catholic or mainline Protestant, Evangelical or Pentecostal, Sunni or Shiite, Reform or Orthodox – the possibility of naked spirituality remains a live option.57 McLaren will zur Veränderung religiöser Orientierung anregen, wenn er sagt: „You can no longer live with the faith you inherited from your parents or constructed earlier in your life.“58 Er sagt weiter: „Doctrinal correctness, institutional participation, and religious conformity won’t suffice anymore. You need a life centered on simple, doable, durable practices that will help you begin and sustain a naked encounter with the holy mystery and pure loving presence that people commonly call God.“59 McLaren schildet die notwendigen Glaubensveränderungen mit einem mystischen Schwerpunkt, der aus vier Phasen besteht: A)„simplicity“, B) „complexitiy“, C) „perplexity“ und D) „harmony“.60 Für McLaren wandert eine Person mehrmals in ihrem Leben durch die vier Phasen, gleich den vier Jahreszeiten.
54 55 56 57 58 59 60
McLaren, Naked Spirituality (2011), vii. A. a. O., 1. A. a. O., 10–11. A. a. O., 11. A. a. O., 2. A. a. O., 3. A. a. O., 27. Diese vier Etappen macht er anhand von zwölf Wörtern fest, die Teil täglicher spiritueller Übungen werden können: „here, thanks, o, sorry, help, please, when, no, why, behold, yes, silence.“
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8. Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung
a) „Simplicity“: In der ersten Phase wird Glaubensweckung und -erneuerung geschenkt. As a result, our relationships in this stage tend to be dependent or even codependent; we need our in-group and its confident […] God, from this vantage point, is our ultimate Authority Figure, giving us simple truths to believe and simple rules to follow, […]. This simple, dualist faith gives us great confidence.61
b) In der zweiten Phase „compexity“ wird für die religiöse Identitätsbildung „self-examination“ und „confession“ wichtig.62 Das Individuum benötigt spirituelle Übungen, die die Komplexität des Lebens aufgreifen. Anhand folgender Wörter sollen deren inhaltliche Bedeutung eingeübt werden: „sorry“, „help“, „please.“ c) McLaren sagt zur Unterscheidung zwischen den zwei ersten Phasen und der darauffolgenden dritten Phase „perplexity“: In Simplicity we reach out to God in happiness. We see the world as it should be. […] In Complexity we reach out to God in struggle. […] and now the autumn winds of Perplexity blow in a biting cold rain. Now, what matters most to us – more than being right, more than being effective – is being honest, authentic, even brutally so. We’ve moved from a dualistic and pragmatic mind-set to a relativistic and critical one.63
d) „Harmony“ beschreibt McLaren als Phase, die die vorhergegangenen Erfahrungen integriert und zu einer neuen Sicherheit führt. „When stage three, perplexity, gives way to stage four, harmony, there is a quiet transcendence – a transcendence that brings along or includes the previous stages rather than leaving them behind.“64 Über die Dekonstruktion seines Glaubens sagt McLaren, dass es ein schmerzhafter aber dennoch erleichternder Wachstumsprozess für ihn war: I had lost a lot during those years of spiritual deconstruction and struggle, mostly things I’ve since been better off without. But the loss was acutely painful nontheless. It was expecially tough, because I was never sure that anything would replace the spiritual ‚baby teeth‘ that were loosening and falling out one after another.65
61 62 63 64 65
A. a. O., 30. A. a. O., 98. A. a. O., 142. A. a. O., 188. A. a. O., 192.
8.4 Beispielhafter Werdegang emergenter Protagonisten
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McLaren schildert seine Glaubensveränderungsprozesse als Reifungsprozesse, die eine Person „a universal spiritual vocation“66 näherbringen sollen.67
8.4.3 Kathy Escobar Die US-amerikanische emergente Bloggerin Kathy Escobar beschreibt ihre Glaubensveränderung als Verlusterfahrungen mit dem Stichwort „faith shifts“ 68. Mit ihrem Blog und dem 2014 veröffentlichen Buch „Faith Shift. Finding your way forward when everything you believe is coming apart“ wurde sie zu einer prominenten Gesprächspartnerin bezüglich der Frage, was passiert, wenn christliche Glaubens- und Frömmigkeitsformen und Inhalte zurückgelassen werden.69 Kathy Escobar beschreibt ihre Erfahrung als „Dekonversion“ und macht als auslösenden Faktor fest, dass Frauen in vielen evangelikalen (und fundamentalistischen) Gemeinden keine Leitungspositionen einnehmen dürfen.70 Escobar bezeichnet ihre Veränderungen mit der Chiffre „Dekonstruktion“. Sie sagt: some of us enter deconstruction willingly. we sat through too many church services that made us queazy with songs-with-words-we-stopped-feeling-good-about-singing, predictable messages, certainty, and focus on belief instead of practice. something stirred within us and we started asking the questions swirling around in our head. others of us were pushed into deconstruction by wounding church experiences. we saw one too many inconsistencies, abuses of power, or crazy-stuff-that-only-insiders-sometimes-see that pushed us over the edge and called everything into question. there are many ways we find ourselves on this scary, weird, unexpected path, but our stories probably have many of the same threads–doubt, emptiness, loneliness, sadness, fear, anger, and confusion. over the years i have seen many dear friends walk away from the system and find a renewed faith outside of ‚the church‘.
66 A. a. O., 205. 67 „Twelfe simple words, formative words that can help us grow an incandescent life with God, a life of vital connection with the whole regenerative community of creation.“ A. a. O., 239. 68 http://kathyescobar.com/faith-shifts/ am 12.02.2015. 69 Kathy Escobar: „[…] all that i once believed had come into question and i didn’t know what that meant for my faith, my life, my family’s future. i started writing about it here, processing out loud, and continually finding so many others who also were experiencing what i call ‚spiritual vertigo‘.“ http://kathyescobar.com/faith-shifts/ am 12.02.2015. 70 http://kathyescobar.com/2015/02/11/the-same-minds-that-got-is-into-the-problem-cant-getus-out/ am 12.02.2015.
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8. Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung
others have found new faith communities to worship & grow that gave them freedom & space. i have also seen many completely ditch all-things-God, sure that there’s nothing left for them anymore. a chunk of others have made a u-turn back, having stuck their toe in the murky waters of a different, free-er faith and realized that anything new was just too weird & uncomfortable. one thing that makes me the most sad about ‚church‘ is how few places we have for deconstruction.71
Escobar beschreibt die Dekonstruktion des Glaubens einerseits als freiwilligen Prozess (durch Relevanzverlust, erlebte Zweifel und Dissonanzen) und andererseits als „erzwungenen“ und in die Wege geleiteten Prozess (durch Krisen, Verletzungen und Konflikte). Dabei können unter anderem traumatische Erfahrungen, wie zum Beispiel physischer, seelischer, geistlicher oder struktureller Missbrauch, zum Auslöser einer Dekonversion werden. Sie erzählt von Personen, die die Dekonstruktion ihres Glaubens als Weiterentwicklung und Erneuerung des Glaubens erlebt haben und sie berichtet von Personen, die einen völligen Glaubensverlust erlebten.
8.5 Ertrag Anhand von drei kurz skizzierten religiösen Biografien und begrifflichen Anhaltspunkten wurde gezeigt, dass religiöse Transformation, speziell die Veränderung religiöser Orientierung unter besonderer Beachtung von Abwehrund Loslösungsdynamiken, in den Diskursen der „Emerging Church“-Konversation eine Rolle spielen in die Selbstbezeichnungen emergenter Protagonisten einfließen. Den drei angeführten Beispielen ist gemeinsam, dass sie die Veränderung der religiösen Orientierung überwiegend als ein „Weg-von“ und eine Distanzierung zu vormaliger religiöser Orientierung beschreiben.
71 http://kathyescobar.com/2012/04/16/rebuilding-after-deconstructing/ am 11.10.2014.
9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
In der „Emerging Church“-Konversation ist man sich darüber einig, dass es in der Postmoderne ein Bedürfnis nach Beziehungen, Gemeinschaft und Zugehörigkeit gibt.1 „Emerging Church“ versteht sich als eine mögliche Antwort auf ein solches Bedürfnis in der Postmoderne. Beziehungen und Gemeinschaft spielen darum eine herausragende Rolle in der „Emerging Church“-Konversation; Gemeinschaft kann sogar als Merkmal der Bewegung festgestellt werden. Emergente Protagonisten meinen, dass „authentische Gemeinschaft“ in christlichen Gemeinden verloren gegangen sei und neu entdeckt werden müsse. Solche und ähnliche Aussagen über das, was emergente Protagonisten mit „Kirche“ und Gemeinde erlebt haben und was sie darunter verstehen, durchziehen die „Emerging Church“-Konversation. Im Folgenden wird der Gemeinschaftsbegriff, wie er in der „Emerging Church“-Konversation in den drei Strömungen besprochen wird, dargestellt.2 Aufgrund der Diversität innerhalb der „Emerging Church“-Konversation ist darauf hinzuweisen, dass nicht alle Merkmale auf alle emergenten Gruppen und Vergemeinschaftungen zutreffen. Mit der nachfolgenden Darstellung werden die idealtypischen Aspekte emergenten Gemeinschaftsverständnisses, wie sie in der Konversation mehrheitlich erörtert werden, ausgeführt (Kapitel 9.7) Dabei werden bei ausgewählten Zuschreibungen Differenzierungen (bezüglich Strömung und historischer Phase) vorgenommen. Zuvor werden jedoch der Gemeinschaftsbegriff (Kapitel 9.1), das Entstehen von Gemeinschaften, die verschiedenen Typen, die Verortung emergenter Vergemeinschaftungen und der Weg zu emergenten Vergemeinschaftungen beleuchtet (Kapitel 9.2–9.5). Die 1
Siehe neben der Darstellung der Studien dazu exemplarisch Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 91. McLaren zur Bedeutung der Gemeinschaft in der „Emerging Church“- Konversation: „We must reassert the value of community and rekindle the experience of it.“ McLaren, The Church on the Other Side (2006), 190. Nash / Ward, „Rob Bell – Why is Community So Important?“, in: Nomad (Podcast) 10.10.2009, http://www.nomadpodcast.co.uk/ nomad-9-rob-bell-on-community-mission-and-new-forms-of-church/ am 29.12.2016. 2 Hier soll nicht grundsätzlich zwischen den drei Strömungen oder den historischen Phasen unterschieden werden, weil im Allgemeinen keine nennenswerten Unterschiede auszumachen sind. Zudem soll nicht zwischen einem lokalen (leiblich-präsent) und virtuellen Gemeinschaftsbegriff sowie zwischen permanenten und situativen, punktuellen Begegnungen unterschieden werden, da dies in der Konversation nicht unterschieden wird.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
Darstellung der „Ikon“-Gemeinschaft dient der exemplarischen Darstellung einer Gemeinschaft (Kapitel 9.6).
9.1 Zum Gemeinschaftsbegriff In der „Emerging Church“-Konversation wird ein idealtypisches Gemeinschaftsverständnis mit verschiedenen Begriffen beschrieben, beispielsweise mit „community“ („Gemeinschaft“), „collective“ („Kollektiv“), „people“ („Volk“), „gathering“ („Versammlung“) oder „communitas“.3 Es fällt auf, dass die genannten Bezeichnungen den Begriffen „church“ und „congregation“4 vorgezogen werden. Diese Begriffe sollen eine Gemeinschaft beschreiben, die für emergente Protagonisten ein Anliegen der „Emerging Church“-Konversation zusammenfasst, nämlich eine nicht-institutionelle, wenig hierarchische, organische, „grass root“Gemeinschaft zu sein. Diese Begriffe werden der Bezeichnung „Gemeinde / Kirche“ entgegengesetzt, da damit eine institutionalisierte, starre Gemeinschaft
3
4
Es gibt auch Stimmen in der Konversation, die den Begriff „community“, wie etwa bei Frost, negativ deuten. Frost kritisiert an „community“, dass der Begriff sich für christliche Gemein�schaftsformen etabliert habe, die sich selbst erhalten und selbst versorgen wollen. Für ihn charakterisiert „community“ eine Gemeinschaft, die sich auf innere Angelegenheiten konzentriert und die den Blick nach außen, d. h. ihre Sendungsorientierung, verloren hat. Frost und Hirsch schlagen alternativ dazu den Begriff „communitas“ vor, der später dargestellt wird. Genauer definiert Frost „community“ als: „[…] inward focus, focus on encouraging each other, safe place, something to be built“. Frost, Exiles (2006), 111. Diese Form der Kritik an dem Begriff „community“ spiegelt sich wider in den Selbst�bezeichnungen emergenter Gemeinschaften, die die Begriffe „Kirche“ oder „Gemeinschaft“ vermeiden. Solche Gemeinschaften heißen beispielsweise „Ikon“, „Solomon’s Porch“ oder „House for All Sinners and Saints“. In der emergenten Gemeinschaft „Ikon“ wird Gemeinschaft im Gegensatz zu „Beziehung“ negativ gedeutet. „Ikon“-Protagonisten betonen, dass sich Teilnehmende an „Ikon“ nicht auf der Gemeinschaft ausruhen können, sondern jeder und jede für das Gelingen von Beziehungen eigenverantwortlich ist. Gemeinschaft wird als abstrakte Größe, mit einer Institution vergleichbar, beschrieben. Im Fall der „Ikon“-Gemeinschaft wird betont, dass sie nicht „Ikon“ und damit der „Gemeinschaft“ gegenüber loyal sein sollen, sondern den Menschen, die neben ihnen sitzen. „Ikon doesn’t care about you. Ikon doesn’t give a crap if you are going through a divorce. The only person who cares is the person sitting beside you, and if that person doesn’t care, you’re stuffed.“ Zitiert aus: Ganiel / Marti, The De�constructed Church (2014), 87. Der Widerstand gegenüber dem „community“-Begriff ist in der US-amerikanischen Diskussion nicht neu. Mulligan bezieht sich beispielsweise auf Emil Durkheims Suche nach präziseren Begriffen. Für eine Auseinandersetzung siehe Mulligan, „On Ambivalence and Hope in the Restless Search for Community“ (2015), 342–343. Siehe dazu Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 277.
9.2 Wie entstehen emergente Gruppen?
289
verbunden wird.5 Gleichzeitig wird in der Konversation die Überzeugung diskutiert „church“ zu sein, ohne diesen Begriff explizit verwenden zu müssen.6
9.2 Wie entstehen emergente Gruppen? Das vorliegende Kapitel widmet sich der formalen Verfasstheit emergenter Gemeinschaften. „Emerging Church“-Gemeinschaften weisen mehrheitlich eine Größe von 20–70 Personen auf und ähneln in ihrer Größe Zellgruppen, Hausgemeinden oder dem anglikanischen Modell der „mid-sized communities“.7 Vereinzelt sind prominente emergente Gemeinschaften größer, wie etwa „House for All Sinners and Saints“ (200 Personen)8 oder „Solomon’s Porch“ (120 Personen). Angaben zur Größe der Konversation sind ungenau und unsicher, da sich die „Emerging Church“-Konversation zum einen in Gruppen und Gemeinschaften sowie in situativen und punktuellen Begegnungen abbildet (Kohorten, Konferenzen) und zum anderen in virtuellen Netzwerken existiert. Es besteht kein Konsens darüber, wie viele emergente Gemeinschaften es weltweit gibt.9 Eddi Gibbs und Ryan Bolger gehen in ihrer Untersuchung aus dem Jahr 2005 von ungefähr 200 Gemeinschaften in den USA, Kanada und Großbritannien aus.10 James Bielo weist in seiner Untersuchung aus dem Jahr 5
Siehe zum Begriff Kirche in der „Emerging Church“ Abschnitt II Kapitel 11.2 Kritik an reli�giösen Organisationen und religiöser Praxis. 6 Ward, „It might be emerging, but is it church“ (2009). 7 Scott Thumma dazu: „The newest entry into the niche model market is not only intentional� ly small and anti-institutional but also includes a radical embrace of the contemporary youth culture. […] [it] builds on a house church organizational form and claims a distincitve theological perspective […].“ Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 192. Zu den „mid-sized communities“ siehe Hopkins / Breen, Clusters (2007); Warnecke, „Ermög� lichende Strukturen“ (2012). 8 Nash / Ward, „Nadia Bolz Weber – How Not to Be a Boring Christian“, in: Nomad (Podcast) 09.05.2014, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-64-nadia-bolz-weber-on-how-not-tobe-a-boring-christian/ am 29.12.2016. 9 Diese Unklarheit beruht zum Teil auf dem speziellen „Nischen-Zugang“, der seit den 1960erJahren bei vielen individuellen religiösen Gemeinschaften beobachtbar war. Scott Thumma vergleicht diese Gemeinschaften und stellt für die Hauskirchen-Bewegung in den USA in den 1970er-Jahren fest: „The vast majority, however, were mostly autonomous entities that gathered for worship and fellowship as small groups for several years.“ Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 190. 10 Siehe dazu Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 331–333. Aron Flores spricht in seiner Untersuchung auch von etwa 200. Flores, „An Exploration of the Emerging Church in the United States“; Herring, „Aaron Flores“, in: E-merg (Podcast) 06.04.2006, https://castbox.fm/
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
2011 auf ca. 700 Gemeinschaften hin11, Packard vergleicht die auf „Emergent Village“ angegebenen Kohorten mit seiner Feldstudie und stellt 2012 fest, dass es ungefähr 300 emergente Gemeinschaften gibt.12 In dieser Arbeit gehe ich davon aus, dass es in den USA und Großbritannien zwischen 200 und 500 Gruppen und Gemeinschaften gibt, die einer emergenten Orientierung nahestehen.13 Ein Aspekt, der in der „Emerging Church“-Konversation auffällt, ist, dass emergente Gemeinschaften relativ jung,14 oftmals zeitlich begrenzte Gemeinschaften sowie zuweilen instabil sind.15 Es sind Weggemeinschaften, oder „Lebensabschnittsgemeinschaften“, die aus Menschen bestehen, die für eine gewisse Wegstrecke aufgrund gleicher Interessen oder religiös-biografischer Ähnlichkeiten eine Gemeinschaft bilden oder eine Gemeinschaft aufsuchen.16 Wenn man die Ergebnisse der demografischen Zusammenschau hinzunimmt, lässt sich erweiternd sagen, dass die Mehrheit der Teilnehmenden vormalige Erfahrungen mit religiösen Traditionen hatte. Bei genauer Prüfung fällt auf, dass sich für viele ihre religiöse Orientierung verschoben hat. Das deutet dar-
episode/e-merg-%3A%3A-podcast-%3A%3A-02-%3A%3A-Aaron-Flores-%3A%3A-id253649id39098931?country=de am 12.10.2017. 11 Bielo, „Belief, Deconversion, and Authenticity Among U.S. Emerging Evangelicals“ (2012), 264. 2009 weist Bielo noch auf 834 emergente Gemeinschaften hin, die sich auf den Websites „Emergent Village“ und „Sites Unseens“ (eine, von zwei Autoren etablierte Zählung emergen� ter Gemeinschaften) befinden. Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America“ (2009), 219. 12 Packard, The Emerging Church (2012), 9. Es zeigt sich, dass Gemeinschaften, die 2012 noch registriert waren, heute nicht mehr existieren. 13 Ich folge hier Ganiel und Marti, die die aktuellste Veröffentlichung zu diesem Thema vorweisen. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 9. Emergente Gemeinschaften in sichtbaren Ausdruckformen sind wegen ihrer unklaren Selbstdefinition und ihrer Kurzlebigkeit ebenfalls schwer zu fassen. Die vorgeschlagenen Zahlen sind Schätzungen, die trotz der geringen Größe einen erheblichen Einfluss hatten. 14 Packard weist in einer Untersuchung auf das Alter (2–10 Jahre) der sechs von ihm untersuchten emergenten Gemeinschaften hin. Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011), 33. 15 Ein Beispiel für die Kurzlebigkeit emergenter Gemeinschaften in England sind „Vaux“ und „Axxess“, die in der frühen Phase der Konversation in Großbritannien für die Konversation (und in der zweiten historischen Phase verschwanden) prägend waren. Mark Driscolls Hinweis 2006 erwies sich als richtig: „In the end, I believe the conversation will result in multiple communities arriving at different conclusions and breaking off to have their own conversations, with their own Bible translations, leaders, books, magazines, websites, blogs, conferences, and model churches.“ Driscoll, „A Pastoral Perspective on the Emerging Church“ (2006), 93. 16 Dabei lässt man sich in der „Emerging Church“-Konversation bewusst auf die sich personell verändernden Gemeinschaften ein. Sweet spricht hier von postmodernen Pilgern, die „Pilgergemeinschaften“ bilden. Sweet, Postmodern Pilgrims (2000), 120 f.
9.2 Wie entstehen emergente Gruppen?
291
auf hin, dass emergente Protagonisten Wanderungen im religiösen Feld vollzogen haben, die unter dekonversiven Gesichtspunkten zu betrachten sind.17 Es fällt auf, dass, wenn von „Gemeinschaft“ gesprochen wird, es zumeist nicht klar ist, wer damit gemeint ist. Sind es die Gottesdienstbesucher? Sind es die Mitarbeiter, die das Gottesdienst-Event vorbereiten, das Online-Netzwerk, die punktuellen Begegnungen auf Konferenzen? In der Konversation wird nicht von Mitgliedern gesprochen, sondern von Selbstzuschreibungen ausgegangen.18 Der britische Missionstheologe Stuart Murray identifiziert drei Wege, wie sich die „Emerging Church“-Konversation in Form von Gruppen und Gemeinschaften kristallisiert.19 1. […] churches may emerge from an inherited church through renewal and transformation, reinventing it with a more or less radically different focus, ethos, structure or style. 2. Other churches emerge out of inherited churches through church planting, community engagement or rethinking worship or mission, forming a new church that becomes more or less autonomous. 3. A third category of churches emerges within a cultural context without the influence of an inherited church, making a new church that will need to build its own links with other churches.20
1. Als erste Kristallisationsform nennt Murray den Fall, dass eine schon bestehende Gemeinschaft durch einen Transformationsprozess emergentes Gedankengut aufnimmt und damit zu einer „Emerging Church“-Gemeinschaft wird (so zum Beispiel bei „Jacobsfield Vineyard“21 in London). 17 Siehe dazu Dekonversion als Wanderung im religiösen Feld siehe QR-Code im Vorwort, dort: Kapitel Konzeptionalisierung der „Emerging Church“ im religiösen Feld. 18 Tony Jones dazu: „Whereas traditional groupings of Christians are either bounded sets (for example, Roman Catholicism or Presbyterianism – you know whether you’re in or out based on membership) or centered sets (for example, evangelicalism, which centers on certain core beliefs), emergent Christians do not have membership or doctrine to hold them together. The glue is relationship.“ Jones, The New Christians (2008), 56. 19 Diese Einteilung trifft sowohl für „Emerging Church“-Gemeinschaften in der „mainline church“ als auch für andere Frömmigkeits- und Konfessionshintergründe zu. Für eine genauere Darstellung emergenter Gemeinschaften in US-amerikanischen „mainline“ Denominationen siehe Abschnitt II Kapitel 9.4 Emergente Gruppen und Gemeinschaften in verfassten religiösen Organisationen. Ganiel dazu: „Denominational connections occur more often than is commonly supposed, but they are veiled and often illicit operations concocting religious mixtures that may be unacceptable to established authorities.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 9. 20 Murray, Changing Mission (2005), 42–43. Murray Ansatz ist mit Gibbs’ und Bolgers Ansatz identisch bis auf eine von ihm ergänzte Erweiterung. Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 39–46. 21 Labanow, Evangelicalism and the Emerging Church (2009).
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
2. Des Weiteren können Gleichgesinnte aus einer bereits bestehenden Gemeinde für eine Neugründung entsandt werden oder formen sich als neue Gemeinschaft in der bestehenden Gemeinde. Dies war in der zweiten historischen Phase im US-amerikanischen Kontext für evangelikal-orientierte Denominationen und Kirchen im „mainline“-Protestantismus vermehrt beobachtbar. Daraus entstanden neue Wortschöpfungen, wie „Luthermergent“, „Angli-mergent“ oder „Baptimergent“.22 Dan Kimball beschreibt für die Anfangszeit der „Emerging Church“-Konversation, dass sich emergente Gemeinschaften hauptsächlich innerhalb bereits bestehender Kirchen herausbilden (ähnlich wie in der Entwicklung von „alternative worship“-Gemeinschaften). Dies ähnelt dem „Kirche in der Kirche“Modell.23 Die emergenten Protagonisten Dan Kimball und Doug Pagitt stehen dem „Kirche in der Kirche“-Modell ablehnend gegenüber und begründen dies wie folgt: „The church-within-a-church in America doesn’t work because the senior pastor cannot handle a congregation in the church that may do things differently […].“ Kimball weiter: „Plus, if the new community is truly rethinking church and messing with other values and philosophical issues, it is dynamite waiting to explode.“ Kimball verweist darauf, dass, wenn die Gedanken und Anstöße der „Emerging Church“-Konversation für das Gemeindeleben ernst genommen werden, es zu keiner Koexistenz zweier Modelle kommen kann. Er merkt an, dass emergente Gemeinschaften sich in ihrer Freiheit, Kreativität und theologischen Freizügigkeit schwer einem etablierten System unterordnen können. 3. Zuletzt werden emergente Gemeinschaften als eigenständige Pflanzungen (ohne eine Beauftragung oder Entsendung) erwähnt, das heißt, eine Gruppe von Gleichgesinnten entscheidet sich, die Ausdrucksform ihrer Frömmigkeit in gewissem Sinn öffentlich zu gestalten, indem sie eine „Gemeinschaft“ oder „Gemeinde“ wird.24 Sie spüren den Ruf, eine kulturrelevante Ausdrucksform des 22 Emergente Gemeinschaften sind in den USA und Großbritannien in einer Vielzahl von christlichen Denominationen zu finden. Dan Kimball sagte 2007 dazu: „There are Baptist emerging churches as well as Episcopalian, Reformed, nondenominational, and many others. Many emerging churches would be considered conservative and many others would be considered liberal.“ Kimball, „The Emerging Church and Missional Theology“ (2007), 83. Siehe dazu Snider (Hg.), The Hyphenateds (2011). Rathel, Baptists and the Emerging Church Movement (2014). Roberts, Baptimergent (2010). www.luthermergent.ning.com am 12.12.2014. 23 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 40. Konservative und evangelikale Denominationen in den USA haben in der zweiten historischen Phase der „Emerging Church“-Konversation oftmals „Emerging“-orientierte Sektionen in ihren Organisationen gegründet und gestartet (z. B. „Reformed Church of America’s“ mit „One Thing“, „para-church“-Organisationen wie „InterVarsity Emerging Scholar Network“, „Off the Map“, „Baker’s Emersion“-Serie oder „Zondervan’s Youth Specialties“). A. a. O. 24 Das ist sowohl innerhalb als auch außerhalb einer Denomination verwirklicht worden. Hier zeigt sich eine Nähe zur „Church Planting“-Bewegung in Großbritannien.
9.3 Typen emergenter Gruppen
293
Glaubens für sich zu finden (innenorientiert) oder für andere (außenorientiert) zu etablieren.25 Murray weist für diese neuen Gemeinschaften darauf hin: „[…] [they] will need to build its own links with other churches […]“ und nimmt sie damit als eigenständige Sozialgebilde wahr.26 Diese können sich, wie im Fall der britischen Gemeinschaft „Moot“ als unabhängiges Glied an eine bestehende Gemeinde anschließen (Anschluss an St. Mary Aldemary, London)27 oder sie bestehen als eigenständige Organisation (wie zum Beispiel „Ikon“, „Grace“ oder „Solomon’s Porch“) und beschreiben sich häufig als „independent“.28
9.3 Typen emergenter Gruppen Es gibt eine Vielzahl von Organisationsformen emergenter Gemeinschaften, was einen pragmatischen Zugang zu ekklesiologischen Fragen erkennen lässt. Emergente Gemeinschaften zeichnen sich nicht durch eine gemeinsame Ausdrucksform religiösen Lebens aus, sondern haben gemeinsame Merkmale, Werte und
25 Obwohl in der „Emerging Church“-Konversation das missionarische Anliegen ein Wesens�merkmal ist, gibt es durchaus Gemeinschaften, die sich von Mission in Form von „Menschen für den christlichen Glauben zu gewinnen“ distanzieren (siehe dazu die Beschreibung der „Ikon“-Gemeinschaft). 26 Dies kann aber auch in Form einer Partnerschaft mit einer bestehenden Gemeinde verwirklicht werden. Beispielhaft erzählen Burge und Djupe von Dissonanzen, die zwischen einer traditionellen und einer emergenten Gemeinschaft entstehen können. „However, a recent incident highlights the potential tension between congregations and denominations. While many Protestant denominations have been encouraging young church leaders to establish new churches using unconventional means, this has led to a precarious relationship of ECM congregations to evangelical denominations. For example, a growing emergent church in St. Louis, Missouri, was given a $200,000 loan from the Missouri Baptist Convention, a member of the Southern Baptist Convention. After a news report indicated that this ECM church was hosting weekly Bible studies in a popular downtown bar, the Southern Baptist Convention changed course and indicated that it would not be extending loans to churches who operate using culturally liberal principles. Since the incident, the church in question (The Journey) does not have any reference to a Southern Baptist affiliation on its website (thejourney.org).“ Burge / Djupe, „Tru�ly Inclusive or Uniformly Liberal“ (2014), 641. 27 www.moot.uk.net am 07.07.2015. 28 Es gibt eine Reihe von emergenten Gemeinschaften, die sich als unabhängige Gemeinden ohne Zugehörigkeit zu einem Verband oder einer konfessionellen Strömung als emergent verstehen. Gibbs zählt fünf Beispiele auf: „Jacob’s Well“ (Kansas City, Missouri), „Pilgrimage“ (Pastor Dieter Zander), „Solomon’s Porch“ (Minneapolis, Minnesota), „Mars Hill (Grandvil�le, Michigan), “Vintage Faith Church“ (Santa Cruz, California). Gibbs, ChurchMorph (2009), 77–85. Gibbs gibt zudem einen kleinen Einblick in die Situation in Kanada.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
Haltungen.29 Die in der „Emerging Church“-Konversation aufkommenden Impulse betreffend missionstheologischer Voraussetzungen (etwa „missio Dei“) und Haltungen (Partizipation, Dezentralität) finden in einer Vielzahl von Ausdrucksformen und Modellen ihren Niederschlag.30 Dabei gehen viele emergente Gemeinschaften pragmatisch vor, was häufig zu Unklarheiten und Verwirrung führt, weil diese Modelle auch in anderen Bewegungen vorkommen (zum Beispiel fxC, Hauskirchen-Bewegung).31 Im Folgenden sollen acht Typen emergenter Gemeinschaften kurz vorgestellt werden, um die Bandbreite der Ausformungen emergenter Gemeinschaften zu sehen.32 Folgende Auflistung ist nach dem historischen Vorkommen und ihrer Häufigkeit in der Konversation sortiert.33 • Emergente Gemeinschaften entstehen als kontextualisierte Gemeinschaften, auch „culture-based communities“ genannt. Diese bilden besonders in der ersten und zweiten historischen Phase der Bewegung einen Schwerpunkt. Damit sind Skater-Gemeinden, Surfer-Kirchen und andere SubkulturGemeinschaften gemeint. Dazu gehören auch „Gen X“-Gemeinden und Gemeinschaften, die postmoderne Bedingungen als Anlass einer Gemeinde-
29 Scott Bader-Saye sagt: „[…] there is no single pattern of emerging church“. Bader-Saye, „Im� provising Church“ (2006), 14. 30 Corey Labanow rät jenen, die sich mit der Konversation beschäftigen, die „Emerging Church“Konversation folgendermaßen zu verstehen: „[…] a diverse and heterogeneous network which no single church can fully represent“, Labanow, Evangelicalism and the Emerging Church (2009), 126. 31 Bruce Sanguin betont die Pragmatik in der „Emerging Church“-Konversation und spricht von „from fetish to function first“. Sanguin, The Emerging Church (2008), 39–47. 32 Diese Aufzählung beansprucht keine Vollständigkeit, ist aber differenzierter als etwa jene Systematik von Ganiel und Marti. Sie sprechen von: „Pub Churches“, „Emerging Christian Con� ferences“, „Online Networks“, „Neo-Monasticism“. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 11–21. 33 Ich greife Andrew Jones’ Vorschlag der „10 types of emerging church“ auf, reduziere diese aber auf sieben Typen und ergänze einen Typ von Ian Mobsby. Jones führt neben den aufgezählten noch zwei Formen an: „the contemplative prayer movement“ und „GenX, Postmodern“-Ge� meinschaften. Zweitere werden in der angeführten Auflistung unter kontextualisierte Gemeinschaften subsummiert. Erstere werden als Teilbewegung in der „alternative worship“-Gruppe verstanden. http://tallskinnykiwi.typepad.com/tallskinnykiwi/2009/12/10-types-of-emerging-church-thatno-longer-upset-your-grandfather.html am 17.09.2014. Eine andere Systematisierung bieten Studebaker und Beach, die vier Typen kanadischer emergenter Gemeinschaften ausmachen: 1. „[…] intentional communities or new monastic com� munities“, 2. „[…] colonizing churches enter once thriving middle class communitites and Christendom churches.“, 3. „[…] social enterprise churches endeavor to enhance community life.“, 4. „[…] third space churches meet in non-church venues such as community centers, coffee shops, and youth centers.“ Studebaker / Beach, „Emerging Churches in Post-Christian Canada“ (2012), 865–866.
9.3 Typen emergenter Gruppen
295
gründung und als Anknüpfungspunkte sehen.34 Solche Gemeinschaften sind zum großen Teil aus Protest gegenüber uniformen Ansätzen, etwa der „Megachurch“, entstanden und gehören aufgrund ihres Kontextualisierungscharakters in diese Kategorie. Diese etablierten sich in verschiedenen Denominationen und Konfessionen und tauchten ab Ende der zweiten historischen Phase ohne große Kontroversen in der religiösen Landschaft der USA und Großbritanniens auf. • Zweitens sind neo-monastische Gemeinschaften und „intentional communities“ eine Ausdrucksform emergenter Gemeinschaften, die seit der ersten historischen Phase aufkam. In diesen Gemeinschaften werden Prinzipien aus dem monastischen Leben übernommen und im Alltag integriert.35 Die Besonderheit dieser Organisationsform liegt in der oft nur kurzlebigen Gemeinschaft und dem Auflösen der traditionell hierarchischen monastischen Strukturen.36 Solche Gemeinschaften etablieren sich mit dem Wunsch nach Kontrast zu erlebten Strukturen, Haltungen, Lebensweisen, gottesdienstlichen Ausdrücken oder aus Protest zu „one size fits all“-Modellen. • Als dritte Ausformung sollen Hauskirchen, „simple churches“ und „organic churches“ genannt werden. Diese Vergemeinschaftungsform ist primär auf eine einfache Strukturierung ihrer oftmals lokalen Zusammenkunft bedacht. Die drei bereits genannten Organisationsformen sind Ansätze, die sich primär mit der äußeren Form und einer kontextrelevanten Adaption ihrer Gemeinschaft beschäftigt haben. Diese sind vornehmlich in der ersten und zweiten historischen Phase feststellbar. Die Teilnehmenden solcher emergenten Gemeinschaften unterscheiden sich in ihrer theologischen Orientierung nur geringfügig von ihren vormaligen Überzeugungen und sind demnach den „relevant“- und „reconstructionist“-Strömungen zuzuordnen. • Zu der vierten Kategorie zählen online und virtuelle Organisationsformen, die sich besonders seit der zweiten historischen Phase etabliert haben.37
34 Solche Gemeinschaften haben sich seit den 1990er-Jahren gebildet. 35 Siehe dazu genauer Wilson-Hartgrove, New Monasticism (2008). 36 Tickle dazu: „Emergence monasticism, on the other hand, does not desire, much less require, any oversight beyond itself and the discernment in prayer of its own members.“ Tickle weist weiter darauf hin, dass der Verlust einer Anbindung an eine bestehende Tradition und Struktur durchaus eine Gefahr sein kann. Tickle, Emergence Christianity (2012), 62. 37 2009 fand das erste Symposium dazu in London statt. Beispiel liefert Tickle. A. a. O., P-18-P-21. Darauf verweist etwa auch Hunt. Hunt: „The Emerging Church. Characterstics and Typolo�gy – The Case of Ikon“. Ein Beispiel für eine emergente Online-Gemeinschaft war „The OOZE, conversation for the journey“ (www.theooze.com am 19.07.2009). Der damalige Leiter Spencer Burke beschreibt die Gemeinschaft als „[…] the inward journey, the outward journey, and the journey together.“ Der gemeinsame Treffpunkt der Online-Gemeinschaft ist die Website. Diese
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
Diese nutzen technologische Möglichkeiten, was nicht nur zu neuen Vergemeinschaftungsformen führt, sondern auch die Form der Interaktion und der theologischen Kommunikation verändert.38 • Eine fünfte Kategorie wird durch Gemeinschaften gebildet, die ihren Schwerpunkt auf „alternative worship“ legen (oder auch „new-liturgical churches“ genannt). In diesen kommt es besonders im gottesdienstlichen Leben zu einer Wiederentdeckung alter liturgischer Formen und Inhalte. • Sechstens haben sich emergente Gemeinschaften an sogenannten „third places“ etabliert. Dazu gehören etwa „Pub-Churches“ oder „coffee shop churches“. „Third places“ sind säkulare Orte, die bewusst gewählt wurden, um den Dualismus von sakral und säkular zu durchbrechen. Die „PubChurches“ leben Kirche in einer Art und Weise, die speziell nicht-kirchlichen Charakter hat.39
Website bietet Diskussionsmöglichkeiten zu von Partizipienten vorgeschlagenen Themen. Sie dient als Plattform für den Austausch von Menschen mit ähnlichen Interessen. Die Themen drehen sich um Kultur, Glaube, Kirche und Gemeinschaft. Die Mehrheit der Teilnehmenden an dieser Plattform war auch Teil von lokalen Gemeinschaften in den USA. Gleichzeitig verstanden sich Teilnehmende als neue Form von Kirche in der digitalen Welt. Foltz und Foltz weisen darauf hin, dass Websites wie „Theooze.com“ wie ein „spiritual retreat center“ agieren. Sie sind immer verfügbar, Individuen können sich nach Bedarf vernetzen und das Thema oder Programm in Anspruch nehmen, welches sie wünschen. Zitiert in Foltz / Foltz, „Religion on the Internet“ (2003), 327. Eine Frage in einer Mitgliederuntersuchung der Gemeinschaft war: „Is it okay to only attend church in cyberspace?“ Darin sprachen sich 13,33 % dafür aus, 80,21 % dagegen und 6,46 % wählten die Option „not sure“. A. a. O., 326. A. a. O., 328. Für weitere Beispiele siehe Tickle, Emergence Christianity (2012), 151–156. Eine Diskussion bietet: Moody, „Researching Theo(b)logy“ (2009). 38 Die Frage, wie christliche Praxis in die digitale Welt übertragen werden kann, beziehungsweise wie sich christlicher Glaube und Kirche online gestalten lassen, wird seit den 1990erJahren intensiv diskutiert. Seitdem etablierten sich unterschiedliche Formen von „iChurch“ oder „cyberchurch“. Anfangs waren es einfache Formen, wie E-Mail-Listen, durch die Mit�glieder gemeinsame Anliegen der Kirche diskutierten. Aktuellere Ausformungen sind christliche Gemeinschaften, die ausschließlich online existieren. Mitglieder können vor dem Bildschirm den Gottesdienst verfolgen, das Abendmahl einnehmen oder auch getauft werden. Douglas Estes beschreibt und argumentiert für unterschiedliche Online-Kirchen. Siehe dazu Estes, SimChurch (2009). Nancy Duff etwa ermutigt zu einer intensiven Nutzung des Internets als online Kommunikationsform für Kirchen. Siehe dazu Duff, „Praising God Online“ (2013). Für eine Einführung zu dem Verhältnis zwischen Religion und Technologie siehe Campbell / Pastina, „How the iPhone be� came Divine“ (2010), 1193–1195. Foltz / Foltz, „Religion on the Internet“ (2003). Campbell, Exploring Religious Community Online (2005). 39 Hunt. „The Emerging Church’s unstructured ecclesiology means that the movement can com�municate and interact through fluid and open networks because it is decentralized with little organizational coordination. Participants avoid assumptions about the role and nature of the Christian Church, attempting to gather together in ways specific to their local context. Hence, the preference for informal locations of meetings in order to engage with ‚public space‘. This
9.3 Typen emergenter Gruppen
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• Siebtens haben sich emergente Gemeinschaften als Gemeinschaften ausgehend von sozialem Engagement geformt. Wurden diese Gemeinschaften vormalig „ministries“ genannt und waren strukturell Arbeitszweige einer größeren Gemeinde, konstituierten sie sich im Rahmen der „Emerging Church“-Konversation als eigenständige missionarische und kontextuelle Gemeinschaften. • Achtens sind jene Gemeinschaften zu nennen, die in hohem Maß philosophische und theologische Impulse, etwa aus der „radical theology“ oder dem Dekonstruktivismus für christliche Spiritualität fruchtbar machen wollen.40 Dieses zweite Cluster von Organisationsformen scheint sich besonders seit der zweiten Hälfte der zweiten historischen Phase und in der dritten historischen Phase der „Emerging Church“-Konversation auszumachen. Diese Typisierung dient der vereinfachten Darstellung, obgleich darauf verwiesen werden muss, dass es Überschneidungen und Mischformen gibt. Zuletzt sei auf eine besondere Vergemeinschaftungsform in der „Emerging Church“-Konversation hingewiesen, nämlich jene der punktuellen Begegnungen bei Festivals. Zusätzlich zum britischen „Greenbelt“-Festival gibt es weitere Veranstaltungen, die für die „Emerging Church“-Konversation im Allgemeinen wichtig geworden sind: „Wild Goose“-Festival, „Subverting the Norm“-Konferenzen41 oder die „Poets, Prophets and Preachers“-Konferenzen.42 Eine andere Plattformen ist etwa das von Alan Hirsch (und seiner Organisation „Forge“) in Australien initiierte „Dangerous Stories Summit“.43
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allows the flexibility to transform, adapt and be relevant to a fast-changing post-modern culture, whereas traditional ‚church mode‘ tends to ossify and fails to adapt socio-cultural environments.“ Hunt: „The Emerging Church – The Case of Ikon“, 75. Auch Ganiel und Marti beschreiben „Pub-Churches“ als häufige Ausdrucksform emergenter Gemeinschaften in der Konversation. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 13. Eine Initiative, die Unterstützung für „Pub-Churches“ bietet, findet sich unter www.pubchurch.co.uk am 17.05.2016. Diese Kategorie wird bei Jones nicht angeführt. Ein Verweis auf diesen Typ von emergenten Gemeinschaften findet sich bei Ian Mobsby in einem Blogbeitrag vom 12.04.2010. Er sagt: „People were not happy with the prevailing theology of many churches, so philosophy became an opportunity to critique the language of church which was predominately modernist and foundationalist. Understandably, this stream was thinking driven, where this was focused on a post-foundationalist ideology, using a strongly philosophical narrative. The groups and communities that grew out of this stream were focused on deconstruction, seeking to explore the area of spirituality and alternative worship.“ http://www.ianmobsby.net/?s=emerging+church am 29.12.2016. „SUBVERTING THE NORM is a three-day event that brings together pastors, theologi��ans, philosophers, church practitioners, researchers in religion and all those interested in exploring the relationship between postmodern theologies and the future of the church.“ https://subvertingthenorm.wordpress.com am 29.12.2016. Siehe dazu beispielhaft https://vimeo.com/album/1519006 am 15.05.2018. http://ncls.org.au/default.aspx?docid=3661 am 29.12.2016.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
9.4 Emergente Gruppen und Gemeinschaften in verfassten religiösen Organisationen Neben der Verortung im unorganisierten Segment des religiösen Feldes, etwa in punktuellen Begegnungen, nehmen emergente Gruppen und Gemeinschaften im organisierten Segment die Möglichkeit wahr „independent“ zu agieren oder in verfassten Denominationen, Konfessionen sowie Verbänden. Dies ist für die erste historische Phase vereinzelt beobachtbar (z. B. „Church of the Apostles“ in der ELCA oder „NOS“ in der Anglikanischen Kirche), für die zweite historische Phase bereits deutlicher wahrnehmbar.44 Zunächst kann festgestellt werden, dass sich emergente Gemeinschaften in der US-amerikanischen religiösen Landschaft neben evangelikalen und anderen christlichen Gemeindeverbänden und Denominationen auch in dem „main line“-Protestantismus und in der Katholischen Kirche der USA etabliert haben.45 Ein erster Hinweis auf solche Gemeinschaften wurde bereits in dem Kapitel „Wie entstehen emergente Gemeinschaften“ von Stuart Murray gegeben. Murray weist darauf hin, dass Gleichgesinnte oder Pioniere von einer bestehenden Gemeinde berufen und ausgesandt werden können, um eine emergente Gemeinschaft zu gründen. Dies kann nun nicht nur von einer bestehenden Gemeinde aus geschehen, sondern Gleichgesinnte und Pioniere können im Auftrag einer religiösen Organisation berufen werden, um eine emergente Gemeinschaft zu gründen. Andererseits kann beobachtet werden, dass sich Leitungspersonen in verfassten Denominationen berufen fühlen, ihre Gemeinschaft mit der „Emerg ing Church“-Konversation zusammenzubringen. In England ist dieses Phäno44 An dieser Stelle ist eine Einteilung und Systematisierung in die vorgeschlagenen drei Strömungen der Bewegung nicht generalisiert darstellbar, da man jede religiöse Organisation separat untersuchen müsste. 45 Vgl. dazu: Butler Bass, Christianity for the Rest of us (2006). Siehe auch Riley, Capitalism, Democracy and Emerging Christianity (2010). Oder Lillian Kwon in https://www.christianpost.com/ news/catholics-join-emerging-church-conversation-37481/ am 15.05.2018. Burge findet in seiner Untersuchung über emergente Leitungspersonen heraus: „A first important finding of this research is the reasonably large number of emergent clergy who hail from a mainline denominational affiliation.“ Burge / Djupe, „Truly Inclusive or Uniformly Liberal“ (2014), 649. Burge zeigt in einer „Clergy“-Studie unter protestantischen Denominationen, dass „Emergent identi� fication was the most common among Disciples of Christ clergy (14 percent), who were also the most likely to identify as progressive. The opposite corner of the plot is occupied by the Southern Baptist Convention, among whom 1 percent (and two churches in this sample) identified as emergent and 14 percent as progressive. The reminder lies in between, following a nearly linear trend. Clearly, the two identities are linked. But it is important to note that while identification as progressive is uncommon among nonemergents (only 17 percent so identify), emergent clergy are split in their identification as progressive (47 percent do, 53 percent do not).“ A. a. O., 642.
9.4 Emergente Gruppen und Gemeinschaften
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men nach der deutlicheren Differenzierung zu fxC (gegen Ende der zweiten historischen Phase) nicht beobachtbar, da es durch die Entwicklung der fxCBewegung zu einer Trennung in „kirchenaffine“ und „verfassten Kirchen entgegengesetzte“-Gemeinschaften gekommen ist.46 An dieser Stelle soll auf die Untersuchung von zwei emergenten Gemeinschaften in Großbritannien und den USA von Stockdale hingewiesen werden, der die Frage stellt, welchen Einfluss eine bestehende emergente Gemeinschaft auf ihre „parent church“ hat. Zunächst weist Stockdale auf den Unterschied ekklesialer Formen in Großbritannien und den USA hin, wenn er sagt: „Yet, for emerging church conversations in the United States, the notion of a church emerging from the traditional structures of parish means very little since the concept of ‚church‘ does not carry with it these same geographic associations.“47 Stockdale hebt hervor, dass emergente Gruppen und Gemeinschaften für ihre betreffenden Muttergemeinden die Sprachfähigkeit hinsichtlich der religiösen Identität fördern. Er sagt: By drawing upon ecclesial language and impulses that ranged from the free church or Anabaptist end of the denominational spectrum, to language and impulses more consistent with Roman Catholic or Anglo-Catholic sensibilities, participants in both communities, when reflecting upon the essential identity of their churches, continued in their eclectic blending of various Christian traditions.48
Daneben wird darauf hingewiesen, dass durch die emergenten Gemeinschaften die traditionellen christlichen Gemeinschaften zunehmend auch als Ort für Diskussion, Unsicherheiten und Zweifel wahrgenommen werden.49 Eine zentrale Erkenntnis stammt von Jason Wollschleger, der fünf emergente Gemeinschaften als Teile verfasster Kirchenverbände im protestantischen Kontext untersuchte und feststellt, dass diese sich in ihrer Orientierung nicht von emergenten Gemeinschaften unterscheiden, die an anderen Positionen im religiösen Feld sind.50 In der Konversation wurde für emergente Gemeinschaften, die in einer bestimmten konfessionellen oder eine Denomination betreffenden Tradition 46 Dies ist beispielsweise an der Diskussion zwischen Peter Rollins und der fxC-Bewegung beobachtbar. Rollins, „Biting the Hand that Feeds“ (2008). 47 Stockdale, „Ecclesiological Contributions of Emerging Churches for their Parent Communi�ties“, 276. 48 A. a. O., 294. 49 A. a. O., 304–305. 50 Wollschleger, „Off the Map“ (2012). Aus diesem Grund sollen hier keine inhaltlichen oder organisatorischen Schwerpunkte von „Hyphenateds“ besprochen werden.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
stehen, der Begriff „Hyphenateds“ geprägt.51 Dadurch dass es in der „Emerg ing Church“-Konversation keine Instanz gibt, die das Label „emerging“ vergibt oder verteidigt, gibt es in der US-amerikanischen Landschaft eine Vielzahl von Wortkombinationen, die eine Verquickung der „Emerging Church“-Konversation mit einer Denomination ausdrücken wollen:52 „Presbymergent“, „Luther mergent“, „Methomergent“, „Reformergent“, „Anglimergent“, „Cathlimergent“, „Baptimergent“.53 Der Hybrid-Begriff drückt den Wunsch nach einem Miteinander von zwei Orientierungen und Traditionen aus. „In many ways, Hyphenateds are not only Emergence Christianity but are also the conduits between Emergence Christianity and inherited and / or institutional Christianity. […] And this to the benefit of all.“54 Während Phyllis Tickle im Zusammenwirken emergenter Orientierung und einer traditionellen religiösen Gemeinschaft Vorteile sieht, beschreiben Frost und Hirsch den Diskurs zwischen den beiden Gesprächspartnern zu Beginn der Konversation kritisch. Frost und Hirsch sagen: „[…] the mainstream church reacted with outrage and even fury. It [the „Emerging Church“] was labeled ‚liberal‘ or ‚reactionary‘ and we were told it was merely an example of the hypercritical nature of postmodernity.“55 Eine Annäherung und Adaptionen der „Emerging Church“-Konversation sind ab der Mitte der zweiten historischen Phase zu beobachten. 51 Chia, „Emerging Faith Boundaries“, 203–206. 52 Siehe zu genaueren Beschreibung Snider (Hg.), The Hyphenateds (2011). 53 Chia Loyd dazu: „This inclusion through open-identification has not just been successful with denominations. But other identity groups have also found value in adopting the Emergent label. For example, I have previously discussed a blog calling itself Queermergent, whose founder is an identifier that I interviewed and met at Emergent conferences. In 2009, three Asian American men in their twenties published an open letter on the Emergent Village website, calling themselves ‚AsianAmerGents‘, they identified themselves as part of a small, but growing, contingent within the Asian-American community who ‚share in the spirit of what Emergent Village is doing‘ and stated an appreciation for ‚partners along the way‘ and a desire to contribute to the broader Emerging Church conversation.“ Chia, „Emerging Faith Boundaries“, 205–206. Weiter: „Hybrid-emergent identity labels extend beyond protestant denominatio�nal traditions, evidenced by Catholic Emergent groups, Jewish-Emergent, Muslim-Emergent groups and a Queermergent group.“ A. a. O., 206. Folgendes Zitat macht deutlich, wie es zu diesem Begriff kam: „Sometime around 2007 I began to see a trend in the Emergent discussion where folks from particular traditions began to speak of themselves in blended terms. ‚Anglimergent‘ was the first. Then I met some folks who called themselves ‚Presbymergents‘. This struck me as a useful way to speak of my own experience as an emergent Baptist. I went online to see if anyone else was talking about being a ‚Baptimergent‘ and found nothing. It was then that I decided to create a space for it on Facebook and eventually in the blogosphere. I was amazed to see how quickly folks began to connect to it, or at least wrestle with it as an identification.“ http://baptimergent.wordpress. com/2010/03/11/conversation-hub/ am 04.07.2020. 54 Tickle, Emergence Christianity (2012), 148. 55 Frost / Hirsch, The Faith of Leap (2011), 147.
9.4 Emergente Gruppen und Gemeinschaften
301
(i) „Emerging Church“-Konversation und der „mainline“-Protestantismus in den USA Wenn man über die „Emerging Church“-Konversation im „mainline“-Protestantismus der USA oder in den „mainline“-Konfession spricht, ist die Anfangszeit mit dem Namen Karen Ward verbunden.56 Karen Ward ist ordinierte Pastorin in der „Evangelical Lutheran Church of America“. Sie war es, die den Begriff „emerging“ 1999 erstmals nannte und in die Konversation einbrachte. Ward gründete die emergente Gemeinschaft „Church of the Apostles“ in S eattle, die in lutherisch-episkopaler Tradition steht.57 Außerdem gründete Ward 2007 das „Fremont Abey“ (Seattle) eine andere emergente Gemeinschaft, die sich als „third space“ in neo-monastischer Tradition versteht, ein alternativer Raum, der Menschen neben der Arbeit und ihrem Zuhause eine Möglichkeit für Kunst und Spiritualität bietet.58 Warum die „Emerging Church“-Konversation für die ELCA als Gesprächspartner interessant wurde, begründet Robert D. Francis beispielsweise mit seiner persönlichen religiösen Neuorientierung: „The writings of many emerging church leaders found me at a formative time of questioning, and they helpfully articulated many of the changes I saw in myself and broader culture that the faith forms I knew were not adequately addressing.“59 In diesem Zitat zeigt sich, ebenso wie die Einschätzung Loyds nahelegt, dass eine Bezugnahme zur „Emerging Church“-Konversation von einzelnen Leitungspersonen ausging.60 Folgende Gruppen und Gemeinschaften werden auf der Website der ELCA in den USA genannt, dass sie mit der „Emerging Church“-Konversation verbunden sind:61 • „Church of the Beloved“, Edmonds, Wash • „House for all Sinners and Saints“, Denver • „Netzer Co-op“, Seguin, Texas • „The Well of Hope Lutheran Church“, Pineville & Charlotte, N.C. 56 Karen Ward beschreibt ihr religiöses Selbstverständnis, indem sie sich als Teil der „Luthe�ran and Anglican tribe“ versteht. Siehe Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emer�ging Churches (2007), 166–168. Herring, „Karen Ward“, in: E-merg (Podcast) 21.04.2006, https://castbox.fm/episode/e-merg-%3A%3A-podcast-%3A%3A-04-%3A%3A-Karen-Wardid253649-id39098936?country=de am 12.10.2017. 57 http://www.apostleschurch.org/affiliations/ am 02.02.2015. Für eine detaillierte Beschreibung der emergenten Gemeinschaft „Church of the Apostles“ siehe Wollschleger, „Off the Map“ (2012), 76–82. 58 http://fremontabbey.org am 02.02.2015. Eine andere emergente Gemeinschaft in Seattle, die Teil der ELCA ist, heißt „Communio“. 59 Francis: „New Wine, Old Wineskins. The Emerging Church, Ethics, and the ELCA“, http:// www.elca.org/JLE/Articles/353 am 15.05.2018. 60 Chia, „Emerging Faith Boundaries“, 203–206. 61 http://www.thelutheran.org/article/article.cfm?article_id=7145 am 12.02.2015.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
„Mercy Seat“, Minneapolis „Jacob’s Porch“, campus ministry at Ohio State University, Columbus „Church of the Apostles“, Seattle „Jacob’s Well“, Minneapolis „Shekinah Chapel“, Chicago
Bedeutende Gesprächspartner für die „Emerging Church“-Konversation im „mainline“-Protestantismus sind beispielsweise Diana Butler Bass (Protagonistin in der „Episcopal Church“ in den USA)62, Phyllis Tickle, Martha Grace Reese (Pastorin in der „Disciples of Christ“-Denomination) oder Becky Garrison63.64 Daneben auch die Lutherische Pastorin Nadia Bolz-Weber65, die einen von emergenten Protagonisten frequentierten Blog „Sarcastic Lutheran: The Cranky Spirituality of a Postmodern Gal-Emerging Church ala Luther“ gestartet hat und Leiterin einer emergenten Gemeinschaft ist.66 Ein weiteres Forum, in dem die „Emerging Church“-Konversation mit dem „mainline“-Protestantismus ins Gespräch tritt, ist die Zeitschrift „Wittenburg Door“67. (ii) Im Gespräch mit der „Emerging Church“-Konversation Weiter gibt es in der US-amerikanischen religiösen Landschaft die Bewegung „Reformergent“, die nach gemeinsamen Überzeugungen zwischen reformierter
62 Bass, Christianity for the Rest of us (2006). 63 Garrison, Rising from the Ashes (2007). In Garrisons Veröffentlichung ist ein Austausch zwischen der „Emerging Church“-Konversation und den traditionellen „mainline“-protestanti� schen Gemeinden veranschaulicht. Das Buch ist eine Sammlung von 33 Interviews. Es sind 33 Stimmen, die aus der „Emerging Church“-Konversation und dem „alternative worship“-Raum kommen. Die Hälfte sind aus der „Episcopal / Anglican“-Tradition, die Hälfte sind Frauen. 64 Eine Schlüsselperson zwischen einer US-amerikanischen lutherischen Theologie und der „Emerging Church“-Konversation ist Philipp Clayton, Professor für Religionsphilosophie am „Fuller Theological Seminary“, geworden. Clayton ist in der dritten historischen Phase der Kon� versation beliebter Gesprächspartner emergenter Protagonisten. Clayton / Davies, The Re-emergence of Emergence (2009); Fuller / Sanders, „Beta Faith with Philip Clayton, Spencer Burke, and Oozers“, in: Homebrewed Christianity (Podcast); Fuller / Sanders, „Bootlegged Christianity with Philip Clayton, Jack Caputo, Bill Mallonee, Peter Rollins & Jay Bakker“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 06.04.2012, https://homebrewedchristianity.com/2012/04/06/bootlegged-christianity-with-philip-clayton-jack-caputo-bill-mallonee-peter-rollins-jay-bakker/ am 28.12.2016. 65 Für eine biografische Darstellung siehe http://www.patheos.com/blogs/geneveith/2011/04/ lutheranism-as-the-emergent-church/ am 11.02.2015. 66 Dieser Blog war vor allem in der zweiten historischen Phase in der „Emerging Church“-Kon�versation bekannt und wurde durch andere Medien, wie Podcasts, abgelöst. 67 Beachtenswert sind Interviews von Beck Garrison mit emergenten Protagonisten. http://www. wittenburgdoor.com am 11.02.2015.
9.4 Emergente Gruppen und Gemeinschaften
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Theologie und emergenter Orientierung sucht. Auf dieser Plattform geht es um theologische Interaktion, die dezidiert nicht in Gemeindepflanzungsprojekten münden soll. Genauso verhält es sich mit der Plattform „Presbymergent“, die den Austausch zu missionalen, kontextuellen Fragen, die die spezielle Denomination betreffen, ermöglicht. Edward Gibbs berichtet über einzelne Denominationen wie die „Presbyterian Church“ (USA), die emergenten Projekten Stipendien zur Verfügung gestellt hat, z. B. „The Open Door“ in Pittsburgh oder „The Living Room“ in Atlanta. Diese Stipendien sollten ermöglichen, dass die Arbeit der emergenten Gemeinschaft evaluiert und Strategien für kontextuelle Gemeindepflanzung entwickelt werden.68 Einen ähnlichen Weg ging auch die ECC, die „Evangelical Covenant Church“, indem sie „kontrollierte Experimente“ im Bereich emergenter, multiethnischer Projekte initiierte. Die „Baptist Church of America“ wurde durch Gemeindeentwickler Neil Cole in dieser Sache beraten und zu emergenten Projekten ermutigt.69 Es gibt weitere kleinere Intitiativen, die von Gibbs aufgezählt werden, so zum Beispiel Träger und Verbände wie „the Anglican Communion Network“ oder „the Nazarene“. (iii) Kritik und Bruch mit der „Emerging Church“-Konversation Kritische Fragen zu emergenten Gemeinschaften innerhalb des „mainline“Protestantismus kommen beispielsweise von der lutherischen Pastorin Martha Grace Reese. Sie weist aus Sicht der „mainline“-Kirchen darauf hin, dass „Emerging Church“ „accountability“ brauchen. „One of the worst things that would happen to traditional mainline churches is to let emergent churches drift off to their own little planets. And the worst thing for the emergent church is to float off onto their own little planets. We need each other.“70 Andere kritische Protagonisten drücken aus, dass die „Emerging Church“-Konversation für die ELCA zu einem prominenten Label / zu einem Hype geworden ist, dem kritisch begegnet werden soll.71 Daneben gibt es in der US-amerikanischen religiösen Landschaft auch Denominationen, die Gespräche mit der „Emerging Church“-Konversation abgebrochen haben bzw. sich von der „Emerging Church“-Konversation distanziert haben. Dazu gehört etwa die „Lutheran Church – Missouri“, deren
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Gibbs, ChurchMorph (2009), 75–76. A. a. O., 76. Garrison, Rising from the Ashes (2007), 14. http://www.lighthousetrailsresearch.com/blog/?p=11270 oder http://lutheranconfessions.blogspot.de/2012/01/hyping-hyphenated-lutherans.html am 12.02.2015.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
Synodenkommission 2011 eine Stellungnahme zur „Emerging Church“-Konversation herausgeben hat.72
9.5 Wie wählen Protagonisten eine emergente Gemeinschaft? – „Emerging Church“ als gemeinschaftlich gelebter Glaube Die „Emerging Church“-Konversation kann als ein gemeinschaftlich gelebter Glaube beschrieben werden.73 Emergente Protagonisten suchen sich eine Gemeinschaft nach persönlichen Vorlieben aus und / oder gründen Gemeinschaften, in denen sie ihre Glaubens-überzeugungen reflektieren können, in diesen gemeinsame spirituelle Erlebnisse haben, aber auch unabhängig von anderen Glaubensgemeinschaften leben können.74 Es gibt keinen Verbund emer72 The Lutheran Church – Missouri Synod, An Evaluation from the Theological Perspective of The Lutheran Church – Missouri Synod (2011 (updated March 2014)). Den Diskurs um die positive Stellungnahme von Dr. Carol Geisler zu „Emerging Church“-Konversation und der darauf folgenden Kontroverse kann eingesehen werden unter: http://concordiatheology. org/2011/05/reframing-the-story-the-end-of-the-emergent-conversation/ am 12.02.2015. Unklar ist das Verhältnis der „Church of the Nazarene“ zur „Emerging Church“-Konversa�tion. Während ein Gesprächspapier „Is There Rooom at the Table? Emerging Christians in the Church of the Nazarene“ 2009 diskutiert wurde, verlief der Diskussionsverlauf unklar. Hampton / Hull u. a.: „Is There Room at the Table? Emerging Christians in the Church of the Nazarene“, http://didache.nazarene.org/index.php/volume-9-2/794-0902-06-hamtpon-is-the� re-room-at-the-table-didache-9-2/file am 12.10.2014. 73 Ganiel und Marti führen dazu den Begriff „congregational faith“ ein. Ganiel / Marti, The De�constructed Church (2014), 53–54. 74 Drane charakterisiert emergente Gemeinschaften als „[…] consisting of Christians who have become angry and disillusioned with their previous experience of church […] who have established their own faith communities that – far from being accountable to any larger tradition – are fiercly independent.“ Drane, „Editorial “ (2006), 4. Whitesel spricht von „shared experience“, die ermöglicht werden. Whitesel, Inside the Organic Church (2006), xxix. Als ge�meinsame Vorerfahrung sind auch dekonversive Erfahrungen zu nennen. Auf diese soll eigenes in Abschnitt III Kapitel 2.2.1 Die Thematisierung der Veränderung der religiösen Orientierung eingegangen werden. Kim Wilkens spricht vom „Montessori approach to church“ und meint, in Anlehnung an die Montessori-Pädagogik, dass die Entwicklung des Einzelnen im Vordergrund steht und nicht das Ergebnis. Das Montessori-Modell ist kinderzentriert (und damit für alle zugänglich), unabhängig, der Prozess wird gewürdigt, es ist nicht produktorientiert. Zentral an diesem Modell ist, dass „skills for life“ („Lebensskills“) eingeübt werden. Burke / Taylor, A Heretic’s Guide to Eternity (2006), 9. Karen Ward sagt über die Gemeinschaft, die sie in der zweiten historischen Phase geleitet hat: „Many folk who come into community with us have come either as de-churched, un-churched, anti-churched, or under-churched.“ Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerg�-
9.5 Wie wählen Protagonisten eine emergente Gemeinschaft?
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genter Gemeinschaften, d. h. Gruppen entstehen und existieren zum großen Teil autonom und autark.75 Emergente Protagonisten wählen eine Gemeinschaft also erstens nach Interesse und zweitens aufgrund ähnlicher sozialer Stellungen aus.76 Als drittes Kriterium wird deutlich, dass die Teilnehmenden an einem ing Churches (2007), 171. Steve Taylor betont, dass sich emergente Gemeinschaften zuweilen auf „de-churched“-Protagonisten konzentriert: Herring, „Steve Taylor, Part Two“, in: E-merg (Podcast). Die australische emergente Gemeinschaft „Solace“ beschreibt die Frage der Zugehörigkeit folgendermaßen: „One person may be a part of a small group and go to Taize Fridays once a month, another may go to Tuesday Nights, another still may interact with the online community through the email group, and none of them necessarily meet or interact with the other two, although all [are] equally a part of Solace.“ Zitiert in: Cronshaw, „Mission and Spiritua�lity at Solace Emerging Missional Church“ (2008), 40. 75 Emergente Gemeinschaften innerhalb von Denominationen sind häufig autonom, d. h. selbstbestimmt, aber nicht autark, d. h. sie sind ein Teil der Verwaltungseinheit. 76 Labanow dazu: „[…] they tend to cluster in groups of similar age, geography, and (to a lesser degree) marital status.“ Labanow, Evangelicalism and the Emerging Church (2009), 48. So auch: Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 47. Zuletzt soll auf die Tendenz hingewiesen werden, dass emergente Gemeinschaften großteils homogene Gruppen sind. So benennet es zum Beispiel: Murray, Church after Christendom (2004), 83. Der Begriff der „homogeneous unit“, der mit der Gemeindewachstumsbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre propagiert wurde, meint, dass Menschen Teil einer Gemeinschaft werden, die eine ähnliche Lebens- und Werteorientierung hat. Dies wird von den empirischen Daten über emergente Gemeinschaften belegt. Die Homogenität der Gemeinschaften ist ein weiteres Kennzeichen dafür, dass die „Emerging Church“-Konversation durchaus als „new religious movement“ oder „new social movement“ verstanden werden kann. Siehe dazu Dawson, „Who Joins New Religious Movements and Why“ (1996), 152. Kevin DeYoung und Ted Kluck stellen ironisch fest, dass ein emergenter Protagonist folgende Merkmale aufweist: „You might be an emergent Christian: if you listen to U2, Moby, and Johnny Cash’s Hurt (sometimes in church), use sermon illustrations from The Sopranos, drink lattes in the afternoon and Guiness in the evenings, and always use a Mac; if your reading list consists primarily of Stanley Hauerwas, Henri Nouwen, N. T. Wright, Stan Grenz, Dallas Willard, Brennan Manning, Jim Wallis, Frederick Buechner, David Bosch, John Howard Yoder, Wendell Berry, Nancy Murphy, John Franke, Walter Wink and Lesslie Newbigin (not to mention McLaren, Pagitt, Bell, etc.) and your sparring partners include D. A. Carson, John Calvin, Martyn Lloyd-Jones, and Wayne Grudem; if your idea of quintessential Christian discipleship is Mother Theresa, Martin Luther King Jr., Nelson Mandela, or Desmond Tutu; of you don’t like George W. Bush or institutions or big business or capitalism of Left Behind Christianity; if your political concerns are poverty, AIDS, imperialism, war-mongering, CEO salaries, consumerism, global warming, racism, and oppression and not so much abortion and gay marriage; if you are into bohemian, goth, rave or indie; of you talk about the myth of redemptive violence and the myth of certainty; if you lie awake at night having nightmares about all the ways modernism has ruined your life; if you love the Bible as a beautiful, inspiring collection of works that lead us into the mystery of God but is not inerrant; if you search for truth but aren’t sure if can be found; if you’ve ever been to a church with prayer labyrinths, candles, Play-Doh, chalk-drawings, couches, or beanbags […]; if you loathe words like linear, propositional, rational, machine, and hierarchy and use words like ancient-future, jazz, mosaic, matrix, missional, vintage, and dance; if you grew up in a very conservative Christian home that
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
ähnlichen Punkt in ihrer spirituellen Entwicklung stehen.77 Zuletzt kann Webbers Argument der „younger evangelicals“ aufgenommen werden, dass es sich bei den Teilnehmenden vornehmlich um Personen aus der „Gen X“ handelt.78 Von zentraler Bedeutung scheinen intensiv gelebte Beziehungen bei einem hohen Maß an Subjektorientierung und Individualität, regelmäßige Treffen und Engagement zu sein. In Ganiels und Martis Studie wird deutlich, dass 24 % der Befragten in einer emergenten Gemeinschaft wöchentlich an einer Veranstaltung teilnehmen, 33 % gaben an, mehr als einmal pro Woche an einer Veranstaltung teilzunehmen. Das deutet auf ein hohes Maß an Verbundenheit und Verbindlichkeit hin.79 Engagement ist Teil der gemeinschaftlichen Überzeugung. Engagement geschieht in Kleingruppen, in öffentlichen Veranstaltungen, wie gottesdienstlichen Feiern, oder auch durch soziales Engagement, welches mit der betreffenden Gemeinschaft nicht direkt verbunden sein muss. Es gibt niedrige Barrieren der Partizipation, um sich schnell einbringen zu können oder eingebunden zu werden. Es wird deutlich, dass es in emergenten Gemeinschaften wenige Hinweise auf „free riders“ („Trittbrettfahrer“) gibt.80 Damit sind Menschen gemeint, die sich nur für kurze Zeit in einer „Emerging Church“-Gemeinschaft aufhalten oder diese schnell und oft wechseln.81 Es zeigt sich, dass die Teilnehmenden in emergenten Gemeinschaften hoch verbindlich sind.
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in retrospect seems legalistic, naive, and rigid; if you support women in all levels of ministry, prioritize urban over suburban, and like your theology narrative instead of systematic; if you disbelieve in any sacred-secular divide; if you want to be church not just got to church; if you long for a community that is relational, tribal, and primal like a river of a garden; if you believe doctrine gets in the way of an interactive relationship with Jesus; if you believe who goes to hell is no one’s buisness and no one may be there anyway; if you believe salvation has a little to do with atoning for guilt and a lot to do with bringing the whole creation back into shalom with its Maker; if you believe following Jesus is not believing the right things but living the right way; if it really bugs you when people talk about going to heaven instead of heaven coming to us; if you disdain monological, didactic preaching; if you use the world ‚story‘ in all your propositions about postmodernism – if all or most of this tortuously long sentence describes you, then you might be an emergent Christian.“ DeYoung / Kluck, Why We’re Not Emergent (2008), 20–22. Drane, The McDonaldization of the Church (2002). Dies wird durch die dargestellte Altersverteilung in emergenten Gemeinschaften unterstützt. Siehe Abschnitt II Kapitel 5.1 Sozio-demografische Daten emergenter Protagonisten. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 47. A. a. O., 49. Auch bei Packard ist diese Erkenntnis zu finden. Er sagt, dass es selten Menschen gebe, die in „Emerging Church“-Gemeinschaften auf der Durchreise seien oder diese in irgendeiner Form ausnutzen wollten. Packard, The Emerging Church (2012), 130. Er sagt: „[…] it is difficult, if not impossible, to be a free rider when you are sitting on a couch in someone’s living room, as many congregations do.“ Vgl. dazu auch Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 49.
9.6 „Ikon“ – eine exemplarische Darstellung einer emergenten Gemeinschaft 307
Emergente Gemeinschaften sind damit Weggemeinschaften, die ein Bedürfnis aufgreifen und Teilnehmenden eine besondere Form von christlicher Gemeinschaft geben.
9.6 „Ikon“ – eine exemplarische Darstellung einer emergenten Gemeinschaft Im Folgenden wird eine emergente Gemeinschaft vorgestellt, die aus der zuletzt dargestellten Kategorie emergenter Gemeinschaftsformen stammt, also jener, die in einer Nähe zur „radical theology“ stehen.82 „Ikon“ ist eine unabhängige emergente Gemeinschaft, die 2002 in Belfast, Nordirland, gegründet wurde.83 „Ikon“ ist eine Gruppe von Menschen, die sich monatlich und darüberhinaus selektiv und punktuell zu verschiedenen Angeboten trifft.84 Aus dem Leitungsteam der Gemeinschaft, das sich „cyndi-
82 Für weitere Darstellungen emergenter Gemeinschaften siehe beispielsweise Springer, „An Ar�ticulation and Evaluation of an Emerging Church Ecclesiology“. 83 https://ikonbelfast.wordpress.com am 15.05.2018. Für eine detailliertere Beschreibung von „Ikon“ siehe Hunt: „The Emerging Church. Characteristics and Typology – The Case of Ikon“. Hunt, „Inhabiting a space on the outer edges of religious life“ (2010). Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement“ (2014). Oder auch Moody, „Retrospective Speculative Philosophy“ (2012); Moody, Radical Theology and Emerging Christianity (2015). Auf die Frage, ob „Ikon“ eine Gemeinde ist, antwortet ein Teilnehmender: „Is Ikon a church? Is it not a church? … I like leaving Ikon very uncategorizable. I think one time [people asked] Pete … is Ikon Christian? And he said, ‚What an absurd question. Of course it isn’t, because we don’t feed the poor, we don’t clothe the naked, we don’t visit the prisoners, we don’t do any of those kinds of things – of course it isn’t Christian. And if you don’t do any of those things neither are you.‘ … You’d have to ask everybody [within Ikon if it was their church] but if it were somebody’s church I would be very alarmed because I don’t want that responsibility of telling you how to feel, how to think, how to believe, or how to act. And there are atheists at Ikon and I want to protect their ability to be there too.“ Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement“ (2014), 34. Williamson / Narloch, „Peter Rollins and Pyro Theology“, in: The Deconstructionist Podcast (Podcast) 07.04.2016, https://thedeconstructionists.com/ep-8-peter-rollins-pyro-theology/ am 28.05.2018. 84 „Ikon“ bezeichnet sich als „collective“ und hat außer den Mitarbeitenden, die monatliche In�szenierungen vorbereiten, keine feststehende Gemeinschaft oder Mitgliedschaft. Jeder Teilnehmende kann Teil der Vorbereitungs- und damit Leitungsgruppe werden und seine Ideen einbringen. Zu den zusätzlichen Angeboten gehört beispielsweise „HUSH“ „[…] is Ikon’s electronic-based musik night […] and takes place after the monthly Ikon ‚gathering‘.“ Hunt: „The Emerging Church. Characteristics and Typology – The Case of Ikon“. Ein weiteres Angebot ist der „Omega“-Kurs, „[…] which are an apparent counterpoint to Alpha. The courses are six weeks
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
cate“85 nennt, ist Peter Rollins durch seine Publikationen, Vorträge, Videoclips sowie mediale Präsenz die prominenteste Person.86 „Ikon“ und Peter Rollins, der ein Vertreter der „Radical Theology“87 ist, sind zu Impulsgebern in der „Emerging Church“-Konversation geworden.88 „Ikon“ versteht sich als „collective“ am Rande des organisierten religiösen Feldes, das Experimente im Grenzbereich von Glauben und Nicht-Glauben, visuelle Impulse, spirituelle Erfahrungen, theatralische Versatzelemente, Rituale und Reflexion zu spirituellen Themen anbietet.89 Ihr Ziel ist: „Challenging the distinction between theist and atheist, faith and no faith our main gathering employs a cocktail of live music, visual imagery, soundscapes, theatre, ritual and reflection in an attempt to open up the possibility of a theodramatic event.“90 „Ikon“ will die Teilnehmenden durch ihre multisensorischen Performances aufrütteln, verstören und durch dekonstruierende Handlungen Impulse für das christliche
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long, are designed to invite participants to move beyond their current understanding of Christianity through a lively yet serious interrogation, rather than exploration of faith.“ A. a. O., 83. Siehe auch https://vimeo.com/54208308 am 09.01.2016. Der Begriff beschreibt zunächst eine Versammlung von unterschiedlichen Individuen, die für einen gemeinsamen Zweck zusammenkommen. Hunt sagt: „In one sense ‚cyndicate‘ refers to the word ‚syndicate‘: an amalgamation of diverse individuals coming together for a common purpose. Thus Ikon views itself as a specific type of collectice that shares a united vision while simultaneously acknowledging difference, diversity and disparate interests.“ A. a. O., 73. Der Terminus „cyndicate“ reflektiert: „[…] both the self-organization, diversity and common pur�pose of a syndicate, and the counter-culturalism of the Greek cynics.“ Moody, „Retrospective Speculative Philosophy“ (2012), 188. Er beschäftigt sich in seinen theologischen Entwürfen mit sprachlicher Begrenzung, Mission, Zweifel und A / Theismus in der Postmoderne. Siehe exemplarisch dazu Rollins, How (Not) to Speak of God (2006); Rollins, The Orthodox Heretic and Other Impossible Tales (2009); Rollins, Insurrection (2011); Rollins, The Idolatry of God (2013); Rollins, The Divine Magician (2015). Über ihn: Gallion, Ecclesiology After God (2012). In der „radical orthodoxy“ wird etwa angenommen, dass auch vermeintlich säkulare Räume und Wirklichkeiten fundamentale Überzeugungen haben, die es zu dekonstruieren gilt. Obwohl er sich selbst und „Ikon“ nicht als emergent beschreibt, hatten sie seit ihrem Bestehen einen erheblichen Einfluss auf die „Emerging Church“-Konversation. Rollins wird als führende „Emerging Church“-Persönlichkeit genannt. Ganiel und Marti konstatieren: „[…] we found that most within the North American ECM, particularly anonymous participants rather than public figures, do not follow Rollins’ thinking“. Nichtsdestotrotz sind es „Ikon“ und Rollins, die die Aufgabe übernehmen die „Emerging Church“-Konversation voranzurt�reiben. Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement“ (2014), 45. In der Selbstbeschreibung steht geschrieben: „[…] iconic, apocalyptic, heretical, emerging, and failing“ www.wiki.ikon.org.uk am 17.09.2014. http://ikonbelfast.wordpress.com/about/ am 17.09.2014.
9.6 „Ikon“ – eine exemplarische Darstellung einer emergenten Gemeinschaft 309
Leben geben.91 Dabei ist Rollins wichtig, das Indiviuum als Verantwortungsträger zu stärken.92 In ihren monatlichen Treffen praktizieren die Veranstalter sogenannte „transformance art“.93 Damit sind „theologisch-dramatische“-Performances gemeint. Sie wollen den Teilnehmenden in den Performances einen Raum anbieten, in dem religiöse Ideen, Meinungen und Fragen angesprochen werden können, welche laut Veranstaltern: „[…] might be out of bounds in other religious communities or events.“94 Peter Rollins nennt diese Form des religiösen Raumes, der in einer Performance Gestalt gewinnt, „Pyrotheology“. Rollins greift auf dekonstruktivistische Theorien zurück, um bei den Teilnehmenden durch visuelle Impressionen, Musik, Rituale und Diskussion eine Reflexion von Überzeugungen anzustoßen.95 Die Inszenierungen sind meist so gestaltet, dass jeder teilnehmen und die Richtung und das Ergebnis der Performance mitbestimmen kann. Beispielsweise veranstaltete „Ikon“ beim „Greenbelt“-Festival (Cheltenham, UK) 2007 eine Performance zum Thema „The God Delusion“.96 In einem abgedunkelten Saal nahmen etwa 400 Personen am Boden Platz. Es wurden Stationen beleuchtet und nacheinander kurz vorgestellt, die sich mit dem Thema „God delusion“ auseinandersetzten. Allen anwesenden Personen wurde es ermöglicht, partizipativ das Thema mitzugestalten. An einer Station berichtete ein Mitarbeiter in Form eines Monologs aus der Sicht eines Atheisten, warum Gottesglaube für ihn eine Täuschung gewesen war. An einem anderen Ort war eine Fürbittenstation aufgebaut, in der Gebete schriftlich formuliert werden konnten. In diesen konnten Gedanken über
91 Ganiel und Marti dazu: „Ikon served as a ‚haven‘ for people to explore ideas and experiences that were off-limits in other religious traditions, reflecting or leading to a loosening of ethnic and political identities […].“ Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement“ (2014), 34. 92 A. a. O., 38. 93 Rollins dazu weiter: „Transformance Art is basically a practice that employs various art forms in an attempt to disrupt, disturb, surprise and confront a given individual / community with themselves. This disruption involves bringing to light the things that the individual / community have repressed.“ http://peterrollins.net/tag/ikon/ am 17.09.2014. 94 Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement“ (2014), 36. 95 In folgendem Zitat drückt Rollins sein dekonstruierendes Anliegen aus: „Through a rich blend of live music, visual imagery, soundscapes, ritual, interrogative practices, discussion and personal reflection, the theory and practice of pyrotheology aims to help free people from the twin tyrannies of seeking certainty and satisfaction. Helping participants celebrate unknowing without anxiety and embrace the traumas of life without fear.“ A. a. O., 39. Williamson / Narloch, „Peter Rollins and Pyro Theology“, in: The Deconstructionist Podcast (Podcast). 96 An dieser Veranstaltung habe ich selbst am 26. August 2007 teilgenommen. Eine andere „per� formance“ wird geschildert bei Rollins, How (Not) to Speak of God (2006), 134. Vgl. Rollins, „Transformance Art. Reconfiguring the Social Self “ (2011).
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
Gottesbilder, die jeder mit sich trägt, formuliert werden. Diese Gebete wurden von einer Mitarbeiterin mehrfach als Kyrie vorgelesen.97 An einer anderen Station war das Nizäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis mit einem Beamer an eine Leinwand projiziert. Es bestand die Möglichkeit, das Glaubensbekenntnis auf einem Laptop umzuschreiben und aktuelle oder persönliche Begriffe und Deutungen zu finden. In diesem Teil der Performance entstand ein gemeinschaftliches Glaubensbekenntnis, welches immer wieder erweitert, ausgebessert oder gekürzt wurde.98 An einer vierten Station konnten Teilnehmende einen Künstler (Peter Rollins) beobachten, wie er, auf einer Säule stehend, von anderen Schauspielern seiner vielen Schichten von Kleiderstücken befreit wurde. Alle Stationen wurden gleichzeitig „bespielt“. Die Teilnehmenden / Zuschauer der Performance konnten auf ihren Plätzen bleiben und das Geschehen beobachten oder an den Stationen daran teilnehmen. Nach etwa 45 Minuten kam die Performance zu ihrem Ende. Dies ist ein Beispiel für „transformance art“. „Ikon“ ist mit der Betonung dramaturgischer Inszenierung und dem stark dekonstruierenden Ansatz sicherlich eine Sonderform in der „Emerging Church“-Konversation.99 „Ikon“ ist aber insofern repräsentativ, als sie mit ihrer Positionierung am Rande des organisierten religiösen Feldes und ihrem Ansatz, „churchless Christians“ anzusprechen, also Menschen, die sich von ihrer vormaligen religiösen Tradition entfernt haben, Merkmale der Konversation widerspiegelt. Gleichzeitig spiegelt „Ikon“ wesentliche Merkmale emergenter Gemeinschaften wider, die im Einzelnen genauer erörtet werden. „Ikon“ spitzt etwa in ihren multisensorischen Ausdrucksformen wesentliche Anliegen der „Emerging Church“-Konversation zu. Es wird deutlich, dass jeder Teilnehmende individuell entscheiden kann, welchem Impuls er sich aussetzt beziehungsweise welchen Impuls er mitgestaltet. Durch die multisensorischen Beiträge werden viele Bedeutungshorizonte eröffnet, die ermöglichen, dass viele Menschen teilnehmen und einen individuellen Weg in der Performance gehen. Nichtsdestotrotz erlebt man sich durch die Partizipation an der Performance als Teil einer Gemeinschaft. Die beschriebene Performance zeigt exemplarisch einen Umgang mit der christlichen Tradition in der Konversation. Der bricolageartige Gebrauch des Nizäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis führt einerseits die Bedeutung der christlichen 97 Eine Anleitung, was in dieser Station getan werden sollte, war ausgelegt. 98 Nach dem Event wurde das Bekenntnis auf der Website von „Ikon“ gepostet. www.wiki.ikon. org.uk/wiki/index.php/The_Edited_Creed am 17.09.2014. 99 Zu der Gemeinschaft „Ikon“ meint John Caputo: „Ikon is hardly an institution at all, a more literally and visible deconstructive quasi-institution. It is relatively new and no one knows how long it will be around.“ Caputo, What would Jesus Deconstruct (2007), 129.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
311
Tradition in der „Emerging Church“-Konversation vor Augen.100 Andererseits wird deutlich, dass diese der Sinndeutung des Individuums und der Gemeinschaft unterworfen wird. Zudem wird in der Performance deutlich, dass durch die Stationen der Versuch unternommen wird, für alle Teilnehmenden eine Anschlussmöglichkeit und schließlich „transformance“ („Transformation“) zu bieten. Was nun die Transformation ist, das liegt bei jedem Einzelnen. Der Ausgang ist unbestimmt und subjektiv. Beeindruckend ist der intermediale und interdisziplinäre Zugang. Durch Theater, literarische Reflexion und theologisches Experimentieren wurden handlungsorientierte Impulse, z. B. das Formulieren von Gebeten, vorgegeben. Zuletzt muss darauf hingewiesen werden, dass die Umsetzung der Performance einen hohen personellen und ressourcentechnischen Aufwand darstellt.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft 9.7.1 Gemeinschaft – klein, flexibel, organisch und dezentral Emergente Protagonisten wollen ihre religiöse Orientierung beziehungsorientiert gestalten. Webber sagt, dass es emergenten Protagonisten darum gehe, Folgendes zu repräsentieren: „[…] visible, tangible, enfleshed group of disciples of Jesus […].“101 Dies gestaltet sich in überschaubaren, kleinen Gruppen und Gemeinschaften.102 Studien weisen darauf hin, dass emergente Protagonisten eine hohe Verbundenheit und Verbindlichkeit zur Gemeinschaft haben103 und dabei auf minimalistische und dezentrale Organisationsstrukturen bestehen. Emergente Protagonisten betonen das Element „organisch“104, welches besagt, dass Gemeinschaften einerseits in „natürlichen Umgebungen“ (Arbeits100 Siehe zu „ancient-future worship“ Abschnitt II Kapitel 12.4.1 „Worship“. 101 Webber, The Younger Evangelicals (2002), 114. 102 Es fällt auf, dass viele emergente Protagonisten von der „House-Church“-Bewegung und dem „Micro-Church“-Gedanken geprägt sind. Siehe genauer Mannoia, Church Planting (2005). Eine andere Bewegung, die ähnliche Akzente im Bereich kleiner Gemeinschaften setzt wie die „Emerging Church“-Konversation, ist die „Simple Church“-Bewegung. Siehe dazu Rainer / Geiger, Simple Church (2011). 103 Beispielsweise: Gallagher / Newton, „Defining Spiritual Growth“ (2009), 256–257. 104 Vgl. Nash / Ward, „Pete Ward – Why We Need a Liquid Church“, in: Nomad (Podcast) 10.02.2012, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-35-pete-ward-and-liquid-church/ am 29.12.2016.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
platz, Nachbarschaft usw.) und andererseits spontan und situativ, d. h. je nach Bedürfnislage der Beteiligten, zustande kommen sollen.105 Es wird eine Flexibilität gefordert, mit Strukturen umzugehen.106 Robert Webber hebt hervor, dass es für emergente Gemeinschaften wichtig sei, sich dezentral zu organisieren und organisch zu entwickeln. Die Gemeinschaften und ihre spirituellen Ausdrucksformen sollten in nachbarschaftlichen Bezügen verwurzelt und damit kontextuell sein.107 Webber sieht in der
Kester Brewin hat mit seiner Publikation „The Complex Christ“ (dt. „Der Jesus Faktor“) im Bereich der Leitungsdiskussion in der englischen „Emerging Church“-Konversation für viel Aufruhr gesorgt. Seine Veröffentlichung nahm die Diskussion um die Spannung der Kirche als Organismus und / oder als Organisation auf. Brewin argumentiert gegen Kirche als Organisationssystem und sagt: „In einer Welt der Marktwirtschaft müssen wir den Versuchungen des marktwirtschaftlichen Handelns widerstehen und es der Kirche ermöglichen, durch Geschenke und Gaben zu wirken. In einer Welt der Ausgrenzung müssen wir der Versuchung widerstehen, Schmutzgrenzen [damit meint Brewin Grenzen die verhindern, dass Schmutz in die Kirche kommt; mit Schmutz („messiness“) wird besonders „Unordnung“ ge�meint] zu errichten und der Kirche stattdessen die Gelegenheit geben zum Schelm zu werden und durch ‚schmutzige‘ Aktionen Erneuerung zu bringen. […] Die Kirche kann und wird ohne Tempel in der Stadt im Einklang mit Gott leben.“ Brewin, Der Jesus Faktor (2005), 213. 105 Frost und Hirsch plädieren für Kirche als „organic movement“, da durch die Institutionalisie� rung der wahre Kern des Evangeliums verloren gehe. Hirsch definiert „movement“ wie folgt: „[…] a group of people organized for, ideologically motivated by, and committed to a purpose which implements some form of personal or social change; who are actively engaged in the recruitment of others; and whose influence is spreading in opposition to the established order within which it originated.“ Hirsch, The Forgotten Ways. Reactivating the Missional Church (2006), 188. Frost vergleicht „church“ mit einem lebendigen Organismus, der durch die „mechanization of ministry“ zerstört werde. Frost, Exiles (2006), 140. Vgl. auch Ward, Li�quid Church (2002), 2–10. Nach Kester Brewin kann die Anpassung des Organismus Kirche nicht durch Autorität von oben nach unten erfolgen, sondern nur durch eine spontan wirksame Veränderung von unten nach oben, die nach den „Gesetzen“ der Emergenztheorie ablaufen soll. „Das Prinzip der Emergenz dreht sich ganz um Veränderung von unten nach oben“. Brewin, Der Jesus Faktor (2005), 35. 106 Diese werden dem gemeinschaftlichen Konsens und dem darin wirkenden Heiligen Geist untergeordnet. „The key idea is that leaders emerge based on the activity at hand and are not the sole leaders of a group. All are welcome to the leadership table. Consensus decision making is the norm.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 215. Beispielhaft kann hier die US-amerikanische Gemeinschaft „Eastside Mosaic“ genannt werden, in der es heißt: „[…] structure must always submit to spirit“. Zitiert in: Webber, The Younger Evangelicals (2002), 138. Stephanie Speller, Gründungspastorin einer emergenten Gemeinschaft (2005–2012), die Teil der St. Paul’s Cathedral in Boston ist, sagt dazu: „As our neighborhoods changed, and hybrid�ity became the rule, we came to look like cultural dinosaurs: suspicious of change, judgmental of emerging cultures, and incapable of venturing out to build relationships in the transformed communities around us.“ Spellers, „Monocultural Church in a Hybrid World“ (2011), 13. 107 Vgl: „By emphasizing church as relationships, emerging church thinkers are advocating not inwardly focused huddles but rather multiple circles of relationships lived out in the wider community.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 52.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
313
„Emerging Church“-Konversation (im Verhältnis zu im US-amerikanischen Evangelikalismus propagierten Formen wie beispielsweise in „Megachurch“Ansätzen) ein konterkulturelles Element betont, nämlich dass das Konzept „Nachbarschaft“ und „lokale Gemeinschaft“ wiederentdeckt werde. Das heißt für Webber, dass emergente Gemeinschaften nicht nur mit ihrer Nachbarschaft Gottesdienst feierten, sondern nachbarschaftliche Bezüge auch für das Freizeitverhalten und das Konsumverhalten maßgeblich seien. Webber führt aus, dass die Mehrheit der emergenten Protagonisten, die er „younger evangelicals“ nennt, Gemeinden in Städten und in sozial benachteiligten Vierteln und Brennpunkten einer Region pflanze.108 In diesen nachbarschaftlichen Bezügen werde in weiterer Folge das Ausleben der religiösen Identität und spiritueller Ausdrucksformen lokal und als Teil der Lebenszusammenhänge verstanden. Webber: „The church, to be missional, must define the boundaries of its ministry and create neighborhood communities within those boundaries where the sense of community can grow in an natural and spontaneous way.“109 Webber nennt diese Gemeinden „neighborhood house community witness“110. Obwohl diese Gemeinschaften unterschiedliche Schwerpunkte haben können, ist ihnen „worship“ gemeinsam.111 Ein anderer Vertreter eines ähnlichen Gedankens ist Shane Claiborne, der das Konzept der neo-monastischen Gemeinschaften im Alltag vertritt. Damit sind kleine Gruppen und Gemeinschaften gemeint, die ihr Zusammensein (nicht unbedingt Zusammenleben) anhand ausgewählter monastischer Prinzipien definieren. Solche Zugänge, wie Webber und Claiborne sie vorstellen, wollen „seekersensitive“-Ansätzen und „Megachurch“-Ansätzen widersprechen. „Megachurches“ bieten vielen Menschen losgelöst von ihren Wohn- und Arbeitsumfeldern 108 Webber, The Younger Evangelicals (2002), 122. 109 Webber, Ancient-Future Evangelism (2003), 60. 110 A. a. O., 61. Brian McLaren verwendet dafür den Begriff „neighbouring“, den er als geistliche Übung postuliert. McLaren über sich selbst: „I decided to be a neighbor again, sometimes I had become ‚too religious‘ for in the previous few years. If we take Jesus’ teachings to heart, neighbouring is a pretty essential spiritual practice.“ McLaren, More Ready Than You Realize (2002), 90. 111 Auch für Doug Pagitt ist das Gewicht des Gottesdienstes klar. Siehe Pagitt, Church Re-Imagined (2005), 59–82. Auch Sweet spricht das Bedürfnis von Gemeinschaften nach Dezentralisation an, die jedoch gelegentlich zentral zu „worship“ zusammenkommen. „Worship must become a key component to every small, separate group that is free to worship in its own way while integrated into the large church. […] At the same time, hypercentralized worship services, where the whole body comes together for celebrations, become more important than ever.“ Sweet, Postmodern Pilgrims (2000), 120–121. Die Rolle von „worship“ soll an anderer Stelle genauer dargestellt werden. Siehe Abschnitt II Kapitel 12.4.1 „Worship“.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
einen Gottesdienst und geistliche Lebensgestaltung an.112 Damit würden sie sich einem konsumorientierten Verhalten und einer Lebensgestaltung angleichen, wie es beispielsweise im US-amerikanischen Kontext zu finden sei, wie Bielo betont. Er sagt: „[…] the suburbanization of conservative evangelicalism and the rise of the megachurch, have become primary targets for the Emerging evangelical critique.“113 Drane verwendet dafür die kritische Bezeichnung „McDonaldization of the Church“ und stellt eine Konsumorientierung geistlichen Lebens fest.114 Eine konsumorientierte Kultur bietet Individuen für die einzelnen Bereiche ihres Lebens bedürfnisorientierte Lösungen und Produkte an. In der „Emerging Church“-Konversation wird eine Segmentierung und auch Professionalisierung der spirituellen Lebensgestaltung kritisiert.
9.7.2 Gemeinschaft – anti-institutionell In der „Emerging Church“-Konversation werden institutionelle und organisationale Aspekte von Gemeinschaft sowie damit verbundene kirchliche / gemeindliche Ordnungen negativ dargestellt und interpretiert.115 Das kann sich beispielsweise darin zeigen, dass emergente Gemeinschaften nicht Teil verfasster 112 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 1.4.2 Der „Megachurch“-Ansatz. 113 Bielo, „Purity, Danger, and Redemption“ (2011), 278. Bielo schildert folgende Ansichten emer�genter Protagonisten auf „the suburban megachurch“: „Tenuous. The money and resources need� ed to keep these institutions running is massive. […] Exaggerated. The hugeness that defines megachurches falls prey to the same logic that produces Wal-Marts and civilian Hummers. […] Commodified. Megachurches are yet another iteration of conspicuous consumption. They fail to distance themselves from a pervasive social ill: the never-ending impulse to brand, package, mass produce, and generally plot everything in terms of buying and selling. Isolating. Intentionally set off in suburbia, adherents are removed from the conditions of urban need. […] Inauthentic. The size and easy anonymity of the megachurch is at odds with a hallmark of evangelicalism […] Spectacle. The epicenter of megachurch life, the weekly worship event, is a mass-produced production for the masses. […]“ A. a. O. So auch Studebaker und Beach, die von einer Unzufriedenheit emergenter kanadischer Gemeinschaften mit „suburban evangelical church“ sprechen. Studebaker / Beach, „Emerging Churches in Post-Christian Canada“ (2012), 3. 114 Drane, The McDonaldization of the Church (2002). 115 Kirche wird als „institutional self-absorbing“, die ihren wahren Auftrag vergessen hat, erlebt: „What we propose is that a mark of the church is to care about people and yearn to do something of spiritual substance that helps an increasing number of people.“ Die Mission der Kirche ist es demnach, einen Impetus zu haben, dass Gott Christen dazu verwenden kann, Menschen zu dienen und nicht, sie zu bekehren. Sachs / Bos, A Church Beyond Belief (2014), 21. Oder auch Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 27. Der Grad der Ablehnung variiert in der Konversation. Deutliche Kritik kommt von der „re�visionist“-Strömung und der „reconstructionist“-Strömung. Gemäßigtere Stimmen, wie etwa Dan Kimball oder Mark Driscoll, sind aus der „relevant“-Strömung zu vernehmen.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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Strukturen sein wollen und sich außerhalb des organisierten religiösen Feldes verorten. Ein gedanklicher Stereotyp, der sich im kollektiven Unterbewusstsein eingenistet hat, ist jener, dass „Institutionen“ mit Kontrolle, Unterordnung, theologischer Unbeweglichkeit, Vorgabe theologischer Meinungen, Selbstbezüglichkeit, Selbstbezwecklichkeit oder auch kontextueller Unbeweglichkeit identifiziert werden.116 Aussagen wie die des Hauskirchen-Befürworters Frank Viola „return to organic church life“117 sind in der Konversation beliebt. Gemeinschaften, die entweder selbst institutionalisiert oder Teil bestehender Institutionen werden, werden in der „Emerging Church“-Konversation kritisch diskutiert. Institutionalisierung wird in der Konversation als Feind lebendiger, authentischer Beziehung diskutiert.118 Institutionalisierung soll beispielsweise durch die Vermeidung von Routinen, die Ermutigung des Dialogs aller Partizipienten und die Limitierung der Rolle der Hauptamtlichen vermieden werden.119 An dieser Stelle spielt der von Pete Ward entworfene Begriff „liquid church“ (im Gegensatz zu „solid church“120) eine bedeutende Rolle.121 Ward schlägt das Konzept einer „liquid church“ vor, das besagt, dass Kirche durch informelle und fluide Kommunikation entstehe. Gemeinde und Kirche solle als „Verb“ verstanden werden, das meint im Vollzug, als Aktionen und Ereignisse und nicht als Gebäude und Organisationen.122 Neben Ward plädieren auch Protagonisten wie Frost und Hirsch für punktuelle und situative Vergemeinschaftungen.123
116 Beispielhaft bei Pagitt, Preaching Re-Imagined (2005), 178. 117 Viola, Reimagining Church (2008), 276–277. Interessanterweise ist Violas Hauptkritikpunkt an der „Emerging Church“ Folgendes: „When it comes to the practical expression of the church, many emergents have only slightly tweaked it.“ Weiter: „[…] even among those who carry on the loudest about deconstructing the face of the church, one finds sacral buildings, sermon-based church services, the modern office of the pastor.“ A. a. O., 265. Violas Kom�mentar deutet darauf hin, dass es zwischen der Rhetorik und der Wirklichkeit in emergenten Gemeinschaften deutliche Diskrepanzen gibt. 118 Siehe dazu Peter Rollins, sagt dass „Ikon“ nichts von dir will, sondern nur den Rahmen für Beziehungen schaffen möchte. Emergente Gemeinschaft wird als Familie beschrieben. Siehe Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 97–99. 119 Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011). 120 Pete Ward dazu: „[…] the mutation of solid church into heritage, refuge, and nostalgic com�munities has seriously decreased its ability to engage in genuine mission in liquid modernity.“ Ward, Liquid Church (2002), 29. 121 A. a. O. Ähnlich drückt es Alan Hirsch aus, wenn er sagt: „From a church to an organic move� ment.“ Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 282. Frost: „Church as a liquid, missional expe�rience“. Frost, Exiles (2006), 131. 122 Ebenso meint Ward: „Worship and meeting will be decentered and reworked in ways that are designed to connect to the growing spiritual hunger in society.“ Ward, Liquid Church (2002), 2. 123 „Why can’t we think liquidly, of Christian communities rising, receding, spilling into cracks and taking myriad shaped in equally myriad people groups and places?“ Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 202.
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Nach Packard werden in emergenten Gemeinschaften Strategien angewendet, damit organisatorische Prozesse nicht institutionalisiert (und damit nicht wiederholbar) werden.124 Zugespitzt: „[…] the people in the Emerging Church do not attempt to maintain a lack of institutionalization by accident.“125 Packard beschreibt die „Emerging Church“-Konversation als „socially entropic“.126 Das bedeutet, dass es den von ihm untersuchten emergenten Gemeinschaften an Mechanismen fehle, sich als Organisation nachhaltig zu etablieren. Die Wiederholung spiritueller Erlebnisse wird der indivuellen Wahl und den gegebenen Umständen überlassen.127
9.7.3 Emergente Gemeinschaften als plurale Gemeinschaften Emergente Gemeinschaften verstehen sich als plurale Gemeinschaften.128 „Plural“ wird von den Soziologen Ganiel und Marti folgendermaßen definiert: „[…] as social spaces that permit, and even foster, direct interaction between people with religiously contradictionary perspectives and value systems.“129 „Plural“ zeigt sich beispielsweise darin, dass Rituale und religiöse Praktiken aus unterschiedlichen christlichen und außerchristlichen Quellen willkommen geheißen und angewandt werden. Ein wichtiges Kriterium für das Einbinden unterschiedlicher Formen ist „what works for me“, welches durch das Stichwort des gemeinschaftlichen Konsenses ergänzt werden muss.130 Emergente Gemeinschaften leben in der Spannung von Individualität und Gemeinschaftssinn. Daneben besteht eine hohe Bereitschaft, Neues zu entdecken und es je nach theologischer
124 Dies hängt damit zusammen, welche Rolle „religious professionals“ in emergenten Gemein�schaften einnehmen. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 9.7.13.4 Die Rolle der Hauptamtlichen / der Leitungspersonen. 125 Er sagt: „[…] that [they] lack a mechanism to sustain, reproduce, and order the systems and processes in a given organization.“ Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011), 12. 126 A. a. O., 25. 127 Die Implikationen der hier dargestellten Merkmale werden in Abschnitt IV unter der Perspektive dekonversiver Merkmale und Prozesse diskutiert. 128 Dies ist für die „relevant“ und „reconstructionist“-Strömung deutlich schwächer ausgeprägt als für die „revisionist“-Strömung. Der Begriff, der von Ganiel und Marti stammt, wird ein� geführt, da die Autoren besonders Autoren aus der „revisionist“-Strömung untersuchen. Dies wird ersichtlich: Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 207. 129 A. a. O., 34. 130 A. a. O., 119. Ganiel und Marti dazu: „Emerging congregations therefore strike an apparently contradictionary balance as they create religious communities in which the autonomy of the individual is held as a core value in the midst of an often-stated emphasis on relationships and community.“ A. a. O., 35.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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Tradition und Strömung zu akzeptieren oder es zu legitimieren. Dies zeigt sich bei einigen emergenten Gemeinschaften so, dass sie ein „statement of faith“ ihrer Gemeinschaft ablehnen.131 So lehnen etwa „revisionists“ eine Grenzziehung hinsichtlich inhaltlicher Überzeugungen ab, für „relevants“ ist dies nicht wahrnehmbar. Dies ist nicht nur für emergente Gruppen und Gemeinschaften beobachtbar, sondern auch für emergente Protagonisten, die sich nicht auf bestimmte Glaubensüberzeugungen festlegen wollen. Ein emergenter Protagonist sagt: „There’s no pretence of having to be orthodox here. You don’t have to be right.“132 Freiheit gegenüber Glaubensüberzeugungen wird innerhalb pluraler Gemeinschaften akzeptiert. Ganiel und Marti verwenden für emergente Protagonisten in pluralen Gemeinschaften den Begriff „religious cosmopolitanism“133, um die Pluralität, Differenz und die daraus resultierende breite religiöse Orientierung emergenter Christen verständlich zu machen. Die Pluralität emergenter Gemeinschaften wird außerdem dadurch gefördert, dass emergente Protagonisten aus unterschiedlichen religiösen Traditionen stammen.134 Zuletzt sei bemerkt, dass es Pluralität als Gemeinschaftsprinzip für eine betreffende Gemeinschaft schwer, wenn nicht unmöglich macht, sich innerhalb bestehender religiöser Traditionen und innerhalb des organisierten religiösen Feldes zu verorten.
9.7.4 Gemeinschaft durch „belonging before believing“ Das von der britischen Soziologin Grace Davie eingebrachte Wortspiel „belonging before believing“135 wurde besonders in der ersten Hälfte der zweiten historischen Phase der „Emerging Church“-Konversation häufig als Merkmal
Hierzu schließen Gallagher und Newtons Beobachtungen einer emergenten Gemeinschaft „Urban Village“ an: „Through ‚wrestling with each other’s differences‘, people at Urban Vil�lage see themselves as learning who they truly are and the spiritual identity they want to form. Bridging these differences through authentic relationships is something Urban Village teaches should last a lifetime.“ Gallagher / Newton, „Defining Spiritual Growth“ (2009), 257. 131 Josh Packard führt sogenannte „Anti-Statements of faith“ verschiedener emergenter Gemein� schaften im Anhang seines Buches an. Siehe Packard, The Emerging Church (2012), 183–185. 132 Moody, „‚I Hate Your Church“ (2010), 501. 133 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 188. Der Begriff „religious cosmopolita�nism“ wird in Anlehnung an Ulrich Beck verwendet. 134 Siehe Abschnitt II Kapitel 5 Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten. 135 Die englische Religionssoziologin Grace Davie spricht über eine Re-Spiritualisierung der britischen Bevölkerung. Es findet eine undefinierte Sakralisierung des subjektiven Lebens zu Ungunsten einer organisierten Einordnung des Einzelnen in ein System des Glaubens mit Wahrheitsanspruch statt. Davie legt ihren Thesen das Konzept des „believing without belonging“ zugrunde. Sie zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die infolge postmoderner Institutionenkritik
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
einer emergenten Gemeinschaft genannt.136 Mit dem Begriff „belonging“ wird für emergente Gemeinschaften Intimität, Integrität und ein hohes Zusammengehörigkeitsgefühl verbunden.137 Dieser soziologische Begriff ist nicht exklusiv in der „Emerging Church“-Konversation beheimatet, greift aber eine wesentliche Einsicht in der Konversation auf.138 „Belong before believe“ weist darauf hin, dass Menschen Teil einer christlichen Gemeinschaft werden, einbezogen werden und das Gefühl der Zugehörigkeit haben. Nach und nach lernen sie die Werte, Haltungen und Überzeugungen der Gemeinschaft kennen, werden mit Lehre, Moral und Anschauungen dieser Gemeinschaft vertraut. Dieser Terminus wurde in Abgrenzung zu der Position postuliert, dass Menschen erst durch die Annahme religiöser Überzeugungen Teil einer christlichen Gemeinschaft werden. In der „Emerging Church“-Konversation wurde diese Phrase aufgegriffen, um einer Beziehungsorientierung einen bewusst höheren Stellenwert zu geben als der Zustimmung zu inhaltlichen Bekenntnissen.139 Während das Motto „belonging before believing“ in „Seeker-Sensitive“-Ansätzen noch dahingehend interpretiert wird, dass Nicht-Christen durch die Gemeinschaft mit Christen in weiterer Folge zu einer Konversion bewegt werden, ist ein solches Verständnis in der „Emerging Church“-Konversation nicht mehrheitlich vorhanden, beziehungsweise wird eine Zwangsläufigkeit kritisiert. In der „Emerging Church“-Konversation wird diskutiert, inwiefern eine Zwangsläufigkeit überheblich ist oder der Schritt „belonging“ von einer Gemeinschaft instrumentalisiert werden kann, um zur Konversion zu führen.140 Es gibt auch Stimmen, die „belonging before believing“ nicht als konsequenten Weg hin zum christlichen Glauben verstehen, sondern als offenen Prozess.141 Die Phrase und damit auch das Thema der Auseinandersetzung rückt in der „Emerging Church“-Konversation in der dritten historischen Phase in den Hintergrund.
Religion in den Bereich des Individuellen verlagert. Siehe QR-Code im Vorwort, dort: Kapitel Einordnung des Untersuchungsgegenstandes in die religiöse Landschaft. Vgl. dazu Davie, „Believing without Belonging“ (1990); Davie, „From Obligation to Consumption“ (2005). 136 So etwa Brian McLaren: „Sometimes belonging must precede believing.“ McLaren, More Ready Than You Realize (2002), 84. Oder siehe dazu Murray, Church after Christendom (2004), 30. 137 Vgl. Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 192. 138 Dieser Terminus taucht bereits in US-amerikanischen „seeker-sensitive“-Ansätzen und der englischen Reformbewegung fxC auf. 139 Es wird darauf hingewiesen, dass emergente Gemeinschaften nicht beurteilen wollen, wer Teil der Gemeinschaft ist, wenn dieser gewisse christliche Überzeugungen für wahr hält. So etwa: Murray, Church after Christendom (2004), 70–71. 140 Siehe Abschnitt II Kapitel 10.3.4 Konversion. 141 Damit wird die Phrase „belonging before believing“ obsolet.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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9.7.5 Gemeinschaft, Inklusion und Gleichberechtigung In der „Emerging Church“-Konversation kommt der Wunsch nach Inklusion auf vielen Ebenen vor. Emergente Gemeinschaften werben etwa dafür, offene multikulturelle Gemeinschaften zu sein.142 Neben dem Anliegen generationsübergreifende (trotz des demografischen Schwerpunkts für die Altersgruppe 18–35), interkulturelle und überkonfessionelle Gemeinschaft zu formen143, wird „inclusion“ vorwiegend im Bereich theologischer Positionen und ethischer Lebensführung gefordert.144 Inklusion wird in der „Emerging Church“-Konversation etwa in sexualethischen Fragen, ein im US-amerikanischen Evangelikalismus kontrovers diskutiertes Thema, thematisiert.145 Es ist beobachtbar, dass Gruppen und Gemeinschaften in der „Emerging Church“-Konversation einen Schwerpunkt darauf setzen, inklusiv zu sein, indem sie sich beispielsweise LGBTQ-Organisationen anschließen. Chia pointiert: „[…] Emerging Church imposes no gate-keeping mechanisms or forms of social controll […].“146 Das Thema der Ungleichheit von Frauen und Männern in Leitungspositionen beispielsweise in evangelikalen Gemeinden wird ebenso in der „Emerging Church“-Konversation unter dem Stichwort „Inklusion“ aufgenommen.147 Wäh142 Emergente Gemeinschaften werden beschrieben als: „Are highly committed to multicultural communities of faith“. Sachs / Bos, A Church Beyond Belief (2014), 145–166. Vgl. dazu Ab�schnitt II Kapitel 1.4.1.2.1. Robert Webber (2002). 143 McLarens „Multi-faith“-Ansatz ist nachzulesen unter: McLaren, Why Did Jesus, Moses, the Buddha and Mohammed Cross the Road (2012). Auch vertreten von: Selmanovic, It’s Really All About God (2009). 144 Tickle, Emergence Christianity (2012), P-1. Dabei wird in der Konversation betont, dass man unterschiedliche theologische Anschauungen nebeneinander stehen und plurale Gemeinschaft sein wolle. Vgl. Webber, The Younger Evangelicals (2002), 119. Dabei unterscheidet sich der Begriff „überkonfessionell“ von „ökumenisch“. 145 Besonders seit Ende der zweiten historischen Phase, dem Abflauen der „relevant“- und „re�constructionist“-Strömung, sprechen sich emergente Protagonisten häufig dafür aus homo�sexuelle Partnerschaften zu befürworten. McLaren schreibt: „I am no doubt wrong on many things. I am likely wrong in my personal opinions on homosexuality (which, by the way, were never expressed in the piece, contrary to the assumptions of many responders).“ http://blog. christianitytoday.com/outofur/archives/2006/01/brian_Mclaren_o_3.html am 30.01.2006. Fuller / Sanders, „Same Sex Marriage, Rob Bell and His Detractors“, in: Homebrewed Christ�ianity TNT (Podcast) 26.03.2013, https://homebrewedchristianity.com/2013/03/26/tnt-samesex-marriage-rob-bell-and-his-detractors/ am 28.12.2016. Chalke / Mann, The Lost Message of Jesus (2003), 94. Pagitt in Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 140. 146 Chia, „Emerging Faith Boundaries“, 203–206. 147 „Frauen in Leitungsämtern“ ist neben der Homosexualitätsdebatte ein heftig diskutiertes Thema im Evangelikalismus. Ein öffentlichkeitswirksamer Versuch das Thema zu bearbeiten, wurde auf der nationalen „Christianity 21“-Konferenz in Minneapolis, Minnesota im Oktober 2009
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
rend in einigen evangelikalen Strömungen eine Unterordnung der Frauen sowie ein Ausschluss vom Leitungs- oder Predigtamt biblisch begründet werden, wird die Rolle von Frauen in der Konversation einhellig und deutlich aufgewertet.148 In emergenten Gemeinschaften wird unabhängig von der Strömung für Frauen in gemeindlichen Leitungspositionen eingestanden.149 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass, obwohl das Thema „Inklusion“ in der „Emerging Church“-Konversation unterschiedlich stark ausgeprägt ist, bei dem Thema Gleichstellung der Frau in der Gemeinde deutlich wird, dass dies als gemeinsames Merkmal emergenter Gemeinschaften fungiert. Es ist eine Tendenz zu sehen, das Thema „homosexuelle Partnerschaften“, ganz im Gegenteil zum konservativen Evangelikalismus, positiv zu werten. Hingegen tritt das Thema „multikulturelle Gemeinschaft“ selten in der Literatur der „Emerging Church“-Konversation auf. Es fällt auf, dass der Bedeutungshorizont „Mensch mit Behinderung“ in der Konversation gar nicht vorkommt.
9.7.6 Gemeinschaft und die Entwicklung der religiösen Orientierung In der „Emerging Church“-Konversation ist man sich darüber einig, dass Relationalität und Gemeinschaft die eine wesentliche Rolle für die Entwicklung der eigenen religiösen Orientierung spielen. In verbindlicher, überschaubarer Gemeinschaft kann Reflexion und Wachstum in der religiösen Orientierung geschehen.150 Gallagher und Newton betonen in ihrer Untersuchung einer gestartet. Die Organisatoren Doug Pagitt und Tony Jones luden 21 Rednerinnen ein, 21 Minuten über die Zukunft des Christentums zu sprechen. https://www.youtube.com/watch?v=WRwDNECR_g am 15.05.2018. 148 „Since its inception, the emergent church has offered a greater space for women than the evan�� gelical church because of its stated goals of equality, inclusiveness, new ways of looking at the Bible, and leadership with less hierarchy.“ Und weiter: „[T]here is no consensus on the roles, place, and future of women in the emerging church. Within the emergent church, complementarians and egalitarians and everything in between can be found.“ Kerr, „Women in the Emerging Church“ (2005), 158, 156. Bloggerin Elizabeth Potter ist eine der Gründerinnen, die „(f)emergent“ gegründet haben, ein Netzwerk für weibliche emergente Protagonistinnen. http://stillemerging.blogspot.de am 27.12.2016. 149 Die Begründungen dafür sind abhängig von der theologischen Tradition der emergenten Gemeinschaft oder des Protagonisten sehr verschieden. 150 McLaren etwa: „[…] but a community where you see living examples of Christlikeness and ex�perience inner formation.“ McLaren, A New Kind of Christianity (2010), 170. Marc Scrandette dazu: „If we want to believe Jesus’ message and become the kind of followers his early disciples were, we may have to shift our expectations about what spiritual education looks like – leaving the metaphor of the lecture hall to enter the ‚Jesus dojo‘. A dojo is a Japanese word mean-
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emergenten Gemeinschaft, genannt „Urban Village“: „Rather, it was in everyday relationships with others of ‚like mind‘ that participants located the source of spiritual formation. […] Honesty in authentic relationships based on shared experiences is central to this group’s conceptualization of spiritual growth.“151 Die Autoren stellen fest, dass Teilnehmende der betreffenden Gemeinschaft betonen, dass ein fehlerfreundlicher Umgang miteinander positive Auswirkungen auf ihr Verständnis von „spiritual transformation“ hat. Sie sagen: Common frailties, compassion for each other’s weaknesses, connection through sharing personal struggles, spending time talking about the sermons in small groups, with friends throughout the week, or doing service together, each figured as important dimensions of spiritual growth for participants in this group.152 Doug Pagitt ist etwa der Ansicht, dass ehrliche, intensive Beziehungen sogar der Schlüssel für eine „[…] real spiritual formation […]“153 seien.154 Er teilt Gemeinschaft in vier Bereiche auf.155 Der erste Bereich in dem Gemeinschaft erlebbar ist, ist der lokale Bereich. Dazu gehören Nachbarn, Kollegen und auch Christen. Der zweite Bereich von Gemeinschaft ist die globale Gemeinschaft ing ‚the place where you learn the way‘. Jesus once declared, ‚I am the way and the truth and the life‘ (John 14:6), implying that he is both a savior and a teacher for life – he provided the Way of God.“ Scandrette, Soul Graffiti (2007), 236. Bielo bestätigt dies, wenn er sagt: „They elevate interpersonal relationsships grounded in local Christian communities over privately held beliefs for defining ‚authentic‘ faith. To achieve their desired sense of community emerging evangelicals create structures of experience intended to foster a highly relational religiosity […].“ Bielo, „Belief, Deconversion, and Authenticity Among U.S. Emerging Evangelicals“ (2012), 258. In einer solchen Gemeinschaft sind Intimität, Integrität und ein bewusst begrenzter Fokus Schlüsselfaktoren. Vgl. Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 192. Die Rolle der Gemeinschaft wird ebenso in der Untersuchung von Gallagher und Newton hervorgehoben. Sie sagen, dass in der von ihnen untersuchten emergenten Gemeinschaft „spi� ritual growth“ als „relationships, reflection, maturity“ besprochen werden. Gallagher / Newton, „Defining Spiritual Growth“ (2009), 248–250. Sie sagen weiter: „The cultivation of spiritual growth for the Urban Village discussion group focused on growing through relationships and in dialogue with others. Individuals in this group placed somewhat less emphasis on what happens Sunday morning as a source of spiritual growth than people in other congregations.“ A. a. O., 253. 151 A. a. O. 152 A. a. O. Die Autoren kommen zu folgendem Schluss: „At the Urban Village emerging church, a consensus around spiritual growth centered on relationships with God, family, and friends within the church and the broader community. Authenticity in each of these areas was both a means of spiritual growth and its end. To be mature in this congregation was to cultivate deep and meaningful relationships with trusted others in much the same way as in a personal and authentic relationship with God.“ A. a. O., 258. 153 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 52. 154 „Community as a means of spiritual formation serves to immerse people in the Christian way of living so that they learn how to be Christian in a life-long process of discovery and change.“ Pagitt, Church Re-Imagined (2005), 25. 155 A. a. O.
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und umfasst die weltweite Christenheit. Den dritten Bereich von Gemeinschaft bezeichnet er als historische Gemeinschaft. Darunter versteht Pagitt das Lernen durch Stärken und Fehler von Christen aus der Vergangenheit. Als vierten Bereich von Gemeinschaft nennt Pagitt den Bereich der zukünftigen Gemeinschaft. So müsse man in die zukünftige Generation investieren und sich dessen bewusst sein, dass sie einmal das Erbe der jetzigen Generation antrete. Laut Pagitt brauche es alle vier Bereiche, die als Dimensionen dienen. Es brauche den lokalen Bezug, den globalen Bezug, Verbindung zur Vergangenheit und zur Zukunft. Emergente Gemeinschaften wollen diese Gemeinschaft ermöglichen, indem sie sich in lokalen Bezügen verorten, aber durch die technischen Möglichkeiten im Internet auch Anschluss an die weltweiten Christen halten. Drittens werden unterschiedliche Traditionen im gottesdienstlichen Handeln aufgegriffen („ancient-worship“). Viertens wird Gemeinschaft für morgen erlebbar durch die Verantwortungsübernahme für relevante gesellschaftliche Themen. Was Pagitt und andere emergente Protagonisten formulieren, ist, dass Gemeinschaft nicht nur Ort spiritueller Praxis ist, sondern auch an sich spirituelle Praxis sein kann. Der Umgang miteinander, Beziehungsorientierung und Gemeinschaftsbildung werden als geistliche Übung gewürdigt.156 Für Pagitt gestaltet sich christliches Leben und Nachfolge in der konkreten Gemeinschaft. Damit sind die konkreten Lebensvollzüge und die christlichen Gemeinschaften in dieser Welt gemeint.157 Pagitt spricht davon, dass die Gemeinschaft der Ort sei, in der „contextual understanding“ geschieht. In der Gemeinschaft wird religiöse Orientierung durch den Heiligen Geist im Dialog mit anderen entdeckt.158 Pagitts vier Dimensionen der Gemeinschaft machen deutlich, dass es ihm nicht nur um eine wertschätzende Haltung der Gemeinschaft gegenüber geht, sondern auch um eine Überwindung der Grenzen zwischen kirchlicher und weltlicher Gemeinschaft.159
156 Todd Hunter etwa beschreibt die Betonung der Kirche als spirituelle Praxis: „What I needed was an affirmative way to reengage the spiritual practice of church.“ Hunter / McKnight, Giv�ing Church Another Chance (2010), xvii. 157 Pagitt, „The Emerging Church and Embodied Theology“ (2007), 126. 158 A. a. O., 125. 159 An dieser Stelle wird ein Merkmal der Konversation deutlich, nämlich die Überwindung einer Unterteilung in profan und sakral. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 10.2.3.7 Aufheben eines Dualismus von profan und sakral.
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9.7.7 Gemeinschaft als „Evangelium“ In der „Emerging Church“-Konversation wird darüber diskutiert, dass Gemeinschaft unter postmodernen Bedingungen erfordere, dass das Evangelium nicht mehr nur verbal verkündet wird, sondern hauptsächlich verkörpert wird.160 Doug Pagitt etwa formuliert einen Anspruch, den emergente Gemeinschaften für sich haben: „It is through living as a community that emerging churches practice the way of Jesus in all realms of culture.“161 In der „Emerging Church“-Konversation verschiebt sich der Schwerpunkt von „darüber sprechen“ und „sagen“, hin zu „zeigen“ und „tun“. Es wird die Meinung geteilt, dass Sprache in der Postmoderne eingeschränkt und begrenzt ist und darum wortlastigen Gottesdiensten und monologartigen Predigten nur mehr wenig zuzutrauen ist.162 Dabei spielt die emergente Gemeinschaft eine wesentliche Rolle darin das Evangelium zu verkörpern.163 Emergente Protagonisten begründen ihre Sicht auf die Gemeinschaft mit zwei Erkenntnissen: Zum einen wird eine Wende von der Moderne zur Postmoderne ausgemacht, die eine Wende in der Kommunikation des Evangeliums erfordere. Es wird gefordert: von verbalisierten, „dargestellten“, vorgetragenen Inhalten hin zu visualisierten und verkörperten Inhalten. Zum anderen wird in der Konversation stellenweise zum Ausdruck gebracht, dass in den von emergen-
160 So etwa bei Anderson, der davon spricht, dass das „Reich Gottes“ im Leben der Gemeinschaft ausgedrückt und verkündet werden soll. Anderson, An Emergent Theology for Emerging Churches (2006), 99. Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 121. An dieser Stelle wird in der Konversation dem Rechnung getragen, dass eine integralere Verbindung von Gefühlen und Verstand oder von Wort und Tat gefordert wird. Diese Diskussion ist der Konversation voraus und geht auch darüber hinaus, wie Frost zeigt. 2014 veröffentlichte Michael Frost das Buch „Incarnate“, in dem er beklagt, dass es in den letzten Jahrhunderten in Gesellschaft und Kirche zu einer „Exkarnation“, einer Trennung von Verstand und Gefühlen gekommen sei und dies zu einem „disembodiment of christian faith“ geführt habe. Frost, Incarnate (2014). Gibbs pointiert: „You don’t go to church, you are the church.“ Gibbs, ChurchMorph (2009), 203. Dies wird wie Bohannon feststellt, neutestamentlich begründet: „The communal life�style of the emerging church reflects a kingdom first ecclesiology with the church’s mission to prepare the way of actualize the kingdom in the here and now.“ Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 35. Der Begriff „church“ wird mit Familie oder Gruppe beschrieben. 161 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 115. Vgl. auch Pagitt, Church Re-Imagined (2005), 25–29. 162 Emergente Protagonisten suchen deswegen neben der Verkörperung nach visuellen, multisensorischen, handlungsorientierten, partizipativen Ausdrucksformen. 163 „The church exists as a community, servant, and message of the reign of God in the midst of other kingdoms, communities, and powers that attempt to shape our understanding of reality.“ McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 110. Brian McLaren beschreibt die Kirche als Dienerin und Apostelin für die Welt.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
ten Protagonisten vormalig erlebten Frömmigkeitstraditionen eine Diskrepanz zwischen Worten und Taten der Prediger,164 Leiter und der Gemeinschaft erlebt wurde.165 In diesem Zusammenhang wird eine fehlende Integrität angeklagt.
9.7.8 Gemeinschaft und ihr missionarisches Wesen Emergente Gemeinschaften wollen missionarische Gemeinschaften sein.166 Damit ist zunächst lediglich gemeint: Sie verstehen ihre Gemeinschaft und ihr Handeln in Bezug auf die Welt. „Our lives will outreach better than anything we can say […]“, so Dan Kimball.167 Emergente Gemeinschaften betonen Mission und Evangelisation durch Verkörperung des Evangeliums und reihen besonders in der dritten historischen Phase, speziell in der „revisionist“Srömung, verkündigende Aspekte von Mission und Evangelisation hinten an. Außerdem wird ein weites Verständnis von Mission im Sinne einer Ausrichtung für das Wohl der Welt betont. Peter Rollins meint im Zusammenhang mit der „Ikon“-Gemeinschaft über Mission: „It follows that the best form of mission is living out a model of loving community that is so compelling that others cannot help but be attracted to it.“168 Emergente Protagonisten verstehen ihr Leben als Christen als Sendung, die in der lokalen oder virtuellen Gemeinschaft verwirklicht wird.169 Emergente Protagonisten betonen damit besonders den impliziten missionarischen Charakter ihrer Gemeinschaft. Damit können emergente Gemeinschaften durch die Art und Weise, wie sie ihre Beziehungen gestalten,
164 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 1.4.1 Evangelikalismus. 165 Packard beschreibt Rob Bells Krise in seiner religiösen Biografie detailreich. Bell sagt dazu: „My experience, I had seen people talking about the gospel, preaching the gospel, being true to the gospel, and it sucked.“ Packard, The Emerging Church (2012), 130. 166 In der dritten historischen Phase ist besonders dieses Merkmal in den Hintergrund gerückt, obwohl es vormals noch deutlich von „relevants“ vertreten und von „revisionists“ dekonstru�iert wurde. 167 Weiter: „Emerging churches do not need to motivate their members to reach out to those who have different beliefs. That is where they live.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 122. 168 Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement“ (2014), 42. 169 Battenberg betont diese missionarische Haltung für die Anfangszeit der Konversation, besonders für die „relevant“-Strömung, hinsichtlich ihres Verständnisses des Heiligen Geistes, wenn er sagt: „Das Wirken des Heiligen Geistes, das sich stark missionarisch äußert, kommt […] in herausfordernder Weise zum Tragen. Der Wille, das ganze Leben als missionarische Sendung zu verstehen und die Rolle der Gemeinschaft als einer missionarischen Gemeinschaft, die durch ihre liebende Gemeinschaft – Zeugnis von Jesus ablegt, sind wichtige Aspekte des Wirkens des Heiligen Geistes in der Gemeinde.“ Battenberg, „Amtskirche, Geistkirche und Emerging Church“, 57.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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missionarische Ausstrahlungskraft gewinnen.170 Eine andere Form der Verkörperung der Mission heißt für emergente Gemeinschaften soziales Engagement.171 Damit reagieren emergente Protagonisten auf Konzepte von Mission und Evangelisation im US-amerikanischen und englischen Raum, die an Großveranstaltungen172 und einer Reduktion auf gottesdienstliche Veranstaltungen orientiert sind.173
9.7.9 Gemeinschaft als Abbild der Trinität In der „Emerging Church“-Konversation ist eine Wiederentdeckung der Trintitätslehre und eine Bezugnahme damit verbundene Vorstellungen und Motive zu erkennen.174 In der „Emerging Church“-Konversation wird dabei häufig auf das Motiv des „perichoretischen Tanzes“ der Trinität Bezug genommen. Damit wird ein Motiv aus der Alten Kirche aufgenommen, welches die Wechselbeziehung der Heiligen Dreieinigkeit als Tanz und damit als Bewegung und Ereignis darstellt.175 Einerseits wird mit diesem Bild ein Ideal christlicher Gemeinschaft, wie es viele in der „Emerging Church“-Konversation für die Kirche anstreben,
170 Das ist laut Rollins und anderen bereits ein Kontrastmodell zur Gesellschaft, erschöpft jedoch den Gemeinschaftsbegriff nicht. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 9.7.8 Gemeinschaft und ihr missionarisches Wesen. 171 Vgl. Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 52. 172 Damit sind im Evangelikalismus bekannte Evangelisations-Veranstaltungen („rallies“ oder auch „crusades“) gemeint. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 1.4.1 Evangelikalismus. 173 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 1.4.2 Der „Megachurch“-Ansatz. 174 Die „Emerging Church“-Konversation wird aufgrund dieser Tatsache häufig mit Jürgen Molt�manns Ansätzen ins Gespräch gebracht. Siehe dazu Oden, „An Emerging Pneumatology“ (2009). Oder auch Jones, The Relational Ecclesiology of the Emerging Church Movement in Practical Theological Perspective (2011), 124–158. Mit der Bezugnahme auf die Trinitätslehre findet sich die „Emerging Church“-Konversation in einer aktuellen theologischen Debatte wieder. Holger Eschmann spricht etwa seit Ende der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts von einer Wiederentdeckung der Trinitätslehre für die praktisch-theologische Disziplin. Erstens ist auf den starken Einfluss der trinitätstheologischen Überlegungen von Karl Barth und Karl Rahner hinzweisen. Zweitens kommen wichtige Impulse aus der weltweiten ökumenischen Bewegung (und die Folgerungen aus einem relationalen Gottesverständnis für die christliche Anthropologie und Ekklesiologie). Drittens ist ein Interesse an der Trinitätslehre aufgrund der gesellschaftlichen Umbrüche in der westlichen Welt zu verorten. Eschmann, Theologie der Seelsorge (2000), 27–50. 175 Andrei Rublevs Gemälde „Die Heilige Dreieinigkeit“ ist ein oft gebloggtes und viel zitiertes Modell eines trinitarischen Verständnisses von Kirche in der „Emerging Church“-Konversa� tion. Siehe beispielhaft dazu Karen Wards Aussagen in Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 176. Tickle, Emergence Christianity (2012), 172–173.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
dargestellt.176 Betont wird dabei das mystische Ineinandergreifen der einzelnen Personen der Dreieinigkeit. Die gemeinschaftliche, nicht-hierarchische, einander nicht-dominierende trinitarische Natur Gottes soll in emergenten Gemeinschaften nachgeahmt werden. Daraus sollen Beziehungen entstehen, die organisch, spontan und dynamisch sind.177 Andererseits soll emergente Gemeinschaft an der Gemeinschaft in der Dreieinigkeit partizipieren. Protagonisten in der „Emerging Church“-Konversation geht es um eine Partizipation an diesem trinitarischen Geschehen, das schließlich christliche Gemeinschaft und damit Kirche konstituiert.178 In der „Emerging Church“-Konversation wird eine solche Partizipation beispielsweise durch soziales und politisches Engagement verstanden.
9.7.10 Gemeinschaft als hermeneutische Autorität Für emergente Protagonisten liegt Autorität beim Ich und in der Gemeinschaft. Gemeinschaften haben die Aufgabe, das Evangelium zu interpretieren, zu reflektieren und christliches Leben zu „probieren“.179 Die Gemeinschaft wird damit zu einem hermeneutischen Schlüssel, wie christlicher Glaube verstanden und ausgeübt wird.180 Gemeinschaften entwickeln ihr eigenes Bibelverständnis, entwickeln spirituelle Praktiken und eigene Ausdrucksformen des Glau176 Ian Mobsby dazu: „The words Holy Spirit, Incarnation, the Godhead trinity as community, we always take that extremely seriously […] If you want to get even deeper in this whole place it is basically our way of putting ourselves into the Rublev’s icon of the whole church – it models what we as community should be to reflect the Godhead.“ Mobsby, Emerging and Fresh Expressions of Church (2007), 51. Siehe auch Doornenbal, Crossroads (2012), 62. 177 Karen Ward schreibt über das Ideal emergenter Gemeinschaft: „[…] but that even here on earth and in small ways, we can mimic God’s divinity as we begin to live ‚in God‘ and pattern our lives after God’s ways.“ Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 175. Oder auch: Webber spricht davon, dass diese emergenten Christen in einer gewissen Form die von ihnen erwartete neue Schöpfung repräsentieren. „They live and act as a witness to the overthrow of evil, to the kingdom that is to come and thus point to the vision of a new heaven and a new earth where God’s shalom will rest over the whole world.“ Webber, The Younger Evangelicals (2002), 118. 178 Pete Ward argumentiert, dass ein trinitarisches Verständnis der Kirche mehr Flexibilität in der Struktur der Kirche erlaube, da situativ und punktuell entschieden werden könne. Ward, Liquid Church (2002), 54. 179 Siehe Wells, The Courage to be Protestant (2008), 17. 180 Dabei muss sicherlich innerhalb der „Emerging Church“-Konversation differenziert werden. Während „relevants“ noch stark in ihrer Herkunftstradition und damit auch Hermeneutik und ihrer Sicht von der Autorität der Heiligen Schrift beheimatet sind, verstehen „revisionists“ das Individuum und die Gemeinschaft als alleinige Träger der Autorität.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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bens.181 Gemeinschaftliche Entscheidungen, wie etwa Fragen um den Gottesdienst, werden durch das gemeinsame Gespräch („conversation“) getroffen.182 Partizipative Entscheidungen werden bevorzugt.183
9.7.11 Gemeinschaft als Ort eines kooperativen Egoismus – Emergente Vergemeinschaftung und Individualität Emergente Gemeinschaften sind Orte, an denen der Individualität der Partizipienten Raum gegeben wird.184 In der „Emerging Church“-Konversation kommt ein für die Postmoderne markantes Kennzeichen des Individualismus vor,185 nämlich der Aspekt, dass religiöse Identität individuell ausgebildet und verantwortet wird.186 Dabei wird Individualität als eigenverantwortlicher Glaube gedeutet. Emergente Protagonisten bedienen sich bei christlichen und außerchristlichen Traditionen und Ausdrucksformen, um ihre religiöse Orientierung auszubilden. Individualität wird beispielsweise in Form einer moralischen Individualität187 oder hermeneutischen Individualität188 deutlich. Dabei wird unter anderem 181 Dies geschieht zum Leidwesen der evangelikalen Theologie, wo die Autorität in der Heiligen Schrift verortet wird. Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 178. 182 Mary Gray-Reeves und Michael Perham besprechen dieses Vorgehen etwa in Kapitel drei ihres Buch mit dem Titel „Authority is a conversation“. Gray-Reeves / Perham, The Hospitality of God (2011). 183 Grenzen solcher Prozesse in emergenten Gemeinschaften, die in Denominationen beheimatet sind, werden beispielsweise durch das Amtsverständnis deutlich. Dort wird zwar auch basierend auf dem Priestertum aller Gläubigen ähnlich verfahren, doch werden Amt und Ordnung nicht aufgelöst. 184 Thumma ist zuzustimmen, wenn er sagt: „From the perspective of the congregation, however, the various emerging church forms seem radically open to individualistic interpretation […].“ Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 193. Auch Ganiel und Marti folgern: „Indi�viduals, rather than God or religious institutions, are now assumed to have ultimate responsibility to choose how to think and act.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 47. 185 Ein Interviewteilnehmer sagt dazu: „It’s a place where I can be comfortable being imperfect.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 52. 186 „Nevertheless, contemporary Americans have the institutional freedom to shape their religi��ous beliefs, worship expierences, and organizational forms to their personal tastes and cultural norms and values.“ Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 189. Soong-Chan Rah umschreibt den Individualisimus als „me, myself and I: the unholy trinity of western philoso� phy“. Rah, The Next Evangelicalism (2009), 5. Ostwalt, Secular Steeples (2012), Kapitel 12. 187 Siehe dazu Jamieson, „Post-church groups and their place as emergent forms of church“ (2006), 69. 188 Thumma ist zuzustimmen, wenn er sagt: „From the perspective of the congregation, however, the various emerging church forms seem radically open to individualistic interpretation […].“
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
die intellektuelle Freiheit und intellektuelle Unverbindlichkeit in emergenten Gemeinschaften sehr geschätzt.189 Es gibt zwar Stimmen, die der Individualität in emergenten Gemeinschaften absagen und sie unter das Wohl der Gemeinschaft stellen190, es ist jedoch zu beobachten, dass dies besonders seit der dritten historischen Phase und dem dominanten Auftreten der „revisionists“ in den Hintergrund gerückt ist. Emergente Protagonisten wenden sich einerseits in ihrer Betonung hoher Eigenverantwortlichkeit gegen vormalige Erfahrungen, in denen christliche Gemeinschaften das vermeintliche Konsumbedürfnis der Besucher erfüllt haben. Andererseits wird auch die Meinung vertreten, dass religiöse Organisationen den Einzelnen bei der Erfüllung der eigenen Berufung hindern. Ein emergenter Protagonist meint: „Rather than responding to the call of God on their life directly, individuals often find themselves responding to the call of the church.“191 Individualität wird als Heilmittel für einen eigenverantwortlichen, von Autoritäten und damit vorgegebenen Sicherheiten losgelösten, Glauben verstanden.192 Außerdem führen der Wunsch nach Eigenverantwortlichkeit und Individualität an den Rand des organisierten religiösen Feldes und in das unorganisierte religiöse Feld.193 Auf den Zusammenhang von Individualität und den (mehrfachen) Wechsel religiöser Orientierung sei an dieser Stelle nur kurz hingewiesen.194 Diese Facetten der Individualität werden in der „Emerging Church“-Konversation eingebracht und werden in Verbindung mit dem Gemeinschafts-BedürfThumma, „The Shape of Things to Come. Megachurches, Emerging Churches, and Other New Religious Structures“ (2006), 193. 189 Ein emergenter Protagonist dazu: „In every other church I’ve been to is this attitude that the preacher has of knowing it all and this is the way it is, and these are the three points that you need to remember.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 91. 190 Tony Jones: „Emergents find the biblical call to community more compelling than the demo�crating call to individual rights. The challenge lies in being faithful to both ideals.“ Jones, The New Christians (2008), 81. 191 Sachs / Bos, A Church Beyond Belief (2014), 21. 192 So auch Kester Brewin, der meint, dass man in der Gesellschaft so leben müsse, als ob Gott „tot“ wäre. Er will damit mit der Vorstellung brechen, dass Gott als kosmischer Zauberer für Menschen handelt. Brewin, After Magic (2013), 81. Oder auch Ganiel und Marti, die feststellen: „Individu� als, rather than God or religious institutions, are now assumed to have ultimate responsibility to choose how to think and act.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 47. 193 Ganiel und Marti sagen dazu: „The Emerging Church is full of people who have chosen to remake corporate religion into what they want rather than giving up on it completely.“ Ga�niel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 44. 194 Heinz Streib formuliert im Rahmen seiner Dekonversionsdefinition, dass Individualisierung ein Katalysator für Dekonversion ist: „[…] as consequences of modern developments and thus provides an explanation for an increased readiness for deconversion in our times.“ Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004), 190.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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nis und -Ideal gesetzt. Daraus resultieren emergente Gemeinschaften, die ihre Gemeinschaft als kooperativen Egoismus gestalten.195 Damit ist gemeint, dass ein Raum ermöglicht wird, wo Individualität und Option einerseits und Intimität andererseits in Balance gehalten werden wollen.196
9.7.12 Gemeinschaft als „communitas“ Im Folgenden soll die Rezeption des Begriffs „communitas“ in der Konversation, ein von dem Ethnologen Victor Turner entwickelter Begriff, veranschaulicht werden. Die Darstellung konzentriert sich auf die Rezeption durch Alan Hirsch und Michael Frost, die in der zweiten historischen Phase bedeutende Protagonisten der „relevant“-Strömung waren.197 Hirsch und Frost positionieren ihr Verständnis von Gemeinschaft als „communitas“ als Kritik an dem für sie (vornehmlich evangelikalen) Gemeinschafts- und Kirchenbegriff.198 Sie kritisieren, 195 Der Begriff „kooperativer Egoismus“ geht auf den Soziologen Ulrich Beck zurück. Ulrich Beck beschreibt die Spannung von Individualität und Gemeinschaftlichkeit als „cooperative egoism“. Die Religionssoziologen Ganiel und Marti greifen diesen Begriff für die „Emerging Church“ auf. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 42. Josh Packard betont den� selben Umstand und erklärt die Dynamik von hohem Individualismus und verbindlichem Gemeinschaftssinn mit dem Beispiel des Gyroskops. Das Gyroskop ist ein Kreiselinstrument, das durch einen Drehimpuls, im Kontext der Konversation durch Individualismus und Gemeinschaftssinn, vorangetrieben wird. Packard, The Emerging Church (2012), 159–161. 196 „Emerging congregations therefore strike an apparently contradictory balance as they create religious communities in which the autonomy of the individual is held as a core value in the very midst of an often stated emphasis on relationships and community.“ Rah, The Next Evan� gelicalism (2009), 28. Die Autoren Ganiel und Marti beschreiben die beobachteten Gemeinschaften als: „Emer� ging Christians maintain a modern (or postmodern) religious orientation by participating in highly open relational spaces that welcome self-asserting, critically reflective attitudes toward ‚religion‘ while striving for a holistic sense of self that is consistent with their everyday lives.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 35. Folgende Aussage eines emergenten Interviewteilnehmenden bringt es auf den Punkt: „It’s a place where my faith can grow, but nobody’s telling me what to believe.“ A. a. O., 187. Ganiel und Marti stellen fest: „[…] Emerging Christians see their congregations as places that affirm their own identities.“ A. a. O., 55–56. 197 Alan Hirsch und Michael Frost, emergente Protagonisten in der frühen Phase der Konversation, die sich gegen Ende der zweiten historischen Phase von der Konversation getrennt haben, nehmen ausführlich zum „Communitas“- und Liminalitäts-Begriff Stellung. Frost / Hirsch, The Faith of Leap (2011). Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 217–241. Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 222–224. Frost, Exiles (2006), 108–125. 198 Ebenso McLaren, der meint: „[…] community can become a commodity one seeks to acquire or experience by attending a church that talks a lot about it.“ McLaren / Haselmayer u. a., A is for Abductive (2003), 183.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
dass evangelikale Gruppen und Gemeinschaften mit einer nach innen fokussierten christlichen Sozialität, religiöser Konsumorientierung und niedrigen kulturellen Barrieren zur Kommunikation des Evangeliums einen verfälschten Eindruck von „Kirche“ vermittelten – eben jene Faktoren, die in dem „Megachurch“-Ansatz als positiv und produktiv genannt werden. Sie argumentieren, dass diese den „authentic gospel values“199 widersprächen. In diesen Vergemeinschaftungen diene die Gemeinschaft den Bedürfnissen Einzelner, womit die missionarische Orientierung verloren gehe (deshalb der Begriff „emerging missional church“). Hirsch kritisiert, dass christliche Gemeinschaften durch den Prozess der Institutionalisierung eine wahre „communitas“ verloren hätten und damit ihrem Wesen und ihrem Auftrag untreu geworden seien.200 Für emergente Gemeinschaften konstatiert er einen dynamischen Gemeinschaftsbegriff und beruft sich dabei auf Victor Turners „communitas“-Begriff. Hirsch greift auf Turners Verständnis zurück, wenn er sagt: Communitas […] happens in situations where individuals are driven to find each other through a common experience of ordeal, humbling, transition, and marginalization […] Communitas is therefore always linked with the experience of liminality. It involves adventure and movement and it describes that unique experience of togetherness that only really happens among a group of people inspired by the vision of a better world who actually attempt to do something about it.201
„Communitas“ ist für Hirsch eine bewegte, aufbrechende, missionarische Gemeinschaft, die auf der Suche nach gemeinsamem Erleben ist. Weiter ist „communitas“ ein „Geschehen“, das Personen verbindet, die Schwellenphasen durchleben und Grenzerfahrungen machen.202 Die Schwellenphase, die für individuelles und gemeindliches Handeln erlebt werde, sehen die Autoren Hirsch und Frost in der Postmoderne und dem „post-christendom“. „Communitas“ ist 199 Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 219. 200 Hirsch definiert Institutionalisierung wie folgt: „Over time the centralized structure tends to become depersonalized and becomes restrictive of deciating behavior and freedom. In other words, it occurs when in the name of some convenience we get others to do what we must do ourselves. When this happens there is a transfer of responsibility and power / authority to the governing body. In this situation it inevitably becomes a locus of power that uses some of that power to sanction behaviors of its members who are out of keeping with the institution. It becomes a power to itself and begins to assert a kind of restrictive authority on nonconforming behaviors. The problem exaggerates when over time power is entrenched in the institution and it creates a culture of restraint. […] When institutions get to this point, they are extremely hard to change. […] Seen in this light, all great innovators and thinkers are rebels against institutionalism.“ A. a. O., 282. 201 A. a. O., 221. 202 A. a. O., 222–227.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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für sie nicht nur biblisch verantwortet, sondern auch an posttraditionale Vergemeinschaftungen anschlussfähig und damit erstrebenswert. So formuliert Hirsch für Christen die Herausforderung, sich als Gemeinden und Kirche im Modus einer „communitas“ zu verstehen und sich damit wieder den vermeintlich „ursprünglichen“ Formen urchristlicher Kirche zu nähern.203 Emergente Protagonisten, die dies täten, beschreibt der Frost als „exiles“-Personen, die im Niemandsland leben.204
9.7.13 Gemeinschaft und Leitung 9.7.13.1 Gemeinschaftliches Leiten In der „Emerging Church“-Konversation ist Leiten und Führen ein wesentliches Thema.205 Besonders Protagonisten der „reconstructionist“- und „revisionist“Strömung lehnen stark hierarchische Leitungsstrukturen als „dehumanisierend“206 und mechanistisch ab.207 Dabei wird oft Bezug genommen auf Leitung in „Seeker-
203 A. a. O., 222. 204 Für Frost sind „exiles“: „Exiles have figured out that churches don’t value people who won’t turn up for every meeting, attend ever event, and locate all their significant friendships within the congregation. They have decided to slip away from the ever-spiraling vortex of so-called Christian fellowship. It sucks you in, demanding everything of you, leaving you completely socially disconnected from your neighbors, your community.“ Frost, Exiles (2006), 63. 205 Teusner dazu: „The authority of religious offices, institutions and personalities is a major focus of debate in the emerging church.“ Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 174. So auch: Doornenbal, Crossroads (2012), 39–40. Phillis Tickle etwa meint, dass Bewegungen oder Erneuerungen, wie die „Emerging Church“-Konversation eine ist, angestoßen werden, weil sie sich in irgendeiner Form von der erlebten Autorität distanzieren wollen. Mit der Frage nach Autorität und Macht ist die Frage nach Leitung gestellt. Siehe dazu Fuller / Sanders, „Phyl� lis Tickle on the Great Emergence“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) am 03.06.2015; Fuller / Sanders, „Phyllis Tickle on The Great Emergence [Barrel Aged]“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 02.06.2015, https://homebrewedchristianity.com/2015/06/02/phyllistickle-on-the-great-emergence-barrel-aged/ am 28.12.2016. McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 158–160. 206 Dieser Begriff wird besonders von Jason Clark verwendet. Clark, „Via media“ (DMin, George Fox Evangelical Seminary, 2006), 104. 207 Carl Raschke weist darauf hin, dass Brian McLaren und sein Leitungsverständnis in der Nachfolge der radikalen Reformation gesehen werden kann. „The Anabaptists reject all learning and clerical training as a condition of spiritual authority, which is characteristic of the emerging movement as it gathers steam.“ Merritt: „Theologian says Jesus was a ‚Trickster‘ – But It’s Not as Offensive as You Think “, http://jonathanmerritt.religionnews.com/2015/01/28/theologiansays-jesus-trickster-not-offensive-think/ am 28.01.2015.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
sensitive“-Ansätzen, in „Megachurches“ oder auf andere hierarchische Leitungsmodelle etwa in den „mainline“-Traditionen, die als Negativfolie dienen.208 Es fällt auf, dass in der Konversation gemeinschaftliches und dezentrales Leiten und Führen präferiert werden.209 Theologisch beziehen sich Protagonisten dabei auf die Hierarchielosigkeit der Trinität und die Charismen-Kataloge im Neuen Testament.210 Konkret wird dezentrales Leiten und Führen insofern verwirklicht, als Leitungsaufgaben gemeinschaftlich aufgeteilt werden sollen und durch Konsens organisiert werden.211 Es soll auf Partizipation bei der Entscheidungsfindung und Entscheidungsdurchführung geachtet werden.212 In der „Emerging Church“-Konversation ist die Rücksichtnahme auf die Begabung und die Berufung Einzelner wichtig. Es wird betont, dass der innere Ruf eine wesentliche
208 Es findet sich eine Bandbreite von Schattierungen einer ablehnenden Haltung hierarchischen Formen gegenüber. Eine besonders radikale Ausdrucksform sind emergente Gemeinschaften, die sich als „leitungsfreier Raum“ verstehen. McLaren fasst seine Kritik an „moderner“ Leitung unter folgenden zehn Begriffe zusammen. Er verwendet dafür zehn Metaphern, die als Kritik dienen. „The leader as: 1. Bible analyst: Cognitive knowledge is power. 2. Broadcaster: Leadership is about a powerful and dynamic presentation of truth. 3. Objective technician: The church is a machine, and the leader is the engineer of the mechanism. 4. Warrior / Salesman: Modern leadership is about conquest, ‚winning souls‘ and crusades. 5. Careerist: Leadership performance enhances a career within the structure of the church. 6. Problem-solver: The church is a mechanism and people are parts to be fixed. 7. Apologist: Leadership provides certainty for people with doubts and questions. 8. Threat: The use of discipline and exclusion motivates people through fear. 9. Knower: The exhibition of supreme confidence by the leader over and against less mature Christians. 10. Solo act: The top of the leadership hierarchy used by one leader who controls the system and structure.“ http://www.emergentvillage.com/downloads/resources/mclaren/DorothyonLeadership.pdf am 08.06.2005. 209 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 109–115. Es muss erwähnt werden, dass nicht alle emergenten Gemeinschaften gemeinschaftliche Leitung ausüben, sondern durchaus vorhandene Leitungsmodelle übernehmen und diese beispielsweise partizipativ gestalten. 210 A. a. O., 194. Oder auch bei Hertig, „Fool’s Gold. Paul’s Inverted Approach to Church Hierarchy (1 Corinthians 4), with Emerging Church Implications“ (2007). Hertig untersucht den Begriff „fool“ („Narr“) und argumentiert für eine Hierarchielosigkeit emergenter Gemeinschaften. 211 Viele emergente Protagonisten erzählen davon, dass sie in ihren vormaligen Gemeinschaften nicht mitbestimmen und mitgestalten konnten. Ganiel und Marti beleuchten die Wichtigkeit von Partizipation unter dem Gesichtspunkt möglicher negativer Erfahrungen emergenter Protagonisten: „This participatory ideal is important for people who feel that they have been overlooked or abused in previous congregations.“ Ganiel / Marti, „Northern Ireland, America and the Emerging Church Movement“ (2014), 37. 212 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 193–194.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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Rolle bei Leitungsaufgaben spielen soll. Diese Betonung geschieht zuweilen als Kritik an hierarchisch verfassten Gemeinschaften, in denen Ämter und Positionen vermeintlich nur pragmatisch „besetzt“ werden.213 Wie werden nun Entscheidungen getroffen? Autorität wird dabei von der Gruppe zugewiesen, um die wahrgenommenen Bedürfnisse zu stillen und nicht in Anlehnung an etablierte Autoritätsstrukturen.214 Die prinzipielle Haltung eines „Gesprächs“, die sich in vielen Bereichen der „Emerging Church“-Konversation widerspiegelt, wird auch hier vorausgesetzt. Dort, wo ein Hauptamtlicher tätig ist, wird der Pastor zum „broker of conversation“215. Beispielhaft soll auf Doug Pagitts Verständnis von Leiten und Führen eingegangen werden. Doug Pagitt entfaltet sein Konzept aus seinem Predigtverständnis, welches er als „progressional dialogue“ beschreibt. Damit meint er einen fortlaufenden Dialog der versammelten Gemeinschaft zu einem vorgeschlagenen Thema. Er versteht unter „progressional dialogue“: „[it] involves the intentional interplay of multiple viewpoints that leads to unexpected and unforeseen ideas. The message will change depending on who is present and who says what. This kind of preaching is dynamic in the sense that the outcome is determined on the spot by the participants.“216 Verschiedene Ansichten werden geteilt und führen zu einem unvorhergesehenen, vorläufigen Ergebnis. Damit sind alle Teilnehmenden des Gottesdienstes aufgerufen, an der Predigt mitzuwirken. Für Pagitt hat der Pastor nicht die alleinige Berechtigung, Glaubensfragen zu erörtern.217 Der Autor meint das Priestertum aller Gläubigen und die paulinische Charismenlehre radikal umzusetzen.218 Für ihn gilt: „The people of God, in communion with the Bible and the Holy Spirit, have the truth of God within them.“219 Für Pagitt ist die Gemeinschaft der Ort, an dem Gott wohnt.220 So wie Pagitt das Predigtamt zugunsten der Gemeinschaft auflöst, löst er alle etablierten Ämter in der christlichen Gemeinschaft zugunsten der Charismen und pragmatischer Entscheidungen auf. 213 Teusner stellt in seiner Untersuchung emergenter Blogs fest, dass im Online-Diskurs eine hierarchielose Leitung angelegt ist. Er sagt: „A blogger cannot present him or herself as a leader or official in the emerging church, without being called into question by the network of bloggers. Emerging church bloggers have, therefore, a lot of freedom to discern and debate by what criteria people can claim such capital.“ Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 72. 214 Tickle, Emergence Christianity (2012), 121. 215 Jones, The New Christians (2008), 184. 216 Pagitt, Preaching Re-Imagined (2005), 52. 217 A. a. O., 134. 218 A. a. O., 138. 219 A. a. O., 139. 220 Für Pagitt spielen die Bekenntnisse der Kirche eine untergeordnete Rolle. Er versteht die verfassten Bekenntnisse in der Tradition der Kirche als in ihren damaligen Kontexten sinnvolle Formulierungen, die heute nicht „restarted“ werden sollen, sondern neu formuliert werden müssten. Siehe dazu Pagitt, „The Emerging Church and Embodied Theology“ (2007), 127.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
Ein anderes Modell, welches unter gemeinschaftlicher Leitung in der „Emerging Church“-Konversation vorkommt, ist Leiten durch Teams, was später vorgestellt wird.
9.7.13.2 Dezentrale Leitung Eine Metapher, die in der „Emerging Church“-Konversation für Leiten vorkommt, ist jene von „the starfish and the spider“221. Dabei wird auf den Ansatz der Ökonomen Brafman und Beckstrom verwiesen, die dezentrale Organisationen wie Wikipedia, Grokster und YouTube untersucht haben. Diese Organisationen sind dezentral strukturiert, d. h. Menschen können beispielsweise ohne zentrale Redaktion einen Wikipedia-Artikel oder ein Video veröffentlichen. Ein zentralistisch organisiertes Unternehmen ist etwa Encyclopedia Britannica, das in einer möglichst vollständigen Veröffentlichung alles gesammelte Wissen mithilfe des Projektteams veröffentlicht. Der Seestern222 steht dabei für ein dezentrales Leitungs- und Organisationsmodell, wie es in der emergenten Diskussion für Kirche vorgeschlagen wird. Kirche als Gemeinschaft soll sich wie eine Zelle unabhängig von anderen Zellen organisieren und verantworten können.223 Prinzipien der Dezentralisierung, von denen die Konversation profitieren würde, sind: 1) Wenn eine dezentrale Organisation attackiert wird, tendiert sie dazu, noch offener und dezentraler zu werden (analog dazu: zentrale Organisationen werden unter Druck zentralistischer).224 2) Offene Systeme haben keine zentrale Intelligenz, diese ist im System verteilt.225 3) Offene Systeme können sich leicht verändern.226 4) Der Profit wird umso geringer, je zentraler die Organisation strukturiert ist.227 5) In offenen Systemen wollen Menschen automatisch mitgestalten.228
9.7.13.3 Leiten als Organismus Basierend auf Bibelstellen wie 1. Korinther 12 und Epheser 4 wird in der „Emerging Church“-Konversation auf ein organisches Modell von Leitung hingewiesen. Damit ist gemeint, dass die Charismen der Gemeindemitglieder 221 Brafman / Beckstrom, The Starfish and the Spider (2006). Siehe dazu www.starfishandspider.com am 07.12.2015. Z. B. rezipiert von Tickle, Emergence Christianity (2012), 32. 222 Sterne haben dezentrale Nervensysteme und ermöglichen somit ihren Körperteilen eine selbstständige Regeneration. Spinnen hingegen haben zentrale Nervensysteme. 223 Brafman / Beckstrom, The Starfish and the Spider (2006), 194. 224 A. a. O., 21. 225 A. a. O., 39. 226 A. a. O., 40. 227 A. a. O., 45. 228 A. a. O., 74.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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für Leitungsaufgaben eingesetzt werden sollen. „Emergente Systeme basieren darauf, dass viele wesentlich mehr wissen und können als ein Einzelner. Deswegen ist es ihnen selbstverständlich, dass jeder Teil des Organismus an den Entwicklungsprozessen beteiligt wird.“229 Ein etwas abgeändertes Modell desselben Gedankens schlägt Alan Hirsch vor, wenn er von Leiten als Netzwerk spricht: „The network as a whole has little to no hierachy; there may be multiple leaders. Decision-making and operations are decentralized, allowing for local initiative and autonomy. Thus the design may sometimes appear acephalous (headless), and at other times polycephalous (Hydra-headed).“230 Hirsch löst das Leiteramt nicht auf, definiert es aber insofern um, als es spontan und pragmatisch für eine bestimmte Aufgabenstellung „entsteht“. Hirsch spricht von Leitern, die ohne vorgefasste Hierarchien auskommen, die organisch auftauchen und untertauchen, die Teil des Netzwerks Gemeinde sind. Mit seinem provokativen Titel „We know more than our pastors: Why bloggers are the vanguard of the participatory church?“ kann Tim Bednar stellvertretend für eine weitere in der „Emerging Church“-Konversation prominente Sicht auf „Leiten als Organismus“ angeführt werden. Er sagt: „Our network of blogs exceeds the reach of any single pastor […]. Thousands of bloggers circumvent hierarchies and relate unmediated from one another. We are part of a participatory phenomena that is impacting mass media, technology, education, entertainment, politics, journalism and business.“231 Der Autor spricht davon, dass Blogger zu Vorreitern partizipativer Leitung gehören. Die Kultur des Bloggens, d. h. der Teilnahme an der Konversation und das Kommentieren verschiedener Themen aus eigener Sicht, könne auf reale Gemeinschaften übertragen werden. Bednar spricht davon, dass das kollektive Wissen vieler Beteiligter das Wissen einer Person, z. B. eines Pastors, übertreffe. Es kann festgestellt werden, dass es innerhalb der Konversation unterschiedliche Grade der Forderung nach partizipativer Leitung gibt. Eine Forderung ist jene, Ämter und Hierarchien zugunsten von Charismen aufzulösen. Eine andere Forderung bezieht sich auf ein Miteinander, z. B. von Ehren- und Hauptamtlichkeit, in bestehenden Strukturen. Es ist zu beobachten, dass „organisierte Leitung“ und „Ordnung“ tendenziell einschränkend betrachtet werden.
229 Der Autor weiter: „[…] Die Gemeinden der Zukunft werden keine milieuverengten Insiderclubs mehr sein, sondern die Vielfalt der Menschen als Geschenk Gottes begreifen.“ https:// bibelbund.de/2015/11/die-emerging-church-in-ihrem-selbstverstaendnis/ am 15.05.2018. 230 Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 182. Vgl. Hirsch, Vergessene Wege (2011), 239–288. 231 http://creativecommons.org/licenses/by-nd-ne/1.0 am 11.06.2012.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
9.7.13.4 Die Rolle der Hauptamtlichen / der Leitungspersonen In emergenten Gemeinschaften werden „religious professionals“232 grundsätzlich nicht gemieden, sondern, wo vorhanden, gezielt eingesetzt.233 Studebaker und Beach stellen fest, dass viele emergente akademische Stimmen nicht theologisch qualifiziert sind, sondern philosophisch, linguistisch oder anders.234 Dabei werden nicht-theologisch gebildete, qualifizierte Freiwillige sehr hoch geschätzt.235 Packard dazu: „Indeed, they see professionals as valuable for both the legitimacy that they lend the organization and the specialized knowledge and skills they offer.“236 Dabei sollen zwei Dynamiken vermieden werden: Zum ersten soll die Ausbildung, die Theologen erlangt haben, die Gemeinschaft nicht dominieren. Zum anderen sollen Institutionalisierungsprozesse der Gemeinschaft verhindert werden. Institutionalisierung soll etwa auf der Ebene der Schaffung spiritueller Räume vermieden werden, da, so Packard: „[…] they viewed it as incompatible with the kind of religious experience they wanted to create and partake in.“237 Josh Packard weist in einer Studie nach, dass es für Hauptamtliche in emergenten Gemeinschaften in ihrer Rolle möglich ist, Institutionalisierungsprozesse nicht voranzutreiben und trotzdem ihre Kompetenzen genutzt werden können.238 Packard dazu: 232 Der Begriff stammt von Josh Packard und meint Hauptamtliche, die nicht zwingend eine theologische Ausbildung haben. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 7.5 Josh Packard „The Emerging Church. Religion at the Margins“ (2012). 233 Studebaker und Beach sprechen in ihrer Untersuchung zu kanadischen emergenten Gemeinschaften von einem Bedürfnis nach „[…] theological instruction but reject hierarchical ways of imparting knowledge.“ Studebaker / Beach, „Friend or Foe“ (2014), 43. Siehe auch Stude�baker / Beach, „Emerging Churches in Post-Christian Canada“ (2012). Zu weiterführenden Fragen einer theologischen Ausbildung für emergente Protagonisten siehe Philip Claytons Ausführungen. http://www.patheos.com/Resources/Additional-Resources/ Emer-gent-Seminary-for-an-Emerging-Church-Philip-Clayton-10-17-2011?offset=l&max=l am 12.02.2013. 234 Die Autoren sagen weiter: „For them, theological education is the cultivation of wisdom, and it is valuable for all Christians. They believe that theological education is not primarily technical training for a professional vocation but rather cultivation of wisdom for the sake of deepening one’s faith and ministry in the world.“ Studebaker / Beach, „Friend or Foe“ (2014), 48. Weiter machen die Autoren kritische Stimmen, wie Jones, an der theologischen Ausbildung aus. A. a. O., 49. 235 Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011), 24. 236 A. a. O., 12. Studebaker und Beach stellen fest: „Many emerging Christians regard theological schools and their scholars as museum pieces of Christendom.“ Studebaker / Beach, „Friend or Foe“ (2014), 47. 237 Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011), 12. 238 Packard verweist auf seine Interviewteilnehmerin Frances, die die Rollenspannung in einer emergenten Gemeinschaft („Incarnate Word“) und der Muttergemeinde („Kingdom’s Cross“) jener Gemeinschaft beschreibt: „It’s pastor driven so we’re a little different because we’re lay
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In contrast to the traditional version of professionalism which requires formal processes of credentialing before trust and autonomy is granted, the congregations in this study can best be characterized as utilizing a system of unregulated discretion where trust comes prior to credentials in an effort to reverse the restrictions on ‚the opportunities and alternatives we perceive‘.239
Dies geschieht durch die Implementierung von drei Strategien. • Erstens wird eine „inverted labor structure“ installiert. „Religious Professionals“ werden Teilzeit angestellt240, während Laien Vollzeit angestellt werden. „This both minimizes the opportunities for professionals to implement and maintain organizational processes and privileges the more intimate knowledge that non-professionals gain by virtue of their being more involved.“241 • Zweitens werden vor Ort erlangte Erfahrungen gegenüber formalen Akkredierungen (z. B. Berufung durch Kommissionen) bevorzugt.242
led … And not being ordained, I don’t have it drilled into me that I have to be the [voice of authority or provide all the direction] because I notice that with Pastor Joel at Kingdom’s Cross. He makes a lot of their decisions unilaterally.“ A. a. O., 20. 239 A. a. O., 11. 240 Theologisch ausgebildete emergente Protagonisten können ihre Ausbildung wie folgt verstehen: „It is important to note that as much as my respondents valued personal experiences, they did not think traditional pastoral education was completely without merit. The tension between the benefits of ordination, which they see largely as residing in increased knowledge, and the drawbacks of professionalization, which they see as routinization and institutionalization […].“ A. a. O., 20. Eric, ein Freiwilliger bei der emergenten Gemeinschaft „Faith“ drückt dies so aus: „And the other thing that I realized was most people who go to seminary who are in an M. Div. [Master’s of Divinity] program especially in a pretty established denomination is that they just want to be a pastor. But there’s this kind of separation from lay and pastor. Once you decide you want to be a pastor you have to jump through all these hoops, go to seminary, do your contextual pastoral education, spend some time in a hospital as a chaplain, all these kind of things that you jump though, and I realized I was getting into that mindset even though I don’t have to do any of that. Me even going to seminary isn’t a required thing for me to be ordained within our church, but I wanted to do it. I wanted to learn a little bit. I could be a pastor at a church right now. I can serve in a way to help further community instead of being like ‚well once I’m done then I can do it the ‚right‘ way‘. That’s part of it too that I’ve realized that this is a part of my education just doing these things in the church. So that’s what part of what my role is at Faith. And it became an honorary volunteer pastor position at our church, because we do stress the priesthood of all believers a great deal. So we don’t want to stress that kind of divide that ‚Well we’re pastors and you’re not.‘“ A. a. O., 21. 241 A. a. O., 5. 242 Packard dazu: „Because of the nature of these congregations as intentionally residing outside of the mainstream, there is a fear that professionals who go through a traditional credentialing process will not be able to be effective in such an Emerging Church setting.“ A. a. O., 20. So auch: Studebaker / Beach, „Friend or Foe“ (2014), 51.
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• Drittens wird der Ruf in die Leitung „from a calling by a congregation“243 zu „a calling to a particular project or group of people based on the personal conviction of the religious professional“244. Packard dazu weiter: „The result is a system of unregulated discretion where formal training is not needed to have the authority to implement and maintain organizational processes.“245 Zu den Leitungspersonen in emergenten Gemeinschaften sollen noch zwei grundsätzliche Bemerkungen erfolgen, bevor auf zwei Ansätze bezüglich Aufgabe und Rolle von Leitungspersonen in emergenten Gemeinschaften eingegangen wird. • Zunächst fällt auf, dass Leiter in emergenten Gemeinschaften ihre Position im Schnitt nur wenige Jahre bekleiden oder ihre Rolle innerhalb der Gemeinschaft mehrfach wechseln.246 Jones führt den Umstand der wechselnden Leitung auf die Persönlichkeit eines Leiters in einer emergenten Gemeinschaft zurück. Initiatoren von emergenten Gemeinschaften sind häufig Pionierpersönlichkeiten mit einer Entrepreneur-Haltung247, die selten ein initiiertes Projekt oder eine Gemeinschaft stetig weiter begleiten. • Weiter fällt auf, dass es auch in den Begrifflichkeiten in der „Emerging Church“-Konversation keine Unterteilung in Hauptamtliche und Ehrenamtliche gibt. Es wird bewusst keine sprachliche Unterscheidung zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen oder Ordinierten und Nicht-Ordinierten gemacht.248 „In short, informality, egalitarianism, and the desire for equality mark the emerging churches.“249 Jones fasst passend zusammen: „Emergents downplay – or outright react – the difference between clergy 243 „The call by a congregation sets up a client-service provider relationship from the beginning, and the clergy is seen to exist to serve the needs of the congregation, an odd position for a professional who has ostensibly been trained to serve God.“ Packard, „Resisting Institution�alization“ (2011), 22. 244 A. a. O., 5. 245 A. a. O. 246 Beispielsweise weist Tony Jones darauf hin, dass lediglich zwei Gemeinschaften bis zum Abschluss seiner Studie noch die gleichen Leitungspersonen hatten. Vgl. Kapitel 8.4 Tony Jones „The Church is Flat“ (2011). 247 Weiter: „That there have been so many leadership changes in these churches does not seem out of the norm for churches in general, especially when one considers that the type of person who successfully plants a church may not be particularly suited to the longterm maintenance of that church.“ Packard / Sanders, „The Emerging Church as Corporatization’s Line of Flight“ (2013), 64. 248 Studebaker und Beach dazu: „When at the front teaching, leading, singing, or giving announ�cements, the leaders are often self-deprecating and earnest in their desire to be seen as equals with the people in their congregation.“ Studebaker / Beach, „Friend or Foe“ (2014), 49. Dies wird auch von Teusner bemerkt. Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 124. 249 Studebaker / Beach, „Friend or Foe“ (2014), 49.
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and laity.“250 Spencer Burke etwa versteht sich als Leiter einer emergenten Gemeinschaft folgendermaßen: „I no longer consider myself a tour guide, but a fellow traveler.“251 Betont wird die Nivellierung zwischen Leitenden und Nachfolgern, Hauptamtlichen und Teilnehmenden. Im Folgenden sollen zwei Ansätze über Rolle und Aufgabe von Leitungspersonen in emergenten Gemeinschaften skizziert werden. 1. Alan Hirsch betont, dass Leiten in emergenten Gemeinschaften erstens heißt, das Potenzial der Einzelnen und der Gemeinschaft freizusetzen. Zweitens sollen die Potenziale miteinander in Beziehung gebracht werden. Emergente Leiter sind „facilitator“ und „enabler“. Drittens muss die Gemeinschaft regelmäßig aus einer Selbstbezüglichkeit geführt werden, um die eigene Umwelt mit ihrer sozialen, politischen, geistlichen etc. Dringlichkeit zu erfahren. Damit meint er, dass Leiter dafür sorgen müssen, ihre Gemeinschaft davor zu bewahren, in eine zufriedene Selbstgefälligkeit zu verfallen, in der sie die Not der Welt und ihre Berufung vergisst. Viertens müssen Leiter die Informationsflut, der die Gemeinschaft ausgesetzt ist, sortieren und „management of meaning“ durchführen. Hier spielt die Ausbildung (Theologie, Psychologie, Soziologie) für Hirsch eine wesentliche Rolle.252 Bei Hirsch nimmt der Leiter, besonders in der vierten Aufgabenbeschreibung, eine wegweisende Rolle ein, indem dieser ein Filter und zugleich Erneuerer der Vision der Gemeinschaft ist.253 2. Eine andere Rollenbeschreibung eines Leiters im Organismus „Emerging Church“ kommt von Tim Conder. Conder spricht in seiner Untersuchung davon, dass die Leitungsperson einer emergenten Gemeinschaft „apostle, poet and prophet“254 sein soll.255 Der Begriff „apostle“ meint, dass der Pastor / die Pastorin aufgefordert ist, das Evangelium in neuem Kontext sprachfähig zu bezeugen. Der Apostel soll in die emergente (damit ist bei Conder die postmoderne Welt) Kultur hineinführen. Der Pastor als „poet“ meint, dass er es verstehen soll, die Narrative des „Reiches Gottes“ mit den Narra250 Jones, The New Christians (2008), 204. 251 Burke / Taylor, A Heretic’s Guide to Eternity (2006), 3. Seinen „search for authentic expression“ beschreibt er bei Yaconelli, Stories of Emergence (2003), 36. 252 Siehe dazu Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 183. 253 Ähnlich kommt es bei Tickle vor: „The ability to teach and preach and lead is taking a backse� at to the pastor’s capacitiy to create and facilitate open-source faith experiences for the people of the church.“ Tickle, Emergence Christianity (2012), 122. 254 Conder, The Church in Transition (2006), 131–132. 255 Diese Begriffe beschreiben für ihn die biblisch begründete Begabung, die für eine missionarische Kirche notwendig sei. Conder verweist hier auf die „missional church“-Debatte. Vgl. Abschnitt II Kapitel 1.3.4 „Missional church“.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
tiven der Kultur ins Gespräch zu bringen. „The poet is a listener and observer, sensing the experience of the body and giving that experience a voice.“256 Der Pastor als „prophet“ meint, dass er Einsicht in die Mission Gottes in dieser Welt haben soll. Der Prophet übersetzt Gottes Offenbarung in die spezifische kulturelle Situation der Gemeinschaft.257 Beide Ansätze bezeugen eine Auseinandersetzung mit der Rolle der Hauptamtlichen in der „Emerging Church“-Konversation, schlagen jedoch zwei unterschiedliche Verständnisse vor. In beiden Konzepten kommt der hauptamtlichen Leitung eine Schlüsselposition zu, während dies bei Packards Ergebnissen ambivalent bleibt. Während Hirsch die Leitungsperson als Befähiger sieht, konzentriert Conder in der Leitungsperson alle notwendigen Begabungen und Aufgaben.
9.7.13.5 Die Leitungsperson als charismatischer Entrepreneur Zuerst fällt in der „Emerging Church“-Konversation allgemein auf, dass viele prominente Protagonisten innovative und charismatische Entrepreneure sind.258 Obwohl die „Emerging Church“-Konversation kritisch gegenüber hierarischen Strukturen und Leitungspersonen ist, hat die Konversation selbst eine Reihe symbolischer Leitungspersonen, die die Konversation vorangetrieben haben und wesentlich geprägt haben.259 Moody etwa beschreibt die Autorität von emergenten Protagonisten anhand der online verlinkten Blogs und Texte. Dabei definiert sie Autorität als Populari256 Roxburgh, The Missionary Congregation, Leadership, and Liminality (1997), 58. Siehe weiter Roxburgh, „Pastoral Role in the Missionary Congregation“ (1996), 329–330. 257 Roxburgh, „Pastoral Role in the Missionary Congregation“ (1996), 331. 258 Flory und Miller weisen darauf hin, dass viele emergente Vertreter der Kategorie der „inno�vators“ entsprechen. Vgl. Abschnitt II Kapitel 5.4 Exkurs: „Gen X“ – „Emerging Church“, eine Jugendkirche? „[They] demonstrate a desire for embracing the ‚emerging‘ postmodern culture, and within that context are engaging in a spiritual quest that by definition is one that must change and adapt – innovate – to meet the changing cultural currents.“ Flory / Miller, Finding Faith (2008), 46. 259 So auch: Chia, „Emerging Faith Boundaries“, 391. Trotz der betonten Gleichwertigkeit von Leitung kann beobachtet werden, dass es eine Form der Oligarchie gibt – wenige entscheiden viel. Dies ergibt sich zum einen zwangsläufig aus der Freiwilligenstruktur. Denn je mehr Zeit jemand hat, desto mehr bringt er sich ein und gestaltet damit die Versammlungen und die Konversation mit. Zum anderen spielen hier die Impulsgeber oder charismatischen Entrepreneure in emergenten Gemeinschaften eine wesentliche Rolle. So stellt es etwa auch Cronshaw in seiner Untersuchung fest: „For instance, the four emerging churches are not reaching as many unchurched people as their ideals suggest and some of their decision processes are identified as being haphazard.“ Cronshaw, „The Shaping of Things Now“, 289.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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tät, Einfluss und daraus folgender Expertise.260 Über Websites wie Technorati, die Verlinkungs-Muster zu bestimmten Stichwörtern (in diesem Fall „emerging church“) untersuchen und damit Interaktions-Häufigkeit bestimmen, kann der Autoritätslevel bestimmter Blogs dargestelllt werden. Beispielsweise hatte der Blog von Andrew Jones im Juni 2007 2489 Blog-Verlinkungen in den letzten sechs Monaten aufzuzeigen.261 Moody stellt fest, dass trotz der großen Anzahl emergenter Blogs nur wenige als „very high authority“-Blogs (500 oder mehr Verlinkungen in den letzten sechs Monaten) gekennzeichnet werden.262 Bei ihrer Suche am 18. Juni 2007 wurden sieben als „very high authority“ (≥ 500 Verlinkungen) eingestuft, 42 als „high authority“ (100–499 Verlinkungen), 232 als „medium authority“ (10–99 Verlinkungen), 154 als „low authority“ (3–9 Verlinkungen) und 168 als „very low authority“ (0–2 Verlinkungen). Zu den einflussreichsten Blogs gehören 1. „Jesus Creed“ (Scot McKnight), 2. „tallskinnykiwi“ (Andrew Jones), 3. „Pyromaniacs“ (ein Anti-„Emerging Church“-Blog), 4. „Pomomusings“, 5. „The Cartoon Blog“, 6. „The Ooze“ (Spencer Burke), 7. „Emergent Village“. Moody verweist darauf, dass es eine problematische Verteilung der Häufigkeiten gibt, die die Autorität einzelner Blogs stärken. Sie sagt: Affected, even unconsciously, by the cumulative preferences of previous users, those new to the blogosphere reinforce the reading and linking choices made by others before them‚ with a small number of blogs becoming increasingly likely to be chosen in the future because they were chosen in the past.‘ The system favours, therefore, the early birds who began blogging several years ago […] Thus the already authoritative become even more so.263
Es kann festgestellt werden, dass zum einen ein Ideal von gemeinschaftlicher, dezentraler, egalitärer Leitung gefordert wird.264 Zum anderen gibt es charismatische Entrepreneure, die eine bedeutende Rolle in der „Emerging Church“-Konversation insgesamt und speziell in ihren emergenten Gemeinschaften spielen.
Es lässt sich zeigen, dass die prominenten Figuren, Pastoren und Vertreter von emergenten Gemeinschaften genügend Ressourcen, finanzieller und zeitlicher Art brauchen, um eine Gemeinschaft am Leben zu halten, die sich über Wandel definiert. Da es ständig neue Impulse und dekonstruierende Diskurse braucht, bedarf es hierzu viel Kraft und Entrepreneurgeist, um die Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 7.6 Gladys Ganiel und Gerardo Marti „The Deconstructed Church“ (2014). 260 Moody, „The Desire for Interactivity and the Emerging Texts of the Blogosphere“ (2008), 100. 261 A. a. O., 106. 262 A. a. O., 107. 263 A. a. O., 109. 264 Der Übergang von Teilnahme zu Leitungsverantwortung in emergenten Gemeinschaften geschieht in kurzer Zeit, da innovative Persönlichkeiten tendenziell in Verantwortungspositionen drängen.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
Von Sweet oder auch von Ganiel und Marti werden emergente Leiter als „religious institutional entrepreneurs“ beschrieben. Sie adaptieren damit eine Bezeichnung aus der Organisationstheorie. Entrepreneure erkennen frühzeitig aufgrund äußerer Faktoren die Notwendigkeit der Veränderung für ihre Organisation und verstehen Schwachstellen ihrer Organisation. „Religious institutional entrepreneurs“ sind „Insider einer Institution“ und wollen diese durch Innovation erneuern und in weiterer Folge die Erneuerung legitimieren.265 Bei emergenten Protagonisten kann der Begriff „Institution“ dem Begriff „Christentum“, „Evangelikalismus“ oder der dominanten Frömmigkeitstradition der Gemeinschaft entsprechen. Ganiel und Marti folgern, dass Entrepreneure von der zu verändernden Institution, konkret der emergenten Gemeinschaft, sowohl unterstützt als auch von ihr begrenzt sind. Für „institutional entrepreneurs“ ist die Narration der vorrangige Weg, um Sinn zu stiften.266 Weiter sind Entrepreneure, wie auch promintente Protagonisten in der „Emerging Church“-Konversation, Motivatoren für Kooperation und Aktivismus. Menschen werden motiviert, sich in Gemeinschaften zu formieren, die die Erneuerung schon einüben und leben sollen. Kooperation ist dabei ihr „soziales Kapitel“. Emergente Entrepreneure definieren sich über steten Wandel.267 Auch der Soziologe Packard erkennt einen Unternehmergeist, der ein Wesenszug emergenter Leitung ist, verwendet dafür aber den Begriff „nomad“ und sagt: The nomad exists in stark contrast to corporatizations, whose function is to categorize, compartementalize, and contain. […] Antithetical to corporatization, then, the Emerging Church frames itself as an open-ended conversation – an activity that is typically inclusive but malleable.268 Die Aufgabe des „nomad“ ist es, ein Vermittler, ein Übertreter von Grenzen zu sein. Es zeigt sich, dass Leiter, ob als Entrepreneure oder „nomad“, eine herausragende Rolle in emergenten Gemeinschaften und der „Emerging Church“-Konversation insgesamt haben. 265 Leonard Sweet dazu: „While ECM [emerging church movement] leaders who occupy promi� nent roles stress nonhierarchical and highly relational modes of leadership, they remain charismatic leaders who attract and maintain followers.“ Sweet, The Gospel According to Starbucks. Living with a Grande Passion (2007), 119. Ganiel und Marti: „[…] institutional entrepreneurs’ embeddedness in their context means that they must regularly refer to the institutional order they are trying to change, either to delegitimize it or to demonstrate how their desired changes do not depart too far from it.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 79. 266 Siehe dazu Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 117. 267 Ganiel und Marti verwenden dafür den Begriff „permanent unsettled lives“. A. a. O., 171. Ganiel und Marti erweitern den Begriff „religious institutional entrepreneur“ auf die gesamte Konversation und alle darin vorkommenden Protagonisten, wenn sie Facetten eines Entrepreneurs als Merkmal einer emergenten Gemeinschaft definieren und von „collective institu�tional entrepreneurship“sprechen. Emergente Gemeinschaften haben demnach einen kollek� tiven Unternehmergeist. A. a. O., 81. 268 Zitiert a. a. O., 89.
9.7 Merkmale einer emergenten Gemeinschaft
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9.7.13.6 Team-Leitung: das APEPT-Modell Ein Team-Leitungsmodell, das in der „relevant“- und „reconstructionist“-Strömung rezipiert wurde, soll im Folgenden vorgestellt werden. Neben dem von Hirsch vertretenen organischen Auftreten von Leitungspersonen propagaieren Michael Frost und Alan Hirsch das sogenannte APEPT-Modell. Das Akronym „APEPT“ steht für Funktionen, die in einem Leitungs-Team vorkommen sollen: „apostolisch“ („apostolic“), „prophetisch“ („prophetic“), „evangelistisch“ („evangelistic“), „pastoral“ („pastoral“) und „lehrend“ („teaching“).269 Michael Frosts und Alan Hirschs APEPT-Modell basiert auf Epheser 4,11 und stellt einen prominenten Vorschlag in der „Emerging Church“-Konversation zu Teamleitung in der Gemeinschaft dar.270 Frost und Hirsch meinen, dass der Dienst in der Gemeinschaft fundamental charismatischer Natur sei und fünf Dienste bedürfe. Sie kritisieren damit, dass traditionelle konservative christliche Gemeinden und Kirchen mit den letzten zwei Diensten, Lehre und Hirtendienst, auszukommen versucht und die Mission damit negiert hätten. Daneben sei durch diese Einengung der Dienste ein hierarchisches Verständnis von Leitung vermittelt worden. Sie verstehen die fünf Dienste als Aufgabenbeschreibungen in einer christlichen Gemeinschaft und damit nicht als Ämter („offices“), sondern als Funktionen.271 Basierend auf ihrer Auslegung von Epheser 4,1–16 schließen sie, dass Gemeinde nur dann wachsen könne (Eph 4,12), wenn diese fünf Funktionen vorkämen.272 Konkret wird dies etwa so erfüllt, dass neben einem bestehenden Pastorenamt ein Leitungsteam mit den ergänzenden Charismen dient. Da in der Diskussion der Konversation in Abschnitt IV Frosts und Hirschs Ansatz nicht eigens aufgegriffen werden, folgen hier kurz kritische Anmerkungen. Es ist anzumerken, dass in Frosts und Hirschs Ausführungen das genaue Zusammenwirken der fünf Dienste nicht deutlich wird, beziehungsweise ob das Pastorenamt eine vorrangige Stellung beibehält oder nicht. Problematisch erscheint zudem die prinzipielle Kritik der Autoren, Dienste in Ämter zu überführen und damit zu institutionalisieren. Der in der emergenten Konversation konstitutive Impetus einer Anti-Institutionalisierung wird auch an dieser Stelle 269 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 170–173. Siehe auch Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 170–177. 270 Dies war im Besonderen für die „relevant“- und „reconstructionist“-Strömungen in der zwei�ten historischen Phase bedeutend. So beschreibt es etwa Rathel, Baptists and the Emerging Church Movement (2014), 111–113. 271 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 168. 272 Die Autoren weiter: „An APEPT model allows for the church to contend and transcend by welcoming a variety of giftings and equally recognizing all segments of the church.“ A. a. O., 176.
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9. Motiv II: Die Bedeutung der Gemeinschaft in der Konversation
deutlich, auch dann, wenn gegen den exegetischen Befund argumentiert wird, nämlich dass das Neue Testament und die frühe Kirche ein strukturelles Vorgehen in Leitungsfragen entwickelte.
9.8 Ertrag Gemeinschaft spielt in in der „Emerging Church“-Konversation eine herausragende Rolle. Die „Emerging Church“ versteht sich als eine beziehungsorientierte Konversation durch lokale und kontextuelle Vergemeinschaftung (real und in der virtuellen Welt), die organisch, spontan und inklusiv sein will. In diesem Kapitel wurde zuerst der Gemeinschaftsbegriff mit seinen verschiedenen Bedeutungshorizonten und Bezeichnungsschwerpunkten dargestellt. Es wurde deutlich, dass in der Konversation kein eindeutiges Verhältnis zu Begriffen, die „Gemeinschaft“ beschreiben, herrscht. Danach wurden acht Typen emergenter Gemeinschaften dargestellt. Als Nächstes wurde die nordirische „Ikon“-Gemeinschaft, die durch theologisches Experimentieren und dramaturgische Elemente in der Konversation Bekanntheit erlangt hat, vorgestellt. Im Anschluss daran wurden formale wie auch inhaltliche Merkmale emergenter Gemeinschaften präsentiert. Emergente Gemeinschaften sind kleine, flexible, organische Gemeinschaften, die tendenziell anti-institutionell und dezentral orientiert sind. Daraus resultiert, dass sich emergente Gemeinschaften am Rand des organisierten religiösen Feldes oder im unorganisierten religiösen Feld verorten lassen. Sie verstehen sich als plurale Gemeinschaften, in denen Inklusion, in Form einer allgemeinen Akzeptanz verschiedener Meinungen und Positionen, ausgelebt werden kann. Der Inklusions-Begriff ist gleichzeitig ein Container-Begriff, der auch die Aufhebung von Barrieren bezüglich religiöser Orientierung, sexueller Orientierung oder dogmatischer Positionen meint. Der Gemeinschaft kommt insofern große Bedeutung zu, wenn emergente Protagonisten davon sprechen, dass Gemeinschaft Evangelium, Mission oder Trinität verkörpere. Der Aspekt des „belonging before believing“ ist für ihr Verständnis von Inklusion maßgeblich. Der Umgang miteinander in der Gemeinschaft wird als geistliche Übung beschrieben. Weiter wird die Art und Weise, wie kommuniziert wird, als geistliche Übung verstanden. Der Fokus auf Beziehungen geht einher mit einer Ablehnung gegenüber Institutionen. Für emergente Protagonisten schaffen Institutionen Distanz zwischen Menschen und stehen unter dem Verdacht, Produktivität und Effektivität zu bevorzugen. Emergente Protagonisten misstrauen Institutionen und streben danach, dass beispielsweise die Autorität der Gestaltung der Gemeinschaft, sowohl in struktureller als auch in theologischer Hinsicht, in der Gemeinschaft liegt.
9.8 Ertrag
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Ein Schwerpunkt wurde in der Darstellung auf die unterschiedlichen Leitungsverständnisse gelegt. Als Gemeinsamkeit emergenter Gemeinschaften wurde deutlich, dass gemeinschaftliches, gabenorientiertes und dezentrales Leiten bevorzugt werden. Dabei gibt es verschieden stark ausgeprägte Präferenzen oder Abneigungen gegenüber institutionalisierten Leitungsmodellen. Es gibt Vertreter, die Leitungsämter völlig ablehnen und nur spontane Leitung präferieren, aber auch teamorientierte Leitungsverständnisse. Die Idealvorstellung von Leitung in emergenten Gemeinschaften wird als dezentral, gleichwertig, aber auch spontan und beziehungsorientiert beschrieben.
10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen in der Konversation
Der in der „Emerging Church“-Konversation bekannte Protagonist Scot McKnight, der sich mit der Erforschung der Bewegung auseinandergesetzt hat, sagt zu einer „Theologie der Konversation“: „[…] the emerging movement is not defined by its theology. It doesn’t stand up and say, ‚Lookee here, this is our doctrinal statement.‘ To force the emerging movement into a theological definition is to do violence to it – it isn’t a theological movement and so can’t be defined that way.“1 Wenn man Scot McKnights Aussage ernst nimmt, dass die „Emerging Church“ keine „theologische Bewegung“ ist, und es somit ernst nimmt, dass es keine uniforme Theologie der „Emerging Church“-Konversation gibt,2 dann kann dennoch von häufig auftretenden Themen und theologischen Deutungen, die Muster ergeben, gesprochen werden. In der Klärung religiöser Orientierung und Positionen spielen theologische Themen durchaus eine große Rolle, ohne dabei von einer kohärenten theologischen Schule sprechen zu können.3
1 McKnight: „What is the Emerging Church?“. Michael Moynagh und auch Andy Crouch ver�gleichen die „Emerging Church“-Konversation in dieser Hinsicht mit einem Chamäleon. Moy�nagh, Emergingchurch.intro (2004), 11. Crouch, The Emergent Mystique. 2 Dem stimmt auch Packard zu, der sagt: „The belief system of people in the Emerging church can hardly be classified as cohesive. However, the commitment of congregants to a spirit of sustained conversation and questioning about normally taken for granted religious elements contributes to a group ideology which refused to be nailed down.“ Packard, The Emerging Church (2012), 30. Andere wie Steven Studebaker und Lee Beach gehen jedoch davon aus, dass „Emerging Church“: „share common theological convictions“. Studebaker / Beach, „Emerging Churches in Post-Christian Canada“ (2012), 862. 3 Es wird der Einschätzung gefolgt, dass die theologischen Diskurse dominant von US-amerikanischen Vertretern geprägt wurden. Aus diesem Grund wird der Schwerpunkt auf die USamerikanische Szene gelegt. Jenson / Wilhite, The Church (2010), 100. Lakies sagt dazu: „Emergents are better understood as sharing a sensibility rather than sharing a unique set of beliefs or a confession […].“ Unter „Sensibilität“ versteht Lakies: „To have or embody a sensibility means seeing and approaching the world in a particular way. It means having and admitting to certain experiences, educational opportunities, and upbringing, as well as a geographical and historical situatedness – all of which influence and affect unavoidably the way one interprets reality.“ Lakies, „The End of Theology“ (2012), 119. Oder auch Stephen Hunt der von einer „ambivalent theology“ spricht und sagt: „The acceptance of the advent of post-modernity by the Emergent Church can also be discerned by its lack of theological co-
10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
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Die grundlegende Einteilung in drei Strömungen der Konversation, welche unter anderem auf epistemologischen Annahmen beruht, hat bereits erste Hinweise gegeben, dass theologische Überzeugungen und divergierende Positionierungen einen Platz in der Konversation haben. In diesem Kapitel soll es nicht darum gehen, entweder alle theologischen Impulse darzustellen oder die unterschiedlichen Positionen zu harmonisieren und zu einer „emergenten Theologie“ zu kommen. Es soll darum gehen, die aus der Zusammenschau der Studien gewonnene Erkenntnis ernst zu nehmen, nämlich dass es in der „Emerging Church“-Konversation eine Auseinandersetzung mit theologischen Themen gibt. Diese Auseinandersetzung findet ihm Rahmen der Klärung der religiösen Orientierung emergenter Protagonisten statt und spielt dafür (wenn auch vorläufig oder fragmentarisch) eine wesentliche Rolle. Obwohl innerhalb der „Emerging Church“-Konversation eine große theologische Diversität besteht, lassen sich Themen mit Gravitationskraft verorten.4 In diesem Kapitel werden diese Schlüsselthemen und inhaltliche Dominanten der „Emerging Church“-Konversation identifiziert und dargestellt. Dabei wird an einzelnen Stellen zwischen der Bedeutung dieser Themen in den historischen Phasen und für die verschiedenen Strömungen unterschieden. Der Schwerpunkt liegt wie bereits erläutert auf der zweiten historischen Phase mit ihrem Übergang in die dritte historische Phase. Nachdem Vorbemerkungen für den theologischen Diskurs, nämlich die Bedeutung von Konversation, Dekonstruktion und Schriftverständnis in der „Emerging Church“ vorgestellt werden, werden unter der Überschrift „Christologie“ zuerst Verständnisse von Jesus Christus und danach die Bedeutung der „Reich Gottes“-Theologie für die Konversation geschildert. Dabei werden herence; a firm theological structure being largely eschewed as a superfluous mega-narrative. The ‚emergents‘ rather ambivalent theology is underpinned by the influence of post-modern thinkers such as Jacques Derrida.“ Hunt: „The Emerging Church“, 73. 4 Als Darstellung theologischer Schlüsselthemen wird neben der Sichtung der in der Konversation selbst angezeigten Themen etwa auf folgendes Buch, in dem emergente Schlüsselthemen von entsprechenden Protagonisten zusammengefasst und auch kontrovers diskutiert werden, verwiesen. Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007). Darin werden folgende Themen diskutiert: „biblicist theology“, „incarnational the�ology“, „missional theology“, „embodied theology“, „communal theology“. Ray Anderson war einer der Ersten, der den Versuch unternahm, die „Emerging Church“-Theologie dar�zustellen. Er nennt folgende theologische Schlüsselthemen: „Christ“, „the Spirit“, „the right gospel“, „kingdom living“, „work of God“, „law of love“, „community of the spirit“, „mis�sion“. Anderson, An Emergent Theology for Emerging Churches (2006). Donkor fasst die theologischen Schlüsselthemen wie folgt zusammen: „Scripture, Jesus Christ, gender, sin, salvation, the Cross, hell, and authority.“ Donkor, The Emerging Church and Adventist Ec� clesiology (2011), 8.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
drei unterschiedliche „Reich Gottes“-Deutungen dargestellt, jene von Shane Clainborne, Brian McLaren und von Peter Rollins.5 Unter der Überschrift „Missiologie“ wird zunächst der Missionsbegriff in der „Emerging Church“Konversation geklärt und danach missionarisches Handeln in verschiedenen Facetten erläutert.6
10.1 Vorbemerkungen zu theologischen Schlüsselthemen in der „Emerging Church“-Konversation 10.1.1 Grundzüge emergenter theologischer Diskurse Emergente Protagonisten meinen, dass es in der Postmoderne, in der sich Gesellschaft und Kirche befinden, neue Ansätze brauche, um Theologie zu betreiben.7 Phyllis Tickle gebraucht die Metapher des Netzes, um beispielhaft
5 Die drei Interpretationen decken nicht die gesamte Konversation ab, verweisen jedoch beispielhaft auf die Vielgestaltigkeit zu diesem Thema innerhalb der Konversation. 6 In der „Emerging Church“-Konversation wird eine aktuelle missionstheologische Debatte auf�gegriffen, nämlich die Frage nach der Verhältnisbestimmung von Ekklesiologie und Missiologie. In der Konversation ist zu beobachten, dass sich der theologische Diskurs darauf beruft, sich folgendermaßen zu gestalten: Ekklesiologie leitete sich von Missiologie ab und Missiologie von Christologie. Aus diesem Grund ist dieses Kapitel in die folgenden drei Hauptteile Christologie, Missiologie und Ekklesiologie unterteilt. Alan Hirsch dazu: „Church follows mission.“ Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 143. Oder auch Frost / Hirsch, The Faith of Leap (2011), 21. Steve Chalke schlägt denselben Weg ein und meint: „[…] our theology (our understanding of God) must unpack itself through our missiology (our understanding of mission) which must shape our ecclesiology (our understanding of church).“ Chalke, Intelligent Church (2006), 13. Oder auch bei Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 16. Damit reiht sich die „Emerging Church“-Konversation ein in eine Debatte um die Wiederentdeckung des Sendungs�auftrages Jesu Christi. Härtner, „Neue Ausdrucksformen von Gemeinde als Herausforderung. Emerging Churches und Fresh Expressions of Church im internationalen Kontext“ (2011), 50– 53. So beispielsweise auch in der fxC-Bewegung. Siehe Moynagh, Church for Every C ontext (2012). Oder auch im deutschsprachigen missionstheologischen Diskurs: Clausen / Herbst u. a., Alles auf Anfang (2013); Herbst, Kirche mit Mission (2013). 7 Jason Byasse formuliert es folgendermaßen: „They do know they are not satisfied with the theology they were given growing up or in evangelical seminaries. So they have gone hunting for something new […].“ Byasse verweist dabei auf häufig frequentierte Gesprächspartner in der „Emerging Church“-Konversation: Miroslav Volf, Walter Brueggemann, Stanley H auerwas, Nancey Murphey, N. T. Wright, Marcus Borg. Byasse, „Emerging from What, Going Where“ (2008), 250. Mit Peter Aschoff lassen sich die Gesprächspartner, im Sinn einer emergenten Ahnengalerie, ergänzen: Dietrich Bonhoeffer, Jürgen Moltmann, Johan Baptist Metz, Tony Cam-
10.1 Vorbemerkungen zu theologischen Schlüsselthemen
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theologisches Denken zu beschreiben. Ein Netz ist verzweigt, dezentral und wächst organisch. Dabei können sich viele Personen unabhängig voneinander beteiligen, ohne Vorbedingungen zu erfüllen.8 Die Hoffnung emergenter Protagonisten, wie die von Phyllis Tickle, ist, dass der finale Beitrag größer ist als die Summe der einzelnen Beiträge.9 Theologie soll, gemäß der Netz-Metapher, keine konfessionellen Grenzen ziehen, nicht eingrenzen oder nur von „Professionellen“ betrieben werden.10 Brian McLaren macht dieses Verständnis beispielsweise mit dem Buchtitel „A Generous Orthodoxy“11 deutlich.12 In diesem
polo, Jim Wallis, Leslie Newbigin, David Bosch und Dallas Willard. Aschoff, „Eine ‚Emergente‘ Ahnengalerie“ (2009), 152–161. Referenz auf Bonhoeffer und sein Konzept des religionslosen Christentums auch bei Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 44. 8 Für Doug Pagitt ist Theologie ganzheitlich und beinhaltet die „co-creative humanity“. Pagitt betont einerseits die Notwendigkeit der Partizipation von vielen bei theologischen Diskursen. Andererseits ist für sein Verständnis wichtig, dass der Diskurs offen bleibt und sich entwickelt. Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 133–138. 9 Phyllis Tickle: „If a house is the metaphor of modern theology, a web is the metaphor for post� modern theology. A web of many beliefs holds meaning together in such a way that the while is greater than the sum of its parts.“ Tickle, The Great Emergence (2012), 183. 10 Vgl. dazu: Russinger / Field, Practitioners (2005). Vgl. Fuller / Sanders, „Theology for the Peo�ple. Publishing, Emergent and God“, in: Homebrewed Christianity TNT (Podcast) 08.12.2014, https://homebrewedchristianity.com/2014/12/18/theology-for-the-people-publishing-emergent-and-god/ am 28.12.2016. Ähnlich formuliert es Tony Jones, der eine „wikichurch“ vorschlägt, also eine nicht hierarchische Glaubensgemeinschaft, zu der jeder etwas beitragen kann. Obwohl es bei einer solchen Organisation zu Fehlern kommen kann, erscheint ihm die Gefahr vor der Erstarrung bedrohlicher. Jones, The New Christians (2008), 180. Vgl. Fuller / Sanders, „Googlicious Theology with Barry Taylor“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 14.01.2010, https://homebrewedchrist�ianity.com/2010/01/14/googlicious-theology-with-barry-taylor-homebrewed-christianity-72/ am 28.12.2016. Peter Rollins kritisiert die Wahrheitssuche von „kirchlichen Institutionen“ und unterstellt ihr, dass sie Forschern und Theologen zu viel Macht gibt, Wahrheit in weiterer Folge auch zu definieren. Für Rollins ist individuelle Erfahrung gewichtiger in der Wahrheitsfindung als Glaubensartikel oder Doktrinen. Für Rollins wird Wahrheit am Leben der Menschen getestet. Es zeigt sich eine hohe Subjektivierung von Wahrheitsansprüchen, die aber dadurch gekennzeichnet ist, dass sie nicht abgeschlossen ist, sondern man aufgefordert ist weiterzusuchen. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 97. Vgl. Rollins, Insurrection (2011). Nash / Ward, „Peter Rollins – In God We Doubt“, in: Nomad (Podcast) 09.01.2014, http://www.nomadpodcast. co.uk/nomad-59-pete-rollins-and-the-idolatry-of-god/ am 29.12.2016. 11 Den Begriff „generous orthodoxy“ prägte Hans Frei, der als Gründungsvater der postliberalen Theologie gilt. Hunsinger, „Hans Frei as Theologian“ (1992). Der Begriff wurde von Brian McLaren (für die „Emerging Church“) und von Donald Bloesch (für den US-amerikanischen Evangelikalismus) aufgegriffen. Olson, „Donald Bloesch“ (2004), 57. Der Begriff wird etwa auch von Roger Olson gleichbedeutend in seinem Ansatz der postkonservativen evangelikalen Theologie verwendet. (Olson bringt auch den Begriff „critical orthodoxy“ in die Diskussion ein.) Olson, Reformed and Always Reforming (2007), 65. 12 McLaren, A Generous Orthodoxy (2004).
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
Buchtitel zählt er eine Vielzahl von Frömmigkeitszuschreibungen und religiösen Orientierungen auf und stellt sie nebeneinander. Damit wird angedeutet, dass emergentes theologisches Denken trans-kategorial sein will. Theologischer Diskurs in der „Emerging Church“-Konversation will bildhaft als Reise, als Weg13, als Mysterium14 oder als Abenteuer, das es zu entdecken gilt, verstanden werden. Propositionelle und dogmatische Zugänge15 und Wege werden demnach kritisch gesehen.16 Wells beschreibt emergente Protagonisten (besonders „reconstructionstis“ und „revisionists“) als „doctrinal minimalists“, „ecclesiastical free spirits with a small doctrinal center“. Weiter: „By their very posture they are resistant to doctrinal structure that would contain and restrict them.“17 Emergente Protagonisten sprechen beispielsweise darüber, dass sie ihre 13 Karen Ward in Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 178–180. 14 A. a. O., 91–92. Oder Doug Pagitt: „Mystery is not the enemy to be [conquered] nor a problem to be solved, but rather, the partner with whom we dance. […] We are called to show each other the way into mystery.“ Tomlinson, The Post-Evangelical (2003), 85. Tony Jones: „[…] propo�sitional truth is out and mysticism is in.“ Jones, Postmodern Youth Ministry (2001), 63. Tom�linson: „Post-evangelicals are less inclined to look for truth in propositional statements and old moral certitudes and more likely to seek it in symbols, ambiguities, and situational judgements.“ Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 94. Bohannon über seine Einschätzung der Predigtinhalte bei emergenten Protagonisten: „Doctrine, dogma, and deliberate truths are out; mystery is in. For both preachers to continue down this postmodern epistemological path, one that Wells claims cherishes a – studied uncertainty, it might imply (or expose?) that conversing about mystery, as a biblical trait to treasure, is nothing more than an emergent cloak to cover a denial of the knowable – knowledge of truth – at least as revealed in Scripture and understood […].“ Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 173. Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 85. Oder auch Miller, Blue Like Jazz (2003), 57. Oder Bell, der sagt: „The Christian faith is mysterious to the core. It is about things and beings that ultimately can’t be put into words. Language fails. And if we do definitely put God into words, we have at the very moment made God something God is not […] The mystery is the truth.“ Bell, Velvet Elvis (2005), 32–33. Oder: Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 112–113. 15 Im Folgenden bezieht sich der Begriff Dogma auf zentrale theologische Leitsätze und Bekenntnisse. 16 In dem Buch „Generous orthodoxy“ lehnt McLaren den Glauben an eine Erkenntnislehre, die gesicherte Grundlagen annimmt („foundationalist epistemology“), klar ab und bekennt von sich, er sei „philosophisch post-fundamental [post-foundationalist]“. McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 90, 152–153, 164. McLaren, A New Kind of Christian (2001), 53. Auf der Plattform „EmergentVillage“ steht geschrieben: „You won’t find a traditional statement of faith here. We don’t have a problem with faith, but with statements (read more here). Whereas statements of faith and doctrine have a tendency to stifle friendships, we hope to further conversation and action around the things of God.“ http://emergentvillage.org/?page_id=74 am 16.05.2012. Pagitt in Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 114., Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 70. McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 25, 33, 325. 17 Wells, The Courage to be Protestant (2008), 17.
10.1 Vorbemerkungen zu theologischen Schlüsselthemen
351
Theologie selbst entwickeln und an ihre Situation „anpassen“ wollen.18 Samir Selmanovic sagt es pointiert (für „revisionists“): „Every truth is dependent on a story, and every theology is a biography.“19 Theologische Diskurse werden von Protagonisten dabei zeitlich begrenzt gültig, vorläufig, kontextuell20, dialogisch21, lokal, auf Charismen orientiert, partizipativ22 und plural geschildert.23 Theologische Diskurse sollen dabei im Kontext von Beziehungen und Freundschaften betrieben werden.24 Emergente Protagonisten wollen narrativ25 und 18 Rob Bell spricht von einer „do it yourself “-Theologe und sagt: „This is not just the same old message with new methods. We’re rediscovering Christianity.“ Zitiert in: http://www.equip.org/ articles/navigating-the-emerging-church-highway/#christian-books-2 am 26.09.2014. 19 Selmanovic, It’s Really All About God (2009), 28. 20 Ward sagt: „In encourages a form of practical theology that respects the place of doctrine and theology as it is embodied in communities and lived in as tradition.“ Ward, Participation and Mediation (2008), 95. Vgl. A. a. O., 101–102. 21 Es fällt auf, dass Erzählungen über persönliche Erfahrungen und Anschauungen einen großen Platz in der Literatur, öffentlichen Veranstaltungen und Gottesdiensten einnehmen. Wie Ganiel und Marti vermuten, werden damit Reflexion und Dialog provoziert: „[…] they generate engagement among their listeners, prompting them to craft their own biography in a way that foregrounds statements on the nature of spiritual life.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 85. 22 McKnight benennt partizipative Theologie als Form von „wiki-stories of the stories“. McKnight / Corcoran u. a. (Hg.), Church in the Present Tense (2011), 116. 23 Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 119–143. Oder auch Jones: „Emergents believe that theology is local, conversational, and temporary. To be faithful to the theological giants of the past, emergents endeavor to continue their theological dialogue.“ Jones, The New Christians (2008), 111. 24 Das meint etwa Tony Jones: „Emergents believe that an envelope of friendship and reconcilia� tion must surround all debates about doctrine and dogma.“ Jones, The New Christians (2008), 78. So auch bei McLaren: McLaren, Why Did Jesus, Moses, the Buddha and Mohammed Cross the Road (2012), 207–216. 25 Vgl. Williamson / Narloch, „Peter Rollins | Pints & Parables “, in: The Deconstructionist Pod�cast (Podcast) 09.08.2016, https://thedeconstructionists.com/pete-rollins-pints-parables-a- special-episode/ am 28.05.2018. Als Beispiel einer narrativen Vermittlung emergenter Ideen und Ansätze gelten die literarischen Veröffentlichungen von Brian McLaren. In Form einer Trilogie wird konsequent der Versuch unternommen, theologische Sachverhalte und Fragen narrativ zu vermitteln. Deutlich wird dies etwa in der Roman-Trilogie von Brian McLaren, in der sich Pastor Daniel Poole angeregt durch seinen Gemeindedienst, seine Familie und Freunde herausfordernden Glaubensfragen stellt. Brian McLarens Trilogie aus der zweiten historischen Phase gehört zu den einflussreichsten Wegbereitern für die „Emerging Church“-Konversation. Es ist eine fik�tive Geschichte, in der der Hauptprotagonist Dan (Daniel Poole), ein von bibeltreuem Gedankengut geprägter evangelikaler Pastor, während einer Glaubens- und Sinnkrise Neo trifft, einen ehemaligen Fundamentalisten, der nun in der liberalen Episkopalkirche ist und einen postmodernen „dritten Weg“ zwischen Liberalismus und konservativem evangelikalem Denken sucht. In den Dialogen zwischen Dan und Neo wird Dan von seinen evangelikalen Überzeugungen abgebracht und in das postmoderne Verständnis des Christentums eingeführt. Dan sagt am Anfang: „Nun, ich fühle mich wie ein Fundamentalist, der seinen Halt verliert – des-
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
nicht dogmenorientiert26 oder bekenntnisorientiert, „liquid“27 („flüssig“) und nicht propositionell vermitteln.28 In der Konversation wird diskutiert, dass bei „institutionalisierter Theologie“ der Verdacht besteht – damit sind konfessionelle Festlegungen oder auch dogmatische Lehrmeinungen gemeint – Meinungsbildung zu unterdrücken. Theologie wird als gemeinsames Unterfangen einer Gemeinschaft und in Gemeinschaft verstanden, das Karen Ward als „making little theologies“29 beschreibt. Ein anderer Begriff, der bereits Gesagtes über emergente theologische Diskurse zusammenfasst, ist „open source“, wie in dem von Andrew Perriman herausgegebenen Buch geposteter Blogbeiträge über theologische Diskurse in sen fundamentale Überzeugungen rissig werden, ausfransen, auseinanderfallen und meinen Fingern entgleiten. […] Ich verliere meinen Glauben – nun, nicht gerade das, aber ich habe das Gefühl, ich verliere den ganzen Rahmen für meinen Glauben.“ Es ist bezeichnend für den Ansatz McLarens, dass Neo vorschlägt, den Glauben nicht als ein Haus mit Fundament anzusehen, sondern als ein Spinnennetz mit verschiedenen Ankerpunkten. McLaren, A New Kind of Christian. A Tale of Two Friends on a Spiritual Journey (2001), 12, 54. McLaren, The Story We Find Ourselves In (2003); McLaren, The Last Word and the Word After That (2005). Eine ausführliche Übersicht über McLarens Wirken findet sich bei Lee / Sinitiere, Holy Mavericks (2009), 77–106. Oder auch Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 21–47. Als aktuelle emergente theologische Literaten oder literarische Theologen können Rob Bell und Peter Rollins genannt werden. In seinem Buch „The Orthododx Heretic and Other Impossible Tales“ fragt Rollins danach, wie man von Gott sprechen kann. In 33 Geschichten unternimmt er den Versuch, die Leser zu besseren Menschen zu verwandeln – nicht durch Wahrheitsvermittlung, sondern durch Identifikation mit „stories“, wie der Autor sagt. Rollins, The Ortho�dox Heretic and Other Impossible Tales (2009). 26 Cissna: „God Sent a Person, Not a Proposition. A Conversation with Len Sweet“, http://www. georgefox.edu/journalonline/archives/fall05/emerging.html am 28.02.2007. Auch Brian McLaren: „This rebuke to arrogant intellectualizing is especially apt for modern Christians, who do not build cathedrals of stone and glass as in the Middle Ages, but rather conceptual cathedrals of proposition and argument. These conceptual cathedrals – known popularly as systematic theologies – were cherished by modern minds, liberal and conservative […].“ McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 168. 27 Perriman, Otherways (2007), 11. In der Konversation wird dabei rekurriert auf Ward, Liquid Church (2002). 28 Tickle stellt fest, dass in der Konversation neben kataphatischen theologischen Aussagen auch häufig apophatische theologische Aussagen getätigt werden. Apophatische Theologie ist ein Zugang zu Gott, der über Gott in Negationen spricht. Kataphatische Theologie hat das lateinische Christentum lange geprägt und hat Aussagen über Gott vermittelt, die über Gott zutreffen. Tickle, Emergence Christianity (2012), 173–174. 29 Karen Ward in Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 162. Karen Ward sagt dazu: „Little theologies are those developed within local faith communities that help them reflect upon, shape, and live into their lives in Christ within a particular time, place, and set of circumstances, which are unique to them and may not be readily applicable to the times, places, and circumstances in other communities.“ A. a. O., 156.
10.1 Vorbemerkungen zu theologischen Schlüsselthemen
353
der Konversation deutlich wird.30 Dieser Begriff lässt sich mit der Metapher des Netzes von Tickle verknüpfen und soll verdeutlichen, dass emergente Protagonisten Offenheit und Öffentlichkeit wollen, intellektuelle subjektive Integrität bevorzugen31 und „von der Basis“ gemeinsam Theologie „entwickeln“ wollen. Ein weiteres auffälliges Merkmal ist die Betonung der Orthopraxie in der „Emerging Church“-Konversation.32 Emergentes theologisches Denken will aus der Praxis formuliert werden33 und will erfahrungsgeleitet sein34. Dave Tomlinson sagt dazu: „We believe in God by the way we live, not just by the way we formulate our theology.“35 Tomlinsons Aussage vereint zwei Aspekte, die für emergente Protagonisten prominent sind. Zum einen wird Theologie aus der Praxis formuliert. Zum anderen wird durch den Fokus auf die eigene Praxis Individualität (auch in Gemeinschaft) zum Ausgangspunkt theologischen Denkens. Dabei ist man gewillt, Paradoxien und Widersprüche anzunehmen und keine zwangsläufige Harmonisierung zu suchen.36 30 So wurde auf der Plattform „Open Source Theology“ der Versuch unternommen zu defini�neren, was eine emergente Theologie ausmacht. In 15 Thesen wird der Anspruch vorgestellt. Perriman, Otherways (2007), 14–15. Es sind Beiträge und Aufsätze enthalten, die auf „Open Source Theology“ (www.opensourcetheology.net am 11.07.2014) zwischen 2002 und 2007 ver�öffentlicht wurden. Das Ziel der Website war es, eine kohärente theologische Diskussion für die „Emerging Church“ zu schaffen. A. a. O. Ein anderer Aspekt der an „open source“ anschließt, ist die Verwendung digitaler Informati�ons- und Kommunikationstechnologien, die einen erheblichen Einfluss auf emergente theologische Diskurse haben, wie dies Moody nachweist. Moody sagt: „The previously perceived boundaries of theology, constructed as the systematic study of Christian revelation found in the Bible, Christian history, and church authority, are being extended through the creation of cybertexts which reflect theologically upon a much broader collection of cultural phenomena.“ Moody, „The Desire for Interactivity and the Emerging Texts of the Blogosphere“ (2008), 104. 31 Ausgangspunkt ist das Verständnis einer radikalen menschlichen Freiheit. Vgl. Keuss, „The Unmoving Movement“ (2006), 12. Vgl. Bell, Sex God (2007), 19. 32 Etwa bei McKnight: „What is the Emerging Church“. Jones: „The emergent movement is ro�bustly theological; the conviction is that theology and practice are inextricably related, and each invariably informs the other.“ Jones, The New Christians (2008), 105. 33 Gladys Ganiels Beobachtung ist hilfreich: „[…] [they] are responding to a wider sense within emerging churches that their developing practices have been worked out by trial and error, or intuition (or, as others might say, listening to the Holy Spirit), rather than by robust theological reflection.“ http://www.gladysganiel.com/social-justice/the-church-is-flat-book-review-tony-jones-onhow-to-move-the-emerging-church-from-critique-to-practical-change/ am 14.07.2016. 34 Für McLaren ist mit dem Verschwinden der Moderne der dazugehörige „spiritless empiricism“ verschwunden und ein Interesse und Wiedererwachen von spirituellen Erfahrungen sichtbar. McLaren, The Church on the Other Side (2006), 179. 35 Tomlinson, Re-Enchanting Christianity (2008), 45. 36 „Emergents embrace paradox, especially those that are core components of the Christian story.“ Jones, The New Christians. Dispatches from the Emergent Frontier (2008), 163. Zudem besteht das Bedürfnis, dass Unkenntnis oder Nicht-Wissen zugegeben und akzeptiert werden. Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 94. John Caputo
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
Die bisher vorgestellten Gründzüge spezifischer Herangehensweisen lassen sich in zwei Erklärungsmodelle theologischen Denkens einordnen. In Beschreibungen über die theologischen Diskurse in der „Emerging Church“-Konversation wird besonders für den US-amerikanischen Raum auf den Begriff und das Konzept „post-foundational theology“ verwiesen.37 „Postfoundationalism“ steht für eine erkenntnistheoretische Strömung. Es wird davon ausgegangen, dass es keine letztbegründeten Annahmen gibt, die von allen als Grundlagen erkenntnistheoretischer Diskurse angenommen werden können. So wird nach Parallelen und Überschneidungen zwischen den Rationalitäten verschiedener Perspektiven auf die Wirklichkeit gefragt. Jeff Keuss beschreibt den emergenten theologischen Diskurs als „neo-korrelationale“ Theologie, der erstens das Gefühl als authentische Kategorie der Erkenntnis festlegt, zweitens den theologischen Diskurs als immanent und damit zwingend politisch, sozial, positivistisch und historisch betrachtet und drittens die theologische Anthropologie zuerst in der Freiheit des Subjekts begründet sieht.38Der Gewinn von Keuss’ Zugriff ist, dass in der Konversation bevorzugte anthropologische Grundbestimmungen deutlich werden.39 Diese Bestimmungen sind: ein freies Subjekt, dessen Gefühl die Möglichkeit des Erkennens gibt. Folgend soll der Fokus auf zwei wesentliche innere Methodiken emergenter Theologie (im Rahmen der Vorbemerkungen) separat benannt werden, zunächst Theologie durch Konversation und anschließend Theologie durch Dekonstruieren. Danach sollen Aspekte der Schriftverständnisse in der Konversation vorgestellt werden.
dazu: „The emphasis is thus placed not upon what beliefs are believed, but how such beliefs are believed; ‚holding beliefs lightly‘ is discursivley promoted to keep the individual and community open.“ Caputo, What would Jesus Deconstruct (2007), 137. 37 So zum Beispiel bei Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America“ (2009), 219, 222–223. Bedeutende US-amerikanischer Vertreter sind: Grenz / Franke, Beyond Foundationalism (2001). 38 Vgl. dazu Keuss, „The Unmoving Movement“ (2006), 12. Keuss, „The Emergent Church and Neo-correlational Theology After Tillich, Schleiermacher and Browning“ (2008). 39 Dies ist beispielsweise zu sehen bei Bell, Sex God (2007), 21.
10.1 Vorbemerkungen zu theologischen Schlüsselthemen
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10.1.2 Theologie durch Konversation Zum Verständnis emergenter Theologie soll ein Leitbegriff, der in anderen Kontexten bereits besprochen wurde, hervorgehoben werden, nämlich das Anliegen theologisches Denken als Konversation zu beschreiben.40 Für emergente Protagonisten wird durch diesen Begriff deutlich, dass es nicht darum geht, zu einem Ergebnis oder einer finalen Synthese des theologischen Denkens, theologischer Positionierungen oder von Glaubensüberzeugungen zu kommen.41 Dies lässt sich für die drei Stränge in unterschiedlich starker Schattierung sagen. Während für „relevants“ und „reconstructionists“ Konversation auf Grundlage von theologischen Überzeugungen geschieht, die gewiss sind, gilt für viele „revisionists“ gerade ein Hinterfragen der Prämissen.42 Dies findet sich in Aussagen von Protagonisten, die der „revisionist“-Strömung angehören, nämlich dass eine allgemeingültige Wahrheit für alle Menschen und Kontexte (erkenntnistheoretischer Fundamentalismus) abgelehnt wird.43 Besonders bei Vertretern der „revisionist“-Strömung ist Folgendes zu beobachten: Theologische Positionen sollen sich nicht etablieren und damit zu 40 Auf den Einfluss der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien muss hier hingewiesen werden. Bereits Andrew Jones hat 2001 als emergenter Blogger darauf hingewiesen, dass es zu einer wechselseitigen Beeinflussung der Werte von neuen Medien und der „Emerging Church“-Konversation kommt. Er sagt: „It is obvious that there is a cross-over of values – new media values and new church values.“ Siehe www.tallskinnykiwi.typepad.com/ tallskinnykiwi/2004/01/blogging_and_em.html am 12.06.2009. Ein solcher Wert ist, dass in der Blog-Sphäre der Schwerpunkt der Kommunikation auf dem Prozess der Kommunikation liegt und nicht auf dem Erreichen eines Kommunikationsergebnisses. „This is an emphasis in line with the ‚new church values‘ of emerging Christian communities, reluctant to predetermine the position towards which they are emerging.“ Moody, „The Desire for Interactivity and the Emerging Texts of the Blogosphere“ (2008), 105. Moody weist darauf hin, dass es mindestens drei neue Werte-Verhältnisse im Umgang mit Texten gibt, „the readerly / writerly distinction, the death of the author, and the situatedness of meaning“. A. a. O., 102. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 6 Die „Emerging Church“-Konver�sation und digitale Informations- und Kommunikationstechnologien. 41 Vgl. Jones, The New Christians (2008), 78. McLaren dazu: „I’m more interested in generating conversations than argument.“ McLaren, The Last Word and the Word After That (2005), xv. 42 Und so beschreibt Tony Jones, Protagonist der „revisionist“-Strömung, dass eine epistemolo� gische Zurückhaltung ein Kennzeichen emergenten Diskurses ist. Tony Jones dazu: […] the primary characteristic that epitomizes the movement and makes it distinctive is epistemic humility […].“ Jones, The Church is Flat (2011), ii. 43 So sagt es beispielsweise Tony Jones: „Emergents believe that truth, like God, cannot be de�finitively articulated by finite human beings.“ Jones, The New Christians (2008), 152. Oder McLaren, der sagt: „[…] not absolute and arrogant certainty about our theologies, but a pro� per and humble confidence in God.“ McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 43.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
Doktrinen werden, sondern in einer dialogischen Gemeinschaft offenbleiben und entwickelt werden. Ganiel und Marti formulieren: „Ongoing conversation is in itself a mechanism or a strategy to maintain a plurality of identities and positions within emerging congregations.“44 Religiöse Orientierung formt sich demnach durch fortlaufende Konversation und soll fluide bleiben. Ausgangspunkte sind dabei biografische Erlebnisse, Fragen des Kontextes, eine radikale Subjektorientierung45 und die Beschäftigung mit der Bibel. Konversation ermöglicht es, emergenten Teilnehmenden offen zu bleiben, ihren Fragen Raum zu geben und dies als Methode zu verstetigen.46 Konfessionelle oder dogmatische Vorgaben, Antworten und Lehrmeinungen werden auf den Prüfstand gestellt und beispielsweise als Archiv religiöser Meinungsbildung verwendet. Es fällt auf, dass Zweifel über die eigene religiöse Orientierung häufig thematisiert werden. Webber spricht von einer Hermeneutik des Zweifels47, die in der „Emerging Church“-Konversation bevorzugt wird.48 Weiter wird der Dialog- und Konversationsbegriff insofern verstanden, als die Dialogpartner (etwa innerhalb der Gemeinschaft oder mit verschiedenen christlichen und außerchristlichen Frömmigkeitstraditionen) wahrgenommen werden, ihnen zugehört wird sowie (für „reconstructionists“ und „revisionists“) nicht der explizite oder implizite Versuch unternommen wird, das Gegenüber
44 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 79. 45 Dediziert sagt dies etwa Rollins, The Fidelity of Betrayal (2008), 118. Oder auch Tony Jones, der folgende Kriterien einer „postmodernen Theologie“ nennt: fluide, lokal, zeitlich begrenzt. http://sf1000.registeredsite.com/%7euser1006646/miva/merchant.mv?Screen=BASK&Store_ Code=YS-SD&Action=ADPR&Product_Code=NS05-057CD&Attributes=Yes&Quantity=1 am 12.10.2015. 46 Emergente Protagonisten betonen, dass in den vormals besuchten christlichen Gemeinschaften theologische Kritik unerwünscht war. So haben sich im Umfeld der „Emerging Church“-Kon�versation Initiativen gebildet, die über theologische Positionen ins Gespräch kommen. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 79. 47 Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 129–131. Diese „hermeneutic of suspicion“ und „rhetorical hermeneutic“ stehen neben der „redemptive her�meneutic“, die, wie Gilly meint, beim Subjekt ansetzen und jedem mit seiner Sicht recht gibt. Gilley, This Little Church Stayed Home (2006), 166–167. 48 Für Rollins gilt: „Christianity is more properly understood not as a religion or a religious worldview but as a critique of religion and of religious idols and ideologies.“ Moody, Radical Theology and Emerging Christianity (2015), 19. Zweifel und die Darstellung dieser spielen auch im gottesdienstlichen Leben emergenter Christen eine gewichtige Rolle. Rollins und auch Bakker kritisieren, dass Antworten auf Fragen der Kreuzigung, Erbsünde oder Auferstehung lediglich zur Beruhigung der Unsicherheit dienen und damit manipulativ werden können. Zweifel wird oft nicht zugelassen oder wegdiskutiert. Siehe dazu eine ausführliche Darstellung von John Bohanon unter: Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 183–193.
10.1 Vorbemerkungen zu theologischen Schlüsselthemen
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zu ändern.49 Dies ist vergleichbar mit einem Dialogverständnis, das plurale Ansätze (Pluralität) und Meinungen nebeneinander stehen lässt.
10.1.3 Theologischer Diskurs durch Dekonstruieren Sowohl Phyllis Tickle als auch Gladys Ganiel und Gerardo Marti erkennen im Dekonstruieren ein wesentliches Charakteristikum der „Emerging Church“Konversation.50 Im „Sprachratgeber“ für emergente Protagonisten wird das Vorgehen erklärt: The implications of deconstruction are staggering for Christians doing ministry in the emerging culture. For example, every time preachers or authors seek to interpret Scripture, they make it clear by their assumptions and method which interpretative community they belong to. […] While deconstruction feels to moderns like chaos and nihilism, it feels to postmoderns like honesty and liberation. While moderns feel deconstruction yields readings that are unclear, slippery, unserious, and unscentific, postmoderns feed that deconstructive readings are meaningful, interesting, playful, rich, honest, rewarding, and inclusive.51
Emergente Protagonisten sowohl in der „relevant“ und der „reconstructionist“ als auch der „revisionist“-Strömung der „Emerging Church“-Konversation sprechen davon, dass es in der Postmoderne zu einem Ende übergreifender Narrative kommt und die epistemologischen Gewissheiten zerbrochen sind.52 So soll auch theologisches Denken nicht mehr wie ein einheitliches Narrativ fun49 Rollins und auch andere der „revisionist“-Strömung grenzen sich von einem Dialogverständ� nis ab, das im Dialog keine Gleichwertigkeit, sondern eine Überlegenheit des Christen (wenn auch nur subtil) verortet. In einem evangelikalen Verständnis von Dialog wird etwa davon ausgegangen, dass der Christ die „richtigen“ Antworten hat, die überzeugend vermittelt werden sollen. Dies unterscheidet sich auch von einem ökumenischen Dialogverständnis, wo darauf geachtet wird, Gemeinsamkeiten zu finden. Peter Rollins dazu: „[…] the difference is that those involved in the emerging conversation can engage in a genuine dialogue in which they are prepared to rethink in relation to what the other says (instead of an inauthenitc dialogue in which one pretends to be open to the insights of another, but in reality one is nor prepared to place one’s own thinking into question).“ Rollins, How (Not) to Speak of God (2006), 53. 50 Siehe dazu Abschnitt III Kapitel 2.2.1 Die Thematisierung der Veränderung der religiösen Orientierung. Vgl. Hunt: „The Emerging Church“. 51 McLaren / Haselmayer u. a., A is for Abductive (2003), 89. 52 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 11.1.3 Der Begriff „Postmoderne“ als Kritik an der „Moderne“.
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gieren und muss dekonstruiert werden. Dies geschieht in den drei Strömungen in unterschiedlicher Intensität. Emergente Protagonisten fühlen sich gedrängt, ihre religiöse Überzeugungen sowie ihr Handeln zu überprüfen, da „große Narrative“, wie es im US-amerikanischen Evangelikalismus vorgeschlagen wird, Metanarrative, wie etwa die Bibel oder wie es die christliche Kultur („Christendom“) eine ist, ausgedient haben oder wenigstens unter dem Verdacht stehen, keinen konsensfähigen Deutungshorizont anbieten zu können.53 Emergente Protagonisten schlagen unterschiedliche Wege ein, wie ein solcher Dekonstruktionsvorgang aussehen kann. Grundsätzlich gilt, dass Reflexivität und Diskursivität einen autobiografischen Ausgangspunkt haben.54 Dies reicht von Neudeutung oder Verwerfung systematisch-theologischer Kategorien und Themen wie „Sünde“, „Sühne“, „Hölle“ bis hin zur Neuordnung religiöser Symbole und Praktiken.55 Die unterschiedlichen Grade der Kontextualisierung einerseits und der Dekonstruktion vorhandener religiöser Praxis und Theologie andererseits sind bereits in die Einteilung in die drei Strömungen der Konversation eingeflossen.56 Konkret zeigen sich dekonstruierende Methoden im Umgang mit Texten, die vermitteln wollen, dass es eine stabile, festgelegte und unverrückbare Antwort auf existenzielle Fragen gibt.57 Emergente Protagonisten kritisieren die Bedingungen theologischer Aussagefähigkeit: „[…] the ability of language to
53 Vgl. Bell, What we Talk About When we Talk About God (2014). Vgl. Carson, Becoming Conversant with the Emerging Church (2005), 165. John Caputo liefert hierzu Anleitungen in seinem Buch, wenn er sagt, dass Dekonstruieren eine frohe Nachricht für die Kirchen sei. Die Evangelien und Jesus dienen als: „[…] a deep deconstructive force or agency“. Caputo, What would Jesus Deconstruct (2007), 26. Dekonstruieren diene der Kirche „[…] because it delivers the shock of the other to the forces of the same – the shock of the good (the ‚ought‘) to the forces of being (‚what is‘).“ A. a. O., 26–27. 54 Ward, Participation and Mediation (2008), 4. 55 McLaren etwa hofft durch seinen Roman, die evangelikale Vorstellung von der Hölle zu dekonstruieren („to deconstruct our conventional concepts of hell“) und damit zu einem „neuen Glauben“ zu führen. McLaren, The Last Word and the Word After That (2005), xvii. 56 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 4 Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation. 57 Stuvland pointiert: „At the heart of deconstruction is a rejection that the event has fully ‚arri�ved‘ at a final, fixed, and finished destination and an affirmation of it happening or becoming.“ Stuvland, „The Emerging Church and Global Civil Society“ (2010), 218. Katharina Sarah Moody stellt fest, dass in der Konversation durch die digitalen Informationsund Kommunikationstechnologien die Verwendung von Texten einer Veränderung unterzogen ist. Moody, „The Desire for Interactivity and the Emerging Texts of the Blogosphere“ (2008), 100–101. Durch das Internet und die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien wird ein traditionelles Verständnis von Text problematisiert. Sie sagt: „Texts within the blogosphere cannot be easily categorised as written, verbal, or visual, since blogs combine these types of texts.“ A. a. O., 103.
10.1 Vorbemerkungen zu theologischen Schlüsselthemen
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convey anything without prejudice.“58 In die gleiche Kerbe schlägt Bielo, der sagt, dass emergente Protagonisten „language trouble“ ausmachen.59 Damit pointiert er die in der „Emerging Church“-Konversation aufgegriffene sprachliche Begrenzung, die bis hin zum Verzicht auf sprachliche Festlegungen und Sprachlosigkeit des christlichen Glaubens führt.60 Der Begrenzung der Sprache und dem grundsätzlichen Verdacht der Sprache gegenüber, folgt nicht das theologische Verstummen, sondern Kreativität, mulitsensorische Zugänge, Bricolage und „Exzess“.61 Der prominenteste Vertreter für die beschriebenen Überlegungen ist Peter Rollins, der die Konversation mit dem dekonstruierenden Diskurs erstmals mit seiner Veröffentlichung „How (Not) to Speak of God“ 2006 bereichert hat. Sprachliche Dekonstruktion dient der Bildung einer neuen religiösen Identität, die in den Diskursen jedoch noch unbestimmt scheint. Caputo führt abschließend aus: „It is not a matter of becoming who you already are but of becoming something new, a metanoia, a new creation, an openness to the coming of the other.“62
58 Putnam / Campbell, American Grace (2010), 178. Für Tickle zeigt sich das Aufgreifen dekonstruierender Linien in der Einstellung von emergenten Christen auf höhere theologische Ausbildung. Tickle sagt: „This meant they sought secular, liberal arts educations, where they stu�died at least some contemporary philosophy, which then influenced the way they looked at the world and thought about how Christians should live and the church should be organized.“ Tickle, Emergence Christianity (2012), 161. 59 So auch zu finden bei Stuvland, „The Emerging Church and Global Civil Society“ (2010), 217. „The emerging church places central importance on postmodernism’s treatment of language in further articulating its theology.“ 60 Für Rollins ist es unvermeidbar, dass Sprache immer darin scheitern wird, göttliche Realität zu beschreiben. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 95. Vgl. Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 47–69. 61 Ähnlich formuliert es Stuvland, der sagt: „In deconstruction, the epistemology of the emerging church is one less bounded by definite, knowable, discernible paths but instead indicative of becoming, incompleteness, and ultimately faith.“ Stuvland, „The Emerging Church and Global Civil Society“ (2010), 217. Stuvland sagt weiter: „Insofar as postmodernism – epistemology, metanarratives, and deconstruction – is something of a methodology for the emerging church […].“ A. a. O., 219. Dazu hat Rollins geschrieben: Rollins, The Orthodox Heretic and Other Impossible Tales (2009); Rollins, Insurrection (2011). 62 Caputo, What would Jesus Deconstruct (2007), 52–53.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
10.1.4 Zu den Schriftverständnissen Die Bibel spielt in der „Emerging Church“-Konversation eine bedeutende Rolle. In der „Emerging Church“-Konversation lässt sich beobachten, dass unabhängig von der Strömung nach der Rolle der Bibel, der Autorität der Bibel sowie der Bibelpraxis gefragt wird. Besonders für Protagonisten, die aus vormals fundamentalistischen Gemeinschaften kommen, ist diese Auseinandersetzung wichtig.63 Scot McKnight und Phyllis Tickle betonen beide, dass die Frage nach der Autorität der Schrift eine epistemologische Herausforderung für Protagonisten in der Konversation sei.64 So spricht Tomlinson hinsichtlich der Bibel von „respect for“ oder „love for“ und nicht von Autorität oder Unfehlbarkeit.65 So fallen etwa Schriftverständnisse auf, die als Reaktion auf ein evangelikales Schriftverständnis wie ein Pendelschlag in eine entgegengesetzte Richtung wirken.66 Jones spricht beispielsweise von einer „humble hermeneutic“67, die emergente Protagonisten einüben wollten, da sie gewillt seien konfessionelle Überzeugungen (und damit Eingrenzungen) einer Revision zu unterziehen – und diese zu überbrücken. McLaren meint, dass die Bibel nicht als Buch mit endgültigen, moralischen Wahrheiten und Prinzipien („not a look-it-up encyc63 McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 177. McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 75. Bell, Velvet Elvis (2005), 42. Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 107. McLaren lässt s einen fiktiven Protagonisten Dan Poole sagen: „When we let it [die Bibel] go as a modern answer book, we get to rediscover it for what it really is: an ancient book of incredible spiritual value for us, a kind of universal and cosmic history, a book that tells us who we are and what story we find ourselves in so that we know what to do and how to live.“ McLaren, A New Kind of Christian (2001), 52. Oder: Kimball, The Emerging Church (2003), 175, 215. Während John Burke etwa sagt: „One fear I have for the emerging church is that we will cut loose from the anchor of the authority of the Scriptures in hopes of relating to our relativistic culture […]“ (John Burke in Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 61.), verhält es sich für Doug Pagitt anders. Die Bibel ist für Pagitt „a member with great sway and participation in all or conversations.“ Pagitt, Reimagining Spiritual Formation (2003), 32. Oder bei Brian McLaren, für den die Bibel Folgendes ist: „[…] portable library of poems, prophecies, histories, fables, parables, letters, sagely sayings, quarrels, and so on.“ McLaren, A New Kind of Christianity (2010), 103. 64 Tickle, The Great Emergence (2012), 145. Siehe Scot McKnight in https://www.christianitytoday.com/ct/2008/september/39.62.html am 11.02.2015. 65 Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 74. 66 So beschreibt es etwa auch Hunt, „The Emerging Church and its Discontents“ (2008). Emer�gente Protagonisten, wie Rob Bell, wenden sich beispielsweise gegen die im Evangelikalismus vorausgesetzte Verbalinspiration. Siehe dazu Bell, Velvet Elvis (2005), 58–59. A. a. O., 23. Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 113–114. McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 73. 67 Jones, The New Christians (2008), 140.
10.1 Vorbemerkungen zu theologischen Schlüsselthemen
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lopedia of timeless moral truths“), sondern als Narrative von Gottes Geschichte mit der Welt („but the unfolding narrative of God at work in a violent, sinful world, calling people, beginning with Abraham, into a new way of life“) zu sehen sei.68 McLarens Aussage ist für emergente Protagonisten typisch: When we theological conversatives seek to understand the Bible, we generally analyse it. We break it down into chapters, paragraphs, verses, sentences, clauses, phrases, words, prefixes, roots, suffixes, jots, and tittles. Now we understand it, we tell ourselves. Now we have conquered the text, captured the meaning, removed all mystery, stuffed it and preserved it for posterity, like a taxidermist with a deer head.69
Pagitt spricht von der Bibel als „Gesprächspartnerin“, die neben den Stimmen und Erfahrungen der Partizipienten stehe.70 Es gibt Tendenzen ab der zweiten historischen Phase und besonders stark vertreten in der dritten historischen Phase (in der der theologische Diskurs von „revisionists“ dominiert wird), in denen die Bibel als offener Prozess („evolving process“71) betrachtet wird.72
68 McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 171. McLaren dazu: „Our sermons tended to exe� gete texts in such a way that stories, poetry, and biography […] were sifted out, while the ‚wheat‘ of doctrines and principles were saved. Modern western people loved that approach […].“ McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 77. So auch Tickle in ihrer Untersuchung über die „Emerging Church“. Tickle, Emergence Christianity (2012), 164–166. Vgl. auch Bell, What is the Bible? (2017). 69 McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 79. McLaren spricht an anderer Stelle davon, dass sich die Botschaft der Bibel abhängig von der Situation verändere. Sweet, The Church in Emergent Culture (2003), 210. Vgl. auch McKnight, „Scripture in the Emer� ging Movement“ (2011). 70 Pagitt: „It can and should be listened to with the same sense of respect and reverence as the Bible itself.“ Pagitt, Preaching Re-Imagined (2005), 219. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 115–117. 71 So etwa Rob Bell. „The Bible tells a story. A story that isn’t over. A story that is still being told. A story that we have a part to play in.“ Bell, Velvet Elvis (2005), 53. Brian McLaren: „In some passages, God appears violent, retaliatory, given to favoritism, and careless of human life. But over time, the image of God that predominates is gentle rather than cruel, compassionate rather than violent, fair to all rather than biased toward some, forgiving rather than retaliatory. In this more mature view, God is not capricious, bloodthirsty, hateful, or prone to fits of vengeful rage. Rather, God loves justice, kindness, reconciliation, and peace; God’s grace gets the final word.“ McLaren, A New Kind of Christianity (2010). 72 Z. B. bei Bell, Velvet Elvis (2005), 46, 55. McLaren, A New Kind of Christian (2001), 50. Oder bereits bei Tomlinson, der davon spricht, dass „Bible becoming, rather than being the word of God.“ Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 113. Dabei wird an einigen Stellen auf eine Nähe der „Emerging Church“-Konversation zur „progressive theology“ und „progressive Christians“ verwiesen. So etwa Nesch, Hath God Said (2014). Das stellen auch Ganiel und Marti fest, gehen
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
Inhaltlich lassen sich in der „relevant“-, „reconstructionist“- sowie „revisionist“-Strömung Diskussionen über eine angemessene Kontextualisierung erkennen, die von Loslösungs- und Abwehrmechanismen geprägt sind.73 Die hier zusammengetragenen Überlegungen zeigen, dass die Bibel partizipativ und gemeinschaftlich ausgelegt werden soll. Damit ist die Hermeneutik der Schriftauslegung analog zu Anliegen emergenter Diskurse, nämlich gemeinschaftlich, partizipativ, kontextuell (lebens- und gesellschaftsrelevant)74, lokal sowie ausgehend vom Individuum zu verstehen.
10.2 Christologische Ansätze 10.2.1 Jesus und das „Reich Gottes“ In der „Emerging Church“-Konversation geschieht eine bewusste Orientierung an der Person Jesu von Nazareth, seinem Leben, seiner Botschaft und seinen Taten.75 Eine Orientierung an Jesus wird in der Konversation als Gegenteil von einer Religions- oder Gemeindezugehörigkeit inszeniert.76 dem aber nicht weiter nach. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 168–169. Für Ganiel und Marti unterscheiden sich emergente Protagonisten von sogenannten „progressive Christians“ in ihrer radikalen Individualität. Dave Tomlinson spricht darüber, dass „[the] text is on the move“. Tomlinson, Re-Enchanting Christianity (2008), 31. 73 Für Dave Tomlinson schildert der Begriff „progressive orthodoxy“ seine Verbundenheit mit der Tradition und ihren Wurzeln und gleichzeitig die Dynamik im Austausch mit der gegenwärtigen Zeit schildert. Tomlinson, Re-Enchanting Christianity (2008), 16. Er sagt: „Being faithful to the gospel does not suggest preserving it in precisely the same form it was orginally given. Rather it entails reconfiguring and reinterpreting the message in order that it can connect with new situations […].“ A. a. O., 17. Eine andere Akzentuierung macht Tony Jones deutlich, der die Stellung der Bibel in emergenten Gemeinschaften folgendermaßen beschreibt: „[…] the Bible is referred to as a ‚member of the community‘ with whom we are in conversation, and the communal interpretation of a text bubbles up from the life of the community.“ Jones, The New Christians (2008), 216. 74 Beispielhaft bei der Untersuchung von Teusner zu sehen: Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 113. Für die untersuchten emergenten Blogger stellt Teusner fest: „The Bible, for them, is not a set of instructions for living as much as it is inspiration to live outside our understanding.“ A. a. O., 115. 75 Frost und Hirsch fragen: „If the church had only the four Gospels to go by, what would it look like?“ Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 167. Beispielhaft dazu: „[…] the church exists to form Christlike people, people of Christlike love.“ McLaren, A New Kind of Christianity (2010), 164. Pagitt meint in Einklang mit McLaren, dass
10.2 Christologische Ansätze
363
Dabei wird besonders der „historische“ Jesus als Vorbild und Lehrer für emergente Christen betont.77 In der Konversation wird diskutiert, dass die christliche Existenz in der protestantischen Theologie stärker durch die paulinische Brille wahrgenommen wurde (und es damit zu einer unverhältnismäßigen Verschiebung hin zu abstrakten Glaubenswahrheiten gekommen sei), als durch die Evangelien selbst.78 In der Konversation wird eine Konzentration auf Jesu Verkündigung des „Reiches Gottes“ betont.79 Statt, wie im Evangelikalismus üblich, die Kreuzestat Jesu in den Mittelpunkt theologischen Denkens zu rücken, wird das „Reich Gottes“ der Kreuzestat übergeordnet.80 In der „Emerging Church“-Konversation wird beklagt, dass es in der Christenheit (besonders im Evangelikalismus) 76
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es um eine Identifikation mit dem Leben Jesu gehe, „[…] beyond mere belief in commands and into a life that’s in rhythm with God.“ Pagitt in http://www.relevantmagazine.com/god_artic�le.php?id=6365&print=true am 17.10.2007. Und auch McLaren: „It’s All About Who, Jesus?“, (Leadership Journal), http://www.christianitytoday.com/leaders/newsletter/2004/cln40830. html. am 10.12.2014. Oder auch Frost, Jesus the Fool (2010). Oder auch Evans, Faith U nraveled (2010), 101–108. Frost und Hirsch sprechen von „[…] propose ways in which the church might reconfigure itself, indeed recalibrate its mission, around the example and teaching of the radical rabbi from Nazareth.“ Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 6. Nash / Ward, „Alan Hirsch – How to Re-Jesus the Church“, in: Nomad (Podcast) 10.11.2009, http://www.nomadpodcast.co.uk/ nomad-10-alan-hirsch-and-rejesusing-the-church/ am 29.12.2016. Bell sagt, dass Jesus in seinen Aussagen, wie „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“, den bestmöglichen Weg einer Person, sein Leben zu gestalten, zeigen wollte. Bell, Velvet Elvis (2005), 21. Scot McKnight beschäftigt sich in einer Serie, genannt „Missional Jesus“, mit einer neuen Fo�kussierung auf Jesus. www.jesuscreed.org/?cat=39 am 11.05.2010. Rob Bell sagt etwa dazu: „As obvious as it is, then, Jesus is bigger than any one religion. He didn’t come to start a new religion, and he continually disrupted whatever conventions or systems or establishments that existed in his day. He will always transcend whatever cages and labels are created to contain and name him, especially the one called ‚Christianity‘.“ Bell, Love Wins (2011), 150. Bell weiter: „He is for all people, and yet he refused to be co-opted or owned by any one culture. That includes any Christian culture. Any denomination. Any church. Any theological system.“ A. a. O., 151. Vgl. Pagitt, A Christianity Worth Believing (2012). Frost und Hirsch behaupten: „Wir Evangelikalen haben zu lange Jesus mit paulinischen Augen gelesen, wie es jemand genannt hat. […] Aber indem wir das Evangelium durch die Briefe lesen, entsteht eine beunruhigende Verzerrung. […] Wir sollten lieber alle Verfasser in der Schrift durch die Perspektive der Evangelien lesen, einschließlich Paulus.“ Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 112–113. McLaren spricht in diesem Zusammenhang von einer „conspiracy theory“. McLaren, The Last Word and the Word After That (2005), 149. Damit greift die Konversation neutestamentliche Debatten um die „New Perspektive on Paul“ auf. Für eine Einführung siehe Dunn, The New Perspective on Paul (2008); Wright, What St Paul Really Said (1997). Bachmann / Woyke, Lutherische und neue Paulusperspektive (2005). Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 54. Ein emergenter Leiter dazu: „We try to live into that reality and hope. We don’t dismiss the cross; it is still a central part. But the good news is not that he died but the kingdom has come.“ A. a. O. Auch: McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 47.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
zu starken Verengungen in der Verkündigung des Evangeliums gekommen sei. Die Verengung meint, sich zu sehr an dem Kreuzestod Jesu zu orientieren und das Wohl der Menschen und sozialpolitisches Engagement aus den Augen verloren zu haben. Das führte laut emergenten Protagonisten zu einem einseitigen Gottesbild und zu einem einseitigen Evangelium. Es wird beklagt, dass das jesuanische Evangelium auf das Seelenheil reduziert worden sei und ein ganzheitlicher Ansatz, der das Wohl der Menschen und das Aufbrechen ungerechter Strukturen beachtet, mehrheitlich fehle.81 Ganzheitlich meint weiter, dass soziale Belange, Bewahrung der Schöpfung, Lebensführung und politische Verantwortung als Teilbereiche des christlichen Glaubens wiederentdeckt werden wollen. Dabei wird der Kreuzestod Jesu nicht isoliert und auf das Heil des Individuums bezogen interpretiert, sondern im Kontext der Transformation dieser Welt begriffen.82 McLaren bezeichnet sein Verständnis des Evangeliums etwa als ein „world-blessing gospel“83. In Auseinandersetzungen mit einem einseitig empfundenen Gottesbild, das von emergenten Protagonisten als modernistisch, mechanistisch und unbarmherzig beschrieben wird, wird in der Konversation um eine Weitung dieser Sicht gerungen.84
10.2.2 Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu In der „Emerging Church“-Konversation gibt es eine rege Diskussion über die Deutung des Kreuzestodes Jesu. Besonders für emergente Protagonisten, die aus evangelikalen oder fundamentalistischen Traditionen kommen, ist die Frage 81 Siehe dazu Pagitt, Church Re-Imagined (2005), 20. 82 McKnight mahnt dazu, die Sühne und Versöhnung Gottes am Kreuz im Kontext der anderen biblischen Versöhnungstaten Gottes zu sehen und zu interpretieren, wie zum Beispiel Pfingsten oder den Ostersonntag. McKnight, A Community Called Atonement (2007), 25–34. 83 McLaren, It’s All About Who, Jesus? Für ihn ist es ein Evangelium, das sich über „white man’s Christianity“ hinausbewegt und mehr ist als „getting our fine white souls in heaven, and be�tween now and then, into better circumstances here on earth.“ McLaren, „Church Emerging“ (2007), 148. Ähnlich sagt es: Jones, The New Christians (2008), 116. Oder a. a. O., 36. 84 McLaren und andere schildern das moderne Gottesbild, das im US-amerikanischen Evangelikalismus ihrer Meinung nach dominiert: „[…] an uptight God who is about black-and-white easy answers […] a conceptual God who is encountered through systems of abstractions, propositions, and terminology […] a controlling God who is cold, analytical, and mechanistic […] an exklusive God who favors insiders and is biased against outsiders […].“ McLaren, More Ready Than You Realize (2002), 63–64. Nadia Bolz-Weber: „The image of God I was raised with was this: God is an angry bastard with a killer surveillance system who had to send his little boy (and he only had one) to suffer and die because I was bad.“ Bolz-Weber, Pastrix (2013), 85.
10.2 Christologische Ansätze
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nach der Bedeutung des Kreuzes wesentlich.85 Die innerhalb des Evangelikalismus klaren Bekenntnisse zur Heilsbedeutung des Todes Jesu am Kreuz lösen in großen Teilen der „Emerging Church“-Konversation Widerstand aus und werden beispielsweise als „evangelikale Klarheit“ und „evangelikaler Dogmatismus“ kritisiert.86 Die entscheidende Debatte zu diesem Thema liegt in dem Verständnis der Bedeutung von Jesu Tod als stellvertretende Sühne für die Menschheit. Im Hinblick auf die Deutung des Kreuzestodes innerhalb der „Emerging Church“Konversation lassen sich die drei Strömungen wiedererkennen: „relevant“, „reconstructionist“, „revisionist“. Während Mark Driscoll, solange er noch Teil der Konversation war, die „relevant“-Strömung der Konversation repräsentierte und ein „traditionelles evangelikales“ Verständnis von Jesu stellvertretender Sühneleistung am Kreuz vertrat, zeigt sich eine Bandbreite von Verständnissen bis hin zu den „revisionist“-Vertretern, die ein Sühnehandeln Jesu am Kreuz ablehnen.87 „Reconstructionist“ fragen nach alternativen Deutungen, die wiedergewonnen werden können (wie dies beispielsweise McKnight tut). 2003 sprach der britische Baptist Steve Chalke von einem „cosmic child abuse“88 Gottes und lehnte, wie auch McLaren, Bell oder Rollins, ein Sühneverständnis eines stellvertretenden Opfertodes Jesu ab. Die theologischen Impulse des US-amerikanischen Neutestamentlers Scot McKnight zu diesem Thema wurden in der zweiten historischen Phase von vielen emergenten Protagonisten der „relevant“ und „reconstructionist“-Strömung aufgegriffen.89 McKnight ist um eine Weitung des evangelikalen Verständnisses bemüht, das den Kreuzestod Jesu ausschließlich als stellvertretende 85 Vgl. McKnight, „Atonement and Gospel“ (2011). Siehe zur Herkunft emergenter Protagonisten Abschnitt II Kapitel 5 Sozialstruktur und religiöse Orientierung emergenter Protagonisten. 86 Auch in Teusners Untersuchung von zwanzig Blogs kommt er zu dem Ergebnis: „It follows atonement theology is problematic.“ Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 103. 87 Vertreten etwa von Karen Ward oder Pagitt. Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 21–47. Oder auch von Peter Rollins. Siehe dazu Reyburn, „Cross-examination“ (2014). Reyburn macht deutlich: „[…] Rollins tries to set up a theo�logy of the crucifixion around this axis of doubt, but in so doing he calls into question not only the context of scripture and not only divinity of Christ and the reality of God, but also his very own theological-political coordinates.“ A. a. O., 321. Oder auch Jones, Did God kill Jesus (2015). Oder auch Chalke, der meint, dass ein solches Verständnis „both offensive and a massive contradiction“ der Liebe Gottes sei. Chalke / Mann, The Lost Message of Jesus (2003), 104. 88 Chalke / Mann, The Lost Message of Jesus (2003), 182–183. Vgl. Belcher, Deep Church (2009), 108. Vgl. Williamson / Narloch, „Tony Jones – ‚Did God Kill Jesus?‘“, in: The Deconstructionist Podcast (Podcast) 07.06.2016, https://thedeconstructionists.com/ep-15-tony-jones-did-godkill-jesus/ am 28.05.2018. 89 McKnights Impulse wurden besonders von „relevant“- und „reconstructionist“-Vertretern aufgegriffen.
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Sühneleistung sieht und auf individuelles Seelenheil beschränkt. McKnight fasst fünf altkirchliche Metaphern zusammen, die in der Christenheit für Sühne und Versöhnung gebraucht werden, um sie für den Evangelikalismus wiederzugewinnen: In Christus sein, Loskauf oder Befreiung, Genugtuung, moralische Beeinflussung sowie stellvertretendes Strafleiden.90 McKnight beklagt, dass sich im Evangelikalismus das stellvertretende Leiden Jesu als fast alleinige Deutung durchgesetzt habe.91 Er schlägt vor, zu einem ausgewogenen SühneBegriff zu gelangen. Er rückt aber in der dritten historischen Phase, in der die Konversation von „revisionists“ geprägt ist, in den Hintergrund. McKnight plädiert dafür, den Sühnebegriff aus der sichtbaren Praxis einer missionalen, emergenten Gemeinschaft zu gewinnen und meint: „Missional presence and activity is nothing more than participation in the missio Dei and that participation is the praxis of atonement.“92 Hier wird ein theologischer Anspruch an emergente Gemeinschaften deutlich, nämlich der der Verkörperung des Evangeliums.93 Den hier skizzierten Ausführungen liegt zugrunde, dass eine sündenorientierte Anthropologie durch eine schöpfungszentrierte „imago Dei“-Vorstellung ersetzt wird. Eine solche positive Sicht auf Menschen steht den im Evangelikalismus üblich kommunizierten Motiven der „Verlorenheit“ und prinzipiellen Trennung von Gott gegenüber.94
90 McKnight, A Community Called Atonement (2007), 44–50. In der Konversation wird zudem beklagt, dass diese dogmatischen Positionen wenig Auswirkung auf die Orthopraxie der Christen und der christlichen Gemeinschaften hätten. McKnight beklagt, dass die Versöhnungslehre vom Kreuz sich nicht im alltäglichen Leben der Menschen auswirke und damit eine folgenlose Theorie bleibe. A. a. O., 1–8. 91 McKnight definiert das Ziel von „atonement“ als Wiederherstellung von Beziehungen zu Gott, zu einem selbst, zu den Menschen und zur Welt. Anhand des lukanischen Geschichtswerks zeichnet McKnight nach, dass Gottes Absicht für diese Welt eine Transformation ebendieser sei. McKnight unterstreicht, dass Jesu Vision vom „Reich Gottes“ und Sühne / Versöhnung zusammengehörten. Das Verständnis von Sühne muss also auch hier ansetzen. A. a. O., 9–14. 92 A. a. O., 135. 93 McKnight sagt: „[…] atonement is something done not only by God for us but also something we do with God for others […].“ A. a. O., 117. Damit wird die moralische Seite der Sühne�leistung hervorgehoben. Webber betont in seinen Ausführungen etwa das Christus VictorMotiv. Webber, Ancient-Future Faith (1999), 66–67. 94 Beispielhaft ist zu beobachten bei Bell, Sex God (2007), 19, 24–25.
10.2 Christologische Ansätze
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10.2.3 „Reich Gottes“-Verständnisse in der „Emerging Church“Konversation 10.2.3.1 Das „Reich Gottes“ als „verlorene Botschaft“ In der „Emerging Church“-Konversation ist der Begriff „Reich Gottes“ zu einem attraktiven Ettiket avanciert, um die Mitte der Botschaft Jesu auszudrücken.95 Ein in der Bewegung häufig vertretener und grundsätzlicher Impetus ist, dass Kirche diese Botschaft Jesu „verloren habe“, dass sie in Vergessenheit geraten sei und sie diese wiederentdecken müsse, nämlich die Botschaft vom „Reich Gottes“.96 McLaren sagt: „The kingdom of God, which is critical to the church’s missional call, is at the heart of this lost message.“97 In der Konversation werden unterschiedliche Aspekte mit dem Begriff „Reich Gottes“ in Verbindung gebracht. Mehrheitlich betreffen diese Aussagen Aspekte, die dem Wohl der Menschen dienen, wie etwa das Auflösen ungerechter Strukturen. Eine wiederkehrende Konnotation mit dem Begriff „Reich Gottes“ ist die Transformation der Welt und vorherrschender Strukturen sowie das Empfangen des Schaloms, wie dies etwa McLaren sagt.98
95 McLaren spricht davon, dass das „Reich Gottes“ ist wie: „a dance of love“, „vitality“, „harmony“, „celebration“. McLaren, The Secret Message of Jesus (2006), 138–148. Auch bei Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 64. 96 Dave Tomlinson „Christian mission in the twenty-first century requires a kingdom orienta�tion, rather than a church orientation.“ Tomlinson, Re-Enchanting Christianity (2008), 132. Tomlinson führt an, dass es in der Anglikanischen Kirche Großbrianniens üblich sei, dass die Kirche ein Teil der „parish community“ sei. Der Priester diene damit neben seiner Gemeinde dem gesamten Stadteil. A. a. O., 135. So auch Frost und Hirsch, die davon sprechen, dass „[…] the traditional Christian depiction of the procelain-skinned Jesus has hindered our ability, indeed our desire, to actually be like him.“ Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 17. 97 Brian McLarens Buch „The Secret Message of Jesus“, im Untertitel: „Uncovering the Truth That Could Change Everything“, führt die Gedanken aus, die er bereits in „The Church on the Other Side“ und „A Generous Orthodoxy“ hat anklingen lassen. So auch bei Chalke / Mann, The Lost Message of Jesus (2003). 98 Ziel der Mission Gottes sei es, wie Brian McLaren sagt: „peace, reconciliation“ oder „shalom“. Brian McLaren „I’ve been convinced that [Jesus’ message] has everything to do with public matters in general and politics in particular – including economics and aid, personal empowerment and choice, foreign policy and war.“ McLaren, The Secret Message of Jesus (2006), 10. Der Begriff „Reich Gottes“ wird vereinzelt als Gegenbegriff zu „Rettung der Seelen“ und ein ausschließlich am Seelenheil orientiertes Verständnis des Evangeliums Jesu kritisch diskutiert. McLaren, A New Kind of Christianity (2010).
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10.2.3.2 Das „Reich Gottes“ als Transformation Ein deutlicher Schwerpunkt eines emergenten „Reich Gottes“-Begriffs liegt auf dem Aspekt der Transformation. Folgende Diskurse sind erkennbar: • Die Verwirklichung des „Reiches Gottes“, wie es emergente Protagonisten propagieren, geschieht durch Transformation der Gesellschaft und der Strukturen.99 Es zeigt sich bei prominenten emergenten Autoren (besonders in der dritten Strömung) die Argumentation, dass Sünde vorwiegend als ein von außen kommendes Phänomen verstanden wird.100 Beispielhaft ist dies bei Pagitt zu sehen, der sagt: „We can live lives in a collective way, so the systems that cause disharmony with God can be changed. We can change the patterns wired into us from our families and create new ways of relating and being. In other words, we can be born-again, new creations.“101 Den anteilnehmenden Menschen wird dabei zugetraut, das „Reich Gottes“ entscheidend mitzugestalten.102 Schwerpunkte in einem solchen emergenten „Reich Gottes“-Verständnis sind die Erneuerung ungerechter gesellschaftlicher Strukturen, Bewahrung der Schöpfung und die Verwirklichung des Schaloms.
99 McLaren sagt über das „Reich Gottes“, das im Widerspruch steht zu „[…] a ceaseless rebellion against the tyrannical trinity of money, sex, and power. Its citizens resist […] by […] generosity toward the poor […] prayer […] [and] fasting.“ Zitiert in http://www.christianitytoday. com/ct/2008/september/38.59.html am 10.02.2015. McLaren, The Last Word and the Word After That (2005), 121. McLaren, The Story We Find Ourselves In (2003), 125. Bell, Velvet Elvis (2005), 21. Burke / Peper, Making Sense of Church (2003), 148. Tony Jones: „Emergents hold to a hope-filled eschatology: it was good news when Jesus came the first time, and it will be good news when he returns.“ Jones, The New Christians (2008), 176. 100 In diesem Zusammenhang wird Sünde, Schuld, Trennung von Gott oder Gericht Gottes besonders in der dritten Strömung als Ablehnung einer Erbsündelehre thematisiert. Jones lehnt etwa die Erbsünde und die Auslegung von Paulus in Römer 5 ab. Siehe dazu http://blog. beliefnet.com/tonyjones/2009/01/original-sin-the-genesis-of-a.html am 16.02.2009. Pagitt lehnt ein Sündenverständnisses, wie es im „Westminster Confession of Faith“, im Augsburg� er Bekenntnis und im „Book of Common Prayer“ geschrieben steht als „extreme theology“ ab, die dem christlichen Narrativ nicht entsprechen. Pagitt, A Christianity Worth Believing (2012), 123–124. Vgl. Fuller / Sanders, „Pagitt and Conder on A Christianity Worth Believ� ing“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 13.05.2008, https://homebrewedchristianity. com/2008/05/13/homebrewed-christianity-10-pagitt-and-conder-on-a-christianity-worthbelieving-2/ am 28.12.2016. 101 Pagitt, A Christianity Worth Believing (2012), 167. 102 Frost und Hirsch dazu: „We partner with God in the redemption of the world […]. We do ex�tend the kingdom of God in daily affairs and activities and actions done in the name of Jesus.“ Siehe Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 115.
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• Weiter verstehen emergente Christen es als ihre Aufgabe, diese Transformation in ihrer Lebensführung und ihrer Gemeinschaft zu verkörpern,103 und haben den Auftrag, für das Wohl dieser Welt zu leben.104 • Einen weiteren Aspekt betont Doug Pagitt, wenn er von individueller, moralischer Transformation spricht und in Form der Nachfolge Jesu einen personalisierten „Reich Gottes“-Ansatz (als Verwirklichung des „Reiches Gottes“) vertritt.105
10.2.3.3 Das „Reich Gottes“ präsentisch verwirklicht In der „Emerging Church“-Konversation dominiert unabhängig von den Strömungen mehrheitlich eine präsentische Eschatologie.106 Diese wird bei prominenten emergenten Vertretern, wie McLaren, Pagitt, Bell oder Jones, vor der 103 Brian McLaren: „Even if only a few would practice this new way, many would benefit. Oppressed people would be free. Poor people would be liberated from poverty. Minorities would be treated with respect. Sinners would be loved, not resented. Industrialists would realize that God cares for sparrows and wildflowers – so their industries should respect, not rape, the environment […]. The kingdom of God would come […].“ McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 121–122. 104 A. a. O., 117. Oder auch Bell, der sagt: „To be a Christian is to work for the new humanity. […] Because with every decision, conversation, gesture, comment, action, and attitude, we’re inviting heaven or hell to earth.“ Bell, Sex God (2007), 28–29. 105 Pagitt: „You are going to be the people who are the inhabitants of the kingdom of God. The way of God, the life of God, the activity of God. You are going to be those people. And when you take on this life of God in the world, then you’re living as the people of God. Later in the New Testament I think the phrase is you become the body of Christ. That you are the people who are living out the hopes and dreams and aspirations of God in this world because God is active in it and you are joining with God.“ https://www.youtube.com/watch?v=XauyG1ToAHA am 15.05.2018. 106 Eschatologie meint das umfassende und endgültige Heilshandeln Gottes, wie es von Gott herkommt und zu Gott hinführt und wie es in Jesus Christus schon erfüllt ist. Eschatologie als Lehre von den letzten Dingen. Bob Dewaay betont als Erster die Wichtigkeit der eschatologischen Zugänge in der „Emerging Church“. Er macht diese als zentralen „unifying factor“ in der „Emerging Church“-Diskussion aus. Dewaay, The Emergent Church (2009), 203. Corcoran, „Thy Kingdom Come (on Earth)“ (2011). Ein Gesprächspartner für Protagonisten in der Konversation in der Auseinandersetzung mit Fragen der Eschatologie ist Andrew Perriman, der einen Präterismus vertritt. Perriman, The Coming of the Son of Man (2005); Perriman, Re: Mission (2007); Perriman, The Future of the People of God (2010). Die präteristische Auslegung der Schrift behandelt das Buch Offenbarung als ein symbolisches Bild der Konflikte der frühen Kirche und nicht als eine Beschreibung dessen, was in der Endzeit geschehen wird. Eine Kategorie des Präterismus ist der Transmillenarismus, der in der Konversation diskutiert wird. Transmillenarismus vertritt die These: „[…] away from a preoccupation with a futurist eschatology, whether personally or cosmically interpreted, towards a covenantal theology that calls upon the church to be a concrete blessing to the world.“ http://www.postost.net/2004/01/transmillennialism am 26.12.2016. Perrimans Sicht über präteristische Eschatologie findet sich bei Protagonisten der „Emerging Church“, wie Jay Gary oder Brian McLaren wieder. Das Interview von Tim King, ein Protagonist des Präterismus, ist einzusehen bei: http://theooze.tv/thinkfwd/tim-king-conversion-or-contribution am 26.12.2016.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
Hintergrundfolie des im Evangelikalismus bedeutsamen Dispensationalismus verhandelt. Christen und Kirche haben demnach die Aufgabe, schon nach den Werten des kommenden und teilweise schon präsenten „Reich Gottes“ zu leben107, bis vollkommener Friede und Gerechtigkeit erfahrbar werden.108 Dabei wird dis
Dies wird beispielsweise in Brian McLarens Buch „Everything Must Change“ deutlich. Siehe für eine genauere Schilderung Abschnitt II Kapitel 11.4 Krisen der Welt. Rob Bell wendet sich konsequent gegen eine futurische Eschatologie, wenn er meint, dass es nicht darum gehe in den Himmel zu kommen. Bell, Jesus unplugged (2006), 139–140. Oder Bell, Das letzte Wort hat die Liebe (2011), 178. Oder: Bell, Velvet Elvis (2005), 109–110, 147, 150. McLaren dazu: „The radical revolutionary empire of God is here, advancing by reconciliation and peace, expanding by faith, hope, and love – beginning with the poorest, the weakest, the meekest, and the least. It’s time to change your thinking. Everything is about to change. It’s time for a new way of life. Believe me. Follow me. Believe this good news so you can learn to live by it and be part of the revolution.“ McLaren, The Secret Message of Jesus (2006), 32–33. Diese präsentische Deutung in Form eines sozialpolitischen verheißungsorientierten Heils wird am Ende der zweiten historischen Phase besonders bei McLaren und Pagitt deutlich. A.a.O; McLaren, Everything Must Change (2007); Pagitt, A Christianity Worth Believing (2012). Oder auch bei Dave Tomlinson: Tomlinson, How to be a Bad Christian (2012), 119–120. Deutlich kontrastiert auch Tony Campolo den Dispensationalismus mit einer emergenten Theologie. McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 59. Campolo kritisiert etwa den Dispensationalismus, der eine Welt vor Augen malt, die sich moralisch in einer Abwärtsspirale befindet und sagt: „To the contrary, the history oft he world toward becoming the kind of world God willed it to be when it was created. Human history is going somewhere wonderful.“ A. a. O. Für Campolo wird das zweite Kommen Jesu zur „[…] ultimate hope […] the fulfillment of all our dreams […] the realization of every utopian expectation. […] To those who work for peace, the Second Coming is the assurance that their labors are not in vain, and that one day peace will reign.“ A. a. O., 64. Auch McLaren weist auf seine Auseinandersetzung und Distanzierung zum Dispensationalismus hin. McLaren, Naked Spirituality (2011), 24. 107 Dan Kimball: „Going back to a raw form of vintage Christianity, which unapologetically focu�ses on kingdom living by disciples of Jesus.“ Zitiert in: Horton / Willimon, Christless Christ�ianity (2008), 114–115. 108 McLarens Sicht ist: „God graciously invites everyone and anyone to turn from his or her current path and follow a new way. This is the good news.“ Weiter: „[Jesus] inserted into human history a seed of grace, truth and hope that can never be defeated […] all who find Jesus, God’s hope and truth discover the privilege of participating in his ongoing work of personal and global transformation and liberation from evil and injustice.“ McLaren, Everything Must Change (2007), 206, 260, 264. McLaren weiter: „It’s not about the church meeting your needs, it’s about you joining the mission of God’s people to meet the world’s needs.“ Crouch, The Emergent Mystique. McLaren und Campolo: „God’s kingdom is a new society that Jesus wants to create in this world – within human history, not after the Second Coming or a future apocalypse or anything else. But right now.“ McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 43. Auch Tony Jones und Doug Pagitt gehen von einer positive Enderwartung aus, wenn sie sagen: „God’s promised future is good, and it awaits us, beckoning us forward. We’re caught in the tractor beam of redemption and re-creation, and there’s no sense fighting it, so we might as well cooperate.“ Jones / Pagitt (Hg.), An Emergent Manifesto of Hope (2007), 130. McLar�en schlägt auch in diese Kerbe: „In this way of seeing, God stands ahead of us in time, at the end of the journey, sending to us in waves, as it were, the gift of the present, an inrush of the
10.2 Christologische Ansätze
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kutiert, dass sich das „Reich Gottes“ bereits in den bestehenden Kategorien von Raum und Zeit sowie der Kultur verwirklicht.109 Die Betonung eines präsentischen „Reich Gottes“ hat, wie Gallagher und Newton feststellen, Auswirkungen auf die Frage, wie eine emergente Gemeinschaft, am Beispiel von „Urban Village“, „spiritual formation“ versteht. So sagen die Autoren: „One other facet of spiritual growth that was central to the Urban Village discussion was the place of the physical world in facilitating spiritual growth. Sermons regularly encourage attenders to ‚find the wonder of God in nature, science, and the creativity of the arts.‘“110 Über relationale Kategorien (etwa Kommunikation, analog und digital, Gruppen und Gemeinschaften) wird eine Anteilhabe am „Reich Gottes“ etabliert.111 Gleichzeitig werden Kategorien der Entfremdung von Gott, welche für den Evangelikalismus wesentliche Bezugnahmen auf die Hölle sind, etwa von Bell oder McLaren stark diesseitig und im Kontext des gegenwärtig erlebten Unrechts gedeutet.112 f uture that pushes the past behind us and washes over us with a ceaseless flow of new possibilities, new options, new chances to rethink and receive new direction, new empowerment.“ McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 283. Oder auch Rob Bell, der sagt: „Es ist die Aufgabe der Kirche, darin voranzugehen, dass sie die Schöpfung bejaht, und mehr noch: ihr Gutes genießt. Am Ende der Zeit werden wir nicht irgendwohin verpflanzt werden, denn diese Welt ist unser Zuhause und unser Zuhause ist gut. Eines der tragischsten Dinge, die dem Evangelium je angetan wurden, war das Aufkommen der Botschaft, dass Jesus uns von dieser Welt weg irgendwohin holt, wenn wir an ihn glauben.“ (dt. Übersetzung: Bell, Velvet Elvis (2005), 170–171.) Vgl. dazu: „[…] God has left the world unfinished. And with every action, we’re continuing the ongoing creation of the world.“ Bell, Sex God (2007), 64. 109 Tony Jones etwa: „Emergents see God’s activity in all aspects of culture and reject the sacredsecular divide.“ Jones, The New Christians (2008), 75. Oder auch Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 94–97. Chalke, Intelligent Church (2006), 122. Kreativ wird dies etwa von Rob Bell in der Kurzfilmreihe „Nooma“ dargestellt. Auf der Home� page ist nachzulesen: „Jesus lived with the awareness that God is doing something, right here, right now, and anybody can be a part of it. He encouraged his listeners to search, to question, to wrestle with the implications of what he was saying and doing. He inspired, challenged, provoked, comforted, and invited people to be open to God’s work in this world. Wherever he went, whatever he did, Jesus started discussions about what matters most, because for Jesus, God is always inviting us to open our eyes and join in.“ http://nooma.com/info am 12.04.2016. 110 Gallagher / Newton, „Defining Spiritual Growth“ (2009), 254. Weiter: „The Urban Village group described this celebration of God in creation as part of its broader mission to include teaching and activities that focus both on global as well as local social concerns.“ A. a. O. 111 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 10.2.3.8.3 Brian McLarens Ansatz. Die Relationalität wird in der Konversation aus der Relationalität der drei Personen der Trintität hergeleitet. Patrick Oden pointiert: „This perspective understands the kingdom of God as a pneumato�logical reality emphasizing relationship rather than power, politics, or territory.“ Oden, „An Emerging Pneumatology“ (2009), 263. 112 Fuller / Sanders, „Love Wins with Rob Bell“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 09.06.2011, https://homebrewedchristianity.com/2011/06/09/love-wins-with-rob-bell-homebrewed-christianity-106/ am 28.12.2016. Bell, Velvet Elvis (2005), 148. Bell: „Poverty, injustice, suffering – they are all hells on earth, and as Christians we oppose them with all our energies.“ Bell, Das
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass in der Konversation ein vorwiegend präsentisches „Reich Gottes“-Verständnis vorherrscht. Der Grad der präsentischen Einordnung variiert in der Konversation. Vereint sind emergente Protagonisten durch ihre positive Sicht der Zukunft. Es wird betont, dass das „Reich Gottes“ im Hier erlebbar sei und das religiöse Subjekt sowie die christliche Gemeinschaft die Aufgabe habe, sich an die Bewegung Gottes in dieser Welt anzuschließen und sie zu verkörpern. Konsequenterweise verbietet eine solche Sicht einen Dualismus von heilig und profan.113 Emergente Protagonisten meinen, dass Gott in der Kultur wirke und darin das „Reich Gottes“ erlebbar werde, neben der christlichen Gemeinschaft. Damit wird die Kirche als alleiniger Ort der Gottesbegegnung abgelehnt und die Grenzen zwischen Kirche und Welt abgeschwächt oder sogar aufgelöst.
10.2.3.4 Das Verhältnis von „Reich Gottes“, Kirche und Welt Während die Betonung des „Reiches Gottes“ emergenten Protagonisten gemeinsam ist, wird das Verhältnis zwischen „Reich Gottes“, Kirche und Welt in der „Emerging Church“-Konversation unterschiedlich bestimmt. Besonders in der zweiten und dritten Strömung zeigt sich in der „Emerging Church“ eine Unterbestimmung der „Kirche“ (im emergenten Sprachgebrauch konkretisiert in christlicher Gemeindlichkeit) und eine Überbestimmung des „Reiches Gottes“.114 Diese Unterbestimmung wird etwa in der Kritik an der Kirche deutlich.115 In der „Emerging Church“-Konversation ist „Kirche“ nicht deckungsgleich mit dem „Reich Gottes“ und auch nicht umgekehrt, d. h. „Reich Gottes“ mit Kirche. Es wird vielfach betont, dass das „Reich Gottes“ in dieser Welt präsent ist, unter
letzte Wort hat die Liebe (2011), 102; Bell, Velvet Elvis (2005). Bell sagt: „Es gibt die Hölle jetzt und es gibt die Hölle später, und Jesus lehrt uns, beide ernst zu nehmen […]“, damit zielt seine Argumentation auf die Ablösung des zukünftigen (für ihn) umstrittenen Verständnisses von Hölle ab. Bell sieht ein Höllen-„aion“ als zeitlich begrenzt an, was sich wiederum am ehesten mit dem Fegefeuer vergleichen lässt. Bell, Das letzte Wort hat die Liebe (2011), 89. Kolja Koeniger spricht in seiner Deutung von Rob Bell von einem „Angriff auf die Hölle“, weil er der Hölle ihre eschatologische Relevanz nimmt. Koeniger / Renz, „Angriff auf die Hölle“ (2012), 76–77. Oder McLaren: „hell […] is not an imposed consequence where God gets vengeance on us for mistaken or inaccurate beliefs or retaliates for misdeeds we have done. Instead, it’s the outward expression of what we have become.“ McLaren, The Last Word and the Word After That (2005), 172. 113 So auch zu finden im Online-Diskurs bei Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 139. 114 Der Grad der Über- bzw. Unterbestimmung variiert abhängig von den Strömungen. Vgl. Abschnitt II Kapitel 4.4 Ein weiterentwickeltes Modell. 115 Zur Krise der Kirche, wie sie in der „Emerging Church“-Konversation wahrgenommen wird, siehe Abschnitt II Kapitel 11.2 Kritik an religiösen Organisationen und religiöser Praxis.
10.2 Christologische Ansätze
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anderem in Teilen der Kirche, über diese aber hinausgeht.116 Doug Pagitt sagt dazu beispielhaft: „[…] the church as not necessarily the center of God’s intentions. God is working in the world, and the Church has the option to join God or not.“117 Da das „Reich Gottes“ und Gottes Wirken über die Kirche hinausgeht, führt dies, besonders für „revisionists“, zu einer hohen Wertschätzung und Akzeptanz eines Dialogpartners (und auch von anderen Religionen).118 Ausgedrückt wird dies in der Überzeugung der erhaltenden Gnade Gottes für die Welt.119 In der „Emerging Church“-Konversation gibt es aufgrund eines weiten 116 Frosts Äußerung ist dafür ein Beispiel: „God goes before us even into the most irreligious si�tuations and creates fields of environments in which our Christlike example can be received.“ Frost, Exiles (2006), 142. Siehe dazu auch Frost, Seeing God in the Ordinary (2000). Anderson, An Emergent Theology for Emerging Churches (2006), 109. Oder auch Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 30. 117 Zitiert in Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 42. 118 Nash / Ward, „Brian McLaren – Finding God in Other Religions“, in: Nomad (Podcast) 10.05.2013, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-50-brian-mclaren-and-mission-andother-religions/ am 29.12.2016. Zum Beispiel McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 35. In der Begegnung mit anderen Religionen werden gemeinsame Werte wie Respekt, Demut und Inklusivität betont. Kester Brewin etwa: Brewin, Other (2010). Brian McLaren nimmt den Begriff „Interspirituality“ vom katholischen Mystiker Wayne Teasdale auf und meint: „Interspirituality is a term to describe the breaking down of the barriers that have separated the religions for millennia. It is also the crossing-over and sharing in the spiritual, aestethic, moral and psychological treasures that exist in the spiritualities of the world religions. The deepest level of sharing is in and through another’s mystical wisdom, whether teachings, insights, methods of spiritual practices and their fruits.“ http://www.bedegriffiths.com/golden/gs_10.htm am 27.12.2016. Nash / Ward, „Brian McLaren – The Great Spiritual Migration“, in: Nomad (Podcast) 20.10.2016, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-115-brian-mclaren-the-great-spiritual-migration/ am 29.12.2016. Sweet dazu: „It will take a decolonized theology for Christians to appreciate the genuineness of others’ faiths, and to see and celebrate what is good, beautiful, and true in their beliefs without any illusions that down deep we all are believers in the same thing.“ Sweet, Quantum Spiritua� lity (1991), 131. In der dritten historischen Phase stellt McLaren das Verhältnis zu anderen Religionen klar dar: „The Holy Spirit preexists all religions, cannot be contained by any single religion, and therefore can’t be claimed as private property by any one religion.“ Der christliche Glaube hat eine Existenzberechtigung insofern, als er Teil des kollektiven Wissens ist. Er sagt: „[…] other religions have something to offer us as well, based on their real and unique encounters with the spirit.“ Für McLaren hat die christliche Perspektive im Dialog mit anderen Perspektiven ihren Platz. McLaren, Why Did Jesus, Moses, the Buddha and Mohammed Cross the Road (2012), 150. A. a. O., 152. So auch Bell, Love Wins (2011), 153. Oder auch nachzulesen bei Dave Tomlinson in dem Kapitel „God is not a Christian“: Tomlinson, How to be a Bad Christian (2012), 97–108. Auch bei Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 34. „If we reJesus the church, we will lead it toward a greater respect for the unbeliever, a greater grace for those who, though they don’t attend church service, are nonetheless marked by God’s image.“ 119 Beispielsweise bei Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 33–35. Fuller / Sanders, „Jesus Moses Buddha Mohammad McLaren and Clayton at the Goose“, in: Homebrewed Christianity TNT (Pod� -
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
„Reich Gottes“-Verständnisses (in welchem die Kirche eine untergeordnete Rolle spielt) von Vertretern der „revisionists“ eine Tendenz zum Universalismus.120
10.2.3.5 McLarens „Reich Gottes“-Vorstellung McLaren beschreibt „Reich Gottes“ als einen nicht festlegbaren Bereich, in welchem Menschen die Gnade Gottes zuteilwerde (unabhängig von Konfession, Kirche, Gemeinde oder religiöser Orientierung). Brian McLaren spricht von einem „tangible kingdom“ und meint eine nicht festlegbare, dynamische Herrschaft Gottes.121 Das „Reich Gottes“ ist für ihn beispielsweise hinsichtlich Sozialformen, Konfession, Ethnien (sowie Glaubensvorstellungen) radikal inklusiv.122 McLaren spricht von vier Kreisen der Anteilhabe und Inklusion, nämlich „discipleship“, „congregation“, „kingdom of God“ und „friendship“ (als vier relationale Kategorien).123 Inklusion meint hier, dass auch andere religiöse cast) 13.09.2012, https://homebrewedchristianity.com/2012/09/13/jesus-moses-buddha-mohammed-mclaren-and-clayton-at-the-goose/ am 28.12.2016. 120 Emergente Stimmen für einen solchen Universalismus sind McLaren, Jones, Rollins oder Pagitt. Beispielhaft siehe „The Christ of postmodernism has widened his net to include all of us, not just us (my nation, my tribe, my religion, my family).“ Sanguin, The Emerging Church (2008), 96. Genauer zu Sanguin siehe Fuller / Sanders, „The Emerging Church with Bruce San� guin“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 02.10.2008, https://homebrewedchristianity. com/2008/10/02/the-emerging-church-with-bruce-sanguin-homebrewed-christianity-ep26/ am 28.12.2016; Fuller / Sanders, „Evolution and Spirituality with Bruce Sanguin“, in: Home�brewed Christianity (Podcast) 11.02.2009, https://homebrewedchristianity.com/2009/02/11/ evolution-and-spirituality-with-bruce-sanguin-homebrewed-christianity-43/ am 28.12.2016. 121 In „The Secret Message of Jesus“ setzt sich McLaren intensiv mit der „Reich Gottes“-Thematik auseinander – ähnlich wie Steve Chalke in „The Lost Message of Jesus“. McLaren, The Secret Message of Jesus (2006). 122 So auch Chalke, der schreibt: „He redrew the boundaries of the kingdom of God to include very definitely those who previously had been excluded. […] Jesus’ radical blueprint for the Kingdom of God would mean the opportunity of a return from ‚exile‘ for all people who had become estranged from the creator God, whatever their spiritual, social, ethnic or economic standing. Indeed, it would ultimately include the whole of creation.“ Chalke / Mann, The Lost Message of Jesus (2003), 30. Für Steve Chalke ist Inclusion „essentially the task of working with and involving others – counting them in rather than out.“ Chalke, Intelligent Church (2006), 31. Oder auch Burke / Taylor, A Heretic’s Guide to Eternity (2006), 137. In der „Emerging Church“-Konversation wird der Begriff „Inclusiveness“ (dt. „Inklusion“) ver�wendet und bezieht sich nicht nur auf zwischenmenschliche Ebenen, sondern bezieht sich als theologischer Begriff „Inclusivism“ (dt. „Inklusivismus“) auf die Verhältnisbestimmung zwi�schen Christentum und anderen Religionen. Kurz gesagt bezeichnet „Exklusivismus“ die allei�nige Priorisierung der eigenen Religion und die Ablehnung anderer Religionen. „Inklusivisten“ meinen auch, dass ihre Religion überlegen ist, sie suchen aber nach Wegen, wie sie andere Religionen in einer positiven Weise inkludieren können. „Pluralisten“ lehnen jegliche notwendige Überlegenheit einer Religion ab. Selmanovic, „The Sweet Problem of Inclusiveness“ (2007). 123 McLaren, The Secret Message of Jesus (2006), 104–113.
10.2 Christologische Ansätze
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Traditionen, ohne spezifisch christlich sein zu müssen, eine Möglichkeit zum Heil bieten. McLaren vertritt die Meinung, dass Menschen durch ihr Handeln auch ohne ihr Wissen Christus nachfolgen können.124 Damit sei es nicht ausschlaggebend, Kenntnisse über Jesu Heilswerk zu haben oder eine bestimmte Sicht des Kreuzestodes Jesu zu vertreten.125 McLaren wendet sich gegen eine verurteilende Haltung anderen Menschen gegenüber, die aufgrund bestimmter inhaltlicher Überzeugungen in „Errettete“ und „Verlorene“ unterteilt werden.126 Er führt dazu den Begriff „predicamentalism“ ein und meint, dass jeder sich nur um sein eigenes Heil sorgen soll.127 Für McLaren sieht Christsein, nach Siegfried Kröpfel, wie folgt aus:128
Abbildung 12: McLarens Vorstellung vom „Reich Gottes“ – Darstellung nach Siegfried Kröpfel
124 McLaren, A New Kind of Christian (2001), 125. Siehe dazu Kröpfel, „Emerging Church“, 57. 125 Für genauere Ausführungen siehe Kröpfel, „Emerging Church“, 49. Dagegen wenden sich beispielsweise Alan Hirsch und Michael Frost, die sich von der „Emer�ging Church“-Konversation ab dem Ende der zweiten historischen Phase abwenden. Für sie ist eine Anteilhabe am „Reich Gottes“ ohne ein Bekenntnis zu Jesus Christus nicht möglich. Deutlich wird das in: Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 41–62. Oder auch Hirsch / Hirsch, Untamed (2010), 33–81. 126 McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 42. So auch Bell: Bell, Love Wins (2011), 160, 178–179. 127 McLaren: „[…] predicamentalism […] refuses to let anyone speculate about other people’s eternal fate but instead focuses you on your own.“ McLaren, A New Kind of Christian (2001), 126. 128 Eigene Darstellung nach: Kröpfel, „Emerging Church“, 61.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
Nach dieser Grafik wird das „Reich Gottes“ erstens durch die Nachfolge Jesu in einer christlichen Gemeinschaft oder dem Bekenntnis zu christlichen Überzeugungen sichtbar („discipleship“). Zweitens gibt es Menschen, die Teil des „Reiches Gottes“ sind, Jesus aber nicht nachfolgen (das betrifft die Personen A und B) und sich durch ihre Lebensführung auf Christus (X) zubewegen. Sowohl die lokale Gemeinschaft als auch Freundschaften haben das Potenzial, „Reich Gottes“-Vehikel zu sein; sie sind also beide Teil als auch nicht Teil des „Reiches Gottes“. McLaren stellt fest, dass Menschen am „Reich Gottes“ durch einen „change of heart“129 sowie durch ihr Handeln, das dem Wohl der Welt dient, partizipieren. Christen sollen nicht mehr nur die eigenen Anliegen, sondern Ziele, die der Welt zugute kommen, im Blick haben. Heil und Rettung werden für McLaren in den Begriffen „Friede“ und „Gerechtigkeit“ erfahrbar.130 Unterbestimmt bleibt jedoch was mit „change of heart“ gemeint ist, beziehungsweise liegt die Gefahr nahe, dass der Begriff zu einer moralischen Kategorie verkommt.
10.2.3.6 Frosts und Hirschs „Reich Gottes“-Vorstellungen Auf Grundlage der Überzeugung der „missio Dei“ suchen Protagonisten der „Emerging Church“ nach Spuren Gottes in der Welt.131 Vor diesem Hintergrund wird Mission zu einem umfassenden Auftrag und einer Lebenseinstellung. Bekannte Protagonisten für ein Ablehnen dualistischer Formen (Kirche – Welt) sind die „relevant“-Protagonisten Michael Frost und Alan Hirsch.132 Frost und Hirsch ordnen die Bereiche Gott, Welt und Kirche zu einem „holistisch-inkarnierenden Modell“ (und sprechen von einer „incarnational ecclesiology“) an.133 Folgende Grafik von Frost und Hirsch soll dies verdeutlichen.134
129 McLaren, The Secret Message of Jesus (2006), 165–166. 130 McLaren, The Story We Find Ourselves In (2003), 102. McLaren versteht das Konzept der „missio Dei“ in einem relationalen Sinn und meint, dass Got�tes versöhnendes Handeln niemals Menschen ausschließen würde und universal gilt. M cLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 196. So auch: Russinger / Field, Practitioners (2005), 38. „It is not about changing people, but rather about offering them the space of belonging and acceptance.“ 131 Beispielhaft: Frost, Exiles (2006), 97. Jones, The New Christians (2008). 132 Ihr Verständnis wird in den „relevant“ und „reconstructionist“-Strömungen aufgegriffen. 133 Zu finden bei Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 31–107. Frost, Exiles (2006), 54–68. Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 127–147. Hirsch, Vergessene Welt (2011), 130. 134 Vgl. Hirsch, Vergessene Wege (2011), 317. Vgl. Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 158.
10.2 Christologische Ansätze
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Die Autoren meinen, dass an der Schnittstelle zwischen Gott und der Kirche ein unmissionarischer Raum entstehe, weil Kirche in einer Binnenfokussierung gefangen sei. Die christliche Botschaft sei für die Welt an dieser Schnittstelle, also ohne Bezug zur Welt, nicht relevant und bleibe abstrakt. An der Schnittstelle zwischen Gott und Welt verorten die Autoren Gottes „vorlaufende“ Gnade und Gottes teilweise OffenbaAbbildung 13: Verhältnisrung in anderen Religionen. An der Schnittstelle bestimmung von Welt – zwischen Kirche und Welt erkennen die Autoren „Reich Gottes“ – Kirche – eigene Darstellung einen technisch-orientierten Glauben, der einen nach Frost/Hirsch Moralismus fördere. An der Schnittstelle der drei Kreise Welt, Kirche und Gott entstehe nach Frost und Hirsch eine missionarische, inkarnierende und messianisch ausgerichtete Gemeinschaft. Frost und Hirsch sagen dazu: „In this mode our worship of God is always done in the context of our mission, is culturally meaningful, and has definite missional edges, as it is open to all. Our evangelism and social action is communal, we join with God in redeeming the world (he’s already there!), and our spirituality is of the all-of-life variety.“135 Frost und Hirsch prägen dabei den Begriff „incarnational mission“ und leiten diesen von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus ab. Damit meinen sie, dass der Akt der Menschwerdung die Grundhaltung inkarnatorisch ausgerichteter Gemeinschaft bestimmen solle.136 Emergente Gemeinschaft als missionarische Kirche soll sich in das jeweilige kulturelle Umfeld einlassen und bei den Menschen präsent sein. Das inkarnatorische Missions-Modell steht dabei gewinnenden Methoden, sogenannten attraktionalen Modellen, gegenüber.137 Das inkarnierende Modell meint, dass Menschen in ihrem eigenen Bedeutungshorizont durch die Begegnung mit dem Evangelium den christlichen Glauben entdecken.138 Ungeklärt erscheint, ob sich das Evangelium in den Begegnungen der Menschen ereignet, in den Kontext der Menschen übersetzt oder im Kontext entdeckt wird.
135 A. a. O., 159. 136 Die Autoren dazu: „To identify incarnationally with a people will mean that we must try to enter into something of the cultural life of a ‚people‘; to seek to understand their perspectives, their grievances and causes, in other words their real existence, in such a way as to genuinely reflect the act of identification that God made with us in Jesus.“ A. a. O., 38. 137 Murray, Church after Christendom (2004), 22. 138 Das inkarnierende Modell wird im Kapitel über das emergente Missionsverständnis näher dargestellt. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 10.3.5 Inkarnierendes vs. attraktionales Missionsmodell.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
10.2.3.7 Aufheben eines Dualismus von profan und sakral Aus einem präsentischen „Reich Gottes“-Verständnis resultieren in der „Emerging Church“-Konversation die Forderungen, den Dualismus von Profanem und Sakralem zu überwinden. Eine strikte Unterscheidung der beiden Sphären wird häufig abgelehnt und als negative Entwicklung der Kirchengeschichte und der „Moderne“ beschrieben.139 Emergente Protagonisten plädieren für eine Aufhebung der Trennung zwischen sakralem und profanem Raum, beispielsweise zwischen Gottesdienst und Welt. Bereiche des täglichen Lebens (Kunst, Musik, Natur) werden bewusst als Möglichkeiten der Begegnung mit Gott wahrgenommen. „Kirche“ spiele sich nicht zwischen Altar und Kirchentür ab, sondern auch und vor allem außerhalb des Gebäudes Kirche, so emergente Protagonisten, die damit ihre individuellen spirituellen Erfahrungen hervorheben.140 Damit wollen emergente Protagonisten eine das ganze Leben umgreifende Spiritualität fördern141 und wenden sich gegen Megakirchen-Ansätze, denen eine Operationalisierung religiösen Erlebens vorgeworfen wird. Emergente Protagonisten plädieren weiter für eine Aufhebung der Dualismen von Verstand versus Körper, Hauptamtliche versus Ehrenamtliche, Leiter versus Teilnehmende, Evangelisation versus soziale Aktion, materiell versus immateriell, Glaube versus Werke, Theologie versus Ethik, öffentlich versus privat.142 Dave Tomlinson dazu: „From a kingdom-orientated perspective we can say that the division in the world is not 139 McLaren, More Ready Than You Realize (2002), 58. Oder auch Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 157. So auch bei Rob Bell, der sagt, dass menschliches Wirken und Arbeiten durch die Haltung eines authentischen Christen geheiligt werde. Bell, Velvet Elvis (2005), 84–85. Rob Bell meint: „This is why it is impossible for a Christian to have a secular job. If you follow Jesus and you are doing what you do in his name, then it is no longer secular work; it’s sacred. You are there; God is there. The difference is your awareness.“ A. a. O., 85. 140 Chia fasst zusammen: „[Die „Emerging Church“-Konversation] seeks the rethinking of dichoto�mous boundaries like Christian / non-Christian, saved / unsaved, holy / unholy etc., what they see as a highly problematic ways of framing ‚us‘ and ‚them‘.“ Chia, „Emerging Faith Boundaries“, 132. 141 Siehe dazu Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 71. 142 Doug Pagitt beschreibt das für die emergente Gemeinschaft „Solomon’s Porch“: „Part of our communal effort on Sunday nights is to limit the things that separate those in charge from those who are not; our hope is that all people will be part of this experience. That’s why it’s important that the roles people play don’t become confused with power in other area of our community. We don’t have special places of activity or certain rights that are reserved for only some (okay, I admit we do have gender-specific restrooms). Because we don’t have a stage, we don’t have to be concerned with who is utilizing that place of power. It is important for us not to centralize power or give undue power to those wearing microphones who speak to the entire group in ways that other do not have. We are conscious of the feelings that come when one person has the ability to address the crowd with sophisticated sound reinforcement and what that communicates to others about whose words are important. Because of the couches,
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between ‚believers‘ and ‚unbelievers‘, or between Christianity and other religious traditions, or between the religious and the non-religious, but between those who affirm and contribute to life in the world, and whose who do not.“143
10.2.3.8 Das „Reich Gottes“ und sozialpolitisches Engagement Ein präsentisches „Reich Gottes“-Verständnis wird in der „Emerging Church“Konversation hinsichtlich seiner Konsequenzen wie folgt besprochen: Emergente Protagonisten diskutieren ihr Christsein beispielsweise als öffentliches und politisches „Bekenntnis“. Ein solches Bekenntnis zeigt sich in Form von Präsenz und Engagement und ist ein wesentliches Merkmal der Bewegung.144
the absence of a stage, and the fact that people wander around during the gatherings, some people describe our setting as casual. Actually, I prefer the word normal. But what happens in this space is anything but normal.“ Pagitt, Church Re-Imagined (2005), 67. Robert Doornenbaal fasst dies mit dem Begriff „paradim shift“ zusammen. „We also read about old versus new paradigms on a meso level, for example a Spiritualized Gospel versus an Embodied Gospel; a Dualistic Gospel versus a Holistic Gospel; a Privatized Faith versus a Public Faith; or about a movement from Propositionalism to Narrative, from Rationalism to Embodiment, from Power to Servanthood, from Legalism to Freedom, from Program to Narrative, etc.“ Doornenbal, Crossroads (2012), 76. 143 Tomlinson, Re-Enchanting Christianity (2008), 136. So versteht es auch McLaren, der über seine evangelikale Vergangenheit sagt: „The standard approach to Muslims from my c onservative Evangelical upbringing was clear: be nice to them when necessary in order to convert them to Christianity; otherwise, see them as spiritual competitors and potential enemies. In effect, this approach tended to dehumanise the other, turning others into ‚evangelistic targets‘ […] rivals and threats.“ McLaren, Why Did Jesus, Moses, the Buddha and Mohammed Cross the Road (2012), 29. 144 Vgl. Rollins, „The Worldly Theology of Emerging Christianity“ (2011). Stuart Murray meint, dass eine Kirche in „Post-Christendom“ nicht nur durch ihre Praxis hervorstehen werde, sondern einen gesellschaftlichen und kulturellen Auftrag für sich erkennen müsse: „It may include a form of cultural exorcism, confronting the norms of a cyni� cal, individualistic, patriarchal, consumerist culture, built on global injustice and sustained by institutional violence.“ Murray, Church after Christendom (2004), 35. Steve Chalke etwa sagt: „Wherever real needs exist, the church has a God-given – Christ-in�spired – mandate to be engaged. Asylum, poverty, people trafficking, housing, education, employment, healthcare, youth issues, crime, marriage, community development, the environment, regeneration, international relief, trade justice, globalization, human rights, taxation, addiction, discrimination, care of the elderly, foreign policy, mental health and national and local council spending priorities are just a few areas where real needs exist.“ Chalke, Intelli�gent Church (2006), 126. Es ist zu beobachten, dass obwohl die „Emerging Church“-Konver� sation stark von baptistischen Autoren beeinflusst ist, die eine strikte Trennung zwischen dem Leben der Kirche und der Gemeinschaft der Welt sehen, diese Trennung für die Konversation nicht übernommen wird. Gleichwohl wird der anabaptistische Ethos, dass christliche Gemeinschaft die Aufgabe habe, der Welt zu zeigen, wie Leben gelingen könne, übernommen. Bel-
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
10.2.3.8.1 Allgemeines Politisches Christsein wird von emergenten Protagonisten als Teilhabe an der „missio Dei“ erörtert.145 Sie sehen ihre missionarische Haltung in einer präsentischen „Reich Gottes“-Theologie begründet, die sie dazu auffordere, sich sozialpolitisch zu engagieren.146 Burge und Djupe haben 2014 eine Untersuchung zur politischen Orientierung emergenter Protagonisten im Rahmen einer „Cooperative Clergy Study“ innerhalb protestantischer Denominationen147 in den USA veröffentlicht.148 Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass „[…] the average emergent clergyperson is more liberal in his or her theological and political beliefs.“149 Zum politischen Engagement ist zu sagen, dass parteipolitisches Einbringen von vielen emergenten Teilnehmern abgelehnt und als zwecklos empfunden wird.150 Deshalb sind lokale und regionale (vorzugsweise parteilose cher formuliert: „In summary, the traditional church is pacifist in the area of culture but not in the realm of politics, and the emerging church is pacifist in the realm of politics but not in the realm of culture.“ Belcher, Deep Church (2009), 190. 145 Brian McLaren formuliert: „It’s not about the church meeting your needs, it’s about you joi�ning the mission of God’s people to meet the world’s needs.“ Zitiert bei Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 192. 146 So stellt auch Teusner fest: „Bloggers in the sample are generally unified in their stance on a number of social and moral issues they perceive in the world around them.“ Teusner, „Emerg�ing Church Bloggers in Australia“, 132. Fuller / Sanders, „Brian McLaren Joins us for Faith and Politics part 3“, in: Homebrewed Christ�ianity (Podcast) 22.10.2008, https://homebrewedchristianity.com/2008/10/22/brian-mclaren- joins-us-for-faith-and-politics-part-3-homebrewed-christianity-ep29/ am 28.12.2016. Zu diesem Schluss kommt auch die Untersuchung einer emergenten Gemeinschaft in Oregon von McKelvie, die sagt: „On the other hand, social action calls were heard, which is something one is much more likely to hear in a mainline church. This was an interesting finding because it may point to another way in which the ECM is considerably different from traditional evangelicalism. Although most church members showed an interest in environmental protection, the environment was not a major issue at the church that was studied.“ McKelvie, „The Emerging Church Movement“, 64. 147 Beteiligt waren: Assemblies of God, Christian Reformed Church, Disciples of Christ, Evangelical Lutheran Church in America, Lutheran Church Missouri Synod, Reformed Church of America, Southern Baptist Church, United Methodist Church, Mennonites. Burge / Djupe, „Truly Inclusive or Uniformly Liberal“ (2014), 640–641. 148 Schwerpunkte wurden auf die in den USA umstrittenen Themen gelegt: „government’s role“, „gay rights“, „gay marriage“, „environment“, „abortion“ und „international affairs“. 149 Burge / Djupe, „Truly Inclusive or Uniformly Liberal“ (2014), 649. 150 Jim Belcher dazu: „Though they believe a common consensus in art, poetry and music can exist, they don’t see this same possibilities in the spheres of politics and economics […].“ Belcher, Deep Church (2009), 188. Für den US-amerikanischen Kontext formuliert es Tony Jones wie folgt: „Emergents reject the politics of left versus right. Seeing both sides as a remnant of mo�dernity, they look forward to a more complex reality.“ Jones, The New Christians (2008), 20. Auch Stuvland erkennt in der Konversation die Meinung der Zwecklosigkeit parteipolitischen Engagements. Siehe dazu Stuvland, „The Emerging Church and Global Civil Society“ (2010), 224.
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und unabhängige) Initiativen Orte des individuellen und gemeinschaftlichen Engagements.151 Für emergente Christen hat der christliche Glaube eine wesentlich politische Seite, die in globaler Perspektive wahrgenommen werden muss.152 Emergente Protagonisten erkennen besonders im US-amerikanischen Evangelikalismus eine problematische Verquickung von Religion, Politik und Nationalismus, dem sie den Typus des emergenten Christen gegenüberstellen wollen.153 Die Antwortmöglichkeiten emergenter Christen auf die problematische Vermischung von Religion, Politik und Nationalismus und einem daraus folgenden sozialpolitischen Verständnis sollen anhand dreier Protagonisten und ihrer Positionen dargestellt werden: Shane Claiborne, Brian McLaren und Peter Rollins.
Oder auch Ken Wilson: „[…] repelled by the witch’s brew of politics, cultural conflict, mo�ralism and religious meanness thats seems so closely connected with those who count themselves as special friends of Jesus.“ Wilson, Jesus Brand Spirituality (2008), 1. Ebenfalls meint Phil Snider: „[…] a lot of younger evangelicals (or post-evangelicals) looking for an alternative to the Religious Right fundamentalism that dominated their childhood and youth“. Piatt (Hg.), Banned Questions About Christians (2014), 72. 151 Andere identifizieren sich mit der von Jim Wallis gegründeten evangelikal links orientierten Organisation „Sojourners“. www.sojo.net am 12.08.2011. Im Jahre 1995 gründete Jim Wallis „Call to Renewal“, um die Wirtschaftsagenda, wie Steuererhöhungen und Umverteilung von Wohlstand zu fördern mit dem Ziel, soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Jim Wallis’ „Sojourners“ ist für emergente Protagonisten wie beispielsweise Bolz-Weber wich�tig geworden. Bolz-Weber, Cranky, Beautiful Faith (2013), 117. Eine andere Initiative ist die von McLaren gegründete Bewegung „Amaharo“. In Großßbritannien ist etwa zu verweisen auf Chalkes Organisation „Oasis“. http://www.oasisglobal. org am 27.12.2016. 152 Jones, The New Christians (2008), 82. Stuvland sagt dazu: „The unique aspect of the emerging church’s attention is its call to a new global propheticism.“ Stuvland, „The Emerging Church and Global Civil Society“ (2010), 226. Gerade darin sieht Stuvland auch die Stärke der Kon� versation, wenn er sagt: „As such, the emerging church, and its role in articulating global e thics without absolutes, is uniquely positioned to greater inform the global values discourse.“ A. a. O., 231. Dies hat auch Darren Cronshaw in seiner Untersuchung über emergente Gemeinschaften in Australien festgestellt. McLaren hebt etwa hervor, dass die baptistischen Autoren John Howard Yoder, Stanley Hauerwas und Jim Wallis für ihn wegweisend waren, damit er die „öffentliche Seite des Christentums“ wiederentdeckt. McLaren, The Secret Message of Jesus (2006), 10. Die Einflüsse von Hauerwas und Yoder bewirkten etwa auch eine Wiedergewinnung der politischen Friedfertigkeit, die in der „Emerging Church“-Konversation vorkommt. Gay, Remixing the Church (2011), 46. Auf den Einfluss von Hauerwas und Yoder verweist etwa Gay (siehe Fußnote) a. a. O., 61. 153 Besonders Randall Reed verfolgt einen Ansatz, die „Emerging Church“-Konversation als Kritik an der US-Politik und ihrem Kapitalismus zu interpretieren. Reed, „Emerging treason“ (2014). Dieser Punkt hat für den deutschsprachigen emergenten Diskurs keine analoge Anschlussmöglichkeit.
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10.2.3.8.2 Shane Claibornes Ansatz Shane Claiborne vertritt, etwa wie Robert Webber154, den Ansatz, dass emergente Gemeinschaften alternative, konterkulturelle Gemeinschaften sein sollen.155 Shane Claiborne ist Teil der „new monasticism“-Bewegung und Teil der Konversation (er ist der „reconstructionist“-Strömung zuordenbar) sowie führend in der „Red Letter Christians“-Bewegung156. Er ist durch seinen alternativen Lebensstil und seine öffentlichkeitswirksamen Friedensinitiativen, beispielsweise Proteste gegen den zweiten Irakkrieg bekannt geworden. Gemeinsam mit anderen lebt er in einer christlichen Kommunität in Philadelphia, genannt „The Simple Way“. Sie streben eine Form von christlichem Kommunitarismus an, in dem sie ihre materiellen Ressourcen zusammenlegen.157 Claiborne steht ein für lokales Engagement gegen Armut und Ungerechtigkeit.158 Durch ihre Gemeinschaft wollen sie im Vorort Philadelphias eine alternative Gesellschaft schaffen.159 Ihr Ziel ist es, dass sich die Gesellschaft durch Gemeinschaften wie die ihre reformiert und strukturell neu aufstellt. Dazu ruft C laiborne unter anderem 154 Webber ermutigt die „younger evangelicals“, als eine alternative Gemeinschaft zu leben und die konstantische Zivilreligion abzulegen. Webber führt weiter aus, dass sich emergente Gemeinschaften bewusst von der „Church Growth“-Bewegung absetzten und bewusst auf klei�ne, organische Gemeinschaften setzen, die ihre eigene Kultur entwickeln. Über emergente Protagonisten schreibt er: „They reject the traditionalist notion of the ‚purity of the church‘ or the ‚Great Commission ecclesiology‘ as too reductionistic. And they have turned away from the megachurch movement to find a visible smaller fellowship of believers drawn from all the traditions that affirms the whole church and seeks to embody Christ’s presence in a particular neighborhood, often in the city.“ Webber, The Younger Evangelicals (2002), 122. Webber sieht postmoderne (emergente) Gemeinschaften als „alternative“ zur Gesellschaft. Er bestimmt die Aufgabe der „Emerging Church“ sozial und politisch konterkulturell zu sein: „[…] a radical countercultural communal presence in society.“ Webber ermahnt seine Leser, sich nicht zu schnell kulturellen Veränderungen zu ergeben und spricht von den „power of evil“, den „gods of materialism, sensualism, greed, war, hate, oppression“, von denen sich die neue Gemeinschaft abheben solle. Webber, Ancient-Future Faith (1999), 167. Ausführlicher a. a. O., 167–171. 155 Claiborne, The Irresistible Revolution (2006); Claiborne, Jesus for President (2008); Nash / Ward, „Shane Claiborne – Joining the Irresistible Revolution“, in: Nomad (Podcast) 10.07.2009, http:// www.nomadpodcast.co.uk/nomad-6-shane-claiborne-new-monasticism-and-the-poor/ am 29.12.2016. 156 Der Begriff „Red Letter Christian“ bezieht sich auf die rot unterlegten („tatsächlichen“) Worte Jesu im Neuen Testament. Damit betonen die Teilnehmenden der Bewegung, dass sie dem Weg Jesu folgen wollen. http://www.redletterchristians.org am 27.12.2016. 157 Claiborne, The Irresistible Revolution (2006), 125. 158 Reed genauer: „To that end Claiborne’s approach is to focus his activities on standing up for social justice in concrete instances like feeding the homeless in a local park, or working for a living wage for custodians at his undergraduate college. His focus is to bring his understanding of the gospel as a dictate towards fairness, social justice, and peacemaking into real situations in his world.“ Reed, „Emerging treason“ (2014), 69–70. 159 Claiborne, The Irresistible Revolution (2006), 147.
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zu zivilem Ungehorsam auf, beispielsweise in Form der Verweigerung, Steuern zu zahlen (da Steuern ungerechte Systeme, wie zum Beispiel den damaligen Irakkrieg, unterstützten). Als Pazifist empfiehlt Claiborne eine Abschottung von den bestehenden Systemen (sozial, wirtschaftlich etc.), zum Beispiel durch privat gegründete, kollektive Gesundheitsvorsorgen, die gerecht nach Bedarf verteilen.160 Für Claiborne ist die „Red Letter Christians“-Bewegung, der er und Tony Campolo vorstehen, der Inbegriff für christliches Leben in dieser Welt, das sich den Nöten dieser Welt widmet. Claiborne versteht christliche Lebensgestaltung in dieser Welt dadurch, dass Menschen aus den bestehenden Systemen heraustreten und diese kritisieren. Claiborne und Campolo verweisen in ihrem Tun auf ihr Verständnis vom wiederkehrenden Christus, der eine neue Welt hervorbringen wird. Die Autoren ermutigen dazu, nicht passiv zu warten, sondern aktiv zu werden und Teil der Transformation der Welt zu werden.161 Claiborne verbindet die Erwartung vom „Reich Gottes“ und der damit einhergehenden neuen Identität als Christ mit einer politischen Identität.162 10.2.3.8.3 Brian McLarens Ansatz Brian McLaren greift vorwiegend in seinen Schriften ab dem Ende der zweiten historischen Phase der Konversation politische Themen auf.163 McLaren nimmt an, dass viele Christen unter dem Evangelium lediglich die persönliche Annahme des Heils verständen und damit zu kurz griffen.164 Er mahnt zu einer 160 „So when someone has a financial need, like the early church, we are going to pool our money together and meet that need […]. We have ways of taking care of medical bills when they come up. We have ways of taking care of someone’s house if it catches on fire.“ Claiborne / Campolo, Red Letter Revolution (2012), 17. 161 A. a. O., 254. 162 „[…] the kingdom of God implies a new citizenship, giving Jesus’ followers a new identity. If our citizenship is in heaven this should change the way we talk. The word we, if a person is truly born again, will refer to the new people into who a Christian has been born: the church.“ Claiborne, Jesus for President (2008), 295. 163 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 11.4 Krisen der Welt. Auch McLaren, The Secret Message of Jesus (2006), 10–12. McLaren, Everything Must Change (2007); McLaren / Padilla u. a., The Justice Project (2009). McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 122. Vgl. auch Fuller / Sanders, „A (Super Sweet) Conversation with Brian McLaren“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 08.04.2008, https://homebrewedchristianity.com/2008/04/08/homebrewed-christianity-5-a-super-sweet-conversation-with-brian-mclaren-2/ am 28.12.2016. 164 Vgl. Nash / Ward, „Brian McLaren – A Journey Towards an Emerging Church“, in: Nomad (Podcast) 10.04.2010, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-15-brian-mclaren-and-theemerging-church/ am 29.12.2016. Für eine genaue Auseinandersetzung mit McLarens „Reich Gottes“-Verständnis siehe Kröpfel, „Emerging Church“, 37–41. Siehe dazu Fuller / Sanders, „Brian McLaren Joins us for Faith and Politics part 3“, in: Homebrewed Christianity (Podcast).
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Politisierung des Christentums165 und des religiösen Subjekts, wendet sich aber von einer parteipolitischen Instrumentalisierung ab.166 McLaren nimmt zum US-amerikanischen parteipolitischen System in einer Serie von E-Books Stellung und hinterfragt die Stellung der Christen zur Politik.167 McLaren ist speziell für die US-amerikanische „Emerging Church“-Konversation durch drei Veröffentlichungen, die sich auf die zwei politischen Großparteien (Republikaner, Demokraten) und den Einfluss der Evangelikalen in den USA beziehen, interessant.168 In allen drei Büchern, die in Form einer Erzählung verfasst sind, wird eine Hauptperson vorgestellt, die unerwartet eine Nachricht von Gott bekommt. Diese Nachricht muss der Hauptprotagonist einer bestimmten Gruppe (Demokraten, Republikaner, Evangelikale) überbringen. Darin benennt er Stärken und besonders Schwächen der Empfänger (besonders sozialpolitischer Natur, wie die Verteilung der Güter und des sozialen Kapitals). McLaren sieht Möglichkeiten sozialer Veränderung in der individuellen Änderung der Haltung und Werte. Die Lösung der Probleme der Welt liegt für McLaren auf einer ideologischen Ebene. Er spricht nicht von strukturellen Veränderungen, wie Claiborne, die notwendig seien, sondern von einer „reformation“, die auf ethischen Prinzipien basiert.169 10.2.3.8.4 Peter Rollins Ansatz Peter Rollins hinterfragt sozialpolitische Anschauungen durch dramaturgische Inszenierungen und kreative Performances. Rollins verortet sich in der politischen Debatte in der marxistischen Tradition und meint:
165 Dies führt er besonders in „Everthing must Change“ aus. Ähnlich ist es bei Pagitt zu finden, der sagt: „[…] the systems, hurts, and patterns of this world create disharmony with God and one another. It is life that creates illness and sin.“ Pagitt, A Christianity Worth Believing (2012), 165. 166 Brian McLaren meint, dass besonders jene Evangelikale, die mit der Vermischung von USamerikanischem Evangelikalismus und der Religiösen Rechten unzufrieden seien, zum emergenten Milieu gehören. http://brianmclaren.net/archives/blog/more-on-the-emergentconversatio.html?utm_source=twitterfeed&utm_medium=twitter&utm_term=Brian+McLaren+Blog&utm_content=Latest+Blog+Updates am 17.11.2014. 167 Brian McLaren spricht beispielsweise von „Theocapitalism“ und versteht darunter einen Kapitalismus ohne Moral oder Begrenzungen. Er meint dazu: „Again, the problem isn’t cor� porations themselves: the problem is this spiritual ideology of the capitalism that drives many corporations to live for a single bottom line: profit for share-holders, without concern for three other essential bottom lines: the common ecological good, the common social good, and the ultimate good under the gaze of our Creator.“ McLaren, Everything Must Change (2009), 188. 168 McLaren, The Word of the Lord to Democrats (2012); McLaren, The Word of the Lord to Republicans (2012); McLaren, The Word of the Lord to Evangelicals (2012). 169 Die Revolution des Systems wird durch „the way of ‚the rebel Jesus‘“ sichtbar. McLaren, Ever�ything Must Change (2007), 227–236.
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[…] donating money to the poor without asking why the poor exist in the first place, for instance, allows us to alleviate our guilt without fundamentally challenging the system that perpetuates poverty. As the Brazilian archbishop Dom Helder Camara once said ‚When I give food to the poor, they call me a saint. When I ask why the poor have no food, they call me a communist.‘170
Rollins erkennt, dass soziale und wirtschaftliche Probleme strukturell und kollektiv seien, die von Einzelnen nicht aufgehoben werden könnten. Für ihn unterstützt das System Kirche das Fortbestehen des Status quo der Ungleichheit. Rollins weist darauf hin, dass es individuelle ethische Verhaltensformen (unabhängig von religiöser Orientierung) geben müsse, die unsere Gesellschaft stabilisieren und zu einem Ausgleich führen.171 10.2.3.8.5 Zusammenfassung Allen drei emergenten Protagonisten ist gemeinsam, dass sie sich von der Verflechtung zwischen (vornehmlich US-amerikanischer) Politik, kapitalistischem Denken und christlichem Handeln lösen wollen. Während Claiborne die Transformation ungerechter Strukturen forciert, betonen McLaren und Rollins Werte, die zu einem „politischen Programm“ des „Reiches Gottes“-Verständnisses emporgehoben werden. McLarens Vorschlag ist methodisch, für emergente Ansätze gewissermaßen typisch, da narrativ verfasst. In drei Erzählungen betont McLaren den sozialpolitschen Gehalt des „Reiches Gottes“ und macht die Veränderungen, die dafür notwendig sind, an der Innerlichkeit der Menschen fest. Peter Rollins Ansatz, nämlich mit begründetem Misstrauen gegenüber sprachlichen u. a. Systemen (auch dem System Kirche gegenüber) zu agieren, verweist auf seine Beheimatung in der dekonstruktivistischen Theologie, in der es um eine Zersetzung und Dechiffrierung bestehender Systeme geht. Es zeigt sich, dass in der „Emerging Church“-Konversation die sozialpolitische Dimension des „Reiches Gottes“-Gedankens von großer Wichtig170 Rollins, Insurrection (2011), 170–171. Über den Zusammenhang von „radical theology“ und die „Emerging Church“-Konversation siehe Moody, „The Death and Decay of God“ (2016). 171 Im Blick auf die christliche Religion kritisiert Rollins eine christliche Spiritualität, die auf Gewissheiten baut. Als Anhänger der „radical theology“ kritisiert er beispielsweise die Anhänger des Neuen Atheismus darin, dass sie mit ihrer Kritik an Religion nicht weit genug gingen. „They should attack not just belief, he says, but the need for belief, the need for certainty, the fantasy of order and wholeness in all its forms. Rollins wants to push the understanding of religion beyond a particular American orientation – a white, Protestant, scientistic representation of religion as belief – toward a space where this woundedness is felt most acutely, where the startling accident of bodies is put on full display.“ Zitiert in Schaefer, „Blessed, Precious Mistakes“ (2014), 92.
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keit ist und vornehmlich über Begriffe wie „Werte“ und „Haltungen“, die einer Veränderung bedürfen, geklärt wird. Der Versuch, die drei Perspektiven einer sozialpolitischen Deutung des „Reiches Gottes“ zu veranschaulichen, führt vor Augen, dass dies zwar ein Merkmal der „Emerging Church“-Konversation ist, es darin aber auch eine Bandbreite von Orientierungen gibt.
10.3 Missionstheologische Ansätze 10.3.1 Zum Missionsverständnis In der „Emerging Church“-Konversation sprechen emergente Protagonisten im Rahmen der Klärung ihrer religiösen Identität über ihr Verhältnis zur Welt.172 Dabei hat das Thema „Mission“ besonders in der ersten und zweiten historischen Phasen besonders für jene aus der „relevant“ und „reconstructionist“Strömung Gravitationskraft.173 Unterschiede treten hervor, wenn man danach fragt, was Einzelne oder Gemeinschaften unter „missionarisch“ (engl. „missional“) verstehen. In diesem Kapitel sollen einige prominente Stimmen und Ansätze dazu dargestellt werden. Dies geschieht in dem Wissen, dass diese nicht die gesamte Konversation repräsentieren und auch nicht von einem einheitlichen Missionsverständnis in der Konversation gesprochen werden kann. Gleichwohl lassen sich Gravitationsschwerpunkte verorten. Ein besonderer Schwerpunkt soll den Australiern Alan Hirsch und Michael Frost gelten, die bereits durch ihre Begriffsverwendung „emerging missional 172 Kimball betont, dass „missional“ der verbindende Faktor verschiedener emergenter Ge�meinschaften unterschiedlicher Denominationen sei. http://www.dankimball.com/vintage_ faith/2006/04/origin_of_the_t.html am 11.05.2009. 173 Ronald Neal Brown geht sogar so weit „Emerging Church“ und „missionarisch“ gleichzu�setzen, wenn er sagt: „The emerging church is so defined by its mission that the term ‚mission�al church‘ could serve as its synonym.“ Brown, „Discipleship in a Postmodern Culture“, 29. Gibbs und Bolger dazu: „By contrast, the desire to be missional was shared without exception.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 133. Gay betont: „[…] deep sense of m issional un�derstanding and commitment […].“ Gay, Remixing the Church (2011), 98. Niemandt, „Ont�luikende kerke“ (2007), 542. Der missionarische Fokus gilt auch für die Predigt, wie John Bohannon untersucht hat: „First, preaching should have a missiological focus – engaging cul�ture and community with the message – which means, second, an understanding of culture and context is needed in order to minister effectively.“ Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 161. Oder auch Anderson, der sagt: „Emerging churches are about mission, not just about ministry.“ Anderson, An Emergent Theology for Emerging Churches (2006), 182. Oder auch bei Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 117.
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church“ den missionarischen Charakter der „Emerging Church“-Konversation betonen. Sie wurden in der zweiten historischen Phase von emergenten Protagonisten der „relevant“- und „reconstructionist“-Strömung im US-amerikanischen, britischen und deutschsprachigen Kontext174 wahrgenommen. Zunächst kann beobachtet werden, dass im emergenten Diskurs an verschiedene Aspekte des Missionsverständnisses des „missio Dei“-Konzepts angeschlossen wird.175 In der Konversation selbst wird häufig Bezug genommen auf die Missionswissenschaftler David Bosch, Lesslie Newbigin und Darrell Guder,176 die in den letzten Jahrzehnten den „missio Dei“-Ansatz weiterentwickelt und in der missionstheologischen Debatte neu verortet haben.177
174 Siehe dazu die ins Deutsche übersetzten Bücher Frost / Hirsch, Die Zukunft gestalten (2008); Hirsch, Vergessene Wege (2011). 175 So verstehen es auch Gibbs und Bolger: „They become missional by participating with God, in the redemptive work God is doing in a changing world. This missional understanding is profoundly influenced by David Bosch’s elaboration of the concept of Missio Dei: the under standing that the very life of God as Father, Son and Holy Spirit is a process of mission.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 130. Emergenter Protagonist Jonny Baker dazu: „The start� ing point for mission is that God is a missionary God who is active in the world. God invites and beckons us to join his mission. So in this sense, we join in with what God is doing rather than taking God with us.“ A. a. O., 52. 176 Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 127–147. Oder Bielo, der sagt: „Emerging evangelicals most often trace the origins of the ‚missional‘ concept to Lesslie Newbigin (1909–98) […]. Emerging evangelicals have treated Newbigin’s missiology as a methodological critique of conservative Christian evangelism. They decry a wide range of common witnessing practices: street preaching, handing out Bible tracts, delivering finely tuned conversion speeches, using hyperlogical apologetics, and using weekly congregational events as the entrée to church.“ Bielo, „Purity, Danger, and Redemption“ (2011), 269. Cronshaw weist in seiner Untersuchung den Einfluss von Lesslie Newbigin und David Bosch auf Alan Hirsch und Michael Frost (besonders für ihr Konzept „incarnational mission“) nach. Cronshaw, „The Shaping of Things Now“, 36–69. Auch Roennfeldt weist auf den Einfluss von Bosch und Newbigin auf Frost und Hirsch und die „Emerging Church“-Konversation hin. Roennfeldt, „Reshaping the Australian Church Experience“, 89. Die ausführlichste Darstellung von Newbigins Einfluss auf die „Emerging Church“-Konversation, besonders in der Anfangs�zeit der Konversation – speziell auf den „relevant“-Flügel – findet sich bei Stewart, „The In�fluence of Newbigin’s Missiology on Selected Innovators and Early Adopters of the Emerging Church Paradigm“. Stewart stellt fest, dass die „early adopters“ der Konversation, dazu gehörte in den 1990-Jahren auch McLaren, obwohl er nicht der „relevant“-Strömung zuzuordnen ist, von Newbigins Theologie, Ekklesiologie und Missiologie beeinflusst wurden. 177 Siehe Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 114–115, 128, 150.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
10.3.2 Zum Begriff „missional“ In der „Emerging Church“-Konversation wird der englische Begriff „missional“ in Anlehnung an den „missio Dei“-Ansatz verwendet.178 Es kann argumentiert werden, dass Lesslie Newbigin als „tacit authority in much missional and emergent church literature“ herangezogen werden kann.179 Dies gilt jedenfalls für die „relevant“-Strömung und Ansätze, die dem Evangelikalismus nahestehen, und für die theologischen Denker der beiden anderen Strömungen in der ersten und zweiten historischen Phase der Konversation. Die Bedeutung der „missio Dei“ wurde im 20. Jahrhundert durch Karl Barth in Erinnung gerufen. „Missio Dei“ meint, dass Mission nicht die Aufgabe der Kirche, sondern die „Sendung“ der Kirche beschreibt. „Missio Dei“ ist zuerst als innertrinitarischer Wesenszug Gottes und dann als Handeln Gottes in der Welt (Gott sendet sich selbst) zu verstehen.180 Kirche hat demnach die Aufgabe, die Mission Gottes in der Welt zu entdecken und sich Gottes Handeln anzuschließen. Obwohl der Begriff erst mit Georg Vicedom eingeführt wurde, wurde das dahinter liegende Verständnis seit der Weltmissionskonferenz in Willingen 1952 zu einem Bezugspunkt ökumenischen theologischen Denkens.181 In der missionstheologischen Debatte der letzten siebzig Jahre haben sich dabei verschiedene Flügel und Verständnisse einer „missio Dei“-Theologie entwickelt.182 Diese Verständnisse hingen einerseits von der Verhältnisbestimmung von Verkündigung und Dienst ab, andererseits von der Frage nach der Rolle der Kirche 178 Das wird etwa von Doornenbal bestätigt. Doornenbal, Crossroads (2012), 48. Auch im deutschsprachigen Raum wurde der Begriff im letzten Jahrzehnt populär. Die deutschsprachige Übersetzung „missional“ wird dem Begriff „missionarisch“ entgegengesetzt. Mit dem neuen Begriff ist einerseits ein bewusster Anschluss an die „missio Dei“-Theologie verbunden. Andererseits will man den oft erklärungsbedürftigen (und zum Teil historisch belasteten) Begriff „missio� narisch“ vermeiden. Es gilt das Bekenntnis, dass kirchliche Mission im Anschluss an Gottes Mission geschehe und nicht umgekehrt, also Mission eine Aktion der Kirche sei. So beispielsweise zu beobachten im deutschsprachigen Fresh X-Netzwerk http://freshexpressions.de/ueberfresh-x/was-ist-eine-fresh-x/ am 17.09.2014. Der Begriff, wie er in der „Emerging Church“-Konversation verwendet wird, ist nicht zu ver� wechseln mit der Bedeutung, wie er von Darrell Guder für die „missional church“ festgelegt wurde, obwohl zu Beginn der Konversation erhebliche Überschneidungen deutlich waren. 179 Goheen, „Historical Perspectives on the Missional Church Movement“ (2010), 64. 180 Siehe dazu Bosch, Transforming Mission (1991), 368–393. Für eine Einführung zum Begriff und Konzept der „missio Dei“ siehe Vicedom, Missio Dei (1958). Zwar wird bei Vicedom der Begriff trinitarisch entfaltet, jedoch noch auf das Handeln der Kirche beschränkt. Spätestens seit Uppsala 1968 wird „missio Dei“ als das umfassende Heilshandeln Gottes verstanden, dem sich die Kirche unterordnet. Bereits in Delhi 1961 wurde der Weg dazu geebenet. 181 Bosch, Transforming Mission (1991), 390–391. Vicedom, Missio Dei (1958). 182 Siehe dazu Todjeras, „Missio Dei“ (2016). Herbst, „Von Lausanne nach Kapstadt“ (2011).
10.3 Missionstheologische Ansätze
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in Beziehung zur Welt und zum „Reich Gottes“. Zugespitzt formuliert, wurde nach dem Heil der Seele oder nach dem Wohl der Menschen gefragt. Zu Recht können Lesslie Newbigin und David Bosch als Brückenbauer gesehen werden, die einen heilsgeschichtlich-eschatologischen Ansatz (in der Anfangszeit prominent vertreten durch den deutschen Missionstheologen Karl Hartenstein) und einen verheißungsgeschichtlich, politisch orientierten Ansatz (prominent vertreten durch den niederländischen ÖRK Sekretär Johannes Christian Hoekendijk) vermittelnd zueinander geführt haben. Folgende Aspekte des Begriffs „missional“ und ihre Nähe zum Begriff „missio Dei“ können festgestellt werden: • Exemplarisch für die „revisionist“-Strömung kann bei McLaren eine Verschiebung der Bedeutung des Begriffs „missional“ bemerkt werden. Gleichwohl er für McLaren in seinen Werken in der ersten und bis zum Höhepunkt der Bewegung in der zweiten historischen Phase ein „Alternativ“-Begriff ist, nämlich „beyond the conservative and liberal versions of Christianity“183, lautet seine Definition: „To be and make disciples of Jesus Christ in authentic community for the good of the world.“184 Dabei spricht McLaren von der Anteilhabe der Kirche / Gemeinde an der „missio Dei“ in Bildern und benennt diese als „party“, „network“ oder „dance“ und verweist damit auf einen spielerischen Charakter, den die Kirche bei der „missio Dei“ an den Tag legen soll.185 Kirche und christliche Gemeinschaft sollen Gottes Mission in dieser Welt unterstützen und mit Gott kooperieren.186 In seinen späteren Schriften lässt sich eine Bedeutungsverschiebung bei McLaren erkennen, wenn er den christozentrischen Bezug des Begriffs den pneumatologischen und ethischen Aspekte nachordnet. Pneumatologisch hinsichtlich des Wirkens Gottes in der Welt ohne die Kirche / Gemeinde und ethisch hinsichtlich der Aufgabe Einzelner. Brian McLaren beschreibt etwa die Aufgabe der christlichen Gemeinschaft als „community for the good of the world“187. Er versteht „missional“ als „[the] outward thrust of Christianity from me to my Neighbour to stranger to enemy to all tribes and nations of the earth.“188 „Missional“ bedeutet für McLaren das Hineinwirken der Gemeinschaft in die Welt, nämlich Mission als Solidarität mit den Armen 183 McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 115. 184 A. a. O., 116–117. 185 McLaren, The Secret Message of Jesus (2006), 146–148. Taylor spricht etwa von „play“. Taylor, The Out of Bounds Church (2005), 68. 186 Tony Jones: „Emergents firmly hold that God’s Spirit – not their own efforts – is responsible for good in the world. The human task is to cooperate with God in what God is already doing.“ Jones, The New Christians (2008), 202. 187 McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 107. 188 A. a. O., 105, 110.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
und Entrechteten, als inklusive Gemeinschaft, als Liebe und Dienst am Nächsten und als Forcierung gerechter Strukturen. Ein besonderer Fokus des Missionarischen liegt für emergente Protagonisten darin, die Menschen nicht aus ihrer Welt herauszureißen und in die „Welt der Kirche“ zu befördern, sondern vielmehr eine Identifikation mit ihnen in ihrer Welt zu ermöglichen. Kontextualisierung als Sicheinlassen auf die Welt ist zentral. Für emergente Stimmen habe die Kirche die Aufgabe, Gottes Handeln in der Welt wahrzunehmen, zu identifizieren und sich seinem Handeln anzuschließen. Dabei sollten für die Kirche das Wohl des Menschen und die Partizipation am Schalom ihre Aktivitäten bestimmen.189 • In der „Emerging Church“-Konversation wird diskutiert, dass Mission zu sehr kirchenfokussiert verstanden werde.190 Protagonisten kritisieren, dass das kirchliche Verständnis von Mission zentripedal (Energie, die nach innen gerichtet ist) sei und schlagen vor, dass es zu einem zentrifugalen Missionsverständnis (Energie, die nach außen, in die Welt, gerichtet ist) kommen soll.191 Christen sollten demnach nicht darum bemüht sein, Menschen in die Kirche zu bringen, sondern Kirche solle sich in der Welt bei den Menschen ereignen.192 Emergente Stimmen beschreiben zentripedale Mission als Versuch, Menschen durch Mission und Evangelisation an Kirche zu binden. Zentrifugale Mission andererseits konzentriere die missionarische Energie auf Liebe und Dienst in der Welt. Für emergente Protagonisten ist die Kirche nicht die Grenze des „Reiches Gottes“, sondern lediglich ein Agent des „Reiches Gottes“.193 • Es gibt auch jene Protagonisten, die eine herausragende Rolle und Aufgabe der Kirche auflösen, so wie es Peter Rollins tut (und auch allgemein in der „revisionist“-Strömung erkennbar ist). Andere Protagonisten sprechen von der christlichen Gemeinschaft und der Kirche als Kontrast und Alternative zur Gesellschaft (so wie Shane Claiborne als Protagonist der „reconstructio-
189 Todjeras, „Missio Dei – Gott, seine Mission und die Kirche“ (2016), 65. 190 Einige Aspekte erinnern an ökumenische Debatten, zum Beispiel von Hoekendijk vorgetragen, wenn er davon spricht, dass es zu einem Perspektivenwechsel kommen müsse: nicht mehr Gott – Kirche – Welt, sondern Gott – Welt – Kirche. Hoekendijk, Kirche und Volk in der deutschen Missionswissenschaft (1967), 344. 191 Murray, Church after Christendom (2004), 22. Oder auch McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 11–12. 192 Wie an anderer Stelle erläutert, wird auch an dieser Stelle ein antiinstitutionelles und kritisches Kirchenverständnis deutlich. 193 Abgeleitet von diesem Verständnis sind emergente Protagonisten anderen Religionen gegenüber sehr offen und dialogbereit. „Because emerging churches believe the presence of the reign of God is beyond the church, they are accepting of other faith communities.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 129.
10.3 Missionstheologische Ansätze
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nist“-Strömung).194 Frost und Hirsch schildern als Ziel der „missio Dei“, an der die Kirche teilhat, zum einen das Wachstum von Kirche (im Sinn von Gemeindegründungen) und zum anderen das Ziel der Reevangelisierung der westlichen Welt (und spiegeln damit Anliegen der „relevant“-Strömung wider). Für Frost und Hirsch ist „missional“: „[…] the posture, thinking, behaviors, and practices of a missionary in order to engage others with the gospel message.“195 • Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass der Missionsbegriff in der Konversation neben der Betonung des Wohls der Menschen und der Partizipation am Schalom Gottes relational ausgerichtet ist, d. h. Menschen erleben den Auftrag der Kirche, wenn sie gelingende Beziehungen leben.196 Das führt dazu, dass Mission auf die Gemeinschaft bezogen als Verkörperung einer Gemein-
194 Oder auch Robert Webber, der christozentrisch und bezogen auf die Gemeinde argumentiert, wenn er sagt: „First, the real message of Christianity is not rational propositions but the per� son of Jesus Christ with whom a personal relationship is possible. Second, this personal relationship is experienced and communicated in a community – the church, his body. Third, to communicate a relationship with Jesus Christ, the church must be an embodied presence, an authentic and real community in whom the Spirit dwells. Fourth, the primary concern of the church is to communicate not dogma, though it does have its place, but faith. Fifth, the primary way of communicating faith is through a combination of oral, visual, and print forms of participatory immersed communication (or cultural transmission).“ Webber, The Younger Evangelicals (2002), 65. 195 Frost und Hirsch sprechen von zwölf Prinzipien einer „missional church“. Sie sagen: „[It] proclaims the gospel“. „All members are involved in learning to become disciples of Jesus“. Im Leben der Gemeinschaft gilt: „the Bible is normative“. „[It] understands itself as different from the world because of its participation in the life, death, and resurrection of its Lord“. „[It] seeks to discern God’s specific missional vocation for the entire community and all of its members“. Die missionarische Natur besteht im Folgenden: „how Christians behave toward one another“. „[It] practices reconciliation“. In der Gemeinschaft gilt: „hold themselves accountable to one another in love“. „[It] practices hospitality“. „Worship is the central act by which the community celebrates with joy and thanksgiving both God’s presence and God’s promised future“. „[It] has a vital public witness“. „[It] recognizes that the church itself is an incomplete expression of the reign of God“. Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 11–12. 196 So zum Beispiel bei McLaren: „Evangelism should be about relationships […] not arguments.“ McLaren, More Ready Than You Realize (2002), 29. McLaren pointiert: „The Relational Factor: Count conversations, not just conversions.“ A. a. O., 135. Für McLaren brauchen postmoderne Menschen einen holistischen Ansatz, der relational ist „[…] not just conceptual; experiential, nor theoretical; addressed to the will […] not just the mind […].“ McLaren, The Church on the Other Side (2006), 184.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
schaft197 verstanden wird. Mission als Verkörperung des Evangeliums wird pointiert mit „presence rather than proclamation“.198 Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass in der „Emerging Church“-Konversation „missional“, im Anschluss an die „missio Dei“-Theologie, vornehmlich zentrifugal als ein Sicheinlassen auf die Welt und ihre Bedingungen formuliert wird. Dabei wird die Rolle und Aufgabe der Kirche kritisch besprochen sowie eine kirchen- und gemeindekritische Position eingenommen. Ortsbezogene Gemeinschaft und Beziehungen (als Verkörperungen der Mission) werden hoch geschätzt und als Wesensmerkmal der Mission (in Anlehnung an die innertrinitarische Gemeinschaft) verstanden. Mission wird vornehmlich als Partizipation am Schalom Gottes, beispielsweise durch Präsenz, Humanisierung oder den aufopferungsvollen Dienst für andere und die Restauration dieser Welt verstanden, wobei die Frage nach dem Seelenheil in den Hintergrund zu rücken scheint.
10.3.3 Evangelisation Es fällt auf, dass Überlegungen zu Evangelisation besonders für jene emergente Protagonisten eine Rolle spielen, die ihre Meinungen vor der Hintergrundfolie des Evangelikalismus (besonders der Gemeindewachstumsbewegung) herausbilden.199 Evangelisation als die Zuspitzung der Mission, bei der Menschen mit einem Ruf zum Glauben konfrontiert werden und auf eine Resonanz gehofft wird, ist ein Merkmal des Evangelikalismus’ und hat eine identitätsstiftende Funktion.200 Im Evangelikalismus verstand man seit den 1930er-Jahren unter Evangelisation vornehmlich ein Event-Format, welches durch Protagonisten wie Billy Graham und andere bekannt wurde. In der Konversation gibt es eine Auseinandersetzung mit solchen Formaten und damit, dass Evangelisationen durch eine Betonung des Dualismus von „Himmel und Hölle“, von „Verloren und Gerettet“ bestimmt war.201 197 Russinger und Fields sprechen von einem Wechsel der Perspektive. Von „doing mission“ zu „being missional“. Russinger / Field, Practitioners (2005), 24. Die Verkörperung des Evange� liums ist „low key, relational and nonconfrontational“. Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 127. Bell, Velvet Elvis (2005), 26–27. 198 Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 129. 199 Aus diesem Grund werden vor allem Stimmen aus diesem Kontext laut. Es fällt auf, dass beispielsweise katholische Stimmen dazu nicht vorkommen. 200 Siehe dazu QR-Code im Vorwort, dort: Kennzeichen. 201 McLaren etwa wendet sich gegen eine solche inhaltliche Bestimmung. Brian McLaren argumentiert, dass der Begriff „Hölle“ als rhetorische Warnung (oder „false advertising for God“) gebraucht werde, um Menschen nahezulegen, das Richtige zu tun. Interview mit Leif Hansen,
10.3 Missionstheologische Ansätze
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Emergente Protagonisten, wie etwa Frost, kritisieren an Evangelisation, dass diese beinhaltet, bestimmte Dogmen zu glauben, die formelhaft nachgesprochen werden müssen,202 um „gerettet“ zu sein.203 In der „Emerging Church“-Konversation wird diskutiert, dass sich christliche Doktrinen und Glaubenssätze von der „Christian story“ gelöst hätten und es für Menschen nicht mehr ersichtlich sei, wie die christliche Botschaft als Narrativ mit propositionellen Glaubenssätzen übereinstimme.204 Dies spricht zunächst eine hermeneutische Frage an und fragt nach der Relevanz der christlichen Botschaft für den Hörer. In der Konversation diskutieren emergente Protagonisten, dass das Evangelium gelebt und vorgelebt werden solle,205 etwa durch politisches Engagewww.understandthetimes.org am 02.04.2014. Siehe dazu McKnight / Ondrey, Finding Faith, Losing Faith (2008), 33. So auch: Burke / Taylor, A Heretic’s Guide to Eternity (2006), 52, 197, 199. Rob Bell etwa beruft sich in seiner Ablehnung der Hölle auf die ewig zirkulär verlaufende „Wied� erbringungs“-Vorstellung von Origenes, welche von der Alten Kirche als Irrlehre verworfen wurde, weil sie das Erlösungswerk Christi relativiert. Bell, Das letzte Wort hat die Liebe (2011), 114. McLarens Zuspitzung ist einer im US-amerikanischen Evangelikalismus weit verbreiteten Positionierung in der Frage der doppelten Prädestination, der Erwählung zum Heil und zum Unheil, aus der calvinistischen Tradition geschuldet. Genauer dazu: Koeniger / Renz, „Das letzte Wort“ (2016), 68. 202 Frost / Hirsch, ReJesus. A Wild Messiah for a Missional Church (2009), 196. McLaren dazu: „A person’s decision to become a Christian is not simply a question of being convinced rationally about the truth of Christianity […] No, there is an integration of truth, beauty, and goodness that must come together to give a person confidence to step from relative uncommitment into Christian commitment.“ McLaren, More Ready Than You Realize. Evangelism as Dance in the Postmodern Matrix (2002), 66. 203 An dieser Stelle kann nur kurz darauf hingewiesen werden, dass in der Konversation besonders die verzerrten und problematischen Formate von Konversionsaufrufen und deren Verständnisse diskutiert werden. So gibt es im Evangelikalismus eine kritische und konstruktive Auseinandersetzung mit „Lebensübergabegebeten“, die in der Konversation nicht beachtet wird. Vgl. dazu Grenz, Renewing the Center (2006), 52–55. 204 Für McLaren stellt sich die „story“ als ein Stück in drei Teilen dar, nämlich als „three-dimen�sional biblical paradigm (creation, liberation, peacemaking kingdom)“. McLaren, A New Kind of Christianity (2010), 171. McLaren dazu: „Instead of presenting our doctrines as abstractions floating out in space, we must show how the various articulations of Christian belief arose in the context of Christianity’s spread, its inevitable experience of controversy, and the contrary influences from the various cultures and philosophies, which the gospel encountered and engaged.“ McLaren, More Ready Than You Realize (2002), 33. Dave Tomlinson dazu: „Christianity is about faith, not belief. There is a difference. Faith is about having trust, whereas belief is more akin to having opinions. It’s possible to hold beliefs passionately and to argue about them until the cows come home, without them making a scrap of difference to us. But trust is not about beliefs, creeds, opinions, arguments; it’s more instinctive, more fundamental. It doesn’t need words. It’s in your belly.“ Tomlinson, How to be a Bad Christian (2012), 7. 205 „Emerging leaders represent a spectrum of thought on the topic of evangelizing, but no matter whether they are to the right of to the left, they all regard evangelism in terms of an open-ended conversation and an embodied way of life as distinct from a result-geared confrontation.“
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
ment,206 durch das Formen neu-monastischer Gemeinschaften, das Schaffen zeitlich begrenzter autonomer Zonen207 oder durch die Berufswahl der Teilnehmenden208. Dienst am Nächsten, wie es für die Gemeinschaft „Church of the Apostles’“ gilt, ist ein weiteres beispielhaftes Anliegen: „[…] simply serving those around them without efforts to proselytize […]“209. Damit werden Evangelisationen als punktuelle Veranstaltungen genauso abgelehnt210 wie argumentative Bemühungen, den christlichen Glauben apologetisch zu verteidigen.211 Vor diesem Hintergrund sind viele Ansätze und Auseinandersetzungen mit Evangelisation in der „Emerging Church“-Konversation zu verstehen.212 Wie bereits für den Begriff „missional“ dargelegt, wird in der Konversation diskutiert, Evangelisation von einer Engführung auf das Seelenheil zu lösen213 und Menschen in christliche Gemeinden zu locken.214 Hierzu muss gesagt wer-
Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 80. Oder auch http://www.christianitytoday.com/ ct/2004/november/14.42.html am 11.02.2015. „Evangelism involves sharing the deep experience of life with those outside the faith.“ A. a. O., 128. 206 Gay, Remixing the Church (2011), 97. Hier beispielsweise bei Campolo: Nash / Ward, „Tony Campolo – Evangelism or Social Action?“, in: Nomad (Podcast) 10.06.2009, http://www.no� madpodcast.co.uk/nomad-5-tony-campolo-and-social-action/ am 29.12.2016. 207 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 12.3 Kritik an religiösem Konsumverhalten. 208 Bei emergenten Protagonisten zeigt sich in der Berufswahl eine Affinität für soziale Berufe. Interviewpartner machen deutlich, dass sie ihren Beruf aufgrund ihrer spirituellen Haltung gewählt haben: „[…] almost all of our respondents said that they wanted their work to change the world for the better and despaired of the undesirable work habits and options bred by Western consumerism.“ Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 102–103. 209 Wollschleger 2008 zitiert in Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America“ (2009), 229. 210 Für McLaren gibt es keine „punctiliar salvation“. McLaren, More Ready Than You Realize (2002), 106. 211 „It can’t be about how many you converted this week or bound by the latest evangelistic five- step strategy. We are not interested in becoming a megachurch.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 124–125. 212 Wenn McLaren davon spricht, dass Evangelisation in der Postmoderne ohne Überredungskunst und Druck geschehen solle, und sich von dem Paradigma „turn or burn“ („Kehre um oder schmore in der Hölle“) abwenden solle, fällt auch hier das Ablehnen evangelikal fundamentalistischer Aussagen auf. McLaren, The Church on the Other Side (2006), 186. Auch Pagitt arbeitet mit dem Evangelikalismus als Negativfolie. Pagitt, Evangelism in the Inventive Age (2012). 213 Dan Kimball beschreibt es beispielsweise als „Evangelism: Beyond the Prayer to Get into Hea�ven“. Kimball, The Emerging Church (2003), Kapitel 18. Oder: Michael Frost pointiert es mit der Phrase „slow evangelism: moving beyond the four spiritual laws“. Frost, The Road to Mis�sional. Journey to the Center of the Church (2011), 41. Michael Frost gilt seit dem Ende der zweiten historischen Phase nicht mehr als Proponent der „Emerging Church“-Konversation, weshalb sein Ansatz nicht näher dargestellt wird. 214 Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia. Prophets, Priests and Rulers in God’s Vir�tual World“, 118.
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den, dass das Thema Evangelisation in der „Emerging Church“-Konversation ab der zweiten Häfte der zweiten historischen Phase erheblich in den Hintergrund rückt und Evangelisation unter dem Begriff und dem Verständnis von „missional“ subsummiert wird.215 Zuletzt sei noch auf einen Ansatz, nämlich den von Brian McLaren hingewiesen. Brian McLaren hat in der zweiten historischen Phase der „Emerging Church“-Konversation, 2002, seine Ansätze zu Evangelisation in der Postmoderne in einer in der Konversation (von „relevants“ und „reconstructionists“) häufig rezipierten Veröffentlichung dargestellt.216 McLaren definiert „good evangelism“ folgendermaßen: Good evangelists […] are people who engage others in good conversations about important and profound topics such as faith, values, hope, meaning, purpose, goodness, beauty, truth, life after death, life before death, and God. […] Evangelists are people with a mission from God and a passion to love and serve their neighbors.217
Evangelisation heiße demnach, als von Gott gesandte Person gesprächsbereit und auskunftsbereit zu Themen des Lebens zu sein und sich gegen Gewalt und Unterdrückung einzusetzen.218 Dabei haben Evangelisten als Protagonisten der „missio Dei“ die Hauptaufgabe, zu lieben und zu dienen. Dieser Dienst solle im Geist Jesu geschehen und dem Beispiel Jesu folgen.219 Evangelisation wird von McLaren mit der Metapher eines Tanzes beschrieben.220 Der Evangelist und der Gesprächpartner bewegen sich dabei gemeinsam und im harmonischen Gleichschritt. Gründe evangelistisch tätig zu sein, findet McLaren in der eigenen Begegnung mit dem Tanz, den er als Gottes Mission in dieser Welt beschreibt („missio Dei“).221 McLaren hat unter Evangelisation keine Großveranstaltungen 215 So auch von Scot McKnight festgestellt. McKnight, Five Streams of the Emerging Church. 216 McLaren, More Ready Than You Realize (2002). Anhand der Verfasser der Buchrezensionen lassen sich die Sympathien mit McLarens Ansatz bei folgenden Autoren ausmachen: Leonard Sweet, John R. Franke, Rob Bell oder Mark Oestreicher. McLaren ist in seinen späteren Veröffentlichungen von dem Begriff „Evangelisation“ abgewichen und vertritt ein Missionsver�ständnis, das auf der individuellen Haltung und einer „embodied theology“ beruht. 217 A. a. O., 14. 218 Brian McLaren etwa: „Salvation means being liberated from the cycle of violence, liberated from the need to be in power.“ McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 25. 219 „For a Christian like myself, evangelism means engaging in these conversations in the spirit and example of Jesus Christ.“ McLaren, More Ready Than You Realize (2002), 15. 220 So wie der Titel von McLarens Buch ausdrückt a. a. O. 221 Seine vier Argumente lauten wie folgt: „This is why if you begin to feel the song and live by it, you desire to help others do the same for a number of reasons: 1. For the sheer beauty, truth, and goodness of the song. […] 2. For the good of your friends, neighbors, planet-mates who
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
vor Augen, sondern beziehungsorientierte, dialogische Gespräche über Themen des Lebens, die Christen von den Narrativen der Bibel her zu beantworten versuchen.222 Es wird deutlich, dass McLaren propositionelle Ansätze der Evangelisation für die Postmoderne ablehnt.223 Die Person, die den Glauben vorlebt, wird von McLaren als „spiritual friend“224 bezeichnet. McLaren grenzt sich mit diesem Begriff von seinen Erfahrungen mit „spiritual salesmen“225 ab.226 Einem „spiritual friend“ geht es nicht um argumentative Methoden227, sondern um Beziehungen, die durch Konversationen gestaltet werden.228 Für McLaren spielen Freundschaften eine zentrale Rolle und werden zum „basilea“-Kriterium. Er sagt: „But the beauty and goodness of the Christian faith can only be experienced and evaluated through a relationship with a real live Christian […].“229 share the human predicament with you. […] 3. For the sake of the whole human race and the entire planet. If we humans don’t learn to live by the beauty of the music, we’ll live by our own destructive, greedy noise and despairing, consumptive silence […]. 4. For the sake of the composer, the singer, and the player […].“ A. a. O., 16–17. 222 McLaren dazu: „Expect conversion to normally occur in the context of authentic Christian community […].“ A. a. O., 136. Und auch a. a. O., 134–143. 223 Erkennbar ist ein Ablehnen bestimmter Modelle zur Evangelisation. Brian McLaren dazu: „One of the greatest enemies of evangelism is the church as fortress or social club; it sucks Christians out of their neighborhoods, clubs, workplaces, schools, and other social networks and isolates them in religious ghetto […] The Christians are warehoused as merchandise for heaven, kept safe in a protected space to prevent spillage, leakage, damage, or loss until their delivery.“ http://www.ctlibrary.com/print.html?id=11412 am 26.09.2008. „Thus, the message for McLaren and other emerging church leaders, but not all, seeks to free the gospel from the grip of abstract, propositional truths about personal salvation and eternal security.“ McLaren, „Church Emerging“ (2007), 148. 224 McLaren, More Ready Than You Realize (2002), 39. Mit diesem Begriff sind Evangelisten gemeint, die das Evangelium wie eine Ware anbieten und verkaufen. Der Erfolg eines Evangelisten wird demnach an der Menge der verkauften Ware gemessen. 225 Karen Ward verwendet diesen Begriff ähnlich, wenn sie sagt: „Despite good intentions, some of what the modern church has done in the name of ‚friendliness‘ is really what I call ‚vampire‘ evangelism; it is done not for the sake of the seeker, but for the needs of the church (to fill pews, make budgets, or feel ‚relevant‘ based on numbers of converts and ‚church growth‘).“ Karen Ward in Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches. Five Perspectives (2007), 171. „Friendship Evangelism“ wird als Verrat am Evangelium, das emergente Christen leben wollen, verstanden. Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 122. 226 Damit wenden sich emergente Protagonisten gegen eine ergebnisorientierte Form der Evangelisation. Damit ist gemeint, dass es bei Evangelisation auf die „Anzahl der Bekehrungen“ ankomme. 227 McLaren dazu: „Evangelism in the postmodern world has to be less like an argument. This is not to say that it will not be logical, but rather that it will not be about winning and loosing […].“ McLaren, More Ready Than You Realize. Evangelism as Dance in the Postmodern Ma�trix (2002), 27. 228 So auch zu finden bei Kirk-Davidoff, „Meeting Jesus at the Bar“ (2007), 37. 229 McLaren, More Ready Than You Realize. Evangelism as Dance in the Postmodern Matrix (2002), 67.
10.3 Missionstheologische Ansätze
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Zusammenfassen lässt sich die Diskussion über „Evangelisation“ in der Konversation für emergente Protagonisten, die postmoderne Bedingungen wahrund ernstnehmen, folgendermaßen: Sie ist beziehungsorientiert, narrativ (im Sinne von der Kommunikation der Lebensgeschichten, der Geschichte Gottes mit der Welt etc.), gemeinschaftsorientiert, prozessorientiert (Nachfolge ist ein holistischer Prozess und gleicht einer Reise), lernorientiert (Evangelisation heißt, von dem „spiritual friend“ lernen zu wollen), „Reich Gottes“-orientiert und in Ausnahmen kirchen- und gemeindefokussiert, jedoch relational, werteorientiert und dienend. Darüber hinaus wird Evangelisation von Christen und besonders von Gemeinschaften verkörpert.
10.3.4 Konversion Konversion zum christlichen Glauben erfährt in der „Emerging Church“-Konversation einerseits eine für den Evangelikalismus fremdartige Deutung und andererseits rückt das Thema (auch im Verlauf der „Emerging Church“-Konversation) deutlich in den Hintergrund. Während im traditionellen Evangelikalismus Konversion als Bundesbeziehung mit Jesus Christus verstanden wird230 und dies zu den Merkmalen des Evangelikalismus gehört, wird Konversion zum Christentum in der emergenten Konversation tendenziell als Lebenshaltung, Lebensvollzug und Ausüben tugendhafter Werte und Werke beschrieben.231 230 Im Evangelikalismus wird Konversion in Gegenüberstellung zur liberalen Theologie diskutiert, indem Konversion der religiösen Praxis, wie etwa Gottesdienstbesuch, gegenübergestellt wird. John Stackhouse dazu: „Conversion, then, quite straightforwardly means a change of state, and particularly in this case a change of mind.“ Stackhouse, „Billy Graham and the Nature of Con� version “ (1992), 339. So auch McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 19. Siehe Abschnitt II Kapitel 1.4.1 Evangelikalismus. 231 Rob Bell etwa betont, dass das Selbst- und Weltzerstörerische zurückgelassen werde und man zu neuem Leben erwachte und ein lebensförderliches und ein den Menschen und der Gemeinschaft dienendes Leben führe. Oder Rob Bell, der exegetisch nachzuweisen versucht, dass „[d]er Ausdruck ‚persönliche Beziehung‘ […] nirgendwo in der Bibel“ zu finden sei. Bell, Das letzte Wort hat die Liebe (2011), 24. Koeniger / Renz, „Angriff auf die Hölle“ (2012), 139–140. Konversion ist für McLaren: „[…] salvation means being rescued from fruitless ways of life here and now, to share in God’s saving love for all creation, in an adventure called the kingdom of God.“ McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 25. Oder Peter Rollin der sagt, dass die Grundhaltung der Konversion jene sei, die eigene Machtposition aufzugeben und sich vom „schwächeren Gegenüber“ zur Umkehr bezüglich der eigenen Überheblichkeit bringen zu lassen (egal zu welcher religiösen Orientierung die Konversion dann führe). Rollins: „From here we can postulate the following idea concerning conversion. It is concerned with listening to the outsider who is downtrodden. Hearing their critique, drawing alongside them and allowing them to bring us to repentance.“ Rollins: „What Religion Should
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
Peter Rollins etwa distanziert sich davon, Menschen nahebringen zu wollen, was sie glauben sollen: „In other words, one should speak and act in a manner that respects others and transforms their existence. In this way, we have a moral agenda, but it is a minimal one that focuses more on the how of belief and practice than the what.“232 Auch hier wird nun im Kontext von Konversion von Haltungen, wie etwa Respekt, gesprochen und einer Lebensweise, die ausstrahlt. Häufig wird betont, dass man Nicht-Christen nicht als Menschen betrachten dürfe, die Konversion nötig hätten, sondern dass man sie als Gesprächspartner wahrnehmen müsse.233 In der Konversation wird kritisiert, Mission mit dem Ziel der Konversion oder einer „Kirchenmitgliedschaftsrekrutierung“ zu verstehen.234 Für McLaren und andere ist es wichtiger, authentische Beziehungen zu leben, einen respektvollen Umgang miteinander zu haben und voneinander zu lernen. An dieser Stelle sei kurz auf die in der Konversation wenig thematisierte Frage nach der theologischen Bestimmung der Menschen, konkret der Frage nach der Sünde, eingegangen. Den drei Strömungen folgend kann auch hier eine große Bandbreite beobachtet werden. Während für „relevants“ dieses Thema keine besondere Rolle spielt (da anscheinend geklärt), entspinnt sich für „reconstructionists“ und „revisionists“ an dieser Stelle eine Auseinandersetzung. Pagitt meint beispielsweise: „[…] the rationale for this view of humanity [damit ist die Erbsündenlehre gemeint] has expired, and so ought the theology that grew out of it.“235 Für Pagitt ergibt sich das Problem der heutigen Christenheit darin, dass es vergessen habe, dass es im Ebenbild Gottes geschaffen wurde
we Convert to? Leaving Christianity in the Name of Christianity“, http://peterrollins.net/ 2016/03/what-religion-should-we-convert-to-leaving-christianity-in-the-name-of-christianity/ am 15.03.2016. Bell sagt, dass Gott dort zu finden sei, wo „passion and love and exhilaration“ sind. Bell, Vel�vet Elvis (2005), 92. 232 Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 143. 233 Denn, so wie Rob Bell fomuliert: „Oftentimes the Christian community has sent the message that we love people and build relationships in order to convert them to the Christian faith. So there is an agenda. And when there is an agenda, it isn’t really love, is it?“ Bell, Velvet Elvis (2005), 167. „Non-critical, interfaith dialog is preferred over dogmatically-driven evangelism in the move��ment.“ o.V., Art. „Emerging Church“ (2010), 129. 234 Dave Tomlinson lehnt es sogar ab, Menschen in das Christentum einzuladen. „Mission is about making God’s liberating love and peace and justice flesh-and-blood reality in ways that can potentially transform people’s lives, or potentially transform a neighbourhood, or potentially transform the world.“ Tomlinson, Re-Enchanting Christianity (2008), 130. 235 Doug Pagitt in Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 128–129.
10.3 Missionstheologische Ansätze
399
und darin existieren kann.236 Bei Rekonstruktionisten und Revisionisten lässt sich ein systemisches Verständnis von Sünde erkennen, das den Aspekt der moralischen Schuld nicht ausschließt, über diesen jedoch hinausgeht.237
10.3.5 Inkarnierendes vs. attraktionales Missionsmodell Ein in der zweiten historischen Phase häufig von „relevants“ und „reconstructionists“ rezipiertes Verständnis von Mission ist jenes von Frost und Hirsch. Frost und Hirsch sprechen von einer „emerging missional church“ und definieren diese folgendermaßen: „[…] a community of God’s people that defines itself, and organizes its life around its real purpose of being an agent of God’s mission to the world.“238 Eine „emerging missional church“ wird von drei Prinzipien geleitet. Sie ist: 1. „incarnational, not attractional, in its ecclesiology“, 2. „messianic, not dualistic, in its spirituality“ und sie bevorzugt 3. „apostolic, rather than a hierarchical, mode of leadership“.239 Die Autoren betonen einen Ansatz, der sich von einer Komm-Struktur absetzen, christologisch und ganzheitlich vorgehen will sowie sendungsorientiert und nicht auf die Erhaltung der Organisation konzentriert ist. Das Ziel sind neue christliche Gemeinschaften für kirchenferne Menschen („audacious new versions of Christian communities within unchurched subcultures“240). Frost und Hirsch sprechen von „refounding of church“ und das nicht wie McLaren vom Ausgangspunkt der Postmoderne241, sondern sie sprechen von einem „re-Jesusing the church“.242 Ausgehend von einem solchen Ansatz, verweisen sie folglich auf ein inkarnierendes Missionsverständnis.243 Frost und Hirsch als prominente Proponenten 236 Pagitt, A Christianity Worth Believing (2012), 128, 136, 137. Hirsch gibt einen Hinweis wie er das Menschenbild in der „Emerging Church“-Konversation bestimmt: „[…] we need to assume that any particular group of God’s people, if they are truly his people, have everything in themselves […] to be able to adapt and thrive in any setting. We must assume that given the right conditions, the community can discover latent resources and capacities that it never thought it possessed.“ Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 202. 237 Dies ist auch bei McKnight erkennbar. McKnight, A Community Called Atonement (2007), 23. 238 Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 82. 239 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 12. 240 A. a. O., x. 241 McLaren, The Story We Find Ourselves In (2003), xv. 242 Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 5, 7. 243 Der Begriff „incarnational mission“ ist ebenfalls in der GOCN im Gefolge von Lesslie Newbigin bedeutsam geworden. Siehe dazu Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 180–183.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
meinen dazu: „As an incarnational community it is concerned about reflecting local flavors, spices, and textures and developing an ambience and a communal spirit that is sensitive and hospitable to local culture.“244 Deutlich wird hier die Bedeutung der Kontextualisierung einer missionarischen Gemeinschaft, die die Autoren mit dem Begriff „incarnational community“ beschreiben. Inkarnatorisch meint nun, in Ableitung des inkarnatorischen Aktes der Menschwerdung Gottes, dass Mission als Sicheinlassen auf eine Kultur (konkret beispielsweise die Nachbarschaft) verstanden wird.245 Frost und Hirsch spitzen ihr Anliegen mit dem Begriff „presence“ zu und meinen, dass das Modell nicht auf attraktionale Methoden („attractional“) angewiesen sei.246 Frosts und Hirschs wesentliche These für die „Emerging Church“-Konversation lautet: „[…] incarnational mission means that people will get to experience Jesus on the inside of their culture (meaning system) and their lives because of our embodying the gospel in an incarnationally appropriate way.“247 Deutlich wird, dass Menschen aus ihrem Bedeutungshorizont heraus und in ihrer Plausibilitätsstruktur christlichen Glauben erfahren sollen. Frost und Hirsch beschreiben mit ihrem inkarnatorischen Modell die Überwindung eines Dualismus von sakral und profan auf der Ebene der lokalen Gemeinschaft. Sie meinen, dass die lokale Gemeinschaft Formen entwickeln müsse, die Menschen erreichten, die außerhalb der Kirchengemeinde und auch außerhalb des direkten Einflussbereiches der Gemeinde lägen. Diese Menschen befänden sich im „missionarischen Kontext“ und sollten eine für sie kontextualisierte Ausdrucksform von Gemeinde erleben.248 Für Frost und Hirsch ist ein inkarnatorischer Missionsansatz äquivalent mit einem zentrifugalen Kirchenverständnis. Frost und Hirsch vermerken, dass die große Mehrheit der westlichen Kirchenkultur eine nach innen ausgerichtete Mission betreibe, die „Menschen aus der Welt“ in die Welt der Kirche zu holen versuche, damit sie in Berührung mit Gott kämen. Eine inkarnatorische Sichtweise führe zu einer Überwindung der Grenzen zwischen Christen und Nichtchristen, zwischen Kirche und Welt. Die Welt wird als vom „Reich Gottes“ durchdrungen betrachtet, in der christliche Gemeinschaften die Rolle hätten, kleine, vernetzte, kontextualisierte 244 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 80–81. 245 „To identify incarnationally with a people will mean that we must try to enter into something of the cultural life of a ‚people‘; to seek to understand their perspectives, their grievances and causes, in other words their real existence, in such a way as to genuinely reflect the act of identification that God made with us in Jesus.“ A. a. O., 38. Oder auch Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 143–144. 246 So auch Murray, Church after Christendom (2004), 22. 247 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 40. 248 Das Zueinander „neuer“ und „alter“ Gemeinschaftsformen wird bei Frost und Hirsch in diesem Konzept nicht beleuchtet.
10.3 Missionstheologische Ansätze
401
Ausdrucksformen von Glauben zu gründen.249 Es wird dazu aufgefordert, die eigenen Grenzen zu überwinden und Menschen außerhalb kirchlicher Kreise christliche Gemeinschaft zu ermöglichen.250 Frost und Hirsch berufen sich auf ein Vier-Stufen-Modell, das eine Implementierung des inkarnatorisch-missionarischen Modells fördern soll.251 Das Modell beschreibt ursprünglich das Verhalten von Missionaren in einer ihnen fremden Kultur („host community“). Für Frost und Hirsch ist die Postmoderne eine solche neue und fremde Kultur. 1. Mission beginne mit „real connection“, dem Knüpfen von echten, authentischen Kontakten zwischen Christen und „Einheimischen“. 2. Dem folge die „real demonstration“, ein Ausleben der Gnade, indem Vorurteile gegenüber Christen abgebaut werden können, beispielsweise indem soziales Engagement stattfinde. 3. Der dritte Schritt wird beschrieben als „real access“, in dem die Gründer der Gemeinschaft durch einheimische konvertierte Leiter ersetzt werden müssten. Die Gemeinde sei ab diesem Zeitpunkt selbst verantwortlich, bestimme, wie die Bibel kulturell relevant verkündigt und ausgelebt werden müsse. 4. In einem letzten Schritt geschehe der „real encounter“ erst zwei Generationen nach der Gründungsphase, in dem die „wirkliche“ Integration der Gemeinschaft in die gastgebende Gemeinschaft erfolge. Hier sei der inkarnatorische Prozess abgeschlossen. Dieses Modell soll dazu dienen, die verschiedenen Stufen eines „encounters“ („Begegnung“) zwischen Kirche und Welt in einem Zeit- und Schritte-Raster durchzudenken. In der Konversation wird von Hirsch und Frost ein attraktionales Verständnis von Mission als Gegenpol zum inkarnatorischen Modell beschrieben.252 Dies wird als „modern“ und den postmodernen Bedingungen nicht mehr angemessen geschildert. Dies besagt, dass durch attraktive Angebote christlicher Gemeinden Menschen Anschluss an die Kirche und den christlichen Glauben bekämen. Kirche versuche demnach eine Komm-Struktur, wenn auch kontextualisiert, aufrechtzuerhalten.
249 Frosts und Hirschs Anliegen und Modell (und auch Hirschs Netzwerk genannt „Forge“) liegen damit in der Tradition der Gemeindegründungsbewegung. 250 Über Dieter Zanders inkarnatorischen Zugang sagen Gibbs und Bolger: „The goal is not to bring new people into the small group but to add groups for those who respond to the kingdom.“ Hierbei sei es essenziell, der Kultur und der Gesellschaft zuzuhören und an eben jenen (Kultur und Gesellschaft) zu partizipieren. Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 52. 251 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 73–75. 252 Frost / Hirsch, Die Zukunft gestalten (2008), 41.
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10. Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen
Abbildung 14: Hirsch / Frost – das inkarnierende Modell
Kritisch müssen Hirsch und Frost hinsichtlich der dreifachen Akzentuierung „incarnational“, „messianic“ und „apostolic“ befragt werden. Es bleibt ungeklärt, welche Grenzen eines solchen Kontextualisierungsansatzes aufzuzeigen sind, welches Jesus-Bild verfolgt werden soll und wie mit Institutionalisierungsprozessen der von ihnen vorgeschlagenen Bewegung umgegangen werden soll.253
253 Eine kritische Auseinandersetzung folgt in Abschnitt IV 2.3.5 Exkurs: Hirschs und Frosts Inkarnationsmodell.
11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
In der „Emerging Church“-Konversation tritt ein Thema besonders deutlich hervor, nämlich die Beschäftigung der Protagonisten mit ihren Kontexten. Dabei ist die Auseinandersetzung mit den geistesgeschichtlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen sowie epistemologischen Voraussetzungen, die unter der Chiffre „Postmoderne“ zusammengefasst werden,1 der Ausgangspunkt für die Klärung der Verhältnisse zu Kirche / Gemeinde, Christentum und Welt. Es ist ein Merkmal der Konversation, sich zu diesen Veränderungen sowie zu den Implikationen für die eigene religiöse Orientierung und für gemeindliches Handeln zu verhalten. Im Folgenden sollen Stimmen und Ansätze dargestellt werden, die anhand der bereits getroffenen Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes für die „Emerging Church“-Konversation wichtig waren und sind. In der „Emerging Church“Konversation werden dabei ausgehend vom Impuls, in der „Postmoderne“ zu leben, vier Kontexte vornehmlich unter den Vorzeichen der Krisen diskutiert. 1. die Postmoderne als Krise der Moderne 2. Kritik an religiösen Organisationen und religiöser Praxis 3. eine Krise des Christentums 4. eine Krise der Welt Alle vier Kontexte schildern den von emergenten Protagonisten erlebten Zustand der Unsicherheit und Instabilität in einer postmodernen Welt. Obwohl 1
Dies wird etwa darin deutlich, dass Stetzer zur Unterteilung in drei Strömungen in der „Emer�ging Church“-Konversation als Kriterium das Verhältnis von emergenten Protagonisten zur Kultur wählt. Siehe Abschnitt II Kapitel 4.2 Drei Strömungen: „relevants“ – „reconstructio�nists“ – „revisionists“. Dabei zeigen sich abhängig von der Zuordnung zur Strömung verschiedene Schattierungen und Ausführungen einzelner Themen, die an gegebener Stelle gesondert dargestellt werden. Scott Thumma sagt ebenfalls zum Gewicht des Themas „Postmoderne“: „[…] sophisticated and well-reasoned analyses of contemporary society and the role of both God and the church in a changing reality.“ Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 192. Keuss spricht hinsichtlich der „Emerging Church“-Konversation von: „[…] embrace of para�dox and uncertainty in regard to -) constantly changing philosophical understanding of subjectivity […] -) constantly changing social and economic systems […] -) a rapid embrace of constantly changing spiritualities […].“ Keuss, „The Emergent Church and Neo-correlational Theology After Tillich, Schleiermacher and Browning“ (2008), 451–452.
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
diese vier Krisen in der Konversation nicht voneinander unabhängig oder voneinander getrennt besprochen werden, dient im Weiteren eine Unterscheidung in vier Aspekte einer deutlicheren Darstellung.
11.1 Die Postmoderne als Krisenzeichen 11.1.1 Zum Begriff „Postmoderne“ Stuvland stellt den Bezug zur Postmoderne in der Konversation fest und sagt: The emerging church conversation in Western, postindustrial societies claims to be the re-working and re-imagining of Christian ecclesiology and mission in a decidedly postmodern context. Context matters and insofar as the conversation eschews labels, the untidy transition from modernity to postmodernity is its most common reference point and its philosophical as well as theological basis.2
Die Auswirkungen postmoderner Bedingungen auf den christlichen Glauben und die christliche Gemeinschaft werden in der Konversation als Geburtsstunde der „Emerging Church“-Konversation diskutiert. Emergente Protagonisten wie Tony Jones betonen, dass das öffentlichkeitswirksame Aufkommen dieses Phänomens der Anlass für die „Emerging Church“ war: „The emergent phenomenon began in the late 1990s when a group of Christian leaders began a conversation about how postmodernism was affecting the faith.“3 Tony Jones beschreibt das Aufkommen der „Emerging Church“ pointiert als Ergebnis einer geistesgeschichtlichen Wende. Er sagt „The ECM is, no doubt, one of the first ecclesial responses to the advent of postmodernist culture.“4 Wiederum zeigt sich, wie in dem historischen Überblick über die „Emerging Church“-Konversation bereits dargestellt, dass die „Gen X“ und die „Gen Y“ gesellschaftliche, kulturelle und geistesgeschichtliche Veränderungen besonders kritisch wahrnahmen und sich dadurch von der Konversation im Besonderen angesprochen fühlten.5 Nichtsdestotrotz wird in der „Emerging Church“-Kon2 Stuvland, „The Emerging Church and Global Civil Society“ (2010), 214. 3 Jones, The New Christians (2008), 41. 4 Jones, The Church is Flat (2011), 35. 5 Obwohl emergente Protagonisten wie Dan Kimball betonen, dass ältere Personen Teil der Postmoderne seien, lässt sich eine Zuspitzung in den bereits genannten Generationen finden. Kimball, Emerging Church (2005), 60.
11.1 Die Postmoderne als Krisenzeichen
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versation das Erleben einer kulturell veränderten Welt als globales Geschehen ausgedrückt.6 Obwohl sich die „Emerging Church“-Konversation in Ländern verortet, die von westeuropäischer Ideengeschichte geprägt sind (speziell USA, Großbritannien, Australien, Neuseeland und Westeuropa), sprechen Protagonisten von einer Krise der Welt. Zunächst kann für die Konversation festgestellt werden, dass es zahlreiche Begriffe gibt, die zur Beschreibung erlebter gesellschaftlicher und geistesgeschichtlicher Phänomene, Brüche und Veränderungen herangezogen werden.7 Besonders in der ersten und zweiten historischen Phase tritt überwiegend der Begriff „Postmoderne“ auf. Der Begriff verweist im Diskurs einerseits auf eine geistesgeschichtliche Wende und wie sie von emergenten Protagonisten erlebt wird, andererseits wird er synonym zu „neuartig“/„angesagt“ benutzt. Seit der dritten historischen Phase fällt dagegen auf, dass der Begriff „Postmoderne“ kaum noch gebraucht wird.8 Inhaltlich erfährt der Begriff „Postmoderne“ in der Konversation unterschiedliche Zuspitzungen und Füllungen. Während die Mehrheit emergenter Protagonisten in der ersten und zweiten historischen Phase in allen drei Strömungen von „Postmoderne“ spricht und darunter eine Vielzahl von kulturellen, gesellschaftlichen, technologischen, geistesgeschichtlichen sowie epistemologischen Veränderungen subsummiert,9 spricht beispielsweise Tickle von „great convergence“ und „great emergence“.10 Die Rede von einem Para6 „The world is changing.“ Mit dieser oder ähnlichen Aussagen wird in der „Emerging Church“Konversation dem Erleben Ausdruck gegeben, dass sich die westliche Welt in einem Paradigmenwechsel befinde, der, nach Tickle, alle fünfhundert Jahre passiere und wieder bevorstehe. Siehe Tickle, https://www.youtube.com/watch?v=RNg__d5ObMg am 12.10.2014. Jonny Baker sagt beispielsweise: „Reality isn’t what it used to be.“ Baker, „Emerging, Missio�nal, Mosaic, and Monastic“ (2008), 34. 7 In dieser Arbeit wird an dem Begriff „Postmoderne“ festgehalten, da er in der Konversation selbst große Aufmerksamkeit erhält. 8 Dies kann damit zusammenhängen, dass die Komplexität des Begriffs von seinen Befürwortern und Gegnern verstärkt wahrgenommen und ernst genommen wurde. 9 Protagonisten und Veröffentlichungen verweisen auf kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen, die auf Beobachtungen im eigenen Umfeld und dem eigenen Kontext basieren, wenn sie von folgenden Indikatoren sprechen: technologische Neuerungen, Mobilität, Veränderungen im Wissensmanagement oder die geisteswissenschaftlichen Paradigmenwechsel. Brian McLaren etwa weist auf seine Begriffsverwendung hin, wenn er auf die französischsprachige Postmoderne-Debatte (Lyotard) Bezug nimmt, dazu aber meint, dass diese zu weit weg vom „everyday life“ seien. Dies ist ein Hinweis, der für die emergente Konversation wesent� lich ist, nämlich, dass ein pragmatischer „Postmoderne“-Begriff favorisiert wird. Zitiert in: Smith, Who’s Afraid of Postmodernism? (2006), 18–19. 10 Tickle definiert: „[…] the great convergence is an across-the-board and still-accelerating shift in every single part and parcel of our lives as members in good standing of twenty-first-century Western or westernized civilization. Intellectually, politically, economically, culturally, sociologically, religiously, psychologically […].“ Tickle, Emergence Christianity (2012), 25.
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
digmenwechsel lässt sich für alle drei Strömungen in der ersten und zweiten historischen Phase feststellen.11 Die Australier Frost und Hirsch legen sich in ihren Veröffentlichungen nicht auf einen Begriff fest,12 umschreiben die kulturellen Veränderungen jedoch mit dem Terminus „Komplexität“: „The truth is that the twenty-first century is turning out to be a highly complex phenomenon where terrorism, technological innovation, an unsustainable environment, rampant consumerism, and discontinuous change confront us at every point.“13 Die Autoren erkennen eine neue Komplexität, die von christlichen Gemeinschaften wahrgenommen werden muss, ohne sich dabei von dieser neuen Zeit und ihren Anforderungen kompromittieren zu lassen.14 An anderer Stelle beziehen sich die Autoren auf den Begriff „Liminalität“, den sie heranziehen, um die Postmoderne und „postchristendom“ als Schwellensituationen zu beschreiben. Gemeindliches Handeln wird demnach von einer neuen Wirklichkeit herausgefordert. Sie sagen: „Liminality therefore applies to that situation where people find themselves in an in-between, marginal state in relation to the surrounding society, a place that could involve significant danger and disorientation […].“15 Für die Auto-
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Eddi Gibbs schildert die Veränderungen als „Sturmfront“: „[The] storm fronts [identified in this book] do not simply represent a short-term threat church must survive in order to return to the familiar and more tranquil conditions that they have previously known. Rather, these storm fronts represent boundary lines that separate two very different worlds. The major themes covered include the church’s mission, its structures, leadership emergence and mentoring, worship, spirituality and evangelism.“ Gibbs, Churchnext (2000), 11–12. Marcus Borg, auf den in der Konversation auch Bezug genommen wird, verwendet dafür den Begriff „Emerging Paradigm“. Er meint, dass „[…] the emerging paradigm has been visible for well over hundred years. […] in the last twenty or thirty years, it has become a major grass roots movement among laity and clergy […].“ Borg, The Heart of Christianity (2003), 6. So beschreibt etwa der baptistische britische Theologe Murray die Postmoderne nicht nur als eine Epoche, sondern auch als neues Paradigma. So etwa bei Murray, Church after Christendom (2004), 6–8. Murray schreibt: „The end of Christendom and transition into post-Chris� tendom in Western culture is a paradigm shift.“ A. a. O., 7. Die emergenten Protagonisten Riddell und Pierson formulieren einen Gedanken in Anlehnung an David Bosch, der in der Konversation wenig rezipiert wurde. Sie sagen, dass die Postmoderne die Moderne nicht ablöse oder aufhebe, sondern dass verschiedene geistesgeschichtliche Phänomene nebeneinander existierten. Sie sagen: „[…] we live between the ages when the pre� vious culture of modernity still holds its way and power but the emerging culture is present with vigour.“ Riddell / Pierson u. a., The Prodigal Project (2000), 19. An einer anderen Stelle sagen sie: „[…] shift from the modern to the postmodern, or from solid modernity to liquid modernity […].“ Hirsch / Altclass, The Forgotten Ways Handbook (2009), 26. A. a. O. Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 16. In dieser Hinsicht fallen die Autoren in die Strömung der „relevants“ oder auch „reconstructionists“. Hirsch, The Forgotten Ways (2006), 220.
11.1 Die Postmoderne als Krisenzeichen
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ren ist dies ein wünschenswerter Zustand für individuelles und gemeindliches Handeln, dem mit Abenteuerlust sowie Mut für die Reise begegnet werden soll.16 Hirsch und Frost weiter zu Liminalität: „Liminality is the term we use to describe a threshold experience. It is composed of any or a combination of danger, marginality, disorientation, or ordeal and tends to create a space that is neither here nor there, a transitional stage […].“17
11.1.2 Der Begriff „Postmoderne“ als Hoffnungsbegriff Von Alt zu Neu, von der Vergangenheit in die Zukunft – mit dem Begriff „Postmoderne“ wird besonders in der ersten und zweiten historischen Phase der Konversation ein Epochenabschnitt erkannt.18 Die neu begonnene Epoche ist zugleich ein Hoffnungsbild, dem emergente Protagonisten hinsichtlich ihrer religiösen Orientierung konstruktiv und innovativ begegnen wollen.19 Vertreter der „Emerging Church“-Konversation konstatieren selbstbewusst einen Paradigmenwechsel von der Moderne hin zur Postmoderne, der entscheidenden Einfluss auf das Selbstverständnis der Gemeinden und die religiöse Orientierung haben muss. Sie wollen die Relevanz und die Glaubwürdigkeit der Gemeinden
16 Frost / Hirsch, The Faith of Leap (2011), 30–33. 17 A. a. O., 19. 18 Brian McLaren schildert die Postmoderne als ein Paradigma vergleichbar mit: „like a spider’s web“ oder „little fragments of webs, loosley connected if at all“. McLaren, More Ready Than You Realize (2002), 128–130. 19 Sweet, Postmodern Pilgrims (2000); Sweet, AquaChurch 2.0 (2008). Fuller / Sanders, „Len Sweet on ‚So Beautiful‘ and the ‚Jesus Manifesto‘“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 22.06.2009, https://homebrewedchristianity.com/2009/06/22/len-sweet-on-so-beautiful-andthe-jesus-manifesto-homebrewed-christianity-54/ am 28.12.2016. Siehe dazu auch Stuvland, „The Emerging Church and Global Civil Society“ (2010), 226. In der „Emerging Church“-Konversation herrscht optimistische Aufbruchstimmung in Bezug auf die Postmoderne. So schildert Brian McLaren etwa den Umgang mit der Postmoderne mit den Stichworten „understand it“, „engage it“, „get ready for revolution“. McLaren, The Church on the Other Side (2006), 166–210. Tony Jones sagt: „Postmodernism is not the evil that some Christian thinkers make it out to be. On the contrary, many postmodern critiques of modernism should be welcomed by the church. No longer are we beholden to the scientific proof model of evangelism – everything does not need to be explained and rationalized.“ Jones, Postmodern Youth Ministry (2001), 39. Dieses Zitat spiegelt das Postmoderne-Verständnis emergenter Protagonisten wider, nämlich dass Postmoderne als positiv und befreiend beurteilt wird.
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
wiederherstellen, indem sie ich der „Postmoderne“ zuwenden.20 Inmitten der vielschichtig diskutierten Veränderungen sollen sich christliche Gemeinden neu beheimaten, wie McLaren es vorschlägt: „As Christians who want to live and love on the other side, we better get a feel for postmodernity from the inside, because in many ways postmodernity is the other side, and it defines reality for more and more people.“ Er meint weiter, dass Gemeinden neue Zugänge in der und für die Postmoderne finden müssten und schildert fünf Einsichten für die Gemeinden in der Postmoderne. Er schlägt vor, dass christliche Gemeinden und religiöse Subjekte Folgendes beachten sollten: 1. „being skeptical of certainty“, 2. „being sensitive to context“, 3. „being more humorous toward approaching life“, 4. „being highly valuing subjective experience“, 5. „being cherishing togetherness – focusing on similarities more than divisive differences“.21 Gemeinden sollten jegliche Sicherheit und damit verbundene Wahrheitsansprüche skeptisch betrachten, sie sollten den Kontext beachten, das Leben leichter nehmen (damit ist die strenge Schwarz-Weiß-Ethik evangelikalen Denkens gemeint) und beziehungsorientiert denken (nicht prinzipienorientiert). Darüber hinaus sollten sie subjektives Erleben wertschätzen, Gemeinschaft solle erlebbar werden und Gemeinsamkeiten über Unterschiede hinweg gewürdigt werden. Für emergente Protagonisten ist die erlebte Praxis der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen. Versuche, auf den Wandel zu antworten, finden beispielsweise
20 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), XI. Doug Pagitt meint, dass die Kirche von den toxischen Verbindungen der Moderne gelöst werden müsse. Er schildert diese als „[…] tangible evidence such as size, market share, political influence, healthy budgets, and the creation of model citizens living the American Dream […]“ und identifiziert die „moderne Kirche“ mit evangelikalen „Megachurches“. Pagitt, Reimagi� ning Spiritual Formation (2003), 23. 21 McLaren, The Church on the Other Side (2006), 168–170. So auch Sweet, der sagt, Menschen seien „[…] experience gatherers. They don’t know it when they see it; they know it when they experience it and enact it.“ McLaren / Haselmayer u. a., A is for Abductive (2003), 121. In „Church on the Other Side“ präsentiert McLaren fünfzehn Strategien, wie seine Einsichten umgesetzt werden können. Sein Resümee lautet, dass die Kirche für einen postmodernen Zugang Folgendes müsse: „[…] debug its faith from the viruses of modernity“. Die Viren der Moderne beschreibt er mit den Begriffen: Kontrolle, Mechanismen, Objektivität, Analytik, Reduktionismus, Wissenschaftlichkeit, Individualismus, Organisationsliebe und Konsumorientierung. McLaren, The Church on the Other Side (2000), 177–196. Auch Tickle schlägt vor, dass Gemeinden sich an die postmodernen Bedingungen, wie Adaption, Beziehungsorientierung und Komplexität, gewöhnen müssten. Tickle, The Great Emergence (2012), 152.
11.1 Die Postmoderne als Krisenzeichen
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Gestalt in experimentellen spirituellen Ausdrucksformen, die stets den Charakter des „Neuen“ betonen. In der „Emerging Church“-Konversation werden die Motive des Neuen (im betonten Gegensatz zum „Alten“), des Aufbruchs und der Erneuerung im Kontext der Postmoderne-Diskussion gebraucht und positiv konnotiert. Religiöse Orientierung, christliches Handeln und religiöse Sozialität müssten sich „neu“ auf die kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen einstellen und müssten damit „re-imagined“ werden.22 Auf die Frage, warum alles neu werden müsse, lassen sich in der emergenten Konversation zwei Konversationsstränge ausmachen. • Zum Ersten solle „alles neu werden“, weil sich die Zeit / die Gesellschaft verändert hat / postmodern sei, d. h. der Kontext wird als Auslöser für eine Revision christlicher und gemeindlicher Überzeugungen und der Praxis verstanden. • Zum Zweiten solle „alles neu werden“, weil vormalige religiöse Orientierungen für emergente Protagonisten nicht mehr stimmig seien, d. h. für Einzelne ist die religiöse Überzeugung nicht mehr plausibel oder relevant und bedarf einer Revision. Ausgangspunkt sei dabei das Individuum. Das skizzierte Hoffnungsbild geht einher mit Kritik an religiöser Praxis und Überzeugungen, die als „modern“ beschrieben werden.
22 Beispielsweise betont Brian McLaren die Notwendigkeit einer „reimagined church“, die weiter geht als eine „renewed“ oder „restored church“. Er spricht davon, dass es ihm nicht um Op�timierungen bestehender Strukturen gehe. McLaren, The Church on the Other Side (2006), 26–28. Siehe dazu beispielsweise folgende Veröffentlichungen in der „Emerging Church“-Kon�versation: Jones, Reimagining Christianity (2004); Pagitt, Reimagining Spiritual Formation (2003); Viola, Reimagining Church (2008). Auf der Website von „Emergent Village“ steht geschrieben: „[…] to imagine and generate new possibilities for the Christian church in the postmodern world. […] We must imagine and pursue the development of new ways of being followers of Jesus, new ways of doing theology and living biblically, new understandings of mission, new ways of expressing compassion and seeking justice, new kinds of faith communities, new approaches to worship and service, new integrations and conversations and convergences and dreams.“ www.emergentvillage.org am 16.05.2007. Oder Brian McLaren: „We believe that image (the language of imagination) and emotion (including the emotion of wonder) are essential elements of fully human knowing, and thus we seek to integrate them in our search for this precious, wonderful, sacred gift called truth, which you and I both love – and too often betray in spite of our best intentions.“ http://www.brianmclaren.net/archives/000269.html am 02.03.2007.
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
11.1.3 Der Begriff „Postmoderne“ als Kritik an der „Moderne“ Im Folgenden sollen drei Aspekte aufgezeigt werden, wie in der „Emerging Church“-Konversation über eine Ablehnung der „Moderne“ gesprochen wird. McLaren sagt dazu programmatisch: „[…] modernity isn’t ‚now‘ for many of us, and it won’t be ‚now‘ for any of us much longer.“23
11.1.3.1 Ablehnung der „Moderne“ als philosophisches Konzept Es fällt auf, dass in der „Emerging Church“-Konversation mit dem Begriff „Postmoderne“ Kritik und Ablehnung eines „modernen Weltbildes“ verdichtet werden. Emergente Protagonisten diskutieren den Einspruch gegen eine mit der „Moderne“ assoziierten Absolutheit der Vernunft, Zuverlässigkeit in rationale Prämissen sowie Objektivität von Wahrheit.24 Das in der Moderne durch Vernunft, Wissenschaft, Objektivität und Technologie etablierte allgemeingültige Weltbild wird von emergenten Protagonisten im Namen der Postmoderne zurückgewiesen. Kimball schildert „pure modernism“ als „[…] single, universal worldview and moral standard, a belief that all knowledge is good and certain, truth is absolute, individualism is valued, and thinking, learning, and beliefs should be determined systematically and logically.“25 Für emergente Protagonisten, wie Kimball, steht diese Weltsicht in Kontrast zur gegenwärtig erlebten Postmoderne, die das Erwähnte ablehnt. Kimball erörtert die Postmoderne als „[…] all truth is not absolute, community is valued over individualism, and thinking, learning, and beliefs can be determined nonlinearly.“26 Kimball stellt fest, dass das Vertrauen in die Erfahrung (Postmoderne) das Vertrauen in das Vermögen der Vernunft (Moderne) abgelöst habe. Individuelle Erlebnisse bekommen damit Deutungsautorität.27 Damit haben postmoderne 23 McLaren, A New Kind of Christian (2001), 19. 24 McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003), 260, 262. Pagitt, Reimagining Spiritual Formation (2003), 114–115. Sweet, Soul Tsunami (1999), 199. Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 42–43. Kimball, The Emerging Church (2003), 175. 25 Kimball, The Emerging Church (2003), 49. Er möchte sich vom „curse of modernism“ distanzieren. So auch in Carson, Becoming Conversant with the Emerging Church (2005), 38. McLaren dazu mehr über die sieben „bugs“ der Moderne. McLaren, The Church on the Other Side (2006), 199–206. 26 Kimball, The Emerging Church (2003), 49. Die Moderne wird an vielen Stellen mit den Prinzipien der Aufklärung in Verbindung gebracht, vereinfacht auf eine einheitliche Strömung dargestellt und negativ konnotiert. Zum Beispiel: „The old certainties of the Enlightenment are no longer secure, and there is a widespread feeling that science and technology have ultimately failed to deliver the goods.“ Drane, Cultural Change and Biblical Faith (2000), 7. 27 Kimball, Emerging Church (2005), 42.
11.1 Die Postmoderne als Krisenzeichen
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Menschen keine gemeinsame übergeordnete Autorität mehr.28 „Große Erzählungen“ werden vom Individuum in Zweifel gezogen sowie auf ihre Zulänglichkeit geprüft. In der „Emerging Church“-Konversation wird diskutiert, dass Menschen in der Postmoderne auf der Suche nach sinnstiftenden „Erzählungen“ seien und diese verantworten müssten.29 Pluralismus und Experimente sind Kennzeichen der Vielfalt von „kleinen Erzählungen“, die narrativen Charakter und nicht mehr propositionalen Charakter haben.30 Es besteht eine Auswahl am Buffet der Möglichkeiten. Wissen und Informationen werden beziehungsorientiert und netzwerkartig weitergegeben und multipliziert. Die technologischen Fortschritte (besonders Medien und Internet) haben zu einem globalen Denken über Gemeinschaft geführt. Dabei wird Gemeinschaft stets nach persönlichen Vorlieben ausgesucht. Laut Kimball seien die Gesellschaft und die Kultur ständigen Veränderungen unterworfen, die von den Menschen angepasstes, fluides Verhalten verlangten.31 Alle diese Merkmale werden, wie beispielsweise von Kimball, mit dem Begriff „Postmoderne“ als Gegenbegriff zu den Kennzeichen der Moderne entwickelt und verstanden.32 Die Moderne wird dabei einlinig, rational, organisiert, auf festgelegten Wahrheiten beruhend, systematisch, individualistisch und auf einer allgemeingültigen Wahrheit gründend dargestellt.33 Während Religion in der Moderne als organisierter Wahrheitsort beschrieben wird, bedeutet Religiosität in der Postmoderne die individuelle Wahrheitssuche.34
11.1.3.2 Ablehnung der „Moderne“ als „vergangener“ Ausdruck der Kirche Die geschilderten Bedingungen werden in der Konversation auf Kirche und Gemeinde übertragen diskutiert. McLaren beschreibt die „moderne Kirche“ bildhaft als unter einem Virus leidend. Er beschreibt den Virus der „modernen Kirche“ wie folgt: „[…] modern, Western, colonial, imperial, rationalist,
28 Für die christliche Bibel heißt das, dass sie nur eine von vielen religiösen Schriften ist und kein Alleinstellungsmerkmal mehr hat. 29 Dies betrifft alle Lebensbereiche, sowohl religiöse Orientierung als auch sexuelle Ausrichtung. Kimball, Emerging Church (2005), 72. 30 Diese Vielfalt ist laut Kimball auch Zeichen für das „Post-Christendom“. A. a. O., 68–69. 31 A. a. O., 58. 32 Kimball etwa legt die Moderne auf die Jahre 1500 bis 2000 fest und ordnet die Jahre nach 2000 der Postmoderne zu. a. Eine zeitliche Zuordnung wird in der „Emerging Church“-Kon�versation sehr unterschiedlich beantwortet und weist auf einen pragmatischen Gebrauch des „Postmoderne“-Begriffs hin. 33 A. a. O., 60. 34 A. a. O., 85.
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
reductionist, […].“35 Dabei wird „Moderne“ als Containerbegriff für eine Form verstanden, wie religiöses und kirchliches Leben und Handlungen zu gestalten sind. In der „Emerging Church“-Konversation werden solche Formen beispielsweise anhand von „Megachurch“-Ansätzen diskutiert. Hier wird Moderne als „programmatic, technique-oriented, consumer-driven, individualistic“36 dargestellt. In dieser Hinsicht werden christliche Gemeinschaften der Postmoderne, genauer gesagt, emergente Gemeinschaften, als Abhilfe gesehen, die diese Schwächen und Fehler beheben können.
11.1.3.3 Ablehnung der „Moderne“ als historisches Auftreten der Kirche mit kolonialem Missionsverständnis Der dritte Aspekt einer Ablehnung der Moderne verwebt die Begriffe „Moderne“, „Westen“ und „Kolonialismus“ und kritisiert ein dominantes kirchliches / gemeindliches, imperialistisches Auftreten. Imperialismus ist hier nicht im historischen Kontext zu verstehen, sondern im Sinn von inhaltlicher (bestimmte theologische Überzeugungen und Praktiken befördernd) sowie struktureller Unterdrückung und Herrschaft.37 Emergente Stimmen kritisieren dies häufig an „Megachurch“-Ansätzen im Evangelikalismus.
11.2 Kritik an religiösen Organisationen und religiöser Praxis Gemeinsam ist den unterschiedlichen Ausprägungen der „Emerging Church“Konversation, dass sie eine wachsende Unzufriedenheit gegenüber den Grundannahmen und Vollzügen religiöser Praxis und eine Kritik an religiösen Orga35 McLaren, Everything Must Change (2007), 35. In der Konversation werden die Kirchen der Moderne, beispielsweise auch von McLaren, als hierarchisch, machtorientiert und einengend empfunden und beschrieben. McLaren etwa spricht von den sieben „bugs“ („Programmier� fehler“) der Moderne. Die Moderne wird seiner Meinung nach mit kolonialer Eroberung und Machtausübung in Verbindung gebracht, mit einem mechanistischen Weltbild, mit einem objektiven/analytischen/reduktionistischen Weltbild, mit einem säkularen-wissenschaftlichen Ansatz (im Gegensatz zum spirituellen), mit Individualismus, mit Organisationserhaltung und mit Konsumorientierung. McLaren, The Church on the Other Side (2006), 199–205. 36 Frost / Hirsch, The Faith of Leap (2011), 147. Oder wie Scott Thumma formuliert: „The approach is the opposite of a consumer-driven, style-sensitive commercialization of the Gospel.“ Thum� ma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 192. 37 Jones stützt sich in seinem Verständnis von Postmoderne auf eine Kritik an der Rationalität der Moderne. Er meint, dass Behauptungen einer objektiven Wahrheit dazu verwendet wurden, um andere zu unterdrücken. Jones: „[…] the problem of the modern era was that we overdetermined the capabilities of rationality […].“ Zitiert in Sine, The New Conspirators (2008), 24–27.
11.2 Kritik an religiösen Organisationen und religiöser Praxis
413
nisationen äußern. Emergente Protagonisten sprechen von einer Krise der Kirchen / Gemeinden (häufig auch vom Tod der Kirche38), die sich in dem Verlust von Mitgliedern und den sinkenden Zahlen bei Gottesdienstbesuchern widerspiegelt und den Relevanzverlust für die Mitglieder und die Gesellschaft zeigt.39 In diesem Zusammenhang wird in der „Emerging Church“-Konversation von einem Ende der Kirche im „post-christendom“ gesprochen.40 Stuart Murray sagt dazu: „Churches – whether understood as institutions, buildings or congregations – will be culturally alien in post-Christendom“41. Christliche Gemeinschaften und Kirchen seien der postmodernen Kultur fremd und werden als Bewahrerinnen des Alten geschildert, die jedoch Akteurinnen des Neuen werden sollten.42 Im Folgenden soll ein Kaleidoskop an kritischen Anfragen emergenter Protagonisten kurz dargestellt werden. • Kimball kritisiert, dass die „moderne“ Kirche als Anbieterin religiöser Waren und Dienstleistungen hinsichtlich ihres Wesens für andere da zu
38 Jones, The New Christians (2008), 4–7. Provokant überschreibt Jones ein Kapitel seiner Veröffentlichung mit „Church is Dead“. Er sagt: „In the twenty-first century, it’s not God who’s dead. It’s the church.“ Für ihn sind die herkömmlichen konfessionellen Differenzen Relikte – sie interessieren ihn nicht mehr. Er sagt: „[…] denominations are an outmoded form of or� ganized Christianity […]“ und „[…] bureaucracies also do two other things well: grow more bureaucratic tentacles and attract bureaucrats.“ A. a. O., 9. 39 Murray sagt: „Unless the situation changes, in Western culture there will be no church after christendom.“ Murray, Church after Christendom (2004), 39. Gleichzeitig verweist Randall Reed darauf, dass eben diese Krise zu der Popularität der „Emerging Church“-Konversation geführt habe. Er sagt: „[…] there can be no doubt that the rise of the Emerging Church and the influence they have gained has been facilitated by the decline in church attendance (particularly as it has started impacting Evangelical churches in addition to Mainline churches) and the rise of ‚nones‘ (individuals who are choosing ‚no affiliation‘ when asked about church membership).“ Reed, „Emerging treason“ (2014), 82. Z. B. bei Harpur, „New Creeds“ (2006). Eine Vielzahl von Büchern beschäftigt sich in der Konversation mit der Krise der Kirche, siehe dazu exemplarisch Burke / Peper, Making Sense of Church (2003); Reno, In the Ruins of the Church (2002); McLaren, The Church on the Other Side (2006); Pagitt, Church Re-Imagined (2005); Kimball, They Like Jesus but Not The Church (2007). 40 Was genau mit „der Kirche“ gemeint ist, bleibt in der „Emerging Church“-Konversation offen und orientiert sich grundlegend an den Erfahrungen emergenter Protagonisten mit Kirche. 41 Murray, Church after Christendom (2004), 24. 42 „So here we are, in a transition zone of high tectonic activity, on the threshold of a new world, in a time when many old churches are being shaken half to death, barely surviving, too rarely thriving. And where they are thriving, it’s for one of two reasons: Either they are creating time warps where the past will be preserved so reactionary folk can flock there for a safe – temporary – old familiar haven; or they are among the learners at the top who are surfing change into the new world and transitioning old churches of yesterday into the new churches of the other side.“ McLaren, The Church on the Other Side (2000), 15.
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
sein, untreu geworden sei.43 Die Kirchen werden von emergenten Protagonisten angeklagt, eine christliche Subkultur erschaffen zu haben, in der sich Christen zum einen vor der Welt verstecken könnten und zum anderen zu „Konsumchristen“ degradiert würden. In der „Emerging Church“-Konversation wird ein solches vermeintliches „Konsumchristentum“, wo Christen sich Antworten vom charismatischen Pastor und aus Beseller-Veröffentlichungen „abholen“, abgelehnt. • Die Australier Frost und Hirsch klagen, dass Gemeinden in der Moderne zu regulierend und eingrenzend tätig gewesen seien.44 Sie sind der Meinung: „When the church overregulates, there should be no surprise when either risky movements like the emerging church appear, or when individuals abandon the church to embrace the risk of non-institutional Christianity.“45 Hier werden Erfahrungen mit einer zentralistischen, machtorientierten Gemeinde beschrieben, die sich als Bewahrerin des Glaubens versteht. Eingrenzung meint bei den Autoren auch einen forcierten Dualismus zwischen profan und sakral, der in der Postmoderne überwunden werden will.46 Gemeinden sollten anerkennen, dass sie in einer pluralistischen Gesellschaft kein Monopol einer Sinn- und Erklärungshoheit mehr hätten sowie in den Markt der Deutungen einträten.47 • Emergente Christen wollen nicht mehr kirchlichen und geistlichen Experten vertrauen, bsondern selbst erleben und in kleinen Gemeinschaften leben.48
43 Kimball, Emerging Church (2005), 91. Vgl. Nash / Ward, „Kester Brewin – The Church and Other Means of Escape“, in: Nomad (Podcast) 22.09.2016, http://www.nomadpodcast.co.uk/ nomad-113-kester-brewin-the-church-and-other-means-of-escape/ am 29.12.2016. 44 So auch McNeal, der meint: „The first reformation was about freeing church. The new Refor�mation is about freeing God’s people from the church (the institution) […].“ McNeal, The Present Future (2009), 43. 45 Rah, The Next Evangelicalism (2009), 109–110. 46 Baker nennt hier beispielhaft den Dualismus von Geist und Körper, der überwunden wird. „Postmodern times celebrate the body and being human. The dualism in much of the theology of the church has left a view of bodies and matter as bad and this in turn has been destructive of ritual.“ Baker, The Labyrinth (2000), 21. 47 Eddi Gibbs sagt dazu: „In a post-Christendom and pluralist environment, the Christian church is no longer in a privileged position, but is one of a number competing entities.“ Gibbs, ChurchMorph (2009), 18. 48 Dave Tomlinson stimmt in diesen Reigen ein, wenn er die Kirchen als institutionelle, hierarchische, zentralistische, bürokratische, von Männern dominierte Unternehmen beschreibt. Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 75. In der „Emerging Church“-Konversation wird außerdem einem „Franchise-Modell“ von Kir�che abgesagt. Protagonisten stimmen darin überein, dass es im postmodernen Kontext stets einer angemessenen Kontextualisierung des Evangeliums bedürfe und dass es in einer pluralen Gesellschaft keinen „one-size-fits-all way of doing things“ geben solle. Kimball, The Emerging Church (2003), 14.
11.2 Kritik an religiösen Organisationen und religiöser Praxis
415
Die Meinung einer emergenten Protagonistin drückt den Vertrauensverlust gegenüber organisierter Religion aus, der in der „Emerging Church“Konversation diskutiert wird.49 Why do I need church? It isn’t necessary. I have a relationship with God, and I pray a lot. But I don’t see the point of having to add on all these organized rules like the church leaders think you should do. It feels like they take something beautiful and natural and make it into this complex nonorganic structure where you now have to jump through hoops and do everything in the way the organized church tells you to. It seems to lose all its innocence when it becomes so structured and controlled.50
Organisation und Struktur werden als unnötiger Ballast empfunden, der mit dem negativen Vorurteil „Kontrolle“ verbunden ist.51 • In der „Emerging Church“-Konversation wird diskutiert, dass die Gemeinde kein Ort mehr sei, zu dem man hingehe, wenn man die „rechte Lehre“ hören wolle,52 oder wo die Sakramente verwaltet würden – wie dies für die Kirche in der Moderne beschrieben wird.53 So argumentiert beispielsweise Rob Bell, 49 Dieser Trend, der als treibender Faktor in der „Emerging Church“ sichtbar wird, ist ein Phäno� men, das in der Forschung bereits große Beachtung genießt. Streib, „Religious Praxis“ (2007). 50 Kimball, They Like Jesus but Not The Church (2007), 74. 51 Beispielsweise bei Rollins in dem Kapitel „The Church as Safety Blanket“ zu finden: Rollins, Insurrection (2011), 47–49. So auch Shas und Bos, die meinen: „The church must lose control.“ Ebenezer, Understanding the Gift of Salvation (2012). Michael Frost und Alan Hirsch kommen zu dem Urteil, dass das institutionalisierte Christentum ekklesiologisch und missionstheoretisch gesehen durch die kulturellen Veränderungen der Gesellschaft ein Auslaufmodell und ein gescheitertes Experiment darstelle. Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003). Organisierte Formen religiösen Lebens werden abgelehnt, da, wie es Dan Kimball ausdrückt, folgende Meinungen über Kirche (hier ist der US-amerikanische Kontext gemeint) vertreten seien: Kirche habe „a political agenda“, Kirche sei „judgmental and negative“, Kirche sei „do�minated by males and oppresses females“, die Kirche sei „homophobic“, die Kirche behaupte, dass alle anderen Religionen falsch lägen, die Kirche sei „full of fundamentalists who take the whole Bible literally“. Damit zitiert Kimball Ansichten junger Menschen („Gen Y“) über Kir�che der Moderne in den USA. Kimball veröffentlicht diese sechs Kritikpunkte an der Kirche unter der Überschrift „What Emerging Generations think about the church“. Kimball, They Like Jesus but Not The Church (2007), 73–212. 52 Leonard Sweet is even more emphatic: „The modern world was word-based. Its theologians tried to create an intellectual faith, placing reason and order at the heart of religion. Mystery and metaphor were banished as too fuzzy, too mystical, too illogical.“ Sweet, Postmodern Pil�grims (2000), 86. „Propositions are lost on postmodern ears, but metaphor they will hear, images they will see and understand.“ A. a. O. Sweet sagt weiter: „The church’s failure of ima� gination is directly attributable to its failure to take up the poet’s tools: image and imagination, metaphor and story, and metaphor stories known as parables.“ Sweet, The Gospel According to Starbucks (2007), 113. 53 Kimball, The Emerging Church (2003), 90.
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
dass die Kirchen inhaltliche Begründungsschwierigkeiten hätten, da ihre Botschaft (z. B. von Erlösung und Verdammung) an Relevanz verloren habe.54 „Emerging Church“-Protagonisten meinen, dass Gemeinde ihren Status und ihr Selbstverständnis im Spiegel der Zeit neu überdenken müsse, da die „Kirche der Moderne“ (sichtbar durch die Lehre und die Sakramentsverwaltung) Angebote vertrete, die keiner Nachfrage mehr unterliegen.55 Kimball bringt es in seiner Untersuchung „They Like Jesus But Not The Church“ auf den Punkt, wenn er darauf hinweist, dass postmoderne Menschen, wie emergente Protagonisten, in einer nicht institutionalisierten Religion mit Jesus zu tun haben wollten.56 Gleichwohl die Person Jesus bei den Befragten auf positive Resonanz stieß, wurden Christen und die christliche Gemeinde als negativ, urteilend, männlich-dominiert, homophobisch und fundamentalistisch wahrgenommen.57 Pete Ward führt diese Gedanken zu dem Konzept einer „liquid church“ aus. Er sagt: „[…] the social forms in which sociality is expressed shift over time and in relation to culture. Liquid Ecclesiology takes this notion and focuses on the way that culture operates.“ „Liquid Ecclesiology is a cultural theology in the sense that it seeks to interact with patterns of practice and thinking that are operant in the lived expression of the Church.“58 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die in der „Emerging Church“Konversation ausgemachte Krise der Kirche auf zwei ineinander verschränkte Impulse zurückgeht: zum einen handelt es sich um Eruptionen in der indivi54 So etwa argumentiert Rob Bell. Bell, Love Wins (2011), 63–94. 55 Dan Kimball beschreibt die Vision seiner Gemeinde „Vintage Faith“ wie folgt: „[…] rising fee�ling among emerging church leaders and followers of Jesus, that in many modern contemporary churches, something has subtly gone astray in what we call ‚church‘ and what we call ‚Christianity‘. Through time, church has become a place that you go to have your needs met, instead of being a called local community of God on a mission together. Through time, much of contemporary Christianity subtly has become more about inviting others into the subcultures of Christian music, language and church programs than about passionately inviting o thers into a radically alternative community and way of life as disciples of Jesus and Kingdom living.“ www.vintagefaith.com am 12.10.2012. Vgl. dazu Jones, The Church is Flat (2011), 29. Dies wird auch von McLaren fbeschrieben. McLaren, The Church on the Other Side (2006), 197. 56 Vgl. Nash / Ward, „Kelly Bean – How to Be a Christian Without Going to Church“, in: Nomad (Podcast) 10.08.2015, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-88-kelly-bean-how-to-be-achristian-without-going-to-church/ am 29.12.2016. Die Gemeinden als Institutionen werden kritisiert als „[…] the last bastion of protection against change; the reminder of what the world looked like before it changed; the preserver of tradition and ritual, rather than the catalyst and advancer of the kingdom of God.“ Kimball, They Like Jesus but Not The Church (2007), 15. Vgl. Sanguin, The Emerging Church (2008), 14. 57 Kimball, They Like Jesus but Not The Church (2007), 79–89. 58 Ward, Participation and Mediation (2008), 169–191.
11.3 Krise der Christenheit
417
duellen religiösen Orientierung, die zum anderen in Verbindung gebracht werden mit einem Relevanzverlust der christlichen Botschaft und der Kirchen und Gemeinden in der Öffentlichkeit. Die Fehler der Kirchen und Gemeinden werden darin gesehen, dass sie sich „modernen“ Prinzipien verschrieben hätten und damit keine Aussagekraft in der Postmoderne (oder für emergente Protagonisten) mehr hätten. Auf den von emergenten Protagonisten skizzierten Dualismus von Moderne und Postmoderne wird in Abschnitt IV Kapitel 2.5 kritisch eingegangen. Es kann an dieser Stelle bereits gesagt werden, dass es sich vorwiegend nicht um fachliche Auseinandersetzungen mit kulturellen und gesellschaftlichen Phänomenen handelt.59 Vielmehr indiziert und thematisiert die Auseinandersetzung religiöse Transformationsprozesse emergenter Protagonisten.60
11.3 Krise der Christenheit 11.3.1 Zum Begriff „Christendom“ „Christendom“ ist eine Wortschöpfung, die zwei Bezeichnungen zusammenführt, „Christianity“ („Christentum“) und „kingdom“ („Königreich“).61 Der Begriff meint ein mit Privilegien versehenes Verhältnis von Kirche und Staat. Der Begriff „Christendom“ geht in seiner ursprünglichen Idee auf die durch Kaiser Konstantin und in weiterer Folge Kaiser Theodosius I 392 proklamierte „christliche Nation“ zurück. Dabei wird der Kirche eine bevorzugte gesellschaftliche Stellung eingeräumt. Martin Reppenhagen meint dazu: „Dabei ist die Kirche nicht nur privilegiert, sondern stellt die Grundlage für die Gesellschaft dar. ‚Christendom‘ und ‚der Westen‘ können daher synonym verwendet werden.“62 Reppenhagen weist auf die Verbindung des Gedankens von „Christendom“
59 Siehe dazu bespielhaft Smiths Kritik an dem Gebrauch des Konzepts „Postmoderne“ in der Konversation. Smith, Who’s Afraid of Postmodernism? (2006). 60 Für eine genaue Diskussion siehe Abschnitt IV 2 Diskussion der „Emerging Church“-Konver� sation. 61 Die Begriffe „Christendom“ und „Post-Christendom“ werden unübersetzt verwendet, da es im Deutschen keine äquivalente Bezeichnung dafür gibt. Die Debatte um den Niedergang des „Christendoms“ ist nicht auf die „Emerging Church“-Konversation beschränkt, sondern wird allgemein in der neueren Missionstheologie diskutiert. Neben fxC wird auch in der „missio�nal church“-Debatte die Frage nach einer Kirche nach dem „Christendom“ besprochen. Siehe beispielhaft zu einer Auseinandersetzung der „missional church“ mit „christendom“ Reppen�hagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 199–207. 62 A. a. O., 23.
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
und westlicher Welt hin, wie er auch in der „Emerging Church“-Konversation vorkommt. Mit dem Begriff „Christendom“ wird die im Mittelalter dominierende christliche Deutungsmacht und Weltanschauung beschrieben. Der Begriff zeigt an, dass „Christendom“ nicht nur den Einfluss der christlichen Botschaft schildert, sondern ihre politische, gesellschaftliche und soziale Deutungsmacht. „Christendom was a primary form of cultural reference.“63 Schließlich sieht man es als zwangsläufig an, dass die Verschmelzung von Staat und Kirche bedenklich war. Der Terminus „Christendom“ bezeichnet damit auch einen problematischen Zusammenschluss zwischen Kirche und Staat, der „[…] anything but an unmixed blessing for either Church or society [was].“64
11.3.2 „Christendom“ und „Post-christendom“ in der „Emerging Church“-Konversation Neben dem Begriff „Postmoderne“ wird die Wortzusammensetzung „postchristendom“ in der emergenten Diskussion dafür verwendet, um das Ende einer von westeuropäischer Ideengeschichte geprägten („nach-christentümlichen“) Kultur und Gesellschaft zu bezeichnen.65 63 Brown: „The Challenge of the Emergent Culture for Unitarian Universalism“, http://viewfrom�themountains.blogspot.de/2007/07/challenge-of-emergent-culture-for.html am 26.04.2018. Siehe Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 19–21. Jenkins, The Next Christendom (2002), 14. 64 Jenkins, The Next Christendom (2002), 10. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass der Begriff „Christendom“ ein verklärtes Bild auf� kommen lässt; als hätte es eine „christliche Nation“ (wie es sich Augustinus in „De civitate Dei“ vorstellt) gegeben. Die Gesellschaft war nie durchdrungen von der christlichen Idee. Dort, wo es zu Proklamationen eines „Christendoms“ gekommen ist (z. B. Thomas Müntzer), endete dies in der Katastrophe. Reppenhagen weist darauf hin, dass es ein solches „Christendom“ zeitlich begrenzt in einigen Kolonien gegeben habe. Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche (2011), 20. Die Trennung von Kirche und Staat, die eben ein Verschmelzen der Begriffe „Christenheit“ und „Nation“ verhindert, hat zu einer Ausdifferenzierung christlicher Kultur beigetragen. Eine „christliche Kultur“ entstand durch den Beitrag einer Vielzahl von Kirchen. 65 Teusner stellt für die von ihm untersuchten emergenten Blogger fest: „For these emerging church bloggers, the culture wars between Christendom and secularisation is over, and Christendom lost.“ Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 120. Für das Vorkommen in der Konversation siehe Tickle, Emergence Christianity (2012), 253–258. Die Protagonisten Frost und Hirsch beschreiben „Christendom“ als Periode in der Geschichte des Westens, in der die Kirche die Hoheit über moralische und gesetzliche Rechtsprechung in ihrer Hand hielt und Mittelpunkt der Zivilisation war. Die Autoren dazu: „Taken as a socio� political reality Christendom has been in decline for the last 250 years, so much so that Western culture has been called by many historians (secular and Christian) as the post-Christendom culture.“ Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 9. Sie meinen, dass das „Christendom“ ab dem 11. Jahrhundert in Europa dominant wurde.
11.3 Krise der Christenheit
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Es kann festgestellt werden, dass in der Konversation die Begriffe „postchristendom“, „post-christian culture“ und „postmodernity“ nahezu äquivalent verwendet werden.66 Zudem werden der Begriff und damit einhergehende Prinzipien des Konstrukts „Christendom“ in der Konversation austauschbar mit „Moderne“ verwendet.67
Für Stuart Murray begann „the disintegration of Christendom“ im 16. Jahrhundert. Murray, Church after Christendom (2004), 67. Nash / Ward, „Stuart Murray – Church in a Post-Chris� tendom Culture“, in: Nomad (Podcast) 10.05.2010, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad16-stuart-murray-and-post-christendom/ am 29.12.2016. Der baptistische britische Theologe Stuart Murray ist einer jener Protagonisten, der in der „Emerging Church“-Konversation zu „Post-Christendom“, besonders in der ersten Häfte der zweiten historischen Phase, zitiert wird. Murray, Post-Christendom (2004); Murray, Church after Christendom (2004). Stuart Murray fasst „Christendom“ mit folgenden Merkmalen zusammen: „a commitment to hierarchy and the status quo“, „the loss of lay involvement“, „institutional values rather than communi� ty focus“, „church at the centre of society rather than the margins“, „the use of political power to bring in the kingdom“, „religious compulsion“, „punitive rather than restorative justice“, „marginalisation of women, the poor, and dissident movements“, „inattentiveness to the crit� icisms of those outraged by the historic association of Christianity with patriarchy, warfare, unjustice and patronage“, „partiality for respectability and top-down mission“, „attractional evangelism“, „assuming the Christian story is known“, „and a preoccupation with the rich and powerful.“ Murray, Post-Christendom (2004), 83–88, 200–202. Vereinzelt gibt es Stimmen, wie die von MacLaren, die kritisch einwerfen: „Why is Christen�dom ‚bad‘, but culturally-relevant emerging church ‚good‘?“ MacLaren, Mission Implausible (2004), 166. Ein anderer Einwurf kommt von dem Theologen Douglas John Hall, der für einen konsequenten Rückzug und für einen bewussten Trennungsprozess von Christentum und Gesellschaft eintritt. Sein Motto: „Go ahead and finish the job – disestablish yourselves.“ Hall nimmt die Diskussion im US-amerikanischen Kontext auf und verfasst sein Plädoyer für die „Lutheran Church of America“. Hall, „Metamorphosis“ (1999). Auf dieser Argumentationslinie liegt Kyle Roberts’ Anliegen einer Adaption Kierkegaards für die postmoderne Gesellschaft. Roberts, Emerging Prophet (2013). 66 Wenn emergente Autoren, wie Kimball, sagen: „[…] we are living in an increasingly ‚postChristian‘ culture“, wird eine vorher dagewesene „christliche Kultur“ vorausgesetzt, die gleich�zeitig „modern“ war. Gibbs, ChurchMorph (2009), 18. 67 Murray zu der Verbindung zwischen Moderne und „Christianity“: „In modernity, Christianity was regarded as an integrated and coherent system inviting wholehearted belief or unbelief; but many in postmodernity affirm some beliefs but feel no obligation to accept everything.“ Mur�ray, Church after Christendom (2004), 18. Murray erkennt, dass der Niedergang des Christentums dadurch beschleunigt wurde, dass „belonging“ („dazugehören“) und „believing“ („glau� ben“) auseinanderdrifteten. Murray, Post-Christendom (2004), 324–339. Doug Pagitt dazu: „I contend that Christendom was useful when people of faith were having to engage in conversations with a dominant secular worldview. In that setting, it was power versus power (the power of the church and its longheld dogma versus the new power of secular science). It could be argued that the gospel was well served by Christendom in its conflicts with secular humanism. […] But the benefits of Christendom do not transfer into a conversation with a non-religious, yet spiritual, worldview.“ Webber / Burke u. a., Listening to the Be� liefs of Emerging Churches (2007), 133.
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
In der Konversation fordern beispielsweise Stimmen, wie die von Robert Webber, für US-amerikanische Evangelikale eine Rückkehr zu einem vor- konstantinischen Christentum, dessen kultureller Rahmen Ähnlichkeiten mit den Bedingungen der Postmoderne aufweist. Webber spricht davon, dass in der vor-konstantinischen Zeit das Priestertum aller Gläubigen und auch nachbarschaftliche Mission ernst genommen worden wären,68 da keine staatliche Struktur für die geistliche Versorgung seiner Mitglieder gesorgt habe. Webber beschreibt das Handeln der Christen und christlichen Gemeinschaften in der vorkonstantinischen Zeit als Ziel.69 Es gibt somit in der „Emerging Church“Konversation keine entscheidende differenzierte Diskussion zu den Begriffen und damit verbundene Konzepte sowie Anschauungen.
11.3.4 Kritik an „Christianity“ Ein anderer Begriff, der in der „Emerging Church“-Konversation diskutiert wird, ist „Christianity“, der die christliche Religion (wie sie sich für emergente Protagonisten darstellt) allgemein meint. In der „Emerging Church“ wird damit speziell der Aspekt der organisierten christlichen Religion bezeichnet. „Christianity“ als organisierte christliche Religion wird von emergenten Protagonisten aller Strömungen problematisiert.70 Die „Emerging Church“-Konversation wird als Gegenüber zu „Christianity“ verstanden. Doug Pagitt gibt einen Hinweis für eine kritische Differenzierung: „I am Christian, but I don’t believe in Christianity. At least I don’t believe in the versions of Christianity that have prevailed for the last fifteen hundred years […].“ Er sagt weiter: „I am not conflicted because I struggle to believe. I am conflicted because I want to believe differently.“71 Die Aus68 Webbers Punkte beziehen sich auf den in der Moderne erlebten Sachverhalt, dass speziell ausgebildete Theologen Gemeinden leiten würden und für die missionarischen Aktivitäten zuständig seien. 69 Beispielsweise meint Webber: „In the pre-Constantinian and now postmodern paradigms, the church does not ‚send‘ missionaries nor does it have ‚a missionary program‘. Instead it is mission, no matter where it is geographically.“ Webber, The Younger Evangelicals (2002), 121. Weiter beklagt der Autor die Programm- und Aktionslastigkeit christlicher Kirchen und ein verschwundenes missionarisches Selbstverständnis der Christen. 70 Beispielsweise von Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 68–71. 71 Pagitt, A Christianity Worth Believing (2012), 2. Vgl. auch Bell, Jesus Wants to Save Christians (2012). Oder auch McManus, wenn er sagt: „[…] the greatest enemy to the movement of Jesus Christ is Christianity“. McManus, The Barbarian Way (2005), 6. Oder auch Leonard Sweet: „[p]ost�moderns have had it with religion. They’re sick and tired of religion. They’re convinced the world needs less of religion, not more. They want no part of obedience to sets of propositions and rules required by some ‚officialdom‘ somewhere. Postmoderns want participation
11.3 Krise der Christenheit
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sage eines emergenten Protagonisten macht es deutlich: „It’s [Emerging Church] Christianity for people who don’t like Christianity.“72 Oder: „Faithfulness to the message of Jesus does not mean that we must simply imitate our forbearers in the Christian tradition. To do so might help preserve their formulas, but it will freeze us in history.“73 In der Konversation wird hinsichtlich der erlebten Christenheit Instituts-, Autoritäts- und Kontrollskepsis sowie Kritik an Erfahrungsarmut laut.74 McLaren dazu: „[…] I knew that I couldn’t be intimidated to return to their fold of modern, Western, hyperconfident, non-second-thoughts, industrial-strength religion.“75 Darüber hinaus wird „Christianity“ als inhaltlich „verfälscht“ empfunden und zu einer Suche nach dem „echten“ Christentum aufgerufen.76 Auffallend ist besonders bei „revisionist“-Protagonisten, worin die Verfälschung liegt. Brian McLaren betont in seinen Veröffentlichungen, dass die Verfälschung darin liege, dass die Christenheit sich vornehmlich damit beschäftige: „how to get to heaven“77. In der Konversation wird diskutiert, dass „Christianity“ an eine bestimmte kulturelle Form gebunden sei, die den Menschen „the real message“ verschleiere.78
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in a deeply personal but at the same time communal experience of the divine and the transformation of life that issues from that identification with God.“ Sweet, Postmodern Pilgrims (2000), 112. Sweet, The Gospel According to Starbucks (2007), 7. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 76. Dan Kimball drückt dies so aus, dass das Christentum einen schlechten Ruf habe Kimball, Emerging Church (2005), 57. Oder auch Rob Bell: „Manche Leute tragen so viel Gepäck im Blick auf diesen Namen ‚Jesus‘ mit sich herum, dass – wenn sie dem Geheimnis begegnen, das in der gesamten Schöpfung gegenwärtig ist: Gnade, Frieden, Liebe, Annahme, Heilung, Vergebung – das Letzte, womit sie dies benennen wollen, der Name ‚Jesus‘ ist.“ Bell, Das letzte Wort hat die Liebe (2011), 160. McLaren ruft etwa dazu auf, sich auf die Suche nach dem „echten Christentum“ zu machen: „We have to distinguish between genuine Christianity and our (individual and various culture-encoded) versions of it.“ McLaren, The Church on the Other Side (2006), 178. John Caputo dazu: „The deconstruction of Christianity is not an attack on the church but a cri�tique of the idols to which it is vulnerable – the literalism and a uthoritarianism, the sexism and racism, the militarism and imperialism, and the love of unrestrained capitalism with which the church in its various forms has today and for too long been entangled, any one of which is toxic to the kingdom of God.“ Zitiert in: Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 134. Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 72–75. McLaren, Everything Must Change (2007), 44. Rollins ermutigt sogar dazu „Christianity“ als historischen Ballast loszuwerden und spricht von „crucifying Christianity“. Rollins, The Fidelity of Betrayal (2008), 26. McLaren, The Last Word and the Word After That (2005), 164. Das aus dem hebräischen und griechisch-römischen Kontext herausgewachsene Evangelium habe die christliche Botschaft kulturell zu sehr gefangen genommen. Das im Christentum eingewobene griechisch-römische Narrativ wird von McLaren abgelehnt. McLaren meint, dass Christen von dem griechisch-römischen Verständnis, Christsein zu verstehen, gerettet werden müssen und nennt dies „Greco-Roman soul-sort narrative“. Frost / Hirsch, ReJesus (2009),
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
Ein anderer Impuls, der in diesem Kontext in der Konversation vorkommt, ist jener, dass spirituelle Erfahrungen und christliche religiöse Orientierung nicht zwangsläufig an „Christianity“ als organisierte Religion gebunden seien. Tomlinson pointiert: „God is bigger than Christianity“79. Ähnlich formulieren es Burke und Taylor, die sagen: „Jesus [is] beyond Christianity“80. Dabei wird erklärt, dass Jesu Leben, sein Handeln und Wirken nicht allein in der von den etablierten christlichen Gemeinschaften und Kirchen zu fassen sei. Solche Impulse kommen vorwiegend aus den instituts- und organisationskritischen „reconstructionist“- und „revisionist“-Strömungen.81 Es kann festgestellt werden, dass in der Konversation „Christianity“ überwunden werden soll und christlicher Glaube sowie christliche Gemeinschaften zu neuen Ufern aufbrechen lassen sollen.82 Die „Emerging Church“-Konversation wird als die Überwindung „des Alten“ diskutiert, und emergente Protagonisten, wie Pagitt, Jones oder McLaren, verstehen sich als Teil einer „neuen Christenheit“.83 In der Konversation drücken emergente Protagonisten Hoffnungen aus, wie eine solche „neue Christenheit“ aussehen könnte und müsste.84 • Beispielsweise wird die vermeintliche Selbstbezogenheit religiöser Organisationen angesprochen sowie von einer „neuen Christenheit“ geträumt, die
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142–146. McLaren vergleicht diese kontextuelle Enge mit dem vom „American way of life“ in Anspruch genommenen Evangelium. McLaren, Everything Must Change (2007), 5. Er plädiert für eine sich stets neu kontextualisierende Form, die Bibel zu lesen. Tomlinson, Re-Enchanting Christianity (2008), 120. Burke / Taylor, A Heretic’s Guide to Eternity (2006), 5. Dabei beziehen sich beispielsweise Autoren wie Peter Rollins auf Dietrich Bonhoeffers Ansatz eines „religionslosen Christentums“. Rollins, The Orthodox Heretic and Other Impossible Tales (2009), 62–64. Hiermit ist ein weiteres Forschungsdesiderat aufgezeigt, nämlich die Frage nach der Rezeption von Bonhoeffers Ansatz des „religionslosen Christentums“ in der „Emerging Church“-Konversation. So auch bei Rollins, der sagt: „[…] I endeavor to outline what this radical expression of a faith beyond religion might look like and how it has the power to give birth to a radically new form of Church, one with the power to renew, reform or even transcend the present constellation of conservative, liberal, evangelical, fundamentalist, and orthodox communities.“ Rollins, Insurrection (2011), xiv–xv. Webber erklärt es so: „[…] for reasons of upbringing, education, ministerial experience, disposition, insight, and affinity with the younger generation, they [emerging pastors] find themselves ‚out of sorts‘ with both traditional evangelical scientific theology and the pragmatism of mega-evangelicalism. Considering the new cultural context and the evangelical pattern of responding to the changing cultural realities, it can then be said that the emerging church has the potential to establish a new kind of evangelicalism that will relate to the current cultural crisis.“ Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 16. Brian McLaren fasst seine Sicht eines neuen revolutionären Christentums folgendermaßen zusammen: „Neue Wege, um alte Antworten neu zu verpacken, ergibt Erneuerung („renewal“); Neue Antworten auf alte Fragen ergibt Reformation; Neue Fragen ergibt Revolution“. http://www.walterfaerber.de/2007/12/01/emerging-studientag-in-hamburg/ am 02.02.2015.
11.3 Krise der Christenheit
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nicht auf sich selbst fokussiert ist, sondern zum Wohl der Welt auf andere Religionen zugeht.85 Oder wie Tony Jones sagt: „Emergents find little importance in the discrete differences between the various flavors of Christianity. Instead, they practice a generous orthodoxy that appreciates the contribution of all Christian movements.“86 Jones deutet an, dass es ein für alle Christen praktizierbares Christentum gebe, welches die Essenz der christlichen Botschaft beinhalte (für andere emergente Stimmen sogar auf andere Religionen ausweitbar). • Eine andere Forderung für eine „neue Christenheit“ hat Doug Pagitt, der ein „more humane Christianity“87 verlangt. Damit spricht er an, dass die (US-amerikanische, evangelikale) Christenheit Menschen zum Beispiel aufgrund ihrer politischen oder sexuellen Orientierung ausschließe und damit „gnadenlos“ sei. • Eine radikale Position vertritt Peter Rollins, der von einer Christenheit spricht, die jeglichen institutionellen Charakter und mit ihm auch jegliche inhaltliche Sicherheit und Dogmen (von ihm negativ als „Religion“ beschrieben) ablehnen solle.88 Rollins sagt: „First, we are led to embrace the idea of Christianity as a religion without religion, that is, as a tradition that is always prepared to wrestle with itself, disagrees with itself, and betrays itself.“89 Rollins propagiert damit ein Verständnis von Christentum als Lebensvollzug, das an Werten orientiert sei.90 Für Rollins und andere
85 „Can the emerging church build the kinds of bridges to those pursuing other faiths or coming from other religious backgrounds like Paul did?“ John Burke in: Webber / Burke u. a., Listen�ing to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 59. 86 Jones, The New Christians (2008), 8. 87 Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 139–140. 88 Rollins sagt: „[…] what would Jesus do when confronted with Christianity today? Would Jesus do what Judas did, and betray it? In saying this I am not hinting at the rather mundane insight that Jesus would betray the anemic, inauthenitc, self-serving Churchianity that so often festers quietly under the banner of Christianity today. […] I am asking if Jesus would plot the downfall of Christianity in every form that it takes. Or rather, to be more precise, I am asking whether Christianity, in its most sublime and revolutionary state, always demand an act of betrayal from the faithful. In short, is Christianity, as its most radical, always marked by a kiss, forever forsaking itself, eternally at war with its own manifestation?“ Rollins sagt weit�er: „[…] in all other religions, God demands that His followers remain faithful to Him – only Christ asked his followers to betray Him in order to fulfill His mission.“ Rollins, Fidelity of Betrayal (2008), 6. 89 A. a. O., 21. 90 „I am attempting to give the reader a frame for understanding why I reject the idea of Christ��ianity as a worldview. For me, Christianity is not connected with some set of beliefs about the world, but rather is concerned with a way of being in the world. Christianity, in its subversive core, is not about belief in God, Jesus or the Bible, but is an invitation into a life where we take responsibility for our actions, face our suffering, kill our idols, and learn to embrace our
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
emergente Protagonisten verbirgt sich hinter ihrer Erfahrung mit „Christianity“, vergleichbar mit „Christendom“ und „Modernity“, eine einengende, hierarchische und machtorientierte „Unternehmensphilosophie“.91
11.3.5 Der Vorschlag einer „Emergence Christianity“ Für Phyllis Tickle und Brian McLaren ist der Begriff „emergence christianity“92 eine neue Chiffre, die einerseits für den Untergang einer Christenheit stehe, die im „Christendom“ gefangen war, und andererseits Ausdruck für eine „great transformation“93 in der religiösen Landschaft sei. „Emergence Christianity“ beschreibe das Entstehen einer neuen Christenheit in den USA (und der westlichen Welt), die seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ihren Anfang genommen habe.94 In insgesamt zwei Büchern stellt sich Tickle der Frage, wie es zu diesem neuen Christentum gekommen sei und was es ausmache.95 Sie schildert, dass große Veränderungen in der Christenheit in Abständen von circa fünfhundert Jahren aufgetreten seien.96 In diesen Abständen habe es Umwälzungen in der Christenheit gegeben sowie kulturelle und gesellschafts-
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a nxiety. I’m arguing for nothing less than a fundamental reformation of Christianity. One that has no concern for whether you are a theist or an atheist, but that calls upon all of us to smash our false gods, whether they be secular or sacred. The future church that I am fighting for is one dedicated to helping people expose, accept and even celebrate the impotence of whatever they believe will make them whole. Thus, removing the sting from our experience of death and finding better ways to live.“ Interview mit Peter Rollins in Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 26. Rollins, Insurrection (2011), 107. Siehe dazu Tickle, The Great Emergence (2012); Tickle, Emergence Christianity (2012). Vgl. auch Wellmann, Rob Bell and a New American Christianity (2012). Tickle, Emergence Christianity (2012), 20–21. A. a. O., 36. Tickle definiert den Begriff: „The Great Emergence, like the Great Reformation or the Great Schism or the time of the Great Gregory or the Great Transformation, is a generalized social / political / economic / intellectual / cultural shift.“ Tickle, The Great Emergence (2012), 120. Vgl. zum folgenden Abschnitt: Nash / Ward, „Phyllis Tickle – Why a New Church is Emerging“, in: Nomad (Podcast) 23.09.2014, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-72-phyl� lis-tickle-why-a-new-church-is-emerging/ am 29.12.2016. Fuller / Sanders, „Phyllis Tickle on Emergence Christianity“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 19.01.2013, https://home�brewedchristianity.com/2013/01/19/phyllis-tickle-on-emergence-christianity/ am 28.12.2016. Zum Einfluss von Tickle siehe Jones, Phyllis Tickle (2014). Im 6. Jahrhundert nach Christus wurde die erste Wende durch Gregor den Großen und den Untergang des Römischen Reiches eingeläutet, welches bereits durch das Konzil von Chalcedon vorbereitet wurde. Das Große Schisma 1054, die Trennung der Katholischen und Orthodoxen Kirchen, und schließlich 1517 die Reformation – das alles waren gesellschaftspolitische und welthistorische Wendepunkte. Tickle, The Great Emergence (2012), 19–31. Zwei Mega-Epo-
11.3 Krise der Christenheit
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politische Umbrüche, die sich auf die christliche Religion niedergeschlagen hätten.97 Der Übergang zum 21. Jahrhundert sei ein neuer Einschnitt in der Geschichte der Christenheit des Westens.98 Dieser Einschnitt sei seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vorbereitet worden.99 Neben den US-amerikanischen Erweckungsbewegungen (z. B. „Azusa Street Revival“), dem „social gospel“ und dem Zweiten Vatikanum beschreibt Tickle, wie die verschiedenen Erneuerungsbewegungen und Ereignisse in der Kirchengeschichte der USA (hauptsächlich im Evangelikalismus) zu einer neuen Form von Christenheit im 21. Jahrhundert geführt hätten, die durch die „Emerging Church“ erstmals „vorgeführt“ worden sei. Tickle stellt fest, dass emergente Christen in der „Emerging Church“-Konversation Elemente jener Erneuerungen und daraus resultierende Haltungen zusammenführten, die in den letzten hundert Jahren im US-amerikanischen Evangelikalismus latent vorhanden gewesen seien. Neben dem Beginn der Hauskirchen in den 1930ern, der Spiritualität der 68er, dem Einfluss der „Vineyard“-Bewegung und John Wimber, der katholischen Befreiungstheologie, der Erneuerung nach dem Zweiten Vatikanum sei es durch das US-amerikanische „Leadership Network“ zur „Emerging Church“-Konversation gekommen.100 Diese „neue Christenheit“, die für Tickle eine „centrality of mind-set“101 hat, kristallisiere sich in den Merkmalen und Haltungen der „Emerging Church“. Für Tickle (und andere emergente Protagonisten) ist die „Emerging Church“-Konversation eine Ausformung der „neuen Christenheit“.102 Die „Emerging Church“ stehe an der Bruchstelle zu einer neuen Zeit und läute diese ein.103
chen gingen zu Ende: die Zeit der Moderne und die Zeit des „Christendom“, das seit 1500 Jah�ren die westliche Kultur geprägt habe. Der Westen lebe immer mehr in einer post-christlichen Gesellschaft. 97 A. a. O., 33. 98 Tickle räumt ein, dass mit „Westen“ Folgendes gemeint ist: „The United Kingdom, Australia, New Zealand, Europe, and several parts of Africa and Asia […].“ A. a. O., 121. 99 In ihrem Buch „The Great Emergence“ bespricht die Autorin die historischen und gesellschaftlichen Einflüsse der jeweiligen Bruchstellen. Die Einflussfaktoren für die neue Wende stellt sie dar a. a. O., 77–117. 100 Tickle, Emergence Christianity (2012), 35–99. Tickle beschreibt den Einfluss des Buches „A Generous Orthodoxy“ von Brian McLaren als gleichwertig „epochal“ wie Martin Luthers 95 Thesen. A. a. O., 101. 101 Damit meint sie „that cache of shared sensibilities, values, and positions“. A. a. O., 115. 102 Tickle dazu: „Both Emerging Christianity and Emergent Christianity are presentations of Emergence Christianity, but neither of them is the whole sum of it, nor is either of them to be confused with the other.“ A. a. O., 141. So meint auch Andrew Perriman, dass „the emerging church stands for a viable post-Christendom future“. Perriman, Otherways (2007), 19. 103 Tickle, Emergence Christianity (2012), 17–21.
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11. Motiv IV: „Kontexte“ in der Konversation
11.4 Krisen der Welt Zuletzt sei auf einen Aspekt der Krise hingewiesen, der bei Brian McLaren Bedeutung erlangt. McLaren spricht in seinem Buch „Everything Must Change“ von der gegenwärtigen Gesellschaft als „suicide machine“.104 Er schildert die „Selbstmordmaschinerie“ der Welt folgendermaßen: „[…] that coopts the main mechanisms of our civilization – our economic, political, and military systems – and reprograms them to destroy those they should serve.“105 McLaren spricht von den vier Krisen dieser Welt, die in den letzten zwei Jahrzehnten kumulierten: 1. „prosperity“ – Wohlstand, der ökologisch nicht mehr tragbar sei, 2. „equity shifts“ – die Schere zwischen Arm und Reich sei gefährlich weit geöffnet, 3. „security“ – die Welt befinde sich in einem Zustand eskalierender Gewalt und 4. „spiritual crisis“ – eine geistliche Krise, die bestehe, weil die Weltreligionen die ersten drei beschriebenen Probleme nicht adressierten.106 Der Autor kritisiert, dass die Christenheit nicht in der Lage sei, auf Krisen der Welt Antworten zu geben und urteilt über diese: „[…] we inherited a largely flattened, watered down, tamed […] offering us a ticket to heaven after death, but not challenging us to address the issues that threaten life on earth [christianity].“107 Er betont, dass Jesu Botschaft nicht davon handele, dieser Welt zu entfliehen, sondern Gottes Willen auf dieser Erde zu tun und die Krisen der Welt in Angriff zu nehmen.108 Jesu Botschaft wird damit als globale Transformation, d. h. als Aufhebung von „[…] systemic injustice, systemic poverty, systemic ecological crisis, systemic dysfunctions of many kinds […]“109 und nicht vorrangig als „Weg in den Himmel“ gedeutet. „I see that it’s about changing this world, not just escaping it and retreating into our churches. If Jesus’ message of
104 Diese bestehe aus drei Systemen, dem „prosperity system“, „equity system“ und „security sys�tem“, die jeweils ein Narrativ verträten, die destruktiv sei. McLaren, Everything Must Change (2007), 70–73. 105 A. a. O., 5. 106 McLaren, A New Kind of Christianity (2010), 4–6. 107 McLaren, Everything Must Change (2007), 3. 108 A. a. O., 4. „This leads to a world-affirming, world-embracing kind of Christianity rather than to a merely negative, reactionary, and reductionistic piety.“ Horton / Willimon, Christless Chris�tianity (2008), 112. 109 McLaren, Everything Must Change (2007), 33.
11.4 Krisen der Welt
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the kingdom of God is true, then everything must change.“110 Brian McLaren spricht die im Evangelikalismus auf das Heil des Individuums konzentrierte christliche Botschaft an und ringt darum, dass die (US-amerikanische, evangelikale) Christenheit die Dichotomie zwischen Himmel und Hölle aufhebt.111
110 A. a. O., 23. 111 Brian McLaren lädt ein zum Gespräch und formuliert Fragen, die aufgrund dieser weltumspannenden Krisen eine neue Christenheit hervorbringen sollen, die den vier Krisen begegnet. Sein Ansatz wird deutlich: Christsein bedeutet, sich den Problemen und Fragen der heutigen Zeit zu stellen und damit ein gesellschaftsrelevantes Christentum zu begründen.
12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken 12.1 Der Begriff „Spiritualität“ in der Konversation In der anglo-amerikanischen Debatte steht der Begriff „Spiritualität“ dem Begriff „Religiosität“ (gleichwertig mit dem Begriff „Religion“) gegenüber und meint eine individualisierte Form der religiösen Orientierung, die nicht zwangsläufig an dogmatisch kohärente Lehrmeinungen, Frömmigkeitstraditionen, Mitgliedschaften oder eindeutigen Praktiken gebunden ist.1 In den religiösen Landschaft werden die Begriffe Spiritualität und Religiosität spannungsreich und rege diskutiert.2 In der Konversation werden beide Begriffe diametral gegenübergestellt.3 Die Verhältnisbestimmung beider Begriffe wird in der „Emerging Church“Konversation zugunsten des Spiritualitätsbegriffs entschieden.4 Religiosität wird dabei als „das Moderne“ und Spiritualität als „das Postmoderne“ und damit für gegenwärtige Erlebnisse angemessen dargestellt. Während Religiosi1
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Heelas und Woodhead vergleichen dabei die britische und US-amerikanische religiöse Landschaft und kommen zu dem Schluss, dass traditionelle religiöse Praxis verschwinden wird und es zu einer Sakralisierung des Lebens kommt. Heelas / Woodhead u. a., The Spiritual Revolution (2005), 2. Zudem wird Spiritualität nicht mehr zwangsläufig mit organisierter Religion in Verbindung gebracht. Heelas und Woodhead pointierten den Begriff „holistic milieu“, der anzeigt, dass Menschen, die sich als „spirituell“ bezeichnen, einem gemeinsamen Milieu ent�stammen. Sie sind hoch gebildet, im mittleren Alter und in sozialen Berufen tätig. A. a. O., 88–110. Siehe dazu beispielhaft den Beitrag von Locklin, Spiritual but not Religious (2005). Sein Ansatz ist wie folgt: „If, in my view, to be spiritual is necessarily to be religious, it is also true that to be religious is necessarliy to be in dialogue.“ A. a. O., 133. Nichtsdestotrotz wird in dieser Arbeit daran festgehalten, dass die „Emerging Church“-Kon� versation eine Variante gelebter Religiosität ist, da die Protagonisten einen christlich religiösen Hintergrund haben und ihre Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund vormaliger Erfahrungen, Überzeugungen und Praktiken stattfinden. Melissa Wilcox hat dies auch für emergente Protagonisten innerhalb traditioneller Gemeinden im Raum Los Angeles untersucht. Wilcox, Coming Out in Christianity (2003). Thumma dazu: „The persons she interviewed and observed were attenders in a church but not necessarily shaped by the church; rather, their spirituality was rooted in their own quest, in their own exploration of the sacred.“ Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 203. Es finden sich häufig Meinungen, die Religion zugunsten einer „authentischen Spiritualität“ ablehnen. Peter Rollins schreibt: „Could it be that we will soon see the spirit released in the world in brandnew ways, without the baggage of religion?“ Rollins, Fidelity of Betrayal (2008), 7. Oder auch Burke und Taylor: „We need to move past religion. I believe the time is right for another way
12.1 Der Begriff „Spiritualität“ in der Konversation
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tät mit traditionellen Formen gemeindlichen Lebens oder auch apologetischer Glaubensverkündigung konnotiert wird, wird Spiritualität als ganzheitliche und gelebte Form religiöser Orientierung verstanden.5 Obwohl Thumma mit dem folgenden Zitat die allgemeine Entwicklung in den USA anspricht, kann ebenso für emergente Protagonisten festgestellt werden: „It could be argued that the large percentage of persons who claim a spiritual faith, even a religious tradition, and yet very seldom attend an organized faith community are essentially the masters of their own vessel.“6 Die Bezeichnung „Spiritualität“ verweist auf ein sich reflektierendes, selbstgesteuertes Subjekt, das seine eigene religiöse Orientierung gestalten will und entsprechend Ressourcen heranzieht. In dieser Hinsicht korrespondiert ein solches Verständnis mit der von Streib und Hood vorgeschlagenen inhaltlichen Füllung des Begriffs. Gemäß den Autoren ist der Begriff „Spiritualität“ eine Selbstbezeichnung in einem Segment des religiösen Feldes, in dem der Weg zum Heil (bzw. zu dem was einen unbedingt angeht) nicht mehr durch religiöse Akteure wie Institution und Amtsträger (Kirche) oder charismatische Personen (Sekte) vermittelt wird, sondern in individueller Unmittelbarkeit gesucht wird (Mystik).7 Der von Charles Taylor in den 1990er-Jahren angesprochene „massive subjective turn of modern culture“8 wurde von Heelas und Woodhead aufgegriffen und spiegelt sich in der Konversation wider. Die Autoren führen aus: „[…] a turn away from life lived in terms of external or ‚objective‘ roles, duties and obligations, and a turn towards life lived by reference to one’s own subjective experiences relational as much as individualistic“.9 Aus diesem Grund ist of looking at the Christian message, freed from the confines of religion and open to the possibility of a radical new incarnation and manifestation.“ Burke / Taylor, A Heretic’s Guide to Eternity (2006), 9–10. 5 Dave Tomlinson sagt etwa: „Christian mission in the twenty-first century needs to be focused on spirituality, rather than apologetics.“ Tomlinson, Re-Enchanting Christianity (2008), 136. Oder Mark Scandrett, Pastor der emergenten Gemeinschaft „ReIMAGINE“ in San Francisco sagt: „The emerging church is a quest for a more integrated and whole life of faith. There is a bit of theological questioning going on, focusing more on kingdom theology, the inner life, friendship / community, justice, earth keeping, inclusivity, and inspirational leadership. In addition, the arts are in a renaissance, as are the classical spiritual disciplines. Overall, it is a quest for a holistic spirituality.“ Leonard, Art. „Emerging Church Movement“ (2012), 270. 6 Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 204. 7 Streib / Hood, „Modeling the Religious Field“ (2013). 8 Taylor, The Ethics of Authenticity (1991), 26. 9 Heelas / Woodhead u. a., The Spiritual Revolution (2005), 2. Die Autoren sprechen von dem Übergang von „life-as“ (Leben für / in eine(r) Rolle) zu „subjective-life“ („live lifed in deep connection with the unique experiences of my self-in-relation“.) Das „Subjective-life“ „[…] has to do with states of consciousness, states of mind, memories, emotions, passions, sensations, bodily experiences, dreams, feelings, inner conscience, and sentiments – including moral
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12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
es möglich, wie Katherine Moody konstatiert, dass eine „emerging church spirituality“ sowohl von altkirchlichen Liturgien geprägt sein kann, als auch von von „A / Theistic spiritual imaginary“10. Die Rede von „Spiritualität“ ist demzufolge ein Kennzeichen für Individualität in der Konversation.
12.2 Der Begriff „Authentizität“ in der Konversation Fragt man nach der Bedeutung des Begriffs „authentisch“, darf man nicht auf einen Konsens innerhalb der Konversation hoffen, obgleich häufig das Bestreben emergenter Protagonisten hörbar wird, „authentisch“ zu sein.11 Bielo stellt fest, dass das Bestreben nach Authentizität eine „organizing trope“ für „emerging evangelicals“ sei.12 In diesem Zusammenhang ist maßgeblich, dass „Authentizität“ auf das Individuum bezogen ist und meint, dass eine Kongruenz hinsichtlich der Erlebniswelt, Überzeugungen und Praktiken hergestellt werden soll. Dabei zeigt sich, wie Bielo bemerkt, dass „Authentizität“ besonders im Blick auf die emotional-kognitive Verfassheit ergründet werde.13 Die Rede von „Authentizität“ ist ebenso ein Kennzeichen für die Dynamik der Individualität in der Konversation. Beispielhaft für das Verhältnis von Spiritualität und Authentizität beschreiben Gallagher und Newton die von ihnen untersuchte emergente Gemeinschaft „Urban Village“ wie folgt: sentiments like compassion.“ A. a. O., 3. Die Autoren beschreiben weiter, dass „[…] religion which tells you what to believe and how to behave is out of tune with a culture which believes that it is up to us to seek out appropriate answers for ourselves […]: subjective-life spirituality serves and reflects contemporary core value“. A. a. O., 126. 10 Moody, „I Hate Your Church; What I Want is My Kingdom“ (2010), 500. 11 Der Praktische Theologe John Drane sagt dazu: „One thing on which all researchers are ag�reed is that creativeclass people [zu welchen emergente Protagonisten zu zählen sind] will run a mile from anything that smacks of inauthenticity.“ Drane, After McDonaldization (2008), 136. Bielo dazu: „When emerging evangelicals talk about ‚authentic relationships‘ they are referencing a desired moral community in which mutual dependence is lived in everyday.“ Bielo, „Belief, Deconversion, and Authenticity Among U.S. Emerging Evangelicals“ (2012), 259. Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 18. John Barbour meint, dass eine andere Chiffre für die Suche nach Authentizität der Begriff „Dekonversion“ ist. Barbour, Versions of Deconversion (1994), 210. Siehe dazu Abschnitt I Kapitel 2.1.2.2 Barbour „Versions of Deconversion“ (1994). Vgl. Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 225–226. 12 Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 16. Vgl. auch Williamson / Narloch, „HERE! with ROB BELL!“, in: The Deconstructionist Podcast (Podcast). 13 Bielo zum Spiritualialitätsbegriff: „[…] one which displays great interest in interrogating the status of one’s own emotional-cognitive condition.“ Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 95.
12.3 Kritik an religiösem Konsumverhalten
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Spiritual growth, as envisioned by the members of our Urban Village discussion group, appeared as an extension of broader themes around the importance of mature and authentic relationships. Active listening, honestly sharing one’s shortcomings, intimacy, and lots of discussion about what it means to be an ‚authentic Christian‘ were all described as helping individuals begin to understand their own identity and to wrestle with and internalize spiritual ideas.14
Das Bestreben nach Authentizität wird, wie in dem Zitat deutlich wird, als Ressource der Spiritualität wahrgenommen und gefördert.
12.3 Kritik an religiösem Konsumverhalten In der „Emerging Church“-Konversation ist eine Kritik an religiösem Konsumverhalten feststellbar. Einerseits äußert sie sich als Kritik an den Formen gemeindlichen Lebens sowie individueller religiöser und gottesdienstlicher Praxis (Orthopraxie) – wie bereits in Kapitel 11.2 kurz dargestellt wurde.15 Emergente Protagonisten stellen eine religiöse Konsumhaltung in Teilen des Evangelikalismus und in „Megachurch“-Ansätzen fest. Dies wird mit der Kritik an einer „commodification“ religiöser Orientierung formuliert. „Commodification“ im Blick auf religiöse Orientierung beschreibt zu „Waren“ erhobene christliche Werte und Handlungen. Dazu gehören beispielsweise die (messbare) regelmäßige Teilnahme an religiösen Veranstaltungen oder ein bestimmter kulturellreligiös geprägter Lebensstil (bspw. christliche Musik). Religiöse Orientierung wird demnach an dem Konsum dieser „Waren“ gemessen. Emergente Protagonisten wollen sich mehrheitlich davon distanzieren und Erprobungsräume für
14 Gallagher / Newton, „Defining Spiritual Growth“ (2009), 249. 15 Kimball sagte 2003: „ […] [B]ecoming a missional church means more than having a mis� sion statement or offering an occasional class. It means ‚rebirthing‘ the church from the inside out and maintaining its new psyche. It means constantly resisting the tendency to become consumer-oriented by keeping the mission at the forefront of all we do. How thrilling that we have the opportunity to redefine church to emerging generations.“ Kimball, The Emerging Church (2003), 96. Kimball war Leiter der „Vintage Faith Church“ und konnte der „relevant“ Strömung zugeordnet werden. http://vintagechurch.org/about.php am 07.01.2008. Vgl. Ward, Participation and Mediation (2008), 150–167. Dieses Thema wird auch in der von der Konversation geprägten Jugendliteratur sichtbar. Kirk und Thorne sagen: „[…] we want to give you permission to leave behind the consumer models of ministry and move toward an approach that’s centered in the radical and life-giving way of Christ.“ Kirk / Thorne, Missional Youth Ministry (2011), 15.
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12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
individuelle, selbstverantwortete religiöse Praxis anbieten.16 Kritische Stimmen deuten hier an, dass auch die Konversation durchaus ein Produkt eigener Vorlieben und Bedürfnisse sei.17 Andererseits lässt sich eine andere Form der Konsumkritik im Kontext des Ablehnens ungerechter (kapitalistischer) Strukturen erkennen. Shane Claibornes Initiativen sind Beispiele konsumkritischer, christlicher Lebensgestaltung. Dabei dienen „neo-monastische“ Lebensformen und Gestaltungsimpulse in der „Emerging Church“-Konversation als Hilfen für einen konsumkritischen alternativen Lebensstil.18 Ein anderer Beitrag kommt von Kester Brewin, der mit dem Konzept der zeitlich begrenzten autonomen Zonen19 ein Modell vorschlägt, wie emergente Christen außerhalb einerseits ungerechter, kapitalistischer, konsumorientierter Systeme und andererseits konsumorientierter, spiritueller Systeme leben könnten. Sein Modell geht davon aus, dass Kirche als System keine Möglichkeit biete, alternative, konsumkritische Gemeinschaftsformen zu leben. Emergente Protagonisten müssten außerhalb der Institution Kirche autonome Zonen schaffen, in denen sie religiöses Konsumverhalten reflektieren können. Kester Brewin schildert das „Greenbelt Festival“ als eine solche autonome Zone.20 Politische Orientierungen und theologische Anschauungen würden an diesen Orten zur Seite gelegt und durch Beziehungen solle Inklusivität gelebt werden.21 16 Nadia Bolz-Weber sagt: „We had started HFSS [House for All Sinners and Saints] out of a dis�dain for consumer culture in religion.“ Bolz-Weber, Pastrix (2013), 181. Konsumorientierung in gottesdienstlicher Praxis wird angeprangert. Siehe dazu die Diskussion Jung, „The Reedu� cation of Desire in a Consumer Culture“ (2012). Religiöse Kosumorientierung wird als „major challenge“ und „very significant phenomenon“ bezeichnet. Hirsch / Altclass, The Forgotten Ways Handbook (2009), 64. 17 Jethani sieht die konsumkritische Facetten der Konversation kritisch, wenn sie sagt: „Even the new crop of emerging churches, alternative churches, and house churches may be the product of consumerism. They can brand themselves as the un-megachurch in the same way that 7-Up is the un-cola, but they are still trying to appeal to market desires – albeit a different market.“ Jethani, The Divine Commodity (2009), 89–90. 18 Ganiel und Marti gehen weiter und sagen dazu: „Neo-monastic living serves as a sort of tem� plate for how people in the ECM would like to live their lives, even if in actuality they do not.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 140. Bielo weist kritisch darauf hin, dass trotz der Konsumkritik viele emergente Christen innerhalb des Konsumsystems leben und dieses in gewisser Weise auch benötigen, um existieren zu können. Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 51–55. Vgl. auch Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 134–161. 19 Peter Rollins spricht von ähnlichen Orten und nennt diese „suspended space“. Rollins, Insur� rection (2011), 63–80. 20 Bei Brewin, Other (2010), 146. Hier ist darauf hinzuweisen, dass dieses Konzept in der „Emer� ging Church“-Konversation wenig rezipiert wird. 21 Brewin verwendet die Metapher einer illegalen Handelsstation, die von Piraten aufgesucht wird. Kester Brewin erweitert sein Modell autonomer Zonen auf Bereiche wie Arbeit, Freizeit, Medienverhalten oder Grundüberzeugungen und schlägt vor, dass es im Alltag Orte brauche,
12.4 Gottesdienstliches Leben und spirituelle Ausdrucksformen
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12.4 Gottesdienstliches Leben und spirituelle Ausdrucksformen 12.4.1 „Worship“ Der Begriff „worship“ meint zum einen Gottesdienst, Lobpreis oder auch die Haltung (und Taten) eines Menschen in der Annäherung zu Gott. In der Konversation bleibt der Begriff „worship“ unscharf und wird sowohl für einen Gottesdienst als auch für einen Erfahrungsraum für individuelle und gemeinschaftliche spirituelle Ausdrucksformen verwendet.22 Auch in diesem Kapitel wird deutlich, dass emergente Protagonisten ihre Ansichten aus Vorerfahrungen speisen und ihre Ideen aus Abgrenzungen konstruieren. So sprechen Protagonisten im Diskurs von Desillusionierung der „worship“-Erfahrung in vormaligen religiösen Kontexten.23 In der Konversation wird beklagt, dass „worship“ und die spirituellen Ausdrucksformen wenig mit dem alltäglichen Leben und Erleben verbunden waren.24 Pagitt spricht hier etwa von einem „useful faith“25, der gewonnen werden müsse. In der Konversation werden hauptsächlich zwei Traditionen genannt, von denen sich Protagonisten abgrenzen wollen: (1) „Megachurch“-Ansätze und (2) der „mainline“-Protestantismus.26 Die Kritik an den „Megachurches“,
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um sein Konsumverhalten zu reflektieren. Davon spricht er in seinem Buch „Mutiny“. Ful�ler / Sanders, „Plundering Religion with Kester Brewin, Peter Rollins, & Barry Taylor #Mu�tiny“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 21.12.2009, https://homebrewedchristianity. com/2012/12/21/plundering-religion-with-kester-brewin-peter-rollins-barry-taylor-mutiny/ am 28.12.2016. Nash / Ward, „Kester Brewin – Pirates and the Death of the Emerging Church“, in: Nomad (Podcast) 10.09.2010, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-20-kester-brewinpirates-and-the-death-of-the-emerging-church/ am 29.12.2016. Brewin, Mutiny (2012). Für eine spezielle Auseinandersetzung mit der Musik (unter postmodernen Bedingungen) in der „Emerging Church“-Konversation siehe Williams, „Emerging Music“. Nash / Ward, „Jonny Baker – Why Worship Needs to be Alternative“, in: Nomad (Podcast) 10.03.2010, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-14-jonny-baker-mission-and-alternativeworship/ am 29.12.2016. Tomlinson sagt beispielhaft: „[…] a longing for the s pirituality squee�zed our by modernity’s emphasis on materialism and rationality.“ Tomlinson, The Post-Evan� gelical (2003), 29. Und „[…] the search for spirituality doesn’t lead to conventional religion because religious metanarratives are no more appealing to them than modernist metanarratives.“ McKnight, Five Streams of the Emerging Church. Sargeant dazu: „For them, worshipping God is not just singing songs and praying prayers and listening to someone make propositions about God. Worship is also praxis in the sense of informed action.“ Sargeant, Christian Education and the Emerging Church (2015), 49. Pagitt, Church Re-Imagined (2005), 55. Tickle dazu: „Protestantism is, in a sense, the thing from which Emergent Christians are fle�eing. Orthodoxy is still too outré or unfamiliar in Europe and the Americas.“ Tickle, Emer�gence Christianity (2012), 91. So auch: Sweet, The Gospel According to Starbucks (2007), 20.
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12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
die in der Konversation häufig äquivalent mit dem Evangelikalismus gleichgesetzt wird, bezieht sich auf die Armut an erlebniszentrierten und partizipativ gestalteten sowie liturgischen Elementen.27 Der Vorwurf an den „mainline“-Protestantismus lautet, dass eine leere, geistlose Tradition und Routine um sich greift und die Suche nach authentischer Spiritualität (und individuellen Gestaltungsmomenten) verloren geht.28 Kritik wird folgendermaßen laut: Part of the Emerging Church protest includes the mainline church’s propensity to ‚bog down‘ under a plethora of intra-church events and committee meetings, to the exclusion of any mission emphasis, which is at times an accurate assessment. Their emphasis on serving the poor and homeless is great, but at the same time it tends towards pietism when it lacks a sacramental theology.29
Innerhalb der „Emerging Church“-Konversation wird ein von Robert Webber eingeführter Begriff besonders in der zweiten historischen Phase von „relevants“ und „reconstructionists“ im US-amerikanischen Kontext rezipiert. Der Begriff „ancient-future worship“ steht für ein In- und Miteinander von altkirchlichen liturgischen Elemente, multimedialer Darstellung und kontextualisierter Deu
Doug Gay beschreibt die Gesprächspartner (für ihn „sources“, „Quellen“) für die britische „Emerging Church“ in Gay, Remixing the Church (2011), 106. An dieser Stelle muss betont werden, dass sich hinter den Personen in „mainline churches“ nicht Evangelikale verbergen, da es in der US-amerikanischen religiösen Landschaft geringen Transfer zwischen „mainline“ und „conservative“ gibt. Hadaway und Marler dazu: „Switching from a mainline to a conservative Protestant identity is and has been a minor phenomenon in American religion, despite anecdotal stories about sons or daughters of mainline parents who find Jesus in a dramatic way in conservative churches.“ Die Autoren vermuten sogar einen umgekehrten Trend: „Historically, conservative to mainline switching has been much more pre�valent than mainline to conservative switching, but in recent decades conservative to mainline switching has declined.“ Hadaway / Marler, „Growth and Decline in the Mainline“ (2006), 13. 27 Leonard Sweet dazu: „The modern world was word-based. Its theologians tried to create an intellectual faith, placing reason and order at the heart of religion. Mystery and metaphor were banished as too fuzzy, too mystical, too illogical.“ Sweet, Postmodern Pilgrims (2000), 86. Kri�tisch wirft Stockdale aufgrund seiner Untersuchung zweier emergenter Gemeinschaften ein, dass es trotz der Betonung visueller und nicht-verbaler Elemente, auch in emergenten Gemeinschaften einen Überhang an verbaler Kommunikation gibt. „Despite their eclectic blending of rituals from the more visually and aesthetically oriented wings of the churches, (i. e., ‚high church‘ elements), both communities remained robustly verbal in their gatherings, relying extensively on extemporaneously spoken words, written texts, or lyrical music in the enactment of their liturgies – resembling the ‚low church‘ practices of their parent evangelical tradition. This reliance on words can also be seen in the extensive amount of ‚conversation‘ that took place in both communities.“ Stockdale, „Ecclesiological Contributions of Emerging Churches for their Parent Communities“, 284. 28 Vgl. Abschnitt II Kapitel 11.2 Kritik an religiösen Organisationen und religiöser Praxis. 29 http://www.soundwitness.org/evangel/Downloads/emerg_all_parts.pdf am 12.02.2015.
12.4 Gottesdienstliches Leben und spirituelle Ausdrucksformen
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tungen in gottesdienstlichen Ausdrücken.30 Der Begriff soll signalisieren, dass in einem Rückgriff auf „ancient“ („vergangene“, „altkirchliche“) Formen die Zukunft christlicher Spiritualität gestaltet werden soll.31 Daneben wird in der Konversation auch von „vintage faith“ gesprochen, was eine „Retro-Spiritualität“ ausdrückt.32 Es ist zu beobachten, dass die Auseinandersetzung mit theologischen Themen und die Notwendigkeit der religiösen Selbstvergewisserung eine Wieder30 Der Begriff „ancient-future“ wurde von Robert Webber (1933–2007) in die „Emerging Church“Konversation eingebracht. Webber war Mitglied der Episkopalkirche und Professor am Wheaton College, einem Aushängeschild evangelikaler Theologie sowie in der ersten und zu Beginn der zweiten historischen Phase prägend. Für eine neue Generation evangelikaler Christen erkennt er, dass gottesdienstliches Handeln einem Wandel unterworfen ist. Er stellt für die Postmoderne fest, dass Kommunikation mit Gott leiblich, holistisch und mit allen Sinnen passieren soll und nicht nur durch kognitive Muster, wie er sie im US-amerikanischen Evangelikalismus verortet. Später verband er sein Anliegen, Rituale und Formen der Anbetung aus der reichen christlichen Tradition zu bergen, mit dem im Evangelikalismus auftretenden Gernerationenkonflikt in den 90er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Der Begriff „ancient-future“ beinhaltet auch eine Kritik an einer Sprache, die Klarheit und Eindeutigkeit suggeriert, die jedoch immer hinter der Offenbarung Gottes an den Menschen zurückbleibt. Er kritisiert die allzu dominante Hervorhebung protestantischer Klarheit durch Worte, die den religiös erlebenden Menschen jedoch nicht immer affiziert. www.ancientfutureworship.com am 09.02.2015. Clark dazu: „New media and audiovisual technologies have become the new stained-glass windows of many church communities.“ Clark, „The Renewal of Liturgy in the Emerging Church“ (2011), 83. Karen Ward, vormalige Leiterin der emergenten Gemeinschaften „Church of the Apostles“, schreibt: „Our liturgy has been described by visitors as ‚new wave Byzantine‘ and ‚digital Orthodox‘ […] Communions weekly. We are ancient and future. We Bach and rock. We chant and spin. We emo and alt.“ Ward, „The New Church“ (2004), 85. 31 Philipp Harrold dazu: „I would also call it ‚ancient-future belonging‘ because the expressed desire for new forms of common life is not only synchronic, but diachronic: synchronic in its attention to the development of intimate associations in a complex workplace of salvation; diachronic its fusion of horizons over time – remembering, recovering, and reckoning with a past way of life ‚within-time-ness‘ […].“ Harrold, The ‚New Monasticism‘ as Ancient-Future Belonging (2008), 1. Vgl. Fuller / Sanders, „Preferring the Past: Phyllis Tickle, Radical Ortho�doxy and the Tea Party“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 18.01.2013, https://home�brewedchristianity.com/2013/01/18/preferring-the-past-phyllis-tickle-radical-orthodoxy-andthe-tea-party/ am 28.12.2016. Die Bedeutung der spirituellen Praktiken und liturgischen Formen spiegelt sich in der thematischen Zuspitzung emergenter Konferenzen wider. Auf eine Konferenz soll an dieser Stelle besonders hingewiesen werden. 2010 (und bereits 2009) wurde eine Konferenz zum Thema „Emerging Christianity: HOW We Get there Determines WHERE We Arrive“ vom „Center for Action and Contemplation (CAC)“ veranstaltet. Der Franziskanische Priester Richard Rohr, die episkopale Pfarrerin Cynthia Bourgeault und Brian McLaren referierten dazu. http://www. cacradicalgrace.org am 06.03.2017. 32 Kimball, The Emerging Church (2003), 121–123. Für eine kritische Untersuchung, wie Dan Kimball den Begriff „vintage“ füllt, siehe Mahan, der den Einsatz von acht Elementen feststellt und untersucht: „band, technology, video screen broadcasts, life-stage groups, ancient struc�tures, light, symbols of faith, and artistic dispalys“. Mahan, It Was and It Isn’t (2011).
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12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
entdeckung traditioneller-liturgischer Ausdrucksformen fördern.33 Formen aus den altkirchlichen Traditionen und Formen anderer christlicher und außerchristlicher Traditionen werden mit Versatzstücken der gegenwärtigen Kultur (z. B. aus Medien, Literatur, Politik usw.) verquickt und ins Gespräch gebracht.34 Es wird diskutiert, dass es viele unterschiedliche Wege und Impulse braucht, authentische Ausdrucksformen des Glaubens zu finden und „spirituell zu wachsen“.35 Der Rückgriff auf und die bricolageartige Verwendung von verschiedenen Traditionen sieht Kimball in der Postmoderne begründet. Er sieht den grundlegenden Unterschied zwischen dem „modern“ und dem „postmodern“ geprägten Menschen darin, dass der erste die Dinge ordnen wolle, da er alles logisch und linear verarbeite und sich einem linearen Denkansatz verpflichtet habe. Dreh- und Angelpunkt sei dabei die Predigt. Der postmoderne Mensch wolle künstlerische Umsetzungen, die das Mysterium der Anbetung / des Gottesdienstes spürbar machten.36 Kimball wendet sich gegen eine lineare Gottesdienstgestaltung und fordert eine organische Zusammensetzung desselben.37 Er fordert, dass Protagonisten am „worship“ partizipieren und diesen gemeinsam entwickeln und damit zu Ko-Produzenten werden.38 Beispielhaft beschreibt Scott Bader-Saye seine Erfahrung bei einer „Emerging Church“-Konferenz in Nashville 2004: 33 Siehe dazu beispielhaft Jones, The Sacred Way (2010). Jones, Teach of the Twelve (2009); Jones, Read, Think, Pray, Live (2003). Tickle, The Divine Hours (2006); Chittister / Tickle, The Liturgical Year (2010). Oder auch Tomlinson, How to be a Bad Christian (2012), 209–217. Oder auch Evans, Searching for Sunday (2015). Harpur, „New Creeds“ (2006). 34 Siehe dazu Harrold, The ‚New Monasticism‘ as Ancient-Future Belonging (2008). Nadia Bolz-Webber schildert beispielsweise, wie sie sich mit der ihr unbekannten Liturgie traditioneller Kirchen angefreundet hat: „It was in those first couple of months that I fell in love with liturgy, the ancient pattern of worship shared mainly in the Catholic, Lutheran, Orthodox, and Episcopal churches.“ Bolz-Weber, Pastrix (2013), 46–47. Brian McLaren verweist beispielsweise mit dem Stichwort „trade up tradition for tradition“ darauf, dass Christen sich vermehrt den vielfältigen Traditionssträngen des Christentums hinwenden und den lokalkirchlichen oder eigenen konfessionellen Traditionen immer dann kritisch begegnen sollten, wenn sie sich als absolut präsentieren. McLaren, The Church on the Other Side (2006), 57–69. 35 „Emerging Christians were disappointed that their earlier religious experiences failed to cul��tivate a satisfying spirituality.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 67. Burke / Taylor, A Heretic’s Guide to Eternity (2006), 23–24. 36 Kimball, Emerging Worship (2004), 73–98. 37 Kimball, Emerging Church (2005), 125. „Emerging churches remove linear expressions of the faith.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 68. 38 Rob Bell formuliert es ähnlich, wenn er sagt: „One of the many things people in a church do, then, is name, honor, and orient themselves around this mystery. A church is a community of people who enact specific rituals and create specific experiences to keep this word alive in their own hearts, a gathering of believers who help provide language and symbols and experiences for this mystery.“ Bell, Love Wins (2011), 156.
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The convention tipped its hat to the ancient by constructing a portal to the past in the form of a prayer labyrinth. Convention goers passed from the fluorescent daytime of the convention hallway into the darkness of the sacred place, dimly lit by candles. The labyrinth filled the room. One by one participants filed in to walk the path of prayer. But unlike the ancients, these postmodern pilgrims carried portable CD players which guided them through the journey and provided ambient music. Along the way, walkers paused at stations to engage in spiritual exercises. A stone and a bucket of water, a map and a compass, bread and wine alle became instruments of prayer and meditation.39
In der „Emerging Church“-Konversation hat sich eine für den Evangelikalismus unübliche und neuartige Dynamik der Verwendung alter christlicher Traditionen und spiritueller Praktiken, wie etwa die Betonung der Kontemplation, entwickelt.40 Die Konversation greift damit eine Debatte auf, die im US-amerikanischen Evangelikalismus41 und auch in Großbritannien seit den 1980er-Jahren vorliegt.42 Ausgangspunkt und Fluchtpunkt liturgischer Ansätze ist dabei das authentische Erleben der Individuen. Emergente Protagonisten schätzen dabei partizipative und handlungsorientierte Ansätze, Leiblichkeit,43 Innovation und Kreativität44.45 39 Bader-Saye, „The Emergent Matrix“ (2004), 22. 40 Eine Untersuchung zur spirituellen Praktik der Kontemplation liefert Milosavljevic, „Emer�gent Worship“. Im Evangelikalismus beschreiben sich Partizipienten bewusst als nicht liturgisch und stellen sich katholischen oder protestantischen ritualisierten liturgischen Formen entgegen. Zum Beispiel: Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 128. Barry Taylor dazu: „[…] resources for dealing with the nonrational, the plural, and the mysterious are in short supply in evangelicalism, given its rationalizing tendencies.“ Taylor / Johnston u. a., Entertainment Theology (2008), 146. 41 Robert Webber plädierte bereits 1985 für erlebniszentrierte Gottesdienste, die sich an der katholischen Liturgie orientieren. Webber, Evangelicals on the Canterbury Trail (1985). Oder auch Leonard Sweet 1991: „Human minds are individual, but not singular or separated. They connect at some mysterious level not accessible to ordinary conscious awareness. God is the Spirit of the universe, the consciousness of the cosmos: its energy, its information, its thought.“ Sweet, Quan�tum Spirituality (1991), 63. Aktueller: Rathe / Berger u. a., Evangelicals, Worship and Participation (2014); Ross, Evangelical versus Liturgical (2014). Spinks, „Consciously Postmodern“ (2010). 42 In England wurde diese Debatte im Kontext der „alternative worship“-Bewegung geführt. 43 Tickle, Emergence Christianity (2012), 169. 44 http://cleave.blogs.com/pomomusings/2005/11/emerging_church.html am 27.11.2006. Taylor sagt: „Our church was always an experiment.“ Gibbs / Bolger, Emerging Churches (2005), 180. Doug Pagitt schreibt: „I am increasingly convinced that what matters in our efforts is our wil� lingness to experiment and try – to develop expressions of faith that are fully of our day and time, recognizing that our efforts will be adapted and changed in years to come.“ Pagitt, Church Re-Imagined (2005), 216. 45 Kreativität wird speziell als Ermöglichung größerer Partizipation genutzt. Sawyer sagt über die Innovationskraft in der Konversation: „Practicing imaginative experimentation is a way to discover and to encounter the holy […] Spiritual artfulness is about opening ourselves to
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12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
Weitere Merkmale verdienen Beachtung: • In spirituellen Ausdrucksformen und gottesdienstlichem Leben wird Formelhaftes abgelehnt. In emergenten Gemeinschaften wird, wie auch in anderen christlichen Gemeinschaften, Gemeinden und Kirchen, gebetet, gesungen, aus der Heiligen Schrift gelesen, gepredigt und die Sakramente verwaltet. Der Anspruch jedoch lautet, jedes Element intentionell auszuwählen und mit einer für diesen Kontext und der konkret versammelten Gemeinde relevanten Bedeutung zu füllen. In gottesdienstlichen Feiern emergenter Gemeinschaften werden punktuell und beliebig Versatzstücke aus verschiedenen liturgischen Traditionen verwendet,46 es herrscht liturgischer Ekklektizismus vor47. Stockdale schildert: This eclectic liturgical blending often resulted in whiplash for a researcher attempting to ecclesiastically situate the emerging church phenomenon. At one moment these communities presented themselves as being ancient, contemplative, catholic;
possibilities that we haven’t yet considered. It is about being transformed by the imagination of others, by being open to their unique insights, and to the way that God speaks to and through them.“ Sawyer, „The Imperative of Imagination“ (2011), 79. Vgl. auch Herring, „Roger Saner“, in: E-merg (Podcast) 15.09.2006, https://castbox.fm/episode/e-merg-%3A%3A-pod�cast-%3A%3A-05-%3A%3A-Roger-Saner-id253649-id39098938?country=de am 12.10.2017. Steve Taylor beschreibt, wie „worship“ in einer emergenten Gemeinschaft ausieht. Herring, „Steve Taylor, Part One“, in: E-merg (Podcast). Ein Beispiel für kreative mediale Darstellungen ist die von Rob Bell entwickelte Reihe „Nooma“. „Nooma“ sind Kurzfilme, die: „[…] explore our world from a perspective of Jesus. NOOMA is an invitation to search, question, and join the discussion. […] We are a group of people committed to giving everyone a fresh and compelling look at the teachings of Jesus.“ http://nooma. com am 11.09.2009. In 24 Kurzfilmen werden unter Überschriften wie „rain“, „flame“, „trees“ christliche Themen wie Vergebung, Freiheit, Liebe, Lebensinn, Ewigkeit und vieles anderes dargestellt. 46 Karen Ward beispielsweise vergleicht ihren Ansatz eines emergenten Gottesdienstes mit einem „potluck“. Damit wird eine Form des gemeinschaftlichen Essens beschrieben, wo jeder Essen mitnimmt und es an einem gemeinsamen Tisch geschwisterlich geteilt und gegessen wird. Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 168–170. Ricky, ein emergenter Pastor sagt: „Our intent is that we start with a blank slate every week. In practice, that doesn’t always happen, but that’s we shoot for. Sometimes, if we find ourselves in a rut or drifting in that direction, we’ll just use the liturgy from another tradition for a while to give us some time to step away and recharge.“ Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011), 14. Ein „bricolage“-Verhalten wird auch dann sichtbar, wenn etwa Doug Pagitt Mitglieder seiner Gemeinschaft „Solomon’s Porch“ mehrfach tauft und damit das Sakrament der Taufe für diese Gemeinschaft neu definiert. Norris / Speers, Kingdom Politics (2015), 48–76. 47 Gibbs, ChurchMorph (2009), 40. Gay, Remixing the Church (2011), 86. Ein Interviewteilnehmer sagt: „We took a lot of stuff from the Book of Common Prayer, a lot of Catholic stuff. We felt free to borrow not only from our specific traditions but from the whole tradition of the church.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 128.
12.4 Gottesdienstliches Leben und spirituelle Ausdrucksformen
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the next they appeared experimental, chaotic, evangelical; and still yet at other times they displayed hints of being traditional, academic, reformed.48
• Ziel ist es, eine offene Atmosphäre für Partizipation und für individualisierte Antworten auf das Inszenierte zu gestalten. „The purpose of gatherings are then, not to ‚convert‘ or ‚lead‘ people to God through established recipes but to create open opportunities to see, hear, and respond to God.“49 Es ist zu beobachten, dass Liturgien für die individuelle Sinnstiftung erlebniszentriert eingesetzt werden.50 „In general, the response to this so-called sense of ‚homelessness‘ has been either to seek a deeper sense of the numinous in worship […] or to seek a closer sense of relevance of worship to the world of work, politics, and community life.“51 • Beachtung verdient, dass die Abendmahlsfeier eine hohe Wertschätzung erfährt.52 In vielen emergenten Gemeinschaften gibt es nicht, wie in anderen Denominationen üblich, Voraussetzungen dafür, wer das Abendmahl einsetzen oder empfangen darf. Das Abendmahl als sakramentale Praxis wird häufig als spirituelle Übung der Gemeinschaft verstanden und vom Amt und von konfessionellen Vorgaben losgelöst gefeiert und darf von jedem eingesetzt und auch empfangen werden.53 • Schließlich sei darauf hingewiesen, dass verstärkt dem Bedürfnis nach mystischen Erfahrungen und der Wiederentdeckung mystischer Elemente in gottesdienstlichen Feiern Raum gegeben wird.54 Leonard Sweet fasst mit 48 Stockdale, „Ecclesiological Contributions of Emerging Churches for their Parent Communi�ties“, 282. 49 Siehe dazu Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 112. 50 Ziel ist es dabei, christliche Spiritualität erlebbar zu machen. Webber, The Younger Evangelicals (2002), 116. So auch Leonard Sweet, der kulturrelevante Aspekte der bekannten KaffeehausKette Starbucks analysiert und im Hinblick auf die Gestaltung postmoderner Gottesdienste reflektiert. Sweet, The Gospel According to Starbucks (2007). 51 Donkor, The Emerging Church and Adventist Ecclesiology (2011), 18. 52 In der Untersuchung von Tony Jones ist es auffallend, dass alle untersuchten Gemeinschaften das Abendmahl feiern. Siehe Abschnitt II Kapitel 7.4 Tony Jones „The Church is Flat“ (2011). Genauere Ausführung zur Rolle des Abendmahls, wie sie Morgan in zwei britischen emergenten Gemeinschaften untersucht hat, siehe Morgan, „Emerging Eucharist. Formative Rituali�zing in British Emerging Churches“; Morgan, „Emerging Eucharist. ‚This is His Story, This is My Song‘“ (2011). 53 Besonders einflussreich vertritt dies Sara Miles. Miles, Take This Bread (2008). Nash / Ward, „Sara Miles – Whose Table? The Radical Inclusiveness of Communion“, in: Nomad (Podcast) 17.09.2014, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-74-sara-miles-whose-table-the-radicalinclusiveness-of-communion/ am 29.12.2016. 54 Pagitt, Church Re-Imagined (2005), 103–104. Oder Sweet, Out of the Question … Into the Mystery (2004). Richard Bennet spricht in diesem Zusammenhang über die Einflüsse der katholischen Traditionen: http://www.bereanbeacon.org/The_Emergent_Church_pdf/Emer-
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12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
dem Akronym „EPIC“ zusammen, was emergente Protagonisten erhoffen: „[…] experience, participation, images that throb with meaning, and connection.“55 Für Leonard Sweet steht „EPIC“ für „worship“ in der Postmoderne, der „experiental“ („erlebnisorientiert“), „participatory“ („partizipativ“), „image-driven“ (geleitet durch Bilder) und „connected“ (verbindend) sein soll.56 Erlebnisorientierung wird etwa in Form von gemeinsamen Psalmlesungen, Schriftmeditationen, geistlichen Übungen und Ritualen deutlich. Mit dem Wunsch nach Strukturen, die Partizipation fördern, wendet sich Sweet gegen das Bild einer gottesdienstlichen Karaoke-Kultur, in der „Stars“ aktuelle Titel der Charts darbieten. Bildorientierung meint, dass visuelle Elemente wie Präsentationen, Gemälde, Skulpturen oder Raumgestaltung eine Rolle im gottesdienstlichen Erleben spielen. „Verbindend“ meint, dass zwischenmenschliche Aspekte das Empfinden geistlicher Heimat wecken sollen. „Worship“ soll ein offenes Kunstwerk mit interaktiver Bewegung sein, an dem Teilnehmende sich beteiligen.57 Die „Emerging Church“-Konversation befindet sich mit ihrer Ausrichtung auf eine affektive Spiritualität in einem Strom des kulturellen Wandels, der sich seit den späten 1960er-Jahren vollzogen hat. Der kulturelle Wandel „from instituging%20Church%20Indoctrinates%20Part%203.pdf am 02.03.2007. Oder: Barry Taylor: „[…] resources for dealing with the nonrational, the plural, and the mysterious are in short supply in evangelicalism, given its rationalizing tendencies.“ Everett, The Emergent Psalter (2009). Spencer Burkes Beschreibung steht für viele Reisen emergenter Christen: „Shortly afterward, I stopped reading from the approved evangelical reading list and began to distance myself from the evangelical agenda. I discovered new authors and new voices at the bookstore – Thomas Merton, Henri Nouwen and St. Teresa of Avila. The more I read, the more intrigued I became. Contemplative spirituality seemed to open up a whole new way for me to understand and experience God. I was deeply moved by works like The Cloud of Unknowing, The Dark Night of the Soul and the Early Writings of the Desert Fathers. As my journey continued, I began to feel it might be time for me to leave professional ministry.“ http://www.theooze.com/articles/ article.cfm?id=827&page=3 am 02.03.2007. Oder auch Jimmy Long der sagt: „[…] worship and prayer are making a comeback in the post�modern world, since postmodernity has brought openness to the supernatural.“ Long, Emerg�ing Hope (2004), 154. 55 Hunter / McKnight, Giving Church Another Chance (2010), 21. 56 http://www.youthspecialties.com/articles/topics/postmodernism/worship.php am 14.03.2007. 57 Kimball, Emerging Church (2005), 117. Murray dazu: „In alt. worship gatherings, worship�pers blend icons, candles, labyrinths, rituals, gestures, incense, chants and ancient prayers with contemporary technology and iconography, re-contextualizing them. […] Other emerging churches are also adapting historic resources – lectio divina over shared meals, daily offices with ancient and contemporary prayers and readings, and new monastic orders. These are intriguing attempts to differentiate between disposable baggage and life-giving provisions for post-Christendom church.“ Murray, Post-Christendom (2004), 258. Auch bei Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 136.
12.4 Gottesdienstliches Leben und spirituelle Ausdrucksformen
441
tion to impulse“ als Quelle des „real self “ begründet eine Subjektkultur.58 Es wird das Bedürfnis nach einer Ästhetisierung und intensivierten Expressivität der Lebensführung deutlich.59
12.4.2 Predigt Zunächst lässt sich beobachten, dass die Predigt in emergenten Gemeinschaften nicht zwangsläufig im Zentrum spiritueller Ausdrucksformen und gottesdienstlichen Lebens steht und zugunsten einer kollektiven „worship“-Erfahrung neu verortet wird.60 In der „Emerging Church“-Konversation wird beispielsweise diskutiert, dass es ein „Zuviel“ an wortlastiger Verkündigung und ein „Zuwenig“ an multisensorischer und erlebniszentrierter Verkündigung gebe.61 Weiter wird in der „Emerging Church“-Konversation, etwa von Pagitt, McLaren oder Kimball diskutiert, dass sich die Predigt in einer Relevanzkrise befinde.62 Predigt müsse sich aufgrund einer sich veränderten Welt für die Einzelnen wieder als relevant erweisen. Dabei werden vordergründig Stilfragen und Formfragen beachtet. Für die Relevanzkrise werden verschiedene Gründe angegeben. Pagitt spricht von einem „relationship problem“63 zwischen Predigenden und Hören-
58 Vgl. Turner, „The Real Self “ (1976). 59 Vgl. Reckwitz, Das hybride Subjekt (2006). 60 Dies schließt an Diskussionen im US-amerikanischen Evangelikalismus an. Bielo, „Belief, De�conversion, and Authenticity Among U.S. Emerging Evangelicals“ (2012), 263. 61 Folgende Untersuchungen setzen sich explizit mit der Rolle der Predigt in emergenten Gemeinschaften auseinander: Gatzke, „Preaching in the Emerging Church and Its Relationship to the New Homiletic“. Pagitt, Preaching Re-Imagined (2005); Smith, „The Non-Verbal Illus�tration“ (2005); Bohannon, „Preaching and the Emerging Church“ (Dissertation, Southeastern Baptist Theological Seminary, 2009); Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010). Duncan, „A Critical Analysis of Preaching in the Emerging Church“. Webber sagt: „Information is no longer something that can be objectively known and verified through evidence and logic. Knowledge is more subjective and experiental. Knowledge comes through participation in a community and in an immersion with the symbols and the meaning of community.“ Webber, Ancient-Future Faith (1999), 101. Dass die Predigt einen hohen Stellenwert in der „Emerging Church“-Konversation hat, wird von vielen Untersuchungen bestätigt. Sowohl in der Primär- als auch in der Sekundärliteratur stellt sich nie die Frage, ob gepredigt wird, sondern nur wer predigen wird, wie gepredigt werden soll und was unter „Predigt“ verstanden wird. Dies bestätigt beispielsweise: Taylor / Johnston u. a., Entertainment Theology (2008), 146. 62 Pagitt: „[…] preaching, as we know it, is a tragically broken endeavour […].“ Pagitt, Preaching Re-Imagined (2005), 19. 63 A. a. O., 21.
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12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
den und meint, dass sich dies in der Form der Predigt zeige. Weiter schildert er eine mangelnde Perspektivität oder die Überbetonung von vereinfachte Applikation (speziell: „Wenn du das so tust, dann bist du richtig“). Bezüglich mangelnder Perspektivität wird die Deutungshoheit der predigenden Person kritisiert64 und von „power imbalance“ zwischen Prediger und Gemeinde gesprochen.65 In der „Emerging Church“-Konversation gibt es eine große Vielfalt, was unter Predigt verstanden wird, wie gepredigt werden soll und wie viel Raum dieser in emergenten Gemeinschaften gegeben wird. Grundsätzlich lassen sich zwei formale Gemeinsamkeiten konstatieren. • Erstens werden gemeinschaftliche und dialogische Formen geschätzt und damit konventionelle „one-way“, „top-down“-Predigten von der Kanzel oder der Bühne kritisiert.66 Doug Pagitt hat hierzu eine prominente Rolle mit seinem „communitarian preaching style“67.68 In dem gemeindepartizi64 Pagitt: „Our faith is too broad and too good to be summed up in only one person’s tellings.“ A. a. O., 185. 65 Pagitt kritisiert an anderer Stelle etwa die theologischen Kontrollmechanismen und Manipulationsversuche der Predigenden. 66 Auch Purdy stellt fest: „The dominate preaching style of the emerging church is a – progressive dialogical/storytelling form of preaching.“ Purdy, „Evaluating the preaching in the emerging church in light of traditional expositional preaching“ (Master Thesis, University of South Af�rica, 2010), 173. Jason Clark betont in seiner Untersuchung: „The postmodern, biblical preaching technique invites congregants into conversation; they are not objects or targets of the sermon. The act of preaching is not focused on an individual with a monopoly on God’s communication, who dispenses it to individuals for their consumption. It is, rather, the realization that God is present in the whole community and in the community’s interaction and insights.“ Clark, „Via media“, 84. Der Autor weiter: „The distinction between kerygma and didache breaks down in the postmodern world, and the ability to preach at non-Christians while teaching the congregation established in faith has ended.“ A. a. O., 86. Für emergente Predigten gilt, dass Predigt Dialog fördern und Haltungen und Werte „pro�vozieren“ will. Pagitt sagt: „In many ways the sermon is less a lecture or motivational speech than it is an act of poetry – of putting words around people’s experiences to allow them to find deeper connection to their lives. As we read through sections of the Bible and see how God has interacted with people in other times and places, we better sense God interacting with us. So our sermons are not lessons that precisely define belief so much as they are stories that welcome our hopes and ideas and participation.“ Pagitt, Preaching Re-Imagined (2005), 10–11. Bohannon weist darauf hin, dass Prediger, die den Revisionisten und Rekonstruktionisten zuzuordnen sind, zu einer Schwächung des traditionellen evangelikalen Predigtverständnisses beitragen. Zusammenfassend beurteilt Bohannon McLaren und Pagitt als „liberal preacher“, die eine „form of selfishness“ predigen. Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 230. „[…] modeling the preaching ministry of the revisionists will lead to a diminishing of the role of traditonal, evangelical (expository / text-driven) preaching. […] modeling the preaching ministry of the relevant will lead to delighting in the role of traditional evangelical (expository / text-driven) proclamation.“ A. a. O., 272. 67 Hylton, Preaching With Relevance In the Twenty-First Century Church (2011), 19–20. 68 Für eine genauere Darstellung siehe Todjeras, „Emerging Church Gemeinden“, 55–66.
12.4 Gottesdienstliches Leben und spirituelle Ausdrucksformen
443
patorischen Ansatz spielt der Prediger eine untergeordnete Rolle und gibt Gesprächsimpulse, die von der versammelten Gemeinschaft zu einer „Predigt“ weiterentwickelt werden. • Eine zweite dominante Ausprägung im Predigtstil ist das „provocative preaching“69, welches rhetorisch geschulte Prediger benötigt. Damit ist ein Stil gemeint, der darauf bedacht ist, durch Form, aber auch durch wechselnde inhaltliche Positionierung zu provozieren. Dafür ist Peter Rollins ein schillerndes Beispiel.70 In emergenten Gemeinschaften werden erzählende Zugänge („stories“) geschätzt, es findet eine Betonung auf Narration in der Predigt statt.71 Predigten sollen keine Antworten anbieten, sondern Impulsgeber sein.72 Duncan stellt speziell für die „revisionist“-Strömung fest (dabei untersucht er Predigten von Bell, McLaren, Pagitt, Conder und Driscoll), dass es vier Elemente sind, die in Predigten in der „Emerging Church“-Konversation beobachtet werden können: „storytelling“, „truth“, „relativism“ und „pluralism“.73 Duncan betitelt diese Themenkomplexe mit „aspects of postmodernism that impact the Emerging Church“.74
69 Ganiel und Marti gebrauchen für diese Prediger den Begriff „preacher-performers“. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 128. 70 Vgl. Abschnitt II Kapitel 9.6 „Ikon“ – eine exemplarische Darstellung einer emergenten Ge�meinschaft. 71 Wenn Geschichten erzählt werden, sind folgende Quellen und Ressourcen erkennbar: Einerseits werden biblische Geschichten herangezogen, andererseits fiktive Erzählungen (z. B. bei Brian McLaren), aktuelle Parabeln (z. B. bei Peter Rollins) oder persönliche Erlebnisse. Peter Rollins meint, dass Geschichten und Parabeln die Möglichkeit haben, das Selbst- und Fremdbild zu verändern. „The parable is heard only when it changes one’s social standing to the current reality, not one’s mere reflection of it. […] Rather, the parable facilitates genuine change at the level of action itself.“ Rollins, The Orthodox Heretic and Other Impossible Tales (2009), xii– xiii. In der emergenten Gemeinschaft „Apostles Creed“ in Seattle wird das Predigtgeschehen etwa als „Reverb“ bezeichnet (in Anlehnung an Predigt als „Neuschöpfung“). Wollschleger, „Off the Map“ (2012), 79. 72 Conder dazu: „Preaching as a ministry of kindness and intimacy.“ Conder, The Church in Transition (2006), 120 ff. Der Prediger hat, nach Jason Clark, noch folgende Aufgabe: „In the postmodern context people construct reality on how they feel, not what they believe cognitively, and preachers must connect with people’s feelings and interpret them in light of the Christian story.“ Clark, „Via media“, 90. Daneben ist er nach Clark auch der „chief story tel�ler“, der „situation learning catalyst“, „sacramentalist“. A. a. O., 90–95. 73 „This desire for a constant reinterpretation of the biblical text influences the revisionists’ her��meneutical approach which directly influences their preaching.“ Duncan, „A Critical Analysis of Preaching in the Emerging Church“, 114. 74 A. a. O., 50–56.
444
12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
Im Hinblick auf Inhalte in emergenten Predigten kann festgestellt werden, dass das „Reich Gottes“ auch hier eine dominante Rolle einnimmt.75
12.5 Bedeutung des Ortes und der Räumlichkeiten Der Versammlungsort vieler emergenter Gemeinschaften verdient Beachtung und wird in der Zusammenschau der Studien ebenfalls hervorgehoben. Emergente Gemeinschaften wollen in der Auswahl ihrer Versammlungsorte ihre Wertschätzung für den Kontext ihrer Partizipienten ausdrücken.76 So treffen sich emergente Gemeinschaften als „scattered communities“77 in Wohnzimmern
75 Purdy sagt in einer Untersuchung über emergente Predigtinhalte: „The predominant theme in preaching for the Emergent Church is the ‚kingdom of God‘.“ Purdy, „Evaluating the preach�ing in the emerging church in light of traditional expositional preaching“, 183. John Bohan� non zeigt in seiner Untersuchung anhand der Kategorien „message“ (welche Theologie zeigt sich), „mentality“ (welcher philosophische Zugang zeigt sich) und „method“, die Gemeinsam�keiten und Unterschiede im Predigtstil in der „Emerging Church“-Konversation am Beispiel von Brian McLaren, Doug Pagitt, Dan Kimball und Mark Driscoll auf. Nach einer genauen Darstellung der vier unterschiedlichen Zugänge zeigt er, dass McLaren und Pagitt den „revi�sionists“, Kimball und Driscoll den „relevants“ zuzuordnen sind. Siehe Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 161–162. John Bohannon weist in seiner Untersuchung von vier prominenten Predigern in der „Emer�ging Church“-Konversation darauf hin, dass es gemeinsame Themen gibt, die allen wichtig sind (bspw. „Reich Gottes“). Für Bohannon wird deutlich, dass die vier Protagonisten unterschiedliche homiletische Zugänge haben. Die größten Unterschiede präsentieren sich in der Kategorie Theologie (Bibel und Botschaft). Weiter sind die Unterschiede in der Theologie direkt proportional zu Unterschieden in philosophischen und methodischen Fragen. „The emergent stream represented by McLaren and Pagitt, presents the furthest distance from an orthodox / traditional view of Scripture and the gospel. […] The relevant reformed tribe, represented by Driscoll, maintains a tight alignment with the orthodox / traditional position on Scripture and the gospel, while Kimball, representing the relevant camp, presents the centrist position that holds to the orthodox / traditional position […].“ A. a. O., 161. Siehe auch Bo�hannon, „Preaching and the Emerging Church. 76 Slusser dazu: „Their main strategy for restoring a sense of place has been to start new cong�regations in mixed-income and disinvested urban neighborhoods. Most of my consultants chose to leave suburban congregations to start or join an urban ‚church plant‘, and in doing so they acted against the dominant grain of 20th century evangelicalism – pursuing megachurch growth in family-centric suburbia […].“ Slusser, Zeal for His House (2011), 184. Siehe dazu auch jene Typen bei der Kategorisierung emergenter Gemeinschaften, die aufgrund der Örtlichkeit typisiert wurden: Abschnitt II Kapitel 9.3 Typen emergenter Gemeinschaften. Das ist auch für die „relevants“ Frost und Hirsch ein Thema, siehe Frost, Exiles (2006), 277. Bielo arbeitet mit dem Begriff „placeless-ness“. Vgl. Abschnitt II Kapitel 7.3 James Bielo „Emerg ing Evangelicals. Faith, Modernity, and the Desire for Authenticity“ (2011). 77 Tickle, Emergence Christianity (2012), 53.
12.5 Bedeutung des Ortes und der Räumlichkeiten
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einzelner Protagonisten, in Lagerhallen, verlassenen Kirchengebäuden, in Caféhäusern und anderen „third places“.78 Emergente Protagonisten meinen, dass die Wertschätzung den lokalen und kontextbezogenen Bezügen einerseits in der „Megachurch“-Kultur durch nicht ortsverbundene Gemeinden (und ihre Gebäudekomplexe) und andererseits im „mainline“-Protestantismus durch den historisch begründeten Standort nicht entgegengebracht wurde. In der Konversation wird eine hohe Beweglichkeit und auch ein Wechsel von Räumlichkeiten deutlich.79 Slusser dazu: „For Emerging evangelicals, a renewed commitment to place promises the way to social intimacy, more meaningful personal relationships, higher quality of life, civic improvement, and deeper faith.“80 Für emergente Protagonisten ist die Wahl der Örtlichkeit ihrer Gemeinschaft sowie punktuelle Begegnungen Teil ihrer spirituellen Verhältnisbestimmung zur Welt (und damit auch ihres missionarischen Bewusstseins). Ganiel und Marti beschreiben eine Tendenz der Anti-Suburbanisierung, wie z. B. bei Shane Claiborne und der Gemeinschaft „Simple Way“, wo die Teilnehmer bewusst in die Innenstadt in Problemviertel ziehen.81 Besonders in der zweiten historischen Phase der „Emerging Church“-Konversation finden Treffen und gottesdienstliche Versammlungen an nicht-liturgischen Orten, wie zum Beispiel Lagerhallen, statt. In emergenten Gemeinschaften wird darüber diskutiert, dass die architektonische Form und Gestaltung den inhaltlichen Überzeugungen entspreche. So werden statt Kirchenbänken und Sitzreihen (als Ausdruck hierarchischer Anordnung) Couches und gemütliche Sitzgelegenheiten oftmals kreisförmig (als Ausdruck eines partizipativen Verständnisses) aufgestellt, die zum Gespräch einladen. Stationen, oder wie bei „Solomon’s Porch“ Sesselkreise, versuchen beispielsweise Gleichheit in der Gemeinschaft auszudrücken.82 78 Tickle beschreibt das Vorgehen als „Taking the Church Out of the Church: Rethinking Sacred Space“ a. a. O., 59–66. 79 Tickle dazu: „To buy is usually our of question for the vast majority of cells or nodes, though not for financial reasons, at least not primarily. Rather, to buy would be to formalize themselves.“ A. a. O., 119. 80 Slusser, Zeal for His House (2011), 184. Vgl. auch Bielo, „Promises of Place“ (2013), 6. Vgl. Bell, How to be Here (2016). 81 Ganiel und Marti beschreiben die Vorliebe emergenter Gemeinschaften für städtische Strukturen als Form der Dekonstruktion der geografischen Position von „Megachurches“, die ein stark suburbanes Phänomen sind. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 130. 82 Pagitt dazu: „On the lower level there is a lobby, kitchen, and an art gallery space […]. The walls are multicolored and decorated with paintings, photographs, and sculpture, Tables are covered with candles and communion elements. People expecting rows of folding chairs find instead groupings of couches, chairs, end tables, recliners, and the like arranged in the round with an open center area. The musicians are located across from the door, but not in the center. Projector screens adorn the corners of both long ends of the room so people can
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12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
Gottesdienste werden häufig mit einer Vielzahl von technischen Möglichkeiten multisensorisch oder bewusst elementar als Kritik eines technisierten „worship“-Verständnisses in „Megachurches“ gefeiert – jedenfalls aber erlebnisorientiert und partizipativ gestaltet. Die Versammlungsorte sollen eine Vielfalt an spirituellen Ausdrucksmöglichkeiten und Partizipationsformen ermöglichen.83 Sowohl Architektur als auch Arrangements an Versammlungsorten scheinen für eine traditionelle Gemeinschaft nicht üblich. Nur wenige Gemeinschaften sind für die ganze Dauer der Veranstaltung statisch. Bewegungen und Neuorientierungen sind für verschiedene Teile des Gottesdienstes üblich. Überlegungen zum Raum und den örtlichen Gegebenheiten für emergente Gemeinschaften lassen die Frage aufkommen, ob solche Gemeinschaften ein urbanes Phänomen sind, da es einerseits genügend Ressourcen sowie Raummöglichkeiten braucht.84 James Bielo verweist andererseits darauf, dass die Aufmerksamkeit, die emergente Protagonisten den Standorten ihrer Treffen und Versammlungen widmeten, eines ausgeprägten sozialpolitischen Verantwortungsgefühls (etwa für soziale Brennpunkte) bedürfe85 – und damit eher eine urbane Mentalität widerspiegle.86 Bielos These ist nachvollziehbar: My point in spelling out this example is that relocation, a process defined by concerns about place, is a form of agency enabled by the class position […]. This kind of religious / economic action is foreclosed to downwardly mobile and destabilized working-class populations. Put simply, the relocation so vital to much of the Emerging movement is class specific.87
see a screen no matter which direction they face. Because we meet in the round, some people are facing the door, and others are looking away from it.“ Pagitt, Church Re-Imagined (2005), 59–61. 83 Siehe dazu Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 193. 84 Dazu gibt es noch keine Untersuchungen, die eine solche Hypothese unterstützen. Dennoch lassen sich Indizien ausmachen, die den urbanen Charakter dieser christlichen Gemeinschaftsform unterstützen: Z. B. häufiger Raumwechsel bei den Gemeinschaften, hoher Ausbildungsgrad der Teilnehmer, viele haben eine bewegte religiöse / konfessionelle Biografie. Dieser Hinweis ist zum Beispiel zu finden bei Bielo, „Promises of Place“ (2013), 2. 85 Weiss weist etwa in einer Studie zu „sustainable food subculture“ hin, dass es für ein höhe�res lokales Verantwortungsgefühl einer höheren Bildung bedürfe, die tendenziell in urbanen Kontexten häufiger zu finden sei. Weiss, „Making Pigs Local“ (2011). 86 An dieser Stelle ist ein weiterer Forschungsbedarf zu erkennen. Es stellt sich die Frage, ob die „Emerging Church“-Konversation ein in zunehmendem Maß urbanes Phänomen ist. 87 Bielo, „Promises of Place“ (2013), 1–2.
12.6 „Praxis“ als christliche Spiritualität
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12.6 „Praxis“ als christliche Spiritualität Richtiges Handeln und gelebter Glaube spielen in der „Emerging Church“-Konversation eine bestimmende Rolle, oder wie Tickle sagt: „orthopraxis, or right action, trumps orthodoxy, or right belief, every time“88.89 Alan Jones, ein von Brian McLaren propagierter katholischer Theologe, spitzt es für Protagonisten in der „Emerging Church“-Konversation in der dritten historischen Phase zu: „I am a practicing Christian but not a believing Christian.“90 In der Konversation wird emergentes Christsein beispielsweise als „postcreedal“91 beschrieben, das 88 Tickle, Emergence Christianity (2012), 165. 89 Vgl. Ward, Liquid Ecclesiology (2017), 121. Tickle meint über emergente Protagonisten weiter: „Emergence Christians are, as we have seen, both culturally and educationally skittish of too much blind faith in words at any time. They are especially skittish around human beings who believe that they can reduce Godness to description and thereby convey what God is and what God thinks.“ Tickle, Emergence Christianity (2012), 173. Das hat bereits Scot McKnight frühzeitig in der Konversation erkannt, wenn er die „Emerging Church“-Konversation als praxisorientierte Nachfolge Jesu schildert. McKnight, Five Streams of the Emerging Church. Dies bestätigt auch Ray Anderson, der emergente Theologie „vintage theology“ nennt und sie damit als eine „gelebte Theologie“ bezeichnet. Anderson, An Emergent Theology for Emerging Churches (2006), 56–58. Peter Rollins macht das mit einer Parabel deutlich. Darin wird ein Christ vor Gericht dazu befragt, ob er ein Christ sei und schließlich freigesprochen, da: „[…] authentic faith is expressed, not in the mere acceptance of a belief system, but in sacrificial, loving action.“ Rollins, The Orthodox Heretic and Other Impossible Tales (2009), 8. McLaren, The Last Word and the Word After That (2005), 121. Oder auch McLaren, der sagt: „The achievement of ‚right thinking‘ therefore recedes, happily, farther beyond our grasp the more we pursue it. As it eludes us, we are strangely rewarded: we feel gratitude and love, humility and wonder, reverence and awe, adventure and homecoming. We shout hallelujah, and we weep tears of joy. So we pursue it all the more until the end when we find it has been pursuing us and we are caught up into the Pursuer we have so long pursued.“ McLaren, A Generous Orthodoxy (2004), 336. Oder auch Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 198, 201. Teusner stellt bei emergenten Bloggern fest und spricht über den Typ „emergenter Protagonist“: „In some cases, blogging itself is con�sidered part of his spiritual regimen.“ Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 140. Zu finden auch bei Rollins: „Our Practices Do Not Fall Short of Our Believes; They Are Our Beliefs“ in: Rollins, Insurrection. To Believe Is Human To Doubt, Divine (2011), 102–108. Vgl. Nash / Ward, „Diana Butler Bass – A Horizontal Church for a Horizontal Spirituality“, in: Nomad (Podcast) 08.07.2016, http://www.nomadpodcast.co.uk/nomad-108-diana-butlerbass-a-horizontal-church-for-a-horizontal-spirituality/ am 29.12.2016. Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 152–155. 90 Jones, Reimagining Christianity (2004), 16. Dave Tomlinson verfolgt dieselbe Argumentation, wenn er von einer Person erzählt, die ein vorbildhaftes „gutes Leben“ geführt hat. Er sagt: „Although Carol probably didn’t realise it, she was a servant of God, who in her modest, unselfconscious way changed the world.“ Tom� linson, How to be a Bad Christian (2012), 176. 91 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 134.
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12. Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
heißt, nicht das Fürwahrhalten bestimmter Glaubensüberzeugungen ist ein Kennzeichen christlichen Lebens, sondern eine Lebensführung, die im Einklang mit den Werten des „Reiches Gottes“ steht (und damit „inkarnatorisch“ ist)92, oder wie ein emergenter Interviewteilnehmer sagt: „doing stuff “93.94 Christliche Spiritualität soll sich bei emergenten Protagonisten etwa in einer Willkommenskultur in ihren Gemeinschaften, in ihrem großzügigen Engagement in sozialen Belangen und in einer Haltung der Demut und des Einbindens anderer zeigen. Solche Haltungen gilt es einzuüben.95 Frost etwa spricht von „spirituality of engagement“96 und meint damit, dass beispielsweise soziales Engagement und Nachbarschaftshilfe als spirituelle Ausdrucksformen gedeutet werden. Die Australier Frost und Hirsch verwenden hierfür die Bezeichnung „action as sacrament“97, mahnen aber – wenn auch nur plakativ mit wenigen Pinselstrichen ausgemalt – die Orthodoxie nicht zu vergessen.98 Sie sprechen sich gegen eine ausschließlich verinnerlichte Form von Spiritualität aus und betonen eine in Taten sichtbare Spiritualität. Hirsch und Frost betonen: „[…] the missional action is a supreme source of spiritual insight and experience“.99 So erlaube es ein gerechtes, demütiges „Werk“ Menschen, Gott überall zu finden.100 Damit wird ein Schwerpunkt auf ethische und 92 Tickle, Emergence Christianity (2012), 169. Vgl. Ward, Participation and Mediation (2008), 169–191. 93 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 134. 94 Ein zweiter Aspekt des „postcreedal“, nämlich das Formieren einer post-konfessionelle Ge� meinschaft, wurde bereits besprochen. Siehe Abschnitt II Kapitel 9.7.3 Emergente Gemeinschaften als plurale Gemeinschaften. 95 „The idea of authentic faith as action, and of the location of that faith outside the walls of the church and in the community, contributes to an overall sense of holism among Emerging Christians.“ Gray-Reeves / Perham, The Hospitality of God (2011). McLaren etwa fasst solche Haltungen mit dem Begriff „practice“ zusammen. Siehe dazu McLaren, Finding Our Way Again (2008), 25–29. Siehe auch Conder, The Church in Transition (2006), 120. Siehe dazu auch die Veröffentlichung über die Beobachtung von 14 emergenten Gemeinschaften in England und in den USA. Die Autoren beschreiben als gemeinsames Merkmal „hospitality“. Lee / Sinitiere, Holy Mavericks (2009). Oder auch bei Teusner, „Emerging Church Bloggers in Australia“, 160–162. 96 Frost, Exiles (2006), 141. 97 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 169. Vgl. auch Dewaay, The Emergent Church (2009), 5. Mit diesem Begriff kritisieren sie die „westliche“ Spiritualität, die sie als individualisiert und passiv-rezeptiv wahrnehmen. Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), Kapitel 7. 98 Frost / Hirsch, ReJesus (2009), 155–159. 99 Für Frost und Hirsch ist der Begriff „missional“ noch stark gebunden an ein christologisches Bekenntnis – für andere Vertreter und die Konversation seit dem Ende der zweiten historischen Phase ist dies tendenziell nicht mehr der Fall. 100 In seinem Buch „How (not) to speak of God“ bespricht Rollins, dass der „richtige Glaube“ oder das Festhalten an den „richtigen Doktrinen“ ein moderner Ansatz sei, Glaube zu definieren, da in der Moderne auf objektive Wahrheiten gepocht werde. Er verweist auf postmoderne Philo-
12.6 „Praxis“ als christliche Spiritualität
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moralische Lebensführung gelegt, die sich zum einen am Wohl der Gesellschaft orientiert und zum anderen an individuellen Anschauungen und Bedürfnissen. Emergente Protagonisten kritisieren, dass Kirche sich zu sehr auf „spiritual needs“ konzentriert habe und zwar auf Kosten sozialer, politischer oder physischer Bedürfnisse. Emergente Protagonisten wie McLaren wollen dieses Ungleichgewicht benennen und schlagen eine Schwerpunktverschiebung vor.101
sophen, um klarzumachen, dass nicht zentral ist, was Menschen glauben, sondern wie diese glauben. Dieses „wie“ muss von bedingungsloser Liebe getragen sein. Somit werden Widersprüche organisch in die Glaubensbiografie integriert. 101 McLaren sagt: „[The conventional framing story] has specialized in dealing with ‚spiritual needs‘ to the exclusion of physical and social needs. It has specialized in people’s destination in the afterlife but has failed to address significant social injustices in this life. It has focused on ‚me‘ and ‚my soul‘ and ‚my spiritual life‘ and ‚my eternal destiny‘, but it has failed to address the dominant societal and global realities of their lifetime: systemic injustice, systemic poverty, systemic ecological crisis, systemic dysfunctions of many kinds.“ McLaren, Every thing Must Change (2007), 33.
13. Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation
Im Folgenden geht es nicht um eine detaillierte Darstellung der Kritik an unterschiedlichen Ansätzen emergenter Positionen und Diskurse, da dies aufgrund der Vielfalt und Menge den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Es sollen aber einige bedeutende Themen der Kritik und Felder der Auseinandersetzung benannt werden. Zuerst ist zu unterscheiden zwischen a) einer Kritik, die innerhalb der Konversation beispielsweise durch Protagonisten unterschiedlicher Strömungen stattfindet und b) einer Kritik, die von außerhalb der Konversation kommt.1 a) Kritik, die innerhalb der Konversation als Teil der Konversation aufgenommen wird, ist dadurch identifizierbar, dass sich die betreffenden Parteien als Protagonisten der Konversation verstehen und beispielsweise die verschiedenen Anschauungen in einer gemeinsamen Veröffentlichung herausgegeben werden. Beispielhaft für eine Auseinandersetzung innerhalb der Konversation mit
1 Grundsätzlich muss gesagt werden, dass es schwierig ist, zwischen Kritik an der „Emerging Church“-Konversation und Kritik innerhalb und damit als Teil der „Emerging Church“-Kon�versation zu unterscheiden. Die Schwierigkeit besteht darin, dass sich emergente Protagonisten von der Konversation distanzieren und damit ihre Kritik, die vormals Teil der Konversation war, von anderen emergenten Protagonisten nicht mehr als Teil der Konversation empfunden wird. Unscharfe Grenzen zeigen sich beispielsweise bei Mark Driscoll oder Scot McKnight, die in der zweiten historischen Phase gewichtige Stimmen des „relevant“-Flügels in der Konversation waren, sich dann aber von der Konversation distanziert haben. Beispielhaft ist das an Driscolls Kritik an der „Emerging Church“-Konversation zu zeigen, die er 2006 als Teil der Konversation positioniert. Driscoll, „A Pastoral Perspective on the Emerging Church“ (2006), 91. Scot McKnight sagt in einer Auseinadersetzung mit Spencer Burke: „ […] I have to say the following – and I don’t do so with anything but sadness. The emerging movement is proud of creating a safe environment for people to think and to express their doubts. Partly because of what I do for a living (teach college students), I am sympathetic to the need for such safe environments. But, having said that, the emerging movement has also been criticized over and over for not having any boundaries. Frankly, some of the criticism is justified. I want to express my dismay today over what I think is crossing the boundaries. I will have to be frank; but I have to be fair. Here’s how I see this book’s theology as a Christian theologian. The more I ponder what Spencer does in this book, the more direct I have become […].“ McKnight: „A Heretic’s Guide to Eternity“, (The Jesus Creed), http://www.beliefnet.com/columnists/je� suscreed/2006/08/heretics-guide-to-eternity-4.html am 08.08.2006. http://www.jesuscreed. org/?p=1319 am 20.05.2014.
13. Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation
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Schlüsselthemen der Konversation ist die Veröffentlichung „Listening to the beliefs of the emerging church“2, die von Robert Webber herausgegeben wurde, in der fünf emergente Protagonisten einen Aspekt ihrer theologischen Überzeugung darstellen und andere Autoren darauf antworten.3 Ein anderes Beispiel für eine kritische Diskussion innerhalb der Konversation ist die Veröffentlichung „Church in the Present Tense. A Candid Look at What’s Emerging“.4 Darin tragen die Autoren Scot McKnight, Peter Rollins, Kevin Corcoran und Jason Clark in vier Teilen („philosophy“, „theology“, „worship“, „bible and doctrine“) verschiedene theologische Überzeugungen aus der Konversation zusammen. b) Im Folgenden wird die Kritik, die von Protagonisten außerhalb der Konversation stammt, im Überblick dargestellt. Zunächst lässt sich feststellen, dass Kritik an der „Emerging Church“-Konversation hauptsächlich aus protestantischen evangelikalen Kreisen kommt. Dies stimmt sowohl für den US-amerikanischen als auch für den britischen Diskurs. Außerdem fällt auf, dass sich der kritische Diskurs aufgrund der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien hinsichtlich ihrer Übersichtlichkeit, ihrer Zusammenhänge und Rezeption verändert hat. Dies führte zu verwirrend vielen Kommunikationsorten der Kritik, unübersichtlichen Zusammenhängen kritischer Diskurse sowie Auseinandersetzungen. In der Blogosphere gibt es neben einzelnen kritischen Diskursen und öffentlichen Gegnern der Konversation ausgewiesene Anti-„Emerging Church“-Konversations-Plattformen, wie „EmergentNO“ oder „Pyromaniacs“.5 Der Umgang mit Kritik ist durch die digitalen Informations- und Kommunikationsmittel insofern neuartig, als Blogger die Macht haben, Beiträge zu editieren und Zensur auszuüben. Sarah Moody weist darauf hin, dass sowohl emergente Blogger als auch Anti-„Emerging Church“-Blogger diese Macht ausüben, um Belanglosigkeiten und nicht Meinungsdifferenzen zu löschen.6 Neben den kritischen Auseinandersetzungen innerhalb einzelner Frömmigkeitsströmungen,7 Denominationen und Konfessionen werden folgende Auto-
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Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007). Darin diskutieren die Autoren über ihre Anschauungen zu Themen wie: biblische Theologie, inkarnierende Theologie, missionarische Theologie, verleiblichte Theologie, gemeinschaftliche Theologie. 4 McKnight / Corcoran u. a. (Hg.), Church in the Present Tense (2011). 5 Moody, „The Desire for Interactivity and the Emerging Texts of the Blogosphere“ (2008), 110. 6 A. a. O. 7 Erwähnenswert ist hier beispielsweise die Auseinandersetzung in der US-amerikanischen adventistischen Tradition. Die „Southern Adventist University“ hat beispielsweise am 23. Oktober 2013 aufgrund des wachsenden Einflusses der Konversation eine Stellungnahme zur „Emerg� ing Church“-Konversation verfasst und wendet sich mit 28 Thesen gegen die Konversation. „However, despite some positive contributions, we must be cautious of its theological views
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13. Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation
ren über die Grenzen hinaus mit ihrer Kritik rezipiert. Es sind evangelikale (und zum Teil fundamentalistische) Theologen, wie Don A. Carson, Albert Mohler, R. Scott Smith, John MacArthur, Kevin DeYoung und Ted Cluck, die sich aus der Perspektive evangelikaler Theologie besonders mit Stimmen aus der „reconstructionist“ und „revisionist“-Strömung auseinandersetzen. Dabei spielen folgende Themen eine Rolle: der Wahrheitsbegriff, Schriftverständnis, hermeneutische Fragen der Bibelauslegung, Kreuzestheologie, „Reich Gottes“Verständnis, eschatologische Entscheidungen sowie Fragen der moralischen Lebensführung (hier besonders sexualethische Themen). Dabei wird prinzipiell eine Abweichung von evangelikalen Überzeugungen angeprangert.8 Folgende aus US-amerikanischen evangelikalen Kreisen stammende Veröffentlichungen, die Kritik an der „Emerging Church“-Konversation üben, sollen genannt werden: Eine der ersten kritischen Auseinandersetzungen mit der „Emerging Church“Konversation im US-amerikanischen Kontext wurde 2004 von Elmer L. Towns und Ed Stetzer veröffentlicht. Als Protagonisten der US-amerikanischen evangelikalen Gemeindepflanzungsbewegung fragen sie nach „biblical boundaries for the Emerging Church“. Dabei sehen sie die amerikanischen (evangelikalen) Kirchen „under attack“. Sie sagen weiter: „It’s trying desparately to hold on to the territory it previously ‚won‘ from the darkness. But, some of its light-bearers flirt with the darkness. Some in the emerging church are making the same mistakes that countless other groups have.“9 Die Autoren sprechen von „perimeters“ („Einfassungen“,
and spiritual recommendations. In response to the growing impact of the EC in Seventh-day Adventist churches, colleges, and universities, we, the faculty of the School of Religion at Southern Adventist University, wish to encourage spiritual revival and reformation and to offer this affirmation of authentic biblical belief as expressed in the 28 Fundamental Beliefs of the Seventh-day Adventist Church.“ https://www.southern.edu/academics/academic-sites/religion/faculty/facultystatement.html am 06.03.2017. Für eine weitere Auseinandersetzung in der adventistischen Tradition siehe Markovic, „Emergent Theology“ (2010); Markovic, „The Emerging Church“ (2010). Milosavljevic, „Emergent Worship“. Donkor, The Emerging Church and Adventist Ecclesio�logy (2011). Geisler schildert die Auseinandersetzung der „Lutheran Church Missouri Synod“ mit der „Emerging Church“-Konversation. Geisler: „Reframing the Story. The End of the Emergent Conversation“, http://concordiatheology.org/2011/05/reframing-the-story-the-end-of-theemergent-conversation/ am 12.06.2011. 8 Vgl. Abschnitt II Kapitel 1.4.1 Evangelikalismus. 9 Towns / Stetzer, Perimeters of Light (2004), 191. Ihre Aufgabe sehen die Autoren in Folgendem: „However, this book is about the gospel (light) and unredeemed culture (darkness).“ A. a. O., 192.
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„Umfassungen“), die der US-amerikanische Evangelikalismus im Umgang mit der Kultur beachten soll und die von der Konversation vernachlässigt würden: 1. Es werde ein falsches Bild der Person Jesu vermittelt (die Göttlichkeit werde untergraben). Das Evangelium werde auf sozial-gesellschaftliche Anliegen reduziert und nicht als propositionelle Wahrheit anerkannt. 2. Die biblischen Dogmen und die Autorität der Heiligen Schrift (besonders die Unfehlbarkeit) würden untergraben. 3. Das Zentrum christlicher Erfahrung, nämlich das persönliche Heil, werde nicht beachtet.10 Eine prominente und häufig rezipierte kritische Auseinandersetzung mit der Konversation stammt von dem evangelikalen Neutestamentler Don A. Carson aus dem Jahr 2005.11 Carson konzentriert seine Kritik auf die Veröffentlichungen von Brian McLaren und Steve Chalke und argumentiert, dass die „Emerging Church“-Konversation einen postmodernen Relativismus willkommen heiße und sich somit von einem orthodoxen christlichen (gemeint ist evangelikalen) Wahrheitsverständnis entfernt habe.12 Carson stuft die Konversation als gefährliche Bewegung für den US-amerikanischen Evangelikalismus ein, da es für ihn in der Konversation beispielsweise zu einer Aufweichung der Deutung des Kreuzesgeschehens komme.13 Ähnlich wie Carson argumentiert R. Scott Smith, Philosophieprofessor an der Biola University, der von einem „ethical relativism“ in der „Emerging Church“-Konversation spricht. Er verortet in der Konversation einen Abfall von der Überzeugung einer objektiven christlichen Wahrheit, wie sie im Evangelikalismus vertreten wird.14 In die Argumentationslinie von Carson und Smith reihen sich die Veröffentlichung von Mark Christy, David Winscott, Jan Voerman, David Cloud, Brian Brodersen oder Joseph Schimmel ein, die vor den Gefahren postmoderner Epis-
10 A. a. O., 172–187. In einem fünften „perimeter“ konstatieren die Autoren, dass der Segen Got�tes lediglich für jene zu erwarten sei, die die genannten vier Punkte beachten würden. 11 Carson, Becoming Conversant with the Emerging Church (2005). Ins Deutsche übersetzt: Carson, Emerging Church (2008). 12 Für die Reduktion auf lediglich zwei Autoren und zwei Veröffentlichungen ist Carson kritisiert worden. Zum Beispiel: Sinitiere, „D. A. Carson on the Emergent Church“ (2005), 167. 13 Kunkle argumentiert wie Carson. Siehe Kunkle: „Essential Concerns Regarding the Emerging Church“, ETS Annual Meeting, Washington DC 2006. 14 Smith, Truth and the New Kind of Christian (2007). Besonders in Kapitel 2 und 3.
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13. Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation
temologien in der Konversation und damit aus Sicht evangelikaler und evangelikal-fundamentalistischer Ansätze vor dem „unbiblischen Ansatz“ warnen.15 Kritik konzentriert sich auf den Wahrheitsbegriff einiger emergenter Protagonisten, besonders der „revisionist“-Strömung.16 An Carsons Beitrag lässt sich eine pointierte Argumentationslinie der Kritik an der Konversation erkennen, nämlich mit welcher Epistemologie Theologie angemessen betrieben werden dürfe. Dabei konzentriert sich Kritik, aus evangelikaler Sicht, auf die Gefahr, einen „foundationalism“ zu verlieren.17 15 Christy, A Theology of Action (2012). Winscott, From Which Well are You Drinking (2007). Voerman, The Hidden Agenda (2011). Cloud, What Is the Emerging Church (2008). Brodersen, Emerging or Submerging (2011). So auch Schimmel: „The Submerging Church“, (Fight the Good Fight), DVD am 10.05.2018. Eine angriffslustige Auseinandersetzung mit der „Emerging Church“-Konversation aus der evangelikal-fundamentalistischen Welt kam mit John MacArthurs Veröffentlichung 2007 „The Truth War. Fighting for Christianity in an Age of Deception“ auf den Buchmarkt. Einen vergleichbaren evangelikal-apologetischen Ansatz hat Roger Oakland mit „Faith Undone“ (2007). So schreibt John McArthur: „The Emerging Church movement has unleashed an unpreceden�ted flood of vulgarity and worldliness on Christian booksellers’ shelves. […] most authors in the movement make extravagant use of filthy language, sexual innuendo, uncritical references to the most lowbrow elements of postmodern culture, often indicating inappropriate approval for ungodly aspects of secular culture.“ MacArthur, The Truth War (2007), 139. Weitere Kritiken aus dem evangelikal-fundamentalistischen Raum von MacArthur und anderen sind beispielsweise im „Master’s Seminary Journal“ zu finden. Das „The Master’s Semi�nary Journal“ widmet sich in Ausgabe 17, Nr 2 (Herbst 2006) in sechs Artikeln der „Emerging Church“-Konversation: MacArthur, „Perspicuity of Scripture “ (2006); Pettegrew, „Evangeli� cals, Paradigms, and the Emerging Church“ (2006); Craigen, „Emergent Soteriology “ (2006); Mayhue, „The Emerging Church “ (2006); Holland, „Progressional Dialogue & Preaching“ (2006); Swanson, „Bibliography on the Emerging Church Movement“ (2006). Eine evange� likal-fundamentalistische Sicht nimmt auch Wells ein, der sagt: „They are not seeking the God of the Christian religion, who is transcendent, who speaks to life from outside out and entered it through the Incarnation, whose Word is absolute and enduring, and whose moral character defines the difference between Good and Evil forever. Rather, it is the god within, the god who is found within the self in whom the self is rooted. Wells, “The Supremacy of Christ in a Postmodern World“ (2007), 27. 16 Duncan: „One of the most significant problems among the revisionist leaders of the emerging church is their handling of truth.“ Duncan, „A Critical Analysis of Preaching in the Emerging Church“, 77. So auch bei Smith, „Emergents, Evangelicals and the Importance of Truth“ (2009), 130. John Bolt sagt über den Wahrheitsbegriff in der Konversation, dass emergente Personen Wahrheiten wohl anerkennen, doch seien diese: „[…] legitimacy of narrative truth, metaphoric truth, relational truth, mystical truth, and the like“. Bolt, „An Emerging Critique of the Postmodern, Evangelical Church“ (2006), 207. 17 Carson bezieht sich mit dem Begriff „foundationalism“ auf ein erkenntnistheoretisches Para�digma. Damit ist gemeint, dass auf nicht hinterfragbare Haltepunkte eines Überzeugungssystems Bezug genommen werden kann. Vgl. zum Begriff und Konzept des „foundationalism“: Clausen, Evangelisation, Erkenntnis und Sprache (2010), 66–71. Hierzu gibt es innerhalb des
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Einen etwas anderen Weg schlägt der evangelikale Theologe Jim Belcher vor, der in seinem Buch „Deep Church. A Third Way Beyond Emerging and Traditional“ von einem „post-foundationalism“ in der Tradition von Stetzer spricht und damit zu den „neo-evangelicals“ zu zählen ist. Er wird von emergenten Protagonisten wie Hirsch, Driscoll, McKnight, Kimball u. a. („relevant“-Strömung) als kritische Auseinandersetzung mit der Konversation vorgeschlagen und geschätzt.18 Er unterscheidet sich von Carson darin, dass er dessen theologischen Ansatz als „bounded set“-Ansatz (d. h. die Grundüberzeugungen evangelikaler Theologie als Kriterium für Zugehörigkeit) versteht, er selbst aber, wie Hirsch und Frost, einen „centred-set“-Ansatz vertreten will (d. h. es werden nicht theologische Überzeugungen herangezogen, sondern die Person Jesu als Zentrum).19 Eine einflussreiche populäre Auseinandersetzung mit theologischen Ansichten in der „Emerging Church“, aus der Sicht US-amerikanischer Evangelikaler, haben Kevin DeYoung und Ted Kluck 2008 vorgelegt.20 Kevin DeYoung, ein reformierter Pastor in Lansing (Michigan) und Sportjournalist Ted Kluck, Gemeindemitglied von DeYoung, argumentieren, dass die christliche Orthodoxie auf einer „foundationalist epistemology“ und auf einer Hermeneutik beruhe, die eine biblische Irrtumslosigkeit statuiere.21 Konsequenzen einer Epistemologie, die nicht „foundationalist“ ist, ließen sich an emergenten Schriftverständnissen nachzeichnen – und das sei zu verwerfen.22
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US-amerikanischen Evangelikalismus eine Bewegung der „neo-evangelical theology“, die pro�minent durch Stanley Grenz, John Franke und Roger Olson unter dem Stichwort „post-foun�dationalism“ zusammengefasst werden kann. Grenz / Franke, Beyond Foundationalism (2001); Grenz, Renewing the Center (2006). Olson, Reformed and Always Reforming (2007). Bielo erkennt in dem Wunsch nach theologischer, ästhetischer und organisationeller Entgrenzung eine Ablehnung eines theologischen „foundationalism“. Er sagt: „Foundationalism is troubling for Emerging Christians because it has helped to create a theological environment in which belief is the organizing motif, propositional statements about human-divine affairs are e levated, and true Christian identity is signified by the acceptance of certain beliefs and the rejection of others.“ Bielo, „The ‚Emerging Church‘ in America “ (2009), 222. Belcher, Deep Church (2009). A. a. O., 85–87. Die Begriffe „bounded set“ und „centred set“ stammen von Paul Hiebert und werden in der „Emerging Church“-Diskussion verhandelt. Siehe Abschnitt II Kapitel 14 Ein�ordnung in missionswissenschaftliche und kirchentheoretische Debatten. DeYoung / Kluck, Why We’re Not Emergent (2008). Dieses Buch ist deshalb von Bedeutung, da die Autoren 2009 mit dem „Christianity Today Book-Award“ ausgezeichnet wurden. Kevin DeYoung und Ted Kluck: „Let us rest confidently in the certain truth that God is know able and can make Himself and His ways known to us.“ A. a. O., 51. DeYoung kritisiert an der „Emerging Church“-Konversation den liberalen Umgang mit der Autorität der Schrift und meint: „Burned-out evangelicals who go emergent and talk squishy about the Bible may still basically treat the Bible as if it were completely true and authoritative. This would be fortuitous inconsistency. But what happens in the second generation? What happens when an erstwhile church planter with a few Neo books under his belt starts doing church with a radical skepticism about the authority of the Bible and forms a people by musing on about
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Eine andere Argumentationslinie verfolgt Bob Dewaay, Senior-Pastor der „Twin City Fellowship“-Gemeinschaft in Minneapolis. Er schlägt vor, dass das Zentrum der Auseinandersetzung in der „Emerging Church“-Konversation eine Frage der Eschatologie sei.23 Er kritisiert eine dominante präsentische Eschatologie, die ihre Hoffnungen auf eine wirksame Veränderung der Welt setze. Dewaay kritisiert die theologischen Entscheidungen betreffend einer aus seiner Sicht dominanten Eschatologie in der Konversation, die eine positive Sicht der Geschichte unterstützten.24 Er hingegen sagt, dass die Schöpfung unaufhaltsam auf ihre Zerstörung und ihren Untergang zusteuere. Dewaay ist in die Reihe derer einzuordnen, die emergenten Protagonisten hermeneutische Irrwege unterstellen. Er macht dies mit dem Begriff „undefining“ deutlich.25 Er stellt fest: „The teachings of Emergent offers spiritual experiences as a replacement of truth. Having no real scriptual base, these young people are seduced and deluded.“26 Eine kritische Auseinandersetzung aus einer bisher nicht genannten Disziplin kommt von dem Psychologen Richard Beck, der kritisiert, dass emergente Christen wissenschaftliche Erkenntnisse in ihre Spiritualität bereitwillig integrierten, dem Übernatürlichen jedoch kritisch gegenüberständen.27 Er plädiert dafür, die in der Konversation dominante soziale und politische Dimension christlicher Spiritualität um eine Auseinandersetzung mit dem Übernatürlichen zu erweitern.28 Weiter argumentiert Beck, dass damit Themen der persönlichen Heiligung oder Moralität in den Hintergrund rückten und nicht mehr thematisiert würden. „A narrow focus on political activism often ignores important conversations about personal morality and holinesss. Political activism also tends to marginalize the church, the community Jesus left behind to continue his work.“29
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how his community affirms the Bible (in part?), therefore making it ‚welcome‘ in their conversation? We can wax eloquent about the beauty of the story and how the Scriptures read us, but unless people are convinced that the Bible is authoritative, true, inspired, and the very words of God, over time they will read it less frequently, know it less fully, and trust in less surely.“ A. a. O., 78. Er folgert, dass die Konversation in ihrer Eschatologie Jürgen Moltmann und dem Philosophen Ken Wilbert folge, wobei beide aus seiner Sicht Hegelianer seien. Er sagt: „Emergent theologians and church leaders reject God’s final judgement in favor of His saving of all of humanity and creation into a tangible paradise in which all will participate.“ Dewaay, The Emergent Church (2009), 13. Er stellt fest, dass die „Emerging Church“ Folgendes betreibe: „Undefining God’s Mission“, „Undefining Christian Theology“, „Undefining the Bible and Preaching“, „Undefining the Means of Grace“, „Undefining Knowledge“, „Undefining the Kingdom of God“. Dewaay, The Emergent Church (2009), 5. Der Autor dazu: „These doubting and disentchanted Christians often describe themselves with a bewildering array of labels – labels such as liberal, progressive, emergent, post-fundamentalist, or post-evangelical. A common thread running through these labels is an eagerness to embrace science, a faith that unapologetically embraces the current scientific consensus in biology, geology, cosmology, and every other scientific discipline.“ Beck, Reviving Old Scratch (2016), 4. A. a. O., 25. A. a. O.
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Zuletzt soll darauf hingewiesen werden, dass es bereits eine Vielzahl von akademischen Veröffentlichungen (Masterarbeiten, Dissertationen) gibt, die sich mit der Konversation kritisch auseinandersetzen.30 Neben den bereits genannten kritischen Anfragen an die Konversation, gibt es eine Vielzahl von kritischen Veröffentlichungen, die sich auf einzelne Pro tagonisten und Leitungspersonen sowie ihre Ansätze in der Konversation oder auf ausgewählte Themen beziehen. Diese seien nur kurz aufgezählt.31 Kritik an einzelnen emergenten Protagonisten Besonders Brian McLaren, als prominenter emergenter Protagonist seit der ersten historischen Phase der Konversation, ist verschiedensten Analysen und Beurteilungen ausgesetzt.32 Auch Rob Bell,33 Shane Claiborne34 oder Doug Pagitt35 stehen im Zentrum kritischer Diskussionen.
30 Zum Beispiel: Mills, „The Promise of the Emerging Church“. 31 Protagonisten wie Roger Oakland porträtieren Leitungspersonen der Konversation als New Agers, Pantheisten, Mystiker, Liberale und „Freunde Roms“. Oakland stellt fest, dass diese Leitungspersonen Teil des biblischen letzten Abfalls sind. Oakland, Faith Undone (2007), Kapitel 7. 32 Kritik an McLarens prozessualer Theologie kommt beispielsweise von Scot McKnight. Scot McKnight weist dies bei Brian McLarens Buch „A New Kind of Christianity“ anhand eines sich entwickelnden Gottesbildes nach. McKnight: „The maturation of God unfolding in the Bible has five dimensions: we find it in God’s uniqueness, God’s ethics, God’s universality, God’s agency, and God’s character.“ http://www.christianitytoday.com/ct/2010/march/3.59. html?start=4 am 11.02.2015. Eine Kritik am „Reich Gottes“-Verständnis McLarens fromulieren VanDrunen, Kröpfel u. a. VanDrunen argumentiert aus reformierter Sicht gegen ein „Reich Gottes“-Verständnis, das mit tranformatorischen Motiven („creation regained“, „cultural mandate“) arbeitet und weist auf die zu erfüllende eschatologische Hoffnung hin. VanDrunen, Living in God’s Two Kingdoms (2010), 26. Vgl. auch Kröpfel, „Emerging Church“. Auch Reed bezieht sich auf McLarens „Reich Gottes“-Begriff und meint: „Although he [Brian McLaren] sees the problem of the capitalist system in its exploitation and systematic deprivation of the working classes, because he is reformist minded, because he remains in the Evangelical mindset of individualism when it comes to economics, and because he has demonized socialism itself, he cannot offer a real economic solution.“ Reed, „Emerging treason“ (2014), 77. 33 Timothy Stoner bietet eine Kritik an Bells Methodologie, die von einem „repainting Christia�nity“ spricht. Stoner spricht sich dafür aus, dass es Bereiche im christlichen Glauben gebe, die keiner Neuformulierung bedürfen, sondern einer Wiedergewinnung. Stoner, The God Who Smokes. Scandalous Meditations on Faith (2008), 41–51. 34 Shane Claibornes sozialpolitisches Programm wird beispielsweise von Randall Reed einer Prüfung unterzogen und nach der Realisierbarkeit befragt. Kritisch ist Claiborne entgegenzuhalten, dass man bei ihm eine politische Agenda vermisst. Randall Reed unterstellt ihm etwa politische Naivität, da Claiborne meine, durch seine lokalen Boykottaufrufe, beispielsweise von großen US-amerikanischen Konzernen wie Wallmart oder Taco Bell, kapitalistische Systeme beeinflussen zu können. Randall Reed dazu: „Claiborne will engage in civil disobedience, vio�lating ordinances that threaten to stymie efforts to give food to the homeless or provide shelter in an abandoned church, but never is there a plan to solve homelessness, or even an attempt
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to analyze the root causes of it.“ Reed, „Emerging treason“ (2014), 71. Claibornes Aufrufe zu gerechter Umverteilung, zu alternativen politischen Lösungen bleiben Rufe, die verhallen, da es an konkreten, systematischen Ausführungen und Umsetzungen fehlt. Seine Aussagen klingen idealtypisch und lassen die Einbeziehung der konkreten Situationen vermissen. Claiborne liefert keine wirtschaftlichen oder strukturellen Antworten. Beispielsweise: „Once we really try to love our neighbor as ourselves, capitalism, as we see it, won’t be possible and communism won’t be necessary.“ Claiborne / Campolo, Red Letter Revolution (2012), 205. Trotz des Hinweises auf die gefährliche Verquickung von Religion, Politik und Nationalismus (besonders in den USA), gerate er in die Gefahr, zu moralisieren. Er stelle sich jedoch nicht die Frage, wie es zu einem konstruktiven Dasein kommen könne. Reed dazu: „This discourse is more activist than theoretical, it lacks a sophisticated ideological analysis, and it is more a naive exposition that says love of neighbor does not equate with killing or exploitation.“ Reed, „Emerging treason“ (2014), 73. 35 Kritik an der Theologie Pagitts kommt beispielsweise von Jeremy Bouma, der aus evangelikaler Perspektive Pagitts Ansätze beleuchtet. Hierzu hat Jeremy Bouma ausführlich Doug Pagitts Position mit dem exkommunizierten altkirchlichen Theologen Pelagius verglichen und Übereinstimmungen gefunden. Bouma sagt zusammenfassend: „Like Pelagius, Pagitt believes that we exist in the state as we were intended at the beginning of creation. Both believe that our wills are still intact and that we are capable, through our own gumption and ingenuity, to be in sync with God, to live as we were intended to live. Ethically we are not morally rebellious. We do not have a sin nature passed to us from by our natural head, Adam. Instead, we are ‚inherently godly‘ and ‚filled with the spark of God‘. For both, we are inherently good.“ Der Mensch sündige demnach aufgrund von schlechten Vorbildern, Systemen, Mustern und Gewohnheiten. Bouma, Pagitt and Pelagius. An Examination of an Emerging Neo-Pelagianism – Introduction; Bouma: „Pagitt and Pelagius. An Examination of an Emerging Neo- Pelagianism – Human Nature“, http://www.jeremybouma.com/pagitt-and-pelagius-an-ex� amination-of-an-emerging-neo-pelagianism-1/ am 15.02.2010; Bouma: „Pagitt and Pelagius. An Examination of an Emerging Neo-Pelagianism – Sin“, http://www.jeremybouma.com/ pagitt-and-pelagius-an-examination-of-an-emerging-neo-pelagianism-1/ am 17.02.2010; Bouma: „Pagitt and Pelagius. An Examination of an Emerging Neo-Pelagianism – Interlude on Sin“, http://www.jeremybouma.com/pagitt-and-pelagius-an-examination-of-an-emerg� ing-neo-pelagianism-1/ am 19.02.2010; Bouma: „Pagitt and Pelagius. An Examination of an Emerging Neo-Pelagianism – Salvation“, http://www.jeremybouma.com/pagitt-and-pelagi� us-an-examination-of-an-emerging-neo-pelagianism-1/ am 23.02.2010; Bouma: „Pagitt and Pelagius. An Examination of an Emerging Neo-Pelagianism – Discipleship and Judgement“, http://www.jeremybouma.com/pagitt-and-pelagius-an-examination-of-an-emerging-neo-pelagianism-1/ am 25.02.2010; Bouma: „Pagitt and Pelagius. An Examination of an Emerging Neo-Pelagianism – Final Thoughts“, http://www.jeremybouma.com/pagitt-and-pelagius-anexamination-of-an-emerging-neo-pelagianism-1/ am 01.03.2010. Für eine ausführliche Kritik an Pagitts Ansatz siehe Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010). Predigt als „progressional dialogue“, siehe a. a. O., 199 f. Holland, „Progressio�nal Dialogue & Preaching“ (2006). Oakland kritisiert Pagitts Lesart kontextueller Theologie und wirft ihm vor, dass das eigene Leben die Hermeneutik bestimme und nicht die (evangelikal konservative) Bibelhermeneutik das Leben forme. Kontextuelle Theologie soll Folgendes nicht tun: „[…] use the Bible as a means of theology or measuring rod of truth and standards by which to live; and rather than have the Bible mold the Christian’s life, let the Christian’s life mold the Bible.“ Oakland, Faith Undone. The Emerging Church (2007), 42, 51–52.
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Kritik an ausgewählten Themen in der Konversation Eine aus der Kritik an den Wahrheitsbegriffen stammende, weiterführende Frage, die in Auseinandersetzungen mit der Konversation häufig auftaucht, ist die Bedeutung und Wichtigkeit der Lehre beziehungsweise dogmatischer Festlegungen und Bekenntnisse.36 Beck etwa kritisiert, dass eine „supportive theology“ fehle, um sich den wichtigen Fragen, die in der Konversation diskutiert werden, zu stellen.37 Andere Kritiker sprechen den problematischen Eklektizismus, Synkretismus und Relativismus in Bezug auf christliche und auch konfessionelle Dogmatik in der „Emerging Church“-Konversation an.38 Außerdem wird eine starke Erlebnisorientierung in gemeindlichem Handeln in der Konversation kritisch betrachtet.39 Hammett sagt beispielsweise, dass
36 John Bohannon bringt die Auseinandersetzung zwischen dem radikalen „Emerging Church“Flügel („revisionist“) und evangelikaler Theologie auf den Punkt: „This all-inclusive, univer�salistic, liberating, emergent meta-narrative seems to over-shadow or potentially replace the orthodox, historical redemptive gospel meta-narrative. The biblical gospel meta-narrative emphasizes the need for reconciling with God through repentance of sin and placement of faith in the person and finished work of Jesus for eternal salvation.“ Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 180. Siehe Clark, „Whosoever Will Be Saved“ (2008). Kri�tik an der Vernachlässigung der Lehre kommt auch von Stetzer im Hinblick auf die „revi� sionist“-Strömung. Er selbst favorisiert eine neue biblisch-orientierte, missionarische Aus�richtung der Kirche („relevant“ und zum Teil „reconstructionist“), unterstützt dabei aber keine Vernachlässigung biblischer Lehren über Kirche, Theologie und Praxis. Für ihn führe dies viel zu leicht zum Abdriften vom Glauben. Vgl. http://www.sbcbaptistpress.org/bpnews. asp?ID=22406 am 18.03.2008. Hier sieht Seargant in der „Emerging Church“-Konversation die Gefahr: „Without a doctrinally sound doxological base, mission can become idolatrous and purely self-serving.“ Sargeant, Christian Education and the Emerging Church (2015), 173. 37 Beck sagt: „Many compassionate Christians are losing their faith because they lack this sup�portive theology, a theology that can reconcile their compassion with their doubts. […] In the face of doubts and disenchantment we need a vision of spiritual resistance and struggle that energizes our faith in the face of pain and suffering.“ Beck, Reviving Old Scratch (2016), 26. 38 Stetzer und Putman: „[…] we think that those […] show an underdeveloped idea of what church is […].“ Stetzer / Putman, Breaking the Missional Code (2006), 57. Henk de Roest bestätigt dies, wenn er sagt: „Consequently, concepts like ‚conversion‘, ‚justification‘ and ‚rebirth‘ are redefined in corporate terms as participation in a new community and accepting a new pattern of values.“ de Roest, „Ecclesiologies at the Margin“ (2008), 263. Con�rad Ostwalt argumentiert sogar, dass sich anhand emergenter Gemeinschaften ein Säkulari sierungsprozess in einer christlichen Gemeinschaft am besten darstellen lasse. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 43. 39 Für eine Kritik an einer evangelikalen Mystik siehe Oakland, Faith Undone (2007), 62–120. Smith kritisiert die Erlebnisorientierung, wenn er sagt: „Some EC thinkers use ‚non-verbal‘ synonymously with ‚experiential‘. Their emphasis follows their epistemology. However, listening is also an experience. And, since the verbal is clearly what Paul had in mind in the pastorals quoted above, there needs to be a strong rationale for moving away from it totally.“ Smith, „The Non-Verbal Illustration“ (2005), 146.
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13. Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation
die Konversation der „seeker-sensitive“-Bewegung darin folge, die Bedürfnisse der Teilnehmenden zu befriedigen, der Unterschied liege darin, dass es andere Bedürfnisse seien.40 Im Hinblick auf die in der Konversation zunehmend negativ beurteilte Rolle von christlicher Gemeinde im Verhältnis zum positiv beurteilten „Reich Gottes“ distanzieren sich Autoren wie Beck oder Packard von der Kirchen- und Gemeinde-Kritik.41 In diesem Zusammenhang sei auf Autoren wie Kröpfel oder Waters verwiesen, die McLarens dominanten präsentischen „Reich Gottes“-Begriff einer exegetischen Prüfung unterziehen und nachweisen, dass eine rein präsentische Deutung exegetisch nicht begründbar sei.42 Weiter wird eine starke Orientierung an der Praxis bemängelt, zum Beispiel der präsentische „Reich Gottes“-Begriff, der negativ als Aktivismus oder „social gospel“ verstanden wird.43 Ein anderer Kristallisationspunkt der Kritik an der theologischen Position ist das Fehlen der Thematisierung von Sünde und speziell an einer latent programmatischen positiven Anthropologie, die sich vom Dogma der Erbsünde
40 Hammett, An Ecclesiological Assessment of the Emerging Church Movement. 41 Richard Beck dazu: „So kingdom is a word that is increasingly being used to separate the work of God in the world from the traditional church. Kingdom means ‚good deeds done for the common good‘ while church means, well, going to church on a Sunday morning to sing songs, listen to a sermon, and drink bad coffee. This clean separation between kingdom and church allows us to blow off the church – as being irrelevant, corrupt, or toxic – to pursue the kingdom of God in the world, partnering with others (Christians or not) in making the world a better place.“ Beck, Reviving Old Scratch (2016), 69. Packard sagt über den anti-institutionellen Charakter emergenter Gemeinschaften: „This [jene der „Emerging Church“-Konversation] organizational structure is adopted in direct opposition to the institutional church as exemplified by the automatically bureaucratic, unabashedly market-driven megachurch movement.“ Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011), 9. 42 Siegfried Kröpfel hat dazu eine exegetische Untersuchung verfasst, die zu dem Schluss kommt, dass McLarens stark präsentische Sichtweise den biblischen Befunden in Joh 14,6; Lk 9,49; Lk 11,23 nicht gerecht werde. Kröpfel, „Emerging Church“, 101–112. Waters, „It’s ‚Wright‘, but is it Right“ (2008). 43 Der Vorwurf, dass die „Emerging Church“-Konversation ein „social gospel“ vertrete, ist seit Beginn des Aufkommens von konservativen Evangelikalen präsent. Scot McKnight spricht von jugendlichen, sozialpolitisch engagierten Christen und nennt diese „skinny jeans Chris� tians“. Er kritisiert ein Verständnis vom „Reich Gottes“, das auf guten Taten von Menschen beruht („[…] good deeds done by good people (Christian or not) in the public sector for the common good.“). McKnight, Kingdom Conspiracy (2014), 4. So auch Bargar, der sagt: „There is an obvious risk that EC could fall into the trap of imma�nent activism cut off of its transcendent roots, thus being nothing more than a postmodern variation to the Social Gospel of the early 1900s.“ Bargár, „The Emerging Church Movement“ (2015), 36.
13. Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation
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löse.44 Daneben wird die in der Konversation von Rekonstruktionisten und Revisionisten vorgestellte Abschwächung der Bedeutung der Hölle negativ aufgeführt.45 Dies verweist auf ein weiteres Diskussionsfeld, nämlich die Deutung des Kreuzesgeschehens.46 Ein anderer aus der Kritik an einer „post-foundationalist“-Epistemologie herführender Diskussionsstrang ist die Frage nach dem Verhältnis der Einzelnen sowie der christlichen Gemeinden zur Kultur, speziell zur Postmoderne.47 Der US-amerikanische Philosoph James Smith, der in der emergenten Konversation in der zweiten historischen Phase häufig zitiert wird, erkennt eine große Unklarheit darüber, was „Postmoderne“ ist, sowohl bei den Gegnern als auch bei den Befürwortern.48 Smith kritisiert, dass „Postmoderne“ als Ausgangspunkt für gemeindliches Handeln herangezogen werde, ohne die Postmoderne selbst kritisch zu beleuchten. Darum gerät die „Emerging Church“Konversation in den Verdacht, trotz ihrer Konsumkritik selbst konsumorientiert zu sein. In diesem Fall konsumiere die Konversation die Postmoderne und stehe in der Gefahr, ihre kulturkritische Schlagseite zu verlieren.49 44 Kritiker werfen emergenten Protagonisten vor, dass der Begriff „Erbsünde“ nicht thematisiert wird bzw. eine Anthropologie vertreten werde, die von prinzipiell freien Entscheidungen des Menschen zum Guten ausginge (vgl. Boumas Pelagius-Analogie). Dies wird im deutschsprachigen Raum auch aufgenommen von: Maleachi-Kreis, Verführung auf leisen Sohlen (2014), 22. 45 Gilbert, „Saved from the Wrath of God“ (2008). Eine Kritik an der in der Konversation geübten Kritik der Funktionalisierung der Hölle findet sich bei Beck. Eine „Funktionalisierung der Hölle“ wie von emergenten Stimmen kritisiert wird, ist für Beck abzulehnen. Beck, Reviving Old Scratch (2016), 147–148. McLaren etwa kritisiert an der evangelikalen Theologie ein „use the doctrine of hell“, um ein „Drinnen“ und „Draußen“ zu etablieren, und das Evangelium verkümmere zu einer „Feuerversicherung“ (Carsten Schmelzer). McLaren, The Last Word and the Word After That (2005), 64. Koeniger / Renz, „Blick in den Abgrund“ (2013), 224. 46 Für eine genaue Darstellung siehe Abschnitt II Kapitel 10.2.2 Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu. 47 Martin Downes spricht von einer postmodernen Gefangenschaft der Konversation. Downes, „Entrapment“ (2008). Oder auch Helseth, „Are Postconservative Evangelicals Fundamental� ists“ (2004). Auch: Johnson, „Joyriding on the Downgrade at Breakneck Speed“ (2008). Gilley, „The Emergent Church“ (2008). 48 Raschke, The Next Reformation (2004), 17–20. Smith kritisiert McLaren, Sweet und Webber dafür, dass ihre Ansätze einer postmodernen christlichen Nachfolge mit „modernen Strate�gien“ durchgeführt würden. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass mit dem Begriff „non�denominationalism“ agiert werde. Siehe Smith, Who’s Afraid of Postmodernism? (2006), Ka�pitel 4. 49 Ähnlich formuliert es Jason Clark: „[…] before adopting them we should consider whether these social imaginations further a Christological reality and ordering of life (and church) around the resurrected Jesus.“ Clark, „Consumer Liturgies and Their Corrosive Effects in Christian Identity“ (2011), 52. Clark spricht sich dafür aus, genau zu hinterfragen, welche Metaphern für ekklesiologische Grundfragen herangezogen werden. Er mahnt: „We need to let the story of
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13. Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation
Grundsätzlich lassen sich zwei Beobachtungen hinsichtlich einer Kritik an den angeführten Diskursen in der Konversation beobachten. Einerseits konzentriert sich Kritik darauf, wie einzelne emergente Protagonisten und Impulsgeber mit der „Postmoderne“ umgehen. Es fällt auf, dass sich nicht darum eine Diskussion entspinnt, wie und ob der Begriff und die Implikationen des Phänomens „Postmoderne“ differenziert rezipiert werden sollen, sondern wie christlicher Glaube und gemeinschaftliches Handeln angemessen auf die „Postmoderne“ reagieren. Dies führt zur zweiten grundsätzlichen Beobachtung, nämlich dass die Mehrzahl der kritischen Stimmen zur Verhältnisbestimmung von christlicher Gemeinschaft und religiöser Überzeugung in der Postmoderne, aus dem Evangelikalismus und dem christlichen Fundamentalismus stammt.50 Darüber hinaus fällt auf: Wenn emergente Protagonisten über den Einfluss der Postmoderne sprechen, dann tun sie es besonders mit Blick auf den Einfluss einer US-amerikanisch, westlich geprägten Form von Gemeinschaft und Theologie. Rah kritisiert darin ihre Begrenzung. Er sagt: „Most of the emerging church conversation has focused on postmodernity’s impact and role on middle-class, suburban, white churches, resulting in a continuing Western white captivity of the American church.“51 Ein anderer Kristallisationspunkt in der Kritik sind die unterschiedlichen Missionsverständnisse, die in der „Emerging Church“-Konversation vorkommen. So wird beispielsweise ein Missionsverständnis kritisiert, dass sich lediglich an
doctrine, Scripture, and church history shape our imaginations and grammar we use to narrate the Christian life rather than allowing the narrative to be limited solely by the grammar and imaginations of popular culture.“ Ein Kommentar von J. P. Moreland 2004 macht die Sorge im US-amerikanischen Evangelikalismus deutlich: „I am […] convinced that postmodernism is an irresponsible, cowardly abrogation of the duties that constitute a disciple’s calling to be a Christian intellectual and teacher.“ Hammett, An Ecclesiological Assessment of the Emerging Church Movement. Daniel Stout etwa beschreibt die „Emerging Church“-Konversation als „[…] a compelling example of cultural religion“, da sie sich am Rande der Institution als populärer Kultur be� wege. Stout, Media and Religion (2012), 56. Für Stout gilt dies für emergente Gemeinschaften wie auch für charismatische „Megachurches“. Jenson und Wilhite ordnen die Vergemeinschaftungsformen in der Konversation in den Trend der weltweiten Christenheit ein, sich vermehrt lokal und nachbarschaftlich zu organisieren. Jenson / Wilhite, The Church (2010), 100–101. 50 Robert Doornenbal stellt fest: „The rhetoric of conservative evangelicals on the topic of post�modernism very often contains metaphors of conflict such as war, fighting, defeating, and defending.“ Doornenbal, Crossroads (2012), 96. 51 Rah, The Next Evangelicalism (2009), 140–141. Oder auch Scott Thumma: „The congregati� ons are comprised mostly of middle class whites in their twenties and thirties.“ Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 193.
13. Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation
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der Kultivierung von Beziehungen orientiert52 und die für evangelikale Theologie notwendige Betonung der Konversion missachtet.53 Weiter wird eine Unterbetonung von Evangelisation festgestellt.54 Ein häufig gewähltes Thema der Auseinandersetzung mit der „Emerging Church“-Konversation ist die Predigt. Erwähnenswert ist John S. Bohannons Monografie „Preaching & The Emerging Church“, in der er die Predigtkultur von vier prominenten „Emerging Church“-Protagonisten (Mark Driscoll, Dan Kimball, Brian McLaren, Doug Pagitt) analysiert.55 Er untersucht die vier Protagonisten im Hinblick auf vier Kriterien (1. Thema („message“), 2. Theologie („theology“, „mentality“), 3. Epistemologische Grundlagen („philosophy“), 4. Formen der Verkündigung („method“, „delivery“)) und fragt erstens danach, inwiefern ein „orthodox view of Christian faith“56 eingehalten wird und zweitens nach dem spezifischen evangelikalen Charakter der Predigten, der davon ausgeht: „[…] all true biblical preaching, by nature, is expositional preaching.“57 Bohannon kommt zu dem Schluss, dass die Prediger McLaren und Pagitt, die Teil der „revisionist“ sind, in ihren theologischen und philosophischen Grundüberzeugungen nicht den evangelikalen Überzeugungen entsprächen. Er sagt: First, modeling the preaching ministry of the revisionist will lead to a diminishing of the role of traditional, evangelical (expositary / text-driven) preaching. Second, modeling the preaching ministry of the relevants will lead to delighting in the role of traditional evangelical (expository / text-driven) proclamation.58 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Duncan, der Rob Bell, Brian McLaren, Doug Pagitt, Tim Conder und Mark Driscoll untersucht und lediglich Driscoll
52 Bielo pointiert: „ […] means seriously cultivating relationships – not before or after a conver�sion attempt, but in place of it.“ Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 11. 53 Für eine kritische Auseinandersetzung von Seiten US-amerikanischer evangelikaler Theologie siehe Robertson, A Critical Analysis of Selected Evangelistic Strategies Within the Emerging Church Movement (2010). 54 Für eine kritische Auseinandersetzung mit dem emergenten Evangelisationsansatz siehe Ballard: „Evangelism and the Emergent Church Movement“, http://works.bepress.com/jordan_bal� lard/14/ am 12.10.2016. 55 Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010). 56 A. a. O., 270. 57 A. a. O., 164. 58 A. a. O., 272. Auch Smith stellt fest, dass traditionelle Predigten in der Konversation weniger vorkämen. „Thus to assert that all EC thinkers are eliminating the pulpit in worship would be a underassessment of the movement. However, it would be an equally large overstatement to say that EC thinkers are advocating preaching as it has been traditionally understood as oral communication. For some indeed the pulpit is perhaps a bit passé.“ Smith, „The Non-Verbal Illustration“ (2005), 140.
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13. Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation
als „evangelical“ beschreibt.59 Duncan weiter: „The preaching of the revisionist leaders cannot be considered the proclamation of the gospel.“60 Auf einer anderen Ebene werden Ansätze in der Konversation etwa durch wissenschaftliche Veröffentlichungen auf ihre Verwirklichung geprüft. Alvizo untersucht beispielsweise den Inklusivitätsbegriff in der Konversation und kommt zum Schluss, dass Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Trotz Bemühungen radikaler Partizipation gelänge es emergenten Gemeinschaften nur schwer, Inklusivität als eine auf Dauer ausgerichtete Handlung zu etablieren.61 Es kann festgehalten werden, dass der Großteil der ausführlicher verfassten Kritik an der „Emerging Church“-Konversation vornehmlich aus evangelikalen und evangelikal-fundamentalistischen Kreisen kommt, sowohl im US-amerikanischen als auch im britischen Kontext. Zudem fällt auf, dass es in der Auseinandersetzung mit der Konversation selten um Fragen der formalen oder organisatorischen Gestaltung einer Gemeinschaft geht, sondern mehrheitlich um theologische Fragen.
59 Duncan, „A Critical Analysis of Preaching in the Emerging Church“, 114–164. Beispielhaft dazu Duncan in seiner Untersuchung: „The thesis of this dissertation shows that preaching in the revisionist stream of the emerging church redefines truth and displaces the authority of God’s Word. Some revisionist leaders in the emerging church are redefining preaching into a more holistic group experience as well as redesigning many of the principles of our Christian faith.“ A. a. O., 9. Eine andere Arbeit aus US-amerikanischer evangelikaler Sicht stammt von Purdy, der die Predigten emergenter Protagonisten dem „expository preaching“, einem im Evangelikalismus häufig rezipierten Modell, gegenüberstellt und diskutiert. Purdys Untersuchung setzt sich mit der Rolle von „expositional preaching“ in der Postmoderne auseinander. Er sagt: „Some in Emerging Churches claim that traditional expository preaching, where the preaching is done entirely by the preacher, is unscriptural.“ Purdy, „Evaluating the preaching in the emerging church in light of traditional expositional preaching“, 176. 60 Duncan, „A Critical Analysis of Preaching in the Emerging Church“, 177. 61 Alvizo, „A Feminist Analysis of the Emerging Church“.
14. Einordnung in missionswissenschaftliche und kirchentheoretische Debatten
Im Folgenden werden Ansätze skizziert, die das Phänomen „Emerging Church“Konversation unter missionswissenschaftlichen und kirchentheoretischen Gesichtspunkten beschreiben. Das am häufigsten zitierte Modell – sowohl innerhalb der Konversation als auch außerhalb der Konversation – ist jenes des Anthropologen und Missionswissenschaftlers Paul Hiebert.1 Paul Hiebert schlug in den 1970er-Jahren des 20. Jahrhunderts im Blick auf christliche Sozialität vor, zwischen einem „bounded set“ und einem „centered set“ zu unterscheiden.2 Hieberts Ansatz wurde als „Mengenlehre“ bekannt. Hiebert stellt die Frage, wie die Mitgliedschaft zu einer Gemeinschaft geklärt wird. Ein „set“ beschreibt die Art und Weise, wie eine Vergemeinschaftung ihre Zugehörigkeit klärt, d. h. es beinhaltet zentrale Überzeugungen und Praktiken, nach denen Mitgliedschaft und Zugehörigkeit entschieden werden. Grundlegenden Überzeugungen sind ebenso die Unterscheidungsmerkmale für verschiedene Formen eines „set“. „Bounded set“ meint, dass Überzeugungen dazu dienen, klar zu unterscheiden, wer Teil der Gruppe ist. Sie sind Kriterien, um Gemeinschaftszugehörigkeit und Mitgliedschaft zu definieren, ein „drinnen“ und ein „draußen“.
Abbildung 15: „Bounded set“ – eigene Darstellung nach Hiebert
1
So zum Beispiel bei Tickle, The Great Emergence (2012), 158–159. Oder auch Murray, Church after Christendom (2004), 30. 2 Hiebert, „Conversion, Culture and Cognitive Categories“ (1978). Hieberts Typologie beinhaltete ursprünglich vier „set“-Typen, nämlich „bounded set“, „centered set“, „intrinsic fuzzy set“ und „extrinsic fuzzy set“. Hiebert, Anthropological Reflections on Missiological Issues (1994), 110–136.
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14. Einordnung in missionswissenschaftliche
„Bounded set“-Vergemeinschaftung definiert sich deshalb vornehmlich über Grenzen, die gezogen werden – beispielsweise hinsichtlich theologischer Lehrmeinungen, struktureller Kriterien oder Praktiken. Zuletzt liegt einem „bounded set“-Verständnis zugrunde, dass alle Elemente, die innerhalb der Grenzen zu finden sind, ihre essenziellen Charakteristika teilen und ein statisches Gebilde schaffen. Im Gegensatz dazu ist man bei einem „centered set“-Verständnis nicht damit beschäftigt zu entscheiden, ob alle Kriterien für eine Zugehörigkeit erfüllt sind. Zugehörigkeit wird hier vornehmlich durch die innere Verbundenheit zu dem das „set“ umkreisende Zentrum festgemacht – deshalb „centered set“.3 Die Energie fließt demnach in die Bewegung hin zum Zentrum und in die dynamische Verhältnisbestimmung zu dem Zentrum. „A centered set is created by defining a center or a reference point and the relationship of things to that center. Things related to the center belong to the set, and those not related to the center do not.“ Hiebert dazu: […] there are two variables intrinsic to centered sets. The first is membership. […] There are no second-class members. The second variable is distance from the center. Some things are far from the center and others near to it, but all are moving toward it […].“4 „Centered set“ unterscheidet sich demnach von „bounded set“ weiter darin, dass es die Möglichkeit einer Bewegung hin zum oder weg vom jeweiligen Zentrum gibt.
Abbildung 16: „Centered set“ – eigene Darstellung nach Hiebert
Paul Hiebert führt aus, dass das „bounded set“-Verständnis das anglo-amerikanische Gemeindeverständnis, besonders die evangelikale Theologie, stark beeinflusst habe. „If we think of ‚Christian‘ as a bounded set, we must decide what
3 Bergquist / Karr, Church Turned Inside Out (2010), 121. 4 Hiebert, „Conversion, Culture and Cognitive Categories“ (1978), 28.
14. Einordnung in missionswissenschaftliche
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are the definitive characteristics that set a Christian apart from a non-Christian. We may do so in terms of belief in certain essential doctrines. But here we face a dilemma.“5 Hiebert spricht sich dafür aus, ein „centered set“-Verständnis für die christliche Existenz zu entwickeln bzw. verstärkt wahrzunehmen. Christsein würde durch die Beziehungsqualität zu dem Zentrum „Jesus“ prozessorientiert und dynamisch verstanden werden können. Damit würden die verschiedenen Ausdrucksformen christlichen Lebens sowie Glaubensentwicklung angemessener erfasst werden. Hieberts Kategorien wurden sowohl von Vertretern der „relevant“-Strömung, wie Frost und Hirsch,6 als auch von „revisionist“-Vertretern, wie McLaren7, Jones oder Pagitt, aufgegriffen.8 Sie schließen sich Hieberts Empfehlung an, sich vermehrt auf ein „centered set“-Verständnis von christlichem Leben und christlicher Sozialität zu konzentrieren – sie unterscheiden sich jedoch darin, wie das umkreisende Zentrum zu verstehen ist. Durch McLaren wurde Hieberts Modell zu Beginn der zweiten historischen Phase in der Konversation populär. McLaren ordnet beispielsweise Evangelisation in der Postmoderne einem „centered set“-Verständnis zu.9 Christen seien demnach aufgerufen, „spiritual friend“ zu sein und die spirituellen Bewegungen von Personen zu begleiten. Während McLaren in der zweiten historischen Phase zunächst Hieberts „centered set“-Verständnis auf der individuellen Ebene integriert, sind es Frost und Hirsch, die das Modell auf Sozialität und gemeindliches Handeln übertragen. Sie entwickeln ein inkarnatorisches Verständnis von gemeindlichem Handeln („centered set“), das sich von einem attraktionalen Verständnis („bounded set“) unterscheiden will.10
5 A. a. O., 27. 6 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 47. „In some farming communities, the farmers might build fences around their properties to keep their livestock in and the livestock of neighboring farms out. This is a bounded set. But in rural communities where farms of ranches cover an enormous geographic area, fencing the property is out of question. In our home of Australia, ranches (called stations) are so vast that fences are superfluous. Under these conditions a farmer has to sink a bore and create a well, a precious water supply in the Outback. It is assumed that livestock, though they will stray, will never roam too far from the well, lest they die. That is centered set. As long as there is a supply of clean water, the livestock will remain close by.“ 7 McLaren, More Ready Than You Realize (2002); McLaren / Campolo, Adventures in Missing the Point (2003). 8 Für eine Darstellung der Rezeption in der „Emerging Church“-Konversation siehe: Yoder / Lee u. a., „Understanding Christian Identity in Terms of Bounded and Centered Set Theory in the Writings of Paul G. Hiebert“ (2009), 182–185. 9 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 10.2.3.8.3 Brian McLarens Ansatz. 10 Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 10.3.5 Inkarnierendes vs. attraktionales Missionsmodell.
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14. Einordnung in missionswissenschaftliche
Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass jene, die dem evangelikalen Gedankengut näherstanden, z. B. „relevants“ und Teile der „reconstructionists“,11 Hieberts „centered set“-Verständnis rezipierten – jedoch oftmals ohne explizit auf ihn zu verweisen.12 Protagonisten der „revisionist“-Strömung betonten hingegen seit dem Ende der zweiten historischen Phase das von Hiebert nachranging ausgeführte „fuzzy set“-Verständnis. Von Hiebert selbst wurde das „fuzzy set“ nicht auf christliche Sozialität übertragen, sondern es verblieb im ethnologischen Kontext. Das „fuzzy set“-Verständnis beschreibt, dass es unklare Grenzen des Übergangs von Zugehörigkeiten gibt, Zugehörigkeit über Beziehungen geklärt wird sowie Veränderungen prozesshaft beschrieben werden. Zudem gibt es die Möglichkeit, mehreren „sets“ anzugehören. Schließlich gibt es keinen stabilen Referenzpunkt und damit auch kein exkludierendes Zentrum oder Grenzen. Die Mitgliedschaft zur Gemeinschaft wird weder durch ein bestimmtes Bekenntnis zur christlichen Tradition definiert noch muss ein personales Bekenntnis zu Christus existieren. Das „fuzzy set“-Verständnis zeigt sich besonders bei den Protagonisten – vorwiegend jenen der „revisionist“-Strömung –, die beispielsweise Relationalität und selbstbestimmte Authentizität als orientierendes Kriterium christlicher Nachfolge beschreiben oder in der Debatte um „belonging“ und „believing“ eine Zuordnung beider Pole gänzlich verweigern. Die damit verbundenen problematischen Fragenkreise nach der Sozialität des christlichen Glaubens werden in der Schlussdiskussion aufgegriffen. Bei Doug Pagitt lässt sich das „fuzzy set“-Verständnis unter dem Begriff „relational set“ entdecken. Pagitt führt dies etwa in seinem Predigtverständnis „progressional dialogue“ aus, das von einer „relational hermeneutic“ geprägt ist. Tony Jones führt an, dass er dem „centered set“-Verständnis misstraue, da es seiner Ansicht nach ein „verdecktes“ „bounded set“-Verständnis sei. Jones meint: But the problem […] is that if you push a centered-set person into a corner on issues like inerrancy, they come out fighting like a bounded-set fundamentalist. In other words, scratch a centered-set person and underneath is a bounded-set person who retreats right back into the foundationalism of the traditional church.13 11 So greift beispielsweise Murray das Anliegen auf, dass christliche Gemeinschaften zuerst Platz in der Gemeinschaft bieten müssten, bevor ein christliches Bekenntnis abverlangt werden könne. Murray, Church after Christendom (2004), 30. Dies gilt ebenso für Vertreter der „post-foundationalist“-Debatte, wie Roger Olson und S tanley Grenz. Olson, Reformed and Always Reforming (2007), 59–60. 12 Yoder et al. verweisen auf die problematische Rezeption in der Debatte. Yoder / Lee u. a., „Un� derstanding Christian Identity in Terms of Bounded and Centered Set Theory in the Writings of Paul G. Hiebert“ (2009), 184. 13 Zitiert in Belcher, Deep Church (2009), 145.
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Im „relational set“ wenden sich emergente Protagonisten – besonders jene der „revisionist“-Strömung – gegen übergeordnete Instanzen, wie beispielsweise die Bibel, Traditionen oder Bekenntnisse. In dieser Hinsicht ist auch Jones’ Kommentar zu verstehen, der sich gegen jegliche inhaltliche Festlegungen wendet, sowohl „bounded set“ als auch „centered set“. Eine zusammenfassende Darstellung findet sich bei Hiebert.14
Abbildung 17: Hieberts „set“-Typologie
Eine kirchentheoretische Einordnung über die „Emerging Church“-Konversation präsentiert der britische emergente Protagonist Ian Mobsby. Er nimmt das Konzept des katholischen Theologen Avery Dulles auf, das dieser im Nachklang des Zweiten Vatikanums erörtert hat.15 Mobsby interpretiert die Vergemeinschaftungsformen in der „Emerging Church“-Konversation mit Dulles’ Verständnis von „Kirche als mystischer Gemeinschaft“ und „Kirche als Sakrament“.16 Die mystische Gemeinschaft formiere sich nicht institutionell (etwa durch Ämter oder inhaltliche Überzeugungen), sondern über Relationen. Dulles versteht unter „mystischer Gemeinschaft“, dass Kirche als Bruderschaft, als eine interpersonale Gemeinschaft, als Gemeinschaft untereinander und mit Gott etabliert werde.17 In diesem Verständnis sind „[…] external means of grace (sacraments, scripture, laws, etc) are secondary and subordinate; their role is simply to dispose peo14 Hiebert, Anthropological Reflections on Missiological Issues (1994), 112. 15 Dulles, Models of the Church (1991). Dulles erkennt in der Christenheitsgeschichte fünf Modelle der Kirche, die im Folgenden erörtert werden. 16 Mobsby, Emerging and Fresh Expressions of Church (2007), 55, 60. 17 Dulles, Models of the Church (1991), 40–55.
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ple for an interior union with God effected by grace.“ Dulles sieht eine Stärke dieses Verständnisses darin, dass es ökumenisch, also sowohl für Protestanten als auch für Katholiken anschlussfähig sei: „In stressing the continual mercy of God and the continual need of the Church for repentance, the model picks up Protestant theology […] [and] in Roman Catholicism […] when it speaks of church as both holy and sinful, as needing repentance and reform […].“18 Eine andere Stärke erweise sich darin, dass Modelle, die diesem Verständnis folgten, aufgrund ihrer inhaltlichen und strukturellen Beweglichkeit auf soziale und kulturelle Veränderungen schnell und angemessen reagieren könnten.19 „Kirche als Sakrament“ meine, dass die Vergemeinschaftung als sichtbares Zeichen der Gegenwart und des Wirkens Gottes erkennbar werde. Mobsby weiter: „[…] so that spectators may encounter god or sense the significance of the Church as a numinous sign.“20 Daneben stellt Dulles in seiner ersten Veröffentlichung 1974 drei weitere Modelle vor, die in der Neuauflage seines Buches „Models of Church“ (1987) um ein weiteres ergänzt werden.21 Vergemeinschaftungen können dem Verständnis folgen, dass Kirche als „Institution“ (durch Amt, Lehre, Dogmen), als „Botin“ (etabliert durch Verkündigung des Evangeliums und das Evangelium verkündigend) oder als „Dienerin“ (im Einsatz für die Erhaltung der Schöpfung und das Aufheben ungerechter Strukturen) ausgeformt wird. Ergänzt wurde das Verständnis Kirche als Lerngemeinschaft / „Jüngerschaftsschule“. In dem zuletzt erwähnten Verständnis betont Dulles, dass Kirche erst durch Jünger entstehe, also durch Menschen, die ihr Christsein in Gemeinschaft erlernen würden. Obwohl Mobsby auf die Ähnlichkeit zwischen emergenten Vergemeinschaftungen und den mystischen und sakramentalen Modellen hinweist, vergisst er zu betonen, dass Dulles von einer notwendigen integrativen Verhältnisbestimmung der insgesamt sechs Verständnisse gesprochen hat. Vereinzelt und von der regulierenden Kraft der anderen Modelle losgelöst, würde die Gefahr bestehen, von einem idealisierten und überspirituellen Bild von Gemeinde auszugehen – wie es in der Konversation zu beobachten ist. Sodann lassen sich kirchentheoretische Einordnungsversuche erkennen, die die „Emerging Church“-Konversation als kontextualisierte Vergemeinschaftungen
18 A. a. O., 46. Dulles weiter: „The biblical notion of Koinonia, […] that God has fashioned for himself a people by freely communicating his Spirit and his gifts […] this is congenial to most Protestants and Orthodox […] [and] has an excellent foundation in the Catholic tradition.“ A. a. O., 50–51. 19 A. a. O., 46, 50–51. 20 Mobsby, Emerging and Fresh Expressions of Church (2007), 60. 21 Dulles, Models of the Church (1974). Dulles, Models of the Church (1991).
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beschreiben. Diese finden sich in den Debatten um „new paradigm churches“22, „post-christendom churches“ und „new contextual churches“. Mit diesen Begriffen wird versucht, die in den letzten Jahrzehnten entstandenen neuen kontextualisierten Ausdrucksformen christlichen Lebens unter einem Begriff zusammenzufassen.23 Während Eddi Gibbs dafür den Begriff „post-christendom churches“24 einführt und damit ausdrückt, dass diese Formen von Gemeinschaften ihr gemeinsames Merkmal darin haben, dass sie in einer Zeit nach dem „Christendom“ gegründet wurden, definiert Michael Moynagh diese als „new contextual churches“25. Moynagh betont mit dem Begriff „new contextual churches“, dass diese neuen Gemeinschaften – wie sie ebenfalls in der Konversation zu beobachten sind – in besonderer Weise kontextuell sind und den Anspruch haben, Gemeinde zu sein. Moynagh, der selbst eine prominente Figur in der britischen fxC-Bewegung ist, wandelt seine Definition von der Beschreibung einer Fresh X ab: „[They] describe the birth and growth of Christian communities that serve people mainly outside the church, belong to their culture, make discipleship a priority and form a new church among the people they serve.“26 Als Antwort auf eine nach-christentümliche Zeit, d. h. eine Zeit, die nicht mehr geprägt ist von den christlichen Kirchen, entwickeln sich neue christliche Gemeinschaften, die sich gemäß Moynagh aus vier Quellen speisen. Diese sind: 1. die Gemeindepflanzungsbewegungen der 70er- und 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts, 2. die „Emerging Church“-Konversation, 3. die fxC-Bewegung und 4. eine Vielzahl von „Gemeinschaften in Mission“ („communities in mission“).27 In Anlehnung an die Definition einer fxC schließt Moynagh für „new contextual churches“ und damit für emergente Vergemeinschaftungen, dass diese mis22 Donald Miller erkennt seit den 1960er-Jahren eine Neuordnung des US-amerikanischen Protestantismus durch „new paradigm churches“. Der Autor stellt in seiner Studie fest: „[…] new paradigm churches and their members have responded to the therapeutic, individualistic, and anti-establishment themes of the counterculture. In each instance they have incorporated an element of these values into their religious life, while rejecting other implications of these stances.“ Miller, Reinventing American Protestantism (1997), 21. 23 Daneben gibt es auch den Versuch mit dem Begriff „emergent religion“ die kontextualisierten neuen Formen religiöser Gemeinschaften zu fassen. Siehe dazu: Juergensmeyer / Roof, Encyclopedia of Global Religion (2011), 339–341. 24 Gibbs, ChurchMorph (2009), 33–62. Gibbs identifiziert vierzehn gemeinsame Überzeugungen des emergenten Phänomens. A. a. O., 41–55. 25 Moynagh, Church for Every Context (2012), x. Vgl. dazu Moynagh, Church in Life (2017). 26 Moynagh, Church for Every Context (2012), x. 27 Diese vier Quellen können jeweils eine monastische Ausrichtung haben, die Moynagh mit „new monasticism“ beschreibt. A. a. O., xiii.
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sional („missional“), kontextuell („contextual“), lebensverändernd („formational“) und gemeindebildend („ecclesial“) seien.28 Für die „Emerging Church“-Konversation kann festgestellt werden, dass sowohl Gibbs’ als auch Moynaghs Definitionen hilfreich sind, um die pluralen und kontextuellen Vergemeinschaftungen der letzten Jahrzehnte zu benennen. Dabei wird in herausragender Weise ein Merkmal betont, dass in der Konversation selbst häufig diskutiert wird, nämlich Vergemeinschaftung unter postmodernen Bedingungen. Die Grenzen beider Begriffe werden jedoch schnell deutlich, wenn von „church“ gesprochen wird. In der „Emerging Church“Konversation sind lokale christliche Vergemeinschaftungen eine mögliche Kristallisationsmöglichkeit der Konversation, jedoch nicht die einzige. Die von Moynagh vorgeschlagene Definition lässt sich innerhalb der Konversation mit der „relevant“-Strömung ins Gespräch bringen, ist jedoch für „reconstructionist“ und „revisionist“ nicht nachzuzeichnen. An dieser Stelle ist Moynaghs Engführung des Begriffs auf fxC zu kritisieren und für die Konversation nicht dienlich.29 Eine andere Einordnung wird von dem reformierten US-amerikanischen Theologen Tim Keller vorgeschlagen, wenn er Gemeinschaften einordnen will im „landscape of christian cultural engagement“.30 Eine grafische Darstellung zeigt Folgendes:31
28 Die Übersetzung der Begriffe wurde an die Übersetzung des deutschsprachigen Fresh X-Netzwerks angeglichen. 29 Moynagh, Church for Every Context (2012), xx–xxi. Dabei gerät sein Ansatz in Gefahr die anderen Bewegungen zu sehr vereinheitlichen zu wollen beziehungsweise ihnen zu wenig gerecht zu werden. 30 Keller, Center Church Europe (2014), 207. 31 A. a. O.
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Abbildung 18: Einordnung religiöser Strömungen nach Tim Keller
Auf einer vertikalen und horizontalen Achse zeichnet er ein, wie protestantische Gemeinschaften, Denominationen, Konfessionen und Bewegungen hinsichtlich der sie umgebenden Kultur reagieren. Auf der vertikalen Achse ist das Verständnis der Kultur: konkret, ob sie „redeemable and good, or fundamentally fallen“32 ist. Im oberen Segment ist jenes Verständnis vertreten, dass Gott die Welt durch Gnade erhält und Gott in der Welt wirkt. Im unteren Segment ist das Verständnis abgebildet, dass die Welt ein dunkler Ort ist, an dem Gottes Wirken nur schwer zu erkennen und an das Handeln der Kirchen gebunden ist. Die horizontale Achse beschreibt das Selbstverständnis von Gemeinschaften in der Hinsicht, welche Rolle das eigene Engagement in der Veränderung der Kultur hat. Im linken Segment ist die Überzeugung zu finden, dass Einzelne die Kultur nicht verändern sollen / können, im rechten Segment wird die Überzeugung geteilt, dass ein positives Bild von Veränderung und Engagement vorherrscht. Keller zeichnet die „Emerging Church“ in den rechten, oberen
32 A. a. O., 208.
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14. Einordnung in missionswissenschaftliche
Quadranten ein, also jenen Bereich, in dem das Verständnis vorherrscht, dass Protagonisten die Kultur aktiv beeinflussen können und Gottes Wirken erkennbar scheint. Für Keller liegt die Stärke der „Emerging Church“ in Folgendem: „[…] are on the right because they […] spend much time reflecting on culture and enthusiastically calling Christians to become involved in culture in order to influence it for Christ.“33 Keller plädiert dafür, die Vorzüge der verschiedenen Modelle miteinander zu kombinieren und sich in die Mitte des Modells zu bewegen.34 The center of the diagram, near the meeting of the axes, represents a place where there is a greater reliance on the whole cloth of biblical themes – marked by an effort to hold together the realities of creation and fall, natural revelation and special revelation, curse and common grace, the ‚already but not yet‘, continuity and discontinuity, sin and grace.35
Keller beschreibt dies als „center church“-Modell. Zuletzt sei auf einen Ansatz des niederländischen Missionswissenschaftlers Henk de Roest verwiesen.36 Er beschreibt emergente Vergemeinschaftungsformen als „ecclesiologies at the margin“ und macht damit deutlich, dass sie sich von den traditionellen, althergebrachten Vergemeinschaftungsformen („mainstream“), unterscheiden.37 Der Autor erörtert, dass solche Gemeinschaften in Zeiten religiöser Unruhe am Rande etablierter kirchlicher Organisationen entstünden und dass sie notwendig seien, um den „mainstream“ zu hinterfragen. „The communities at the edges tend to focus upon one or two core beliefs or on practices with regard to community, mission and worship which are under emphasized in the mainstream churches. They aim at refocusing mission, reconfiguring community and refreshing worship, often initially concentrating on one or another.“38 Zunächst beschreibt der Autor, wie Vergemeinschaftung passiere und macht damit den spezifischen Charakter deutlich: „These communities are imagined as networks, being based on communication rather than gathering.“39
33 34 35 36 37
A. a. O. A. a. O., 211. A. a. O. de Roest, „Ecclesiologies at the Margin“ (2008). Er setzt die Begriffe „mainstream“, „mainline“, „traditional“ und „inherited models of church“ gleich. Damit beschreibt er den in Nordamerika auftretenden „Hauptstrom-Protestantismus“. 38 de Roest, „Ecclesiologies at the Margin“ (2008), 252. 39 A. a. O., 260.
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De Roest unterscheidet drei Ausformungen am Rande stehender ekklesialer Gemeinschaften: (1) „pre-millenialist churches“, (2) „critical-emancipatory groups“ und (3) „missional-contextual church movements“.40 Für ihn sind emergente Gemeinschaften Teil der letzten Gruppe, in der sich etwa auch „youth church movements“ wiederfinden. Während „pre-millenialist churches“, hier nennt er Sieben Tags Adventisten oder Apostolische Gemeinschaften, nach Paul Hieberts Unterteilung mit einem „bounded set“ agieren, sind „missionalcontextual“- und „critical-emancipatory“- Gemeinschafen entweder „centered set“ oder „fuzzy set“ orientiert. De Roest bemerkt, dass „marginal ecclesiologies“ Menschen anzögen, die „discontented with ‚mainline‘ expression of faith“ seien. Gleichzeitig stellt er fest, dass die „missional-contextual ecclesial groups“ offene theologische Entwicklungen haben. „The theological theories behind and in the practices of youth churches and emerging churches can be described as ‚ecclesiologies-tocome‘ and as such are open to various influences.“41 Damit sind solche ekklesialen Gemeinschaften instabil. „[…] we observe temporary, unstable, partial communities, in which people participate on a voluntary basis. They are communities of choice, evolving around what people find interesting, attractive or compelling, bringing a wide diversity together.“42 Ein zentrales Merkmal dieser Vergemeinschaftungen sei Innovation. Innovation werde durch neue sprachliche theologische Metaphern, die Verwendung von Symbolen und Ritualen sichtbar. Dabei spiele Kreativität eine entscheidende Rolle. De Roest pointiert, dass die Zukunft organisierter Religiosität von der Kreativität einer Minderheit abhänge, und diese nicht im „mainstream“, sondern an deren Rändern zu finden sei.43 Neben Innovation und dem Finden einer neuen Sprache und neuer Ausdrucksformen für die neue Gemeinschaft seien charismatische Personen und der Einfluss inspirierender Texte als Säulen wichtig. De Roest beschreibt, dass es Persönlichkeiten brauche, die eine vorherrschende, latente Unzufriedenheit katalysieren und Hoffnung für das Überwinden einer solchen aufzeigen könnten.44 Die Aufgabe solcher Gemeinschaften sieht de Roest darin, mit dem jeweiligen „mainstream“ im Dialog zu bleiben. Er sagt: Ecclesial group characteristics may become ‚appeals‘. Marginal communities offer new ways of experiencing God, new social practices, new healing rituals, new cre-
40 41 42 43 44
A. a. O., 251. A. a. O., 260. A. a. O. Siehe a. a. O., 253. Siehe a. a. O.
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14. Einordnung in missionswissenschaftliche
ative communication forms and, in some cases, even new revelatory texts that can give meaning to one’s life and the existence of the world. […] At the edge a group or church notices its collective identity more poignantly.45
Konkret erkennt de Roest das Potenzial von marginalen Gruppen in Folgendem: „These communities also serve to correct, challenge, confront and transform complacent Christian self-understanding and practices.“46 Henk de Roests Ausführung, die sich entlang der Konturen von traditionell verfassten Gemeinschaften und von diesen ausgehenden peripheren Vergemeinschaftungsformen orientiert, ist eine geeignete Beschreibung, um die „Emerging Church“-Konversation zu interpretieren. Sie ist deswegen besonders geeignet, da sie auf dem Ansatz fußt, dass periphere ekklesiale Formen sich aufgrund von Differenzen von der vormaligen traditionellen Orientierung losgelöst haben. Dies weist strukturelle Ähnlichkeiten zu dekonversiven Prozessen auf und ist damit mit dem Zugriff auf den Forschungsgegenstand in dieser Arbeit in besonderer Weise anschlussfähig. Als Ertrag der kurzen Darstellung der kirchentheoretischen Einordnungen kann festgehalten werden, dass sowohl die kritischen Ausführungen zur Rezeption Hieberts, zur Rezeption Dulles als auch Kellers und de Roests Argumentationsspuren in eine Richtung zeigen. Eine Neue Religiöse Bewegung, wie es die „Emerging Church“-Konversation ist, benötigt den Horizont anderer Strömungen und den Ausgleich durch andere Ansätze, um sich nicht zu radikalisieren oder belanglos zu werden. Unabhängig von der Brille, durch welche die Konversation interpretiert wird, ob als „centered set“ oder „fuzzy set“, mystische oder sakramentale Gemeinschaft, neue kontextuelle Gemeinschaft oder als periphere Vergemeinschaftung, sie benötigt für ihre nachhaltige Entwicklung (im Hinblick auf die Sozialität) und ihr Gedeihen den Dialog mit den ergänzenden Verständnissen. Ein „sowohl – als auch“ ist demnach unabdingbar. Eine theologische Verständigung zur Sozialität der „Emerging Church“-Konversation und eine kirchentheoretische Verortung erfolgt in Abschnitt IV.
45 A. a. O., 252. 46 A. a. O., 253.
Abschnitt III Dekonversionstheoretische Verständigung über den Untersuchungsgegenstand „Emerging Church“-Konversation
„I was raised Catholic, and then Baptist, and then Presbyterian. Seems like three different lives.“1 Emergenter Protagonist über seine religiöse Biografie „To undergo shipwreck is to be threatened in a most total and primary way. Shipwreck is the coming apart of what has served as shelter and protection and has held and carried one where one wanted to go – the collapse of a structure that once promised trustworthiness. Likewise, when we undergo the shipwreck of meaning at the level of faith, we feel threatened at the very core of our existence.“2 Parks über Übergänge in der religiösen Orientierung
1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses 1.1 Vorbemerkungen Im Folgenden wird ein Dekonversionsbegriff beschrieben, der dieser Arbeit zugrund liegt. Dafür werden die bisherigen Ergebnisse verschiedener Aspekte dekonversiver Prozesse gebündelt. Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass der Verlust von religiöser Erfahrung an sich nicht untersucht werden kann, sondern nur die bereits verarbeitete Versprachlichung. Dies bedeutet, dass die zur Verfügung stehenden Sprachsysteme, Symbole und Gemeinschaften, in denen diese Erlebnisse interpretiert werden, einen erheblichen Einfluss auf die Deutung und den Fortgang dekonversiver Prozesse haben. Yamane dazu: Thus, narratives are a primary linguistic vehicle through which people grasp the meaning of lived experience by configuring and reconfiguring past experiences in ongoing stories which have certain plots or directions and which guide the interpretation of
1 2
Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 41. Parks, The Critical Years (1986), 24.
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
those experiences. In searching for the meaning of a religious experience, therefore, we need to examine how people emplot or configure religious experiences in narratives.3
Yamane weist darauf hin, dass es eine sprachverstehende Soziologie braucht, die eine Interpretation der Narrative religiöser Erfahrungen erlaubt.4 Eine zweite Vorbemerkung soll angeführt werden. Die im Nachhinein stattgefundene Konstruktion von Dekonversionsnarrativen ergibt eine Problematik, die Fazzino pointiert herausstellt: „[…] participants amalgamated these stories into a single cohesive account of religious exile that was told from a deconversion perspective and situated in their biographical narratives.“5 Fazzino weist darauf hin, dass Dekonversionen rückblickend kohärent dargestellt werden.6 Es gilt somit den Hinweis ernst zu nehmen, dass die Versprachlichung und Einbettung dekonversiver Prozesse in die eigene Biografie kritisch zu betrachten sind. Bahr und Albrecht folgend kann gesagt werden, dass die Art und Weise wie Dekonvertiten ihre Prozesse erlebt und zu beschreiben gelernt haben, ihre Wirklichkeit und die weitere religiöse Identitätsbildung nachhaltig prägen. Die Autoren: „[what deconverts] perceived as real in their religious experience determinded their reactions and subsequently reality, regardless of the accuracy of that which was perceived“7. Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass diese Arbeit freiwillige Dekonversionsprozesse beachtet und nicht unfreiwillige oder erzwungene Dekonversionsprozesse, die im Kontext von Sekten und Kulten erforscht werden.8 3 Yamane, „Narrative and Religious Experience“ (2000), 183. Yamane schlägt vor, dass es dazu Langzeitstudien bräuchte, die untersuchten: „[…] how the meaning of a religious e xperience changes over time as people configure and reconfigure them as part of their ongoing life stories.“ A. a. O., 184. Streibs et al. Studie geht einem solchen biografischen induktiven Ansatz nach, jedoch nicht in einer Langzeitstudie. Damit können Veränderungen der Versprachlichung des religiösen Narrativs nicht nachgezeichnet werden. 4 Yamane weiter: „I argue that when we study religious experience we cannot study ‚experien�cing – religious experience in real time and its physical, mental, and emotional constituents – and therefore must study retrospective accounts – linguistic representations – of religious experiences. It is in the nature of experiencing and its linguistic expression that the two are loosely coupled and therefore we do not study phenomenological descriptions of experiences but how an experience is made meaningful.“ A. a. O., 173. 5 Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 255. 6 Wright et al. beachten diese Amalgamation zu einem Narrativ unter dem Gesichtspunkt des emotionalen Tones der von ihnen untersuchten Online-Erzählungen und kommen zum Schluss, dass es eine vielschichtige emotionale Stimmungslage zur eigenen Geschichte gibt. Wright / Giovanelli u. a.: „Explaining Deconversion from Christianity“, Journal of Religion & Society 13, https://dspace2.creighton.edu/xmlui/bitstream/handle/10504/64291/2011-21. pdf?sequence=1&isAllowed=y am 18.05.2018. 7 Bahr / Albrecht, „Strangers Once More“ (1989), 188. 8 Zum Begriff der erzwungen Dekonversionen, „de-programming“: Kim, „Religious Depro�gramming and Subjective Reality“ (1979). Robbins / Anthony, „New Religions, Families and Brainwashing“ (1978). Wright, „Reconceptualizing Cult Coercion and Withdrawal“ (1991).
1.2 Zum Begriff
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1.2 Zum Begriff Religionssoziologen verwenden eine Vielzahl von Begriffen, um Verlust und Lossagen von vormaligen religiösen Überzeugungen sowie das damit verbundene Verlassen religiöser Gemeinschaften zu beschreiben: „disengagement, role exiting, disaffiliation, apostasy, defection and withdrawl“9, „dropping out“ oder vereinzelt auch „converting out of “10. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Selbstbeschreibungen von Personen mit dekonversiven Erfahrungen: Dekonvertiten beschreiben sich als Atheisten, Agnostiker, Heiden („pagan“), Theisten, Ex-Christen u. a.11 Personen, die sich keiner religiösen Orientierung zuordnen, werden in der Literatur beschrieben als: „nones“, „leavers“, „lapsed“, „de-converted“, „no religionists“, „dissenters“12 – im Deutschen häufig: Apostaten, Dekonvertiten und vereinzelt Entkehrte13. Diese Vielzahl von Begriffen und unterschiedlichen Verwendungen ist irreführend. In der neueren Forschung werden die Begriffe „deconversion“, „disaffiliation“14, „religious switching“, „church-leaving“ und „exiting“ für das Phänomen des Verlassens einer Gemeinschaft und das Lossagen von einer religiösen Orientierung bevorzugt verwendet.15 Die Begriffe „disaffiliation“, „disengagement“ und „defection“ konzentrieren sich auf den sozialen oder gemeinschaftsbezogenen Aspekt und meinen nicht zwangsläufig Veränderungen der religiösen Identität16, weshalb sie daher nicht für einen mehrdimensionalen Begriff, wie er für diese Arbeit angestrebt wird, geeignet sind. Außerdem implizieren Begriffe mit Präfixen eine negative Konnotation, zum Beispiel „dis-affiliate“ oder „dis-identifier“.17 Auch der Begriff „Apostasie“18, der in der US-amerikanischen Diskussion häufig verwendet wird,19 lässt sich mit Craguns und Hammer problematisieren, da er
9 10 11 12 13 14 15 16 17
Barbour, Versions of Deconversion (1994), 170. Etwa bei Bahr / Albrecht, „Strangers Once More“ (1989), 180. Wright / Giovanelli u. a., Explaining Deconversion from Christianity. Wilson, Killing God (2015), 3. Dies ist etwa der Fall bei Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014). Dieser Begriff wurde bereits eingebracht von: Brinkerhoff / Burke, „Disaffiliation“ (1980). Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 17. So beschreiben das bereits: Bahr / Albrecht, „Strangers Once More“ (1989), 181–182. Für eine genauere Begriffsdarstellung siehe Cragun / Hammer, „One Person’s Apostate“ (2011), 155. Es gibt die Diskussion, die Begriffe nicht nur defizitorientiert zu formulieren, sondern positiv zu beschreiben. Dies betont etwa Brown: Brown, „Men Losing Faith“ (2013). 18 Apostasie ist ein wertender Begriff, der impliziert, dass jemand vom „richtigen Glauben“ ab� gefallen ist. So bei Barbour verwendet. Barbour, Versions of Deconversion (1994), 139. 19 Zum Beispiel bei McKnight / Ondrey, Finding Faith, Losing Faith (2008).
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
eine negative Zuschreibung im Sinn einer Bloßstellung konnotiert.20 Darüber hinaus wird der Begriff „Apostasie“ für Glaubensabfall („Abkehr vom Lehrund Lebenszusammenhang der Glaubensgemeinschaft“21) als Begriff aus der Innenperspektive einer Gemeinschaft verwendet und ist damit auch auf die Binnenperspektive reduziert.22 Da der Begriff „religious switching“ zuvor festgelegt wurde und der Begriff „church-leaving“ eine inhaltliche Engführung auf „church“ beinhaltet, wird der Begriff „Dekonversion“ für eine weitere Verwendung herangezogen. Der Begriff „Dekonversion“ ist relativ neu und wird, obwohl er seit Ende des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert vermehrt in verschiedenen Disziplinen verwendet wird, in der Forschung noch unterschiedlich eingesetzt.23 Da viele der aufgezählten Begriffe eine forschungsgeschichtlich enggeführte und defizitäre Konnotation haben24, wird in dieser Arbeit am neueren Begriff „Dekonversion“ festgehalten, obwohl dieser als Gegenbegriff zu „Konversion“ problematisiert und abgelehnt werden kann. Das Präfix „de“ wird jedoch nicht defizitorientiert interpretiert, sondern im Sinn des Zurücklassens einer bestimmten religiösen Orientierung. Gemeinsam werden die Begriffe Konversion und Dekonversion unter das Stichwort Veränderung der religiösen Orientierung gestellt.25 Oder anders: Dekonversion ist wie Konversion ein viel20 Cragun und Hammer dazu: „[it] distinguishes them [exiters] from other converts in a way that suggests they have done something deviant […].“ Cragun / Hammer, „One Person’s Apostate“ (2011), 160. 21 Schoberth, Art. „Glaubensabfall. I. Zum Begriff “ (2000). 22 Schoberth stellt fest, dass in der Außenperspektive „Glaubensabfall“ in Form von Religionswechsel sichtbar wird. 23 Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004), 181. Streib dazu: „Deconver�sion is not a well-established keyword in the literature, neither in the psychology or sociology of religion nor in practical theology, and even less so in religious communities.“ Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 17. Beispielhaft für den Gebrauch des Begriffs in der Literatur siehe Walker, „Conversion, Deconversion, and Reversion“ (2009). In der gegenwärtigen Forschung gibt es noch immer sehr reduzierte Definitionen von Dekonversion, wie etwa bei Fazzino, der Dekonversion mit Säkularisierung in Verbindung bringt. „Deconversion is both a dynamic multi-stage experience of transformative change marked by both liberation from and opposition against and a repertoire of symbolic meaning that supports a rapidly growing secular culture.“ Zuzustimmen ist der multi-dimensionalen Erfahrung, die sich als eine Loslösung und Ablehnung von einer vormaligen Überzeugung beschreiben lässt. Zu kurz gegriffen ist jedoch, wenn das säkulare Feld als einziges Ausstiegsszenario dekonversiver Prozesse gesehen wird. Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 250. 24 Enggeführt etwa dadurch, dass sie im Kontext des Verlassens einer Sekte aufgekommen sind. 25 Hier folge ich dem Religionspsychologen Raymond Paloutzian, der den Begriff der Transformation wählt, um die religiöse Veränderung zu beschreiben. Mit diesem Begriff können sowohl Konversion als auch Dekonversion als Subkategorien von spiritueller Transformation beschrieben werden. Paloutzian, Art. „Religious Conversion and Spiritual Transformation“ (2005), 334.
1.3 Unterscheidung zwischen Konversion und Dekonversion
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gestaltiger psychodynamischer Vorgang. Beide Begriffe können in einem Prozess religiöser Identitätsbildung in Wechselwirkung stehen, müssen aber nicht.26 Dekonversion hat die Berechtigung, als eigenes Phänomen verstanden zu werden.27 Weiter wird der Einsicht gefolgt, dass ein Prozess der Loslösung von vormaligen Überzeugungen, Praktiken und einer Gemeinschaft eine identitätsstiftende Funktion für die jeweilige Person hat und damit ein eigenes Phänomen darstellt. Ebaugh sagte bereits 1988: „Becoming an ex is a unique role experience because identity as an ex rests not on one’s current role but on who one was in the past […] the dynamics of disengagement are very different from the dynamics of becoming socialized into a new role.“28 In dieser Arbeit werden Personen, die ihre vormalige religiöse Orientierung zurücklassen, als Dekonvertiten bezeichnet. Mit der Bezeichnung „religiöse Orientierung“ sind die sechs Dimensionen der Religiosität nach Glock gemeint: Intellekt, Ideologie (Überzeugungen), öffentliche Praxis, private Praxis, Erfahrung und Konsequenzen.29
1.3 Unterscheidung zwischen Konversion und Dekonversion Es erscheint zu unspezifisch, Konversion und Dekonversion nur allgemein als Veränderung der religiösen Identität zu beschreiben30, beide Begriffe in eine zwingende Abhängigkeit zu stellen (wie dies Barbour tut) oder sie schlicht gleichzusetzen.31 Im letzten Fall wäre beispielsweise die bewusste Selbstzuschreibung als „none“ auch eine Konversion, wie dies etwa Cargun und Hammer vorschlagen. 26 Hier bedarf es größerer begrifflicher Trennschärfe, als es etwa bei John Barbour der Fall ist. 27 Zur Berechtigung der Eigenständigkeit dieses Forschungszweiges siehe Wulff, „A Century of Conversion in American Psychology of Religion“ (2002), 55. So auch: Hood / Chen, „Conver�sion and Deconversion“ (2014), 538. 28 Ebaugh, Becoming an Ex (1988), 180–181. 29 Vgl. QR-Code im Vorwort, dort: Exkurs: Anschlussfähigkeit des Dekonversionsbegriffs an Kerndimensionen der Religiosität. 30 Wie dies Cragun und Hammer für Konversion und Streib et al. für Dekonversion tun. C ragun / Hammer, „One Person’s Apostate“ (2011). 31 So argumentieren auch McKnight und Ondray, die darstellen, dass eine Bewegung hin zu einer Orientierung gleichzeitig eine Bewegung weg von einer Orientierung ist, und deshalb die Begriffe gleichsetzen. Vgl. Abschnitt I Kapitel 2.1.2.5 McKnight / Ondrey „Finding Faith, Losing Faith“ (2008). Nach der vorgestellten Definition beinhaltet „religious switching“ dekonversive Prozesse, wenn eine Person sich innerhalb des organisierten religiösen Feldes neu orientiert und zuordnet. Dies beinhalte dann zugleich eine Konversion.
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
Das ist insofern abzulehnen, als „nones“ keine einheitliche (wenn überhaupt) religiöse Orientierung haben und damit eine erstrebenswerte Identität für einen konversiven Prozess fehlt. Es braucht eine klare Unterscheidung beider Begriffe. Zunächst das Gemeinsame: „Konversion“ und „Dekonversion“ sind Veränderungsprozesse der religiösen Orientierung. Mit Paloutzian können „Konversion“ und „Dekonversion“ unter den Begriff „spiritual transformation“ eingeordnet werden, also die Veränderung der religiösen Identität. Beide Begriffe und Prozesse sind folglich miteinander verbunden. Paloutzian schreibt: „[…] a spiritual transformation constitutes a change in the meaning system that a person holds as a basis for self definition, the interpretation of life, and over arching purposes and ultimate concerns […].“32 Gleichzeitig sollen fünf Unterscheidungsmerkmale angeführt werden. a) Konversion wird in dieser Arbeit in Anlehnung an William James als Verschiebung religiöser Vorstellungen im Bewusstsein des Subjekts verstanden. Es findet eine Verschiebung von der Peripherie ins Zentrum statt. Das ehemals Periphere nimmt nach der Konversion einen Mittelpunkt im persönlichen Innenleben ein.33 Ausgehend von dieser Beschreibung kann in einer ersten definitorischen Annäherung im Umkehrschluss gefolgert werden, dass vormals zentrale Überzeugungen bei einem dekonversiven Prozess an die Peripherie des Bewusstseins rücken.34 Hinzu kommen, neben der intellektuellen Dimension (Überzeugungen), beispielsweise Erfahrungen des Verlusts (etwa von der Gemeinschaft), die einen Verschiebungsprozess signalisieren. b) Ein weiterer wesentlicher Unterschied wird deutlich, wenn die Konversionsbzw. Dekonversionsnarrativen verglichen werden. Während es zwischen den Konversions- und Dekonversionsprozessen tatsächlich große Übereinstimmungen gibt, unterscheiden sich doch die Narrative der Konvertiten von denen der Dekonvertiten (d. h. wie über die Konversion bzw. Dekonversion gesprochen wird)35. Für Konvertiten sind positive Beschreibungen 32 Paloutzian, Art. „Religious Conversion and Spiritual Transformation“ (2005), 334. 33 James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit (1907), 187. Hiermit schließe ich mich der Begriffsdefinition des Beitrags von Zimmermann und Schröder in der deutschsprachigen Konversionsforschung an. Zimmermann / Schröder (Hg.), Wie finden Erwachsene zum Glauben? (2010). 34 Francis und Richter, die von einem engen Zusammenhang zwischen Konversion und Dekonversion ausgehen, sagen: „Deconversion constitutes either a journey out of faith or conversion to another more plausible religious way of interpreting reality and self-identity. In the process, much of what happened at conversion begins to go into reverse, although it would be too simplistic to describe it as merely a mirrow image.“ Francis / Richter, Gone But Not Forgotten (1998), 17. 35 So argumentiert etwa Fazzino im Anschluss an Barbour. „Religion plays a major role in ea� sing the convert’s transformation by providing an institutionalized set of guidelines for beliefs, behaviors, and expectations that are socially supported and reinforced […]. One’s ideological destination is identified, embraced, and immediately available. A positive emotional response
1.3 Unterscheidung zwischen Konversion und Dekonversion
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aufgrund einer neu gefundenen Identität bestimmend. Bei Dekonvertiten herrschen dagegen eine Krisenrhetorik und eine auf negative Aspekte konzentrierte Rhetorik vor. c) Überdies muss betont werden, dass sich zwar die Ausgangslagen der Personen mit konversiven oder dekonversiven Prozessen nicht voneinander unterscheiden, die Zielrichtungen der Prozesse jedoch deutlich auseinandergehen. Während bei Konversionen die Zielrichtungen (in ihrer Vielfalt) ausschlaggebend sind (und es damit zu einem Stabilisierungsprozess der religiösen Identität kommt), sind Dekonversionsverläufe für den Dekonvertiten in Bezug auf die neu zu erlangende religiöse Identität zunächst diffus und unbestimmt. Wie in der aktuellen Dekonversionsforschung gezeigt wird, gibt es eine Vielzahl von Ausstiegsverläufen (ins säkulare Feld, innerhalb des organisierten religiösen Feldes und in das unorganisierte oder privatisierte religiöse Feld), die es zu berücksichtigen gilt. Bei Dekonversionsprozessen ist durchaus nicht vorgezeichnet, wohin sich die jeweilige Person neu orientiert oder ob eine neue religiöse Identität gebildet wird. d) An dieser Stelle soll John Barbours Unterscheidung von „turning to“ (Konversion) und „turning from“ (Dekonversion) aufgegriffen werden. Bei einer Dekonversion verändert eine Person ihre religiöse Orientierung an einem bestimmten biografischen Punkt insofern, als die Betonung des Individuums auf Verlust, Loslösung und Abgrenzung zum Vormaligen liegt.36 Streib et al. sagen dazu: Thus, deconversion is the change of a person’s religious orientation in a specific biographical time which involves re-writing one’s religious identity, revising one’s system of beliefs and world views, and re-structuring one’s way of thinking, moral judgement, and dealing with authority – with a special focus on the act of leaving the old and searching for something different.37 arises from a sense of control and reliance on a higher power, a sense of assurance, feelings of ecstasy, and liberation through self-surrender […]. Biographical reconstruction relies on canonical metaphors (e. g. God is love), begins with forgiveness of the ‚old‘ self, and culminates in a strong emphasis on continual affirmations of the ‚new‘ self […]. Personal transformation is marked by personality re-orientation, behavioral alterations, and the suspension of analytic reasoning […]. The Christian conversion perspective encourages conformity within a system of religious hegemony and a privileged status in contemporary American society. The deconversion perspective relies on crisis rhetoric to situate spiritual struggle at the narrative core, emphasizing movement away from faith […]. Ideological destinations are often ambiguous or unknown […]. Disillusionment and disenchantment preceding deconversion provoke feelings of rejection, alienation, grief, and guilt […].“ Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 251. 36 Dies wird etwa auch aufgegriffen von: Harrold, „Deconversion in the Emerging Church“ (2006). 37 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 23. Die Betonung der Loslösung wird etwa auch von folgendem Autor im Kontext der Dekonversionsdefinition betont: Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 251.
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
e) Dekonversion, als Veränderung der religiösen Orientierung, beinhaltet, dass die vormalige religiöse Identität (dazu gehören Glaubenssystem, Weltsicht, moralische Urteilsbildung und Umgang mit Autoritäten) zurückgelassen und möglicherweise neu gebildet wird. Trotz der Loslösungsprozesse befindet sich das Individuum nicht in einem Vakuum, sondern wie Fazzino sagt: „The emphasis is kept on the loss of the old self and all religious ties while the individual reaffirms a commitment to seeking truth, morality, and community.“38 Eine solche Neubegründung passiert dann mit einem besonderen Fokus auf den Umstand des Verlassens vormaliger Überzeugungen und Handlungen („turning from“). Streib et al.: „Deconversion involves criticism and abandonment of cognitive schemata, exiting from a style of being religious.“39 Im Zurücklassen eines religiösen Schemas wird der religiöse Stil verändert (im Gegensatz zur bewussten Annahme eines neuen Stils). Der entscheidende Unterschied zwischen Konversion und Dekonversion liegt, in John Barbours Terminologie gesprochen, darin, woher die treibende Energie für die Veränderung der religiösen Orientierung kommt und damit die Rekonstruktion der religiösen Identität (wenn auch nur im Zwischenstadium). Wenn die Energie aus der Abgrenzung und der Distanzierung von vormaligen Überzeugungen, von der Gemeinschaft, von Emotionen, Verhalten und Weltsicht kommt („turning from“), kann von Dekonversion gesprochen werden. Religiöse Identität wird dann hauptsächlich in Kontrast und Ablehnung zu vormaligen Überzeugungen gebildet.40 Damit wird eine vormalige religiöse Orientierung bei dem für diese Arbeit zugrunde liegenden Dekonversionsbegriff vorausgesetzt. Wenn die Energie aber aus der erhofften Annahme einer neuen Überzeugung, einer neuen Gemeinschaft, neuer Emotionen, eines neuen Verhaltens und einer neuen Weltsicht kommt („turning to“), kann von Konversion gesprochen werden. Konversion ist dann die Hinwendung zu einer bestimmten religiösen Orientierung (welches durchaus das Zurücklassen bestimmter Orientierungen mit sich bringen kann) und führt zu einer daraus folgenden deutlich erkennbaren neuen religiösen Identität. Dekonversion dagegen ist die Abwendung von
38 Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 252. 39 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 23. 40 Fazzino dazu: „[…] the majority of the participants continually emphasized who they were as believers in order to develop, understand, perpetuate, and justify who they are as non- believers. Emphazing the negative cognitive, social, and emotional effects of religious belief and participation solidified participants’ transformations as non-believers by allowing their experiences with spiritual doubt and trauma to serve as a constant reminder of the effects of religious discrepancies which had a negative impact on their lives.“ Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 260.
1.3 Unterscheidung zwischen Konversion und Dekonversion
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einer bestimmten religiösen Orientierung und führt zu einer unsicheren, nicht eindeutig erkennbaren religiösen Identität.41 Dies korrespondiert damit, dass das Individuum in seiner Konversion vorzugsweise das „neue Ich“ betont, während Individuen in dekonversiven Prozessen den Verlust des „alten Ichs“ darstellen. Während bei Konvertiten ihre Zweifel ein Ende finden, sind Zweifel und die Suche nach Wahrheit für Dekonvertiten ständige Begleiter. f) Auf der emotionalen Ebene lassen sich zudem bei Konversionen zuerst mehrheitlich Gefühle des Vertrauens, der Vergewisserung und Ekstase beobachten, während bei Dekonversionen Trauer, Schuldgefühle, das Gefühl der Ablehnung und Entfremdung vorherrschen. Obwohl bei bestimmten Konversionsverläufen ebenso dekonversive Prozesse vorgeschaltet sein können (und damit ebenso die beschriebenen Emotionen vorkommen können), werden die emotionalen Reaktionen von Dekonvertiten im Loslösungsprozess als vorwiegend negativ dargestellt.42
Abbildung 19: Unterscheidung zwischen Konversion und Dekonversion 41 Wenn man Konversions- und Dekonversionsprozesse in ein Verhältnis setzt und nach einem Zusammenhang sucht, kann danach gefragt werden, ob bestimmte Konversionswege die Dekonversionsprozesse beeinflussen. In der gegenwärtigen Forschung wird auf einen Zusammenhang von Konversion und Dekonversion wie folgt hingewiesen: „[…] deconversion is not independent of the type of conversion experience […].“ Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004), 194. 42 Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 252.
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
1.4 Inhaltliche Merkmale der dekonversiven Prozesse Der Dekonversionsbegriff, der dieser Arbeit zugrunde liegt, wird von Heinz Streib et al. auf der Basis von John Barbours vier Merkmalen von Dekonversionsnarrativen und Charles Glocks Dimensionen der Religiosität definiert. Diese Erkenntnisse werden anhand der bereits dargestellten Forschungsergebnisse sowie durch aktuelle Studien der Dekonversionsforschung reflektiert und ergänzt. Fünf inhaltliche Merkmale werden dabei einerseits als Synthese der aktuellen Ergebnisse der Dekonversionsforschung dienen und andererseits als umfassende inhaltliche Begriffsklärung für den in dieser Arbeit verwendeten Dekonversionsbegriffs.43 Dekonversion wird in dieser Arbeit vielschichtiger definiert, als nur als Prozess des Loslösens von Überzeugungen und von einer Gemeinschaft.44 Barbours vier Kennzeichen werden als grundlegende Merkmale dekonversiver Prozesse ausgemacht: (1) Zweifel oder Ablehnen eines Glaubenssystems, (2) moralische Kritik an dem Lebensvollzug Einzelner oder der Gemeinschaft, (3) emotionale Leiderfahrung, entweder Trauer, Schuld, Einsamkeit oder Verzweiflung, (4) Ablehnung oder Entfremdung von einer Gemeinschaft. Wie bereits bei Streib et al. werden diese um eine weitere Dimension ergänzt: (5) den Verlust von religiösen Erfahrungen. 1. Das erste Merkmal beschreibt den Aspekt intellektueller Zweifel oder Ablehnung eines Glaubenssystems.45 Dabei handelt es sich nicht um punktuelle Zweifel, sondern, wie Coates beschreibt, um Zweifel als zyklischen Prozess.46 Inhaltlich erwähnen Dekonvertiten häufig die Diskrepanz zwi43 Dabei wurden zusätzlich zu den dargestellten Studien die Ergebnisse der gegenwärtigen Forschung beachtet und aufgezeigt, wenn nennenswerte Differenzen auftreten. 44 Dies ist noch bei folgenden Autoren aus der Anfangszeit der Dekonversionsforschung der Fall: Brinkerhoff / Mackie, „Casting off the Bonds of Organized Religion“ (1993). Caplovitz / Sher�row, The Religious Drop-outs Apostasy Among College Graduates (1977). Oder aber auch bei McKnight / Ondrey. Fazzino hingegen spricht beispielsweise bereits die kognitive, soziale, emotionale und persönliche Dimension an, wenn er sagt: „Their deconversion stories emphasized negative cognitive, social, and emotional experiences with religion, difficulties in rejecting faith, movement away from religious belief and participation, and personal transformations.“ Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 255. 45 So auch bei McKnight / Ondrey, Faix, Jamieson, Francis / Richter, Fanstone, Aisthorpe. Auch Coates gibt an: „[…] doubts and disillusionment as integral to disaffiliation […]“. Coates, „Disaffiliation from a New Religious Movement“ (2013), 318. Die unzureichenden kognitiven Plausibilitätsstrukturen werden auch erwähnt bei Adam, „Leaving the Fold“ (2009), 54. 46 Coates, „Disaffiliation from a New Religious Movement“ (2013), 319. Fazzino spricht von: „repeatedly contradicted by intellectual discrepancies“ Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 256. Mauss spricht von: „disbelief of certain central tenets of a religion, accompanied, presumably, by a belief in rival secular doctrines“. Mauss, „Dimensions of Religious Defection“ (1969), 129.
1.4 Inhaltliche Merkmale der dekonversiven Prozesse
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schen Theologie und Wissenschaft, Glaube und Vernunft. Weitere inhaltliche Stolpersteine sind: Schwierigkeiten mit dem Gottesbild47, Kirchen- und Christentumskritik, Bedenken hinsichtlich des Umgangs mit menschlichem Leiden, Vorstellungen von der Hölle, Fragen zur Autorität der Bibel oder allgemein der Umgang mit der Bibel.48 Daneben werden auch die Verquickung von politischen mit religiösen Motiven und Zielen,49 sexualethische Themen oder Leitungsverständnisse als Grund für Dekonversionen angegeben. An dieser Stelle soll die Unterscheidung zum Begriff „Häresie“ angeschlossen werden, da Häresie zwar eine zur religiösen Orientierung gehörige Wahrheit als solche ablehnt, aber nicht notwendigerweise schon einer Dekonversion gleichkommt. Häresien können jedoch Teil des Loslösungsprozesses von einer religiösen Orientierung sein und sind damit der intellektuellen Dimension des Dekonversionsbegriffs zugeordnet.50 2. Die moralische Kritik bezieht sich auf das Zurückweisen spezifischer Vorschriften von Einzelnen oder der religiösen Gemeinschaft. Unter diesem Merkmal wird auch eine empfundene Diskrepanz zwischen dem Ideal einer Gruppe oder Überzeugung und der tatsächlichen Umsetzung oder Realisierung inkludiert.51 47 Beispielsweise bei Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 137. 48 Z. B. bei Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 256. Oder: Wright / Giovanelli u. a., Ex�plaining Deconversion from Christianity. So auch in Murken, bei dem Zweifel am gerechten Gott, Kränkungen, Enttäuschungen, negative und kritische Gottesbilder als Konkretionen des Zweifels untersucht werden. Murken (Hg.), Ohne Gott leben (2008), 39–138. Vgl. dazu auch Wilson, Killing God (2015). 49 Diese These kommt bereits bei Campell und Putnam vor, die argumentieren, dass die Verquickung von konservativer Politik in der Kirche der Grund dafür sei, dass Menschen nicht nur Politik, aber auch Religion den Rücken zukehrten. Campbell / Putnam, „God and Caesar in America“ (2012). Diese These ist auch zu finden bei Hout / Fischer, „Why More Americans“ (2002), 185. Aktuell bestätigt hat dies: Vargas, „Retrospective Accounts“ (2012). 50 Im christlichen Sprachgebrauch wird Häresie wie folgt definiert: „Von Häresie […] kann nur dort die Rede sein, wo eine der kirchlichen Lehre widersprechende Überzeugung mit dem Anspruch vertreten wird, dass allein in ihr die Wahrheit des christlichen Glaubens zur Sprache kommt. Häresie ist also durch zweierlei zugleich gekennzeichnet: durch den Widerspruch gegen die herrschende Lehre einer religiösen Gemeinschaft und die Zugehörigkeit zu ihr.“ Huber, Art. „Häresie III. Systematisch-theologisch“ (1985), 345. 51 So beschreiben es etwa auch Faix, McKnight / Ondrey, u. a. Coates, „Disaffiliation from a New Religious Movement“ (2013), 319. Harrold, „Deconversion in the Emerging Church“ (2006). Fazzino dazu: „Experiencing rejection and hypocrisy began to invalidate their perceived au�thenticity of Christianity […]. Rejection often stemmed from failing to meet Christian expectations.“ Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 256. Bei Winell etwa „sexism and partriarchy“. Winell, Leaving the Fold (1993), 93. Obwohl bei Faix et al. dieses Kriterium von den Gesprächspartnern nicht genannt wurde, wird daran aufgrund der Mehrheit der anderen Forschungsbelege festgehalten. Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 167.
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
3. Das Kriterium „emotionale Leiderfahrung“ wird beispielsweise durch Schmerz, Trauer, Schicksalsschläge, den Verlust des Eingebettetseins oder durch den Verlust des Gefühls von Stabilität und Sicherheit hervorgerufen.52 Eine andere Dimension von Leiderfahrungen ist unter dem Stichwort der Kränkung zu finden. Geppert und Saupe haben bei ihren Interviewpartnern entdeckt: „Kränkungen können bei Gläubigen durch Angehörige der Kirche, wie Seelsorger, Gemeindemitglieder oder Pfarrer, entstehen. Auffällig oft sind das Personen, die früher für den Betreffenden bedeutsam waren. Werden diese mit Gott oder der Institution Kirche gleichgesetzt, kann aus der Kränkung der Entschluss zur Gottlosigkeit rühren.“53 4. Der Verlust des Zugehörigkeitsgefühls zu einer Gemeinschaft, der Rückzug von der Teilnahme an Veranstaltungen und die Entfremdung von religiösen Praktiken, bis hin zur Beendigung der Mitgliedschaft beschreiben den vierten Aspekt.54 Fazzino bezeichnet den Verlust der Gemeinschaft als Verlust der sozialen Beziehungen und sagt: „Religious affiliation is comprised of a web of multiple social ties and disaffiliation often requires the severing of both primary and secondary associations.“55 Weiter kann es für Dekonvertiten durch das Gefühl von sozialer Instabilität und durch das Erleben des Bruchs ehemals stabiler sozialer Bindungen zu einem Verlust körperlichen Wohlbefindens kommen.56 Diese physischen Konsequenzen sind bei den Personen, die ohne religiöse Zugehörigkeit und Orientierung aufgewachsen sind, jedoch nicht zu beobachten. Es zeigt sich, dass der Verlust religiöser Orientierung besonders für jene, die ihre Orientierung in innigen und sozial engmaschigen Gemeinschaften erlebt haben, Konsequenzen für die Gesundheit hat.57
52 Bei Coates als „emotional exhaustion“ beschrieben. Coates, „Disaffiliation from a New Religious Movement“ (2013), 318. Bei Winell als „disappointment“ beschrieben. Winell, Leaving the Fold (1993), 94–96. 53 Geppert / Saupe, „Kränkungen und Enttäuschungen im religiösen Kontext“ (2008), 111. 54 Auch bei Barbour, Versions of Deconversion (1994), 2. Bielo, „Belief, Deconversion, and Authenticity Among U.S. Emerging Evangelicals“ (2012), 265. Dekonversion ist, mit den Wor�ten von Heinz Streib, zunächst als „disaffiliation from a religious organisation“ zu beschreiben. Streib, „Deconversion“ (2014). 55 Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 259. Dies beschreiben auch: Sandomirsky / Wilson, „Processes of Disaffiliation“ (1990). 56 Fenelon und Danielsen in ihrer Untersuchung genauer dazu: „We find that this effect is stron� gest for Evangelical Protestants and Catholics and does not exist for Mainline Protestants. We suggest that these disadvantages largely reflect the loss of the social benefits of religion following disaffiliation, but also find evidence for a role of the spiritual aspects among Evangelical Protestants.“ Fenelon / Danielsen, „Leaving my Religion“ (2016). 57 A. a. O., 59. Ebenso bei Scheitle / Adamczyk, „High-cost Religion, Religious Switching, and Health“ (2010).
1.4 Inhaltliche Merkmale der dekonversiven Prozesse
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5. Das fünfte Merkmal beschreibt den Verlust spezifisch religiöser Erfahrungen, etwa den Verlust von Sinngebung, Bedeutung, Gotteserfahrung, Vertrauen oder Ehrfurcht.58 Aus der bisherigen Darstellung der Forschungsergebnisse kann festgehalten werden, dass sowohl ein aktives Subjekt notwendig ist (Intellekt, Moral) als auch externe und interne Krisen (etwa in emotionaler Leiderfahrung) Einfluss auf den Prozess haben. Diese Arbeit folgt zudem der Überzeugung, dass es sowohl plötzliche als auch graduelle Dekonversionen gibt.59 Während einige den Versuch unternommen haben, ihre festgestellten Kennzeichen in eine Reihenfolge zu bringen, und beispielsweise von Faktoren sprechen, die für Dekonversion notwendig sind (Intellekt und Moral), und von resultierenden Merkmalen, wie Dekonvertiten ihre Dekonversionsnarrative erzählen (emotionales Leiden und Loslösung von einer Gemeinschaft)60, wird eine Abfolge in dieser Arbeit abgelehnt.61 Stattdessen wird einerseits der Dekonversionsbegriff als polythetischer Begriff und andererseits im Sinn eines „integrativen Prozessmodells“ (siehe dazu später) verhandelt. Polythetisch meint, dass nicht alle, jedoch einige Charakteristika erfüllt sein müssen, um ein Schema zu erfüllen.62 Polythetische Klassifikationen sind weder völlig ausschließlich noch eindeutig (im Gegensatz zur traditionellen Auffassung einer Klasse). Das heißt, dass eine polythetische Klasse zwar auf
58 Hier: Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004), 191. Wegen des Er�fahrungsverlusts kann „the attraction to a new kind of religious experience“ ein wesentliches Element in der Dekonversion sein. A. a. O. So auch bei Wright / Giovanelli u. a., Explaining Deconversion from Christianity. 59 Hood und Chen betonen, dass in plötzlich auftretenden Dekonversionen eher emotionale Fakoren vordergründig sind, während in graduellen Dekonversionen kognitive Faktoren überwiegen. Hood / Chen, „Conversion and deconversion“ (2014), 541. 60 Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 251. 61 Fazzino unterteilt in eine Pre-Dekonversion-Stufe, die von religiösem Zweifel und emotionalen Leiden geprägt ist und eine kognitive Dekonversion nach sich zieht, die schließlich von einer Post-Dekonversions-Stufe geprägt ist, die wiederum eine persönliche Transformation hervorbringt. A. a. O., 255. Dies ist jedoch nicht trennscharf darzustellen, da Personen ihre dekonversiven Prozesse kohärent konstruieren und eine Schrittreihenfolge nur schwer nachträglich rekonstruiert werden kann. 62 Der Begriff „polythetisch“ findet sich in der Diskussion um eine Religionsdefinition. Bergun� der, „Was ist Religion“ (2011), 7–9. Es kann unterschieden werden in eine substanzielle, eine funktionale oder eine polythetische Dekonversionsdefinition. Die substanzielle Methode gibt ein inhaltliches Merkmal an, um Dekonversion zu definieren. Die funktionale Methode identifiziert Dekonversion über die Angabe sozialer oder personaler Wirkung. Eine polythetische Definition hat den Vorteil, mögliche aber nicht zwingende Kennzeichen anzuführen, die gleitende Übergänge ausmachen können. Je mehr Merkmale zutreffen, desto „typischer“ wird der Begriff.
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
einer Ähnlichkeit beruht, diese Ähnlichkeit sich aber nicht auf ein einziges Merkmal bezieht, die unter eine solche Klassifikation subsumiert werden. Eine polythetische Klassifikation führt Elemente zusammen, die die größte Anzahl gleicher Eigenschaften aufweisen. Keine dieser Eigenschaften ist jedoch eine notwendige Voraussetzung für die Klassenmitgliedschaft oder ein hinreichendes Kriterium, um ein Element zur Klasse hinzuzufügen.63 Damit kann Dekonversion insofern definiert werden, als sie einige (ohne Reihung oder Vorrang) aber nicht notwendigerweise alle Charakteristika aufweisen muss. Zugleich entsprechen alle Beschreibungen der Konzeption von Dekonversion. Es wird auch von „family resemblance“ gesprochen.64 Jedes Kriterium hat außerdem das Potenzial weitere Merkmale auszulösen. Eine vollständige Dekonversion liegt dann vor, wenn alle fünf Kriterien erfüllt sind. Die fehlende Abgrenzung zu dem, was keine Dekonversion ist, stellt jedoch ein zentrales Problem dar. Deshalb kann von Anteilen dekonversiver Prozesse gesprochen werden. Beispielhaft kann das an den „de-churched“-Personen veranschaulicht werden. „De-churched“-Personen haben ihre vormalige religiöse Gemeinschaft verlassen, wenn sie dieser intentionell angehört haben.65 Damit besteht ein Indikator für einen dekonversiven Prozess, da zumindest eines der fünf Kriterien, nämlich der Verlust der Gemeinschaft, erfüllt ist. Hiermit wird deutlich, dass etwa eine Sichtung der Forschungsergebnisse über „de-churched“-Personen (und auch der „nones“) Aufschluss über weiter vorkommende Dekonversionskriterien geben kann. Mit den fünf Merkmalen wird Dekonversion mehrdimensional verstanden und nicht nur als der Austritt aus einer Glaubensgemeinschaft oder „der Abfall vom Glauben“, etwa in Form von Zweifeln. Gemeinschaftsverlust und Zweifel sind lediglich zwei Dimensionen, die im dekonversiven Prozess eine Rolle spielen können. Gleichzeitig zeigen diese fünf Merkmale die Komplexität des Begriffs, da es durchaus Personen gibt, die sich zu einer religiösen Gemeinschaft nicht zugehörig fühlen, ihre Mitgliedschaft jedoch nicht beendet haben.66
63 Needham, „Polythetic Classification“ (1975). 64 Wilson, „From the Lexical to the Polythetic“ (1998). 65 Hiermit werden jene ausgeschlossen, die zwar Mitglieder, aber nicht Teil einer verbindlichen Gemeinschaft waren. 66 Gemäß Streib ist Dekonversion dann abgeschlossen, wenn alle fünf Kriterien zutreffen und eine „disaffiliation from a religious organisation“ vollzogen wurde. Streib, „Deconversion“ (2014).
1.5 Phasen dekonversiver Prozesse
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1.5 Phasen dekonversiver Prozesse – Dekonversion als integratives Prozessmodell Um die Schritte in dekonversiven Prozessen zu ordnen und zu sortieren, gibt es verschiedene Systematiken und unterschiedliche Modelle, die in der gegenwärtigen Forschung verwendet werden.67 Einige Studien, wie beispielsweise jene von Richter und Francis (1998) oder Wright (1988)68, stützen sich auf Skonovds Ergebnisse einer dekonversiven Schrittreihenfolge aus dem Jahr 1979.69 Skonovd stellt sechs Stufen eines dekonversiven Prozesses vor: 1) „crisis of belief “, 2) „review and reflection“, 3) „disaffection“, 4) „withdrawl“, 5) „transition“ und 6) „relocation“. Problematisch ist eine Schrittreihenfolge hinsichtlich ihrer Linearität. Alan Jamieson dagegen fasst die Ergebnisse seiner Studien in vier Phasen der Dekonversion zusammen.70 Beginnend bei den ersten Zweifeln71 (entweder durch Vorfälle in der Gemeinde oder im persönlichen Leben) folgt eine Ernüchterung hinsichtlich der eigenen Glaubensgemeinschaft und die Suche nach einer alternativen Lebensgestaltung. Als Drittes wird ein auslösender Wendepunkt ausgemacht, der schließlich zur Trennung führt und damit eine neue religiöse Identitätssuche auslöst.72 Schnell fällt auf, dass Jamieson inhaltliche Kriterien dekonversiver Prozesse mit Rahmenbedingungen und sozio-kulturellen Faktoren mischt.73 67 An dieser Stelle sei auf ein Forschungsdesiderat hingewiesen. Meines Wissens wurden dekonversive Prozesse noch nicht mit den Phasen der Trauer in Verbindung gebracht. Da Verlust- und Loslösungsprozesse Teil der Dekonversion sind, stellt sich die Frage, wie diese mit Elisabeth Kübler-Ross’ Schritten des Trauerns (Nicht-Wahrhabenwollen und Isolierung, Zorn, Verhandeln, Depression, Zustimmung) in Einklang zu bringen sind. Kübler-Ross, Was können wir noch tun (1974); Kübler-Ross, Interviews mit Sterbenden (1984). 68 Wright, „Leaving New Religious Movements“ (1988). 69 Skonovd, „Becoming Apostate“ (1979). 70 Die Mehrheit der Menschen, die Jamieson befragte, beschrieben einen Prozess der Ablösung, der sich über Monate und Jahre anbahnte. Jamieson, A Churchless Faith (2002), 32. 71 Zweifel ist für Jamieson der Bruch eines bisher stabilen Deutungsmodells der Wirklichkeit. Dieser kann durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, Umzug, Studium oder Enttäuschungen ausgelöst werden. Jamieson weist darauf hin, dass eine Enttäuschung bei der Mehrheit der Befragten nicht einem isolierten Erlebnis zuzuordnen sei, sondern eine prinzipielle Desillusionierung mit der Gemeinde beschreibt. Es folgt ein schrittweiser Identifikationsverlust mit der Gemeinde. A. a. O., 33. 72 A. a. O., 32–40. 73 Eine ähnliche Systematik wird von Aisthorpe vorgeschlagen. Vgl. Abschnitt I Kapitel 2.1.2.4.3 Aisthorpe „Invisible Church“ (2016).
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
Eine religionspsychologische Systematik und Schrittreihenfolge schlägt die Psychologin Marlene Winell vor, indem sie unterschiedliche intraperspektivische Phasen der Gesundung / der Heilung darstellt und dabei von Menschen spricht, die sich von fundamentalistischen Gruppen und Gemeinschaften loslösen. Sie nennt fünf Phasen: 1. „Separation“ („Trennung“): Bevor Menschen sich tatsächlich loslösen, geschieht ein innerer Loslösungsprozess, der beobachtet werden kann. 2. „Confusion“ („Verwirrung / Unordnung“): Menschen in Loslösungsprozessen erleben eine innere Unordnung, die sie verunsichert. 3. „Avoidance“ („Vermeidung“): Menschen in Loslösungsprozessen bestehen auf Distanz zur vormaligen Gemeinschaft und zu vormaligen religiösen Themen. Winell dazu: „Many people do not attend any church whatsoever and do not want to even discuss the concept of a God. They want to distance themselves from church to deny previous involvement.“74 4. „Feeling“ („Gefühle“): Die Autorin betont, dass zusätzlich zum Gefühl der Vermeidung andere Emotionen wie Trauer oder Schmerz dominieren können.75 5. „Rebuilding“ („Wiederaufbau“): Schließlich kommt es für die Person, die sich von einer fundamentalistischen Gruppe gelöst hat, zu aktivem Engagement in der Identitätskonstruktion.76 Winells Ansatz bietet eine hilfreiche Sprache, um Dekonversionsprozesse religionspsychologisch kategorisieren zu können.77 Für diese Arbeit ist es notwendig, ein Modell zu wählen, in dem externe Faktoren wie sozio-kulturelle und gesellschaftliche Bedingungen ebenso einen Platz finden wie Faktoren, die die vormalige religiöse Gemeinschaften betreffen (etwa unter dem Kriterium Kontext). Im Folgenden soll ein bewährtes Modell der Konversionsforschung auf die Phasen dekonversiver Prozesse übertragen werden. Da Dekonversion als Prozess beschrieben wird, der von einer Vielzahl ineinandergreifender Faktoren abhängig ist, kann die Bezeichnung und das Konzept „integratives Prozessmodell“ (aus der Konversionsforschung) für die Konzeption der Dekonversion übernommen werden.78 Der Begriff geht auf 74 Winell, Leaving the Fold (1993), 18. 75 Die Autorin dazu: „As you progress out of the avoidance phase, the other major feeling you will likely experience is grief.“ A. a. O. 76 A. a. O., 15–26. 77 Da in in dieser Arbeit dekonversive Prozesse von emergenten Protagonisten nicht qualitativ untersucht werden und deren biografische Verläufe nur über Veröffentlichungen und Literaturrecherche nachgezeichnet werden, können lediglich psychometrische Ähnlichkeiten aufgezeigt werden, aber nicht induktiv erhoben werden. 78 Ich übernehme den Begriff „integratives Prozessmodell“ von Lewis Rambo, der davon spricht, dass eine Vielzahl von interaktiven und kumulativen Faktoren den Prozess der Konversion beeinflussen. Rambo, Understanding Religious Conversion (1993), 16–18, 165–170. In den 1960er-Jahren entwickelten Lofland und Stark ein „qualitatives Prozessmodell“ der Konversion,
1.5 Phasen dekonversiver Prozesse
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den amerikanischen Religionspsychologen Lewis Rambo zurück, der im Kontext der Konversionsforschung von sieben „stages“79 („Abschnitten“, „Phasen“) spricht, die nicht linear angeordnet sind und zu unterschiedlichen Zeiten auch mehrfach miteinander interagieren können.80 Das Modell listet eine Vielzahl von interaktiven und kumulativen Faktoren auf, die jedoch keinen universalistischen Ansatz darstellen. Er führt aus der Sicht der Person, die religiöse Orientierung sucht, sieben Phasen für die Bildung religiöser Orientierung an: (1) Kontext („context“), (2) Krise („crisis“), (3) aktives Engagement („quest“), (4) Begegnungen mit Alternativen („encounter“), (5) Interaktion mit Alternativen („interaction“), (6) Verpflichtung zu einer Konversion („commitment“), (7) Konsequenzen der Konversion in der Lebensführung („consequences“).81 Die sieben Phasen können zwei Einflussbereichen zugeordnet werden: soziokulturellen Faktoren (Kontext, Begegnung mit Alternativen und Interaktion mit Alternativen) und individuellen Faktoren (Krise, aktives Engagement, Verpflichtung zu einer Konversion und Konsequenzen in der Lebensführung). An verschiedenen Stellen wurde auf die Schwächen von Rambos Modell hingewiesen, etwa die Lücke „Dekonversion“ zu beachten oder Gender-Themen nicht zu berücksichtigen.82 Nichtsdestotrotz erscheint es sinnvoll, Phasen dekonversiver Prozesse und die Ergebnisse aus der Dekonversionsforschung in die Systematik von Rambo einzuordnen, da die einzelnen Kriterien hinreichende Anknüpfungspunkte im Gespräch mit der „Emerging Church“-Konversation ermöglichen.83 Ergänzend dazu bieten die fünf inhaltlichen Kriterien indem sie die sich wechselseitig bedingenden und steigernden Faktoren herausarbeiteten. Siehe Lofland / Stark, „Becoming a World-Saver“ (1965). Das Ineinandergreifen von verschiedenen Faktoren in Konversions- und Dekonversionsprozessen wurde in der aktuellen Forschung bestätigt. Siehe Uecker / Regnerus u. a., „Losing My Religion“ (2007), 231. 79 Rambo, „The Psychology of Conversion“ (1992), 162. 80 Rambo schlägt vor, dass während dieser Phasen „relationships, rituals, rhetoric, and roles in�teract and reinforce one another.“ Rambo, Understanding Religious Conversion (1993), 101. 81 Rambo, „The Psychology of Conversion“ (1992), 163–177. 82 Gooren, Religious Conversion and Disaffiliation (2010), 3. 83 Einen in mehreren Aspekten ähnlichen Entwurf hat Henri Gooren vorgelegt, der sein Konversionskonzept in ein Modell religiöser Aktivitäten einbettet. Gooren unterscheidet neben der Konversion in „pre-affiliation“, „affiliation“, „confession“ und „disaffiliation“. Eine Ana�lyse individuellen religiösen Wandels müsse mit einer Untersuchung der Unzufriedenheit des Individuums mit dem gegenwärtigen Status seiner Zugehörigkeit beginnen und müsse die Phase im Lebenszyklus berücksichtigen. Faktoren, die das individuelle Niveau der religiösen Aktivität beeinflussen, sind: 1. Persönlichkeitsfaktoren, 2. soziale Faktoren (besonders Freundes- und Bekanntschaftsnetzwerke), 3. institutionelle Einflüsse, die von der spezifischen religiösen Gruppe ausgeübt werden, 4. kulturelle Faktoren und 5. kontingente und situative Faktoren wie Zufallsbekanntschaften, Stresssituationen oder Naturkatastrophen. A. a. O. Obwohl Goorens Konzept durch die Integration von Persönlichkeitsfaktoren und kulturellen Faktoren eine Bereicherung verspricht, mangelt es Gooren doch an einer Unterscheidung zwischen konversiven und dekonversiven Prozessen und ihren jeweils spezifischen Charakteristika.
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
dekonversiver Prozesse eine Grundlage für den vorliegenden Dekonversionsbegriff.84 Im Folgenden soll ein integratives Prozessmodell für dekonversive Prozesse beschrieben werden.
1.5.1 Kontext Der soziale Kontext ist das dynamische Feld, in dem die Veränderungen religiöser Orientierung, im Zusammenhang dieser Arbeit, also Dekonversionen stattfinden. In der Forschung werden unterschiedliche Kontextaspekte besonders beachtet, die auf Individuen in ihrer religiösen Veränderung / in dem Verlust ihrer religiösen Orientierung Einfluss nehmen.85 Zum Mikrokontext zählen familiäre Faktoren86, die Religiosität der Eltern,87 Wertevermittlung in der 84 Auf eine mögliche Anwendung von Rambos Modell wird hingewiesen bei Jindra, Konversion und Stufentransformation (2005), 46–47. Eine analoge Anwendung findet sich bereits bei McKnight und Ondrey. Siehe Abschnitt I Kapitel 2.1.2.5 McKnight / Ondrey „Finding Faith, Losing Faith“ (2008). 85 Der Prozess der Dekonversion der Person beginnt in einem Kontext, in einer „primären Soziali� sation“. Ganzevoort spricht beispielsweise von der Notwendigkeit eines unterstützenden sozialen Kontexts. Ganzevoort, „Crisis Experiences and the Development of Belief and Unbelief “ (1994). Smith und Sikkink kategorisieren die Vielzahl der Kontexteinflussfaktoren in fünf Cluster: 1) Eltern, 2) Beziehung zu den Eltern, 3) Familienstruktur, 4) Kontextveränderung und 5) StatusUnterschiede zwischen der Herkunftsumgebung und der religiösen Gemeinschaft. Smith und Sikkink dazu: „First, greater religious commitment and religious similarity of parents and intentionality in parents transmitting their faith to their children is a key factor increasing the chances of their offspring carrying on in the religious traditions of their parents. Second, the quality of relationships between parents and their children matters a lot, with positive, affectionate, and cohesive parent-child relationships increasing the religious commitment and retention of offspring. Third, traditional family structure increases religious retention; situations with married biological parents increases the religious retention of offspring, and subsequent childbearing by offspring reduces the chance of apostasy. Fourth, many life course transitions involving social disruptions-marriage, divorce, geographical relocation, etc. significantly increase the chances of religious switching and dropping-out. And fifth, status and ideological discrepancies between religious adherents and the groups to which they belong (e. g., educational differences, disagreements on normative standards) tend to increase the chances of religious switching and sometimes apostasy.“ Smith / Sikkink, „Social Predictors of Retention in and Switching from the Religious Faith of Family of Origin“ (2003), 190–191. 86 Für den positiven Einfluss für ein „return to religion“ im familiären Kontext siehe Uecker / Mayrl u. a., „Family Formation and Returning to Institutional Religion in Young Adulthood“ (2016). 87 Branas-Garza, Garcia-Munoz und Neuman finden in ihrer Auswertung der Daten des „Inter�national Social Survey Program: Religion II“ (ISSP) aus dem Jahr 1998 mit 15.000 Personen aus 32 westlichen Ländern heraus, dass es eine hohe Korrelation zwischen der religiösen Orientierung der eigenen Eltern oder des Lebenspartners und der eigenen religiösen Orientierung gibt. Zum Zusammenhang zwischen der Religiosität eines Individuums und seiner Eltern sagen die
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Jugendzeit88, familiäre soziale Konstellationen (Nähe und Distanz zwischen Eltern und Kindern)89, Partnerschaften sowie demografische als Faktoren der Dekonvertiten.90 Es wäre verkürzt, den Faktor Kontext schlicht unter dem Stichwort „Beziehungen“ aufzunehmen.91 Dazu müssen mesokontextuelle Faktoren, wie die formelle Organisation menschlichen Zusammenlebens (bei Dekonversionen beispielsweise Enttäuschungen durch religiöse Gemeinschaften, Organisationen und Institutionen), und auch makrokontextuelle Faktoren (gesellschaftliche Entwicklungen und Abbrüche etc.) berücksichtigt werden. Autoren, dass ein religiös heterogenes Zuhause einen positiven Effekt darauf hat, keine religiöse Zugehörigkeit anzugeben. Weiter sagen sie: „Exposure to more homogeneous and intensive practice during childhood leads to a lower tendency to convert out and move to the ‚no religion‘ sector […].“ Branas-Garza / García-Muñoz u. a., „Determinants of Disaffiliation“ (2013), 176. Die Autoren zum Einfluss des Partners: „[…] first, married individuals have a lower prob� ability to convert out […], except for the non-European subsample. Married invidiuals who share the same denomination as their spouses have lower odds of conversion out […] while those married to a spouse with ‚no religion‘ have much higher odds of conversion out […].“ A. a. O., 180–181. Die Rolle von Partnerschaften wird beispielsweise von Musick und Wilson als stärkster Faktor genannt, der Einfluss auf die Veränderung der religiösen Orientierung hat. Musick / Wilson, „Religious Switching for Marriage Reasons“ (1995). Scheidungen erhöhen die Wahrscheinlichkeit für moderate und konservative Protestanten, wie auch für Katholiken, dass sie ihre religiöse Orientierung wechseln oder diese zurücklassen. Lawton / Bures, „Parental Divorce and the ‚Switching‘ of Religious Identity“ (2001). Sherkat findet weiter heraus, dass bei interreligiösen Ehen eine höhere Wahrscheinlichkeit zur Veränderung der religiösen Orientierung besteht. Sherkat / Wilson, „Preferences, Constraints, and Choices in Religious Markets“ (1995), 1014. So auch bei Hadaway / Marler, „All in the Family“ (1993). 88 Petts betont, dass obwohl ein Großteil der Jugendlichen in der Adoleszenzphase einen Rückgang religiöser Partizipation aufweist, es für jene Jugendlichen mit einer religiösen Erziehung wahrscheinlicher ist, dass ein solcher Rückgang verspätet eintritt. „Although two-thirds of youth experience a decline in religious participation during adolescence, results indicate that family and religious characteristics influence the timing of religious change and the rate at which this change occurs. Youth who are raised in a family that provides a consistent religious message and youth who reside in a family structure that reflects the religious teachings they are exposed to may be more likely to delay any decline in religious involvement and attend religious services frequently throughout adolescence.“ Petts, „Trajectories of Religious Partic� ipation from Adolescence to Young Adulthood“ (2009), 568. Petts’ Ergebnisse widersprech�en damit den Ergebnissen von Wilson und Sherkat, die 1994 noch davon sprachen, dass eine Mehrheit der Jugendlichen, die die organisierte Religion verlassen haben, zurückkehren. Wilson / Sherkat, „Returning to the Fold“ (1994), 151–152. 89 Es gilt als nicht mehr haltbar, dass „religious change“ mit der besonderen Bindung an ein Elternteil in Verbindung gebracht wird. Granqvist / Hagekull, „Longitudinal Predictions of Religious Change in Adolescence“ (2003), 809. 90 Rambo definiert Mikrokontext als: „[…] more immediate world of a person’s family, friends, ethnic group, religious community, and neighborhood.“ Rambo, Understanding Religious Conversion (1993), 22. 91 Beispielhaft: „Contextual Characteristics. Exposure to Parents, Peer Groups, Partners and Pro�vinces.“ Te Grotenhuis / Scheepers, „Churches in Dutch“ (2001), 593.
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Bereits 1994 verweist John Barbour auf ein Ineinander von mikro- und makrokontextuellen Faktoren (ohne dies in dieser Form zu kategorisieren). Er sagt, dass neben dem Lebensgefühl „unter Fremden zu leben“92 und der damit verbundenen Isolation und Unsicherheit bei Dekonvertiten die Empfindung vorherrscht, nicht „authentisch“ zu sein. An dieser Stelle spielen postmoderne Bedingungen eine wesentliche Rolle.93 Barbour zeigt auf, dass weltanschauliche Veränderungen individuelle religiöse Orientierungen beeinflussen und umgekehrt. Damit verweist er auf einen Zusammenhang zwischen den Folgeerscheinungen postmoderner Bedingungen und dekonversiven Prozessen. Ein solcher Zusammenhang wird in anderen Dekonversionsstudien verhärtet (etwa bei Jamieson).94 Zusätzlich sind es noch drei Faktoren, die Barbour erwähnt und die der Mesoebene zugeordnet werden können: Autoritär empfundene Strukturen, enggeführte Glaubensmuster und der Druck sozialer Uniformität können zu Stolpersteinen in einer religiösen Biografie werden.95 Ähnlich formulieren es Wright et al., die nicht zufriedenstellende Interaktionen mit Christen (und / oder Leitungspersonen) als Erklärung für dekonversive Prozesse betonen.96 Wright et al.: „The most frequently mentioned role of Christians in deconversions was in amplifying existing doubt. The writers told of sharing their burgeoning doubts with a Christian friend or family member only to receive trite, unhelpful answers. These answers, in turn, moved them further away from Christianity.“97 Trotz der Vielzahl potenzieller mikro-, meso- und makrokontextueller Faktoren in dekonversiven Prozessen muss der Einfluss der jeweiligen Kontextfaktoren im Einzelnen bestimmt werden.98 92 Siehe Barbour, Versions of Deconversion (1994), 3. 93 Streib und Jamieson weisen beispielsweise darauf hin. Siehe Abschnitt I Kapitel 2.1.2.7.4 Ergebnisse. Leonard Sweet sagt dazu: „Postmodern culture is undoing one massive deconversion“, wel�che durch die Entwicklung von „a folk apologetic“ / „folk theology“ angetrieben werden wird. Damit sagt er bereits in den 1990er-Jahren Spannungen voraus, die durch „gelebte Religion“ und andere Konzepte entstehen werden. Sweet, Soul Tsunami (1999), 149. 94 Empirisch wird eine Korrelation zwischen gesellschaftlichen Bedingungen in einzelnen Ländern und der religiösen Selbstbeschreibung als „nicht religiös“ wie folgt beschrieben: „[…] a greater [religious] diversity does not stimulate greater religious participation, but rather secularization and disaffiliation.“ Branas-Garza / García-Muñoz u. a., „Determinants of Disaffili�ation“ (2013), 176. 95 Zitiert in Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 45. 96 Wright / Giovanelli u. a., Explaining Deconversion from Christianity. 97 A. a. O., 9. 98 Grundsätzlich wird dieser Einsicht gefolgt: „However, the most important empirical finding of this analysis is that different social factors influence different groups of people in diverse religious traditions in dissimilar ways.“ Smith / Sikkink, „Social Predictors of Retention in and Switching from the Religious Faith of Family of Origin“ (2003), 200.
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1.5.2 Krise Nachdem der Fakor Kontext dargestellt wurde, wird in Loslösungsprozessen häufig der Faktor Krise angeführt.99 Dabei wird ein inneres (biografisches) oder externes einschneidendes Ereignis (im Mikro-, Meso- oder Makrokontext) im Leben der Dekonvertiten beobachtet. Ein kritisches Lebensereignis erfordert „eine Synchronisationsleistung des Individuums aufgrund einer Störung des bisherigen Gefüges von Person und Umwelt“100. Krisen können Auslöser für dekonversive Prozesse sein oder erst in dem dekonversiven Prozess ausgelöst werden. Krisen sind sensible Phasen für die Auseinandersetzung mit der Gestalt der Religiosität, führen jedoch nicht notwendigerweise zu einem Wandel dieser Gestalt. Krisen können von außen auf eine Person einwirken oder im Inneren einer Person begründet sein.101 Bromely betont, dass Krisen im Loslösungsprozess beispielsweise auch dadurch ausgelöst werden können, dass es für den Dekonvertiten keine alternativen Ressourcen gibt, um mit der Loslösung angemessen umzugehen.102 Roozen unterteilt Krisen in dekonversiven Prozessen im christlichen Kontext in zwei häufig vorkommende Kategorien: in „intrachurch discord“ und „personal contextual reasons“. Damit reduziert er die von außen eintreffenden Krisen auf den Kontext der religiösen Gemeinschaft und verortet Krisen entweder bei der religiösen Gemeinschaft oder im persönlichen Umfeld des Dekonvertiten.103 Zu ergänzen sind allerdings die verschiedenen Kontexte, in denen Krisen einen Einfluss auf den dekonversiven Prozess haben können. Also nicht nur Kirche und Individuum, wie Roozen meint, sondern auch Familie, Beruf, Weltsicht etc. (siehe die genannten Kontextfaktoren). Besonders im Kontext evangelikaler Frömmigkeit kann eine Krise zum Beispiel durch geistlichen Missbrauch oder moralischen Druck in der Sexualethik ausgelöst werden.104 99 Aktuell hat Vargas auf den Zusammenhang zwischen religiöser Zugehörigkeit und „stressors“ hingewiesen. Vargas, „Retrospective Accounts“ (2012), 205–206. Vargas hat beispielsweise den Zusammenhang zwischen Lebenskrisen und dem Verlassen einer religiösen Zugehörigkeit untersucht. Er sagt: „We also see that life stressors are associated with considering departure; […].“ 100 Vgl. Kläden, „Die Seniorinnen und Senioren sind nicht mehr die alten! Religiöse Entwicklung im Erwachsenenalter“ (2016), 75. 101 Vargas verweist darauf, dass religiöse Skepsis auch als Krise empfunden werden kann. Er sagt weiter: „Results show that religious skepticism is significantly associated with considering leaving religion in comparison with stable affiliation and also helps in distinguishing stayers from leavers.“ Vargas, „Retrospective Accounts“ (2012), 214. 102 So zeigen dies beispielsweise Bromley, „Leaving the Fold“ (2004). 103 Roozen, „Church Dropouts“ (1980), 430. Diese Begründungen sind auch zu finden bei Brin�kerhoff / Mackie, „Casting off the Bonds of Organized Religion“ (1993), 247. 104 Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 199–201.
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Krisen konfrontieren Individuen mit ihren Grenzen und motivieren / drängen sie, nach Konfliktlösungen zu suchen, beispielsweise die empfundene Leere zu füllen, auf intellektuelle Zweifel zu reagieren, auf eine Diskrepanz zwischen moralischen Anschauungen zu antworten oder sich an neue Umstände anzupassen und Möglichkeiten der Veränderung zu finden.105 Gesondert soll auf die in dekonversiven Prozessen herausgebilderte Krisenrhetorik hingewiesen werden. Es bildet sich eine Krisenrhetorik, sowohl für den Dekonvertiten als auch für die Gemeinschaft (unter dem Stichwort „negative social labeling“), von der sich ein Individuum löst, heraus. Fazzino betont, dass Krisenrhetorik für die Re-konstruktion der Dekonversionsnarrative (besonders in der Auseinandersetzung mit Zweifel) einen entscheidenden Einfluss auf den dekonversiven Prozess haben kann.106 Konkret heißt das, dass die zur Verfügung stehenden sprachlichen Konstrukte und Symbolsysteme beeinflussen, ob und an welchen Übergängen im dekonversiven Prozess Trauer, Schuld, Verlust oder andere Emotionen empfunden werden. Darüber hinaus spielt die Krisenrhetorik in der religiösen Gemeinschaft, die verlassen wird, eine Rolle. Ein wichtiger Hinweis wird von Brinkerhoff und Burke gegeben, die meinen: „[…] negative social labeling can begin to push an individual out of this cohesive group“107. In ihren Untersuchungen kommen sie zu dem Schluss: „[…] religious disaffiliation is a gradual process, cumulative social process in which negative labeling may act as a ‚catalyst‘ accelerating the journey to apostasy while giving it form and direction.“108 Negative Zuschreibungen können demnach dekonversive Prozesse beschleunigen oder die Ausstiegsverläufe lenken.109 Eine abgeschwächte Form der negativen Zuschreibungen findet sich, wenn Mitglieder einer religiösen Gemeinschaft in dekonversiven Prozessen als nicht vollständig loyal betrachtet werden oder als Gegenspieler für die religiöse Orientierung ausgemacht werden.110 Es wird deutlich, dass auch die Sicht von anderen auf die eigene religiöse Entwicklung Konsequenzen hat und Krisen auslösen kann.
105 Dies gilt für psychisch gesunde Personen. 106 Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 252. 107 Brinkerhoff / Burke, „Disaffiliation“ (1980), 49. 108 A. a. O., 52. 109 Die Autoren führen nicht weiter aus, wie der Lenkungsmechanismus für die Ausstiegsverläufe zustande kommt. Hier ist ein Forschungsdesiderat erkennbar. 110 Coates, „Disaffiliation from a New Religious Movement“ (2013), 326.
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1.5.3 Aktives Engagement Im Zusammenspiel von Kontext und Krise wird deutlich, dass das aktive Individuum eine Lösung für seine Dissonanzen, seine Unzufriedenheit und (inneren und äußeren) Konflikte finden will. Dies korrespondiert mit den Ergebnissen der Dekonversionsforschung, in denen dargestellt wird, dass der Dekonvertit seine religiöse Orientierung bewusst gestaltet und nach Veränderung sucht (Jamieson). Coates spricht von „personally negotiating disaffiliation“111 und betont auf diese Weise das aktive Subjekt.112 Fazzino nennt die aktiven Wendepunkte inmitten der Dekonversionsprozesse und macht damit das aktive Engagement deutlich.113 Doch der Faktor des aktiven Engagements ist in der Dekonversionsforschung umstritten. Brinkerhoff spricht beispielsweise von Dekonversion als „gradual drift into non-belief “114. Andere wie beispielsweise Alan Jamieson, Streib et al. oder Aisthorpe sprechen von aktiven, bewussten Schritten.115
1.5.4 Begegnung mit Alternativen Des Weiteren benötigen Menschen, die sich in der Krise befinden, Begegnungen mit Alternativen, die ihnen Ressourcen zur Bewältigung ihrer Krisen und Konflikte bieten, sowie Kontakt mit jenen, die neue Orientierung anbieten (z. B. Jamieson). Faix et al. bezeichnen dies als „Änderung des Umfelds“, was für die Hälfte der Gesprächspartner relevant wurde (z. B. durch Umzug, aber auch Bezugspersonen116 etc.).117 Coates hebt die Bedeutung von „other identity resources“118 und „the role of others in facilitating exit“119 hervor, die für Dekonvertiten im Umgang mit 111 A. a. O., 314. Oder auch Adam, „Leaving the Fold“ (2009), 46. 112 In der Forschung zu Neuen Religiösen Bewegungen wird unterschieden zwischen einem freiwilligen Loslösungsprozess und einer Intervention durch Professionelle, genannt „exit coun� seling“. Coates, „Disaffiliation from a New Religious Movement“ (2013), 315. 113 Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 257–258. 114 Brinkerhoff / Mackie, „Casting off the Bonds of Organized Religion“ (1993), 249. Auch Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 150. 115 Es ist sicherlich angemessen ähnlich wie Faix et al. von einem Zusammenwirken von bewussten und unbewussten Faktoren zu sprechen. Siehe dazu Abschnitt I Kapitel 2.1.2.6 Exkurs zu Deutschland: Faix / Hofmann / Künkler „Warum ich nicht mehr glaube“ (2014). 116 Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 152. 117 A. a. O., 151. 118 Coates, „Disaffiliation from a New Religious Movement“ (2013), 314. 119 A. a. O., 321–322.
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ihren Zweifeln zur Verfügung standen. Daneben wird in der Forschung auf die Bedeutung sozialer Netzwerke hingewiesen, die den Ausstiegsprozess vereinfachen oder ermöglichen können.120 Fazzino betont: „Exposing one’s self to new information and / or new secular environments often became the impetus for self-reflection.“121 Der Autor weiter: „Finding new secular social networks provided participants with calidation, acceptance, and support. They had been unable to find these qualities in their previous religious communities.“122 Was für ein Individuum zur Alternative wird, ist nicht generell zu beantworten. Wesentlich ist nach Fazzino, dass Annahme und Unterstützung erlebt werden und der Selbstwert in der Begegnung mit Alternativen gestärkt wird. Wright et al. diskutieren, welche Kraft die Begegnung mit Alternativen in dekonversiven Prozessen hat, und unterscheiden in ihrer Bewertung zwischen „push“- und „pull“-Faktoren. „Push“-Faktoren sind Umstände, die auf Dekonvertiten in ihrer vormaligen religiösen Gemeinschaft einwirken. „Pull“-Faktoren sind Personen, Ideen und andere Bedingungen, die von außerhalb der vormaligen religiösen Gemeinschaft hinzukommen. Wright et al. sagen: „Push factors repel people away from Christianity while pull factors attract them to a different worldview.“ Sie ziehen die Schlussfolgerung: „Some intellectual and theological concerns, or aspects of Christian doctrine such as hell, push people away from Christianity, while aspects of a secular, scientific worldview pull them.“ Für die Mehrheit der Dekonvertiten in ihrer Untersuchung stellen sie fest: „[…] They are nor lured away by non-believers; rather they are frustrated with believers. Deconversion, therefore, usually represents more of a desire to leave Christianity than an attraction to its alternatives.“123 Damit betonen die Autoren das wechselseitige Verhältnis von „pull“- und „push“-Faktoren. An dieser Stelle soll auf die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien als Medium für die Begegnung mit Alternativen hingewiesen werden.124 Lewis Rambo erkennt durch die neuen technologischen Möglichkeiten 120 Bromley, „Leaving the Fold“ (2004). Mauss, „Apostasy and the Management of Spoiled Iden�tity“ (1998). Bei Streib et al. wird festgestellt, dass ein Mangel an Alternativen für deutsche Dekonvertiten beobachtbar ist und dies deshalb den Ausstiegsprozess verzögert oder verhindert. Siehe Abschnitt I Kapitel 2.1.2.7.4 Ergebnisse. 121 Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 259. 122 A. a. O. 123 Wright / Giovanelli u. a., Explaining Deconversion from Christianity. 124 Genauer siehe QR-Code im Vorwort, dort: Exkurs: Grundlegendes über den Einfluss von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien. Downey sagt: „Also, for people with religious doubt, the Internet provides access to people in similar circumstances all over the world.“ Downey: „Religious Disaffiliation and Internet Use“, http://allendowney.com/dow� ney12religious.pdf am 17.05.2018. Vgl. auch Downey: „Religious Affiliation, Education and Internet Use“, https://arxiv.org/pdf/1403.5534.pdf am 17.05.2018.
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eine allgemeine Zunahme an Fragen zur religiösen Identität und beschreibt dies als „globalization theory“. Diese Theorie besagt, dass die Globalisierung es nicht nur Neuen Religiösen Bewegungen erleichtert sich zu etablieren, sondern dass Fragen nach religiöser Identität und Identitätsbildung häufiger vorkommen.125 Rambo dazu: „This theory asserts that the growth of New Religious Movements are made possible by the ease of global communication systems (including television, radio, internet, tape recorders, video cameras and video players) and the ease of mobility via airline transportation, automobile, trains, etc.“126 Diesem Argument folgend können dekonversive Prozesse, im konkreten Fall in der „Emerging Church“-Konversation, durch die globale, interaktive Kommunikation ermöglicht und verstärkt werden, da die Begegnung mit Alternativen erleichtert wird.127 Lewis Rambo dazu: „Through various forms of mass communication the desires and yearnings of people who are displaced, dispossessed, and searching for spiritual renewal and transformation are contacted, cultivated, and recruited to new religious options.“128 Zuletzt sei auf die Theorie der „minority distinctiveness“ hingewiesen, die zeigt, dass Personen mit dekonversiven Prozessen sich Begegnung mit anderen Personen, die ähnliche Prozesse erleben oder erlebten, wünschen. Die Theorie der „minority distinctiveness“129 besagt, dass Menschen, die einer Minorität angehören (kulturell, religiös, sozial, politisch etc.), tendenziell mit ihresgleichen sozialen Kontakt suchen. Dies wurde bereits für „affiliate minorities“, das heißt für die Vergemeinschaftung religiös gleich Orientierter in Minderheiten, diskutiert.130 Dekonvertiten haben demnach mit einer höheren Wahrscheinlichkeit mit anderen Dekonvertiten zu tun. In der globalisierten Welt kann dies durch die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien über die lokale Gruppe hinweg konstatiert werden.
125 Der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Globalisierung und Neuen Religiösen Bewegungen ist Dawson genauer nachgegangen. Dawson, „The Cultural Significance of New Religious Movements and Globalization“ (1998). 126 Rambo, „Theories of Conversion“ (1999), 262. 127 Siehe dazu QR-Code im Vorwort, dort: Der Einfluss von Online-Interaktion auf die Identitätsbildung. 128 Rambo, „Theories of Conversion“ (1999), 262. 129 Mehra / Kilduff u. a., „At the Margins“ (1998). 130 Sepulvado / Hachen u. a., „Social Affiliation from Religious Disaffiliation“ (2015). Die Autoren sagen: „We found that Nones are disproportionately more likely to connect to other Nones and much less likely than chance to connect to affiliated students.“ A. a. O., 839.
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
1.5.5 Interaktion mit Alternativen Von zentraler Bedeutung in der Phase der Begegnung mit Alternativen ist die Interaktion mit diesen Alternativen. Häufig werden über persönliche Beziehungen Wege zu neuen Alternativen gebahnt. Diese Beziehungen sind für den Verlauf der Dekonversion besonders wichtig. Das kann beispielsweise in der Interaktion mit „non-christians“ (Wright et al.) geschehen131 oder, um Alan Jamiesons Begriff aufzunehmen, in „post-church groups“ (auch bei A isthorpe „road to post-congregational faith“). Ähnlich wie der Faktor Krise kann die Interaktion mit Alternativen sowohl dekonversive Prozesse auslösen, Teil des Prozesses sein oder eine Konsequenz darstellen (siehe Schema des interaktiven Prozessmodells).132 Wenn die Interaktion mit Alternativen ausbleibt und es nicht zu alternativen Sinnkonstruktionen für entstandene Zweifel, Verlust emotionaler Erfahrung, Reaktion auf emotionale Erschöpfung etc. kommt, dann bleiben Personen mit dekonversiven Erfahrungen aufgrund von ungenügenden Ressourcen in ihrem Kontext und verzögern möglicherweise den Ausstieg aus der religiösen Gemeinschaft.133 Interaktionen mit Alternativen lassen also mögliche Netzwerke, Gruppen und Gemeinschaften entstehen und ermöglichen neue Positionierungen im religiösen Feld.
1.5.6 Entschluss zur Trennung Diese Phase kann im Kontext dekonversiver Prozesse als „Bekenntnis zum Verlust“ einer vormaligen religiösen Orientierung gedeutet werden. Der verbindliche Entschluss zum Verlassen einer religiösen Orientierung zieht möglicherweise, aber nicht zwingenderweise, das Verlassen einer religiösen Gemeinschaft nach sich. Diese Phase macht erneut deutlich, dass es das aktive Subjekt im Verlauf der Dekonversion braucht.
131 Wright / Giovanelli u. a., Explaining Deconversion from Christianity. 132 Wright et al. finden für die Dekonvertiten ihrer Untersuchung heraus: „The narrative writers rarely described individuals outside of the church as helping bring about their deconversion. Rather, they described new relationships with non-Christians […] as the consequence, not cause, of changes in their beliefs.“ A. a. O., 12. 133 Dies hat etwa Coates für Neue Religiöse Bewegungen gezeigt. Coates, „Disaffiliation from a New Religious Movement“ (2013), 323.
1.7 Intraperspektivische Aspekte
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1.5.7 Konsequenzen in der Praxis Konsequenzen eines dekonversiven Prozesses können unterschiedliche sichtbare und unsichtbare Formen annehmen, die von den Ausstiegsverläufen abhängen und durch das in dem Prozess Erlebte (Krisen, Konflikte, Differenzen mit Personen / Leitungspersonen, Kritik der Lehre usw.) bedingt sind. Dekonvertiten können beispielsweise die öffentliche oder private Praxis außer Kraft setzen, die Mitgliedschaft kündigen, die Gemeinschaft verlassen oder in die innere Emigration zu vormaligen Überzeugungen gehen. Sie können sich neu im religiösen Feld verorten oder das religiöse Feld verlassen.
1.6 Zusammenfassung bisheriger Erkenntnisse Dekonversive Prozesse lassen sich mit Rambo als Weg beschreiben, den ein Individuum in sieben Phasen beschreitet: (1) Kontext, (2) Krise, (3) aktives Engagement, (4) Begegnung mit Alternativen, (5) Interaktion mit Alternativen, (6) Entschluss zur Trennung und (7) Konsequenzen in der Praxis. In diesem Prozess, zumindest jedoch am Ende des Prozesses, stehen folgende inhaltliche Merkmale: (1) Zweifel oder Ablehnen eines Glaubenssystems, (2) moralische Kritik an dem Lebensvollzug Einzelner oder der Gemeinschaft, (3) emotionale Leiderfahrung, entweder Trauer, Schuld, Einsamkeit oder Verzweiflung, (4) Ablehnung oder Entfremdung von einer Gemeinschaft, (5) Verlust von religiösen Erfahrungen. Damit werden die Merkmale und das „integrative Prozessmodell“ als Kriteriologie voneinander abhängig dargestellt, um die „Emerging Church“-Konversation kritisch zu diskutieren und zu reflektieren. An dieser Stelle soll nicht eigens auf die Forschungsergebnisse eingegangen werden, welche gemeinsame Überzeugungen und Praktiken bei Dekonvertiten feststellen. Diese sollen an dem Beispiel der „Emerging Church“-Konversation nachgezeichnet werden.
1.7 Intraperspektivische Aspekte In der Dekonversionsforschung findet in den letzten Jahren vermehrt die intraperspektivische / religionspsychologische Dimension dekonversiver Prozesse Beachtung. Dazu gehört etwa der Zusammenhang zwischen Dekonversion
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
und 1) kognitiver Entwicklung134, 2) der Lösung sozial-kognitiver Konflikte,135 3) sozial-psychologischen Aspekten136 oder 4) Motivationsfaktoren137. Bereits Wulff pointierte 1993: „[…] the possibility that religious maturity may in some cases be expressed through the rejection of traditional religious views or practices.“138 In der Darstellung verschiedener Studien wurde bereits auf die intraperspektivischen Aspekte dekonversiver Prozesse hingewiesen. Hier sollen folgende Aspekte betont werden: 1. Dekonvertiten betonen in ihren Loslösungsprozessen ein Ringen um Authentizität (Barbour). „Rather than continually deliver inauthentic, albeit socially acceptable, displays of beliefs, deconversion was motivated by participants’ intellectual, social, and emotional commitments.“139 Dekonvertiten beschreiben ihre Dekonversion als Suche und Streben nach Authentizität. Dieses Bestreben ist eng verknüpft mit einem hohen Grad an Individualisierung von Dekonvertiten.140 2. Einheitlich wird in der Dekonversionsforschung von der emotionalen Erleichterung der Dekonvertiten nach ihren dekonversiven Prozessen gesprochen.141 Dekonvertiten haben demnach das Gefühl, wieder sie selbst
134 Positive Glaubensentwicklung wird besonders bei Dekonvertiten, die in ihrer vormaligen Gemeinschaft eine niedrige gesellschaftliche Legimität hatten, erkennbar. Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 25. Siehe dazu auch die Darstellung von Jamieson. Vgl. Abschnitt I Kapitel 2.1.2.3 Jamieson „A Churchless Faith“ (1996, 2001). 135 Adam, „Leaving the Fold“ (2009). 136 Beispielhaft siehe Winell, Leaving the Fold (1993). 137 Winell beschreibt, welche Themen für Personen in Loslösung- und Gesundungsprozessen wichtig werden: 1. „Sense of self “, 2. „emotional struggles“, 3. „being in the world“. Dazu sagt sie weiter: „Now it is probably a challenge for you to be in this world, putting up with the prob�lems or even enjoying the pleasures. Former Fundamentalists often need to heal from the habit of denigrating the world and other people. Fully appreciating the here and now usually takes some learning. […] Participating in bettering the world – such as work on environmental, political, or social concerns – is an even greater stretch.“ 4. „self-responsibility“, 5. „Meaning and spirituality“. A. a. O., 22. Im Prozess des Loslösens von fundamentalistischen Gruppierungen werden laut Winell beispielsweise „understanding of gentleness“ und „awareness of mercy“ für die Dekonvertiten wichtig. A. a. O., 107–108. Der Frage nach den Überzeugungen und Haltungen von Dekonvertiten wird in der Forschung eigens nachgegangen. Siehe Brinkerhoff / Mackie, „Casting off the Bonds of Organized Religion“ (1993). Aktueller: Mercadante, Belief Without Borders (2014). 138 Wulff, „On the Origins and Goals of Religious Development“ (1993), 185. 139 Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 261. 140 Streib und Keller sagen: „Individualization, subjective agency and heresy belong to the ne� cessary elements of deconversion.“ Streib / Keller, „The Variety of Deconversion Experiences“ (2004), 190. 141 Z. B. bei Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 158.
1.7 Intraperspektivische Aspekte
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sein zu können.142 Besonders Wright betont, dass das oftmals verbreitete Bild des traumatisierten Aussteigers falsch sei und sich die meisten Austritte problemlos gestalteten.143 Gleichzeitig betonen Dekonvertiten die hohen Kosten (persönlicher, sozialer, familiärer usw. Natur) der Loslösungsprozesse,144 die durchaus auch traumatische Elemente beinhalten können.145 Hood und Chen sagen dazu weiter: „The relationship between the religious group and the larger culture is a factor in the way in which deconversion is experienced.“146 Daneben wird auch der Verlust des religiösen Kapitals als ein Verlust religiöser Sicherheit beschrieben.147 Möller weist auf Folgendes hin: „Die Abwendung von kleinen sozialen Gemeinschaften ist aufgrund engerer Bindungen und der strikten Vorstellungen davon, wer dazugehört und wer nicht, immer belastungsanfälliger als die Abwendung aus größeren Gemeinschaften.“148 142 Coates, „Disaffiliation from a New Religious Movement“ (2013), 327. Coates dazu: „[…] the most likely and straightforward way in which individuals can resolve the discomfort caused by disequilibrium between their perceived ‚authentic‘ sense of self and social or cultural expectations is by exiting the ‚identity disconfirming‘ environment.“ A. a. O., 329. Dies betonen auch: Fazzino, „Leaving the Church Behind“ (2014), 252. Barbour, Versions of Deconversion (1994). McKnight / Ondrey, Finding Faith, Losing Faith (2008). Wright / Giovanelli u. a., Explaining Deconversion from Christianity. Ältere Ergebnisse etwa von Brinkerhoff und Mackie (1993), die belegt haben, dass Apostaten ein niedrigeres Level an Zufriedenheit, geringere Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit aufweisen, können nicht mehr bestätigt werden, da sich die religiöse Landschaft verändert hat und sich die Optionen für Dekonvertiten vervielfältigt haben. Brinkerhoff / Mackie, „Casting off the Bonds of Organized Religion“ (1993). 143 Wright, „Leaving New Religious Movements“ (1988), 143. 144 Cragun thematisiert den Status der Stigmatisierung für Nicht-Religiöse in den USA. Cragun / Kosmin u. a., „On the Receiving End“ (2012). Oder für Atheisten erforscht bei Edgell / Gerteis u. a., „Atheists As ‚Other‘“ (2006). Die Autoren dazu: „Atheists are at the top of the list of groups that Americans find problematic in both public and private life, and the gap between acceptance of atheists and acceptance of other racial and religious minorities is large and persistent. It is striking that the rejection of atheists is so much more common than rejection of other stigmatized groups.“ A. a. O., 230. 145 „[…] a number of scholars have proposed that the symptoms of despair, anxiety, and depression following NRM exit are not related to the alleged negative effects of ‚brainwashing‘ but can be better understood as the result of the traumatic loss of identity upon exit […].“ Coates, „The Effect of New Religious Movement Affiliation and Disaffiliation on Reflexivity and Sense of Self “ (2013), 802. 146 Hood / Chen, „Conversion and deconversion“ (2014), 545. 147 Denn der Dekonvertit weiß noch nicht, wie er seine religiöse Orientierung neu rekonstruieren wird. Wright / Giovanelli u. a., Explaining Deconversion from Christianity. 148 Möller weiter: „Für letztere existieren in manchen Fällen sogar institutionalisierte Dekonversionsstrukturen: Beispielsweise lässt sich in Deutschland der Austritt aus der katholischen oder der evangelischen Kirche formal über die Einwohnermeldeämter regeln.“ Möller, „Sekten-Einsteiger und -Aussteiger“ (2012), 272–273.
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1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
3. Drittens wird bei Personen mit dekonversiven Prozessen auf eine höhere Reflexivität des Individuums geschlossen.149 Besonders Streib et al. haben Zusammenhänge aufgezeigt, dass Dekonversion auch im Kontext von individueller Mündigkeit verstanden werden kann (auch bei Faix et al., Aisthorpe, Jamieson, Richter und Francis). Dekonvertiten weisen beispielsweise im Schema von Fowler im Schnitt eine höhere Glaubensentwicklung auf als jene, die in der religiösen Gemeinschaft verblieben sind. Reflexivity theorizing consistently posits that increases in reflexivity result from a need to change or develop the self when individuals are faced with new and unpredictable surroundings or experiences […]. […] In particular, the narratives suggest that being ‚shocked‘ into self-awareness following the loss of an NRM identity instigated an increase in reflexivity.150
4. Schließlich drücken Dekonvertiten ihre Spiritualität aus, indem sie häufiger als Noch-Mitglieder angeben, „more spiritual than religious“ zu sein. Die Selbstbezeichnung „spirituell“ ist offensichtlich durch ihre unscharfe Konturierung eine geeignete Identitätsfläche für Dekonvertiten, um ihre religiöse Identitätsbildung auszudrücken.
1.8 Demografische Hinweise Es fällt auf, dass Dekonvertiten in ein vergleichbares demografisches Muster fallen. Das Alter in dem dekonversive Prozesse mehrheitlich erlebt werden, liegt 149 „The suggestion that NRM [New Religious Movement] membership may facilitate the develop�� ment of highly reflexive selves rather than inhibit this process challenges the common view that conflicts and contradictions between the NRM identity and previous and subsequent identities is an issue that warrants great concern. In particular, my findings suggest that the experience of having been highly influenced by others in their construction of selves and, most importantly, having become aware of this influence, has equipped these participants with a greater level of tolerance for contradictions and an enhanced ability to resist social pressures.“ Coates, „The Effect of New Religious Movement Affiliation and Disaffiliation on Reflexivity and Sense of Self “ (2013), 804. So auch Winell, die von einem verstärkten Blick auf das Ich spricht. Winell, Leaving the Fold (1993), 20–21. 150 Coates, „The Effect of New Religious Movement Affiliation and Disaffiliation on Reflexivi�ty and Sense of Self “ (2013), 802. Thomas Kläden ist zuzustimmen, der die Annahmen des strukturgenetischen Ansatzes (Universalität, Unidirektionalität, Sukzessivität, Irreversibilität) als nicht begründet sieht und er damit Fowler widerspricht. Religiosität kann verlernt werden und degenerieren. Kläden, „Die Seniorinnen und Senioren sind nicht mehr die alten“ (2016).
1.9 Dekonversionsverläufe im religiösen Feld
509
zwischen 18 und 45 Jahren.151 Damit sind die späten Teenagerjahre und das junge Erwachsenenalter durch deren kognitive Entwicklung, die biografischen Effekte, den Einfluss der Säkularisierung und den Lebenszyklus besonders markante Wendepunkte für dekonversive Prozesse.152 Neben dem Alter von Dekonvertiten wird in der Dekonversionsforschung ein Zusammenhang zwischen höherer Bildung und abnehmendem Glauben an religiöse Überzeugungen diskutiert.153 Ungeklärt ist jedoch die Verhältnisbestimmung zueinander.
1.9 Dekonversionsverläufe im religiösen Feld Zunächst können Dekonversionen einerseits als Migrationen innerhalb des religiösen Feldes beschrieben werden. Dekonvertiten nehmen dabei eine neue Position im religiösen Feld ein. Dekonvertiten können sich innerhalb des organisierten religiösen Feldes verorten oder sich in das unorganisierte, privatisierte Feld begeben. Bei einer Neupositionierung kommt es immer wieder zu religiöser Identitätsbildung.154 Andererseits treten sie aus dem religiösen Feld aus (säkularer Ausstieg). Für diese Arbeit sollen die Ausstiegsverläufe der Bielefelder Dekonversionsstudie als Grundlage herangezogen werden, um die verschiedenen Ausdrucksformen der „Emerging Church“-Konversation im religiösen Feld verorten zu können. Dabei können zwei Ausstiege für diese Arbeit ausgeschlossen werden: Der säkulare Ausstieg ist für diese Arbeit nicht relevant, da Dekonvertiten, die diesen Ausstieg gewählt haben, nicht mehr Teil des religiösen Diskurses sind und damit auch nicht der „Emerging Church“-Konversation. Zweitens ist der 151 Roozen, „Church Dropouts“ (1980). Need / Graaf, „Losing my Religion“ (1996). Wright / Giovanelli u. a., Explaining Deconversion from Christianity. 152 Spilka et al 2003 und Smith / Denton, Soul Searching (2009). Loveland etwa zeigt, dass mobile, kaukasische, junge Männer, die einer „mainline“-Denomination angehören, eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Wechsel oder den Verlust ihrer religiösen Orientierung haben. Loveland, „Religious Switching“ (2003). 153 Das zeigen etwa: Roof, Spiritual Marketplace (1999); Roof, „Multiple Religious Switching“ (1989). Oder: Uecker / Regnerus u. a., „Losing My Religion “ (2007). Shermer, How we Believe (1999). Oder auch bei Need / Graaf, „Losing my religion“ (1996), 96. Einen Zusammenhang sieht auch Hadaway / Marler, „All in the Family“ (1993), 105. Für den deutschsprachigen Raum vermuten dies auch: Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 50–51. 154 McSkimming spricht in diesem Zusammenhang von „identity migration“. McSkimming: „The Storying, Re-Storying and De-Storying of the Christian Fundamentalist Self “, 4th Global Conference – Storytelling: Global Reflections on Narrative, Prague 2013. Siehe dazu auch: Gooren, Religious Conversion and Disaffiliation (2010).
510
1. Konzeption des Dekonversionsverständnisses
„oppositionelle Ausstieg“, der den Wechsel zu einer „high tension“-Gruppe (Sekten-Typ) beschreibt, mit der „Emerging Church“-Konversation nicht in Einklang zu bringen.155 Außerdem versteht sich die „Emerging Church“-Konversation als anti-hierarchisch und anti-institutionell mit niedriger Organisationsleistung, weshalb dieser Ausstieg von vornherein ausgeschlossen werden kann. Es verbleiben vier Verläufe, die nun mit der „Emerging Church“-Konversation in Verbindung gebracht werden sollen: a) religiöser Wechsel (Migration mit ähnlichem System), b) integrierender Ausstieg156 (von Evangelikal zu Mainline), c) privatisierter Ausstieg157, d) häretischer Ausstieg158.
155 Protagonisten, die vormals eine Sympathie mit der Konversation hatten und einen „oppositio�nellen Ausstieg“ gewählt haben, können durchaus als Kritiker der „Emerging Church“-Kon�versation präsent sein. Siehe Abschnitt II Kapitel 13 Darstellung der Kritik an der „Emerging Church“-Konversation. 156 Hier wechselt ein Mitglied einer zur Gesellschaft in Opposition stehenden Gruppe in eine gesellschaftlich mehr integrierte Gruppe. 157 Hier hört eine Person auf, Mitglied einer christlichen Gemeinschaft zu sein, wirft aber nicht in gleicher Weise ihre religiösen Überzeugungen über Bord. Diese Person wird „unsichtbar religiös“. 158 Beim häretischen Ausstieg beendet eine Person ihre Mitgliedschaft bei einer Gemeinschaft und eignet sich neue religiöse Überzeugungen und Praktiken an, häufig in synkretistischer und individualistischer Form.
2. Diskussion der „Emerging Church“ hinsichtlich dekonversiver Merkmale und Phasen 2.1 Vorbemerkungen Der spezifische Ansatz dieser Arbeit ist, dass sich der Forschungsgegenstand „Emerging Church“ durch die Merkmale und Phasen dekonversiver Prozesse betrachten lässt. Dabei wird deutlich, dass die Verbindungslinien jene Themen und Diskurse sind, die für diese Bewegung als konstitutive Merkmale gelten. So sehr sich die Voraussetzungen der Zugänge voneinander unterscheiden, so auffällig ist die Korrespondenz einiger Resultate. Wie lässt sich nun die „Emerging Church“-Konversation aus der Perspektive der Veränderung religiöser Orientierung, respektive Dekonversion, beschreiben?1 In einer ersten Annäherung wird ein solcher Zugang über eine Darstellung von Entsprechungen folgendermaßen begründet: Zunächst kann festgestellt werden, dass die Zusammenstellung der aus den sechs Studien gewonnenen Erkenntnisse sowie die durch die Primärliteratur untersuchten Einsichten der verdichteten Themencluster einen Zugang über Merkmale und Phasen dekonversiver Prozesse nahelegen. Das Oberthema in der Konversation, nämlich die Klärung des religiösen Selbstverständnisses, regt dazu an, eine Perspektive einzunehmen, die es ermöglicht, die Bedingungen der Möglichkeiten der fünf ausfindig gemachten Themencluster konturierter wahrzunehmen. Eine solche Perspektive wird durch Dekonversion geboten. Die Themencluster der Konversation sind: 1. die Thematisierung der Veränderung der eigenen religiösen Orientierung unter besonderer Berücksichtigung von Abwehr- und Loslösungsdynamiken, 2. die spezifischen Bedeutungen von Relationalität, 3. die theologischen Diskurse, 4. die Thematisierung der Verhältnisbestimmungen zum Kontext (Welt, Nachbarschaft, Ort, Gemeinde, Christentum) sowie 5. die Bedeutung von Werten, Haltungen und Praktiken.
1
Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass eine fraglose Übertragung individueller Kennzeichen und Phasen dekonversiver Prozesse auf eine Bewegung nicht uneingeschränkt möglich ist. Nichtsdestotrotz können Vergleiche zwischen für Dekonversionen typischen Merkmalen und Phasen und verdichteten Diskursthemen in der Konversation gezogen werden.
512
2. Diskussion der „Emerging Church“
Der hier vorgeschlagene Zugang hat Parallelen: Lienemann-Perrin spricht davon, dass bei der Veränderung der religiösen Orientierung – sie formuliert dies im Zusammenhang von Konversion als religiöser Mobilität2 – bei dem Subjekt in vielerlei Hinsicht Veränderungen aufträten: „[…] die Beziehung zu Gott, zu sich selbst, zur Glaubensgemeinschaft und zur ‚Welt‘ (einschließlich der anderen Religionsgemeinschaften)“3. Fruchtbare Verbindungslinien zwischen den Momenten religiöser Veränderung und den verdichteten emergenten Themen und Motiven werden bei der Thematisierung der Veränderungen des Ichs, des Verhältnisses zum Kontext und dem Verhältnis zu Gott (vermittelt durch inhaltliche Überzeugungen, Praktiken und Haltungen) deutlich. Schließlich wird den Hinweisen von Philip Harrold, James Bielo, Alan Jamieson, Gladys Ganiel und Gerardo Marti nachgegangen, dass emergente Protagonisten dekonversive Erfahrungen hätten und diese die Bedingungen der Konversation prägen. Es wird den Ergebnissen der Religionssoziologen Ganiel und Marti gefolgt, die die Bedeutung von dekonversiven Prozessen für die Konversation dahingehend interpretieren, dass sie die Konversation und die darin vorkommenden Themen von der Dynamik von Abwehr- und Loslösungsprozessen geprägt, beschreiben. Sie stellen fest: „For Emerging Christians, deconstructing their previous, personal faith is central to their religious orientation. ‚Coming out of Christianity‘ stories are continual manifestations of deconstruction […].“4 An diesen selektiv vorgetragenen Äußerungen bestätigt sich der methodische Zugriff. Es erscheint vielversprechend, die sich als Bewegung manifestierende Konversation auf Merkmale und Phasen dekonversiver Prozesse hin zu befragen und auf Entsprechungen hin zu untersuchen. Dies birgt ein erweitertes heuristisches Potenzial: der erhoffte Gewinn dieses Zugangs liegt im gesteigerten Wahrnehmungspotenzial hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes.5
2 3 4 5
Lienemann-Perrin, „Konversion in einem postmodernen Kontext“ (2012), 224. A. a. O., 148. Sie sagt weiter: „Selten werden alle vier Beziehungsveränderungen gleichzeitig verwirklicht.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 59. Die Grenzen dieses Zugriffs werden schnell deutlich. Es kann kein direkter Zusammenhang, keine Abhängigkeit oder Kausalität zwischen dekonversiven Prozessen Einzelner und den in der Konversation verdichteten Motiven und Themen definitiv festgestellt werden. Es lassen sich ebenfalls keine Aussagen darüber treffen, ob die Konversation bei Einzelnen als Auslöser für oder Einfluss auf dekonversive Prozesse angesehen werden kann, d. h. ob die Konversation der Dekonversion vorausgegangen ist oder umgekehrt oder ob überhaupt ein Zusammenhang besteht.
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
513
2.2 Diskussion anhand der Themencluster Im Folgenden sollen Entsprechungen hinsichtlich dekonversiver Merkmale und Phasen anhand der fünf emergenten Themencluster strukturiert und diskutiert werden. Dies geschieht dort, wo es angemessen erscheint, ausgehend von den dekonversiven Merkmalen und Phasen, mit denen nach einer Entsprechung in der Konversation gesucht wird, oder umgekehrt, also ausgehend von Erkenntnissen über die Konversation und der Suche nach Verbindungslinien zur Dekonversionsforschung. Wie in der Konzeption des dieser Arbeit zugrundeliegenden Dekonversionsbegriffs dargestellt, wird von fünf Merkmalen dekonversiver Prozesse und von sieben Phasen in dekonversiven Prozessen ausgegangen (im Sinn eines integrativen Prozessmodells gemäß Lewis Rambo). Zur Erinnerung:
Kontext
Sieben Phasen dekonversiver Prozesse
Krise
Inhaltliche Merkmale dekonversiver Prozesse:
ak(ves Engagement
•Zweifel oder Ablehnen eines Glaubenssystems
Begeg. m. Alterna(ven
Interakt. m. Alterna(ven
Entschluss
•moralische Kri(k an dem Lebensvollzug
•emo(onale Leiderfahrung •Ablehnung oder EnHremdung von einer GemeinschaI •Verlust von religiösen Erfahrungen
Kons. i. d. Praxis
Abbildung 20: Dekonversive Merkmale und Phasen nach eigener Darstellung
Im Sinne einer Vorbemerkung sowie einer Hervorhebung kann noch gesagt werden, dass die Rede von dekonversiven Prozessen besonders an jenen Stellen anschlussfähig ist, wo die Bedeutung von soziokulturellen Faktoren heraus-
514
2. Diskussion der „Emerging Church“
gestellt wird (Kontext, Begegnung mit Alternativen und Interaktion mit Alternativen). Das liegt in der Natur des Forschungsgegenstandes begründet, da es sich um eine Bewegung handelt, die in ihren Kommunikations- und Interaktionsschwerpunkten dargestellt wurde. Ausgehend von dieser Schnittstelle können die Bedeutung und die Dynamik des Diskursraumes „Emerging Church“, etwa als soziokultureller Faktor für dekonversive Prozesse dargestellt werden. Dabei werden die individuellen Einflussfaktoren (Krise, aktives Engagement, Verpflichtung und Konsequenzen in der Lebensführung) sowie ebenfalls intraperspektivische Aussagen beachtet.
2.2.1 Die Thematisierung der Veränderung der religiösen Orientierung Die von Streib et al. vorgeschlagene Definition eines Dekonvertiten lässt Entsprechungen zu der in dieser Arbeit verfolgten Definition emergenter Protagonisten erkennen. Ein Dekonvertit ist, gemäß Streib et al.: […] a person who open-mindedly explores new religious orientations, is ready for inter-religious encounter, rejects fundamentalism, authoritarianism and absoluteness claims, has advanced and transformed in faith development, and, especially when living in the United States, owns a strong sense of personal growth and autonomy.6
In den Stichworten der Veränderung der religiösen Orientierung, der Begegnung mit Alternativen, dem Ablehnen fundamentalistischer Überzeugungen und autoritären Leitungshandelns sowie der Betonung persönlicher Selbstbestimmung klingen Diskursthemen der Konversation an, wie sie in theologischen Orientierungen, der Gestaltung von Kommunikationsräumen sowie in Gemeinschaften der Konversation vorkommen. Dabei stehen bei beiden Abwehr- und Loslösungsprozesse im Vordergrund, ohne eine bestimmte Zielrichtung einer neuen religiösen Orientierung ausmachen zu können. Vergleichbar ist die Suche nach einer neuen religiösen Orientierung mit der von Ganiel und Marti hervorgehobenen Dominante, dass emergente Protagonisten eine religiöse Orientierung hätten, die auf der Praxis des Dekonstruierens aufbaue.7 Die 6 7
Keller / Klein u. a., „Deconversion and Religious or Spiritual Transformation“ (2013), 133–134. „We […] define Emerging Christians in terms of sharing a religious orientation built on a continual practice of deconstruction. We characterize the ECM [Emerging Church Movement] as an institutionalizing structure, made up of a package of beliefs, practices, and identities that are continually deconstructed and reframed by the religious institutional entrepreneurs who drive the movement and seek to resist its institutionalization. As such, the ECM is best seen as a mix
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
515
Autoren betonen, dass emergente Protagonisten vorwiegend auf vormalige fundamentalistische oder konservative Formen und Inhalte des Evangelikalismus reagierten. Sie würden darin proaktiv, ihre individuelle Spiritualität anfachen. In der Konversation prägen Abwehr- und Loslösungsdynamiken den Diskurscharakter aller festgestellten Themencluster. Es wird deutlich, dass im Blick auf inhaltliche Festlegungen Unbestimmtheit und Ungewissheit betont werden, während Haltungen und Werte zu Leitkategorien des religiösen Subjekts und dessen Interpretation überhöht werden. Dies ist für Haltungen wie „Authentizität“, „Großzügigkeit“, „Inklusion“, „Ganzheitlichkeit“ oder Dialogbereitschaft / Konversationen zu erkennen. Diese bestimmen nicht nur den Diskursverlauf einzelner Inhalte oder Formate, sondern werden zur „Hermeneutik“ der „Emerging Church“-Konversation und gelten Offline (Tagungen, Konferenzen) wie Online (Blogs, Websites). Vergleichbar ist das religiöse Subjekt in der „Emerging Church“Konversa(on mit jenem in dekonversiven Prozessen in folgender Hinsicht:
• • • • • • • • •
Selbstverständnis als emergenter Protagonist u. Dekonver(tendef. Ziel der religiösen Orien(erung unbes(mmt – religiöse Orien(erung als Konversa(on notwendiges ak(ves Subjekt Sozio-demografischer Status Narra(on der religiösen Biografie: Trauer, Schuld, Ablehnung, EnHremdung, Mündigkeit, individuelle Reifung Auseinandersetzung mit Autoritäten Thema Krise wesentlich Kri(k als Teil der Iden(tätskonstruk(on Selbstbezeichnung „spirituell“ vs. „religiös“
Abbildung 21: Emergente Protagonisten verglichen mit Dekonvertiten
Zudem ist für emergente Protagonisten und Dekonvertiten Kritik an bestehenden religiös-strukturellen Verhältnissen, religiösen Organisationen sowie Bedingungen wesentlich und Teil der Identitätskonstruktion. Wenngleich der Begriff of both reactive and proactive elements, vying for the passion and attention of Christians and nonbelievers. Emerging Christians react primarily against conservative / evangelical / fundamentalist Protestantism but also against other forms of traditional Christianity that they have experienced as stifling or inauthentic. At the same time, they proactively appropriate practices from a range of Christian traditions to nourish their individual spirituality and to enhance their life together as communities.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 25–26.
516
2. Diskussion der „Emerging Church“
des Protests für die Konversation vordergründig ist, kann sich der Begriff für Dekonvertiten hinsichtlich der Phasen dekonversiver Prozesse als „Krise“ oder „Entschluss zur Trennung“ auswirken. Kritik und Protest werden in der Konversation etwa über wechselnde Selbstbezeichnungen, Begriffsbricolagen oder Begriffsneuschöpfungen ausgedrückt. Gleichwohl diese Analogie nicht überstrapaziert werden darf, weil sie wesentliche Aspekte der individuellen, biografisch geprägten Identitätsbildung ausspart und die verschiedenen Strömungen und spezifischen Abwehrdynamiken unterbewertet, ist doch auffällig, dass Kritik sich begrifflich niederschlägt. Die Empfindung, dass vorhandene Begriffe unzureichend über die religiöse Orientierung oder Überzeugungen Auskunft geben, ist vergleichbar mit der Unsicherheit der Selbstbeschreibung in dekonversiven Prozessen und deutet auf unabgeschlossene und unbestimmte Suchbewegungen hin. Ein weiterer Brückenschlag wird deutlich, wenn auf eine Parallele zwischen einem notwendigen aktiven Engagement bei emergenten Protagonisten und bei Dekonvertiten hingewiesen wird. Die Konversation als Diskursraum setzt ein aktives Engagement emergenter Protagonisten voraus. Dies zeigt sich bereits in der Selbstbezeichnung und Selbstidentifikation des Begriffs „emergent“, in vergleichbaren Bezeichnungen sowie in den eigenverantwortlichen Suchbewegungen, die bei Dekonvertiten eine ausgeprägte individuell-reflektierende Haltung aufweisen. Es kann als konstituierendes Merkmal der Konversation festgestellt werden, dass sie von Protagonisten betrieben wird, die die Klärung ihres religiösen Selbstverständnisses vorantreiben und nach Lösungen für Dissonanzen in Überzeugungen, Praktiken oder Gemeinschaften suchen. Weiter werden Korrespondenzen zwischen Dekonvertiten und emergenten Protagonisten hinsichtlich ihres Alters (18–45 Jahre), ihrer Bildung (nämlich ein hoher Bildungsgrad) und ihres sozialen Milieus8 augenfällig. Das junge Erwachsenenalter, das durch besondere Prägungen der kognitiven Entwicklung ein markanter Wendepunkt für dekonversive Prozesse ist, findet in der Konversation sein Echo in der Rezeption der Konversation durch die „Gen X“. Es fällt auf, dass emergente Protagonisten und Dekonvertiten ihre vormaligen religiösen Narrative vergleichbar negativ deuten. Dabei dominieren Ernüchterung hinsichtlich der religiösen Orientierung, Trauer, Schuld, Ablehnung, Entfremdung sowie persönliche Brüche. Sowohl Dekonvertiten als auch emergente Protagonisten sprechen in Momenten der Loslösung und Trennung von Erleichterung, Befreiung sowie Schritte zur Mündigkeit (Jamieson, 8
„Many in the ECM could be identified with the ‚creative class‘, a highly educated, i ndependent, and entrepreneurial class that has options that are almost always not open to the poor or marginalized.“ Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 157.
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
517
Aisthorpe, Faix et al., Streib et al.). Dabei thematisieren Protagonisten in der „Emerging Church“-Konversation wie auch Dekonvertiten ihre Loslösungs- und Abwehrprozesse als individuelle Reifung oder Wachstumsprozess. Ein Schwerpunkt ist sowohl bei Dekonvertiten als auch in der Konversation die Auseinandersetzung mit Autoritäten. Für Dekonvertiten ist, gemäß Streib, die Distanzierung zu Autoritäten ein Element im dekonversiven Prozess, für emergente Protagonisten ein gewichtiger Konversationsschwerpunkt. Dies zeigt sich in verschiedenen gemeinschaftlichen, partizipativen Leitungsverständnissen von Gemeinschaften, der Organisation von Online-Kommunikationsstrukturen, Prozessen theologischer Meinungsbildung sowie anti-institutionalisierenden Präferenzen emergenter Organisationen. Als Nächstes kann darauf verwiesen werden, dass das Thema „Krise“ für Dekonvertiten als eine mögliche Phase im Dekonversionsprozess in der Konversation an mehreren Stellen vorkommt. Gleichwohl in der Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes „Emerging Church“ festgestellt werden kann, dass die Bewegung kein institutionalisiertes Vorgehen hat oder eine Dynamik etabliert hat, um bei Einzelnen Krisen auszulösen oder zu fördern, ist das Thema „Krise“ ein Bestandteil der Konversation. Während biografische oder existenzielle Krisenerfahrungen nicht verdichtet als Diskursthemen vorkommen, lassen sich folgende Aspekte von Krisen beobachten: religiös-biografische Krisen, Glaubenskrisen, Krisen des Gottesbildes, theologische Zweifel als Krisen, Krisen ausgelöst durch Kritik an der moralischen Lebensführung von Leitungspersonen oder Enttäuschungen mit Christen und christlichen Gemeinden, Krisen in Form von Zweifeln, ob die methodischen und organisationalen Herangehensweisen an christliche Gemeinde angemessen sind oder der Verlust emotionaler Glaubenserfahrungen. Im Zuge dessen schildern emergente Protagonisten eine Vielzahl von Themen und inhaltlichen Auseinandersetzungen, die zu intellektuellen Zweifeln und Krisen führen können.9 9 Rollins: „In contrast to the modern view that religious doubt is something to reject, fear or merely tolerate, doubt not only can be seen as an inevitable aspect of our humanity but also can be celebrated as a vital part of faith.“ Rollins, How (Not) to Speak of God (2006), 33. Oder auch bei Tomlinson, The Post-Evangelical (1995), 25–26, 103. Dwight Friesen in Jones / Pagitt (Hg.), An Emergent Manifesto of Hope (2007), 211. McLaren sagt: „It’s ironic: the more free I am to doubt a specific belief, the more free I become to hold on to that person-to-Person faith in God […] After all, to trust our beliefs about God more than we trust God – wouldn’t that be missing the point?“ McLaren / Campolo, Adven� tures in Missing the Point (2003), 251. Für Rachel Held Evans sind beispielsweise intellektuelle Zweifel Grund für eine Revision ihres Glaubens geworden. Sie sagt: „No longer satisfied with easy answers, I started asking hard� er questions. I questioned what I thought were fundamentals – the eternal damnation of all
518
2. Diskussion der „Emerging Church“
Damit beschreiben emergente Protagonisten mit religiösen Krisenerfahrungen die Konversation als „sicheren Hafen“, als Station in einer dekonversiven Reise10 sowie als Station in der religiösen Wanderschaft11. non-Christians, the scientific and historical accuracy of the Bible, the ability to know absolute truth, and the politicization of evangelicalism.“ Evans, Faith Unraveled (2010), 22. Dabei schildert Evans, wie persönliche Gewissheiten ins Wanken gerieten und Deutungen, wie etwa das politische Engagement bestimmter Frömmigkeitsrichtungen oder die Rolle der Frauen in Leitungsämtern, kritisch reflektiert wurden. Evans dazu: „I grew more and more suspicious of people who claimed that God supported certain political positions or theological systems or lifestyle decisions.“ A. a. O., 97. Zu ihrer Auseinandersetzung mit der Rolle der Frauen in Lei�tungsämtern christlicher Gemeinden siehe Fuller / Sanders, „Discovering Biblical Womanhood in Monkey Town with Rachel Held Evans“, in: Homebrewed Christianity (Podcast) 31.07.2011, https://homebrewedchristianity.com/2011/07/31/discovering-biblical-womanhood-in-monkeytown-with-rachel-held-evans-homebrewed-christianity-113/ am 28.12.2016. „It was as if I had discovered a giant crack in the biblical worldview wall, and the more I studied that crack, the more fractures and fissures I noticed growing out of it. I began to worry […] that there might be something seriously wrong with Christianity, something that can’t be fixed.“ Evans, Faith Unraveled (2010), 95. Für Evans werden die Glaubenszweifel zur existenziellen Krise, die zur Christentums- und Kirchenkritik wird. Sie beschreibt ihren inneren Kampf folgendermaßen: „[…] trying to will myself out of doubt and back to faith, only to wake up the next morning with puffy red eyes and a spiritual numbness that left me absent and disconnected from the world. I hated going to church because silly little things like communion cups or kids’ choirs or fundraising announcements triggered paranoia about brainwashing and pyramid schemes.“ A. a. O., 113. Für Evans kommt es zu neuen religiösen Gewissheiten und einer neuen Orientierung, wenn sie sagt: „In the end, it was my doubt that saved my faith.“ A. a. O., 119. Rachel Held Evans weiter: „But rather than killing off my faith, these doubts led to a surprising re�birth.“ A. a. O., 22. Evans: „I didn’t feel like a faith crisis right away – more like a faith malfunc�tion, a little glitch in the system that made a few critical functions start to misfire.“ A. a. O., 89. 10 Obwohl der säkulare Ausstieg in dieser Arbeit nicht beachtet wird (siehe Abschnitt III Kapitel 1.9 Dekonversionsverläufe im religiösen Feld), kann folgender Bericht exemplarisch angeführt werden. Eine junge Mutter, zum Zeitpunkt des Blogposts selbsternannte Atheistin, schildert ihren Weg aus dem US-amerikanischen evangelikalen Christentum hin zur Atheistin: „We explored ideas of progressive / emergent Christianity and considered faith that didn’t require literal belief. For a time, I was able to halt my free fall as I read books by Marcus Borg, who paints a picture of Christianity as a way of life built around the life and teachings of Jesus. […] It was Palm Sunday, in the morning, during one of our many, many conversations over the prior several weeks that I allowed myself to think and then voice those thoughts. […] It was a moment of my life I’ll never forget, just as I’ll never forget the time I put my faith in Jesus. Both times, I said the words and made it real- and the whole world changed around me as a result. […] I didn’t believe in God, and I literally could not make myself believe again, no matter how much I wanted it. It was one of the hardest days I’ve experienced.“ In den Beschreibungen der jungen Frau nimmt die „Emerg�ing Church“-Konversation eine Station in ihrer dekonversiven Reise zur Atheistin ein. Nach die� ser Schilderung hat sie den säkularen Ausstieg gewählt. http://new.exchristian.net/2013/12/myde-conversion-story.html am 01.11.2016. Hier kann auf ein Forschungsdesiderat hingewiesen werden, nämlich vormals emergente Protagonisten im säkularen Feld wahrzunehmen. 11 Karlie Allaway, eine vormalige emergente Protagonistin, die in der katholischen Tradition eine religiöse Heimat gefunden hat, schrieb 2014: „A growing disillusionment around ten years ago focused my enthusiastic interest in the deconstruction of church practices and community life
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
519
Weiter fällt bei emergenten Protagonisten bezüglich ihres Kontexts eine Krisenrhetorik auf. Dies gilt sowohl hinsichtlich der Auswirkungen der Moderne beziehungsweise der Postmoderne auf den christlichen Glauben als auch hinsichtlich des christlichen Lebens sowie gemeindlichen Handelns.12 Weiter sind Entsprechungen zwischen Dekonvertiten und emergenten Protagonisten über Diskurse zu den Begriffen „spirituell“, „religiös“ sowie „authentisch“ zu verzeichnen. Gleichwie in der Dekonversionsforschung für die Selbstbezeichnung „spirituell“ ein Zusammenhang mit dekonversiven Prozessen aufgezeigt wird, findet sich dieser Begriff in der „Emerging Church“-Konversation. Er wird als Gegenbegriff zu „religiös“ eingebracht und beschreibt eine Suchbewegung, die sich vornehmlich in Abgrenzung zu negativ konnotierter vormaliger religiöser Orientierung etabliert. Dabei wird besonders das Moment der selbstverantworteten und selbstdirektiven religiösen Orientierung betont. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff „authentisch“ und den Bestrebungen nach Authentizität in der Konversation. Der Begriff dient als Platzhalter für ein auf das Ich zurückgeworfenes Subjekt, das Authentizität vorwiegend als Kongruenz auf der Erlebnisebene bestimmt sieht. Die Betonung beider Begriffe lässt hinsichtlich einer Deutung dekonversiver Merkmale den Wunsch nach Selbstbestimmung und Individualität erkennen.
done by those loosely grouped and labelled as the emerging church movement.“ Allaway, „Pi�oneer Mission in Community“ (2014), 86. 12 Diese Form der konversationsimmanenten Krisenrhetorik ist von individuellen Krisenerlebnissen zu unterscheiden, über die in der vorliegenden Arbeit keine Einschätzungen getroffen werden können.
520
2. Diskussion der „Emerging Church“
2.2.2 Die Bedeutung der Relationalität Im Folgenden soll die Bedeutung und Bewertung der Relationalität in der „Emerging Church“-Konversation im Hinblick auf dekonversive Indikatoren dargestellt werden. Die Bedeutung der Rela(onalität
„Emerging Church“-Konversa(on
Begeg. m. Alterna(ven
• Emergente Protagonisten weisen
mobile religiöse Biografien auf => Wanderbewegungen • Rela(onalität dient der Einbeeung des religiösen Subjekts • „alterna(ve spaces“ • Ablehnung von Hierarchien, tradi(onellen Ordnungen
Interakt. m. Alterna(ven
„minority dis(nc(veness“ Effekt / „homogeneous groups“
Abbildung 22: Die Bedeutung der Relationalität
Zunächst kann festgestellt werden, dass, wie bereits erwähnt, viele emergente Protagonisten mobile religiöse Biografien haben und Wanderbewegungen hinsichtlich ihrer religiösen Orientierung sowie der Zugehörigkeit zu religiösen Gemeinschaften aufweisen. Verschiedene religiöse Zugehörigkeiten können mit dem dekonversiven Merkmal der Entfremdung von vormaligen religiösen Gemeinschaften in Verbindung gebracht werden. Der Aspekt der Loslösung von einer Gemeinschaft kommt bei beiden Gruppen vor. Zugleich lassen sich bei beiden Impulse zur Vergemeinschaftung erkennen. In dieser Hinsicht lässt sich sowohl bei emergenten Protagonisten als auch bei Dekonvertiten ein „minority distinctiveness“-Effekt erkennen, da nämlich beide als interessensgeleitete Zusammenschlüsse sowie „homogeneous groups“ erkennbar werden (bei emergenten Protagonisten nicht nur interessensgeleitet, sondern auch über die Generationen-Perspektive „Gen X“). Die Wichtigkeit von Relationalität zeigt sich in der Konversation in Gruppen und Gemeinschaften, Online-Netzwerken sowie in punktuellen und situativen Treffen bei Konferenzen oder Tagungen. Die Begegnungen schaffen die Bedingung, um Veränderungen der religiösen Orientierung zu thematisieren,
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
521
Begegnung und Interaktion mit Alternativen zu ermöglichen sowie spirituelle Gestaltungsräume anzubieten. In der Konversation werden diese als „alternative spaces“ oder autonome Zonen tituliert, in denen alternative religiöse Orientierungen erprobt und geformt werden können. Solche Gruppen und Gemeinschaften sind laut Jamieson für Dekonvertiten als „post-church-groups“ wesentlich: Gruppen, die als „sichere Häfen“ Möglichkeiten der Begegnung und Interaktion mit Alternativen bieten, aber auch Raum für unabgeschlossene, vorübergehende Überzeugungen lassen. Aisthorpe spricht hinsichtlich solcher Gruppen von einem „road to post-congregational faith“. Diese Gruppen werden im Sinne einer „Entgiftung“ erprobt. Vergleichbar ist deren Bedeutung für Dekonvertiten, die, gemäß Lewis Rambo, aus einem Zusammenspiel von individuellen und soziokulturellen Faktoren Phasen der Dekonversion durchschreiten. In der Konversation dienen dazu kleine, lokale, vorwiegend dezentrale Gruppen und Gemeinschaften als „sichere Häfen“ der Interaktion, wobei sich die Abwehr von Unübersichtlichkeit, wie sie in Megakirchenansätzen zu finden ist, in der Konzentration auf lokale Bezüge widerspiegelt. Die Eindringlichkeit, mit der in der Konversation Relationalität gefordert wird – für emergente Protagonisten häufig artikuliert als freundschaftliche Verhältnisse – zeigt in der Konversation den Wunsch, ein konkretes Gegenüber zu haben, aber auch verbindliche Gemeinschaft zu gestalten. Freundschaften werden in der Konversation begrifflich häufig dem Kirchen- und Gemeindebegriff gegenübergestellt. Emergente Gemeinschaften wollen partizipativ gestaltet werden und weisen vorgegebene Hierarchien oder Ordnungen, wie etwa Ämter oder Ausbildungswege, ab. Ämter werden in der Konversation prinzipiell problematisiert und stehen unter dem Verdacht, autoritär zu sein sowie die Entwicklung und Entfaltung Einzelner einzuschränken. Eine solche dominierende negative Einschätzung ähnelt jener von Dekonvertiten.13 In der Konversation wird stattdessen überwiegend auf die Partizipation und Bewährung Einzelner zurückgegriffen sowie theologisch charismenorientiert vorgegangen. Relationalität wird getrennt von religiöser Organisation verhandelt sowie häufig gegeneinander ausgespielt, beziehungsweise wird Organisation als Bedrohung der Relationalität diskutiert – was Jamieson mit dem Begriff „a churchless faith“ phrasiert. Die Phase „Begegnung mit Alternativen“ spielt in der Konversation eine bedeutende Rolle. Die Konversation bietet für Protagonisten mit religiösen Krisenerfahrungen Gesprächspartner an, beispielsweise über die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien. Konkret wird dies über emergente Blogs und Websites realisiert. Lewis Rambo drückt mit dem Begriff „globaliza-
13 Vgl. dazu Abschnitt I Kapitel 2.1.2 Aktuelle Ergebnisse aus der Dekonversionsforschung.
522
2. Diskussion der „Emerging Church“
tion theory“ aus, dass es aufgrund der digitalen Technologien eine Zunahme von Fragen nach religiöser Identität gäbe. Seinem Argument folgend, werden in der „Emerging Church“-Konversation Fragen zur Klärung des religiösen Selbstverständnisses durch die globale, interaktive Kommunikation ermöglicht und verstärkt, da die Begegnung mit Alternativen erleichtert wird.14 Lewis Rambo schreibt dazu: „Through various forms of mass communication the desires and yearnings of people who are displaced, dispossessed, and searching for spiritual renewal and transformation are contacted, cultivated, and recruited to new religious options.“15 Ein weiterer Aspekt ist jener, dass einerseits durch die digitalen Informationsund Kommunikationstechnologien Gemeinschaften als „alternative spaces“ des Gesprächs und der Begegnung ermöglicht werden. Andererseits kristallisieren sich „alternative spaces“ in punktuellen und situativen Begegnungen wie Konferenzen und Tagungen oder auch in Weg- und Interessensgemeinschaften heraus. Zuletzt kann hinsichtlich des Einflusses von Beziehungen und der Begegnung mit Alternativen, gemäß Wright, die Unterscheidung von „push“- und „pull“Faktoren herangezogen werden. Für Individuen in der Bewegung ist der Einfluss der Gewichtung zwischen „push“- und „pull“-Faktoren nicht allgemein zu beantworten. Doch besonders die theologischen Diskurse in der Anfangszeit der Bewegung sind geprägt von Abwehrhaltungen, also „push“-Faktoren, beispielsweise inhaltlich begründet, so etwa die Ablehnung eines stellvertretenden Leidens Jesu am Kreuz, der Wirklichkeit der Hölle oder des Absolutheitsanspruchs der christlichen Wahrheit. Die Begegnung mit Alternativen in den theologischen Meinungsbildungen ist, gemäß Autoren wie Scot McKnight oder Brian McLaren, auch eine proaktive Herangehensweise. Sie versuchen im US-amerikanischen Evangelikalismus vernachlässigte theologische Traditionen, beispielsweise jene der Deutung des Kreuzestodes Jesu, aufzuzeigen. McLaren und Protagonisten der „revisionist“-Strömung bedienen sich ebenfalls bei außerchristlichen Traditionen.
14 Auf die Rolle und den Einfluss des Internets auf die religiöse Identitätsbildung in der „Emer� ging Church“-Konversation gehen Katharina Moody, Paul Teusner oder Tallskinnykiwi ein. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 6.2 Digitale Informations- und Kommunikationstechnologien und die „Emerging Church“-Konversation. 15 Rambo, „Theories of Conversion“ (1999), 262.
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
523
2.2.3 Grundzüge emergenter theologischer Diskurse Grundzüge emergenter theologischer Diskurse • Theologie ist vorläufig, lokal, zeitlich Zweifel oder Ablehnen eines Glaubenssystems
begrenzt
• „Zweifel“ als theol. Chiffre • theol. Themen, die unter Zweifel fallen (intellektuell)
• kathapha(sche Aussagen • Inklusion als Entgrenzung Verlust religiöser Erfahrung
• mys(sche Erlebnisse • Suche nach Erleben • Betonung der christlichen Praxis • Suche nach Ganzheitlichkeit
Individuum ist Ausgangs- und Fluchtpunkt
Abbildung 23: Emergente theologische Diskurse
Zunächst kann auf Ähnlichkeiten hinsichtlich der Prämissen für die Überzeugungsfindung für emergente Protagonisten und Dekonvertiten hingewiesen werden. Emergente Protagonisten propagieren theologisches Arbeiten, das beim eigenverantwortlichen Subjekt ansetzt und Überzeugungen am Individuum prüft. Es werden theologische Überzeugungen als vorläufig, situativ und auf lokale Bezüge bezogen betrachtet, was hinsichtlich dekonversiver Prozesse die Ungewissheit der weiteren Entwicklung der religiösen Identitätsbildung hervorstreicht. Metanarrative, Glaubenssysteme, propositionelle Zugänge sowie systematisierte theologische Überlegungen werden gemieden. Das dekonversive Merkmal „Zweifel oder Ablehnen eines Glaubenssystems“ findet sich in theologischen Grundzügen insofern, als Zweifeln, theologischen Unsicherheiten sowie beispielsweise kataphatischen Aussagen über Gott in der Konversation (speziell in der „revisionist“-Strömung und den von Caputo geprägten emergenten Protagonisten) Raum gegeben wird. Zweifel, Unbestimmtheit und Unabgeschlossenheit werden zu theologischen Chiffren deklariert, zum Interpretament stilisiert sowie Theologie als unabgeschlossene Konversation bestimmt. Der Konversationsbegriff unterstützt die Möglichkeit ambivalenter und viel-
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2. Diskussion der „Emerging Church“
fältiger Bestimmungen. Dies lässt sich mit dekonversiven Prozessen insofern in Beziehung bringen, als ein „turning from“ (Barbour) von einer vormaligen Orientierung überwiegt und ein möglicher Ausstiegsverlauf und damit ein „turning to“ noch ungeklärt ist. Damit sind emergente Protagonisten hinsichtlich theologischer Meinungsbildung mit jenen Dekonvertiten vergleichbar, die gemäß der Terminologie von Streib einen „religiösen Wechsel“, einen „integrierenden Ausstieg“16, einen „privatisierten“17 oder einen „häretischen“18 Ausstieg vollzogen haben – und damit eine Dekonversion erlebt haben, auch wenn sie sich neu im religiösen Feld verorten. Jene, die einen „säkularen Ausstieg“ unternommen haben, legten religiöse Überzeugungen gänzlich ab und jene, die einen „oppositionalen Ausstieg“ unternommen haben, bewegen sich in ein hoch verdichtetes abgeschlossenes Glaubenssystem (etwa in eine fundamentalistische Gruppe). Überdies sind Parallelen zwischen den Themenclustern und inhaltlichen Stolpersteinen wahrnehmbar, die für emergente Protagonisten sowie für Dekonvertiten hinsichtlich des Merkmals des intellektuellen Zweifels genannt werden. Dekonvertiten ringen mit ihrem Gottesbild, Vorstellungen von der Hölle, einer evangelikalen Bibelhermeneutik, der Frage nach dem Leid, der Vereinbarkeit von Naturwissenschaft und Glaube, christlichen Moralvorstellungen (etwa hinsichtlich Mit-Christen), sexualethischen Themen sowie mit gemeindlichen Leitungsfragen, beispielsweise die Frage nach den Leitungsämtern von Frauen (McKnight / Ondrey). All dies sind verdichtete Konversationsthemen in der „Emerging Church“, die in den drei Strömungen zwar verschiedene Antworten finden, jedoch für beide eine Loslösung und Neuinterpretation vormaliger Überzeugungen beinhalten. Eine prominente Auseinandersetzung mit der Kreuzestheologie sowie verschiedener „Reich Gottes“-Verständnisse, wie in der Konversation relevant, sind für Dekonvertiten im Allgemeinen zunächst nicht von vorrangiger Bedeutung. Für emergente Protagonisten kann die intensive Beschäftigung mit diesen zwei Themen als konstruktiver theologischer Formierungsprozess interpretiert werden – mit der Terminologie Barbours als „turning to“. Die Beschäftigung mit Verständnissen vom „Reich Gottes“ als „wiedergewonnene“ Botschaft des christlichen Glaubens will dem religiö16 Hier wechselt ein Mitglied einer zur Gesellschaft in Opposition stehenden Gruppe in eine gesellschaftlich mehr integrierte Gruppe. 17 Hier hört eine Person auf, Mitglied einer christlichen Gemeinschaft zu sein, behält aber ihre religiösen Überzeugungen und erlebt in situativen, punktuellen Begegnungen Gemeinschaft. Diese Person wird „unsichtbar religiös“. 18 Beim häretischen Ausstieg beendet eine Person ihre Mitgliedschaft bei einer Gemeinschaft und eignet sich neue religiöse Überzeugungen und Praktiken an, häufig in synkretistischer und individualistischer Form.
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
525
sen Subjekt neue Sinnhorizonte erschließen. Dass dies dahingehend geschieht, dass Gemeinde sowie Kirche demgegenüber nachgeordnet werden, bedarf in den nächsten Kapiteln einer weitergehenden theologischen Prüfung. Es scheint einen Zusammenhang in der Weise zu geben, als präsentische, sozialpolitische und gesellschaftstransformierende „Reich Gottes“-Verständnisse das Bedürfnis nach Partizipation und das Engagement eines aktiven Subjekts unterstützen. Hierzu werden exklusive und ausgrenzende Perspektiven (etwa beim Sühnetodverständnis) abgelehnt und Inklusion verschiedener Perspektiven sowie eine individuelle Regulierung dieser bevorzugt. Gleichzeitig wird hinsichtlich der Ausprägungen des Missionsbegriffs ein aktives Subjekt gescheut, dabei werden jedoch die Verkörperung von Gerechtigkeit sowie moralische und ethische Dimensionen christlichen Lebens betont. Bei den verschiedenen Darstellungen eines Missions- und Evangelisationsverständnisses wird einerseits deutlich, dass Abstand von überzeugungsdialogischen Ansätzen genommen wird. Andererseits wird zwar von kirchen- oder gemeindefokussierten Missionsverständnissen abgesehen, jedoch ein auf das Individuum bezogenes Handeln hinsichtlich sozialer, politischer, umweltethischer und gerechtigkeitsfördernder Aspekte betont. Der in der „Emerging Church“-Konversation verdichtet vorkommende Containerbegriff „Ganzheitlichkeit“ scheint unter dekonversiven Gesichtspunkten ein Indikator für ein selbstverantwortetes Subjekt zu sein, das auf der Suche nach Begegnung mit Alternativen und Erlebnisorientierung ist. Die Suche nach religiösen Erfahrungen, wie es in der Konversation durch die Betonung mystischer Erlebnisse thematisiert wird, lässt eine Reaktion auf das Dekonversionsmerkmal „Verlust religiöser Erfahrung“ aufscheinen. Obwohl der Verlust religiöser Erlebnisse in der Konversation thematisiert wird, wird dies lediglich vor dem Hintergrund einer postmodernen Erlebnisorientierung angesprochen, jedoch nicht im Kontext religiöser Entwicklung zur Sprache gebracht. Auffällig erscheint die Betonung der Praxis in der „Emerging Church“Konversation, welche religiöse Orientierung in einem präsentischen Horizont deutet und damit bei der Selbstvergewisserung des Einzelnen, beispielsweise durch sozialpolitisches Engagement, ansetzt. Durch diese Betonung wird religiöse Orientierung unter den Gesichtspunkten konkreter, greifbarer, verfügbarer und an Einzelnen sichtbarer Vollzüge interpretiert.
2.2.4 Die Thematisierung der Verhältnisbestimmung zum Kontext Die Unterscheidung zwischen Mikro-, Meso- und Makrokontext aufnehmend, können besonders auf der meso- und makrokontextuellen Ebene Themencluster festgestellt werden. Diese spielen für die Klärung des religiösen Selbstverständ-
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2. Diskussion der „Emerging Church“
Der Kontext als Faktor in dekonversiven Prozessen
nisses mit der besonderen Abwehr- und Loslösungsdynamik für emergente Protagonisten und Dekonvertiten eine vergleichbare Rolle.
Mikrokontext
„Emerging Church“-Konversa(on als „friendship“
Mesokontext
Kri(k an Gemeinden/Kirchen als religiöse Organisa(onen/Ins(tu(onen Kri(k an Megakirchen und „Church Growth“ Kri(k an religiösen Prak(ken und leitendem Handeln
Makrokontext
Auseinandersetzung mit Moderne u. Postmoderne, „christendom“ „postchristendom“, „Chris(anity“, Krise der Welt
Abbildung 24: Vergleichbarkeit der Kontexte
Auf der Mesoebene ist in der Konversation die deutliche Kritik an Gemeinden und Kirchen als religiöse Organisationen und Institutionen vernehmbar. Der Wunsch nach überschaubaren Gruppen und Gemeinschaften dominiert Diskurse zu Kritik an „Megachurch“- und „Church Growth“-Einflüssen im angloamerikanischen Evangelikalismus. Eine solche Kritik hat ihren Ursprung in biografischen Konflikterfahrungen oder Enttäuschungen mit vormaligen religiösen Organisationen und ist als Kennzeichen veränderter Bedingungen religiöser Identitätsbildung (Thumma) zu schildern. Ein weiteres Element, das die soziokulturelle Dimension in Dekonversionen im Mesokontext thematisiert, ist die in der Konversation institutionalisierte Kritik an religiösen Praktiken. Dies geschieht hinsichtlich des „mainline“-Protestantismus oder des Evangelikalismus und seinen Ausprägungen im Zusammenhang mit gottesdienstlichen Ausdrucksformen und leitendem Handeln. Für den Makrokontext kann festgestellt werden, dass einerseits die Auseinandersetzung mit Moderne und Postmoderne eine identitätsstiftende Rolle für den Diskurs hat. Dabei wird der Begriff Postmoderne in allen drei Strömungen der Konversation als Einladung verstanden und als Aufforderung diskutiert, wonach
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
527
christlich-religiöse Orientierung, gemeindliches Handeln sowie christliches Leben zu überdenken, neu zu gestalten oder einer Revision zu unterziehen sind.19 Daneben wird in der Konversation auf ein krisenhaftes Verständnis des eigenen christlichen Kontextes etwa in der verdichteten Auseinandersetzung mit der erlebten Gegenwart als „post-christendom“ hingedeutet. Dabei wird der Verlust des „christendom“ nicht betrauert, sondern willkommen geheißen und in das religiöse Selbstverständnis integriert. Es ist systematisch vom Niedergang oder Tod der Kirchen als Institutionen, vom Ende eines kulturgestützten Christentums („Christendom“) sowie vom Untergang organisierter Religion („Christianity“) die Rede. Daraus entwickeln sich verschiedene Argumentationslinien: eine pneumatologische, wenn es heißt, dass Gott größer als die christliche Religion sei; eine organisationale, d. h. „Christianity“ begegnet vonseiten emergenter Protagonisten einer Instituts-, Autoritäts-, und Kontrollskepsis; und eine kulturhermeneutische Argumentation, d. h. Ablehnung der Institution und Kirche sowie Reduktion und Konzentration auf „gelebte Religion“. Andererseits kann hinsichtlich des Makrokontexts für emergente Protagonisten eine Auseinandersetzung mit den „Systemen der Welt“ (McLaren) ausgemacht werden, d. h. mit dem Kapitalismus sowie im US-amerikanischen Kontext mit der Verquickung von religiösen und politischen Anliegen sowie der Bedeutung und Ausrichtung des Christentums. Emergente Protagonisten thematisieren in der Konversation Krisen der Welt sowie der Christenheit und äußern Kritik an dem Handeln Einzelner und der Kirchen / Gemeinden. Über die mikrokontextuelle Ebene (Familie, Freunde) in der „Emerging Church“Konversation können in der vorliegenden Arbeit keine Aussagen gemacht werden, da diese für die einzelnen Protagonisten unterschiedlich gewichtet sind. Es kann lediglich festgestellt werden, dass diese Ebene in der Konversation kaum besprochen wird. Ein Hinweis, der in der Darstellung der historischen Entwicklung und der Gründung der „Emerging Church“-Konversation beleuchtet wurde, lässt jedoch eine mögliche Bedeutung dieser Ebene erkennen. Es ist augenfällig, dass die führenden emergenten Impulsgeber sowohl im US-amerikanischen als auch im britischen Kontext, vornehmlich in der Entstehungszeit, freundschaftlich verbunden waren. Darüber hinaus lassen die Betonung der Konversation als „Freundesnetzwerk“ und Hervorhebung dialogischer 19 Jamieson und Streib et al. haben auf den Einfluss postmoderner Bedingungen auf die Revision der religiösen Orientierung und den Einfluss auf dekonversive Prozesse hingewiesen. Es wurde auch auf den Zusammenhang zwischen dekonversiven Prozessen und den empfundenen Herausforderungen postmoderner Bedingungen für „Gen X“ und „Gen Y“ hingewiesen, die eine erhöhte religiöse Mobilität aufweisen.
528
2. Diskussion der „Emerging Church“
Relationalität in lokalen Bezügen (Gruppen und Gemeinschaften) die Bedeutung dieser Ebene erahnen, deren Zusammenhänge einer empirischen Untersuchung bedürfen.
2.2.5 Die Bedeutung von Werten, Haltungen, Praktiken Im Folgenden sollen die in der „Emerging Church“-Konversation bedeutsamen Werte, Haltungen und Praktiken auf vergleichbare dekonversive Gesichtspunkte bezogen werden. Werte, Haltungen und Prak(ken
Interakt. m. Alterna(ven
Verlust religiöser Erfahrung
Praxisorien(erung/Orthopraxie: - „ancient-future-worship“ - bricolage - dialogisch-rela(onal - erlebnisorien(ert Suche nach Authen(zität
Individuum ist Ausgangs- und Fluchtpunkt
Abbildung 25: Werte, Haltungen und Praktiken
Die Phase „Interaktion mit Alternativen“ in dekonversiven Prozessen schließt organisch an die Phase „Begegnung mit Alternativen“ an und kann unter dem Gesichtspunkt der für die „Emerging Church“-Konversation wichtigen Praxisorientierung beziehungsweise Orthopraxie verhandelt werden. Auf die Praxis bezogen, zeigt sich ein Aspekt der Begegnung mit Alternativen für die religiöse Identitätsbildung in der Verwendung von „ancient-future“-Elementen, in gottesdienstlichen Handlungen sowie spirituellen Ausdrucksformen. Das Bemühen von Vertretern in der „alternative worship“-Szene auf altkirchliche theologische Traditionen, Praktiken und Deutungen zurückzugreifen bzw. diese wiederzugewinnen, spiegelt eine Interaktion wider, nämlich zuweilen mit anderen
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
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theologischen Strömungen und Religionen. Methodisch betrachtet, wird die Interaktion mit Alternativen durch bricolageartige Zugriffe auf Ressourcen, Alternativen und erlebnisbetonte spirituelle Praktiken erprobt. Gleichzeitig wird einem möglichen Erfahrungsverlust und vormaliger Erfahrungsarmut mit der Gestaltung von Erlebnisräumen, eben durch fremdartige Ressourcen, entgegengesteuert. Interaktion in der Konversation geschieht dabei in virtuellen und lokalen Kontexten dialogisch-relational. Gemeinschaftliche Prozesse, die der Individualität Raum geben, finden sich als Merkmale in der Konversation. In der „Emerging Church“-Konversation wird der aus der Anthropologie entlehnte Begriff „bricolage“ (übersetzt „basteln“, „beliebig variieren“) eingeführt und meint improvisiertes, adaptives Verhalten.20 Damit ist etwa der Umgang mit liturgischen Elementen verschiedener christlicher Traditionen, mit organischen und flexiblen Organisationsformen oder das Vereinen widersprüchlicher theologischer Positionen gemeint.21 Viele Gemeinschaften verwenden eine Vielzahl unterschiedlicher religiöser Ausdrucksformen in ihren öffentlichen Versammlungen, die nicht zwingend die betreffenden historischen Kontext beachten oder nicht zwingend wiederholt werden und damit für die Gemeinschaft spirituelle Kontinuität bieten. Dabei werden Stil und Ästhetik häufig der ursprünglichen inhaltlichen Bedeutung vorgereiht und unter dem Vorzeichen des Erlebnisses interpretiert. In der Konversation wird „bricolage“ erstens als „hören“ auf andere Frömmigkeitstraditionen (auch außerchristliche Traditionen) verstanden, zweitens als Ausdrucksform für die individuelle Spiritualität und drittens als Würdigung derjenigen Tradition, aus der man sich bedient. Für das „bricolage“-Verhalten werden in der Konversation verschiedene Begriffe vorgeschlagen.22 Doug Gay schlägt einen Begriff vor, der das Zusammenspielen der unterschiedlichen Traditionen in emergenten Gemeinschaften widerspiegeln soll: „DIY [Do it yourself] ecumenism“. Mit diesem Begriff vereint er Individualität mit dem Wunsch emergenter Protagonisten, Frömmigkeitstraditionen zu erschließen und Frömmigkeitsgräben zu überbrücken. Scott Thumma formuliert das Ergebnis einer „bricolage“-Religiosität 20 Zum Begriff siehe: Strauss, Savage Mind (1962). Der Begriff „bricolage“ wird beispielsweise konkret in der Gemeinschaft „Solomons’s Porch“ eingebracht, wenn sie ihre Gemeinschaft verstehen als: „bricolage communion“. Ward, Selling Worship (2005), 199. Der Begriff wird analog zum post-strukturalistischen Begriff „bricolage“ oder dem Begriff „hybridity“ in postkolonialer Theorie verwendet. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 90. Jaaware, Simplifications (2001), 259–260. 21 Explizit verweisen beispielsweise Burke und Taylor auf ihren Zugang zur christlichen Tradition durch die Theorie der „bricolage“. Piatt (Hg.), Banned Questions About Christians (2014). Oder Ed Stetzer formuliert es als „ironic faith“. http://www.christianitytoday.com/ct/2008/sep� tember/39.62.html am 11.02.2015. 22 Siehe Abschnitt II Kapitel 12.6 „Praxis“ als christliche Spiritualität.
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2. Diskussion der „Emerging Church“
kritisch als: „boutique religion“23. In der „Emerging Church“-Konversation verdichtet sich ein bereits angedeutetes Phänomen, nämlich das Überschreiten konfessioneller Frömmigkeitsgrenzen, denominationaler Grenzen und theologischer Gräben.24 Der Ausgangs- und Bezugspunkt ist dabei das Individuum. Unter dem Gesichtspunkt der Veränderung der religiösen Orientierung weist „bricolage“ eine dekonstruierende und konstruierende Perspektive auf. Dekonstruierend und damit dekonversiven Prozessen näher ist sie dann, wenn eine vormalige religiöse Orientierung unter Zuhilfenahme fremder Elemente in neue Bedeutungs- und Sinnhorizonte gestellt wird. Damit geschieht eine Loslösung vom Vormaligen. Eine konstruierende Perspektive wird eingenommen, wenn die Praktiken nicht mehr nur dem Hinterfragen und der Distanzierung von der religiösen Orientierung dienen, sondern eine neue religiöse Identität erprobt und damit der Versuch einer Rekonstruktion der religiösen Identität sichtbar wird.
2.2.6 Emergente Protagonisten und die verschiedenen Dekonversionstypen Es ist ertragreich, die von Jamieson sowie von Streib et al. erarbeiteten Dekonvertiten-Typologien mit den emergenten Protagonisten25 ins Gespräch zu bringen, um vergleichbare Charakteristika zu erschließen. 23 Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 189–194. Vgl. Packard, The Emerging Church (2012), 135. 24 Die historischen Entwicklungen im Evangelikalismus sind mit dem Einfluss der charismatischen Erneuerung in Großbritannien und Nordamerika von Pete Ward in den Untersuchungen „Growing up Evangelical“ und „Selling Worship“ aufgearbeitet worden. Ward streicht hervor: „For the charismatic worshipper, though many still value the sermon and indeed, the act of communion, encounter with God is located primarily in the singing of songs and in the intimate times of prayer and ministry which are often the climax of a time of worship. This means as the Mass is for Catholics and the Sermon is for Protestants, so the singing of songs for charismatics.“ Ward, Selling Worship (2005), 199. Siehe auch Ward, Growing Up Evangelical (1996). Die Art und Weise, wie auf andere Traditionen und Frömmigkeitsstile „gehört“ wird, wurde laut dem britischen Theologen Doug Gay durch drei „contextual shifts“ verstärkt bzw. erst in dieser Intensität möglich gemacht. Zum einen beschreibt er den ökumenischen Weltkirchenrat, der sich mit Fragen der Ekklesiologie, der Mission und des Gottesdienstes auseinandersetzt. Zum Zweiten betont er die Veränderung des ökumenischen Klimas nach dem Zweiten Vatikanum, in dem ein fremdes theologisches Gegenüber (Gay meint hier den „low church protestantism“) nicht mehr als bedrohlich empfunden wurde. Als Drittes nennt er die Be�wegung nach dem Zweiten Weltkrieg, die die Dekolonisation vorantrieb und eine post-koloniale Theologie entwickelte. Gay, Remixing the Church (2011), 43. 25 Hierzu wird der Definition von Ganiel und Marti gefolgt. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 2 Definitionen des Phänomens „Emerging Church“.
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
531
Zwei der vier Typen von Jamieson, die die Gemeinde verlassen haben, besitzen Entsprechungen zu emergenten Protagonisten: zum einen der „desillusionierte Anhänger“ und zum anderen der „reflektierte Aussteiger“. Während sich der reflektierte Aussteiger von der vormaligen Gemeinschaft gelöst hat, steht der desillusionierte Anhänger noch in einer Abhängigkeit zur vormaligen „EPC“-Gemeinschaft. Der desillusionierte Anhänger ist gekennzeichnet durch kritische Distanz, Protest und Kritik gegenüber der alten Gemeinschaft. Dagegen stellt der reflektierte Aussteiger (häufig durch einen Impuls von außen) seine religiöse Orientierung grundsätzlich infrage und befindet sich in einer Zeit inhaltlicher Ungewissheit sowie Unbestimmtheit. Jamieson gibt mit dem Begriff „exiles“ (bei „reflective exiles“) einen Hinweis, der sowohl Dekonvertiten als auch emergente Protagonisten darin vereint, dass sie sich religiös heimatlos fühlen.26 Eine schwächere Entsprechung gibt es mit den zwei anderen Typen: Während die „vorübergehenden Entdecker“ einen neuen Glauben konstruieren und sich nicht mehr mit der zurückgelassenen Orientierung beschäftigen, hat der „ganzheitliche Sucher“ gelernt, verschiedene Glaubensinhalte in Spannung zueinander stehen zu lassen oder auch außerchristliche Elemente zu integrieren. Jamieson weist darauf hin, dass dieser letzte Typ die religiöse Identitätsbildung abgeschlossen habe. Eine Entsprechung zu emergenten Protagonisten findet sich bei den „vorübergehenden Entdeckern“ in dem Erproben und der Interaktion mit alternativen religiösen Identitäten, während eine abgeschlossene religiöse Identitätsbildung für Protagonisten in der Konversation zumindest im Selbstanspruch nicht ermittelt werden kann. Jamieson trifft auf nachkirchliche Gruppen (wie auch Aisthorpe), die von der Mehrheit der Befragten besucht werden, vor allem von „vorübergehenden Entdeckern“ und „ganzheitlichen Suchern“, die dort ihr Bedürfnis nach Gemeinschaft stillen. Jamieson unterteilt die von ihm untersuchten nachkirchlichen Gemeinschaften in zwei Gruppen: „Marginal groups“ legen den Fokus auf die Dekonstruktion vormaliger religiöser Orientierung und ziehen vornehmlich desillusionierte Anhänger und reflektierte Aussteiger an. „Liminal groups“ hingegen legen einen Schwerpunkt auf die Konstruktion einer neuen religiösen Orientierung. Dabei zeigt er, dass bei seinen Befragten auch Bewegungen zwischen den Gruppen, d. h. von „marginal“ zu „liminal“, erkennbar sind. Jamiesons Ergebnisse weisen eine Nähe zum
26 Gleichwohl Jamieson besonders bei dem desillusionierten Anhänger und dem reflektierten Aussteiger zum einen die geringe und zum anderen die bedeutende Entfernung von der vormaligen christlichen Gemeinschaft betont, lässt sich keine angemessene Vergleichbarkeit zu den drei Strömungen in der „Emerging Church“-Konversation eruieren. Zwar ist bei den Protagonisten der „relevants“ erkennbar, dass sie ihren vormaligen Überzeugungen treu blei�ben, ähnlich wie die desillusionierten Anhänger, der Protest und die Kritik der Gemeinschaft gegenüber sind jedoch nicht auf die Strömung der „relevants“ zu beschränken.
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2. Diskussion der „Emerging Church“
Selbstanspruch emergenter Gruppen und Gemeinschaften auf, besonders zu jenen der „revisionist“-Strömung, wenn von Orten des Hinterfragens sowie Dekonstruierens gesprochen wird, also im Sinne von „marginal groups“. Gleichzeitig lassen sich in dieser Hinsicht Ähnlichkeiten zu „liminal groups“ erkennen, wenn diese als „Erprobungsräume“ verstanden werden und nicht als Räume, in denen es zu religiöser Identitätsstabilisierung kommt. So können Begegnungsräume in der Konversation unter beiderlei Gesichtspunkten verstanden werden. Eine fruchtbare Diskussion zeigt sich ebenfalls zwischen emergenten Protagonisten und der Dekonvertiten-Typologie sowie den Ausstiegsverläufen von Dekonvertiten von Streib et al. Ein Zugriff auf die Typologien geschieht dabei sowohl über die Ähnlichkeit inhaltlicher Kennzeichen und Merkmale als auch über die Dekonversionsverläufe der Typen. Verläufe können bei emergenten Protagonisten in der Konversation angedeutet werden, wenn die religiöse Herkunftstradition emergenter Protagonisten mit der religiösen Selbstzuschreibung verglichen wird.27 Die Ergebnisse von Streib et al. wurden bereits dargestellt: die Ausstiegsverläufe von Dekonvertiten sind typisierbar als säkularer Ausstieg, oppositionaler Ausstieg, religiöser Wechsel, integrierender Ausstieg, privatisierter Ausstieg sowie als häretischer Ausstieg.28 Folgende Darstellung führt die Bewegungen im religiösen Feld vor Augen.29
27 Dies kann jedoch nicht im Einzelfall erfolgen, sondern nur im Sinn der Ermöglichung durch die Konversation. 28 Siehe Abschnitt I Kapitel 2.1.2.7 Streib et al. „Bielefeld-based Cross-cultural Study on Decon�version“ (2009). 29 Streib / Hood u. a., Deconversion (2009), 32.
2.2 Diskussion anhand der Themencluster
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Abbildung 26: Dekonversionen im religiösen Feld nach Streib et al.
Die mobilen religiösen Biografien emergenter Protagonisten regen an, die Bewegungen emergenter Vergemeinschaftung im religiösen Feld, gemäß Streib und Hood, zu eruieren. Dabei lassen sich Vergemeinschaftungen im organisierten Segment und im unorganisierten Segment feststellen. Es kann wiederholt werden, dass hinsichtlich der „Emerging Church“-Konversation zwei Ausstiege ausgeschlossen werden können: Der säkulare Ausstieg ist für emergente Protagonisten nicht relevant, da jene, die diesen Ausstieg gewählt haben, nicht mehr Teil religiöser Diskurse sind und damit auch nicht Teil der „Emerging Church“-Konversation. Zweitens ist der „oppositionelle Ausstieg“, der den Wechsel zu einer „high tension“-Gruppe (Sekten-Typ) beschreibt, mit der „Emerging Church“-Konversation nicht in Einklang zu bringen. Da sich Protagonisten in der „Emerging
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2. Diskussion der „Emerging Church“
Church“-Konversation als antihierarchisch sowie antiinstitutionell mit niedriger Organisationsleistung verstehen, kann dieser Ausstieg ausgeschlossen werden. Es verbleiben vier Verläufe, die in der „Emerging Church“-Konversation hinsichtlich der Neupositionierung im religiösen Feld entdeckt werden können: a) religiöser Wechsel (Migration in ein ähnliches System), b) integrierender Ausstieg (beispielsweise von evangelikal zu „mainline“), c) privatisierter Ausstieg, d) häretischer Ausstieg. Schließlich können die Dekonvertitentypen (nach Streib et al.) aufgenommen werden. Ähnlichkeiten zu emergenten Protagonisten sind beim „Autonomiestrebenden“, beim „Paradiesvertriebenen“ sowie beim „lebenslangen Sucher“ vorzufinden.30 Der Typ „Referenzrahmen-Wechsler“, der eine neue persönliche Religiosität erlebt, wählt vornehmlich einen oppositionellen Ausstieg und sucht nach mehr Intensität und Anleitung im eigenen religiösen Leben. Dieser Typ würde der von einer Hermeneutik der Konversation geprägten „Emerging Church“ vermutlich nicht lange erhalten bleiben. Da den „Autonomiestrebenden“ häufig das Entwachsen aus der elterlichen religiösen Orientierung charakterisiert, ist eine Ähnlichkeit mit jenen emergenten Protagonisten erkennbar, die ein Entwachsen aus einem evangelikalen oder evangelikal-fundamentalistischen Elternhaus oder aus dem Evangelikalismus allgemein erlebt haben. Bei diesem Typ stehen die Individualität sowie die Entwicklung einer neuen religiösen Orientierung im Vordergrund, die sich durch Entfremdung und Loslösung zur vormaligen Orientierung konstituiert. Der „Paradiesvertriebene“ ist als Wahrnehmungshilfe für emergente Protagonisten deshalb hilfreich, da er häufig, mit der vormaligen religiösen Tradition tief verbunden, aufgrund enttäuschter Erwartungen (beispielsweise Erwartungen an Leitungspersonen oder Strukturen) mehrheitlich einen säkularen, privaten oder häretischen Ausstieg wählt und sich keiner religiösen Organisation mehr anschließt. Weil dieser Typ durch eine dramatische Dekonversion charakterisiert ist, scheint eine Ähnlichkeit zur Krisenrhetorik emergenter Protagonisten vorzuherrschen. Der „lebenslange Sucher“, der vornehmlich den privaten oder häretischen Ausstieg wählt, ist auf der Suche nach religiöser Erfüllung und weist mehrfache Dekonversionen auf.31 Dieser Typ ähnelt emergenten Protagonisten hinsichtlich seiner religiösen Mobilität.
30 Für eine Darstellung der Typologie siehe Abschnitt I Kapitel 2.1.2.7.4.5 Dekonversionstypen. 31 Der Typ „Referenzrahmen-Wechsler“ kommt aufgrund seines Wechsels zu einer Gemeinschaft mit „higher tension“ und dem Erleben einer neuen persönlichen Religiosität sowie einer damit verbundenen Erfahrung der Rekonversion für eine Vergleichbarkeit mit der Konversation nicht infrage.
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2.2.7 Diskussion der Differenzen zwischen Dekonvertiten und emergenten Protagonisten An dieser Stelle sollen nicht-vergleichbare Elemente dekonversiver Prozesse mit der „Emerging Church“-Konversation angeführt werden. Auffallend ist, dass es in der Konversation zu zwei Phasen dekonversiver Prozesse keine verdichteten Diskurse gibt. Dies gilt sowohl für die Phase, in der ein Entschluss zur Trennung von einer vormaligen religiösen Orientierung dominiert, als auch für jene Phase, in der die Konsequenzen nach einer Trennung von einer religiösen Orientierung vorrangig sind. Es kann festgestellt werden, dass in der Konversation (in allen drei Strömungen und historischen Phasen) keine verdichteten Diskurse stattfinden, die Empfehlungen nahelegen, die vormalige religiöse Orientierung zu verlassen. Stattdessen wird Neuinterpretation sowie Erneuerung propagiert. Inhaltliche Verbindlichkeiten oder Entschlüsse, wie sie in dekonversiven Prozessen vorkommen (also für oder gegen religiöse Überzeugungen, Praktiken oder Gemeinschaften), werden in der Konversation nicht methodisch evoziert. Zudem wird deutlich, dass es keine systematisierten Anleitungen für praktische Konsequenzen nach der Trennung von einer religiösen Orientierung gibt. Auch werden Konsequenzen für die Praxis zur Klärung des religiösen Selbstverständnisses nicht methodisch reguliert. Emergente Protagonisten bleiben in der Gestaltung ihrer religiösen Orientierung eigenverantwortlich und ebenso auf sich gestellt. Durch den Verzicht der „Emerging Church“-Konversation auf eine gesteuerte gemeinsame religiöse Ausrichtung sowie den Verzicht, konkrete Vorgaben zur Gestaltung der religiösen Orientierung zu geben, bleibt sie dem Grundanliegen, ein Diskursraum zu sein, treu. Damit werden aber zugleich dort, wo emergente Gemeinschaften Teil etablierter religiöser Strukturen sind, mögliche Ressourcen der jeweiligen Denomination oder Organisation aktiviert. Daneben wenden sich emergente Protagonisten in der Konversation nach einer Zeit im Diskursraum „Emerging Church“ religiösen Gemeinschaften und Traditionen zu. Es sind Bewegungen in den „mainline“-Protestantismus und in andere verfasste Verbände und Kirchen beobachtbar.32 Intraperspektivische Kennzeichen von Dekonvertiten, wie etwa eine ausgeprägte Orientierung an Fairness und Toleranz, ein Interreligiöser Dialog und damit auch schwächer ausgeprägte Wahrheitsansprüche zeigen mit Aspekten der „Emerging
32 Beispielhaft gilt dies für folgende emergente Protagonisten: Dave Tomlinson, Jonny Baker, Tony Jones, Rachel Held-Evans, Nadia Bolz-Weber.
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2. Diskussion der „Emerging Church“
Church“-Konversation eine augenfällige Korrespondenz, ohne jedoch über Einzelne eine Aussage treffen zu können. Es zeigt sich, dass die genannten intraperspektivischen Kennzeichen als Haltungen und Konversationsbedingungen sowie als erstrebenswerte Ideale theologischen Bemühens und als Bedingungen des Dialogs thematisiert werden. Zuletzt kann bemerkt werden, dass ein weiteres Merkmal dekonversiver Prozesse, nämlich die emotionale Leiderfahrung, wie Trauer, Schmerz oder Schicksalsschläge, wenn überhaupt, dann lediglich mit dem Fokus auf Kränkungen, die durch Strukturen, Überzeugungen und Leitungsverantwortung hervorgerufen wurden, thematisiert wird. Emotionale Leiderfahrung durch familiäre oder biografische Konstellationen sowie persönliche Schicksalsschläge oder Leiderfahrungen, die unvereinbar mit dem Gottesbild erscheinen, kommen in der Konversation nicht als verdichtetes Themencluster oder als Diskurs vor. Aus der Perspektive der „Emerging Church“-Konversation ist festzustellen, dass es für folgende Aspekte scheinbar keine Entsprechungen zu dekonversiven Merkmalen und Phasen gibt: für Haltungen wie Konsumkritik, Inklusion hinsichtlich Gleichberechtigungsdebatten (Frauen, Homosexuelle), für die Bedeutung von Orten sowie die Aufhebung von Dualismen, für die Rolle von charismatischen emergenten Entrepreneuren oder partizipative Führungs- und Leitungsmodelle.
2.3 Zusammenfassung Die hier zusammengetragenen Überlegungen zeigen, dass es augenfällige Entsprechungen zwischen dekonversiven Phasen und Merkmalen und der „Emerging Church“-Konversation gibt. Der vorliegende Abschnitt führt nun dahingehend über die zu Beginn des Kapitels von Ganiel und Marti vorgestellte Definition emergenter Protagonisten hinaus, als dass die vorgestellten Entsprechungen als Elemente identifiziert werden, die für die Konversation konstitutiv sind. Der Begriff „dekonversiver Diskursraum“ kann folglich als prägnante Zusammenfassung für die „Emerging Church“-Konversation im Hinblick auf dekonversive Phasen und Merkmale geltend gemacht werden.
Abschnitt IV Theologische Verständigung über den Untersuchungsgegenstand „Emerging Church“-Konversation
„Unsere Väter hofften auf dich; und da sie hofften, halfst du ihnen heraus.“ Psalm 22,5 (LUT17) „Wer zweifelt, der gleicht einer Meereswoge, die vom Winde getrieben wird.“ Jak 1,6 (EU16)
1. Konzeption des Zweifels 1.1 Verhältnisbestimmung zwischen Dekonversion und Zweifel Nach der Interpretation des Forschungsgegenstandes aus der Perspektive dekonversiver Merkmale und Phasen gilt es nun danach zu fragen, welcher theologische Standpunkt hinsichtlich des dekonversiven Konversationsnetzwerks „Emerging Church“ eingenommen werden soll. Es soll eine theologische Kriteriologie für jene treibende Kraft in der Bewegung entwickelt werden, die die Bedingungen der Themen und Diskurse in der Konversation zulässt und herausbilden lässt. Während diese aus religionssoziologischer Sicht als dekonversive Merkmale und Phasen erkennbar werden, werden die Bedingungen nun im Folgenden aus theologischer Sicht eruiert. Es ist dabei nicht selbsterschließend, welche biblisch-theologischen sowie systematisch-theologischen Kategorien welchen religionssoziologischen und religionspsychologischen Kategorien entsprechen. Es wird problematisch, wenn man undifferenzierte Gleichsetzungen unternimmt und z. B. Dekonversion als „Abfall vom Glauben“ beschreibt.1 In diesem Fall lässt sich aus den bisherigen Darstellungen schnell zeigen, dass eine solche Gleichsetzung unzutreffend ist, da emergente Protagonisten ihre Dekonversion in vielen Fällen als Befreiung (Streib et al.) und als Schritt in die religiöse Mündigkeit (Jamieson, Faix et al.) empfinden sowie sie sich neu im organisierten und unorganisierten religiösen Segment verorten (Streib et al.).2 Mit dem Terminus „Abfall vom Glauben“, der aus der Innenperspektive einer religiösen Gemeinschaft ein Erklärungsversuch für Los1
Exemplarisch wird eine Verhältnisbestimmung zwischen theologischen und religionspsychologischen Kategorien von Klessmann problematisiert. Klessmann, „Religion und Gesundheit“ (2011), 33–34. 2 Zudem ist im Hinblick auf Dekonversionen in Erinnerung zu rufen, dass Untersuchungen wie jene von Jamieson und Streib et al. einen Zusammenhang zwischen Dekonversionen und Glaubensentwicklung nachweisen.
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und Abwehrprozesse darstellen kann, wird man zudem der Entwicklung und Veränderung der individuellen religiösen Orientierung nicht gerecht. Aus theologischer Sicht erscheint es sinnvoll, den Begriff „Zweifel“ als entsprechendes theologisches Pendant für die religionswissenschaftliche Beschreibung dekonversiver Merkmale heranzuziehen. Strukturelle Korrespondenzen zeigen sich beispielsweise darin, dass auf anthropologischer Seite Zweifel nicht als Position, sondern als Bewegung von einer bisherigen Position weg verstanden wird.3 Den etymologischen Ausführungen Zimmermanns zufolge, können „Unsicherheit“ und „Ungewissheit“ mit dem Bedeutungsfeld „Zweifel“ in Verbindung gebracht werden. Zu zweifeln heißt demnach, „zwischen den beiden fundamentalen Einstellungen der Bejahung oder Verneinung“4 zu stehen. Etymologisch scheint Zweifel von „zwei“ und „falt“ zu kommen und bezeichnet ein „Zweifältiges, Gespaltenes“.5 Dem Zweifel inhärent ist ein Problem, einen Zwiespalt zu exponieren, also nicht zu verbergen, sondern im positiven Sinn „zu entbergen“. Der Zweifel ist nicht statisch, sondern impliziert eine Dynamik, entweder in jener Hinsicht, dass er eine Oszillation zwischen unzureichenden Gründen darstellt, oder eine Verzweigung, die sich ins Unendliche fortsetzt und niemals aufhört. Es lassen sich weitere Entsprechungen zwischen dekonversiven Merkmalen und einem „weiten“ Verständnis von Zweifel belegen. In der gegenwärtigen Forschung werden im Blick auf den Gegenstand „Zweifel“ Differenzierungen geboten.6 Mit Melanie Beiner lässt sich hinsichtlich des Zweifels folgende Typologie erkennen. Zweifel erscheint als 1. intellektuelles, kognitives Phänomen, z. B. Zweifel an kognitiver Plausibilität, 2. existenzielles Phänomen, z. B. als Zweifel an der Orientierung über Sinn und Ziel des Lebens und 3. praktisches oder moralisches Problem, z. B. als Zweifel an dem Wert einer Handlung.7 3 Damit folge ich den Ausführungen von Veronika Hoffmann, siehe Hoffmann, „Zweifel, Säkularität und Identität“ (2017), 22–24. 4 Zimmermann, „An Gott zweifeln“ (2006), 307. 5 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (1989), 820. 6 Es soll darauf hingewiesen werden, dass im Folgenden nicht auf eine erkenntnistheoretische Perspektive eingegangen wird (d. h. auf die Frag, welchen Gewissheitsgrad religiöse Aussagen erreichen können) oder auf eine Auseinandersetzung mit bestimmten bezweifelten Inhalten eingegangen wird. Siehe dazu exemplarisch Koritensky, „Zweifel und Charakter“ (2017). Zudem gibt es eine breite (religions-)philosophische Diskussion der Skepsis, die an dieser Stelle ebenfalls nicht angeführt wird. Siehe dazu exemplarisch Hoff, „Fragwürdigstes“ (2017). Kohler, „Der philosophische Zweifel“ (2011). 7 Beiner, Art. „Zweifel. I Systematisch-theologisch“ (2004), 767. An dieser Stelle soll auf eine in der gegenwärtigen Forschung häufig rezipierte Unterscheidung des Zweifels von Kurt Hübner hingewiesen werden. Hübner spricht von vier zusammen-
1.1 Verhältnisbestimmung zwischen Dekonversion und Zweifel
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Für die in dieser Arbeit erfassten Merkmale der Dekonversion lassen sich, unter der Voraussetzung einer relativen Durchlässigkeit der jeweiligen Trennlinien, auffällige Korrespondenzen zeigen.8 a) Zweifel und Ablehnen eines Glaubenssystems, (vergleiche 1.) b) moralische Kritik, (vergleiche 3.) c) emotionale Leiderfahrung, d) Verlust von Gemeinschaft, (vergleiche 3.) e) Verlust religiöser Erfahrung, (abhängig davon, ob Erfahrung existenziell verstanden wird oder erlebnisorientiert, vergleiche 2. oder 3.) In einer ersten Sichtung der möglichen Zuordnungen fällt auf, dass emotionale Leiderfahrungen von Beiner nicht gesondert erfasst werden. Insoweit kann die Definition Beiners um einen weiteren Aspekt des Zweifels, nämlich Zweifel,
hängenden Weisen des Zweifels an mythischen und religiösen Wirklichkeitsaussagen im neuzeitlichen Denken: Hübner, Glaube und Denken (2004), 8–14. Der theoretische Zweifel. Der subjektiven und apriorischen Bedingungen der Erfahrung kann der Mensch niemals gewiss sein, sodass sie immer nur hypothetisch bleiben. Der theoretische Zweifel ist versucht, die gewonnenen Erkenntnisse der empirischen Wissenschaft absolut gültig zu beschreiben. Der fundamentale Zweifel. Der Mensch bedarf der Gnade der Offenbarung, um zu glauben. Der fundamentale Glaubenszweifel will die Möglichkeit des Glaubenkönnens generell infrage stellen. Der Auslegungszweifel. Das Verstehen der Offenbarung stößt an Grenzen. Der Auslegungszweifel entzündet sich an der pluralistischen Auslegung einer historisch verstandenen normativen Schriftauslegung einer Glaubensgemeinschaft. Der existenzielle Zweifel. „Diesen Zweifel durchlebt nicht der, welcher dem Glauben von außen in einer Art distanzierter Skepsis gegenübersteht, sondern, der, welcher den Glauben schon hatte und ihn wieder verlor, ohne dabei die religiöse Sphäre verlassen zu haben.“ A. a. O., 14. „Deswegen hat der existentielle Zweifel auch weder etwas mit jener ironisch-spöttischen oder verächtlichen Haltung des Aufklärers zu tun, die immer dem theoretischen Zweifel entspringt, noch mit jenem ‚fröhlichen‘ Nihilismus des ‚Nichts ist wahr, alles ist erlaubt!‘, der meist dieselbe Wurzel hat. […] Wer aus dem Glauben in den existentiellen Zweifel gestürzt ist, befindet sich auf der verzweifelten Suche nach dem, was er verloren hat. […] Doch ist das Kennzeichnende solcher Fragen als einer Weise der Anfechtung dies, daß sie, scheinbar paradoxer Weise, den Glauben an die Existenz dessen voraussetzen, wonach gefragt wird. So lebt noch im tiefsten, existentiellen Gotteszweifel dunkle Gottesgewißheit.“ A. a. O. 8 Es kann festgestellt werden, dass die Kerndimensionen der Religiosität, wie sie mit dem in dieser Arbeit erarbeiteten Dekonversionsbegriff übereinstimmen, in einem „weiten Verständnis“ des Begriffs von Zweifel wiederzufinden sind. Siehe QR-Code im Vorwort, dort: Exkurs: Anschlussfähigkeit des Dekonversionsbegriffs an Kerndimensionen der Religiosität. Neben der intellektuellen Ebene (vergleiche 1.), mit der Zweifel zunächst überwiegend in Verbindung gebracht wird, finden sich ebenso die ideologische Ebene (vergleiche 1.), die Ebene der öffentlichen und privaten Praxis (vergleiche 3.) sowie die Ebene der Erfahrungen (vergleiche 2.) wieder. Ebenso lässt sich die Ebene der Konsequenzen für den Alltag (vergleiche 3.) in der „weiten“ Definition von Beiner, beispielsweise unter dem dritten Punkt, identifizieren.
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der als emotionale Leiderfahrung erlebt wird, ergänzt werden. Die vorliegende Untersuchung stützt sich somit auf einen mehrdimensionalen Begriff von Zweifel – wie es auch für den Dekonversionsbegriff bestimmt wurde. Als Ertrag dieses Gedankenganges kann festgehalten werden, dass ein „weites Verständnis“ von Zweifel sinnvoll erscheint, um den dekonversiven Diskursraum „Emerging Church“ theologisch zu interpretieren. Hinsichtlich der „Emerging Church“-Konversation wird Kurt Hübners Ausführungen gefolgt, der die Virulenz des Zweifels in der existenziellen Betroffenheit des Gläubigen ausmacht.9 Religiöse Subjekte ringen aktiv um Überzeugungen, Praktiken, Emotionen und eine für sie angemessene Vergemeinschaftung. Ausgehend von der existenziellen Betroffenheit lassen sich die anderen Dimensionen wahlweise erschließen.10 Mit Blick auf die Konversation trifft dies für emergente Protagonisten insofern zu, als sie aufgrund existenzieller Betroffenheit Teil der Konversation wurden und damit um eine subjektive Synchronisationsleistung ihrer religiösen Orientierung ringen. Dabei wird in der vorliegenden Arbeit der Fokus darauf gerichtet von einem religiösen Subjekt auszugehen, welches aufgrund von Zweifel, beziehungsweise im dekonversiven Prozess, vormalige Überzeugungen, Praktiken usw. infrage stellt und einer Revision unterzieht.11 Während zunächst ein religiöses Selbstverständnis der Ausgangspunkt des Zweifelnden ist, ist der Fluchtpunkt des Zweifels keineswegs klar – vergleichbar mit dekonversiven Prozessen. Zweifel kann unter-
9 In dieser Arbeit wird dem Zweifel des Glaubenden gefolgt. Aufgrund der persönlichen Bedeutsamkeit des Glaubens unterscheidet sich der Zweifler vom Indifferenten, dem die persönliche Relevanz fehlt. Hoffmann führt aus: „Denn für den Bewegungsimpuls des Zweifels bedarf es eines Minimums an Bedeutsamkeit der in Frage stehenden Optionen: was nicht relevant ist, muss auch nicht angezweifelt werden.“ Hoffmann, „Zweifel, Säkularität und Identität“ (2017), 31. Hübner führt weiter aus, dass sich aus dieser existenziellen Weise die anderen bereits erwähnten Weisen erschlössen. „In christlicher Sicht zeigt sich gerade darin das allen aufgeführten Zweifeln Gemeinsame: Die fundamentale, in der Endlichkeit des Menschen begründete Schwäche. Es liegt in dieser Schwäche, daß er seiner subjektiven und apriorischen Bedingungen der Erfahrung niemals gewiß sein kann, so daß sie immer nur hypothetisch bleiben werden– worauf der theoretische Zweifel beruht; daß er der Gnade der Offenbarung bedarf um zu glauben – worauf der fundamentale Zweifel zurückzuführen ist; daß sein Verstehen der Offenbarung auf Grenzen stößt – worin der Auslegungszweifel wurzelt; und daß ihn schließlich die Glaubensgnade immer wieder verlassen kann – wodurch er der Anfechtung des existentiellen Glaubenszweifels verfällt.“ Hübner, Glaube und Denken (2004), 14–15. 10 In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Zugriff auf den theologischen Begriff Zweifel von dem in dieser Arbeit vorgestellten Dekonversionsbegriff. Der Dekonversionsbegriff wurde als polythetischer Begriff beschrieben, der besagt, dass einzelne Charakteristika zu einer Klasse zusammengeführt werden. Wesentlich ist dabei, dass es keine Rangordnung oder ausschließlichen Zugriffspunkt auf die Sammlung der Merkmale gibt. 11 Damit wird in der vorliegenden Arbeit nicht in den Blick genommen, dass Zweifel auch Wegbegleiter bei Konversionen sein können. Siehe dazu Zimmermann / Herbst u. a., „Zehn Thesen zur Konversion“ (2010), 92–99.
1.1 Verhältnisbestimmung zwischen Dekonversion und Zweifel
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schiedliche Verläufe haben. In dieser Arbeit wird aufgrund des Forschungsgegenstandes Zweifel besonders hinsichtlich seiner „glaubenstransformierenden“ Kraft betrachtet. Dabei bedarf es einer theologischen Orientierung und Bewertung, die die ermöglichenden und gefährdenden Aspekte in den Blick nimmt. Um die Rolle und Bedeutung des Zweifels in Bezug auf den in der Konversation vorgestellten Ansatz „gelebter Religion“ angemessen zu untersuchen, ist es im Weiteren notwendig, Zweifel und die angrenzenden Bedeutungen, wie Anfechtung und Glaubensabfall sowie die entsprechende Entgegensetzung, wie etwa Glaubensgewissheit, zu klären und diese sodann in ein Verhältnis zu setzen. Dabei werden die sich eröffnenden Problemhorizonte knapp in ihrem systematischen Zusammenhang erschlossen und eingeordnet. In den weiteren Darstellungen kann aus der Fülle der theologischen Literatur nur eine Auswahl von Denkansätzen miteinbezogen werden, die für den Forschungsgegenstand relevant erscheinen. Ertrag dieses Kapitels soll sein, theologische Denkfiguren zur Befragung des Forschungsgegenstandes zu ermitteln. Dies geschieht, indem verschiedene Deutungsperspektiven des Zweifels dargestellt werden. Dabei nähert sich die Darstellung dem Zweifel in seiner Spannung, etwa als dem Glauben zugeordnet und dem Glauben feind oder auch als Glaubensprüfung in der Rede von der Anfechtung und als Gefahr des Weges zum Glaubensabfall. Die vorgestellten Perspektiven lassen sich nicht alle in ein kohärentes Konzept über den religiösen Zweifel integrieren, da sie zuweilen auf verschiedenen Ebenen liegen, beziehungsweise verschiedene Aspekte des Zweifels beleuchten. Ertragreich ist jedoch, dass sie den vorliegenden Forschungsgegenstand auf ihre Weise zu beleuchten vermögen. Die Perspektiven wurden ausgewählt, weil sie Differenzen, Divergenzen und Kontroversen zur Befragung und Reflexion evozieren sollen. Jene Aspekte, die auf Übereinstimmungen mit den in dieser Arbeit konturierten Ergebnissen über die „Emerging Church“-Konversation hinweisen, werden knapper gefasst.12
12 Rosenau führt ein bedenkenswertes Plädoyer für die Beschäftigung mit dem Zweifel aus protestantischer Sicht an: „Mag vielleicht dieses Thema in postmoderner Zeit auch weitgehend auf Unverständnis stoßen und anachronistisch erscheinen, weil wir es inzwischen gewohnt sind, vom neuzeitlich-modernen Gewissheitspathos und Letztbegründungsversuchen Abschied zu nehmen und mit Multiperspektivität, polyphoner Relativität und spielerischer patchworkRationalität zu leben, so müsste dennoch gerade aus der Innenperspektive des Glaubens, der ja in seiner von den Reformatoren betonten dreifachen Gestalt als Kenntnisnahme (notitia), Zustimmung (assensus) und Vertrauen (fiducia) eine letztbegründende Instanz für das Dasein glaubender Menschen ist, die theologische Auseinandersetzung mit der Skepsis ein entscheidender Prüfstein für die oft behauptete ‚Orientierungsfähigkeit‘ und ‚Gestaltungskraft‘ des Glaubens sowie der ihn reflektierenden Theologie für uns selbst, für unsere Gesellschaft und Kultur sein.“ Rosenau, Ich glaube (2005), 14–15.
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1. Konzeption des Zweifels
1.2 Theologische Standortbestimmungen 1.2.1 Verortung in den gegenwärtigen Debatten Es wurde bereits deutlich gemacht, dass Zweifel weder lediglich auf einen „mentalen Zustand der Ungewissheit“13, also intellektuell, noch auf eine erkenntnistheoretische Bedingung (Skeptizismus) reduziert werden darf, sondern in dieser Arbeit hinsichtlich der anthropologischen Verortung als vielschichtiger Begriff verstanden wird.14 Traditionell galt die Gewissheit als das Ideal des christlichen Glaubens, vor allem auch als Hoffnungsperspektive auf das eschatologische Heil. Jeglicher Zweifel drohte in eine existenzielle Not zu stürzen und die Glaubensgewissheit zu erschüttern. Auf katholischer Seite galt der Zweifel in der „analysis fidei“ als weitgehend diskreditiertes Phänomen.15 Diese negativen Wertungen des Zweifels stehen zunehmend infrage. Es wird vorwiegend außerhalb theologischer Diskurse thematisiert, dass Zweifel ein hilfreicher Begleiter gegenüber Fundamentalismen oder ein „Sicherungsmechanismus gegen fundamentalistischintolerante Engführungen oder als kritischer Begleiter einer intellektuell redlichen religiösen Überzeugung“16 gilt. Beispielhaft ist dies bei Peter Berger und Anton Zijderveld zu zeigen, die ein „Lob des Zweifels“ anstimmen. Sie halten es für notwendig, dass in Zeiten von religiöser Pluralisierung nicht der Zweifel, sondern die Glaubensgewissheit problematisiert werde. Nur ein Glaube, der sich seiner nicht gewiss ist, sei nicht in Gefahr, gewaltbereit und intolerant zu werden.17 Auf der anderen Seite finden sich gegenwärtig Versuche dem Zweifel glaubensförderliche Kraft zuzuschreiben. Der Zweifel diene im positivem Sinn der Vertiefung des Glaubens und habe demnach keine bedrohliche Seite.18 Angesichts der kurzen Ausführungen lassen sich in historisch-systematischer Perspektive zwei grundsätzliche Modelle der Verhältnisbestimmung 13 Lorenz, Art. „Zweifel“ (2004), 1520. 14 Dabei wird in dieser Arbeit der methodische Skeptizismus als Grundlage wissenschaftlichen Arbeitens nicht beachtet, da er für die vorliegende These nicht entscheidend ist. 15 Für eine kurze Darstellung der katholischen Positionen siehe Hoffmann, „Einleitung“ (2017), 7–9. Für die von Gott gewirkte Wahrheitserkenntnis, die eng intellektuell verstanden wurde, galt es als undenkbar, dass sie abhandenkommen konnte. So blieb nur mehr eine Bewertung des Zweifels als schuldhaftes Vergehen einer Person. 16 A. a. O., 10. 17 Berger / Zijderveld, Lob des Zweifels (2010), 127. Die These der Autoren, dass starke Überzeugungen zu Intoleranz führten, sei bezweifelt. Siehe die Ausführungen in diesem Abschnitt IV Kapitel 1.2.4 Das Verhältnis zwischen glauben und bekennen. 18 Vergleiche die Ausführungen in: Hoffmann, „Einleitung“ (2017), 12–14.
1.2 Theologische Standortbestimmungen
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von Glauben und Zweifel präzisieren. Zum einen werden Glaube und Zweifel als Gegensätze wahrgenommen, zum anderen wird vertreten, dass sie in einer Synthese innerlich verbunden seien. Dort, wo von Gegensätzen die Rede ist, wird der Zweifel der christlichen Glaubensgewissheit als Feind, Oppositum und als Gefahr gegenübergestellt.19 Eine solche Verhältnisbestimmung wird zumeist in apologetischer Absicht diskutiert, um etwa die Einzigartigkeit und Überlegenheit christlicher Glaubensvorstellungen herauszustellen. Dabei bleibt der Zweifel eine zu überwindende Gefährdung.20 In dem zweiten Verständnis wird herausgestellt, dass Zweifel und Glaube zwar unterschieden werden müssten, sie sich schließlich doch, optimistisch betrachtet, auf einer höheren Ebene neutralisierten.21 19 Zum Beispiel zu sehen bei Koch, Mit Gott leben (1989), 107–148. In seelsorglicher Perspektive skizziert Koch, dass sich Glaubensgewissheit nach allen Zweifeln einstelle. Eine eindeutige Gegenüberstellung findet sich auch bei Jüngel: „Zweifel ist im Blick auf den Glauben dessen Ende. Wer zweifelt, glaubt nicht. Verzweiflung paßt eher zum Glauben als der Zweifel. Wer zweifelt, sagt: ‚vielleicht ist es so, vielleicht ist es aber auch nicht so.‘ Das ist im Blick auf Gott eine unmögliche Einstellung, genau so unmöglich wie in der Liebe. Wer liebt und seinerseits geliebt wird, kennt hinsichtlich dieser Liebe keinen Zweifel. Aber er kann durch die Liebe zutiefst angefochten werden […] Anfechtung ist also – im Gegensatz zum Zweifel – nie die InFrage-Stellung der Liebesbeziehung, sondern deren Erschütterung aufgrund der der Liebe eigenen Sensibilität.“ Jüngel, „Gottesgewissheit“ (1980), 263. 20 Zum Beispiel zu sehen bei Ott, Die Antwort des Glaubens (1981), 344 ff. 21 Seit Paul Tillichs Werk „Mut zum Sein“ (1952 erschienen unter „The Courage to Be“, dt. Über�setzung 1953) wurde eine solche Neuzuordnung durch eine Neuinterpretation des Glaubens anhand des Mutes ermöglicht. Für eine Zusammenfassung siehe Rosenau, Ich glaube – hilf meinem Unglauben (2005), 84–99. So etwa zu sehen bei Härle, Dogmatik (2007), 230. Hans-Martin Barth thematisiert die Skepsis als einer der wenigen in seiner Dogmatik und tut dies im Kontext der Weltreligionen. Neu ist, dass der Skepsis in Auseinandersetzung mit Tillich ein neuer Ort im Rahmen der Prolegomena der Theologie zugewiesen und die Skepsis mit dem christlichen Glaubensbegriff verbunden wird. Barth, Dogmatik (2001), 70–77. Dabei unterscheidet er zwischen einem Alphaglauben und einem Omegaglauben. Der Alphaglaube mit konkreten Glaubensinhalten im Christentum werde von der Skepsis angegriffen. Der Omegaglaube als Metaglaube sei eine Haltung und ein Grundvertrauen, dass der Mensch von Gott getragen sei. Diese Haltung solle nicht der Skepsis unterliegen. Hans-Martin Barth argumentiert ähnlich wie Tillich in „Der Weg zum Sein“, der meint, dass alle Glaubensinhalte dem Zweifel unterlägen. Der Zweifel werde zuletzt jedoch im Rechtfertigungsglauben aufgehoben. Die positive Funktion der Skepsis bestehe nun darin, dass „Fundamente, Inhalte und Konsequenzen eines Glaubens“ kritisch hinterfragt würden. Kritisch hat Karl Barth auf Tillich reagiert: „Es gibt wohl eine Rechtfertigung des Zweiflers. Es gibt aber – das möchte ich P. Tillich zugeflüstert haben – keine Rechtfertigung des Zweifels. Man sollte sich also wegen seines Zweifels nicht etwa für besonders wahrhaftig, tiefsinnig, fein und vornehm halten.“ Barth, Einführung in die Evangelische Theologie (1962), 104. In Auseinandersetzung mit Tillich spricht Hans-Martin Barth aber auch von der „Existenz bedrohenden Seite“ der Skepsis und sagt: „Skepsis und Zweifel sind nicht immer auf der Suche nach der Wahrheit, sondern manchmal auch auf der Flucht vor ihr.“ A. a. O., 71. Kritisch kann
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Hinsichtlich der Rolle der Person in den beschriebenen Verständnissen weist Veronika Hoffmann mit Recht auf den Zusammenhang zwischen der Interpretation von Zweifel und der Sicht von Glauben hin.22 Wenn beispielsweise von einem intellektualistisch-voluntativen Glauben ausgegangen werde, erscheine der Zweifel als Irrtum und Verweigerung des Glaubensgehorsams. Wenn vom Glauben als ausschließlich göttlicher Gabe ausgegangen werde, erscheine der Zweifel als von Gott verursacht. Wenn der Glaube als gefährlich verstanden werde, wegen seiner Nähe zum Fanatismus, werde Zweifel zum Mittel der Toleranz (Berger / Zjiderveld). Wenn Glaube als privatisierte religiöse Ausrichtung verstanden werde, erscheine der Zweifel als notwendige Korrektur und Potenzial zum Glaubenswachstum.23 An diesen selektiv vorgetragenen Äußerungen aus der Forschungsliteratur zum Thema religiöser Zweifel wird deutlich,24 dass es notwendig erscheint, nicht nur die Bedeutung des Zweifels, sondern auch des Glaubens zu erschließen. Zudem gilt es das Verhältnis zwischen Zweifel und Glaube zu ermitteln.25
1.2.2 Zweifel als Bewegung Mit dem Kieler Systematischen Theologen Hartmut Rosenau wird hinsichtlich der spezifischen Beschaffenheit des Forschungsgegenstandes „Emerging Church“ religiöser Zweifel als Epiphänomen, also als „[…] eine nachträgliche
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einem solchen Verständnis entgegengehalten werden, dass auch ein solcher Metaglaube anzweifelbar ist, wie Rosenau skizziert. Rosenau, Ich glaube (2005), 16. Ein solches Verständnis, jedoch in differenzierter Absicht, ist auch bei Gerhard Ebeling zu finden, der von der Aufhebung der Zweifel im „Evangelium“ spricht. Ebeling, „Gewissheit und Zweifel“ (1969), 140. Hoffmann weist darauf hin, dass „der Zweifel als Spiegelbild des jeweiligen Glaubensverständnisses auftritt.“ Hoffmann, „Einleitung“ (2017), 14. Vgl. a. a. O., 14–15. Für einen theologiegeschichtlichen Überblick bedeutender Ansätze, z. B. Augustin, Fichte, Kierkegaard, Tillich, siehe Rosenau, Ich glaube (2005), 24–39, 54–99. Es wird unterschieden zwischen einem anthropologischen Ort des Zweifels und einer Verständigung über den Zweifel im Hinblick auf seinen theologischen Ort bei Gott. Dabei wird analog zu Bultmanns Ausführungen, der eine Unterscheidung von zwei Perspektiven des Glaubens trifft, ebenso eine Unterscheidung hinsichtlich des Zweifels verfolgt. „Es ist zu unterscheiden, ob man vom menschlichen Gesichtspunkt oder vom Gesichtspunkt des Glaubens über die pistis Aussagen macht. Vom Menschen her gesehen ist der Glaube ein Akt des Willens, eine Entscheidung, die Annahme der Einladung Gottes. Vom Gesichtspunkt des Glaubens aus ist der Glaube ein Geschenk Gottes.“ Bultmann, „Erziehung und christlicher Glaube (1959)“ (1964), 53. Wenngleich die Verortung des Glaubens im Willen ungenügend ist und mit Härle auf Vernunft, Wille und Gefühl verwiesen werden muss, kann diese Unterteilung und die Härlesche Festlegung für den Begriff des Zweifels übernommen werden. Härle, Dogmatik (2007), 68.
1.2 Theologische Standortbestimmungen
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Infragestellung vorausgehender Überzeugungen […]“ beschrieben. Das heißt: „Glaube als daseinsbestimmendes Vertrauen hat dem Zweifel gegenüber zeitlich wie sachlich Priorität.“26 Die zeitliche Nachreihung ist schnell einzusehen, die sachliche Rangfolge wird durch die Bestimmung des Zweifels als eine Bewegung „weg von“ vormaligen Überzeugungen, Praktiken, Gemeinschaften, Emotionen expliziert. Zweifel lasse sich also nicht als Position bestimmen, wie Hoffmann formuliert, sondern als Bewegung weg von einer vormaligen (bisherigen) Position. „Damit richtet sich der Blick nicht auf einzelne Inhalte, […] sondern auf die Haltung – oder eben: Bewegung […].“27 Hoffmann weist darauf hin, dass sich bei diesem Verständnis der Endpunkt nicht festlegen lasse. Eine solche Beschreibung korrespondiert mit dem aus der dekonversiven Perspektive interpretierten Forschungsgegenstand. Des Weiteren wird Zweifel analog zu Dekonversionen sowohl als Widerfahrnis als auch als bewusste Entscheidung verstanden. Das heißt, dass zum einen etwas an / in der Person geschieht (vielleicht sogar eine Bewegung, die sie aufzuhalten versucht) – also ein Widerfahrnis – und zum anderen Zweifel eine Bewegung sein kann, die eine Person willentlich ergreift.28 Gerade der Aspekt der Widerfahrnis wird im Folgenden im Kontext der Anfechtung gedeutet. In groben Umrissen soll nun geklärt werden, was unter „Glaube“ zu verstehen ist.29
1.2.3 Glaube als Glaubensgewissheit Aus Sicht reformatorischer Theologie lassen sich Gottvertrauen und Glaubensgewissheit als zentrale Begriffe des Glaubens konstatieren. Die reformatorische Einsicht ist, dass Glaube Gewissheit ist. Mit den Worten Luthers lässt sich das rechte Gottesverhältnis des Menschen sowie dessen ethische Konsequenzen hinsichtlich der Beziehung zu anderen Menschen und zur Welt skizzieren: Glaube ist eine lebendige, verwegene Zuversicht auf Gottes Gnade, so gewiß, daß er tausendmal drüber stürbe. Und solche Zuversicht und Erkenntnis göttlicher Gnade macht fröhlich, trotzig und voller Lust gegen Gott und alle Kreaturen: das macht 26 Rosenau, Ich glaube (2005), 20. Rosenau ist jedoch zu widersprechen, wenn Zweifel in allen Fällen als Epiphänomen des Glaubens beschrieben wird. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass konversive Erfahrungen mit einer solchen Definition nicht in den Blick genommen werden. 27 Hoffmann, „Zweifel, Säkularität und Identität“ (2017), 22. Damit unterscheidet sich Zweifel von Indifferenz, die als Nichtfestlegung angesichts der geringen Relevanz zu bestimmen ist. 28 Vgl. dazu: Lehmkühler, „Glaubensverlust und Wahrhaftigkeit“ (2017), 47–49. 29 Eine solche Klärung geschieht nicht in der sicherlich notwendigen Tiefe, sondern im Hinblick dessen, was für den Zweifel wesentlich erscheint.
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der Heilige Geist im Glauben. Daher wird der Mensch ohne Zwang willig und voller Lust, jedermann Gutes zu tun, jedermann zu dienen, allerlei zu leiden, Gott zu Liebe und zu Lob, der einem solche Gnade erzeigt hat. Daher ist es unmöglich, Werk und Glauben zu scheiden, ja so unmöglich, wie Brennen und Leuchten vom Feuer nicht geschieden werden kann.30
Glaube ist demnach eine lebendige, lebensverändernde Erfahrung, die den Zusammenhang zwischen Glauben und Werken eindrucksvoll zeigt. Glaube und Werke sind nicht im Sinne einer „Sollensforderung“ miteinander verbunden, sondern im Sinne eines „Seinszusammenhangs“ – es ist die innere Notwendigkeit eines guten Baumes, dass er gute Früchte hervorbringt (Luthers Lieblingsmetapher aus Mt 7,17–20).31 Konstituiert wird die Glaubensgewissheit in der „Gewißmachung des äußeren Wortes durch das Wirken des Geistes“32, wie Schwöbel pointiert formuliert. Er fasst die notwendigen Bedingungen der Glaubensgewissheit zusammen: Als hinreichend werden die Verkündigung des Evangeliums und das Wirken des Heiligen Geistes beschrieben. Das „verbum externum“ werde durch das Wirken des Heiligen Geistes evident und wecke Gewissheit. Schwöbel führt weiter im Sinn einer trinitätstheologisch-christozentrischen Erklärung aus, dass das Fundament des Glaubens folgendes sei: „[…] das Geschehen, in dem der dreieinige Gott durch seine Selbstvergegenwärtigung in seinem inkarnierten Wort durch den Heiligen Geist Gewißheit schafft über die in der Evangeliumskommunikation begegnende Wahrheit.“33 Die persönliche Glaubensgewissheit werde als Wahrheitsgewissheit bestimmt, d. h. als persönliches Überzeugtsein von der Wahrheit Gottes.34 Dabei seien Glaubensgegenstand („fides quae creditur“) und Glaubensakt („fides qua creditur“) aufeinander bezogen.35
30 WA 7, 2. 31 Härle, Spurensuche nach Gott (2008), 231–232. 32 Schwöbel, „Fundament und Wirklichkeit des Glaubens“ (2008), 132. Vgl. dazu auch Dalferth, Malum (2008), 334–337. 33 A. a. O., 155. 34 Einer Unterscheidung zwischen Wahrheitsgewissheit, die notwendig sei, und Wahrheitsanspruch, der im Hinblick auf den Dialog der Religionen aufzugeben sei, wie sie etwa Rosenau vorschlägt, wird hier nicht gefolgt. Es wird daran festgehalten, dass der Wahrheitsanspruch aus der Wahrheitsgewissheit erwächst. 35 Jüngel sagt: „Das Zur-Welt-Kommen Jesu Christi (Inkarnation, Tod und Auferstehung) bringt den – den Sünder rechtfertigenden – Glauben mit sich. Von daher erklärt sich, daß mit Glaube im Urchristentum nicht nur der Glaubensakt (die später sog. fides qua creditur), sondern zugleich auch der Glaubensgegenstand (die später sog. fides quae creditur) gemeint ist.“ Jüngel, Art. „Glaube. IV. Systematisch-theologisch“ (2000), 954. Vgl. dazu auch Thiselton, Doubt, Faith and Certainty (2017), 6–16.
1.2 Theologische Standortbestimmungen
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Kontrovers wird die Konstitution der Glaubensgewissheit diskutiert und die Frage nach der Rolle der menschlichen Freiheit in diesem Prozess. Nach reformatorischem Verständnis wird diese Gewissheit passiv konstituiert. So kann sie beispielsweise als Ergriffensein beschrieben werden. Der Heilige Geist schenkt Glaubensgewissheit und es stellt sich Gottvertrauen ein.36 Der geschenkte Glaube als Gewissheit sei das Fundament für einen Glauben, der in christlicher Freiheit gestaltet werde und sich im Glaubensgehorsam zeige. Weiterhin ist zu bemerken, dass Glaube als geschichtlicher und konkreter Glaube auf Situationen bezogen ist und nicht als Abstraktion der Summe religiöser Überzeugungen verstanden werden darf.37 Glaube und Glaubensgewissheit entstehen damit nicht durch die Entscheidung des Menschen (als Akte des Willens, der Vernunft oder der Gefühle), sondern sind „fides adventitia“ (ankommender Glaube).38 Weiter gilt es zu bedenken, dass Glaubensgewissheit („certitudo“) und Gottvertrauen („fiducia“) miteinander verbunden sind. Beide Aspekte des Glaubens müssen unterschieden sowie aufeinander bezogen werden und können gemäß Claudia Welz wie folgt beschrieben werden: Die Glaubensgewissheit ist in viel stärkerem Maße als das Vertrauen auf die Gegenwart ausgerichtet, weil ihr ein gewisser mentaler Zustand entspricht, während das Vertrauen widrigen Erfahrungen in der Gegenwart zum Trotz bewahrt werden kann – mit Blick auf Gottes Heilshandeln in der Vergangenheit und seine in der Zukunft sich erfüllenden Verheißungen.39
Während Gewissheit und Vertrauen als Teilaspekte des Glaubens gemeinsam auftreten können, führt Welz weiter aus: „Vertrauen weist eine komplexere temporale Struktur auf als Gewissheit, und Vertrauen kann kontrafaktisch bewahrt werden auch da, wo die Gewissheit geschwunden ist.“40 So kann es trotz einer 36 Die Gewissheit wird analog passiv konstituiert wie die Gerechtigkeit Christi, die angerechnet bzw. zugerechnet wird. Die Barmherzigkeit Gottes besteht nun darin, dass Gott den Sündern die Gerechtigkeit Christi zuspricht und so in ihnen Glauben weckt. Dieser Glaube ist die Gerechtigkeit vor Gott. Die Anrechnung des Glaubens als Gerechtigkeit und die Anrechnung der Gerechtigkeit Christi, auf den sich der Glaube bezieht, ist nach Härle eine „zweieinige Anrechnung“. Härle, Spurensuche nach Gott (2008), 229. Siehe dazu auch WA 40/I, 41. „Die Gerechtigkeit Christi ist eine rein passive, die wir nur empfangen, bei der wir nichts wirken, sondern erleiden, dass ein anderer in uns wirkt, nämlich Gott.“ 37 Vgl. dazu: Ebeling, „Jesus und Glaube“ (1960), 251–252. Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens (1965), 144–155. 38 Barth, Art. „pistis“ (1992), 222–223. Die auf den Menschen bezogenen Orte des Glaubens sind also zu differenzieren. Melanchtons Leistung liegt in der Unterscheidung von „notitia“ (Rationalität), „assensus“ (Wille) und „fiducia“ (Affekt). 39 Welz, Vertrauen und Versuchung (2010), 126. 40 A. a. O., 126–127.
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scheinbar schwindenden Gewissheit zu einem Festhalten am Gottesvertrauen kommen (mit Blick auf Hiobs Geschichte). Auf die Infallibilität des Glaubens soll hier kurz eingegangen werden. Der Glaube ist auf menschlicher Seite vor der Selbsttäuschung und Fehlbarkeit nicht geschützt, während es im Zusammenhang der hier dargelegten Darstellung angemessen erscheint, von der „Untäuschbarkeit“ durch Gott zu sprechen. In dieser Hinsicht muss auf einen notwendigen methodischen Zweifel hingewiesen werden, der dem Missbrauch von Gewissheitserfahrungen – im Sinn von Selbstgewissheit – wehren soll. Wie Wilfried Härle erörtert, könne man Zweifel als Infragestellung von Sicherheiten verstehen. Gleichzeitig kann mit Härle festgehalten werden, dass auch der Zweifel im Gewand einer vermeintlichen Sicherheit vor der Möglichkeit des Irrtums oder der Selbsttäuschung bezüglich bestimmter Inhalte nicht gefeit ist.41 „Zwar ist zu konzedieren, dass der Glaube als Gewissheit nicht in unseren Händen liegt, doch liegt der Umgang mit der Glaubensgewissheit sehr wohl in unseren Händen. Wir können uns auf verschiedene Weisen verhalten zu dem, was uns widerfährt, und dafür sind wir selbst verantwortlich.“42 Damit soll jedoch jegliches soteriologische Vermögen des menschlichen Willens vor Gott ausgeschlossen werden. Um der Heilsgewissheit willen wird nach Luther die Freiheit des menschlichen Willens und damit eine „cooperatio“ zwischen Gott und Mensch hinsichtlich Heilsfragen bestritten.43 Luther geht es nicht um den moralischen Nutzen der Religion, sondern ist aufgrund des Sühnetodes Christi gewiss, dass der Mensch „in jeder Hinsicht soteriologisch ohnmächtig vor Gott und ganz allein auf seine rettende Gnade angewiesen ist.“44
1.2.4 Das Verhältnis zwischen glauben und bekennen Mit dem Hinweis auf das Vertrauen ist jedoch nicht alles abschließend gesagt. Die christliche Identität lässt sich zwar nicht auf das richtige Wissen von kirchlicher Lehre („Dogma“)45 reduzieren – im Blick darauf ist methodischer Zwei-
41 42 43 44 45
Härle, „Befreiende Gewißheit“ (2000), 178, 181. Welz, Vertrauen und Versuchung (2010), 134. WA 18, 60. Rosenau, Ich glaube (2005), 46. Der Begriff „Dogma“ wird aufgrund der Verwendung in der „Emerging Church“-Konversa�tion aufgegriffen und meint im evangelischen Sprachgebrauch „Bekenntnis“. Mit dem in der Reformation eingebrachten Begriff „confessio“ wurde das Verständnis kirchlicher Lehre neu geprägt. Vgl. dazu Ebeling, „Wort Gottes und kirchliche Lehre“ (1966), 166–174.
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fel geboten – es stellt sich aber (besonders bezüglich des Forschungsgegenstandes „Emerging Church“) die Frage, wie sich Glaubensgewissheit und das Festhalten an Lehrmeinungen zueinander verhalten. Eine verständliche Furcht vor Dogmatismus – also einem unkritischen und starren Festhalten an Lehrmeinungen – und einem daraus erwachsenden Fundamentalismus „läßt heute die Sympathie für eine gemäßigte Skepsis anwachsen“46, aus nachvollziehbaren Gründen. Auf eine für diese Fragestellung relevante Auseinandersetzung sei kurz eingegangen, nämlich auf einen Nebenschauplatz des Streites zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam über den freien beziehungsweise unfreien Willen. Es geht um eine rechte Verhältnisbestimmung von Gewissheit und Dogmatismus (im kritischen Sinn), genauer: Luther betont die assertorische und konfessorische Existenz von Christen, während Erasmus ein „Mißvergnügen an festen Behauptungen“47 zu Beginn seiner Diatribe formuliert (natürlich in Achtung der Autorität der Heiligen Schrift und gegenüber den Entscheidungen der Kirche). Für Erasmus gehört hierzu auch die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit aufgrund der Unklarheit der Schrift. Erasmus plädiert für eine Pluralität der Meinungen „innerhalb der von Schrift und Tradition zugestandenen Freiräume“48. Erasmus hält fest, dass in einer Person beide Haltungen, Skepsis und Festhalten an Dogmen (wie sie für ihn bei der Kirche hinterlegt sind), vereinigt sein müssten. Luther kontert gegen die Sympathie des Erasmus für die Skepsis: „Denn das ist nicht die Art eines christlichen Herzens, keine Freude an Bekenntnissen haben, im Gegenteil, ein Christ muß Freude an Bekenntnissen haben, oder er wird kein Christ sein.“49 Luther geht es darum, Glaube als Beziehung zu dem durch Jesus Christus vernehmbaren Wort zu beschreiben und nicht einen Glauben, der in subjektiven Meinungen oder in dogmatischen Lehrsätzen begründet ist. Hinsichtlich der dogmatischen Lehrsätze trifft Luther eine doppelte Unterscheidung. Zum einen stimmt er Erasmus zu, dass man gegenüber „nutzlosen“ Dogmen Skeptiker sein müsse – hier ist Luther schärfer als Erasmus. Luther stellt sogar die kirchliche Autorität infrage solche Dogmen festzulegen.50 Er folgert: „Der Christ aber sei verflucht, der nicht gewiß ist und versteht, was
46 Schneider-Flume, „Gewißheit und Skepsis“ (1993), 293. 47 von Rotterdam, „De libero arbitrio diatribe sive collatio“ (1969), 7. 48 Schneider-Flume, „Gewißheit und Skepsis“ (1993), 294. Für Erasmus besteht der Dogmatismus darin, Worte der Heiligen Schrift zu instrumentalisieren, um der eigenen Meinung zu dienen. 49 WA 18, 603. 50 A. a. O., 604.
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ihm vorgeschrieben wird; wie will er denn glauben, was er nicht versteht?“51 Zum anderen bezieht sich Luther auf die „dogmata Christi“ und die „dogmata Dei“.52 Diese sind Dogmen, die aus sich selbst heraus Gewissheit hervorbringen und einen „glaubenstheoretischen Status“53 haben. Deutlich wird dies in Luthers Definition der „assertio“. „Ein Bekenntnis (assertio) oder eine verbindliche theologische Aussage aber nenne ich (um nicht mit Worten zu spielen): unwandelbar an etwas festhangen, bejahen, bekennen, bewahren und ein unüberwindlich, beharrlich bei etwas Verbleiben […].“54 Es wird deutlich, dass die „assertio“ die praktische Glaubensgewissheit fokussiert. „Die Eigenart der assertio als Bekennen, Festhangen ist, daß sie im Bekennen die Bekennenden und das Gegenüber des Bekenntnisses gewißmachend verknüpft.“ SchneiderFlume fährt fort: Die Festigkeit der Glaubensaussage, ihre Verbindlichkeit, beruht nicht auf ihrem theoretischen Status noch liegt sie im subjektiven Meinen, sondern darauf, daß das Subjekt der Glaubenden beharrlich bei etwas verbleibt, d. h. in Beziehung gesetzt ist. Die Gewißheit eines Bekenntnisses beruht auf der durch das Bekenntnis gestifteten Beziehung.55
Dies fügt Luther in den Kontext der neutestamentlichen Aussagen ein „Wenn man mit dem Munde bekennt, so wird man gerettet“ (Röm 10,10) und „Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem Vater“ (Mt 10,32) und zeigt die Heilsbedeutung des Bekennens auf. Bekennen besitze demnach Heilsbedeutung, weil es aufgrund des Heiligen Geistes in Beziehung setze.56 In diesem Zusammenhang erscheint Luthers Aussage verständlich: Hebe die verbindlichen theologischen Aussagen auf, und du hast das Christentum aufgehoben. (Tolle assertiones, et Christianismum tulisti). Ja vielmehr, der heilige Geist wird ihnen vom Himmel gegeben, daß er Christum verkläre und bekenne bis in den Tod, es sei denn, dieses heiße nicht, bekennen um des Bekennens und beharrlich bei etwas Verbleibens willen sterben.57
51 A. a. O., 605. Ähnlich formuliert er es a. a. O., 603. „Denn es ist nicht christlich zu sagen, ich will nichts Gewisses beschlossen haben. Denn ein Christ soll seiner Lehre und Sache ganz gewiss sein, oder ist kein Christ nit.“ 52 „Dogmata Dei“ a. a. O., 642. „Dogmata Christi“ a. a. O., 604. „Dogmata scripturae“ a. a. O., 631. 53 Schneider-Flume, „Gewißheit und Skepsis“ (1993), 297. 54 WA 18, 603. 55 Schneider-Flume, „Gewißheit und Skepsis“ (1993), 298. 56 WA 18, 603. 57 A. a. O.
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Luther geht es nicht wie Erasmus um einen Bestand feststehender Meinungen, den man übernehmen soll, sondern um eine gewiss machende Beziehung zu Christus. In dieser Hinsicht stellt sich Luther gegen einen hermeneutischen Skeptizismus: „Der Heilige Geist ist kein Skeptiker, nicht Zweifler oder subjektive Ansichten hat er in unsere Herzen geschrieben, sondern verbindliche Aussagen, die gewisser und unerschütterlicher sind als das Leben selbst und alle Erfahrung.“58 Als Ertrag dieses Gedankenganges lässt sich konstatieren, dass Glaube als Gewissheit von Glaube an Dogmen zu unterscheiden ist und beides aufeinander zu beziehen ist. Glaube soll durch inhaltliche Festlegungen, Dogmen, möglich werden. Gleichzeitig wurde deutlich, dass kein Automatismus bestehe, Gewissheit durch theologische Lehrmeinungen zu erlangen sowie, dass es zu einem problematischen Dogmatismus kommen könne. Nichtsdestotrotz gilt: […] die verbindlichen Aussagen, die in Bekenntnissen formuliert werden, sind alle Niederschlag der einen Gewißheit des Glaubens, der durch die Beziehung auf Gott gewiß ist, weshalb ja auch immer wieder in Erinnerung zu rufen ist, daß nicht die ‚Tatsachen‘ des Glaubensbekenntnisses zu glauben sind, sondern daß sich der gewißmachende Glaube in den Bekenntnissen formuliert.59
1.2.5 Zweifel als Existenzial Nach der kurzen Klärung worin Glaube begründet liegt und wovon durch Zweifel als Bewegung abgewichen wird, wird im Folgenden eine zweite Deutungsperspektive über den Zweifel eingenommen. Hübner weist darauf hin, dass Zweifeln eine „fundamentale, in der Endlichkeit des Menschen begründete Schwäche“60 sei. Ohne das Zweifeln als Skeptizismus und Nihilismus zu verabsolutieren, ist es angemessen, Zweifel als Existenzial anzuerkennen, d. h. der menschlichen Existenz eigen – von Claudia Welz treffend als „Zwischen-Sein“61 formuliert.62
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A. a. O., 605–606. Schneider-Flume, „Gewißheit und Skepsis“ (1993), 300. Hübner, Glaube und Denken (2004), 14. Welz, Vertrauen und Versuchung (2010), 202. Demgegenüber „[…] will[!] der Glaube als etwas verstanden sein, was die ganze Existenz betrifft, als eine Bewegung, ein Ausgerichtetsein, ein Bestimmtsein, ein Gegründetsein der ganzen Existenz.“ Deswegen kann gefolgert werden: „Glaube gibt der Existenz Gewißheit, ja ist
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Ertragreich ist die Differenzierung, dass Zweifel nicht schon an sich Vertrauenslosigkeit und somit Unglaube sei, jedoch zu Unglauben führen könne. Rosenau formuliert es treffend: „Daher ist der Zweifel nicht Sünde, aber er ist wie die Sünde ein Existential, das zwar nicht zum Wesen des Glaubens oder der Gläubigen gehört, aber faktisch ihre Existenz leidvoll bestimmt.“63 Rosenau qualifiziert den Zweifel weder als Feind noch als Verbündeten des Glaubens, sondern als „skandalon“ und „movens“ – als Anstoß. Rosenaus Verständnis des Anstoß gebenden Zweifels ist nachvollziehbar, jedoch seine Zuordnung als gleichsam „neutrales“ Existenzial unzureichend. Nach dem oben angeführten Verständnis, das sich an Luthers theologischer Anthropologie orientiert, wird in der vorliegenden Untersuchung Zweifel als Existenzial beschrieben, das „nicht sein soll“. Zweifel wird in dieses „Zwischen-Sein“ eingeordnet (und steht damit in der Spannung von Widerfahrnis und Aktivität) und führt dann zum Unglauben, wenn der Zweifler sich aus dem Gottesverhältnis, wie es sich beispielsweise im Loben, Klagen und Bitten zeigt, löst. Wenn Zweifel Unglaube ist, ist Zweifel Sünde.64 In diesem „Zwischen-Sein“ kann Zweifel ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Anfechtung, wie es sogleich dargelegt wird, verstanden werden. So kann weiterhin am biblischen Befund nach Jak 1,5–8 festgehalten werden, nach dem der Zweifel den Glauben gefährdet und dem menschlichen Subjekt eine Verantwortung im Umgang mit dem Zweifel zugesprochen wird. Ein zweifelnder Mensch verdient demnach in besonderer Weise Erbarmen, wie in Jud 22 ausgedrückt wird. So ist etwa auch Luthers Formel zu verstehen, der Gerechtfertigte sei „simul justus et peccator“65. Der Mensch sei demnach beides zugleich und ganz, Gerechtfertigter und Sünder. Dem Menschen sei die Gerechtigkeit zwar schon zugesprochen – nämlich „extra se“ – er bleibe aber Sünder „in se“.66 Durch die Zurechnung der fremden Gerechtigkeit Christi sei die Macht der Sünde
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geradezu nichts anderes als Existenz in Gewißheit.“ Aus diesem Grund richtet sich Glaube gegen Furcht wie gegen Zweifel. Ebeling, „Jesus und Glaube“ (1960), 246, 247. So auch Barth, Art. „pistis“ (1992), 221. Rosenau, Ich glaube (2005), 19. Zur Sünde als Unglaube siehe Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens (2006), 114–125. Vgl. auch Dalferth, Malum (2008), 343–346. Diese Formel begegnet zuerst in Luthers Römerbriefvorlesung von 1515/16.Vgl. dazu: Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung (2006), 183–190. Luthers Formel „simul iustus et peccator“ lässt sich als ein doppeltes Verständnis der Gerechtig�keit verstehen. Die Gerechtigkeit Christi sei für den Menschen eine fremde, von außen kommende Gerechtigkeit, die durch den Glauben eine zuteilwerdende Gerechtigkeit sei. Luther unterscheidet weiter die erste Gerechtigkeit, die der Mensch nur im Glauben von Gott emp-
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gebrochen, Christus herrsche. Zugleich befinde sich der Mensch auf dem Weg, das zu werden, was ihm versprochen ist und „was er in der die Zukunft antizipierenden Hoffnung schon ist“67. Luther führt dieses Bild zunächst insofern aus, als dem Getauften ein Arzt an die Seite gegeben ist, der einen ein Leben lang begleitet. Dieser Arzt hält Heilmittel bereit, die dem Menschen helfen sollen mit der Krankheit zu leben. Luther exemplifiziert dies anhand der Bitte im Vaterunser, in welcher Christen um die Vergebung ihrer Schuld bitten. Er sagt: Wenn Du heilig bist, warum schreist du? Weil ich fühle, daß mir die Sünde anhängt; und deshalb bete ich: Geheiligt werde dein Name, Dein Reich komme! Ah, Herr, sei mir gnädig. Und dennoch bist Du heilig. Und dennoch bist Du heilig? In diesem Sinne: insofern ich nämlich Christ bin, insofern bin ich gerecht, fromm und gehöre zu Christus; aber insofern ich auf mich und meine Sünde zurückblicke, bin ich elend und der größte Sünder. So gilt: in Christus ist keine Sünde, und in unserem Fleisch ist kein Friede und keine Ruhe, sondern dauernder Kampf.68
fangen könne, von der zweiten Gerechtigkeit, von der er sagt: „sie ist unsere und uns eigene. Zwar können wir sie nicht alleine zuwege bringen, jedoch insofern mittun, wie wir mit jener ersten, der fremden Gerechtigkeit zusammenwirken.“ WA 2, 146. Die zweite Gerechtigkeit setze im Menschen die erste Gerechtigkeit durch und sei die Frucht der ersten. WA 2, 147. Analog dazu unterscheidet Luther einen doppelten Sündenbegriff, nämlich zwischen der herrschenden Sünde und der beherrschten Sünde („peccatum regnans“, „peccatum regnatum“). Während das vorchristliche Ich „unter der Sünde“ (Röm 3,9) und „unter dem Gesetz (Röm 6,14) lebe und von der Sünde beherrscht werde, sei dem Christen deutlich, dass die Sünde trotz der seine Gegenwart bestimmenden Macht keine Zukunft habe. Der Übergang vom einen zum anderen erfolge durch die Taufe. WA 8, 91. Luther erklärt diese Unterscheidung mit dem Bild eines Räubers, der in Ketten gelegt wird. Obwohl seine Macht gebrochen sei, bleibe er ein Räuber und die Gefahr bestehe, dass er freikomme. 67 Welz, Vertrauen und Versuchung (2010), 203. Jüngel dazu: „[…] der Gerechte hat die Verheißung und die Hoffnung auf seiner Seite: er wird einmal nur noch gerecht sein. In diesem Sinne gilt, daß die Heiligen real Sünder, in der – die Zukunft antizipierenden – Hoffnung aber unwiderruflich Gerechte sind.“ Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung (2006), 186. Härle fasst Luthers Ansatz treffend zusammen: „Im Blick auf die erste, dem Menschen in der Taufe von Gott zugesprochene Gerechtigkeit gilt: Der Christ ist ganz gerecht. Im Blick auf die zweite Gerechtigkeit, die im Christenleben daraus entsteht und sich in Richtung auf die ewige Vollendung entwickelt, ist neben der wirksam werdenden Gerechtigkeit, also dem tatsächlich gelebten Vertrauen auf Gott und neben dem daraus resultierenden Gesetzesgehorsam, immer auch die Begierde vorhanden, die den Menschen von Gott und dem Nächsten abzieht und entfremdet. Im Blick auf diese zweite Gerechtigkeit gibt es also tatsächlich ein teils-teils von ‚Krankheit‘ (durch die Sünde) und ‚Heilung‘ (durch die Gerechtigkeit).“ Härle, Spurensuche nach Gott (2008), 236. 68 WA 39/I, 508.
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Luther macht deutlich, dass es um eine „die ganze Existenz bestimmende Anfänglichkeit“69 des Gerechtseins gehe. Weiterhin gehört zu dieser Formel die Einsicht, dass innerhalb der Simultanität Streit herrsche, dass der in Christus Gerechte gegen sich selbst kämpfe. Gerecht sei der Mensch jedoch nur im Glauben. Als Glaubender erkenne er sich als Sünder. „Als Glaubender im Unglauben ausharren heißt deshalb auch, sich seiner Sünde bewusst zu sein – dessen, dass die Beziehung zu Gott von ihrer menschlichen Seite her im Argen liegt, ohne dass der Sünder bleibende Mensch dies je von sich aus dahingehend ändern könnte, dass er der Gnade Gottes nicht mehr bedürfe.“70 In diesem Zusammenhang kann auf das Fragmentarische des Glaubens aufmerksam gemacht werden, das dem Zweifel seinen unergründlichen Ort und Anlass zuschreibt. Das Fragmentarische des Glaubens wird im Sinne eines angefochtenen Glaubens verstanden, der dem Menschen weder „gänzlich“ zur Verfügung steht noch „zur Verfügung“ steht. Ein paradoxes „Zugleich“ von Unglaube und Glaube wird in jenem Vers im Markusevangelium deutlich, in dem der Vater eines besessenen Knaben Jesus um Heilung bittet: „Du sagst: Wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Ich glaube; hilf meinem Unglauben“ (Mk 9,23–24 LUT17).71 Mit Rosenau kann deshalb festgehalten werden: „Eine Überwindung des Zweifels im Glauben kann es daher nicht durch Ausschluss des Zweifels, sondern wohl nur in einem bestimmten gläubigen Umgang, in einem bestimmten gläubigen Verhältnis zum Zweifel geben.“ Der Autor fährt fort: Allerdings sollte bei einer solchen Integration des Zweifels und der Skepsis in den Glauben statt krasser Entgegensetzung nicht der Eindruck entstehen, dass unter der Hand und wohl auch ungewollt aus der existentiellen Not des Zweifelns eine theologische Tugend (der Aufklärung) gemacht wird, indem der Zweifel, z. B. dadurch in seiner destruktiven Kraft entschärft werden soll, dass er als produktives Ferment des Glaubens […] uminterpretiert wird, was ihn davor schützt, sich selbst als ‚Werk‘ misszuverstehen, dessen man sich gleichsam vor Gott rühmen könnte. Dann würde der Zweifel zum Glauben gehören wie Hoffnung und Liebe (nach 1.Kor 13,13).72
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Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung (2006), 186. Welz, Vertrauen und Versuchung (2010), 203. So etwa: Kessler, „Alles ist möglich dem, der glaubt!“ (2011), 39. Rosenau, Ich glaube (2005), 18.
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1.2.6 Zweifel und Unglaube 1.2.6.1 Zweifel, der zum Unglauben führt Für Menschen, denen es nicht mehr möglich ist zu glauben, stellt sich die Frage, wie der Verlust des Glaubens theologisch formuliert werden kann. Lehmkühler formuliert die Spannung, die Personen in der Bewegung des Zweifels, der zum Glaubensverlust führen kann, empfinden: „Wenn eigene Identität und Glaubensakt in einen existentiellen Widerspruch geraten, dann kann dieser Widerspruch, so scheint es zumindest den Betroffenen, nur durch die Preisgabe des Glaubens aufgelöst werden.“73 Die desintegrierende Wirkung der Zweifel betrifft die religiöse Identität. Der Zweifelnde meint, nicht mit sich selbst in Übereinstimmung leben zu können und darin auch nicht mit Gott. Glaubensgewissheit wäre im Gegenteil der Status der Übereinstimmung. Vor einem einfachen Dualismus sei jedoch gewarnt, denn auch die Annahme des Zweifels kann zu einer Übereinstimmung mit sich selbst führen.74 Zunächst lässt sich feststellen, dass „Glaubensverlust“ in der theologischen Literatur (sowohl evangelisch als auch katholisch) kaum vorkommt.75 Ein kurzer Artikel zum Glaubensabfall in der vierten Auflage der RGG gibt einen Einblick, der jedoch wenig dogmatische Reflexion bietet.76 Luthers Ausführungen zum Zweifel sollen an dieser Stelle skizziert und in weiterer Folge berücksichtigt werden. In seiner Genesisvorlesung (1535/45) erläutert Luther den Fall Adams. Er weist darauf hin, dass der Fall mit der Frage einsetze: „Sollte Gott gesagt haben?“ (Gen 3,1). Die Sünde habe nicht im Essen der Frucht bestanden, sondern darin, der Frage der Schlange Gehör und Raum gegeben zu haben. Es gibt nach Luther einen Zweifel, der in die Distanz zu Gott treibe und die dem Menschen geschenkte „imago Dei“ zerstört habe. Das beschreibt er mit „disputare de deo“. In dieser Form des Zweifelns führe der Zweifel in den Widerspruch gegen Gott und sei Sünde. Oswald Bayer beschreibt es folgendermaßen: Sünde heißt: Gottes Zusage nicht zu trauen, an ihr zu zweifeln: Hält Gott auch, was er verspricht? Sollte Gott gesagt haben? Mit Gott disputieren und dabei zweifeln,
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Lehmkühler, „Glaubensverlust und Wahrhaftigkeit“ (2017), 48–49. Vergleiche zu den seelsorglichen Perspektiven des Zweifels: Rosenau, Ich glaube (2005), 141. Lehmkühler, „Glaubensverlust und Wahrhaftigkeit“ (2017), 49–50. Schoberth, Art. „Glaubensabfall. I. Zum Begriff “ (2000); Mell, Art. „Glaubensabfall II. Neues Testament“ (2000); Wingate, Art. „Glaubensabfall. III. Praktisch-theologisch“ (2000).
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kann zwar auch der angefochtene Glaube, eben sofern er seine Fragen als Klage vor Gott bringt. Unglaube aber wird dieser Zweifel, wenn er sich aus dem Gottesverhältnis löst und in selbstrechtfertigender, selbststabilisierender Absicht laut wird. Wer die Erfüllung seines Lebens selbst in die Hand nehmen, sich selbst garantieren will, meint, das Hören und Antworten – als Loben, Klagen und Bitten – nicht mehr nötig zu haben.77
Der Zweifel könne Formen annehmen, die es unmöglich machten am Gottesglauben festzuhalten. Dazu gehöre ein Zweifel, der alle Gewissheiten angreifende und aus dem „Wider-Gott-Sein“ entstehe.78 Nachdem der mögliche Status des Unglaubens festgehalten wurde, erscheint es hilfreich, der Frage des Glaubensverlusts, also ob Glaube „verloren“ werden könne, nachzugehen.79 Dies geschieht in den nachfolgenden Ausführungen durch weitere Erläuterungen zum Wesen des Glaubens: Glaube als „fiducia“ und Glaube als Einwohnung Christi.
1.2.6.2 Glaube als „fiducia“ Luther und Melanchthon haben das vertrauensvolle Verhältnis des Menschen zu Gott – den rettenden Glauben – als „fiducia“ beschrieben. Dieses in den Verheißungen Gottes wurzelnde Vertrauen reiht sich nicht nur ein in die Erkenntnis von und Zustimmung zu wesentlichen Überzeugungen („notitia“ und „assensus“),80 sondern verdient besondere Beachtung. So könnten auf der Lehrebene intellektuelle Zweifel ausgehalten werden, wenn das im Herzen des Menschen festgemachte Vertrauensverhältnis stabil sei.81 Luther betont die 77 Bayer, Martin Luthers Theologie (2007), 162. 78 Ratschow, Der angefochtene Glaube (1957), 235–236. 79 Auf die betreffende Verantwortung des Menschen hinsichtlich des Glaubens wurde bereits aufmerksam gemacht, beispielsweise mit dem Hinweis zur Erlangung der zweiten Gerechtigkeit. 80 WA 18, 604. 81 Luther hat im Zusammenhang des ersten Gebotes im Großen Katechismus formuliert: „Was heißt, einen Gott haben, oder was ist Gott? Antwort: ein Gott heißt das, dazu man sich versehen soll alles Guten und Zuflucht haben in allen Nöten; also dass einen Gott haben nichts anders ist, denn ihm von Herzen trauen und glauben […]. Denn die zwei gehören zu Haufe, Glaube und Gott. Worauf du nun (sage ich) dein Herz hängst und verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“ WA 30/I, 132–133. Lehmkühler betont in dieser Hinsicht: „Der Glaube als Vertrauensverhältnis wird nicht durch das Vertuschen intellektueller Zweifel und auch nicht durch eine ‚Parteinahme für Gott‘ gestärkt. Ein existentieller Vertrauensmangel Gott gegenüber kann nicht im Namen des Glaubens überspielt werden. Er kann nur, wenn überhaupt, im Glaubensvollzug selbst überwunden werden.“ Lehmkühler, „Glaubensverlust und Wahrhaftigkeit“ (2017), 51.
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Möglichkeit des Glaubensvollzuges gerade auch im Zweifel. Luther weist an, sich selbst gegenüber gelassen zu sein – und nicht die eigene Unfähigkeit des Glaubens zu thematisieren – und sich auf Gottes Gabe des Glaubens zu fokussieren. Im „Sermon vom Sakrament der Buße“ thematisiert Luther Zweifel an Gottes Vergebung auch nach dem Empfang des Bußsakraments: Nun, läßt Gott den Glauben also schwach bleiben, daran soll man nicht verzagen, sondern dasselbe aufnehmen als eine Versuchung und Anfechtung, durch welche Gott den Menschen probirt, reizt und treibt, daß er desto mehr rufe und bitte um solchen Glauben, und mit dem Vater des Besessenen im Evangelium sage: ‚O Herr, hilf meinem Unglauben‘, und mit den Aposteln, Luc. 17.5 (.): ‚O Herr, mehre uns den Glauben.‘ Also lernt der Mensch, daß alles Gottes Gnade sei, das Sacrament, die Vergebung und der Glaube, bis daß er Hände und Füße fahren lasse, an ihm selbst verzweifelt, lauter und Gottes Gnade hoffe und haftet ohne Unterlaß.82
Luthers Gedanken lassen sich anschließen an die Frage nach der Wahrhaftigkeit des Menschen vor Gott. Luther ging es um „die Frage der Ehrlichkeit vor sich selbst, die zugleich eine Ehrlichkeit coram Deum war: Kenne ich denn überhaupt meine innersten Motive? Kann ich sicher sein, mich richtig einzuschätzen?“83 In gewissem Sinn stellt sich hier die Frage nach der Authentizität des Glaubens. Luther kam von dieser Frage erst los, als er lernte, allein auf die Verheißung von der Vergebung Gottes zu blicken und nicht mehr auf das Werk der vollkommenen Beichte.84 Die Antwort besteht demnach darin, nicht den Blick noch mehr auf die eigene Existenz zu richten, sondern dass es zu einer „Relativierung der Wahrhaftigkeitsproblematik“ kommen muss. Lehmkühler formuliert es pointiert folgendermaßen: „Die Aufklärung der eigenen Motive rückt in den Hintergrund, und die entscheidende Wahrheit ist eine zugesprochene Wahrheit: die Zusage der Barmherzigkeit Gottes in Christus.“85 Lehmkühler kann darin gefolgt werden, wenn er dafür plädiert, dass die Aufrichtigkeit vor einem selbst und vor Gott immer unvollständig bleibt und der Mensch sich letztlich ein Geheimnis bleibt. Dies führt zu einer Relativierung des Zweifels, solange der Zweifel noch als innerhalb der gläubigen Existenz verstanden wird.
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Vgl. WA 2, 720. Lehmkühler, „Glaubensverlust und Wahrhaftigkeit“ (2017), 40. Vgl. WA 2, 713–723. Lehmkühler, „Glaubensverlust und Wahrhaftigkeit“ (2017), 41.
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1.2.6.3 Glaube als Einwohnung Christi Wenn Glaube als ein Akt der Entscheidung (in Verstand, Wille und Gefühl) oder zugespitzt als ein Akt des menschlichen Vermögens verstanden wird, dann gilt es bei einem (subjektiv erlebten) Verlust des Glaubens das Vermögen des Menschen anzuklagen oder zu beschwören. Wenn Glaube jedoch ausschließlich als eine Gabe Gottes an den Menschen verstanden wird, dann kann der Mensch den Glauben, wie er etwa in der unverbrüchlichen Taufgabe festgehalten wird, nicht zerstören.86 Gleichwohl kann eine Person den anthropologischen Ort des Glaubens (Verstand, Wille, Gefühl) entscheidend beeinflussen und beispielsweise dem „äußeren Wort“ ausgesetzt werden. Der Gedanke, dass durch die Taufe ein „unauslöschliches Siegel“ („character indelebilis“) vermittelt wird, findet sich in der reformatorischen Tradition in der Metapher der Einwohnung Christi im Glaubenden. Luther formuliert es in der Galatervorlesung (1531) so, dass Christus im Glaubenden selbst anwesend sei, also als göttliche Präsenz im Menschen, die den Glauben erst konstituiere.87 Damit ist ein unzerstörbarer Indikativ des Heilszuspruchs gemeint und signalisiert die bleibende Ansprechbarkeit auf den Glauben sowie die Bezogenheit auf die Gemeinde. Ein solches Glaubensverständnis macht deutlich, dass ein subjektives Erleben des Glaubensverlustes nicht gleichzusetzen ist mit dem Verlust der göttlichen Gabe. Man kann hier nur sagen, dass Gott an diesem Menschen handelt und dass Gott treu ist. Gleichzeitig ist der Glaubende angewiesen, im Sinne der zweiten Gerechtigkeit, seinen Glauben in Freiheit verantwortlich zu gestalten88 und im Gebet um Glaubensgewissheit zu bitten. In pastoraltheologischer Perspektive muss das
86 Kirchengeschichtliche Anzeichen dafür finden sich bereits in der Alten Kirche, die Apostaten bei der Rückkehr zum Glauben nicht erneut getauft hat. 87 WA 40/I, 229. Lehmkühler plädiert für eine Rückbesinnung auf jenes zentrale Thema, das am Ende des 19. Jahrhunderts aus der evangelischen Dogmatik verschwunden ist. Der Streit um die Lutherdeutung siehe Lehmkühler, Inhabitatio (2004), 238–286. 88 Von der Sünde befreit, werde dem Menschen eine neue Freiheit geschenkt, die sich an das Wort Gottes binde. In seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (1520) ordnet Luther der gewonnenen Freiheit den Begriff der Verantwortung zu. Der Mensch, der durch Christus befreit ist: „[…] tut in freiester Knechtschaft der freien Liebe die freiesten Werke, die nur zwei Kriterien kennen: das Wohlgefallen Gottes und das Bedürfnis des anderen. Dabei folgt er dem Exempel Christi, versetzt sich an die Stelle des Nächsten und kann nur wollen, dass sein Mitmensch zum Heil gelangt.“ Kjeldgaard-Pedersen, Art. „Freiheit / christliche Freiheit“ (2015), 227–228. Wo allerdings nicht auf das Wort Gottes gehört und nach der Verantwortung für den anderen gefragt werde, schlage sich eine Freiheit durch, die in Egoismus und Beliebigkeit münde. Vgl. dazu: Braun, „Reformation“ (2017), 147. So seien Freiheit und Gemeinschaft verbunden. Schwöbel sagt: „So wie die christliche Gemeinschaft geschenkte Gemeinschaft ist, ist auch die christliche Freiheit geschenkte Freiheit, die entsteht, wo Menschen im Glauben annehmen, dass sie in Christus von der in tiefe Schuldverstrickung führenden Last der Selbst-
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subjektive Empfinden des Glaubensverlusts mit Respekt wahrgenommen werden. In der theologischen Reflexion kann Luthers bildhafte Darstellung hilfreich sein: „Bist du aus dem Schiff gefallen, tritt wieder herein. Es ist ein ewig Geschenk, character indelebilis. Gottes Wort fällt darum nicht, ob ich (gleich) falle und nicht glaube, Ro. 3“.89 Trotz des subjektiven Erlebens des Glaubensverlusts wird nicht zugelassen anzunehmen, dass es sich um eine Abwesenheit Gottes handelt. Der Glaubende soll an die Hoffnung und dem Bekenntnis festhalten, dass Gott „im Dunkel wohnen will“. Luther hat dieses Bild auf die unerkennbare Gegenwart Gottes im Leben des Menschen bezogen, die jedoch im Glauben ergriffen werden soll. In der Galaterbriefvorlesung schreibt Luther: Der Glaube ist eine gewisse Erkenntnis oder Finsternis, die nicht sieht und dennoch sitzt in der Finsternis Christus, der im Glauben ergriffen wird, so wie der Herr auf dem Sinai oder im Tempel mitten in der Finsternis saß. […] unsere Grundgerechtigkeit ist der Glaube selbst und die Finsternis des Herzens, d. h. unser Vertrauen in eine Sache, die wir nicht sehen, d. h. unser Vertrauen auf Christus […].90
In diesem Sinne ist christlicher Glaube stets die Wende aus der Situation der Anfechtung hin zur Erfahrung der Gewissheit.91
1.2.7 Zweifel als Anfechtung Zuletzt soll eine weitere Deutungsperspektive über den Zweifel – den Aspekt des Widerfahrnis’ aufnehmend – genannt werden. Die Vorstellung vom Zweifel als einer von Gott kommenden Glaubensprüfung nimmt in der protestantischen Theologie breiten Raum ein. Hier ist die Rede von Anfechtung. Das Wort Anfechtung stammt aus der Sprach- und Glaubenswelt Luthers. Nach Oswald Bayer ließen sich die Wortfelder Anfechtung, Versuchung und Prüfung im NT nicht voneinander unterscheiden, „zumal die griechische wie die lateinische befreiung befreit sind und so den Glauben als Gewährung von Handlungsfähigkeit erfahren, wodurch es ihnen ermöglicht wird, sich anderen in Liebe zuzuwenden.“ Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 410. 89 WA 34/I, 97. 90 WA 40/I, 229. 91 Schneider-Flume hebt gezielt hervor, dass Glaube im Gegensatz zu Schleiermacher, der vom Glauben als einer gleichbleibenden Gestimmtheit spricht, nicht nur als theoretische Skepsis zu fassen sei, sondern als „[…] Durchleben der Nacht ohne Gott, die Gott selbst in Jesus Christus lebensschöpferisch für uns durchlebt hat.“ Schneider-Flume, „Gewißheit und Skepsis“ (1993), 304.
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1. Konzeption des Zweifels
Bibel für sie nur ein einziges Wort kennt (peirasmos, tentatio) […].“92 Ergänzend können die Wörter „probatio“, „tribulatio“ und „afflictio“ genannt werden. Aus diesem Grund liegt es nahe, dieses zu einem gemeinsamen Bedeutungsfeld zusammenschmelzende Phänomen, in einem Kapitel zu verhandeln. Unter Anfechtung wird die „fundamentale Infragestellung des mit Gottes Namen (Ex 3) gegebenen Wortes, seiner Gemeinschaft schaffenden promissio, seiner selbst als promissio (Ex 20,2) […]“93 verstanden. Anfechtung ist demnach nicht nur eine Lebenskrise, sondern beschreibt eine Gefährdung des Gottesverhältnisses und setzt einen Glaubenden voraus, der zutiefst in seiner glaubenden Existenz infrage gestellt wird. „[…] Anfechtung stürzt in Angst und Verzweiflung und will alles, was ist, für sinnlos und nichtig erklären […].“ „Anfechtung ist also wirksamer als der radikalste intellektuelle Zweifel, wirksamer z. B. als das cartesische Gedankenexperiment einer annihilatio mundi […] tiefgreifender als die Furcht vor der Erschütterung der Fundamente des Seins […].“94 Wer angefochten ist, kann nur mehr schwer glauben, dass Gott es gut mit einem meint. Beintker etwa unterscheidet in dieser Hinsicht den Zweifel, „den wir vor allem intellektuell registrieren, ohne ihn jedoch mit dem existentiellen Schmerz zu durchleben, den die Anfechtung uns zufügt“. Im christlichen Selbstverständnis ist es Gott selbst, „[…] der gezielt gegen mich opponiert und zum letzten Widerspruch gegen mich ausholt“.95 Glaube und Anfechtung sind somit letztlich gleichursprünglich.96 Nach Luther ist es die Predigt des Gesetzes, die die Anfechtung hervorrufe und das Gewissen des Menschen zur Verzweiflung bringe.97 Werbick führt es treffend aus: Gott spricht im Gesetz wie in der Hoffnungslosigkeit der (Welt-)Vernunft das Urteil über die vergeblichen Versuche des Menschen, aus sich selbst (etwas) gut sein und
92 93 94 95 96
Bayer, Art. „Anfechtung. I. Dogmatisch“ (1998), 478–479. A. a. O., 478. A. a. O., 478–479. So auch in Bayer, Martin Luthers Theologie (2007), 19–20. Beintker, Art. „Anfechtung. IV. Dogmatisch“ (1978). Vgl. dazu Ebeling, der Gott als „Ursache von Zweifel und Ungewissheit“ beschreibt. Ebeling, „Gewissheit und Zweifel“ (1969), 168–169. Dies gilt, obwohl Luther zwischen Versuchungen „des Fleisches, der Welt und des Teufels“ unterscheidet. WA 30/I, 16. Welz führt Luthers Gedanken treffend aus: „Der alte Adam reize uns täglich zu Tatsünden wie etwa zu Geiz und Täuscherei; die Welt treibe uns zu Zorn und Ungeduld, da niemand der Geringste sein solle; und der Teufel reiße uns von Glaube, Hoffnung und Liebe und bringe uns zur Verstockung und Verzweiflung.“ Welz, Vertrauen und Versuchung (2010), 162. 97 WA 39/II, 163.
1.2 Theologische Standortbestimmungen
563
Zukunft haben zu wollen. Im Geschehen der Welt zerschlägt er die opinio iustitiae, das falsche Selbstbewusstsein des Menschen. Was auch immer in der Welt als Unheil erlitten werden muss, dient diesem opus alienum Gottes, mit dem er die opinio iustitiae des Menschen zerstören will […].98
Schließlich lässt sich mit Werbick der erhoffte Weg des Glaubenden skizzieren: „Der verborgene Gott wirkt den Welt- und Selbst-Zweifel, die Welt- und Selbst-Verzweiflung, damit der Mensch nicht bei Welt und Selbst seine Zuflucht suche, sondern zu dem Verheißungswort ‚fliehe‘, das Gott ihm in Jesus Christus zuspricht: vom verborgenen zum offenbaren Gott.“99 Gottes Anfechtung will, im Gegensatz zu den Anfechtungen des Teufels, dass der Glaubende siegreich und gestärkt daraus hervorgehe. Aus diesem Grund stelle die Anfechtung kein schuldhaftes Verhalten des Zweifelnden dar, sondern sei als göttliche Prüfung anzuerkennen und auszuhalten. Für Luther ist Abraham der Prototyp des Glaubenden und der Inbegriff des Angefochtenen – die Biografie Abrahams sei eine Kette von Anfechtungen, die zum Höhepunkt, nämlich der Opferung seines Sohnes, führe (Gen 22).100 Für Luther anhand des Prototyps Abraham deutlich was „tentatio“ ist.101 Neben der Gleichursprünglichkeit von Glaube und Anfechtung zeige sich nach Luther eine Verhältnisbestimmung, nämlich je stärker der Glaube, desto intensiver die Anfechtung.102 An der Erzählung in Gen 22 macht Luther deutlich, dass Gott sich gegen seine „promissio“ (und auch gegen das Tötungsverbot) wende, also gegen Evangelium (und Gesetz) – Gott im Selbstwiderspruch (contradictio) –, und sich damit als willkürlicher Herrscher und Tyrann manifestiere.103 Es werde der menschlichen „ratio“ und der „fides“ das Fundament entzogen und zu einem kontrafaktischen Glauben aufgerufen. „Die Kontrafaktizität des Glaubens wird greifbar darin, daß Abraham dort, wo nichts zu hoffen und der Grund des Glaubens fern ist, kontradiktorisch, ja geradezu renitent, gegen Gott an Gott festhält und Widerstand leistet gegen den Deus absconditus.“104 Luthers „tentatio“-Verständnis wird hier exemplarisch ver-
98 Werbick, „Glaubensgewissheit“ (2017), 112. 99 A. a. O., 113. 100 WA 24, 379. 101 Steiger, „Zu Gott gegen Gott“ (2006), 188–189. Dabei ist Luthers Ansicht der Anfechtung eng mit seinem Erleben von Anfechtung verbunden. Siehe dazu Ebeling, Luthers Seelsorge (1997), 364–446. 102 So auch in WA 16, 234. Luther stellt fest, dass der Glaube niemals stärker sei, als wenn die Trübsal am größten sei. 103 Steiger, „Zu Gott gegen Gott“ (2006), 191. 104 A. a. O.
564
1. Konzeption des Zweifels
deutlicht: Der Glaubende solle „ad deum contra deum“105 fliehen und gegen die „tentatio“ aufbegehren.106 Anfechtung ist für Luther nicht ein Störfaktor, sondern Ausdruck und Konsequenz eines lebendigen Glaubens und wahrer Theologie sowie Garant dafür, eine falsche „securitas“ zu meiden und so die Wirkmacht des Wortes Gottes zu erfahren.107 Aus diesem Grund warnt Luther davor, wenn keine Anfechtung erlebt wird.108 Die Heilige Schrift helfe gegen die Versuchung und sei zugleich „generatrix“ der „tentatio“. Das Wort Gottes stehe in derselben Spannung wie das Handeln Gottes, das einerseits in die Anfechtung führe und andererseits Tröster in der Anfechtung sei.109 „Luther ist es gerade um das In- und Miteinander des zur Linken und zur Rechten wirkenden Gottes zu tun, der in die Hölle führt und wieder heraus (1 Sam 2.6).“110 Anfechtung des Glaubens als Signatur des Glaubens könne, wie Michael Weinrich herausgestellt hat, in doppelter Weise gelesen werden, nämlich als „genitivus objectivus“ (der Glaube steht in Frage) und als „genetivus subjectivus“ (die Anfechtung steht als Folge des Glaubens da).111 Bei Luther dominiert die Lesart im Sinne des „genetivus subjectivus“, wonach der Glaube selbst Anfechtung hervorbringt. „Nicht der Zweifel an der Gewissheit, nicht unzulänglicher Glaube oder die Widrigkeit der jeweiligen Umstände, sondern die Gewissheit selbst weckt die Anfechtung als ihren notwendigen Reflex.“112
105 WA 5, 204. 106 Welz führt Luthers Gedanken weiter aus: „Dementsprechend besteht die Aufgabe aller Glaubenden darin, in den Streit mit Gott einzutreten und Gott zu überwinden mit seinem eigenen Wort.“ Welz, Vertrauen und Versuchung (2010), 160. 107 Luther selbst hat eine Anweisung für das Betreiben der Theologie gegeben, wenn er von „oratio, meditatio, tentatio“ spricht. Zu Beginn stehe die Erwartung ewigen Lebens, die sich von der Bibel her erschließe. Dieses Einlassen geschehe in Form des Gebets als Bitte um Erschließung des Gehalts der Bibel. Danach erfolge die Konzentration auf die Bibel, nicht in Form einer Spiritualisierung, sondern Konzentration auf die sprachliche Gestalt. Erst dadurch würden Anspruch und Zusage erschlossen und Inhalte eingeprägt. Als Drittes komme die „tentatio“. „Die ist der Prüffstein, die leret dich nicht allein wissen und verstehen, sondern auch erfaren, wie recht, wie warhafftig, wie süsse, wie lieblich, wie mechtig, wie tröstlich Gottes wort sey, weisheit uber alle weisheit“. WA 50, 660. Vgl. dazu: Korsch, „Theologische Prinzipienfragen“ (2010), 361–362. Vgl. dazu Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens (1965), 156–166. 108 Beispielsweise in WA 6, 233. Weinrich hat Carl Heinz Ratschows Verständnis der Anfechtung als Trübung des Glaubens und nicht als Vergewisserung des Glaubens zurecht zurückgewiesen. Weinrich, „Die Anfechtung des Glaubens“ (1997), 154–158. 109 Vgl. dazu Bayer, Martin Luthers Theologie (2007), 20. 110 Welz, Vertrauen und Versuchung (2010), 163. 111 Weinrich, „Die Anfechtung des Glaubens“ (1997), 127–134. 112 Claudia Welz formuliert treffend weiter: „Dem Menschen sind demnach alle Möglichkeiten der Selbstvergewisserung oder auch nur der Bestätigung der Gewissheit entzogen. Er kann nichts tun und muss sich alles getan sein lassen. Diese strenge Externität dieses Perfektums ist
1.2 Theologische Standortbestimmungen
565
Damit wird deutlich, dass Glaubensgewissheit nicht der Selbststabilisierung (oder „securitas“) dient, sondern der Beweglichkeit. Diese Beweglichkeit zeigt sich in einem Oszillieren zwischen Glaubensgewissheit und Anfechtung. Wie bereits erwähnt, lässt sich Glaubensgewissheit nicht konkret verifizieren, sondern „bleibt eine Wirklichkeit, die ihrem Wesen nach verheißen ist.“113 Damit sei und bleibe die Welterfahrung als Bestätigung des Glaubens ungeeignet, da der Glaube in diesem Leben eine Zuversicht sei, die jedoch erst am Jüngsten Tag offenbar werde.114 Denn gerade in der Anfechtung geraten Glaube und Gefühl in den Gegensatz.115 Luther führt die Wichtigkeit der Anfechtung hinsichtlich der Glaubensgewissheit an anderer Stelle (beispielsweise in der Heidelberger Disputation) insofern weiter aus, als damit die Unterscheidung zwischen „deus absconditus“ und „deus revelatus“ erschlossen wird.116 Die Konsequenz einer in Gott liegenden Glaubens- und Heilsgewissheit nötige zur Rede vom verborgenen Gott.117 Bis sich das Geheimnis des verborgenen Gottes löse, gelte es den verborgenen Gott zu meiden und dem sich den Menschen in Jesus Christus als Heil der Welt offenbarenden Gott anzuvertrauen. Für Luther führt die Anfechtung in eine erneuerte Bestätigung des Glaubens, denn ohne Anfechtung „würden faule, unfruchtbare, unerfahrene Christen, und sollten gar bald verrosten.“118 Zuletzt sei darauf hingewiesen, dass der klärende und vergewissernde Aspekt der Anfechtung erst retrospektiv behauptet werden könne, nach Luther jedoch Gotteserkenntnis fördere – und sogar produktive Kraft entfalten könne. Anfechtung müsse bis zum Eschaton, neben „meditatio“ und „oratio“, als Bestandteil des Glaubens und der Theologie ausgehalten werden. Der angemessene theologische Ort für den Umgang mit der Anfechtung ist demnach das Gebet, in dem um die Erlangung von Kraft zugleich die Einbruchsstelle für die Anfechtung, die für Luther zur Gewissheit gehört.“ Welz, Vertrauen und Versuchung (2010), 166–167. 113 A. a. O., 167. Verifizieren lässt es sich demnach auch nicht über das Gefühl, da Glaubensgewissheit nicht mit unmittelbarem Fühlen korrespondiert. Siehe WA 10/I, 614. 114 Am Ende von „De servo arbitrio“ spricht Luther von drei Lichtern, vom Licht der Natur, vom Licht der Gnade, das den Glaubenden scheint, und vom Licht der Herrlichkeit, das die Glaubenden in der Erwartung des Eschatons erhoffen. Erst im dritten Licht werde sich zeigen, dass Gott auch in dem Unverständlichen gewirkt habe. In dieser Hinsicht werde es zu einer eschatologischen Verifikation kommen. WA 18, 783–785. 115 Dietz, Der Begriff der Furcht bei Luther (2009), 255. 116 So auch in der Rede „Vom unfreien Willen“. Siehe WA 18, 684. 117 Von einer auf den „Gott im Kreuz“ gegründeten Theologie, die den Ort des Leidens und der Anfechtung als Ort der Gegenwart Gottes identifiziert, wird eine „theologia gloria“ unterschieden, „die abgesehen von Christus und an der Niedrigkeitsgestalt vorbei Gott erkennen zu können glaubt.“ Slenczka, „Christus“ (2010), 391. 118 Nach WA 45, 598.
566
1. Konzeption des Zweifels
gebeten wird.119 Die Gewissheit des Glaubens ereigne sich immer wieder neu als Beziehungsgeschehen, indem der Mensch auf die „promissio“ im Gebet antwortet. Christen sollten ihre Klagen und Bitten, alles was die Gewissheit bedrohe im Gebet aussprechen. Luther macht den Zusammenhang zwischen Gebet und Glaube deutlich, wenn er sagt: „Was ist der Glaueb anders denn eytel gepet?“120 Schneider-Flume pointiert das Gebet als „Geschehen des Gewißwerdens eines Beters“ und stellt zusammenfassend fest: „Der Beter dekonstruiert und rekonstruiert alte Sicherheiten und neue Erschütterungen und Infragestellungen, indem er sie im Kontext der Geschichte Gottes, im Zusammenhang der erinnerten Heils- und Rettungsgeschichte und im Horizont der erzählten Befreiungsgeschichte neu wahrnimmt.“121 Weil Glaube ein göttliches, den Menschen verwandelndes Werk sei, werde der angefochtene Glaube (und damit Gewissheit) nicht durch eigene Kraft anstrengungen ermöglicht, sondern durch die Kraft Christi, die in Schwachheit ihre Vollendung finde.122 Nichtsdestotrotz könne der zweifelnden Person eine gewisse Aktivität zugesprochen werden.123 Worin besteht die Anfechtung inhaltlich? Luther spricht die Nöte des Fleisches an, die (nicht nur) den „jungen Menschen“ zu schaffen machten, die Welt (Hass, Neid, Feindschaft, Gewalt, Unrecht) und andere geistliche Dinge, nämlich den Teufel. In der dritten Art der Anfechtung tritt der Teufel selbst hervor. Diese beträfe die „starken Christen“, also jene, die um Gottes Gebote wüssten
119 Kessler formuliert treffend in ihrer Exegese über Mk 9,23–24: „Das Markusevangelium ermutigt zum Gebet als Ausdrucksform ‚ungläubigen‘ wie auch vertrauenden Glaubens, indem es Jesus als Betenden beschreibt und die Glaubenden als von Jesus zum Gebet Aufgeforderte.“ Kessler, „Alles ist möglich dem, der glaubt!“ (2011), 50. 120 WA 8, 360. 121 Schneider-Flume, „Gewißheit und Skepsis“ (1993), 304. „Denn es leitet zur Horizont erweiternden Weltwahrnehmung im Licht der Gotteserschließung (Lob- und Dankgebet) und damit ineins zur Gotteswahrnehmung im Licht der ambivalenten Welterfahrung (Bitt- und Klagegebet) an. Und der Glaube als Vertrauen (fiducia) verträgt soviel an Verunsicherung (insecuritas), wie er im Gebet bei allem Bitten und Klagen noch Grund zu Lob und Dank hat, und sei es auch nur dafür, dass die Klage von anderen Gläubigen im gemeinsamen Gebet mitgetragen wird und somit noch eine Horizonterweiterung statt -verengung möglich ist (vgl. Phil 4,4–7).“ Rosenau, Ich glaube (2005). 122 Slenczka, Art. „Glaube VI. Reformation / Neuzeit / Systematisch-theologisch“ (1984), 322. 123 Wie auch von Nadine Kessler exegetisch in Mk 9,23–24 nachgewiesen. Kessler, „Alles ist möglich dem, der glaubt!“ (2011), 44. So hat es auch Tillich formuliert: „Der Zweifler im religiös bedeutungsvollen Sinn ist derjenige Mensch, der mit dem Verlust der religiösen Unmittelbarkeit Gott, die Wahrheit und den Lebenssinn verloren hat oder auf irgendeinem Punkte des Weges zu diesem Verlust steht und doch nicht in diesem Verlust ausruhen kann, sondern getroffen ist von der Forderung, Sinn, Wahrheit und Gott zu finden. Der Zweifler ist also derjenige, den das Gesetz der Wahrheit […] gepackt hat und der, da er dieses Gesetz nicht erfüllen kann, der Verzweiflung entgegen geht.“ Tillich, „Rechtfertigung und Zweifel“ (1970), 89.
1.3 Zusammenfassung und Ertrag
567
und aus dem Evangelium lebten. Der Teufel treibe die Christen dazu sich vom Glauben loszusagen und Gewissensnöte hervorzurufen.124 Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass Anfechtung als ein ins Extreme gewendeter existenzieller Zweifel verstanden wird, der den Glaubenden und die glaubende Existenz infrage stellt. Ein solcher an die äußerste Grenze getriebener Zweifel ist als Wesensbestimmung des Glaubens zu verstehen und gehört ebenso zur anthropologischen Grundbestimmung des Glaubenden. Anfechtung geschieht im Blick auf die Erfahrungen in der Welt, die dem Geglaubten gegenüberstehen und bestätigen ein „Zwischen-Sein“. Anfechtung der Glaubensgewissheit kann in den Glaubensverlust führen, was nach Luther in die Tiefen eines „deus absconditus“ führe. Der Ort des Umgangs mit Zweifel sei das Gebet, das „coram mundo“ und „coram deo“ geschehe und Glaubensgewissheit erbitte.
1.3 Zusammenfassung und Ertrag Es ergeben sich eine Reihe von Beobachtungen, die in das nächste Kapitel über die Diskussion der „Emerging Church“-Konversation eingebracht werden. Die historisch-systematische Standortbestimmung verdeutlicht, wo sich das Verständnis des Zweifels in diesem Kapitel verorten will. Es wird weder ein strikter Dualismus noch eine optimistische Aufhebung von Glaube und Zweifel verfolgt. Diese doppelte Abgrenzung ist möglich, da sich beide Verhältnisbestimmungen auf verschiedenen Ebenen befinden, die nicht unmittelbar in ein größeres Ganzes eingegliedert werden können. Es wird von einer Gegensätzlichkeit des Glaubens und des Zweifels ausgegangen. Der Glaube ist eine Gabe Gottes während der Zweifel einerseits keine Gabe Gottes ist, sondern das Existenzial des Menschen feststellt („disputare de Deo“). In fundamentaler Weise wird der Zweifel als Existenzial, nämlich als „Zwischen-Sein“ und zugleich als Signum des bedürftigen Menschen bestimmt. Während an dieser Feststellung festgehalten wird, ist der Zweifel andererseits, etwa im Blick auf die Anfechtung, durch Gott verursacht und wird dem Glauben zugehörig beschrieben. In dieser Hinsicht wird gleichermaßen von einer inneren Verbundenheit von Glaube 124 Thorsten Dietz streicht die besondere Bedeutung hervor, die die Furcht vor der Anfechtung bei Luther gespielt hat. „Solche Anfechtung erweise sich offenbar als eine zeitliche Streckung des Schreckens vor dem Zorn und dem Gericht Gottes. In der Anfechtung scheinen die Liebe und Barmherzigkeit Gottes entschwunden zu sein, der Zorn Gottes scheine endgültig.“ Dietz, Der Begriff der Furcht bei Luther (2009), 254.
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1. Konzeption des Zweifels
und Zweifel ausgegangen. Die innere Verbundenheit wird einerseits durch ihre Gleichursprünglichkeit erklärt und andererseits durch das Wesen des Glaubens als stets angefochtener Glaube. Genauer lässt sich der theologische Ort des Zweifel in zweifacher Weise beschreiben: Erstens gibt Luthers Rede von der Anfechtung dem Zweifel einen Ort in und bei Gott. Die Alleinwirksamkeit Gottes wird von Luther in äußerster Konsequenz, d. h. was auch den Zweifel und die Verzweiflung betrifft, ausformuliert und Zweifel als Diener Gottes interpretiert. Die Situation der Anfechtung sei jedoch nicht endgültig, sondern leite an, zum offenbar gewordenen Gott zu fliehen. Dabei sei die Anfechtung, wie Werbick es treffend formuliert, „glaubensgeschichtlich“125 verortet. Denn das Sichtbare und Erfahrbare weise nicht zwingend von sich aus auf Gott und bestätige einen rechtfertigenden Glauben nicht. Die Anfechtung wolle in die Gotteserkenntnis führen und habe ihren Ort im Gebet vor Gott. Zweitens werde der Zweifel in dem Ringen um die zweite Gerechtigkeit des Menschen verortet, wo Zweifel als Existenzial Teil der Simultaneität von Gerechtsein und Sündersein des Christen zu verstehen sei. Es ist zu betonen, dass Zweifel im Diesseits nicht endgültig ausgeräumt werden könnten. Das solle apologetische Bemühungen weder verhindern noch überhöhte optimistische Vorstellungen hervorbringen. Wenn Zweifel auf Gott selbst zurückzuführen ist, wie in diesem Kapitel vorgeschlagen, dann ist Zweifel als Anfechtung besonders im Angesicht des „deus absconditus“ zu interpretieren. Der Glaube existiert nur als angefochtener Glaube, der nicht dasselbe ist wie Unglaube, sondern das Fragmentarische des Glaubens beschreibt. Ein solcher Zweifel kann aber auch in den Glaubensverlust führen. Luther macht deutlich, dass ein angefochtener Glaube dann in den Unglauben führe, wenn der Angefochtene in den Widerstreit mit Gott trete und Gott schließlich leugne. Subjektives Empfinden der Glaubensgewissheit und Gottes Geschenk des Glaubens sowie das subjektive Empfinden des Glaubensverlusts und Unglaube bleiben kategorisch unterschieden. Das Empfinden des Menschen und die Existenz des Menschen „coram Deo“ geben nicht reziprok Auskunft übereinander. Zweifel als Existenzial ist in gewissem Sinn unverfügbar und verlangt dennoch nach einem verantwortlichen Umgang des Subjekts, sofern Glaube ein denkender Glaube ist und er sich nicht von selbst versteht. Natürlich bedarf es einer vorsichtigen Skepsis (methodischer Zweifel), die überlieferten Dogmen und Meinungen infrage zu stellen vermag. Nichtsdestotrotz wird als Gewinn der lutherischen Auseinandersetzung mit Erasmus deutlich, dass Gewissheit immer wieder durch „assertio“ als Beziehungsgeschehen geschenkt wird. Eine
125 Werbick, „Glaubensgewissheit“ (2017), 113.
1.3 Zusammenfassung und Ertrag
569
radikale Loslösung von Lehrmeinungen ist abzulehnen. Schneider-Flume ist zuzustimmen, wenn sie sagt: „Christen haben nicht Gewißheit und schon gar nicht Gewißheiten, der Plural ist allemal verdächtig, sie werden vielmehr gewiß, durch die Beziehung in der Geschichte Gottes, die in Jesus Christus konkret ist.“126 Glaubende können, gewiss gemacht durch das Vertrauen in Christus, ausbrechen und Sicherheiten und festgelegte Verhaltensweisen und Denkmuster wie „Narren“ durchbrechen. Der Glaube hat in dieser Hinsicht keine stabilisierende und harmonisierende Funktion in der Gesellschaft, sondern hat das Potenzial „kritische Distanz zum Leben im alltäglichen, kontingenten Geschehen und eine Unterbrechung der vordergründigen Sicherheiten der gesellschaftlichen Gegebenheiten […]“127 zu sein. Die Frage nach verbindlichen Aussagen führt in die Frage nach der Anpassung an den Pluralismus und die „Furcht vor unmodernem Dogmatismus“128. Schneider-Flume kritisiert zu Recht, dass die (einseitige) Erasmische Position gelegentlich für Theologen auf ein „anything goes“ hinauslaufe.129 Hinsichtlich der Debatte um christologische Aussagen verweist Schneider-Flume darauf, dass sie dadurch verbindlich seien, als dass sie die gewiss machende Beziehung zu dem in Jesus Christus vernehmbaren Wort Gottes formulierten.130 Sie kritisiert ein Vorgehen, dass den Glauben beliebig neu konstruieren will, im Sinne einer Destruktion des Glaubens, um die Freiheit zur Skepsis absolut zu setzen. „Wenn durch den Interpretationsvorgang die Beziehung auf den gekreuzigten Jesus von Nazareth unmöglich gemacht wird, dann erübrigt sich die Interpretation, weil sie übergegangen ist zur Neukonstruktion einer Religion, die mitunter die gewißmachende Beziehung auf Jesus Christus durch eine naturreligiöse Frömmigkeit ersetzt.“131 Schließlich wurde dargestellt, dass Zweifel in seiner anthropologischen Verortung als Bewegung weg von Überzeugungen, Praktiken, Gemeinschaften oder Erfahrungen verstanden wird, ohne damit den Blick auf bestimmte Inhalte zu
126 Schneider-Flume, „Gewißheit und Skepsis“ (1993), 299. 127 A. a. O., 301. 128 A. a. O. 129 Einseitig deshalb, da der latente Skeptizismus nicht, wie noch bei Erasmus, durch die Schrift und durch die Autorität der Kirche eingerahmt ist. 130 Hinsichtlich der Debatte um eine pluralistische Theologie der Religionen kritisiert sie ein Dialogverständnis, das die Einzigartigkeit Jesu Christi (in der Selbstbehauptung) untergraben würde. Sie sagt: „Eine Theologie, die sich in der Beziehung zu Jesus Christus auf eine neutrale Position (medius!) stellte, wäre nicht nur nicht dialogwürdig, sondern auch nicht dialogfähig, weil sie die Wahrheitsfrage ausschaltet und damit den Dialog irrelevant macht.“ SchneiderFlume, „Gewißheit und Skepsis“ (1993), 302. 131 A. a. O., 302–303.
570
1. Konzeption des Zweifels
richten, sondern auf eine Haltung. Dabei wurde der Zweifel in struktureller Korrespondenz mit der „Emerging Church“-Konversation als ein sachliches und zeitliches Epiphänomen des Glaubens dargestellt. Der Zweifel ist in dieser Hinsicht eine Bewegung bezüglich eines inhärenten Problems, einer Krise, einer Ungewissheit.
2. Diskussion der „Emerging Church“Konversation 2.1 Vorbemerkungen Es wurde festgestellt, dass die „Emerging Church“-Konversation, wie sie in den 1990er-Jahren in den USA und Großbritannien entstanden ist und sich in weiterer Folge entwickelt hat, in erster Linie als ein Produkt erlebter Krisen interpretiert wurde. Diese Krisen betrafen die religiöse Orientierung emergenter Protagonisten. Diese zeigten sich im Hinblick auf 1. eine intellektuelle Auseinandersetzung mit theologischen Fragestellungen und dem vormaligen Glaubenssystem, 2. moralische Kritik an dem Lebensvollzug einzelner Christen oder der Glaubensgemeinschaft, 3. emotionale Leiderfahrung emergenter Protagonisten, 4. die Ablehnung oder Entfremdung der jeweils vormaligen Gemeinschaft und 5. den Verlust von religiösen Erfahrungen. Dies wirkte sich auf eine zweifelnde Haltung aus und betraf die erlebte Relevanz christlicher Gemeinden und Kirchen im Hinblick auf Mitgliederverlust, kulturelle Veränderungen (Postmoderne) oder schlicht die Botschaft, die sie verkündeten und lebten. Des Weiteren weiteten sich diese Eruptionen in der theologischen Urteilsbildung oder auch bezüglich der Rolle und Aufgabe christlichen Lebens und der Relationalität in der Welt aus. In diesem Kapitel wird die „Emerging Church“-Konversation, wie sie aus der spezifischen Perspektive dekonversiver Merkmale und Phasen dargestellt und interpretiert wurde, diskutiert und speziell anhand der Erkenntnisse über den religiösen Zweifel reflektiert. Im Mittelpunkt der Ausführungen steht die kritische Reflexion der Bedingungen der Möglichkeiten der inhaltlichen und strukturellen Ausformungen in der Konversation und nicht die Vielzahl der inhaltlichen Positionen. Dies führt zu einer Fokussierung der Diskussion auf ausgewählte Themen. Dazu gehören in erster Linie das Selbstverständnis des religiösen Subjekts, das Verhältnis von Individualität und Sozialität sowie eine kleine Auswahl prominenter theologischer Positionen, wie Christologie und „Reich Gottes“-Verständnisse. In ergänzenden Abschnitten soll es zu einer theologischen Beurteilung der für den Forschungsgegenstand wesentlichen Mechanismen kommen, also die
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
theologische Beurteilung der in der Konversation sichtbar werdenden anteiligen dekonversiven Prozesse beziehungsweise des religiösen Zweifels. Die Struktur dieses Kapitels folgt den zentralen Motiven aus der Darstellung des Forschungsgegenstandes: • Motiv I: Die Veränderung der religiösen Orientierung (unter besonderer Berücksichtigung von Abwehr- und Loslösungsdynamiken) • Motiv II: Die Bedeutungen der Gemeinschaft • Motiv III: Theologische Themen und Herangehensweisen • Motiv IV: „Kontexte“ (Welt, Nachbarschaft, Gemeinde, Ort, Christentum) • Motiv V: Werte, Haltungen und Praktiken
2.2 Veränderung der religiösen Orientierung – Aspekte einer theologischen Anthropologie 2.2.1 Die Thematisierung der Entwicklung der religiösen Identität Seit ihrem Entstehen, zeichnet sich die „Emerging Church“-Konversation besonders dadurch aus, dass sie den bereits ausführlich dargestellten „Fragen im Dringlichkeitsformat“1 – wie dies über den existenziellen Zweifel gesagt werden kann – Raum gibt. Dies tut sie auf vielerlei Weisen. Es werden frei zugängliche und liquide – d. h. weder inhaltliche, strukturelle noch konfessionelle Hürden oder Grenzen vermittelnde – Kommunikationsräume (offline und online) ermöglicht, die – zunächst scheint es so – unabhängig von religiöser Orientierung, von gemeindlichen Hierarchien oder von theologischen Vorentscheidungen Partizipienten Loslösungsprozesse von Vormaligem ermöglichen. Der Verweis auf eine vermeintliche Unabhängigkeit und Neutralität wird im Verlauf dieses Kapitels diskutiert werden. In den Kommunikationsräumen werden Protagonisten interessensgeleitet in Beziehung gesetzt, charismatische Entrepreneure befeuern die Diskurse mit ihren Impulsen oder es werden „Erprobungsräume“ eines neuen Glaubens (bricolage, „ancient-future“) geschaffen. Online wird die soziale Interaktion durch den „disinhibition effect“ gestützt.2 Damit ist gemeint, dass sich Individuen durch die Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien frei fühlen ohne Restriktionen und Hemmungen zu kommunizieren.
1 2
Kohler, „Der philosophische Zweifel“ (2011), 109. Suler, „The Online Disinhibition Effect“ (2004).
2.2 Veränderung der religiösen Orientierung
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Für die Konversation ist es bezeichnend, dass die religiöse Identität in den emergenten Diskursen als Prozess und als Bewegung verstanden wird – und eine intensive individuelle Gestaltungsherausforderung darstellt. Dies wird beispielsweise darin deutlich, dass von sich entwickelnden Glaubensverständnissen und Gottesbildern (McLaren) ebenso wie von zurückgelassenen Verständnissen und Gottesbildern sowie anderen inhaltlichen religiösen Überzeugungen und Praktiken gesprochen wird. Damit greift die emergente Konversation eine Einsicht der gegenwärtigen Forschung auf, die jedoch in konservativ evangelikalen Strömungen der USA und England (zur Zeit des Entstehens der Konversation) wenig rezipiert oder wenig in gemeindliche sowie katechetische Überlegungen integriert wurde. Der Aspekt einer prozesshaft verstandenen, sich entwickelnden religiösen Identität ist für viele emergente Protagonisten eine Befreiung. Sie äußern damit eine vormalig empfundene Einengung hinsichtlich inhaltlicher Überzeugungen oder Praktiken. Zweifel in seinen verschiedenen Ausprägungen spielt nun dahingehend eine Rolle, dass er als positive Ingredienz zu einer religiösen Identitätsbildung zur Sprache kommt. In der Konversation lässt sich eine Haltung erkennen, die den Zweifel und die intellektuellen, emotionalen, moralischen, auf die Praxis oder die Gemeinschaft bezogenen Unsicherheiten wahrnimmt und positiv wertschätzt. Dies geschieht inhaltlich etwa dadurch, dass theologische Fragen und Unbestimmtheiten keiner schnellen Antworten bedürfen sowie (bewusst) keine inhaltlichen Glättungen vorgenommen werden. Positiv ist zu vermerken, dass ein solcher Umgang es emergenten Protagonisten ermöglicht – beziehungsweise sie dazu angehalten sind –, den erlebten Unstimmigkeiten nachzugehen und nach Klärung zu suchen. Hierin ist ein seelsorglicher Charakter der Konversation erkennbar. In der Konversation wird ein aktives Subjekt betont, dass darum bemüht ist, ins Wanken geratene Überzeugungen und Praktiken mit lebensgeschichtlichen und kulturellen Bedingungen und Anforderungen zu synchronisieren. Im weiteren Verlauf der Konversation und mit der Verschiebung der Dominanz in der Konversation hin zu den „reconstructionist“- und „revisionist“-Protagonisten treten entgegengesetzte Aspekte auf. Es kann beobachtet werden, dass Protagonisten, die dem Zweifel und der Ungewissheit ausgesetzt sind, nicht mehr zu Klärung ihrer Anfrage ermutigt und angeleitet werden, sondern Ungewissheit zu einer notwendigen Haltung christlichen Glaubens stilisiert wird. Dies führt beispielsweise in der dritten Strömung – durch dekonstruktivistische Einflüsse – so weit, dass der Zweifel als Voraussetzung authentischen christlichen Glaubens postuliert wird. Dies wurde für Rollins sowie Caputo gezeigt. Im Hinblick auf das Verständnis einer sich weiterentwickelnden religiösen Orientierung (wie bei Burke / Taylor, McLaren u. a. deutlich wird) muss die in der Konversation thematisierte „Notwendigkeit“ einer aktiven Entwicklung aus biblisch-theologischer Perspektive differenziert betrachtet werden. Neben einer
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
religionspsychologischen und entwicklungspsychologischen Berechtigung wirft ein zwangsläufiger theologischer Entwicklungsgedanke die Frage auf, ob der Mensch produktiv oder reproduktiv tätig ist, sowie, ob der Mensch hinsichtlich des Glaubens „erschafft“ oder lediglich „auffindet“. Der Glaube an Gott bietet eine „Entlastung der anstrengenden Suche nach Identität“, wie Klessmann treffend formuliert und stellt das „aktive Subjekt“ infrage. Der Mensch sucht seinen Grund nicht in sich selbst, sondern in einem größeren Grund, denn die entscheidende Verheißung besteht darin, dass Gott den Menschen ins Leben ruft und ihn erhält. „Diese Identitätszusage wird nicht durch die fragmenthafte Realität von Identität in Frage gestellt; sie muss auch nicht durch entsprechende Anstrengung um Fortschritte im Identitätsprozess beglaubigt werden.“3 Danach verweist eine Sprache, die von einer produktiven Leistungs- oder Entwicklungsfähigkeit hinsichtlich des Glaubens spricht, auf ein problematisches Verständnis des Glaubens. Das ist insofern problematisch, als in der Konversation eine Stufung der Glaubensentwicklung sowie ein normativer Anspruch der Glaubensentwicklung hörbar werden. Ein solches Urteil ist mit der in dieser Arbeit dargelegten Bestimmung des Glaubens nicht vereinbar. Diesem, in ähnlichen Gedankengängen wie Fowlers Glaubensentwicklung verlaufenden, normativen Ansatz muss widersprochen werden. Mit Fraas muss kritisch gefragt werden: „Liegt hier wirklich eine Höher-Bewegung vor, und wie ist es dann zu bewerten, dass der überwiegende Teil der Menschheit das Ziel nicht im entferntesten erreicht hat?“4 Fraas mahnt an, die Veränderungen des Glaubens nicht als Weiterentwicklung, sondern als anderen Zugang zur Wirklichkeit zu verstehen. In dieser Hinsicht wäre auch die Konversation keine Weiterentwicklung christlicher Existenz (vornehmlich in einer Gegenbewegung zum Evangelikalismus), sondern als ein Zugang zur Wirklichkeit – neben anderen – zu reflektieren. Eine solche Einsicht ist davon zu unterscheiden, dass es
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Klessmann, Seelsorge (2009), 254. Der Berner Neutestamentler Benjamin Schliesser weist auf Ernst Lohmeyers exegetischen Befund hin, der die Verbindung des Nomens „Glaube“ mit „Christus“ herausstellt und selten mit Possessivpronomen. Schliesser argumentiert: „[…] ‚sein Glaube‘ findet sich nur in Bezug auf Abraham […], einmal äußert Paulus den Wunsch, ‚in eurer Mitte gemeinsam mit euch ermutigt zu werden durch unseren gemeinsamen Glauben, den euren wie den meinen‘ (Röm 1,12), und an einer weiteren Stelle erwähnt er den Glauben, den Philemon hat […]; häufiger verweist Paulus auf ‚unseren Glauben’. Was das Verb angeht, sagt Paulus an keiner Stelle ‚ich glaube‘.“ Schliesser, Was ist Glaube? Paulinische Perspektiven (2011), 20. Lohmeyer führt aus, dass der Glaube eben nicht auf eine individuelle „Tat und Gesinnung des Herzen“ zurückzuführen sei, obwohl der Einzelne durchaus im Blick sei. Lohmeyer, Grundlagen paulinischer Theologie (1929), 117. Fraas, „Schüler und Schülerin“ (1997), 145.
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im christlichen Glauben um eine fortwährende Aneignung des christlichen Glaubens geht, um ein Gläubigwerden, das jeglicher Sicherheit im Sinn eines Glaubensbesitzes und auch einer feststellbaren Glaubensentwicklung und Stufung widerspricht. Die fortwährende Aneignung des christlichen Glaubens kann als zunehmende religiöse Zentralisierung und Intensivierung beschrieben werden – und ist wünschenswert –, jedoch nicht im Sinn einer zuvor problematisierten Weiterentwicklung zu verstehen. Eine solche Intensivierung, mit Luther als ein Fortschritt im Christenstande zu bezeichnen, vollzieht sich nur so, dass man an den Anfang zurückkehrt. Der Anfang meint, die in der Taufe zugrunde gelegt Verheißung, an der immer wieder neu festgehalten wird – indem man sich Christus zuwendet.5
2.2.2 Der Umgang mit dem Zweifel Im Hinblick auf die Strömungen der „Emerging Church“-Konversation („relevant“, „reconstructionist“, „revisionist“) zeigt das bisher gewonnene Verständnis über den Zweifel, dass analog zu den Abstufungen des Dekonstruierens in der Konversation unterschiedliche Bereiche und Intensitäten des Zweifels thematisiert werden. Es kann entsprechend der Darstellung der Strömungen vereinfachend gesagt werden, dass „relevants“ angeregt durch äußere Bedingungen (Krise der Gemeinden, Krise der Christenheit, Relevanzkrise der christlichen Botschaft in missionarischen Bemühungen etc.) um eine Adaption des christlichen Glaubens bemüht sind. Dazu dient der Zweifel vorwiegend als methodischer Zweifel um etablierte Formen und Strukturen neu zu bedenken. Anhand des methodischen Zweifels wird nach der Berechtigung und der Relevanz spiritueller Ausdrucksformen sowie religiöser Praxis gefragt. Auf der anderen Seite zeigt sich bei Protagonisten der „revisionist“-Strömung ein existenzielles Ringen um die religiöse Orientierung. Protagonisten berichten von Glaubensverlusterfahrungen, von Neuverortungen im organisierten und unorganisierten Segment des religiösen Feldes und vom Verlassen des religiösen Feldes. Die Strömung der „reconstructionist“, die in der dritten historischen Phase nicht mehr als eigene Strömung erkennbar ist, kann nicht mit eigenen Schwerpunkten beschrieben werden. Wenn man annimmt, dass Zweifel neben externen Faktoren ebenso in hohem Maß von den subjektiven und personalen Eigenschaften abhängt (Streib et al.), dann legt das die Vermutung nahe, dass die an der „Emerging Church“-
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Vgl. dazu Thielicke, Theologische Ethik, 307–308.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Konversation beteiligten Protagonisten hinsichtlich ihrer Persönlichkeitsstruktur der Einschätzung entsprechen, in besonderem Maß dem Zweifel ausgesetzt zu sein. Nach der bisherigen Darstellung kann gesagt werden, dass sich in der Konversation Personen sammeln, die sich mit ihren Zweifeln auseinandersetzen und in vergleichbaren religiösen Transformationsprozessen sind. Wenn man den Vergleich zwischen Dekonversionstypen und emergenten Protagonisten in Erinnerung ruft, wurde auf auffällige Korrespondenzen zwischen emergenten Protagonisten und Dekonvertiten hingewiesen.6 Es wurde bereits dargestellt, mit welchen Begriffsvarianten emergente Protagonisten über die Veränderung ihrer religiösen Orientierung sprechen beziehungsweise wie Los- und Abwehrmechanismen thematisiert werden. Dabei scheinen viele Bezeichnungen konkrete Festlegungen zu vermeiden und betonen stattdessen prozessorientierte, ins Ungewisse führende Bewegungen (z. B. „journey“). Gelegentlich werden apodiktisch wirkende Bezeichnungen wie „fool“, „heretic“ oder „exiles“ gewählt und der Zustand des „Zwischen-Seins“ lobend interpretiert (wie etwa von Burke und Taylor). Den häufig überaus positiven Formulierungen – wie „post-evangelical“, „emerging christianity“, „new Christians“ –, die dem emergenten Subjekt einen Vorsprung gegenüber anderen, zumeist im Evangelikalismus beheimateten Christen hinsichtlich tieferer Selbst- und Welterkenntnis, authentischerer Lebensführung etc. vermitteln wollen, müssen im Licht der theologischen Bestimmung des Zweifels widersprochen werden. Es fällt auf, dass in der Konversation Zweifel an vormaligen Überzeugungen als Tugend denkender Menschen ausgezeichnet oder als „glückliche“ religiöse Weiterentwicklung gefeiert wird. McLaren, Burke und Taylor sprechen in dieser Hinsicht sogar von einer zwangsläufigen Bezugnahme auf den Zweifel – ohne dabei methodischen von existenziellem Zweifel (und den anderen Dimensionen) zu unterscheiden. In dieser Hinsicht wird eine konfessorische christliche Existenz, mit Berger gesprochen, als „verdächtig“ gebrandmarkt und geraten, dass es zu einem „Lob des Zweifels“ kommen müsse. Dies ist im Blick auf die theologische Bestimmung des Zweifels abzulehnen. Aus reformatorischer Sicht ist die Gewissheit des Glaubens, wenn sie im Diesseits auch nur fragmentarisch möglich sein kann, die Hoffnung christlicher Existenz. Deshalb ist weder subjektive Beliebigkeit noch eine Glorifizierung des Zweifels angebracht – zumal man in der Fluchtlinie einer lutherischen theologischen Anthropologie dem Vermögen des Subjekts nicht 6
Zur Erinnerung: Nach Jamiesons Typologie sind es der „desillusionierte Anhänger“ und der „reflektierte Aussteiger“, die durch kritische Distanz, Protest und Kritik gegenüber den alten Überzeugungen und der Gemeinschaft eine Ähnlichkeit mit emergenten Protagonisten zeigen. Jamieson beschreibt mit dem Begriff „marginal groups“ jene Vergemeinschaftsformen, deren Thema das Dekonstruieren vormaliger Überzeugungen ist.
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uneingeschränkt vertrauen kann. Im Letzten bleibt sich der Mensch verborgen und fremd und ist darauf angewiesen von Gott erkannt zu werden. Obwohl das religiöse Subjekt in seiner Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit zu würdigen ist, ist es doch von Gott her bestimmt und ihm wird die Würde der Freiheit erst durch Gott – bzw. in der Bindung an Gott – zuteil. Eine solche von Gott her bestimmte Freiheit, die erst in der Bindung an Gott Freiheit ist, steht im Widerspruch zu einem Verständnis, das die Freiheit des Menschen auf neutralem Boden verortet sieht. Wenn die in reformatorischer Linie skizzierte Anthropologie ernst genommen wird, dann ist der Mensch nie „selbstständig“ oder anders gesagt: nie fähig wahrlich authentisch zu sein, sondern immer – mit der Metapher Luthers gesprochen – ein Gerittener. Im Hinblick auf die Thematisierung des Zweifels in der Konversation fällt weiter auf, dass theologische Diskussionen zu Fragen der Anfechtung oder des Unglaubens nicht vorkommen. In der Konversation werden die negativen Dimensionen des Zweifels ignoriert. Aspekte, wie jene Warnung von Luther in ein „disputare de Deo“ zu geraten oder das im Existenzial begründete, aber dennoch schmerzhafte Zweifeln, werden nicht thematisiert. Die Gefahr eines „Glaubensverlusts“ spielt in der Konversation keine Rolle. Es verwundert, dass die theologische Bestimmung des Zweifels als Anfechtung nicht als fruchtbare intellektuelle Interpretationshilfe für das eigene Erleben thematisiert wird. Dennoch scheint sich durch die Betonung spiritueller Ausdrucksformen in emergenten Vergemeinschaftungen („worship“) eben jener einzig fruchtbare Umgang mit der Anfechtung zu zeigen. Im Gebet kann das angefochtene Gewissen zu Gott fliehen. In der Wendung hin zu Gott bekennt das zweifelnde Subjekt gleichsam seine Einordnung unter Gottes Willen beziehungsweise sein Verhältnis als Geschöpf des Schöpfers. Weiter kann festgestellt werden, dass von vielen prominenten Protagonisten eine Aufhebung des Zweifels in den Glauben (höhere Synthese) vertreten wird. Dabei wird beispielsweise von einer Reifung oder von Wachstum im Glauben gesprochen (McLaren in „Naked Spirituality“, Burke / Taylor, Rollins). Solche Standpunkte gehen einher mit einer Relativierung vormaliger theologischer Überzeugungen und Praktiken und führen in der „revisionist“-Strömung zu religionspluralistischen Interpretationen des christlichen Glaubens. Dies ist beispielsweise in den Verständnissen über die Einzigartigkeit und über den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens zu beobachten. Widerstand und Widerspruch ist dort notwendig, wo die Gefahr des Zweifels nicht erkannt wird und einerseits lediglich eine höhere Synthese von Glaube und Zweifel angestrebt wird sowie andererseits dort, wo der Zweifel als religiöse Orientierung ausgelegt wird und es zu einer Sakralisierung des Zweifels und des Zweifelnden kommt, wie dies bei Protagonisten wie Rollins und Caputo sichtbar ist. Jene Protagonisten, die von Rollins et al. inspiriert sind und
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
die Möglichkeit prinzipieller Glaubensaussagen und Festlegungen dementieren, verstehen den christlichen Glauben schließlich als ethisch-moralischen Zusammenhang. Vergleichbar sind diese Diskurse mit Überzeugungen, die das Ziel christlichen Glaubens in einer moralischen Wende des Subjekts in innerweltlichen Zusammenhängen sehen – natürlich auch zugunsten der Um- und Mitwelt. In dieser Hinsicht kann gesagt werden, dass der unbedingte Wille zur interreligiösen und ökumenischen Ausrichtung freilich einige fragwürdige Entwicklungen gefördert hat. Das soll im Verlauf dieses Kapitels besprochen werden. Einer positiven Interpretation des Zweifels stellen die vornehmlich aus dem Evangelikalismus stammenden Kritiker der „Emerging Church“-Konversation Zweifel als Oppositum zum Glauben gegenüber. Auf Seiten der Kritiker ist keine substanzielle Auseinandersetzung mit den verschiedenen Dimensionen des Zweifels zu erkennen, lediglich mit einzelnen Inhalten der Konversation. Wenn überhaupt, werden lediglich formelhafte Imperative laut, dem Zweifel keinen Raum zu geben. Es geschieht kein differenziertes Abwägen, welcher Gewinn für emergente Protagonisten in ihrer religiösen Identitätsbildung sichtbar wurde und welchen Gefahren sie ausgesetzt sind. Zuletzt zu den fruchtbaren Aspekten des Zweifelns in der Konversation. Bei dem bisher Gesagten ist der methodische Zweifel, der sich beispielsweise in dem Hinterfragen einer vermeintlichen Verflochtenheit inhaltlicher Überzeugungen mit politischer Orientierung oder personalen sowie gemeindlichen Machtansprüchen zeigt, begrüßenswert. So sind McLarens und Claibornes Kritik an parteipolitischer Vereinnahmung wichtige Ausdrucksformen eines notwendigen kritischen Umgangs mit einem verantwortlichen, öffentlichen Christsein. Jedoch wird schnell deutlich, dass es genauer gesagt um eine Kritik an einer bestimmten US-amerikanischen kulturellen Ausprägung christlicher Existenz geht und eine pauschale Kritik an „Christianity“ nicht gerechtfertigt erscheint.7 Methodisches Zweifeln wird in Chiffren wie „reimagining“ oder „repainting“ deutlich, ohne jedoch genauer zu erläutern, wie ein solcher Vorgang gestaltet wird. Es bleiben viele Fragen unbeantwortet: Wer soll involviert sein? Welche Interessen werden von wem vertreten? Welche Leitungsprozesse sollen damit verbunden werden? Es lässt sich aber vermuten, dass auch hier das selbstbestimmte Subjekt aufgefordert ist, die Glaubenskonstruktion in die Hand zu nehmen. Dabei wird den punktuellen und situativen Impulsen, sogenannten liquiden Prozessen – so scheint es – uneingeschränkt vertraut. 7
„In a sense, Emergents come across with the same left-leaning reaction against the wealth, pri��vilege, and consumerist tendencies of American Evangelicals. They have a point. Much of what one observes in American Christendom is more American than Christian.“ Allen, „A Response to Ed Stetzer’s ‚The Emergent / Emerging Church. A Missiological Perspective‘“ (2008), 108.
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Eine andere positive Funktion des Zweifels wird in der Konversation in dem Infragestellen unterdrückender Gottesbilder und einengender, fundamentalistischer Ansichten und Lehrmeinungen deutlich. Hier kann der Zweifel etwa auf biografisch-existenzieller Ebene die Funktion der Gesundung des religiösen Subjekts haben, wenn er den Horizont öffnet und aus seelischer Verstrickung herausführt. Verstrickungen können durch krankmachende Gottesbilder im Zusammenhang mit Anteilen persönlichkeitsbasierter Fehlentwicklungen entstehen.8 In dieser Hinsicht wird die Konversation als sicherer Hafen des Dialogs erlebt, und Einzelne stellen sich ihren Ungewissheiten, lernen Fragen zu formulieren, begegnen anderen Fragenden und bekommen mögliche Interpretationsimpulse. Im sicheren Hafen stellen sich Einzelne auch notwendigen Veränderungen, etwa durch konstruierende Impulse. Die „Emerging Church“Konversation hat in dieser Hinsicht einen seelsorglichen Charakter, weil sie einerseits Zweifelnden und Fragenden Raum zum Zweifeln gibt und andererseits Mitzweifelnde und -fragende miteinander verbindet. Die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien spielen hierbei eine entscheidende Rolle, z. B. über den „minority distinctiveness“-Theorie. Die „Emerging Church“-Konversation ist in der dargestellten Hinsicht ein Ort der religiösen Veränderung und hat damit Einfluss auf kirchliche Veränderungsprozesse. Eine Wahrnehmungshilfe für die Darstellbarkeit von Veränderungsorten bietet folgende Ausführung. Der niederländische Praktische Theologe Stefan Paas beschreibt Orte der kirchlichen Veränderung, im Sinne von Innovationsorten, anhand von drei Motiven, die er „biotopes of renewal“ nennt: 1) „Free Havens“ („freie Häfen“), 2) „Laboratories“ („Laboratorien“), 3) „Incubators“ („Inkubatoren“).9 1. „Freie Häfen“ befinden sich in Distanz zu Orten der Macht, an denen partizipatorisch, ungehindert von Regulierungen und externer Kontrolle, eine Gruppe von Menschen ihre Ideen erprobt. Häfen sind wichtige Schutz- und Rückzugsorte. Darin gelten Verbindlichkeit und ein Optimismus hinsichtlich der Verbesserung der Umstände als wesentlich. Es ist ein „unregulated, countercultural place of mild anarchy“10, wie Paas beschreibt. Paas stellt Parallelen zur christlichen Tradition her und schildert „non-confor-
8 Nauer, Seelsorge (2010), 160. Morgenthaler spricht vom Übergang von den dämonischen Gottesbildern zum Gott der psychischen Reife. Er fragt ausgehend vom religiösen Subjekt nach dem lebensgeschichtlichen „Nutzen“ oder „Schaden“ der Gottesbeziehung. Morgenthaler, Seelsorge. Lehrbuch Praktische Theologie (2012), 209. Dabei wird nicht, abgesehen von religionspsychologischen Kategorien, deutlich, was etwa unter biblisch-theologischen Gesichtspunkten ein reifer Glaube bedeutet. 9 Paas, Church Planting in the Secular West (2016), 224–240. 10 A. a. O., 226.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
mist festivals“ als Orte der Innovation, beispielsweise das „Greenbelt“-Festival in England.11 2. „Laboratorien“ sind Räume, in denen Menschen mit unterschiedlichen Ideen und Überzeugungen zusammenkommen. „In laboratories creative people from different backgrounds work together to solve shared problems. In contrast with so-called free havens, innovations in laboratories emerge not so much from an almost obsessive commitment to a limited number of practices or convictions in a protected area, but from a purposeful widening of horizons that result in greater complexity but also in surprising new perspectives.“12 In Laboratorien wird das Bemühen deutlich, Innovationen zu ermöglichen. Dies geschehe durch „[…] cross-fertilization between very different people who share some values, and who recognize each other as partners in a common quest.“13 3. „Inkubatoren“ sind im Vergleich zu den vorangegangenen Beispielen abhängig von einer „Mutterorganisation“ und externen Ressourcen. Es sind von etablierten religiösen Strukturen organisierte Orte der Innovation an den Rändern der Organisation um „programmed innovation“ hervorzubringen.14 FxC wären hierfür ein Beispiel. Im Sinne der Typologie von Paas weist die „Emerging Church“-Konversation, besonders nach Ende der zweiten historischen Phase und der Dominanz der „revisionist“-Strömung die größte Ähnlichkeit mit dem Motiv der „freien Häfen“ auf. Nach Paas – und vergleichbar von Henk de Roest mit dem Begriff „marginal ecclesiologies“ beschrieben – haben auch emergente Vergemeinschaftungen das Potenzial für Innovationen. Henk de Roest beschreibt mit dem Terminus „ecclesiologies at the margins“ Gemeinschaften, die sich am Rand der „mainstream“-Kirchen befinden.15 Beide meinen, dass solche ekklesialen Gemeinschaften in Zeiten religiöser Unruhe am Rand etablierter Kirchen Platz hätten, um den „mainstream“ zu hinterfragen16 – trotz oder gerade wegen ihrer 11 A. a. O., 226–227. Kirchenhistorisch haben sich freie Häfen in den Orden (als Teil der bestehenden Systeme) und Sekten (außerhalb bestehender religiöser Systeme) kristallisiert. Paas sagt: „Thus sects and monasteries mirror the two types of rhetoric found in free havens. Both have been places of innovation, but monastaries have been far more influential than sects.“ A. a. O., 227. 12 A. a. O., 229–230. 13 A. a. O., 230. 14 A. a. O., 233. 15 Berger, Sehnsucht nach Sinn (1999), 185. 16 Gay spricht sogar vom Exodus aus dysfunktionalen Ekklesiologien: „This journey has been understood as a form of ‚exodus‘ of escape from a dysfunctional ecclesial space, which had been experienced variously but negatively as a place of confinement, prejudice, ignorance or banality.“ Gay, Remixing the Church (2011), 95.
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anti-klerikalen und anti-institutionellen Haltung.17 In dieser Hinsicht haben emergente Vergemeinschaftungen Innovationspotential. An der Überlegung des sicheren Hafens ist auch Kritik zu üben: Es ist hier der formulierte An- und Zuspruch, miteinander auf einer Reise des Glaubens zu sein, kritisch zu hinterfragen. So begrüßenswert es ist, Menschen in gleichen Lebenssituationen, in diesem Fall Zweifelnde, zu verbinden, so bedenkenswert ist die Aussage des Kieler Systematikers Rosenau, der sagt, dass Menschen, die Gottesferne erleben, mit Menschen, die Gottesnähe erleben, zusammengebracht werden müssten.18 Zweifelnden sind Menschen zur Seite zu stellen, die die Sprache der Gewissheit und Gottesnähe sprächen, um die Plausibilität eines sich offenbarenden Gottes nicht zu verlieren. Im Kontext der Exegese der prominenten Stelle zum Zweifel in Joh 20 betont auch Jörg Frey die Rolle derer, die eine Gottesnähe, und jener, die eine Gottesferne erleben: „Der Glaube der ersten Jünger entsteht durchgehend […] auf das Zeugnis eines anderen hin in Verbindung mit einer persönlichen Begegnung mit Jesus, d. h. durch das Zusammentreten von Zeugenwort und persönlicher Begegnung von Hören und ‚Sehen‘.“19 Diesem Gedanken soll später genauer nachgegangen werden.
2.2.3 Post-christliche Spiritualität In der Konversation wird deutlich, dass das eigenständige, verantwortliche Subjekt Deutungshoheit über den Glauben hat.20 Umschrieben wird dies in der Konversation mit dem Begriff „Spiritualität“, der in diesem Zusammenhang auf eine unscharfe religiöse Identität, einen Transformationsprozess oder eine ungeklärte religiöse Identitätsbildung hinweist. Hierfür sollen zwei Hinweise angeführt werden. Untersuchungen von religiöser Selbstbeschreibung außerhalb des organisierten religiösen Segments verweisen auf ein „spirituelles Milieu“, welches Personen zeigt, die verschiedene Traditionen und Stile in Anspruch nehmen, diese kombinieren und damit ein 17 de Roest, „Ecclesiologies at the Margin“ (2008), 260. 18 Rosenau, Ich glaube (2005), 132. 19 Frey, „Der ‚zweifelnde‘ Thomas (Joh 20,24–29) im Spiegel seiner Rezeptionsgeschichte“ (2011), 29. Die Ausnahme bildet, wie Frey sagt, Philippus, der direkt von Jesus gerufen wird (Joh 1,43). 20 Eckstein verortet das Phänomen historisch, wenn er sagt: „Nicht nur in Hinsicht auf unser Gottes- und Weltbild, unser Verständnis von Natur und Geschichte, hat sich seit der Aufklärung Entscheidendes geändert, sondern auch im Hinblick auf unser Menschenbild. Die alten Duale von Himmel und Erde, Gott und Mensch, Transzendenz und Immanenz wurden abgelöst durch ein Weltbild, das den Menschen selbst als Mittelpunkt der Welt und der Geschichte, der Vernunft und der Lebensgestaltung sieht.“ Eckstein, Glaube als Beziehung (2006), 11.
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„religiöses Identitätspaket“ schnüren. Diese Form religiöser Identitätsbildung, bezeichnet als „post-christliche Spiritualität“, wird auch bezeichnet als „do-ityourself religion“, „pick-and-mix religion“, „spiritual supermarket“, oder „religious consumption à la carte“.21 Possamai spricht in dieser Hinsicht sogar kritisch von: „eclectic – if not kleptomaniac – process […] with no clear reference to an external or ‚deeper‘ reality.“22 Die US-amerikanischen Soziologen Houtman und Aupers kritisieren an einer solchen „post-christlichen Spiritualität“ die Selbstsakralisierung des Individuums und die Betonung einer immanenten Transzendenz. Sie sagen: Post-Christian spirituality, in short, constitutes a basically romanticist conception of the self that is intrinsically connected to an immanent conception of the sacred. It ‚lays central stress on unseen, even sacred forces that dwell within the person, forces that give life and relationships their significance‘ […]. This conviction differs considerably from the traditional Christian belief that ‚[t]he truth is ‚out there‘ rather than within,‘ that ‚the divine is transcendent rather than immanent‘ […].23
Die Autoren weisen damit auf einen Aspekt in der Debatte hin, der in der Konversation Resonanz findet.24 Mit Heelas, der zwar im Kontext der New AgeDebatte argumentiert, kann an den emergenten anthropologischen Entwürfen, speziell in der „revisionist“-Strömung, folgendes kritisiert werden: Those involved do not pursue meaning and identity from ‚pregiven‘ authoritative sources, located outside the self (e. g., the answers offered by science and the Christian churches), but want to rely on an ‚internal‘ source, located in the self ’s deeper layers. It is this ‚dogma of self spirituality‘ that not only accounts for the much emphasized diversity at the surface of the spiritual milieu – an inevitable outcome when people feel that they need to follow their personal paths and explore what works for them personally – but that simultaneously provides.25
21 Houtman / Aupers, „The Spiritual Turn and the Decline of Tradition“ (2007), 306. 22 Possamai, „Alternative Spiritualities and the Cultural Logic of Late Capitalism“ (2003), 40. 23 Houtman / Aupers, „The Spiritual Turn and the Decline of Tradition“ (2007), 307. 24 Vgl. Abschnitt II Kapitel 12.1 Der Begriff „Spiritualität“ in der Konversation. 25 Houtman / Aupers, „The Spiritual Turn and the Decline of Tradition“ (2007), 307. Parallel wird dies in deutschsprachigen Debatten mit dem Idealtypus des „spirituellen Wanderers“ vor Augen geführt. Bochinger / Engelbrecht u. a., Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion (2009). Gebhardt / Engelbrecht u. a., „Die Selbstermächtigung des religiösen Subjekts“ (2005), 143–150. „Er zeichnet sich durch ein sehr hohes Interesse an religiösen und spirituellen Erfahrungen aus. Dieses Interesse führt ihn dazu, das breite Angebot spiritueller Lehren und Techniken, das in der ‚globalen Kultur‘ zur Verfügung steht, auf der Grundlage seiner christlichen Herkunftskultur ‚durchzutesten‘ und zwar mit dem Ziel, dasjenige zu
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Deutlich wird, dass unterschiedliche Auffassungen eines Religionsbegriffs vorliegen, die einer Klärung bedürfen. Wenngleich mit dem zu Beginn der Arbeit skizzierten religiösen Feld das „religiöse“ Bestreben individueller Akteure sichtbar wird, etwa im unorganisierten religiösen Segment, bedarf es einer theologischen Beurteilung individueller Religiosität. Ein zweiter hilfreicher Hinweis kommt von dem Neutestamentler Hans� -Joachim Eckstein. Er weist darauf hin, dass sich die von vielen als Befreiung empfundene Ablösung des Denkens der Überordnung Gottes über den Menschen dadurch erkläre, dass es bei einer ausgeprägten eingeengten Frömmigkeit zu Schieflagen gekommen sei. Als Schieflage beschreibt Eckstein, dass aus dem Gegenüber von Gott und Mensch ein Dualismus geworden sei „[…] von Gut und Böse, Licht und Finsternis, Kraft und Schwachheit, Wahrheit und Lüge, der den Menschen jeweils auf sein Unvermögen, seine Vergänglichkeit und Schuld reduzierte.“26 Zu Recht kritisiert Eckstein, dass eine Erziehung in einem so zitierten Geist – also eine Unterordnung in einen übergeordneten Willen auf Kosten einer verantworteten Freiheit – zu einer problematischen und ungesunden religiösen Identität führe. Eckstein verweist darauf, dass im Hinblick auf eine solche „schwarze Pädagogik“ „das Weltbild der Aufklärung und das Menschenbild der Neuzeit geradezu als Erlösung aus der Sklaverei und Befreiung von der Unterdrückung erscheinen.“27 Der Fokus liege auf dem sich selbst erkennenden und bestimmenden Menschen befreit von der Unterwerfung unter Normen und Vorstellungen, „[…] er kann sich selbst und seine Kriterien eigenständig schaffen und verwirklichen.“ Gleichzeitig wird eine Schattenseite deutlich, die vergleichbar in der Konversation auftritt: „An die Stelle des Schuldbewusstseins tritt der Durchsetzungswille, und an die Stelle der Rücksicht auf fremde Interessen die Selbstbehauptung.“28 Es ist eben ein solches anthropologisches Grundverständnis, das zu einer Verklärung des Menschen (Houtman / Aupers) führt. Darin spielt der Zweifel für das Subjekt jene Rolle, sich noch mehr auf sich selbst zu beziehen, da das Subjekt in der Ungewissheit steht. Dies führt zu einem problematischen Verständnis der christlichen Existenz beziehungsweise des christlichen Glaubens an sich. Problematisch ist daran, finden, das seinen eigenen, individuellen Bedürfnissen am besten entspricht. Der Weg, der zu diesem Ziel führen soll, ist für ihn ein individueller Weg, deshalb geht er ihn in der Regel auch alleine. Bindungen geht er – wenn überhaupt – nur auf Zeit ein. Sein Verhältnis zu den ‚offiziellen‘ Amtskirchen ist ‚abgeklärt‘.“ A. a. O., 143. Zwei wesentliche Unterschiede bestehen darin, dass der „spirituelle Wanderer“ dem kirchlichen Handeln weitgehend gelassen und ohne große Emotionen begegnet und Relationalität eine geringe Rollen spielt. 26 Eckstein, Glaube als Beziehung (2006), 12. 27 A. a. O., 13. 28 A. a. O. Welker spricht von einem „[…] aufgeblähte[s][n] Verständnis des Selbstbewußtseins […].“ Welker, „Subjektivistischer Glaube als religiöse Falle“ (2004), 151.
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dass der Mensch sich die Deutungshoheit über den Ausgangs- und Fluchtpunkt christlichen Glaubens zuspricht und der Glaube als „fides adventitia“ verloren geht.29 Der Schwerpunkt liegt nach reformatorischem Verständnis darauf, dass dem Menschen Glaube geschenkt wird (1Kor 13,13; Gal 5,22) und gleichzeitig die Antwort auf das ist, was Gott bereits getan hat.30 Obwohl der Glaube vom Menschen verantwortet wird, wird der Mensch erst durch den Heiligen Geist verantwortlich gemacht. Der Glaube ist nicht menschliches Vermögen, sondern ein den Menschen ergreifendes Heilsereignis.31 Zuletzt sei bemerkt, dass Aspekten einer Erlebnis- und Optionsgesellschaft in der Konversation Rechnung getragen wird, wenn das religiöse Individuum eigenverantwortlich Elemente der religiösen Orientierung prüft und gestaltet. Dem Wesen und der inneren Struktur des Christus-Glaubens entspricht es, nicht von den persönlichen Bedürfnissen und dem eigenen Vermögen abgeleitet zu werden, sondern von dem Hören auf ein fremdes Wort durch die Heilige Schrift.32 Dieses fremde Wort kann mit menschlichen Vorstellungen und Erlebnissen gerade nicht ohne Weiteres verrechnet werden. Es gehört zum Wesen des fremden Wortes, dass es nicht nur stärkt, sondern auch stört. Eine erlebnisbezogene, biografienahe, lebensweltlich-relevante, auf die individuelle Relevanz des Glaubens konstruierte Religion ist deshalb im Kontext eines notwendigen fremden Wortes zu sehen.
2.2.4 Die Gottebenbildlichkeit des Menschen Es lohnt sich, den bisher vereinzelten Ausführungen zu Aspekten der Anthropologie in der „Emerging Church“-Konversation ausführlichere Überlegungen folgen zu lassen. Neben traditionellen Interpretationen der Christologie (Göttlichkeit Jesu, stellvertretendes Leiden, Verständnis des Kreuzes) bereitet emer-
29 Welker spricht in diesem Zusammenhang von dem „subjektivistischen Glauben als religiöse[r] Falle“ und der Gefahr der „systematischen Entleerung des christlichen Glaubens“. Welker, „Subjektivistischer Glaube als religiöse Falle“ (2004). So auch bei Dalferth, „Was Gott ist, bestimme ich!“ (1996). 30 Siehe die Belege für „pistis“ als „Zum-Glauben-Kommen“. Barth, Art. „pistis“ (1992), 222. 31 Jüngel: „Das Zur-Welt-Kommen Jesu Christi (Inkarnation, Tod und Auferstehung) bringt den – den Sünder rechtfertigenden – Glauben mit sich. Von daher erklärt sich, daß mit Glaube im Urchristentum nicht nur der Glaubensakt (die später sog. fides qua creditur), sondern zugleich auch der Glaubensgegenstand (die später sog. fides quae creditur) gemeint ist.“ Jüngel, Art. „Glaube. IV. Systematisch-theologisch“ (2000), 954. 32 Dalferth spricht von der Schwierigkeit „postchristliche[r] Privat-Religionen mit ihrer subjektivistischen Selbstbedienungsmentalität“. Dalferth, Was Gott ist, bestimme ich! (1996), 415.
2.2 Veränderung der religiösen Orientierung
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genten Protagonisten die dort vorausgesetzte Anthropologie ernste Probleme.33 Während in der Konversation davon gesprochen wird, dass es theologisch unangemessen und „schädlich“ sei, den Menschen auf seine Bedürftigkeit und Unzulänglichkeit anzusprechen,34 setzen Diskurse vielfach dabei an, dass der Mensch an sich prinzipiell gut sei. Die Freiheit des Subjekts ist hierbei das oberste Prinzip. Dabei dient die Spiritualität des Menschen – als positiv verstandener Sehnsuchtsort des Menschen – als Anschlusspunkt, um über eine christliche Existenz ins Gespräch zu kommen. Wenn von Sünde gesprochen wird, dann geschieht dies nicht als „peccatum originale“ im Sinn einer Ursünde, sondern als Tatsünde in Form von schuldhaftem Handeln. Zudem wird der Ort der Sünde in Konzepten wie jenen von Claiborne, McLaren oder Bell vornehmlich in äußeren sozialen oder politischen Systemen ausgemacht, die die Selbstentfaltung des an und für sich guten Individuums hindern. Im Hinblick auf dekonversive Prozesse wurde bereits darauf hingewiesen, dass eine erlösungsbedürftige Sicht des Menschen gemieden wird. Im Hinblick auf Diskurse über Zweifel kann von einer Suche nach alternativen tragfähigen anthropologischen Modellen gesprochen werden. Anthropologische Debatten in der Konversation lassen sich vereinfacht in folgenden gegensätzlich diskutierten Zugängen darstellen: Schöpfungstheologie statt Kreuzestheologie. Es geht um die Frage, von welchem Ausgangspunkt aus (und dessen Interpretation) die Vorstellung des Menschen konstruiert wird. In der Konversation wird eine Anthropologie ausgehend von der Schöpfungstheologie (gelöst von einer Kreuzestheologie), besonders in der Betonung der „imago Dei“, diskutiert. Eckstein pointiert in dieser Hinsicht, dass ein Anschluss an die Schöpfungstheologie leichter mit dem „ungebrochenen Selbstbewusstsein des modernen Menschen vermittelbar“ sei – wie es exemplarisch in der Konversation deutlich wird – im Gegensatz zu einer erlösungs- und versöhnungsbetonten Kreuzestheologie.35 Es fällt auf, dass der Mensch als Ebenbild Gottes thematisiert wird ohne den Aspekt zu nennen, dass es in dem Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf einen Bruch gibt.36 Ausgeführt wird dies in der Konversation darin, dass der Mensch als Gottes Stellvertreter und Verkörperung auf Erden vorgestellt wird. Im Blick auf die Konversation kann mit den Worten Ecksteins die Rede 33 Hans-Joachim Eckstein weist darauf hin: „[…] die Lehre von Christus wie die darin eingeschlossene und vorausgesetzte Lehre vom Menschen sind […] für das neuzeitliche Denken schwer nachvollziehbar geworden.“ Eckstein, Glaube als Beziehung (2006), 10. 34 Dies wird in der Konversation beispielhaft im Rahmen der Verständnisse der Evangelisation und Mission dargestellt. Siehe Abschnitt II Kapitel 10.3 Missionstheologische Ansätze. 35 Eckstein, Glaube als Beziehung (2006), 14. 36 Es ist eben der Bruch zwischen Schöpfer und Geschöpf, der dem Menschen die Gottebenbildlichkeit als „schöpfungsmäßige Aufgabe und Bestimmung“ – erst in seiner wünschenswerten Verwirklichung – zukommen lässt. Thielicke, Theologische Ethik, 267–268.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
von der „imago Dei“ in der Konversation wie folgt interpretiert werden:37 „In der Rede von der ‚Gottesebenbildlichkeit‘ meint man die eigene Sicht vom Gutsein und dem unverbrüchlichen ‚göttlichen‘ Kern, den es nur freizulegen gilt, wiederzuerkennen.“38 Mit einer solchen überaus positiven und gleichzeitig verkürzten Deutung des „imago Dei“-Gedankens geschieht jedoch eine zu problematisierende Überhöhung des Menschen. Der „Gott gewordene Mensch“ tritt an die Stelle Gottes, übernimmt Verantwortung für sich selbst, die Schöpfung und die Geschichte.39 Eckstein weist auf die Widersprüchlichkeit der Schöpfungsgeschichte (Gen 1–3) hin, die vor Augen führt, dass eine Schöpfungstheologie „ohne das Gegenüber von Gott und Mensch, von Schöpfer und Geschöpf letztlich in die vertraute und verführerische Botschaft [mündet]: ‚Ihr werdet sein wie Gott!‘“40 Die Gefahr liegt in einer allzu optimistischen Selbsteinschätzung. Dann torkeln wir zwischen illusorischen Allmachtsfantasien und unrealistischen Ohnmachtsgefühlen auf dem Boden der Wirklichkeit. Der Rausch des Machbaren hinterlässt bei uns einen schmerzhaften Kater des Versäumens, des Versagens und der verpassten Möglichkeiten. Denn wenn unsere ganze Zukunft ausschließlich in unserer Hand liegt, dann sind wir auch in Hinsicht auf unsere verfehlte Gegenwart, die wir als unerlöste Vergangenheit weitertragen, gänzlich auf uns allein gestellt.41
Die Radikalität des selbstständigen und selbstbestimmten „göttlichen“ Menschen zeigt sich beispielhaft in der Orientierung an dem vorbildlichen Menschen Jesus von Nazareth – wie es ebenfalls in der „Emerging Church“-Konversation deutlich wird.42 Der kritische Punkt liegt in einer Überbetonung des irdischen Jesus, den emergente Protagonisten nachahmen wollen. Eckstein pointiert: Dieser verkörpert in diesem Zusammenhang freilich nicht etwa den Mensch gewordenen Gott, sondern vielmehr den Gott gewordenen Menschen. Jesus repräsentiert den sich gegen alle falschen Rücksichten und überholten Normen auflehnenden 37 Die hilfreiche Differenzierung von E. Brunner zwischen einer Gottebenbildlichkeit im allgemeinen Sinn („imago Dei generaliter“) und einer im besonderen Sinn („imago Dei specialiter“) soll hier nicht eigens diskutiert werden. In den folgenden Ausführungen handelt es sich um den zweiten Sinn, also den materiell gefassten Sinn, und nicht den strukturellen Sinn, der dem Menschen mit seiner Personalität auch nach dem Fall erhalten geblieben ist. Brunner, Dogmatik (1950), 64–72. Vgl. dauch Pöhlmann, Abriß der Dogmatik (1990), 163. 38 Eckstein, Glaube als Beziehung (2006), 15. 39 Eckstein weist kritisch darauf hin, dass es gerade nicht um eine „Verklärung göttlicher Möglichkeiten eines Menschen“ ginge, sondern um die „Verherrlichung der menschlichen Wirklichkeit Gottes“. A. a. O., 19. 40 A. a. O., 15. 41 A. a. O. 42 Für genauere Ausführungen siehe Abschnitt II Kapitel 10.2.1 Jesus und das „Reich Gottes“.
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Menschen, der sich selbst und seine Ideale verwirklicht und durchsetzt. In seiner unbestechlichen Rede, in seinen radikalen ethischen Forderungen und in der Konsequenz seines ethischen Handelns kann er – auch ohne jeden religiösen Überbau – als Vorbild für das wahre Menschsein gelten.43
Auf die verkürzte Darstellung des „imago Dei“-Gedankens soll weiter eingegangen werden. Aus schöpfungstheologischer Perspektive ist der Mensch das Ebenbild Gottes.44 Diese unverlierbare „imago Dei“-Struktur des Menschen garantiert seine Würde.45 Außerdem überbrückt sie den Graben der zwischen Menschen existiert. Nun steht die dieser Aspekt der Schöpfungslehre nicht alleine da. In der reformatorischen Lehre wird die „imago Dei“ weder als ontologischer Restbestand der Schöpfung interpretiert noch als „natura-Unterbau der gratia verstanden […]. Sondern die imago Dei wird mir, so gewiß sie nur eine bestimmte Zuordnung, eine bestimmte Beziehung zu Gott ist, in ihrem positiven Modus als justitia aliena in Christus zuteil, sowohl eschatologisch wie gegenwärtig.“46 Eine doppelte christologische Zuspitzung ist der notwendige Deutungshorizont. „Die Ebenbildlichkeit des Menschen in diesem Sinne ist nur im Urbilde Jesu Christi praesent und wird mir darum nur ‚in Christus‘ zuteil. Die imago Dei im positiven Modus ist nichts anderes als – der Glaube.“47 Thielicke grenzt sich von einem katholischen Verständnis einer ontischen 43 „Ja, als der erhöhte ‚Christus‘, dessen Botschaft und Sache auch sein eigenes Sterben am Kreuz weit überlebte, kann er geradezu zur Chiffre für das ‚Selbst‘ werden, das jeder in seinem eigenen Leben gegen alle Außenbestimmung, in Überwindung aller Entfremdung und trotz aller Leiderfahrung zu entfalten hat.“ Eckstein, Glaube als Beziehung (2006), 17. 44 Der Mensch steht von seiner schöpfungsmäßigen Bestimmung her in einer ausgezeichneten Beziehung zu Gott („zelem“ und „d’mut“, „imago“ und „similitudo“). Die Beziehung zu Gott macht seine Bestimmung zum Bild Gottes aus. Diese Bestimmung hat der Mensch nach dem Sündenfall nicht verloren. Es ist nicht „etwas“ am Menschen, das ihn ebenbildlich macht, sondern „daß der Mensch darin Ebenbild Gottes ist, daß er in seiner leib-seelischen Ganzheit in einer Beziehung zu Gott und zu seinem Mitmenschen existiert, die ihrerseits dem Wesen Gottes entspricht, also den Charakter der Liebe hat.“ Härle, Dogmatik (2007), 436. Härle betont in reformatorischer Tradition, dass „der Mensch die Gottesebenbildlichkeit nicht hat wie eine Eigenschaft oder einen Teil seines Wesens, sondern daß sie die dem Menschen zugesagte, zugedachte und zugemutete Bestimmung zur Liebe ist, die freilich als solche unverbrüchlich für ihn gilt. Und weil sie unverbrüchlich gilt, darum besteht im Blick auf jeden Menschen die Hoffnung, daß sie sich ihm (wieder) erschließen und er sie (wieder) finden kann.“ A. a. O., 436–437. 45 Nach E. Brunner die Gottebenbildlichkeit im allgemeinen Sinn. 46 Thielicke, Theologische Ethik, 323. Thielicke geht ausführlich auf die reformatorischen Kritikpunkte an einer „gratia-infusa-Lehre“ der Scholastik ein. Siehe Thielicke, Theologische Ethik (1981), 303–304. 47 A. a. O., 323. Thielicke sagt weiter: „Wenn man bedenkt, daß die Gottebenbildlichkeit im Neuen Testament notwendig normiert sein muß von dem Bilde Gottes in Jesus Christus, daß also das Ebenbild ganz betont nicht nur in der Schöpfungs-, sondern auch in der Erlösungsordnung
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Eigenschaft des Menschen als proprium ab – das vergleichbar in der „Emerg ing Church“-Konversation zu erkennen ist. Thielicke betont, dass ein rechtes Verständnis der „imago Dei“-Lehre Konsequenzen für das Rechtfertigungsverständnis habe. Werde im reformatorischen Verständnis das Ereignis der Rechtfertigung außerhalb des Menschen in der „iustitia Christi“ gesehen, führe die katholische Lehre zu einem anderen Verständnis. Da hier die imago Dei eine Eigenschaft des Menschen ist, wird sich die rechtfertigende Gnade immer auf eine Änderung dieser Eigenschaft – etwa im Sinne einer ‚Steigerung‘, einer ‚Korrektur‘ ihrer Beeinträchtigungen durch die Sünde oder auch einer ‚Wiederherstellung‘ zur ursprünglichen Vollkommenheit – beziehen müssen. Die Bedeutung, welche die Verdienste für die Rechtfertigung besitzen, weist auf diese Tatbestände hin: Denn die Möglichkeit, Verdienste zu erwerben, hängt ab von bestimmten Eigenschaften des Menschen, die ihrerseits durch die Gnade hervorgebracht werden, sie hängt ab von bestimmten eingegossenen Tugenden.48
Es wurde deutlich gemacht, dass der in der „Emerging Church“-Konversation diskutierte schöpfungstheologische Zugriff über die „imago Dei“ zunächst als alternative anthropologische Grundbestimmung des Menschen ergriffen wird. Eine genauere Prüfung des Begriffs hat ergeben, dass die Ebenbildlichkeit des Menschen nur christologisch gedeutet werden kann.49 Es besteht die Gefahr, dass der „imago Dei“-Begriff eine allgemeine religiöse Chiffre wird, die die Sakralisierung des Menschen beschreibt. Die auf die Erlösungsordnung bezogene Qualifikation des Begriffs besteht nicht zuletzt in ihrer soteriologischen Dimension, die dieser Begriff für den Einzelnen einnimmt.50 Hinsichtlich der Konversation fällt auf, dass eine christuszentrierte Soteriologie entscheidend relativiert, wenn nicht ausgeschieden wird. Dies reduziert die Bedeutung des eingezeichnet ist, dann wird die ständige Beziehung auf das Indikativ-Imperativ-Phänomen ganz deutlich (vgl. Röm. 8,29 f.; 2.Kor. 3,17f).“ Thielicke, Theologische Ethik, 267. 48 A. a. O., 324. 49 Thielicke fasst pointiert zusammen: „Er [Heilige Geist] vollzieht diese imago Dei in der Art und in dem Maße, wie er Jünger ist, wie er in der Gemeinschaft mit Christus lebet und sich ihm gliedschaftlich verbinden läßt. In ihm, in Christus, ist die Doxa Gottes gegenwärtig. Der Mensch wird deshalb imago Dei nur in dem Sinne, daß er ‚in Christus‘ ist.“ A. a. O., 304. „So ist auch der Glaube nicht eine Eigenschaft der imago, sondern er konstituiert gerade diese imago in ihrer Bedeutung als Spiegel, so gewiß der Spiegel das Licht nicht aufsaugt, sondern nur im Reflektieren, im Bezug auf den sich spiegelnden Gegenstand, leuchtet.“ A. a. O., 307. 50 An der kreuzestheologischen Grundlegung anthropologischen Denkens ist mit Hempelmann festzuhalten. „Christlicher Glaube kann in seiner Reflexionsgestalt als christliche Theologie nicht an den genannten fundamentalen Infragestellungen der Heilsbedeutung des Kreuzes Jesu als zentralem soteriologischen Ereignis vorbeigehen.“ Hempelmann, „Hat das Kreuz Jesu eine Heils-Bedeutung“ (2010), 150.
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„imago Dei“-Begriffs, da dieser gerade durch die kreuzestheologische Deutung inhaltlich zentriert und auf seine biblische Bestimmung zurückgeführt wird. Mit Blick auf eine theologische Beurteilung der Konversation kann gesagt werden, dass dort, wo die Bestimmung der Gottebenbildlichkeit nicht christologisch qualifiziert ist, diese mit einem reformatorischen Ansatz nicht zu vereinbaren ist. Im Gespräch mit der „Emerging Church“-Konversation wird es daher nicht um die Abwehr der Einwände gegen die Heilsbedeutung des Todes Jesu gehen, sondern um eine Bearbeitung der Einwände beziehungsweise um eine sprachliche Wiedergewinnung bekannter Inhalte – unter der Maßgabe, dass das Geschöpf dem Schöpfer zu- und untergeordnet ist.51 Im Hinblick auf „Sünde“ ist die Verlorenheit des Menschen nicht nur im Sinn sozialer oder politischer Verstrickungen zu qualifizieren, sondern als existenzielle Entfremdung von Gott – paulinisch gesprochen als Feindschaft gegenüber Gott, dem Nächsten und sich selbst. Es gilt, wie Schneider-Flume herausstellt, nicht den vielschichtigen Sündenbegriff wegzulassen oder zu vereinfachen, sondern sprachfähig über Sünde zu werden und das „verlorene Wort“ Sünde anschlussfähig zu machen.52 Im Übrigen gilt dies nicht nur für den Begriff „Sünde“, sondern für die verfestigten Begriffe der Tradition wie Rechtfertigung, Gnade, Schöpfung etc.: „[…] [Sie] sind zu abstrakten Begriffen geworden, die in der Regel nicht mehr verstanden werden […].“53 Gerade an dieser Stelle bringen zweifelnde Personen eine erhöhte Sensibilität hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung und der lebensgeschichtlichen Verortung mit, die in der theologischen wie auch pädagogischen Arbeit in Gemeinden einen Niederschlag finden soll. Vorsicht ist jedoch geboten, Deutungen nur deshalb auszuschließen, weil sie ihre situative oder lebensgeschichtliche Relevanz verloren haben. Gerade mit Blick auf die Rede von Spiritualität und Glaubenserfahrung plädiert Christian Möller für eine „sündenbewusste Spiritualität“54, die die Macht 51 A. a. O. 52 Schneider-Flume sagt: „Es ist aber keineswegs jedermann einleuchtend, dass Menschen Zerstörungen ihrer selbst und des Lebens Sünde nennen. Erst im Horizont der Geschichte Gottes erschließen sich Lebens- und Selbstzerstörung der Sünde, weil sie als Zerstörung des Gottesverhältnisses erkannt werden. In aller Klarheit erkennbar werden Wesen und Macht der Sünde erst da, wo sie überwunden sind. […] Mit der Erkenntnis von Sünde geht einem Menschen auf, was seinem Leben fehlt, wenn ihm Gott fehlt, deshalb kann Sünde nur vor Gott erkannt werden. Insofern ist Sündenerkenntnis Defiziterfahrung, denn sie lässt die Entfremdung des Menschen erkennen, der sein Leben in der Fülle von Lebensbeziehungen zu Gott und Menschen hat, aber diese Beziehungen zerstört, weil er sich die Wohltat Gottes, geschenkten Lebens und der Liebe nicht zugute kommen lässt.“ Schneider-Flume, Grundkurs Dogmatik (2008), 236. 53 A. a. O., 25. 54 Möller, Leidenschaft für den Alltag (2006), 173.
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menschlicher Eigenregie immer wieder ins rechte Licht rücken soll, nämlich, dass Christus das „Subjekt des Geschehens“ ist.55 Auch Block und Eschmann plädieren für eine sündenbewusste Spiritualität, die gerade Neuen Religiösen Bewegungen, wie die „Emerging Church“-Konversation eine ist, verhelfen sollen, zu einem ausgewogenen Spiritualitätsverständnis zu gelangen.56
2.2.5 Das Personale des Glaubens Der Vorwurf in der „Emerging Church“-Konversation, dass ein christlicher Glaube sich lediglich auf eine persönliche Heilsaneignung konzentriere, ist bedenkenswert. Der Vorwurf bezieht sich konkret auf das Nachsprechen vorgegebener Worte – wie sie zum Beispiel bei „Lebensübergabegebeten“ üblich sind. Wenn es um eine strukturelle Kritik geht, ist dem zuzustimmen. Es kommt tatsächlich nicht auf „korrekt“ gesprochene Worte an. Der Kritik jener Protagonisten in der Konversation, die an einer Operationalisierbarkeit des christlichen Glaubens, wie sie in der Auseinandersetzung mit Megakirchen-Ansätzen dargestellt wurde, kann zugestimmt werden.57 Dennoch darf nicht vergessen werden, dass Konvertiten eindeutige und einmalige Initiationen in ihrer Konversion angeben und diese auch schätzen.58 Dabei kommt es vielmehr darauf an, eine konkrete Möglichkeit zu einem Schritt des Glaubens anzubieten („Inszenierungen des Anfangs“), als einen solchen Schritt unnötig überzubewerten, indem man diesen als – in dieser Form – notwendig oder allein seligmachend postuliert. Ergebnisse der Konversionsforschung zeigen, dass Menschen sowohl öffentliche Schritte, wie Lebensübergabegebete, als auch stille, private Schritte des Glaubens gehen. Zudem ist jenem Aspekt der Kritik zuzustimmen, der beachtet, dass das Christsein mehr sei als ein Konversionserlebnis – öffentlich oder privat. Emergenten Protagonisten ist in ihrem Wunsch zuzustimmen, ein das ganze Leben umfassendes Verständnis christlicher Nachfolge zu fordern. Wenn es jedoch um eine theologische Kritik an einer persönlichen Heilsaneignung geht, ist dieser Kritik zu widersprechen. Der christliche Glaube ist wesentlich personal. Diese personale Dimension betrifft jedes Individuum und dessen Seelenheil bzw. die Gerechtsprechung vor Gott („pro 55 Siehe weiter Kunz / Reichenbach, Spiritualität im Diskurs (2012). 56 Die Autoren: „Eine sündenbewusste Spiritualität verleiht der Oikodomik [Gemeindeaufbau] einen paradoxen Charme, der Gottes Wirken im menschlichen Nichtwirken verheißt.“ Block / Eschmann, Peccatum magnificare (2010), 35. 57 Siehe dazu die Ausführungen in Abschnitt IV Kapitel 1.2 Theologische Standortbestimmungen. 58 Vgl. Zimmermann / Herbst u. a., „Zehn Thesen zur Konversion“ (2010), 69–82.
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me“). Diese göttliche Gerechtigkeit ist eine ausschließlich „in der Gott-MenschGemeinschaft wirksam werdende Gerechtigkeit“59. Der Ruf zur Umkehr zielt auf die personale Gerechtsprechung und eine damit verbundene Abkehr von den „Göttern“ der Welt.60 Das Heil, das auf das Individuum bezogen ist, ist nicht von dem Heil, das auf die Schöpfung bezogenen ist, zu trennen. Neben der personalen ist die soziale Dimension bedeutsam.61 In der Konversation führt beispielsweise die Abwendung von einer für das Individuum durchaus relevanten sühnetheologischen Deutung des Kreuzestodes Jesu zu einer neuen Wertschätzung für Gottes erhaltendes Wirken in der Welt und zu pneumatologisch begründeten Welt- und Wirklichkeitsverständnissen. Obwohl dies auch als Umkehrerfahrung geschildert wird, ist danach zu fragen, ob dies im bisher skizzierten, biblischen Sinn Umkehr ist und damit als „Schritt im Glauben“ zu qualifizieren ist. Ist es nicht vielmehr ein „Schritt im Glauben“, wenn neben der personalen Aneignung ein Verständnis für die Belange der Welt wächst – und nicht das Zweite das Erste ersetzt? Wright formuliert die Verantwortung, die mit der persönlichen Heilsaneignung einhergeht, pointiert: Sondern der eigentliche Punkt ist meiner Meinung nach, dass das ewige Heil von Menschen – obwohl es natürlich für diese Menschen äußerst wichtig ist – Teil eines größeren Zusammenhanges ist. Gott rettet uns vom gestrandeten Schiff dieser Welt; nicht, damit wir uns nun zurücklehnen und in seiner Gesellschaft die Beine hochlegen, sondern damit wir ein Teil seines Plans werden, die Welt zu erneuern. Wir kreisen um Gott und seine Ziele, nicht andersherum.62
59 Thielicke, Theologische Ethik (1981), 303. 60 Im Hinblick auf die Abkehr von den „Göttern“ der Welt ist zu sagen: Obwohl die Inanspruchnahme durch den Heiligen Geist zunächst exklusiv zu verstehen ist und von den Belangen der Welt trennt, bezieht sich das Wissen um die Inanspruchnahme selbstverständlich auf die Belange der Welt. 61 Im Gegensatz zur „Emerging Church“-Konversation wird im „Gospel and Our Culture Net�work“ (GOCN) an Evangelisation als Herzstück der Mission festgehalten. Evangelisation nicht als Mitgliedergewinnung, sondern das Werben für einen vertrauensvollen Umgang mit Christus. Dieses Vertrauen zu Christus lässt sich nicht lösen von der Gemeinschaft der Glaubenden und schließt damit ein, Glied einer christlichen Gemeinschaft zu werden. Guder dazu: „Evangelization is, at its core, communication. It is making the story known. Its intention is not only to tell the good news, but also to invite those who hear to respond and become part of the witnessing community.“ Guder, The Incarnation and the Church’s Witness (2004), 34. Über das Verhältnis zwischen personaler und sozialer Dimension siehe Herbst, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche (2010), 191. Herbst führt aus, dass die Glauben weckende Verkündigung (also die personale Dimension) eine Priorität hat („wenn auch nicht immer eine chronologische Priorität“). 62 Wright, Justification. God’s Plan and Paul’s Vision (2009), 7–8. (deutsche Übersetzung)
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Ein Aufruf zur Umkehr, der lediglich als Umkehr zu den Belangen der Welt formuliert wird – wie in der Konversation deutlich – interpretiert Umkehr als sozialpolitischen Aktivismus, der mit einem neutestamtlichen Gebrauch des Begriffs wenig gemein hat.63 Eine Substitution von „Seelenheil“ durch das „Schöpfungsheil“ ist ebenso abzulehnen wie eine Trennung von beiden. Der Konversation ist ein rechtes Verhältnis der verschiedenen Heilsdimensionen nicht abzulesen. Aspekte wie diakonische Dienste, Verantwortung für die Schöpfung oder ein gerechtes Handeln werden im Besonderen in der zweiten und dritten Strömung von einem personalen Heilsverständnis losgelöst.64
2.2.6 Die Emotionalität und die Erlebnisorientierung des Glaubens Wie bereits beleuchtet wurde, ist der anthropologische Ort des Glaubens im Verstand, im Willen und im Gefühl einer Person zu suchen. Demnach spielen alle drei Aspekte des Personseins eine Rolle in der Glaubensfindung, in der Glaubensbildung und ebenso in dem subjektiv beschriebenen Glaubensverlust. In der „Emerging Church“-Konversation fällt hinsichtlich des Glaubens eine deutliche Schwerpunktsetzung auf den Aspekt der Gefühle auf. Dieser Aspekt wird einerseits mit Emotionalität und andererseits mit Erlebnisorientierung genauer beschrieben. Ohne die gesamte Darstellung der Konversation zu diesem Thema aufzurufen, lässt sich schnell zusammenfassen, dass Aspekte des Willens und des Verstandes den Gefühlen nachgereiht und untergeordnet werden. Es wird eine mangelnde Thematisierung des Verhältnisses zwischen Gefühl und Verstand beklagt. Dabei werden die auf der emotionalen Ebene wahrnehmbaren Aspekte des christlichen Glaubens unmittelbarer und direkter für die religiöse Identitätsbildung beschrieben sowie als für das Leben relevanter und den situativen Herausforderungen dienlicher beschrieben.
63 Schliesser macht deutlich: „Erst durch die Kraft des Evangeliums wird diese Realität überhaupt erst erfahrbar und zugänglich; das Evangelium ist es, welches ein ‚Sich-Schicken‘ in dieses Geschehen fordert und die Menschen mit ihrer ganzen Existenz zur Teilhabe ruft. Nach dieser Deutung wären in der Wendung ‚Glaubensgehorsam‘ in äußerst komprimierter Form die eschatologische, ekklesiologische und ethische Perspektive vereint.“ Schliesser, Was ist Glaube (2011), 75. 64 Auffallend ist zudem, dass Konversion (als intentionale Nachfolge Jesu) völlig in den Hintergrund rückt und Christsein vermehrt im Kontext einer Teilhabe an der Restauration der Schöpfung gedeutet wird. Besonders Ed Mackenzie geht auf diese problematische Verhältnisbestimmung in der Konversation ein. Mackenzie, „Mission and the Emerging Church“ (2012). Bei Frost und Hirsch ist dies nicht zu erkennen. Die Bedeutung von Frost und Hirsch hat jedoch ab dem Ende der zweiten historischen Phase deutlich abgenommen.
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Im Hinblick auf dekonversive Prozesse wurden bereits religiöser Erfahrungsverlust und emotionale Leiderfahrungen als Merkmale identifiziert, die emergente Protagonisten für die Veränderung ihrer religiösen Orientierung angeben. Nach der theologischen Orientierung im vorherigen Kapitel wurde deutlich, dass zwischen Glaubensgewissheit als „fiducia“ und Glaubenserlebnis unterschieden werden muss. Gleichwohl es für die Glaubensgewissheit der Glaubenserfahrungen (anhand von Erlebnissen) als Plausibilitätshorizont bedarf, kann sich Gottvertrauen und Glaubensgewissheit trotz widriger Erlebnisse in der Gegenwart halten. So strikt beide Begriffe voneinander getrennt werden müssen, so sehr müssen sie aufeinander bezogen werden – jedoch nicht exklusiv. Die Trennung zeigt sich einerseits darin, dass Gewissheit ein Wesensmerkmal des Glaubens ist. Andererseits sind Gefühle, die im Sinn eines integrativen Verständnisses auf den Glauben bezogen sind, begrüßenswert, jedoch abhängig von der Persönlichkeitsstruktur des Individuums sowie von situativem Erleben und keinesfalls Kriterium für den Glauben. Dies gilt etwa auch vor dem Horizont eines „deus absconditus“ und der nicht erlebbaren Gegenwart Gottes. Die gegenseitige Bezogenheit zeigt sich darin, dass es gewisser Handlungen bedarf, um die Bedingungen für beide Aspekte zu schaffen. Während Glaubensgewissheit durch das äußere Wort durch das Wirken des Heiligen Geistes geschenkt wird, werden in der Konversation Glaubenserlebnisse an die Relevanz für das religiöse Individuum geknüpft. Während emergenten Protagonisten nicht abgesprochen werden soll, dass durch bestimmte Erlebnisse und Handlungen Glaubensgewissheit entstanden ist beziehungsweise dem Wirken des Heiligen Geistes prinzipiell keine Grenzen gesetzt sind, liegt doch hier der entscheidende Unterschied. Es stellt sich die Frage nach der Vermittlung der Glaubensgewissheit. Während emergente Protagonisten Begriffe wie „Relevanz“, „Authentizität“, „Orthopraxie“ oder Erlebnisorientierung anführen, geschieht nach reformatorischem Verständnis die zentrale und versprochene Vermittlung durch das äußere Wort. Glaube wird nach reformatorischer Überzeugung dort geschenkt, wo das Wort Gottes verkündigt und die Sakramente evangeliumsgemäß verwaltet werden (CA VII). Das heißt, dass damit Kennzeichen gegeben sind, wodurch Glaubensgewissheit erhofft werden darf. Diese können zum Prüfstein für emergente Vergemeinschaftungen und gottesdienstliche Feiern werden. Dabei ist der Inhalt des äußeren Wortes theologisch dahingehend bestimmt, dass die Glaubensgewissheit an die Gerechtigkeit vor Gott anschließt. Dies ist eine Gerechtigkeit, die durch Christus allein zugeeignet wird und damit an den gekreuzigten und auferstandenen Christus gebunden ist. Folglich ist ein Glaubensverständnis, das sich davon löst und einen christlichen Glauben ohne den Gekreuzigten propagiert, kein christlicher Glaube. In dieser Hinsicht ist beispielsweise Weißenborn zu widersprechen, der verkürzt von
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
einem „Geburtsfehler der Reformation: die Betonung der Lehre zulasten der Frömmigkeit“65, spricht. Eine Orientierung an erlebnisstarken Momenten als Vermittlungsinstanzen von Glaubensgewissheit ist weiter in folgender Weise kritisch zu beleuchten. Als Erstes ist der Glaube „fides adventitia“, und damit ist jede menschliche Handlung, die Glaubensgewissheit herstellen, bewirken oder provozieren will, abzulehnen.66 Im Blick auf den Glauben sind keine menschliche Leistung und kein menschlicher Anteil zu erkennen. Nichtsdestotrotz bedarf es der menschlichen Kreativität, um das äußere Wort hörbar und verstehbar zu machen. Dies geschieht aber immer in Bezug auf das äußere Wort. Als Zweites ist eine Orientierung an erlebnisstarken Momenten in der Hinsicht kritisch zu beleuchten, als der christliche Glaube als Gefühl, im Sinn eines Transzendenzerlebnisses (Heelas), verallgemeinert wird und der Bezug zum verkündigten Wort Gottes fehlt.67 Es kann dem Plädoyer Friedrich Schweitzers zugestimmt werden, der für einen inhaltsstarken christlichen Glauben eintritt: „Der christliche Glaube ist kein inhaltsleerer Glaube und auch keine Überzeugung, die den Menschen plötzlich überkommt, etwa beim Erleben eines Sonnenuntergangs, oder einfach unter einem Apfelbaum.“68 Das Gesagte widerspricht nicht den Bemühungen um relevante Vermittlung – ebenso auf der Ebene der Gefühle. Es stellt Verkündigung vor die Aufgabe an die Ästhetik der betreffenden Kultur anzuknüpfen und dieser – wo notwendig – theologisch begründet zu widersprechen.
65 Weißenborn, „Postmoderne und Christentum: die Herausforderungen“ (2007), 153. 66 Glaubenserfahrung wäre demnach passiv konstituiert, also Gottes Werk. Vgl. dazu Herms, Offenbarung und Glaube (1992), 268–271. 67 Mit Dalferth kann gesagt werden: „Das aber ist für den christlichen Glauben wesentlich. Er ist nicht nur subjektives Erleben, freie Erfindung und Verknüpfung religiöser Ansichten oder Tradition geschichtlich gewachsener Überzeugungen. […] Im christlichen Glauben geht es um eine – Gott selbst als Ursache zugeschriebene – Wahrnehmung von Wirklichkeit […].“ Dalferth, „Was Gott ist, bestimme ich!“ (1996), 429. 68 Schweitzer, „Wenn Erwachsene sich taufen lassen“ (2013), 15. So auch bei Ebeling, Das Wesen des christlichen Glaubens (1965), 7–16. Vgl. dazu Härle, der sagt, dass „Texte, Lehren, Theoriebildungen […] [als Teil des verbum externum] […] die unverzichtbaren Zeichengestalten, durch die der Inhalt des christlichen Glaubens zum Gegenstand innerer Klarheit werden kann […] Das Befreiende der Orientierung an Gewißheit besteht also nicht in dem Irrglauben, den Inhalt des christlichen Glaubens aus der eigenen Selbstgewißheit erzeugen zu können, sondern in der Erkenntnis, daß das (überlieferte) Evangelium als verstandene und als wahr erkannte Botschaft und Lehre bezeugt werden will.“ Härle, „Befreiende Gewißheit“ (2000), 187.
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2.2.7 Mögliche und nicht mögliche Authentizität Im Blick auf die in der Konversation thematisierte Forderung nach Authentizität ist zu erkennen, dass eine solche Wahrhaftigkeit als Ausgangs- und Fluchtpunkt religiöser Identitätsbildung beschworen wird. Theologisch ist die Sehnsucht nach Authentizität da nachvollziehbar, wo es aufgrund des Priestertums aller Gläubigen um eine Gabenorientierung Einzelner etwa im Dienst in Gemeinden geht. Das heißt, geistbegabte Menschen sollen den ihnen bestimmten Platz in der Gemeinde finden, mit ihrem Handeln partizipieren und im Sinn der paulinischen Metapher als mündige Glieder des Leibes Christi – zum Wohl und Heil der Menschen – beitragen. Der Ruf zur Authentizität ist auch dort nachvollziehbar, wo es im christlichen Glauben um eine Kongruenz von Verstand, Wille und Gefühl sowie gelebter Praxis geht. Emergenten Diskursen, die eine mangelnde Übereinstimmung in vormaligen christlichen Gemeinschaften hinsichtlich des gepredigten und gelebten Glaubens thematisieren, ist in ihrer Kritik recht zu geben. Dort, wo nicht hinterfragbarer Glaubensgehorsam wider den Verstand gefordert wird, etwa in der Auseinandersetzung zwischen Naturwissenschaft und Schöpfungsglaube, muss einem solchen aufkeimenden Fundamentalismus widersprochen und ein begründeter Glaube eingeübt werden. Dort, wo gelebte christliche Praxis von inhaltlichen Überzeugungen auseinanderdriftet, bedarf es einer Beschäftigung mit den Zweifeln und dürfen diese nicht zum Verstummen gebracht werden. Neben der Gefahr Fundamentalismen zu ermöglichen, gibt es die Gefahr, dass der christliche Glaube – trotz subjektiv erlebter Authentizität – zu einer allgemeinen Chiffre humanistischen Daseins führt.69 Im Hinblick auf intellektuelle Zweifel gilt, dass der christliche Glaube ein denkender Glaube ist. Welker sagt pointiert: Eine in Stetigkeit, Intensität, Integrations- und Konzentrationskraft wachsende Gewißheit wird in der Wahrheitserkenntnis angestrebt und kultiviert. Gezielte Infragestellung und Festigung der Gewißheit sind dabei gleichermaßen wichtig. Dies aber ist nur möglich aufgrund einer mit der wachsenden Gewißheit verbundenen Sachkenntnis.70 69 Mit dem Streben nach Authentizität greift die Konversation einen Trend auf, den David Boyle „New Realism“ nennt. Darin wird Authentizität für alle Lebensbereiche einer Person durch�buchstabiert. Boyle verbindet diesen Trend mit dem Bedeutungsanstieg realer zwischenmenschlicher Beziehungen, Sorge um die Umwelt, Engagement in lokaler Politik und dem Stichwort „verantwortlich handeln“. Boyle dazu: „It’s a new kind of humanism that defends human choice against the giant corporations and the technocrats who would find it cheaper just to use machines or computers to interact with us […] It’s an attitude that […] does condemn the economic processes which mean they drive out the real stuff.“ Boyle, Authenticity (2003), 295. 70 Welker, „Subjektivistischer Glaube als religiöse Falle“ (2004), 156.
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Dies resultiert in einem Auftrag an christliche Gemeinden und Verantwortliche hinsichtlich ihrer Bildungsarbeit, konkret die Aussage- und Sprachfähigkeit im Glauben zu fordern und zu fördern. Zudem soll die Beschäftigung mit dem Zweifel in die religiöse Identitätsbildung aufgenommen werden. Wenngleich es wünschenswert ist, Verstand, Wille und Gefühl – als anthropologische Orte des Glaubens – hinsichtlich der Orte der Glaubensbildung und -stärkung in den Blick zu nehmen, entkommt die christliche Existenz nicht dem fragmentarischen Glauben. Neben dem Erleben, dass sich nicht Vollkommenheit, etwa hinsichtlich der Gewissheit, Heilung oder Erkenntnis einstellt, bleibt ein innerer Kampf im Christ bestehen. Der Christ bleibt in der Spannung, dass er das Gute, dass er will, nicht tut, sondern das Böse, das er nicht will, tut (Röm 7,19). Diese Existenzialität wird im Irdischen nicht aufgehoben. Problematisch erscheint es, wenn Authentizität und die Suche nach dem religiösen Ich zum Fluchtpunkt des Selbst- und Weltverständnisses werden und Glaube nicht mehr als „fides adventitia“ qualifiziert wird – nämlich Glaube als etwas, das einem Subjekt zunächst vollkommen fremd ist und sein muss.71 Ein solcher durch den Heiligen Geist gewirkter Glaube steht zunächst in keiner Kongruenz mit dem „alten Leben“, sondern ruft heraus aus dem alten Leben, ruft zur Umkehr (metanoia) und dazu, die alten Wege zu verlassen. Dies ist sowohl ein einmaliger als auch ein immer wiederkehrender Vorgang. Den wiederkehrenden Vorgang beschreibt Luther als zweite Gerechtigkeit.72 Im Umgang mit dem Zweifel bedarf es nach den bisherigen Ausführungen – analog zu den Ausführungen über die Anfechtung – jenen einzig notwendigen Fluchtpunkt, der als „deus revelatus“ gilt: Jesus Christus. In Anschluss an Bonhoeffer formuliert Christine Schliesser: „Jesus Christus ruft den Menschen aus seinem Zweifel, aus seiner Zwiespältigkeit heraus. An den Menschen ergeht der ‚Ruf aus der Entzweiung, aus dem Abfall, aus dem Wissen um Gut und Böse heraus, zur Versöhnung, zur Einheit, zum Ursprung, zu dem neuen Leben, das allein in Jesus ist.‘“73
71 Die Überlegungen Karl Barths zum Individualismus und eines sogenannten „Ich-Glaubens“ weisen in die gleiche Richtung. Er sagt: „[…], dass der Christ in den letzten Jahrhunderten (auf dem weiten Weg vom alten Pietismus bis hin zu dem an Kierkegaard sich inspirierenden theologischen Existentialismus der Gegenwart) begonnen hat, sich selbst in einer Weise ernst zu nehmen, die dem Ernst des Christentums durchaus nicht angemessen ist.“ Barth, KD (1932–1968), 4/1, 828. 72 Vgl. dazu Abschnitt IV Kapitel 1.2.5 Zweifel als Existenzial, Fussnote 66. 73 Schliesser, „Eine Geschichte vom Zweifel und vom Glauben“ (2011), 199.
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2.2.8 Exkurs: Zweifel in zeitdiagnostischer Perspektive – die „Emerging Church“-Konversation als „kulturelles“ Phänomen Folgender Exkurs hilft, das bereits Gesagte in eine zeitdiagnostische Beschreibung einzuordnen. Veronika Hoffmann macht deutlich, dass Glaube und Zweifel von ihren zeitlichen und kulturellen Kontexten her verstanden und ebenso in diesen reflektiert werden müssten und diese theologische Beachtung verdienen sollten.74 Hoffmann beruft sich auf Charles Taylors Diagnose von den „geänderten Bedingungen des Glaubens“, wie er sie für den nordatlantischen Raum postuliert. Hier soll lediglich auf einige Aspekte der Überlegungen von Taylor eingegangen werden, nämlich jene, die eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der „Emerging Church“-Konversation versprechen. Diese sind besonders die zeitdiagnostischen Perspektivierungen des Zweifels hinsichtlich seiner Darstellung von „Säkularität“ und der „Kultur der Authentizität“. Taylor unterscheidet drei Ebenen der Säkularität: Einerseits die Entkopplung von Religion und gesellschaftlichen Institutionen, andererseits den Rückgang religiösen Glaubens und religiöser Praxis und zuletzt stellt er Säkularität vor als „eine neue Gestalt der zum Glauben veranlassenden und durch Glauben bestimmten Erfahrung“.75 Taylor zeigt auf, dass die Bedingungen für die Formen des Erlebens von Glauben oder Unglauben sich geändert hätten. Die Entscheidung zu glauben, ist ein Lebensstil, der seine Selbstverständlichkeit eingebüßt hat76 Dies nennt er Optionalität, was zu einer „Fragilisierung des Glaubens“ führe. Das ist so zu verstehen, als dass sich Glaube vor dem Horizont vieler Alternativen vollziehe.77 Taylor weist darauf hin, dass ein so verstandener Glaube trotz veränderter Gestalt durchaus stark sein könne – im Gegensatz zu Peter Berger, der aufgrund des „Zwangs zur Wahl“ von dessen Instabilität ausgeht. Hoffmann merkt nun ausgehend von Taylors Differenzierungen an, dass sich auch die „innere Gestalt des eigenen Glaubens grundlegend verändert hat“78. Dabei sei Zweifel keine zwingende Folge der Optionalität des Glaubens (wie dies Berger sagt), sondern es sei durchaus eine „kontingente Gewissheit“ möglich. Eine „kontingente Gewissheit“ bewegt sich in der 74 Hoffmann, „Zweifel, Säkularität und Identität“ (2017), 21–22. 75 Taylor, Ein säkulares Zeitalter (2009), 46, 11–48. 76 Der „Rahmen des Selbstverständlichen“ wurde verlassen. A. a. O., 32. „Insofern sich alle Weltdeutungen, religiöse wie nichtreligiöse, heute innerhalb dieses Rahmens bewegen, bezeichnet ‚Säkularität‘ für Taylor nicht nur die Möglichkeit und Plausibilität einer nichtreligiösen Option, sondern eine veränderte Ausgangslage auch für religiöse Optionen.“ Hoffmann, „Zweifel, Säkularität und Identität“ (2017), 25–26. 77 Taylor, Ein säkulares Zeitalter (2009), 928. 78 Hoffmann, „Zweifel, Säkularität und Identität“ (2017), 28.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Spannung, weder zu verzweifeln noch zu wissen und dennoch ihren Grund der Hoffnung benennen zu können. Demnach müsse nicht Relativismus das Resultat der neuen Kontingenzsensibilität sein. Hoffmann plädiert für „‚kontingente Gewissheit‘, die sich der Kontingenz bewusst ist.“79 Das heißt, dass die Kontingenz der eigenen Existenz aufgrund des Glaubens nicht durch andere Optionen erschüttert werden könne. Hinsichtlich der zweiten Bezugnahme auf Taylor führt Hoffmann an, dass als wichtige Referenz des Glaubens weniger die Frage nach dem eschatologischen Heil, sondern nach der personalen Identität thematisiert werde. Es trete nach Taylor eine Kultur der Authentizität zutage, deren Idee es sei, dass „[…] jeder von uns seine eigene originelle Weise des Menschseins hat […]“. Taylor sagt weiter: „Wenn ich mir nicht treu bleibe, verfehle ich den Sinn meines Lebens; mir entgeht, was das Menschsein für mich bedeutet.“80 Das führe zu folgenden Ansichten: Meine religiöse Auffassung muss mir etwas sagen. Sie muss zu mir passen, sie gehört zu meinem Selbstausdruck, sie spiegelt mein ureigenstes Verständnis der Welt. Vorranging ist deshalb nicht die Vorgabe einer Autorität oder eine Tradition, sondern der je eigene spirituelle Weg. […] Aber an religiösen Inhalten festzuhalten, nur weil es sich um zentrale Inhalte der jeweiligen Denomination handelt, ohne dass sie mit dem einzelnen selbst in irgendeinem Zusammenhang stünden, wird zunehmend unplausibel.81
Der Glaube gehöre nun eben zu einer solchen originellen Weise des Menschseins dazu und werde zur Hermeneutik des eigenen Selbst- und Weltverständnisses. „[…] Fragen des Heils und der Wahrheit […] werden neu zugeordnet, nämlich auf die eigene Identitätskonstruktion und deren hermeneutische Erschließung hin.“82 Durch Zweifel ausgelöste Veränderungsprozesse berührten damit die eigene Identitätskonstruktion. Als Ertrag der zeitdiagnostischen Perspektivierung kann festgehalten werden, dass es zu einer grundsätzlichen Optionalität des Glaubens gekommen ist. Die „Emerging Church“-Konversation kann man mit Taylor als von der dritten Ebene der Säkularität betroffen beschreiben. Auf dieser Ebene lasse sich aber durchaus noch eine „kontingente Gewissheit“ finden. Zu fragen bleibt, was die „kontingente Gewissheit“ fördern und unterstützen kann? 79 Hoffmann zitiert an dieser Stelle Hans Joas. A. a. O., 27. Zu finden bei Joas, Glaube als Option (2012), 126. 80 Taylor, Das Unbehagen an der Moderne (1995), 38. 81 Hoffmann, „Zweifel, Säkularität und Identität“ (2017), 33. 82 A. a. O., 34.
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Im Hinblick auf die Konversation zeigt die zeitdiagnostische Perspektivierung durch Charles Taylors Verständnis der Authentizität, dass religiöse Inhalte auf ihre Identitätserschließung hin geprüft und deren hermeneutische Erschließung hin zugeordnet werden. Bekenntnisse werden damit zum Ausdruck der subjektiven Religiosität und verlieren ihre grundsätzliche Bedeutung, nämlich dass sie im Bekennen die Bekennenden und das Gegenüber des Bekenntnisses gewiss machend verknüpften und damit in Beziehung setzten. Damit wird durchaus eine „kontingente Gewissheit“ ermöglicht und zwar so, dass Bekenntnisse und theologische Lehrstücke ihre Bestimmung erfüllen sollten (Schneider-Flume). Bizer formuliert im Blick auf das kirchliche Credo: Das sprechen wir nicht, weil es Ausdruck unserer inneren Gestimmtheit ist, nicht weil wir’s glaubten, sozusagen, – sondern weil wir’s nicht glaubten, aber uns durch solches Sprechen eines väterlichen Gottes versichern, der alle Höhen und Tiefen, mörderischen Kriege und Sündenlast umgreift – und so unseren Raum und unsere Zeit auf sich und sein Kommen bezieht.83
So auch Gollwitzer, der sagt: „Wer mit der Kirche Credo sagt, referiert nicht über das, was an Erfahrungen und Erkenntnissen in ihm vorhanden ist, sondern sieht sich durch den Eindruck der Verkündigung dazu veranlasst, genötigt und berechtigt mitzusprechen, was er von sich aus noch nicht sagen kann, was noch über und vor ihm liegt, worauf er aber freilich schon aus ist.“84 Da der Glaube recht betrachtet keine menschliche Option ist, sondern ganz und gar Geschenk und Gabe Gottes, kommt es immer wieder darauf an, Christi Lehre und unsere christlichen Lehren sorgsam zu unterscheiden und die Aussagen der Glaubenden immer neu am Zeugnis des Evangeliums zu prüfen.85 Ausgangspunkt und Anhalt für den Glauben ist nicht das religiöse Individuum „[…] oder das mehr oder weniger gläubige Subjekt, sondern allein der im Evangelium bezeugte κύριος Jesus, der Glauben provoziert und Glauben schenkt, die Relation des Glaubens prägt und auch der Sache nach bestimmt.“86 In der Konversation kann eine Herrschaft der Authentizität erkannt werden, wie sie etwa auch Jean-Marie Donegani als Herausforderung (für die katholische Kirche) benennt: „Diese subjektivistische und relativistische Färbung des Glaubensvollzugs führt dahin, den wesentlichen Wert, der das religiöse Uni83 Bizer, „Die Frage nach dem allgemeinen Priestertunm aller Gläubigen und der Unterricht in einem reformatorischen Katechismus“ (1993), 310. 84 Gollwitzer, Von der Stellvertretung Gottes (1967), 62. 85 Christian Möller weist auf die Bedeutung und Notwendigkeit dieser Unterscheidung hin. Möller, Wovon die Kirche lebt (1980), 67. 86 Häuser, Einfach vom Glauben reden (2010), 272.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
versum ordnet, nicht mehr in der Wahrheit zu sehen, sondern in der Authentizität.“87 Er sagt weiter: „Die Authentizität als Wert gibt die Idee einer objektiven Wirklichkeitserkenntnis auf und setzt die Erfahrung des Subjekts an die erste Stelle, die immer schon sprachliche Realität ist. Es geht weniger darum, sich einem Glauben anzuschließen, als eine Erfahrung damit zu machen.“88
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft 2.3.1 Emergente Gemeinschaften als posttraditionale Vergemeinschaftung Emergente Vergemeinschaftungen greifen mit ihren Organisationsformen relevante Entwicklungen im Bereich der Vergemeinschaftung in der Gegenwart auf. Kleine, flexible, organische Gemeinschaften geben Raum für individuelle Gestaltung und gleichzeitig Partizipationsmöglichkeiten und sind damit im 21. Jahrhundert von großer Bedeutung.89 Die „Emerging Church“-Gemeinschaft agiert damit vergleichbar mit einer Neuen Religiösen Bewegung im religiösen Feld.90 Daneben greifen emergente Protagonisten Impulse auf, die sich auf punktuelle und lebensgeschichtlich angeleitete, fluide Weggemeinschaften beziehen.91 Emergente Vergemeinschaftungen stellen in diesem Sinn Orte „post-traditioneller“ Vergemeinschaftung dar, da es sich um Sozialität handelt, die man bewusst aus Alternativangeboten wählt und wieder verlässt, sobald der Zweck für diese Weggemeinschaft erfüllt ist. Emergente Gemeinschaften bieten in die87 Donegani, „Säkularisierung und Pastoral“ (2012), 58. 88 A. a. O. Für eine einführende Betrachtung zum Begriff „Authentizität“ und pastoraltheologischen Herausforderungen siehe Kreutzer / Niemand, Authentizität (2016). 89 So auch anglikanischer Bischof Steven Croft: „In the twentieth century, such small communi�ties were desirable but not essential. In the twenty-first century such communities are now a requirement if the church is both to maintain and develop its common life.“ Croft, Transforming Communities (2002), 101. Doch schon in den ökumenischen Debatten der 1950–1980er Jahren wurde der Hinweis gegeben, dass Menschen nicht mehr parochial, sondern zonal beziehungsweise regional leben und Gemeinde dem entsprechen müsse. Herbst, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche (2010), 184–186. 90 Karl Gabriel sagt zu Neuen Religiösen Bewegungen: „Gemeinsam ist ihnen eine starke Erfahrungsorientierung und die Sozialform als Bewegung jenseits der bestehenden institutionellen Formen der Religion.“ Gabriel, „Neue Religiöse Bewegungen in der westlichen Welt“ (2010), 333. 91 „Das fließende Dazugehören ist ein Merkmal der spätmodernen europäischen Gesellschaft.“ Lienemann-Perrin, „Konversion im interreligiösen Kontext“ (2004), 224.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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ser Hinsicht eine Gelegenheitsstruktur für die Entstehung starker Bindungen an. Zudem ist es den Individuen trotz situativer Vereinnahmung möglich, die Verbindlichkeit zur Gemeinschaft zu steuern. Die Verbindungen sind keinesfalls unverbindlich, sondern, wie Madsen formuliert, „tight but brittle“92. Dem Einzelnen bleibt es überlassen, wie umfassend er seine Lebensführung von der Konversation und der Vergemeinschaftung beeinflussen lässt. Dies wird in besonderer Weise durch die Online-Möglichkeiten gestützt. Gleichzeitig sind „post-traditionale Gemeinschaften“ ein „Durchgangsphänomen“.93 Aus den bisherigen Erkenntnissen mag es fruchtbar sein, die Verortung emergenter Protagonisten in der Konversation nicht als permanente neue Position im religiösen Feld und Ausdruck einer neuen christlichen Existenz zu verstehen, sondern als Übergangsort oder Schwellenzustand christlicher Existenz. Ein solcher Schwellenzustand bildet damit einen Ort „des Dazwischen“ ab. Turner verwendet dafür den Begriff „Liminalität“. Dieser Begriff kann im Hinblick auf dekonversive Merkmale und Phasen und der Veränderung der religiösen Orientierung auf die Konversation übertragen werden.94 Wenngleich ein solcher „Schwellenort“ zu würdigen ist, da er verhindert, dass religiöse Subjekte im religiösen Feld unsichtbar werden,95 ist doch darauf hinzuweisen, dass die „Emerging Church“-Konversation als Schwellenort konstruktive und stabilisierende Impulse benötigt, um den Protagonisten eine „religiöse Neuorientierung“ zu ermöglichen. Obwohl es noch keine empirischen Langzeitstudien gibt, die dies belegen, gilt für die Konversation, wie für Neue Religiöse Bewegungen, dass sie für Protagonisten nur als „pass through organizations“ eine Rolle spielt und spielen wird.96 92 Richard Madsen, „The Archipelago of Faith“ (2009), 1287. 93 Lorne Dawson weist darauf hin, dass Neue Religiöse Bewegungen einerseits von Menschen aufgesucht werden, die keinerlei religiöse Vorbildung haben und andererseits von Menschen, die aus einem strengen religiösen Elternhaus kommen. Dawson, „Who Joins New Religious Movements and Why“ (1996), 149–150. 94 Es ist durchaus denkbar „Liminalität“ auf die Konversation zu übertragen, da „Liminalität“ ein universelles Konzept ist. „Liminalität“ gehört ebenso zum alltäglichen Erlebnissen wie zu speziellen Übergängen. Thomassen dazu: „Liminality reminds us of the moment we left our parents’ home, that mixture of joy and anxiety, that strange combination of freedom and homelessness […].“ Thomassen, Liminality and the Modern (2014), 4. An dieser Stelle sei auf das Forschungsdesiderat hingewiesen, die „Emerging Church“-Konversation im Hinblick auf Turners Theorie genauer zu durchleuchten. 95 Vgl. Packard, The Emerging Church (2012), 137. 96 Beckford, Cult Controversies (1985), 190. Die Mehrzahl derjenigen, die Neuen Religiösen Bewegungen beitreten, verlassen diese nach rund zwei Jahren wieder. Richardson, „A Critique of ‚Brainwashing‘ Claims About New Religious Movements“ (2007). Das Durchschnittsalter der Mitglieder liegt meist unter dem etablierter Religionsgemeinschaften. Hinzu kommt, dass viele Mitglieder die Gemeinschaft wieder verlassen, wenn sie ein mittleres Alter erreicht haben. Zeitaufwand und Verpflichtungen innerhalb der Neuen Religiösen Gruppe sind meist hoch,
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
2.3.2 Das Verhältnis von Individualität und Sozialität Wie verhalten sich nun Individualität und Sozialität zueinander? In dieser Arbeit wurde bereits mehrfach betont, dass die „Emerging Church“-Konversation eine Bewegung ist, in der Protagonisten ausgehend von individuellen religiösen Klärungsprozessen für gewisse Etappen dieser Klärung eine situative, – durchaus verbindliche – lebensgeschichtlich relevante Vergemeinschaftung suchen und in Anspruch nehmen. Damit ist die Konversation für Menschen in vergleichbaren religiösen Transformationsprozessen attraktiv. In dieser Hinsicht zeigt sich ein Zusammenspiel von Individualität und Sozialität, das jedoch von individuellen Bedürfnissen gesteuert ist. Eine Problemanzeige ist dort nötig, wo es Anzeichen eines religiösen Konsumverhaltens gibt. Ganiel und Marti verneinen dies aufgrund ihrer Untersuchung und betonen, dass in diesen Gemeinschaften kein „individueller Narzissmus“ gefördert werde, der einem religiösen Konsumverhalten gleiche.97 Ganiel und Marti ist an dieser Stelle zu widersprechen. Wie bereits dargestellt wurde, weist die „Emerging Church“-Konversation, in Fortführung von „Megachurch“-Ansätzen – und eben nicht, wie proklamiert in Abgrenzung davon –, Individualität, Subjektorientierung und postmoderne Wahlmöglichkeiten programmatisch auf. Damit widerspricht sie nicht einem religiösen Konsumverhalten, sondern setzt dieses fort und übersetzt dieses in Chiffren wie „Authentizität“ oder „Spiritualität“. Es ist das selbstbestimmte Subjekt, im Fall der Konversation das zweifelnde, in Anteilen dekonversive Subjekt, das sich um Relationalität und um für das Individuum „angenehme“ Sozialität bemüht („kooperativer Egoismus“). Das widerspricht einer Sozialität, die sich, theologisch gesprochen, als Koinonia zeigt. Koinina ist eine Gemeinschaft, die durch das verkündete Wort Gottes entsteht und nicht aufgrund gemeinsamer Interessen.98 Mit dem in der Konversation häufig vorkommenden Begriff „Partizipation“ wird das Individuum als letzte Instanz der Deutung und Ausrichtung der eigenen Partizipation bestimmt. In der Konversation vermisst man die Thematisierung der Verhältnisbestimmung beider Seiten.
sodass durch Veränderung der Lebensumstände wie Familiengründung und Karriere ein Engagement nicht mehr möglich ist. Dawson, „Who Joins New Religious Movements and Why“ (1996). 97 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 35. Ganiel und Marti dazu: „[…] Emerging Christians see their congregations as places that affirm their own identities.“ A. a. O., 55–56. 98 Vgl. zu einer ausführlichen Koinonia-Darstellung Abschnitt IV Kapitel 2.3.3 Partizipation als Grundprinzip emergenter Relationalität.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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Konkret ist die Verhältnisbestimmung zwischen Individualität und Sozialität dort problematisch, wo das Schriftverständnis an subjektivem Empfinden festgemacht wird. Dies ist nach den hier angeführten Überlegungen ebenso zu problematisieren99 wie eine Hermeneutik, die sich ausschließlich um die Zusammenführung und Harmonisierung subjektiver Anschauungen bemüht (in diesem Zusammenhang „Hermeneutik der Gemeinschaft“ genannt).100 Im Hinblick auf eine Fokussierung auf den Einzelnen in der Auslegung liegt die Gefahr nahe, dass es das Individuum selbst ist, das den Text durch dessen Zuwendung erst produziert. Mit Ulrich Körtner kann dagegen gehalten werden, dass „das extra nos Christi, auf welchem die Reformatoren so sehr insistiert haben, hinfällig zu werden [scheint].“101 So bleibt daran festzuhalten, dass die biblischen Texte als „medium salutis“ deshalb „Glauben provozieren“102 können, weil „Gott […] ‚hinter dem Text‘ als gegenwärtig redendes Subjekt“103 angenommen werden kann. Außerdem muss kritisiert werden, dass der theologische Anspruch, dass die Bibel „norma normans“ des christlichen Glaubens ist, unterbestimmt ist.104 Mit Blick auf eine vermeintliche „Hermeneutik der Gemeinschaft“ (sowie eine organische gemeinschaftliche Leitung) wird in der Konversation deutlich, dass charismatische Entrepreneure und aus der Not geborene pragmatische Ansätze deutlicher dominieren, als die idealisierten Wünsche vermuten lassen. Schließlich muss auf eine Schwäche im Entscheidungsfindungsprozess emergenter Gemeinschaften hingewiesen werden. Sie ist dort zu verorten, wo es um die konkrete Umsetzung geht. In der „Emerging Church“-Konversation wird nicht deutlich, wie eine Gemeinschaft beispielsweise ihr gemeinschaftliches Bibelverständnis
99 In diesem Kontext taucht die Phrase „scipture is ‚personified‘“ auf und fasst den Zugang zum Schriftverständnis ausgehend vom Individuum zusammen. Karen Ward in Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 168. 100 John Bohannons Kritik ist zuzustimmen, wenn er sagt: „If McLaren and Pagitt choose to deny this vintage truth about Scripture, then it is likely that ‚thus says the Lord‘ may shift to ‚thus says the people‘ or ‚It is written‘ will turn into ‚I / we have written‘.“ Bohannon, Preaching & The Emerging Church (2010), 178. Der Blick auf das Individuum und dessen Erfahrung mit dem Text sind wertvoll. Das Wechselverhältnis von Text und Leser kann jedoch nicht belieg sein, sondern wird durch den Text gesteuert, sodass der im Text angelegte „implizite Leser“ mit dem realen Leser ins Verhältnis tritt. Diese Debatte findet sich im deutschsprachigen Raum in Überlegungen einer rezeptionsästethischen Hermeneutik. Vgl. dazu Moldenhauer, Praktische Theologie der Bibel (2018), 53–58. 101 Körtner, Der inspirierte Leser (1994), 109. Im Blick auf den US-amerikanischen Evangelikalismus hat dies auch Grenz formuliert: Franke / Grenz, Beyond Foundationalism (2001), 57–92. Grenz, Renewing the Center (2006), 61–92. 102 Moldenhauer, Praktische Theologie der Bibel (2018), 54. 103 A. a. O., 56. 104 A. a. O., 55.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
entwickeln soll.105 So ist zu vermuten, dass letzten Endes auch hier einige Wenige großen Einfluss auf die hermeneutischen Entscheidungen einer Gruppe haben – dies aber weder transparent ist noch offen ausgesprochen wird. Der Gefahr, dass Einzelne sich „durchsetzen“, aber auch der Gefahr religiöser Konsumstrukturen kann dadurch entgegengewirkt werden, dass eine Gemeinschaft sich einer Tradition, Bekenntnissen und einer strukturellen Kirchengemeinschaft verpflichtet weiß und darin in eine Rechenschaftsstruktur eingebettet ist. Im Blick auf subjektive Anschauungen und bedürfnisorientierte Praktiken müssen christliche Gemeinschaften und gottesdienstliche Ausdrucksformen einer doppelten Prüfung unterzogen werden. a) Neben der berechtigten Bedeutung und Frage von Relevanz gottesdienstlicher Ausdrucksformen und dem Auftrag der Kontextualisierung gilt zu bedenken: Das Evangelium (als Wort vom Kreuz) und der gekreuzigte Christus rufen beim Menschen Widerstand hervor. Das Skandalon des Kreuzes bleibt bestehen. Von diesem Widerständischen her müssen subjektive Bedürfnisse und eine Orientierung an der Relevanz für das Gegenüber auch geprüft werden. Dem Evangelium liegt ein Widersprechen inne, d. h. es muss neben der Anschlussfähigkeit stets danach gefragt werden, in welcher Hinsicht individuellen Bedürfnissen vom Evangelium her widersprochen wird und zur Umkehr aufgerufen wird. Eine kreuzestheologisch geformte christliche Sozialität und daraus resultierende Praktiken beinhalten damit einen Widerspruch zu gegenwärtiger Relevanz- und Bedürfnisorientierung – selbstverständlich ohne dabei den Anschluss an Fragen der Zeit zu verlieren. So kann dem vormaligen emergenten Protagonisten Jason Clark zugestimmt werden, dass Kontextualisierung, die dem Gegenwärtigen und damit auch den Bedürfnissen in keiner Form widerspricht, ungenügend ist.106 b) Kritisch muss nachgefragt werden, was die Grenzen der Individualität innerhalb christlicher Gemeinschaften (beispielsweise mit auf Blick auf die Verbindlichkeit und Verantwortung religiösen Traditionen gegenüber) sind.107 105 Jason Clark spricht von einer „paralysis of leadership“, die dadurch entstehe, dass vielfältige Kommunikationsvorgänge konkrete Entscheidungsprozesse verhindern. Clark, „Via media“, 105–107. 106 Clark meint: „With this in mind, we can consider what kind of church leads to cruciform identity, to the unmasking and undoing of the myth of individualism that consumer liturgical formation produces; what kind of church leads instead to an exchange of stories, replacing fictions of self-creation with the true story of life lived in Jesus with others?“ Clark, „Consumer Liturgies and Their Corrosive Effects in Christian Identity“ (2011), 53. 107 Scott Thumma führt an, wohin eine individualisierte Religiosität führen kann: „They implicit�ly follow their horoscope, learn ‚truth‘ from the Da Vinci Code, hold to a ‚prosperity gospel‘ taught by television preachers, practice yoga, explore Native American spiritualitiy at Borders,
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In der „Emerging Church“-Konversation scheint diese Frage nur situativ und auf die jeweilige Vergemeinschaftungsform hin beantwortet werden zu können. Vereinzelt zeigen sich Grenzen im Blick auf Verbindlichkeit und Verantworung in Gemeinschaften innerhalb verfasster Organisationen und Kirchen durch festgelegte Zugänge zum hauptamtlichen Dienst (Amtstheologie) oder durch den Bezug auf Bekenntnistraditionen. Gleichzeitig wird deutlich, dass Stimmen innerhalb emergenter Gemeinschaften, die beispielsweise die Freiheiten bezüglich moralischer Urteilsfindung als Unbestimmtheit oder Verlust der Grenzen formulieren, selten sind.108 Der Konversation fehlt eine Selbstbegrenzung und Debatte über Korrekturen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich viele Hinweise zeigen, die die berechtigte Frage aufkommen lässt, ob Menschen sich von emergenten Gemeinschaften angezogen fühlen, weil sie ihre Individualität ausleben können. Nach den bisherigen Ausführungen wird dies bejaht. In der „Emerging Church“-Konversation zeigt sich also einerseits eine individuell gesteuerte Relationalität, die dem zweifelnden Subjekt in besonderer Weise Selbstbestimmung und Selbstentfaltung ermöglicht. Andererseits gefährdet – bis hin zu untergräbt – ein solches Verständnis ein theologisch skizziertes Verständnis von Individualität und Sozialität.
2.3.3 Partizipation als Grundprinzip emergenter Relationalität Die für die Konversation konstitutive Forderung nach Partizipation in allen Bereichen gemeindlicher und christlicher Existenz ist besonders im Hinblick auf die beschriebenen dekonversiven Anteile emergenter Subjekte beachtenswert. Es erscheint eine eigentümliche Ausprägung der „Emerging Church“-Konversation zu sein, dass zweifelnde Personen als durchaus aktive, kommunikative religiöse Subjekte in den Blick kommen. Dieser Schwerpunkt in der „Emerging Church“-Konversation widerspricht jenen Ergebnissen in der Dekonversionsforschung, die von einer schleichenden Bewegung weg von einer vormaligen Orientierung sprechen. Demgegenüber reihen sich emergente Protagonisten dort ein, wo von einer aktiven Gestaltung der religiösen Orientierung in der Dekonversion gesprochen wird. Zunächst zur, für zweifelnde Subjekte, positiven Wirksamkeit der Partizipation: Die Begabung Einzelner aufgrund des Priestertums aller Gläubigen wird in jener Hinsicht ernst genommen, dass sowohl in der Konversation als auch in burn incense, wear crystals, and chat in the interfaith rooms on Beliefnet.“ Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 204. 108 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 186–187.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
emergenten Gemeinschaften im gottesdienstlichen Leben, in der Verkündigung sowie in der Dienstgemeinschaft die Möglichkeit besteht, dass Einzelne mitgestalten. Darüber hinaus werden Versammlungsorte, liturgische Abläufe und Entscheidungsprozesse in Gemeinschaften dahingehend strukturiert, Partizipation zu ermöglichen. In der Konversation werden wesentliche Debatten geführt zu den Aufgaben von „religious professionals“ und in welchem Verhältnis Ehrenamtliche zu ihnen stehen.109 Im Hinblick auf dekonversive Anteile religiöser Identitätsbildung ist zu würdigen, dass Menschen eine Glaubens- und Weggemeinschaft geboten wird, wo dies in der vormaligen Gemeinschaft oder in anderen Formen möglicherweise nicht zustande gekommen wäre. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass der Ausgangspunkt einer solchen Gemeinschaft das Individuum mit seinen Bedürfnissen und seiner Biografie ist. Der bereits aufgegriffene Begriff „kooperativer Egoismus“ macht deutlich, dass das Merkmal der Subjektivierung unkritisch in emergenten Gemeinschaften verwirklicht wird – dies gilt für die Konversation gegen Ende der zweiten historischen Phase und für die „revisionist“-Strömung. Obwohl Robert Webber noch 2007 betont: „From the perspective of the emerging church and the younger evangelicals, a Christianity shaped primarily on need, private interest, and self misses the point of a biblical and historic Christianity“110, wird besonders in der dritten historischen Phase der Ausgangspunkt der Subjektorientierung (und die damit verbundene Interessens- und Sympathiegemeinschaft) deutlich. Dies wird auch bei dem Stichwort „spiritual formation“ in emergenten Gemeinschaften deutlich, wo dies nicht rückgebunden ist an dogmatische und biblische Lehraussagen, Inhalte und Bekenntnisse. Einige Protagonisten in der „Emerging Church“-Konversation konstruieren einen Gegensatz zwischen Gemeinschaft und Lehre, der zugunsten der Beziehung aufgelöst wird. Ein solches Spannungsfeld ist aufgrund der Abgrenzung zu vormaligen Erlebnissen im Evangelikalismus (oder anderen Frömmigkeitsrichtungen) unter seelsorglichen Aspekten nachvollziehbar. Dennoch ist ein solcher Gegensatz aus theologischen Gründen abzulehnen und es ist zum wiederholten Mal darauf zu verweisen, dass christliche Gemeinschaft sich erst durch das Angesprochensein durch den dreieinigen Gott etabliert. Ungeklärt scheint, wie Einzelnen auf didaktischer oder struktureller Ebene der Zugang zur Partizipation ermöglicht wird, beziehungsweise, welche Stufen und Grenzen der Beteiligung es gibt sowie geben sollte. Während an vielen Stellen
109 Packard, „Resisting Institutionalization“ (2011), 13. 110 Webber / Burke u. a., Listening to the Beliefs of Emerging Churches (2007), 15.
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der Weg der Beteiligung für Leiter über Qualifikation und Ordnungen (Amt) kritisiert und abgelehnt wird, schlägt das Pendel in Beteiligungsformen aus, die situativ, spontan und vorübergehend („liquid“) sind. Konstruierte Gegensätze wie „called to“ vs. „called by“ lassen dabei Gräben entstehen, die in verfassten religiösen Organisationen durchaus bedacht und gelöst wurden.111 Untersuchungen wie jene von Ganiel und Marti, zeigen, dass es zu „pragmatischen“ Lösungen kommt und letztlich zeitliche Ressourcen ausschlaggebend werden. Es zeigt sich, dass es häufig die verbindlichen (und angestellten) Mitarbeiter und Leiter sind, bei denen sich schließlich Autorität und Macht sammelt.112 Der Wunsch, dass jeder und jede partizipieren und gleichberechtigt mitgestalten und mitbestimmen kann, widerspricht den konkreten Möglichkeiten und Begrenzungen. Konkret scheitert dies beispielsweise an dem hohen Kommunikationsbedarf, den emergente Gemeinschaften haben, oder auch an den Zeiten, in denen Angebote zur Verfügung stehen. In Anbetracht des Ideals gemeinschaftlicher Leitung müssen sich Gemeinschaften in der Bewegung der Kritik stellen, dass, obwohl organische Leitung und Team-Leitung propagiert werden, emergente Gruppen und Gemeinschaften oftmals von dem Ruhm und dem Einfluss einzelner Akteure leben.113 Zuletzt bedarf der Ermöglichungsgrund der Partizipation genauerer Betrachtung. Der Mensch vor Gott ist nicht dazu berufen, den Glauben für sich alleine zu empfangen und nach subjektiver Anschauung fruchtbar werden zu lassen, sondern der Glaube stellt den Menschen unmittelbar in eine neue Gemeinschaft („koinonia“). Damit ist nicht nur eine neue Zugehörigkeit festgelegt, sondern auch eine neue Verbindlichkeit. Der Glaube ist demnach ein nach innen verbindendes und nach außen abgrenzendes Kennzeichen. „Koinonia“ wird zur Charakterisierung des Gemeinschaftslebens der Kirche verwendet114 und findet 111 Vergleiche dazu etwa den Interviewleitfaden der „Church of England“ für angehende Pasto�ren. The Archbishops Council (Hg.), Criteria for Selection for the Ordained Ministry in the Church of England (2014). 112 Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 122. 113 Leonard Sweet etwa kritisiert: „In spite of all the talk of teamwork, can you name me one Emergent ‚team‘? Can you name one emerging church that is nor pastored by a strong image or striking personality? In spite of all the egalitarian, communal ideals, when the rubber hits the road, Acts 4:32 crashed head-on with the power of celebrity dynamism.“ Sweet, The Gos�pel According to Starbucks (2007), 119. Vgl. auch Raschke / Smith, GloboChrist (2008), 160. 114 Das Wortfeld findet sich im NT vorwiegend bei Paulus, besonders in der von Paulus beeinflussten Briefliteratur. Hainz, Art. „koinonia“ (1992), 751. Paulus interpretiert den in hellenistischer Umwelt des Urchristentums vorkommenden Begriff, der eine freiwillige Assoziation mit einer „gesellschaftlichen, geschäftlichen, berufsständischen oder religiösen Zielsetzung“ meint, durch die christliche Botschaft neu. Schwöbel, Art. „Koinonia“ (2001), 1477. Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 397.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
ihre Begründung im Wesen und Wirken des dreieinigen Gottes.115 „Koinonia“ beschreibt ein Gemeinschaftsverhältnis: Gemeinschaft mit jemandem durch die Teilhabe an etwas.116 Sie findet ihre Begründung in der Gabe Gottes, die die Bedingungen der Gestaltung der „koinonia“ als Aufgabe der Gemeinde hat.117 Die Gabe Gottes als trinitarisches Sichgeben Gottes, als die „missio Dei“, „[…] ermöglicht die Erkenntnis des göttlichen Wesens, Willens und Werkes in seinem Charakter als unaussprechliche Liebe, die darauf abzielt, die Glaubenden zu Gott zu bringen.“ Schwöbel sagt weiter: „Die Gotteserkenntnis vollzieht sich als das Zu-sich-bringen der Glaubenden durch Gott. Dieses ‚Zu-sich-bringen‘ ist der
115 Schwöbel, Art. „Koinonia“ (2001), 1477. Der Begriff hat im AT kein unmittelbares Äquivalent, ist aber in der Bibel allgegenwärtig. Wenz, Kirche (2005), 141. Luther entfaltet im Großen Katechismus „communio“ als Gottes Sichgeben. Das trinitarische Sichgeben Gottes ist die Bedingung der Möglichkeit und der Inhalt des Glaubens, der zum Halten der Gebote befähigt. „Koinonia“ entfaltet sich ausgehend von einem Gottesverständnis „in dem Gottes Sein als Sein in Koinonia verstanden wird“. Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 391. „Diese trinitätstheologische Grundlegung des Verständnisses der Kirche muss nach Zizoulas christologisch präzisiert werden, insofern die Person Jesu Christi in ihrem Sein durch die Koinonia des Geistes konstituiert ist. Diese pneumatologische Christologie bestimmt insofern die christologische Basis der Ekklesiologie. […] Durch den Begriff der Koinonia wird so eine relationale Beschreibung von Identität, Struktur, Autorität und Sendung der Kirche ermöglicht.“ A. a. O. Wie dieser Begriff für die Beschreibung der Beziehungen der ökumenischen Gemeinschaft der Kirchen verwendet wird, soll an dieser Stelle nicht ausgeführt werden. Siehe dazu Wenz, Kirche (2005), 138–152. Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 388–390. 116 Hainz dazu: „[…] koinonia ist bei Paulus Bezeichnung für verschiedene Gemeinschaftsverhältnisse, die durch (gemeinsames) Anteilhaben entstehen und sich als (wechselseitiges) Anteilgeben und Anteilnehmen darstellen.“ Hainz, Art. „koinonia“ (1992), 751. „Es ist ein allen neutestamentlichen Überlieferungen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen gemeinsames Merkmal, dass sie das Evangelium von Jesus Christus, das Geschehen der Gerechtigkeit und Heil schaffenden Nähe Gottes in Wort, Werk und Person Jesu, nie ohne Bezug auf ein durch dieses Geschehen ermöglichtes und gefordertes Sozialleben zur Sprache bringen.“ Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 394. 117 Schwöbel weiter: „Dabei wird in diesen Konzeptionen die Koinonia, in ihrer Beziehung von Gottesverhältnis und Verhältnis zum Nächsten in der Gemeinde, als direktes Implikat des Evangeliums betrachtet. […] Koinonia dient so zur Bezeichnung der Sozialgestalt des in diesem Evangelium begründeten christlichen Glauben.“ Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 403. Der selige Tausch zwischen Christus und dem Gläubigen wird fortgesetzt unter den Gliedern am Leib Christi. Gestrich nennt es eine „nicht länger hinzunehmende Unterforderung der Mitglieder der Kirche“, „wenn von ihnen nicht erwartet wird, sich regelmäßig persönlich zur Verfügung zu stellen, um zusammen und entlastend ‚einzuspringen‘ zugunsten von Menschen / Geschöpfen, die Opfer wurden oder die zu Opfern zu werden drohen. Mit einer solchen Erwartung wäre die Kirche attraktiver und glaubwürdiger. Ja, nur so ist sie Kirche. Nur so wird ihre Bereitschaft zur Sündenvergebung stimmig. Nur so vermag Sündenvergebung ihre heilsame Wirkung ganz zu entfalten. Und so geschieht auch Gemeindeaufbau.“ Gestrich, Die Wiederkehr des Glanzes in der Welt (1989), 372.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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Inhalt des ‚Heiligens‘, des Werkes des Heiligen Geistes, in dem die geschöpfliche Bestimmung des Menschen zum Ziel kommt.“118 Sie ist insofern exklusiv, als sie jede Beteiligung am Götzendienst ausschließt (1Kor 10,14 ff.). Dabei umfasst sie alle Lebensbereiche der christlichen Gemeinde und des Lebens.119 Sie ist Bestimmung und Aufgabe zugleich (Gal 6,6; Röm 15,25.27b) und verbindet sich mit einem ethischen Anspruch, beispielsweise als „wandeln im Licht“ (1. Joh 1,7).120 Schwöbel dazu: „Die Gabe der koinonia definiert die Aufgabe eines Lebens in der koinonia.“121 Es werden verschiedene Gemeinschaftsverhältnisse der Christen untereinander aufgezeigt, etwa die Teilhabe am Glauben (Phlm 6), Teilhabe am Evangelium und in dem Dienst für das Evangelium (Phil 1,5) oder etwa das Verhältnis zur Muttergemeinde in Jerusalem als Schuldverhältnis.122 Was soeben biblisch-theologisch skizziert wurde, lässt viele Anliegen der emergenten Debatten anklingen, jedoch mit einem wesentlichen Unterschied. Der Unterschied liegt in der Reihenfolge der Gemeinschaftsbildungen. Die Aufgabe der „koinonia“ in allen Lebensbereichen ist abgeleitet von der Teilhabe an dem Sich-Geben Gottes, das nach CA VII mit der Wortverkündigung und der Sakramentsverwaltung bestimmt ist. Jeder Versuch,
118 Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 413. 119 Harnack verweist darauf, dass eine solche religiös-soziale Gemeinschaft das ganze Privatleben umfasst hat und „[…] auf griechisch-römischem Boden u.W. etwas Unerhörtes und Neues [war]. […] die das ganze Leben bestimmende Konfession fehlte – […] welche die Glaubensgenossen aller Stände in einer Stadt auf das engste zusammenschloß, lebenslängliche Zugehörigkeit als selbstverständlich voraussetzte, ihren Mitgliedern nicht nur eine einmalige oder wiederholte Weihe gewährte, sondern sie täglich zusammenband, ihnen Tag um Tag geistige Güter zuführte und Verpflichtungen auferlegte, sie ursprünglich täglich, dann wöchentlich versammelte, sie gegen andere abschloß, sie in einem Kultverein, einem Unterstützungsverein und einem Orden zu bestimmter Lebensführung vereinigte und sie lehrte, sich als die Gemeinde Gottes zu betrachten.“ von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten (1924), 447. Vgl. dazu auch Koch, Geschichte des Urchristentums (2014). 120 Zum Verhältnis von göttlicher und menschlicher „koinonia“ sagt Wenz: „Hinzuzufügen ist, dass das Verhältnis von göttlicher Trinität und kirchlicher, auf Menschheit und Welt in ihrer Gesamtheit ausgerichteter ‚koinonia‘ allerdings verkannt wäre, wenn es lediglich oder auch nur primär im Sinne imitativer Nachahmung gefasst würde. Göttliche und menschliche ‚koinonia‘, wie sie in der gottmenschlichen Gemeinschaft, die Jesus Christus in Person ist, auf alles weitere fundierende Weise koinzidieren, verhalten sich vielmehr wie im Glauben wahrzunehmender Grund und jene gehorsame Folgsamkeit, zu welcher das christliche Denken und Handeln – seinem Glaubensgrund entsprechend – verpflichtet ist.“ Wenz, Kirche (2005), 143. 121 Schwöbel, Art. „Koinonia“ (2001), 1478. 122 Hainz dazu: „Die Kollekte ist eine Konkretion des bestehenden Gemeinschafts- und Schuldverständnisses […].“ Hainz, Art. „koinonia“ (1992), 755. Er sagt weiter: „Ausgetauscht werden also ungleiche Güter, aber im Austausch selbst zeigt sich das Stehen zur koinonia, die Anerkennung des bestehenden Gemeinschaftsverhältnisses, bei dem die Teilhabe zur Teilgabe verpflichtet.“ A. a. O., 752.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Teilhabe von einer solchen Ableitung und einer solchen „zweiten Ordnung“ zu lösen, müsste dem Verdacht erliegen, zwar ein sozialer Zusammenschluss von Menschen zu sein, jedoch keine „Koinonia“ zu sein.
2.3.4 Verkörperung und Verkündigung In der Konversation kommen emergenten Vergemeinschaftungen, als sogenannte Verkörperungen des Evangeliums, herausragende Rollen zu. Die Plausibilität des Evangeliums wird an die kontextuell gelebte Authentizität des gemeinschaftlichen Umgangs sowie die individuelle Relevanz gebunden. Die Verkörperung des Evangeliums, die Betonung christlichen Lebens als „embodyment“, ist insofern zu befürworten, als der christliche Glaube, etwa durch seine Sozialität und seine ethische Unterscheidbarkeit, einen eminent öffentlichen und missionarischen Charakter hat. Durch die Verkörperung des Glaubens und eine sichtbare alternative Gemeinschaft entwickelte und entwickelt der christliche Glaube weiterhin eine Attraktivität.123 In dieser Hinsicht ist eine solche Gemeinschaft Dienst- und Zeugnisgemeinschaft. Selbstverständlich spielt die zwischenmenschliche Beziehung als Medium für das Kennenlernen und Wachsen im Glauben sowie des theologischen Denkens in lernpädagogischer Hinsicht eine wesentliche Rolle. Theologisch begründet wird dies damit, dass der Glaube aus „fidex ex auditu“ – aus dem Reden Gottes bzw. aus dem Hören auf sein Evangelium kommt – und „darum per definitionem eingezeichnet [ist] in ein Gespräch“124. Häuser erläutert weiter: Diesem entspricht und korrespondiert notwendig das Gegenüber zwischen Mensch und Mensch, zum einen, weil Gottes Wort für uns allein durch Menschenmund zum Ausdruck und zur Sprache kommt, zum anderen aber, weil der Auferstandene die Seinen nicht in eine solitäre Gefolgschaft, sondern in die Gemeinschaft von Nachfolgerinnen und Nachfolgern berufen hat […].125
123 Der Neutestamentler Udo Schnelle dazu: „Die gelebte Glaubensrealität in den Gemeinden übte offensichtlich eine große Attraktivität auf Menschen aus sehr verschiedenen Völkern, Kulturen, Ständen und Milieus aus. In einer durch einen griechisch-römischen Ethnozentrismus geprägten Gesellschaft praktizierten die Christen ein Modell der geschwisterlichen Offenheit, Liebe und Gleichheit, das utopische Elemente enthält, grundlegende Wertvorstellungen der Antike hinter sich ließ und neue schuf.“ Schnelle, „Die Attraktivität der frühchristlichen Gemeinde“ (2014), 92. 124 Häuser, Einfach vom Glauben reden (2010), 289. 125 A. a. O.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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Die Grenzen einer solchen Relationalität sind dort, wo der Bezugspunkt zum Evangelium als „verbum externum“ fehlt. Dort wo die Relationalität für sich steht und nicht abgeleitet ist aus dem „verbum externum“ darf sie nicht als „koinonia“ verstanden werden. Weiter ist eine überhöhte theologische Bedeutung der Gemeinschaft erkennbar, wenn von einer Verkörperung oder Repräsentation des Evangeliums gesprochen wird. An dieser Stelle sei auf einen in der Konversation sichtbaren Gravitationsschwerpunkt hingewiesen, nämlich dass emergente Gemeinschaften ihre missionarische Dimension – über die Relationalität – hervorheben (die sich etwa in einer gastfreundlichen Gemeinschaft widerspiegeln soll), jedoch nicht die missionarische Intention zeigen (wie etwa durch Konversionsbemühungen). Im Hintergrund der in dieser Arbeit vorangestellten Überlegungen zum anglo-amerikanischen Evangelikalismus wurde deutlich, dass Heils- und Wohlbemühungen geschichtlich gesehen stellenweise auseinandergedriftet sind. Gleichwohl man der US-amerikanischen und britischen evangelikalen Bewegung in dieser Frage keine uneingeschränkte Rückständigkeit attestieren darf, ist ein Erfolg der Konversation – wie auch anderer Protagonisten vor der Konversation – der Hinweis und das Bemühen, einen integrativen missionarischen Ansatz zu entwickeln. Mit Blick auf emergente Protagonisten und Diskurse in der Konversation, die geprägt sind von einer Auseinandersetzung mit dem Zweifel, lässt sich beobachten, dass auch an dieser Stelle eine problematische Verdiesseitigung stattfindet. Obwohl der Wegfall der Jenseitigkeit (d. h. die Verheißung des Heils motiviert den Glaubenden zum Handeln) aus der Perspektive des Zweifels aus seelsorglichen Gründen nachvollziehbar erscheint – etwa wenn es um die Eigenverantwortung und Selbstbestimmung des religiösen Subjekts geht – geht an der grundsätzlichen Bestimmung des Glaubens etwas verloren. Zudem besitzt der Aspekt der Jenseitigkeit durchaus eine seelsorgliche Perspektive, beispielsweise dann, wenn es dem religiösen Subjekt im Diesseits verschlossen oder unmöglich bleibt, Veränderungen und Prozesse in Gang zu setzen. Die Verdiesseitigung wird durch eine starke Akzentuierung menschlichen Tuns und Verkörperns (sowie einer „Machbarkeit“) ausgedrückt. Eine solche Betonung kann schnell in Gesetzlichkeit führen, die sich entweder durch Überlastung oder in Verzweiflung zeigt. Kritisch ist dabei zu bemerken, dass eine Verkörperung des Evangeliums dazu verleitet, zu meinen, dass sich das Evangelium in einer Gemeinschaft zeigen ließe (und so zu einem verklärten Gemeinschaftsbegriff führe).126 Damit werden zweierlei Problemfelder deutlich macht. Zum einen kann die christliche
126 Mit Eckstein wurde der Gedanke der Selbstsakralisierung des Individuums bereits ausgeführt, der hier analog für die Gemeinscht angewendet werden kann. Siehe Abschnitt IV Kapitel 2.2.4 Die Gottebenbildlichkeit des Menschen.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Gemeinschaft nie von sich aus das Evangelium verkörpern beziehungsweise sich anmaßen, dies tun zu wollen. Jede vermeintliche Verkörperung bleibt bruchstückhaft und wird dem Evangelium im Letzten nicht gerecht. Zum anderen ist die christliche Gemeinschaft immer als „corpus permixtum“ auf das „verbum externum“ angewiesen und wird von ihr abgeleitet und nicht gleichgesetzt. Dieses „verbum externum“ ist es auch, dass die in der Konversation betonte Differenz von vorgelebtem und verkündigtem Evangelium in seine Schranken weist. Das „verbum externum“ bildet die konkrete Gemeinschaft, stärkt und entlastet sie zugleich. Es entlastet von dem Anspruch, selbst das Wort Gottes sein zu können und ruft dazu auf, sich selbst immer wieder daran auszurichten. Schließlich sei aus seelsorglicher Perspektive auf die überhöhte theologische Bedeutung der Gemeinschaft eingegangen. In der Konversation wird nicht deutlich beziehungsweise bleibt unausgesprochen, wie mit Lebensbrüchen oder Scheitern umgegangen wird. Es wird nicht thematisiert, dass dem religiös selbstbestimmten Subjekt die Möglichkeit der Verwirklichung vorenthalten bleiben könnte sowie im Diesseits keine Erfüllung der Vorstellungen möglich sein könnte. Gerade aus dieser Perspektive kann eine jenseitige Dimension christlichen Glaubens seelsorglich hilfreich sein. Das im Leben Vorenthaltene, jenes, das im Diesseits fragmentarisch bleibt – oder schlicht das Bedürfnis nach Gerechtigkeit – lässt sich im Horizont eines Glaubensbegriffs, der auf eine eschatische Hoffnung verweist, fruchtbar deuten. Zuletzt sei der Anspruch, sichtbare Kirche zu sein, vor dem Horizont der reformatorischen Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche zu beachten. Kirche und Gemeinde als Versammlung und als Gemeinschaft der Glaubenden kristallisiert sich heraus in ihrer geistlichen Gestalt in einer erfahrbaren sozialen Gestalt.127 Dennoch gilt: „Die Kirche ist eigentlich eine geistliche Gemeinschaft und als solche unsichtbar und für den Glauben sichtbar. Diese unsichtbare Geistkirche der ‚congregatio sanctorum et vere credentium‘ ist nicht getrennt
Mulligan spricht über „the dark side of community“ und kritisiert einen verklärten Gemein�schaftsbegriff. „Community“ schaffe immer eine Trennung zwischen jenen, die dazugehören, und jenen, die ausgeschlossen sind. Dies gilt es laut Mulligan zu reflektieren und zu gestalten und nicht apriori zu verneinen. 127 Hermelink führt aus, dass die erfahrbare soziale Gestalt durch eine spezielle Praxis, die im Zusammenwirken eines von Gott gewirkten und durch menschliche Praxis bewirkten Geschehen deutlich wird. „Diese Gestalt wird freilich nicht, wie im römischen Katholizismus, durch fixierte Institutionen oder besondere Amtsrollen bestimmt, sondern durch eine spezifische Praxis. […] Konstitutiv ist vielmehr genau dasjenige Geschehen, in dem ihre innere, von Gott gewirkte Seite mit ihrer äußeren, durch menschliche Praxis bewirkte Seite zusammenkommt: CA 7 bezeichnet die Kirche in ihrer verborgenen wie in ihrer sichtbaren Dimension zugleich.“ Hermelink, Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens (2011), 36–37.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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von der in Wort und Sakrament verfaßten sichtbaren Amtskirche, sondern sie ist ihr inne und sie wird von ihr geschaffen.“128 Nach P öhlmann kann zwischen gestaltbarer Form und unverfügbarem Gehalt der Kirche unterschieden werden: „Nicht der Gehalt, aber die Gestalt der Kirche, nicht ihr Inhalt, ihre Form ist demokratisierbar.“129 Mit Pöhlmann kann man jenen Bestrebungen in der Konversation widerstehen, die von einem verfügbaren und auch durch menschlichen Beitrag leistbaren Anteil am wahren Kirchesein sprechen. Die Unterscheidung zwischen verborgener und sichtbarer Kirche ist durchzuhalten und beide Aspekte sind aufeinander zu beziehen.130 Dies bewahrt vor der falschen Vorstellung, dafür verantwortlich zu sein, Kirche verkörpern zu wollen oder zu können. Gleichzeitig gilt, dass es natürlich die erfahrbare Sozialgestalt der Kirche ist, derer es bedarf, um mit Kirche in Kontakt zu kommen. Luther spricht von der Verborgenheit der wahren Kirche131 – und nicht von der Unsichtbarkeit der wahren Kirche.132 Kirche soll mit ihrem Auftrag sichtbar sein, ist aber darin begrenzt, dass sie nicht darüber verfügt, die wahre Kirche sichtbar werden zu lassen. Damit ist auf die Grenze christlichen Tuns und gemeindlicher Aktivität hingewiesen. Im Kontext der Vergemeinschaftungsformen und des Anspruchs der Relationalität in der Konversation verdienen die Überlegungen zur missionarischen Wirksamkeit der Gemeinschaft für jene, die der Kirche fernstehen, gesondert Beachtung.
128 Pöhlmann, Abriß der Dogmatik (1990), 317. 129 A. a. O., 322. 130 Pöhlmann dazu: „Der Unterschied zwischen der ecclesia invisibilis und der ecclesia visibilis ist irrig, da nicht nur das corpus permixtum, sondern auch und gerade das corpus vere credentium sichtbar ist und werden muss.“ A. a. O., 339. So auch Joest, Dogmatik (1984), 531–534. Schwöbel führt aus: „Die ‚Unsichtbarkeit‘ der Kirche bezieht sich auf Gottes Handeln in der Konstitution der Kirche, das als die Macht, eine sichtbare Zeugnisgemeinschaft zu schaffen, selbst unsichtbar ist.“ Schwöbel, „Das Geschöpf des Wortes Gottes“ (2002), 357. Wenz weiter: „Trotz solcher Verborgenheit ist die Kirche keine rein transzendente oder rein spirituelle Größe, also keine ‚civitas Platonica‘; denn ihre Bestimmung ist von der Hör- und Sichtbarkeit der sie kennzeichnenden Zeichenvollzüge in Wort und Sakrament nicht ablösbar, sondern konstitutiv an sie gebunden.“ Wenz, Kirche (2005), 149. 131 AC VII, 5: „Aber die Kirche ist nicht nur ein Verband mit äußeren Aufgaben und Satzungen wie andere Staatswesen, sondern sie ist in erster Linie ein Bund des Glaubens und des Heiligen Geistes in den Herzen, der dennoch äußere Kennzeichen hat, um erkannt zu werden, nämlich die reine Lehre des Evangeliums und die mit dem Evangelium Christi übereinstimmende Verwaltung der Sakramente.“ Zitiert in Wenz, Kirche (2005), 148. 132 Wenz führt aus: „Dabei ist zu ergänzen, dass die Kirche in ihrer geschichtlichen Gestalt nur dann als erkennbar durch die rechte Verkündigung des Wortes und den reinen Gebrauch der Sakramente bestimmt zu gelten hat, wenn sie die Heilsmittel nicht im Sinne lediglich äußerer Riten und der Herrschaftsverfügung überlassener Satzungen, sondern so verwaltet, dass die ‚media salutis‘ als der auf Glauben zielende Grund der Kirche in Geltung stehen.“ A. a. O., 149.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Ein Schwerpunkt emergenter Gemeinschaft, nämlich in nachbarschaftlichen, organischen Kontexten zu wirken (Robert Webber), ist zu würdigen und analog in der fxC-Bewegung beobachtbar. Durch die Konzentration auf lokale Bedingungen gewinnt die emergente Gemeinschaft Relevanz und verhaftet Glaubensüberzeugungen in konkreten Bezügen. Ein weiterer Schwerpunkt emergenter Vergemeinschaftung ist hingegen zurückhaltend zu würdigen. Dabei handelt es sich um die durch Informations- und Kommunikationstechnologien interessengeleitete und lebensgeschichtlich relevante Vergemeinschaftung. Zu problematisieren ist, dass Vergemeinschaftung, die der Versuchung erliegt, sich lediglich über die eigenen Bedürfnisse und den eigenen Bedarf auszutauschen, und dabei den Bezug zu den Anliegen und Fragen des Kontextes verliert, ihr ekklesiales „out“ (Moynagh) ignoriert.133 In der Konversation wird auch in der Frage nach der „Wirksamkeit“ der Gemeinschaft – wie für viele Diskursstränge üblich – anhand von Entgegensetzungen auf „das Neue“ der Konversation hingewiesen. Christliche Gemeinschaften sollen nicht durch Komm-, sondern Geh-Strukturen geprägt sein. Dieses zunächst aus missionstheologischen Beweggründen (besonders in der ersten historischen Phase und bei der „relevant“-Strömung deutlich) formulierte Anliegen erfuhr in der Konversation eine Begründungsverschiebung. Der Versuch in der „Emerging Church“-Konversation „geistliche Konsumstrukturen“ als Grenzen und Gefahren mündigen Christseins zu beschreiben und diesen entgegenzuwirken, ist vor dem Hintergrund operationalisierbarer Glaubens- und Heilswege nachvollziehbar.134 So sind gegen Ende der zweiten historischen Phase und durch die Dominanz der „revisionist“-Strömung Argumentationsmuster zu erkennen, die mündiges Christsein von gemeindlichem Leben lösen und eine pneumatologische Aufladung der Welt – ohne gesonderte Existenzberechtigung der Kirche – erkennen lassen.135 Die von Hirsch und Frost in die Konversation eingetragenen Überlegungen für ein inkarnatorisches Selbstverständnis christlicher Sozialität verlieren in der Konversation an Bedeutung. Problematisch erscheint, dass die Autoren Frost und Hirsch in ihrer Auseinandersetzung zwischen inkarnatorischem und attraktionalem Modell von
133 Zur Ekklesialität siehe im Verlauf dieses Kapitels. 134 Dies ist kein Alleinstellungsmerkmal der „Emerging Church“-Konversation. So wurde bei� spielsweise in der „Willow Creek Community Church“ ein solcher Prozess durch eine Evaluation des Gemeindelebens ebenfalls begonnen. Hawkins, Reveal (2007). 135 Auch hier ließen sich Parallelen zu Diskussion im ÖRK in den 1960er-Jahren ziehen. Vgl. zur ökumenischen Debatte: Herbst, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche (2010), 172–198.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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einem Entweder-oder sprechen.136 Abgesehen davon, dass es aufgrund vergleichbarer Erfahrungen in anderen Bewegungen ein Zusammenspiel beider Modelle braucht,137 schildert der Missionstheologe Michael Moynagh neben den zwei genannten Modellen ein drittes Modell. Damit stimmt er versöhnlichere Töne als die Autoren an.138 Neben der Komm- und Geh-Struktur gibt es ein MittlerModell (genannt „engaged“), welches häufig auf bestehende Gemeinden zutrifft. Dabei wenden sich Christen ihrem Kontext zu („go“) und hoffen, dass die dortigen Begegnungen die kirchlichen Aktivitäten bereichern und befruchten, d. h. dass auch Menschen den sonntäglichen Gottesdienst besuchen. Moynagh weist darauf hin, dass es ein Zusammenspiel und ein Miteinander der drei Modelle braucht.
2.3.5 Exkurs: Hirschs und Frosts Inkarnationsmodell Frosts und Hirschs Modell ist dahingehend zu würdigen, dass jeder Christ „Missionar“, „spiritual friend“ (McLaren) sowie „Zeuge“ sein solle und jede christliche Gemeinschaft eine missionarische Gemeinschaft sein solle, also eine auf dem Glauben fernstehende Personen ausgerichtete Gemeinschaft. Mündiges Christsein wird mit einer Aussage- und Sprachfähigkeit im Glauben gleichgesetzt. Dies wird aufgrund des Priestertums aller Glaubenden und Getauften angemessen, etwa als Zeugendienst, verstanden. Obwohl Frost und Hirsch in der anglo-amerikanischen evangelikalen Tradition stehen und damit beispielsweise der Taufe, im Gegensatz zur Konversion, keine bedeutende Rolle zuschreiben, sind ihre Bemühungen im Kontext der Gestaltung des Christseins nachvollziehbar. Mit dem inkarnatorischen Modell ist der lokale, nachbarschaftliche Bezug christlicher Gemeinschaft und missionarischen Handelns hervorgehoben – als deutliche Pendelbewegung zu den „Megachurch“-Ansätzen. Das ausgeprägt autonome Verständnis christlicher Gemeinschaften und konsequenterweise der schwache Bezug zu einer größeren Gemeinschaft der Kirchen ist dem evangelikalen Hintergrund der Überlegungen geschuldet. Neben diesen fruchtbaren Überlegungen fällt auf, dass Frosts und Hirschs
136 Auch Flory und Miller betonen die Gegensätzlichkeit der Modelle und sehen für die Zukunft der Kirche lediglich das inkarnatorische Modell bestehen. Flory / Miller, Finding Faith (2008), 159–160. 137 In der fxC-Bewegung wurde ein solches Miteinander und Füreinander von dem ehemaligen anglikanischen Erzbischof von Canterbury Rowan Williams als „mixed economy“ beschrieben. Siehe dazu Abschnitt II 1.3.2 „fresh expressions of Church“ (fxC). 138 Moynagh, Church for Every Context (2012), xvi–xvii.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Inkarnationsbegriff theologisch zu kurz greift. Frost und Hirsch verstehen Inkarnation analog zu Jesu Fleischwerdung und Beheimatung in irdischen Kontexten.139 Hier muss darauf hingewiesen werden, dass der Inkarnationsbegriff darüber hinaus auch an Jesu Leben, Tod und Auferstehung gebunden ist und an einen vielschichtigen „missio Dei“-Begriff anschließt. All diese Aspekte sind mit Kirche und Gemeinde in Verhältnis zu bringen und sind – nach Bosch – „faces of the church-in-mission“140. Das Fehlen eines der genannten Aspekte führt unweigerlich zu einer eingeschränkten christlichen Existenz und einem beschränkten gemeindlichen Handeln. Im Hinblick auf eine ausgeglichene Kontextualisierung bietet Michael Moynagh weiterführende Aspekte an. Moynagh schildert in vier Schritten, wie ein ausgewogenes, inkarnatorisches Missionsverständnis aussehen kann: 1. „identifying with the context“ („sich mit dem Kontext identifizieren“), 2. „serving the culture“ („der Kultur dienen“), 3. „dying for the culture“ („für die Kultur sterben“) und 4. „the departure of Jesus“ („Jesu Weggang“).141 In der „Emerging Church“-Konversation werden die ersten beiden theologischen Schritte, die Identifikation mit dem Kontext und der Dienst an der Kultur und Gesellschaft, in höchstem Maße betont. Die weiteren Schritte vermisst man jedoch in den Debatten der Konversation. Identifikation und die Bejahung der Kultur müssen um das „Modell der Passion“ („für die Kultur sterben“), nämlich mit dem kritischen Hinterfragen der Kultur und dem Ruf zur Veränderung, ergänzt werden. Das eine bleibt nur gemeinsam mit dem anderen evangeliumsgemäß. Weder bleibt das Evangelium außerhalb der Kultur, noch wird es von ihr domestiziert. Der vierte Punkt „Jesu Weggang“ verweist auf die notwendige Selbstständigkeit neuer Gemeinschaften, die danach fragen, wie sie sich auf neue Kontexte einlassen und sich damit reproduzieren können. Grundsätzlich kann in der Konversation beobachtet werden142, dass in der Begegnung von Evangelium und Kultur Kultur entweder als weitgehend neutraler Boden oder als stark pneumatologisch aufgeladener Boden betrachtet wird. Interessant ist an dieser Stelle Clarks Kritik, der meint, dass hier das traditionelle evangelikale Verständnis der „seeker church“, das in der Nachfolge der „Church Growth“-Bewegung entstanden ist, unkritisch weitergeführt werde. Denn auch 139 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 35–59. 140 Bosch, Transforming Mission (1991), 512–518. Für Bosch gibt es neben den genannten vier Aspekten noch zwei weitere, nämlich die Geistausgießung und die Parusie. 141 Moynagh, Church for Every Context (2012), 182–192. 142 Siehe zur Differenzierung dieser Beobachtung Abschnitt II Kapitel 4.3 Diskussion.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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in dieser werde Kultur als neutraler Raum verstanden, deren Ausdrucksformen (Film, Musik etc.) für die Gemeinde genutzt werden sollten.143 Während beispielsweise Ward und Frost die Konsumgesellschaft für eine spirituelle Praxis nutzen wollen (wie, das bleibt bei ihnen ungeklärt),144 ist Clark vorsichtiger und mahnt zu einer Kontrastierung. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Kontext oder der Kultur findet in der Breite nicht statt. Ausnahmen bilden jene Diskurse, die von der „missional church“-Debatte, also der „relevant“Strömung und dem „new monasticism“145 beeinflusst sind – jedoch gegen Ende der zweiten historischen Phase mit der Dominanz der „revisionist“-Strömung verschwinden.
2.3.6 Die notwendige Institutionalität christlicher Sozialität Während in der Konversation einerseits eine Verkörperung des Evangeliums betont wird, wird andererseits eine Institutionalität verfasster Vergemeinschaftungen abgelehnt. Mit kirchentheoretischer Terminologie gesprochen, wird ein großes Vertrauen in die christliche Gemeinschaft als Bewegung, aber ein Misstrauen in Organisation und Institution deutlich. Dies führte im positiven Sinn dazu, dass kontextuelle Sozialräume für eine ekklesiale Präsenz und ekklesiales Handeln erschlossen wurden.146 Die Präferenz emergenter Protagonisten organische, spontane und liquide Vergemeinschaftungsformen zu wählen, wird in der Konversation selbst nur marginal kritisch reflektiert.147 Im Hinblick auf zweifelnde emergente Protagonisten sind es fluide Formen, nebst fluiden Überzeugungen, die in einer Los- und Abwehrbewegung (dekonversiven Prozess) eine geeignete Sozialität anbieten. Dabei bekommt das religiöse Sub143 Kritik kommt von Jason Clark, der die Frage stellt, ob „Emerging Church“ nicht selbst ein Pro� dukt der „consumer culture“ sei, und damit ihre kulturkritischen Impulse verloren habe. Siehe dazu Clark, „Consumer Liturgies and Their Corrosive Effects in Christian Identity“ (2011). 144 Ward, Liquid Church (2002), 59. Frost greift dies auch positiv auf. Frost, Exiles (2006), 134– 135. 145 Innerhalb der Konversation ist der „new monasticism“-Ausdruck am kulturkritischsten, wie dies in der Person von Shane Claiborne sichtbar wird. Shane Claiborne lebt als Aktivist in einer monastischen Lebensgemeinschaft in einem Vorort von Philadelphia. http://www.thesimpleway.org am 10.07.2015. 146 Vgl. Effa, „Pub Congregations, Coffee House Communities, Tall-steeple Churches, and Sacred Space“ (2015). 147 Eine der wenigen Stimmen ist Jim Belcher, der sich in seinem Ansatz auf einen „Third Way“ beruft und die Meinung vertritt, dass die „postmoderne Kirche“ institutionell verfasst sein müsse. Er meint, dass „Emerging Church“ darauf achten müsse, „postfoundational centeredset churches“ zu bleiben. Belcher, Deep Church (2009), 191.
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jekt die Gestaltungs- und Deutungshoheit christlicher Sozialität. Dieser problematische Bezugspunkt wurde bereits thematisiert. So wurden etwa die Ansätze von Brafman und Beckstrom in der Argumentation für dezentrale, organische Leitung christlicher Gemeinschaften rezipiert, jedoch unreflektiert sowie verkürzt aufgenommen. Brafman und Beckstrom verweisen in ihrem Ansatz auf „the sweet spot“, also auf den idealen Punkt zwischen dezentralen und zentralen Struktureigenschaften, indem beide ihre Stärken ausspielen können. Das wird im „Emerging Church“-Diskurs jedoch nicht aufgegriffen, sondern nur auf den Vorteil von dezentraler Organisation verwiesen. Fluide Formen christlicher Sozialität sind per definitionem in ihrer Dauerhaftigkeit, Stabilität sowie in ihrer Gewährleistung, kirchliches Sein kenntlich zu machen, beschränkt. Doch genau an dieser Stelle unterschätzen Protagonisten der Konversation die entlastende Funktion einer Institution. Mit Hauschildt und Pohl-Patalong kann darauf hingewiesen werden: „Institutionen haben eine anthropologische Funktion. Sie entlasten den instinktarmen homo sapiens von Entscheidungen, bieten Selbstverständlichkeiten, in die sich alle Beteiligten als integriert erleben […].“148 Mit Blick auf dekonversive Erfahrungen könnten Selbstverständlichkeiten als Sicherheit willkommen geheißen werden. Neben Entlastung ist es der Aspekt der Zugehörigkeit zu einem über die lokale Versammlung hinausreichenden Organismus, der durch den Anschluss an eine Institution für zweifelnde Subjekte hilfreich sein kann. Dies korrespondiert mit Michael Moynaghs vierteiligem Beziehungsverständnis christlicher Gemeinschaft (hier mit „of “), das im nächsten Kapitel expliziert werden soll. Schließlich sei auf den Aspekt der Sichtbarkeit und Erreichbarkeit hingewiesen. Eine anti-institutionelle Dynamik führt dazu, dass emergente Gemeinschaften am Rande des organisierten religiösen Segments in das unorganisierte religiöse Segment wandern oder driften und damit für andere schwerer erreichbar werden.149 Damit wird das unmöglich, was sie zu erreichen versuchen, nämlich Orte des religiösen Übergangs zu schaffen und anzubieten. Zuletzt sei kurz auf eine theologisch begründete Notwendigkeit von Ordnung eingegangen.150 Dort, wo Fluidität der Ordnung gegenübergestellt wird,
148 Hauschildt, „Kirche als Institution und Organisation“ (2012), 169. 149 Das ist beispielsweise durch die Gemeinschafts-Bezeichnung „independent“ sichtbar. Obwohl emergente Protagonisten nach ihrer subjektiven Einschätzung gefragt wurden und nicht der rechtliche Status einer Gemeinschaft abgefragt wurde, wird deutlich, dass Gemeinschaften oftmals auch trotz institutioneller Verbundenheit an die Ränder ihrer Denominationen wandern oder sich außerhalb des organisierten Feldes etablieren. Siehe Abschnitt II Kapitel 5.3 Religiöse Orientierung der emergenten Gemeinschaft. 150 Die Ordnung in der christlichen Gemeinschaft bezeugt, nach Barmen III, genauso wie der Glaube, Gehorsam sowie die Botschaft die Herrschaft Jesu Christi.
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wird der theologische Horizont verkannt, den Ordnungen mit sich bringen.151 Ein Aspekt ist jener, dass der Mensch aufgrund des Gefallenseins und seiner Zerbrochenheit sowie für seine positive Entfaltung und zum Schutz vor sich selbst und anderen verbindliche Strukturen braucht. Ein weiterer Aspekt betrifft die Gewährleistung der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums. So ist nach dem in dieser Arbeit skizzierten Verständnis die Verkündigung des Evangeliums geordnet durch die Berufung (geordnet im Amt, also rechenschaftspflichtig). Für die Konversation entsteht, trotz der zu würdigenden partizipativen Strukturen, in verschiedenen Ausführungen der Eindruck, dass ein häufig erklingender Antiklerikalismus Beliebigkeit, Unordnung und Instabilität aufkommen lässt und damit die Dauerhaftigkeit und Verlässlichkeit der Verkündigung gefährdet ist. Neben den genannten Aspekten der Ordnung (Dauerhaftigkeit und Stabilität, die durchaus eine theologische Dimension haben – etwa mit Blick auf die paulinischen Metaphern der Kirche als „Bau“ oder als „Haus“) soll besonders auf die Zugänglichkeit und Nachhaltigkeit hingewiesen werden.152 Zugänglichkeit zur christlichen Gemeinschaft soll nachvollziehbar und darum geordnet sein, um den Auftrag der christlichen Kirche, nämlich das Evangelium in alle Welt zu tragen (Mt 28), zu gewährleisten. Wenn Vergemeinschaftungen nur von den Impulsen charismatischer Entrepreneure und situativen Bedingungen und Bedürfnissen abhängen, wird dreierlei nicht beachtet: Zum einen – zum wiederholten Mal – werden damit Menschen ausgeschlossen, da sie nur schwer an den Kommunikationsnetzwerken teilnehmen können. Zum anderen wird die christliche Nachfolge „zufällig“ und verliert ihre strategisch-orientierende Kraft (vgl. dazu die Metapher „Wachsen im Glauben“). Schließlich birgt situative und punktuelle Partizipation den Verdacht eines konsumorientierten Verständnisses von Christsein.153 151 Besonders kritisch ist Tim Bednar zu begegnen, der inspiriert von den Kommunikationsentwicklungen in der virtuellen Welt Amt, Beauftragung und Ordnung nicht nur als obsolet ansieht, sondern auch unter den Verdacht stellt, Einsichten und Entwicklungen im Weg zu stehen. Siehe dazu Abschnitt II Kapitel 9.7.13.3 Leiten als Organismus. 152 Ganiel und Marti weisen nach, dass emergente Gemeinschaften oftmals ihr Lebensende erreichen, wenn Protagonisten beispielsweise aufgrund von familiären Verpflichtungen die erforderte hohe Verbindlichkeit nicht mehr aufrechterhalten können oder sich die Interessenslagen der Einzelnen ändern. Ein Grund warum eine emergente Gemeinschaft beispielsweise ihr Lebensende erreicht ist Familiennachwuchs. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 23. Ivy Beckywith weist darauf hin, dass es zwar emergente Gemeinschaften gibt, die kinderfreundlich seien, aber meistens seien diese Kinder unter 5 Jahre alt. A. a. O. Es gibt in der Regel keine altersspezifischen Angebote. Eine Ausnahme bildet Nash / Ward, „Nigel Pimlott – Youth Work in an Emerging Church“, in: Nomad (Podcast) 10.06.2010, http://www.nomadpodcast. co.uk/nomad-17-nigel-pimlott-youth-work-and-the-emerging-church/ am 29.12.2016. 153 Herbst, „Event-ualität“ (2018), 29.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Ein weiterer Aspekt einer gefährdeten Zugänglichkeit wird deutlich, wenn auf die Fluidität und Spontanität eines Online-Diskurses hingewiesen wird. Es stellt sich die Frage, wie Zugänglichkeit und damit auch Rechenschaft in „auf- und abschwellenden“ Debatten hergestellt werden kann. Mit John Suler kann man einer solchen Kritik mit dem Verweis begegnen, dass die reale Vergemeinschaftung und die Online-Vergemeinschaftung aufeinander bezogen bleiben müssten. Er sagt: „For a community to be healthy and productive – for it to have ‚staying‘ power – its members must integrate their online lives with their in-person lives.“154 Suler betont, dass ein lokaler Bezug einen ordnenden Aspekt habe, nämlich im Sinn der Nachhaltigkeit der Debatten und der lokalen Weggemeinschaft. Er schlägt eine verbindliche reale Lokalität christlicher Existenz vor, um der Gefahr eines Auseinanderdriftens von einem „Online-Leben“ und den realen personalen Bezügen sowie der Gefahr kurzlebiger Diskurse und Gemeinschaften zu begegnen. Suler ist zuzustimmen, Online-Vergemeinschaftung als Kontaktfläche in den Blick zu nehmen, aber nicht als Ersatz für leibliche Vergemeinschaftung. In dieser Hinsicht lässt sich sagen, dass fluide Formen „parasitär“ von Formen kontinuierlicher Sozialität leben (können), diese aber nicht ersetzen (können).155 Ein falsch verstandenes Ordnungsverständnis ist es – wie es für die Konversation deutlich wird –, Aspekte der Ordnung (Dauerhaftigkeit, Stabilität, Zugänglichkeit, Strukturen, Ämter) der Mündigkeit der Glaubenden gegenüberzustellen. Obwohl der Konversation aufgrund der historischen Genese und der inhaltlichen Auseinandersetzungen mit evangelikalen Zerrbildern von Leitung, Hierarchie und Ordnung, Verständnis entgegengebracht werden kann, sind gerade im Blick auf zweifelnde emergente Protagonisten verlässliche Strukturen förderlich. Eine recht verstandene Ordnung will Mündigkeit fördern und auch fordern, beispielsweise indem Rechenschaft und Nachvollziehbarkeit von Leitung und Handlungen sichergestellt werden. Außerdem dient Ordnung dem inneren und äußeren Schutz der Gemeinde, etwa durch Bestellung der Leitung, Aufsicht, Rechenschaftspflicht sowie die Aufgabe der inhaltlichen Orientierung. Aus organisationstheoretischer Perspektive ist das Ablehnen der Verstetigung einer Bewegung naiv. Scott Thumma etwa weist darauf hin, dass es 154 http://users.rider.edu/~suler/psycyber/commwork.html am 28.05.2018. 155 Im Zusammenhang der Debatte über „Kirche bei Gelegenheit“ und Ortsgemeinden führt Karle folgendes Argument an, das übertragen werden kann: „Aber die flüchtige Kirche ist auf die stetige Kirche, die sich in konkreten Lebenskontexten und im ‚schmutzigen‘ Alltag zu bewähren sucht, bleibend angewiesen. Beide profitieren voneinander, nicht nur in geistlicher Hinsicht, sondern auch in finanzieller Hinsicht. Die neuen Formen sollten deshalb nicht über-, die alten nicht unterschätzt werden.“ Karle, „Kirchenreform im Spannungsfeld von normativer Ekklesiologie und Empirie“ (2010), 113–114.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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eine Vielzahl geschichtlicher Beispiele für Erneuerungsbewegungen in den USA gibt, die aufgrund von struktureller Fragilität und anti-institutioneller Haltung verschwanden.156 Scott Thumma, der an emergenten Gemeinschaften ihre Spontanität und das Fehlen nachhaltigen Wirkens kritisiert, schildert, dass emergente Gemeinschaften als „Nischen-Gemeinschaften“ in der Tradition anti-hierarchischer Sozialformen der 1960er- und 1970er-Jahre stünden und meint über diese: „It is evident from the history of these small gatherings that leadership weaknesses both in terms of exercising undue authority and also maintaining an acceptable religious orthodoxy were continual difficulties.“157 Mit Thumma sind zwei Konsequenzen fehlender Ordnung erkennbar, die aus Leitungsschwäche resultieren.158 Zum einen wurde notwendige Autorität nicht ausgeübt, zum anderen wurde eine notwendige Beachtung von „Orthodoxie“ vernachlässigt. Nach einiger Zeit wurden einige dieser Gemeinschaften von etablierten Kirchen aufgenommen und andere verschwanden, da sie keine nachhaltigen Strukturen etwa durch beständige Leitungen hatten. Beide genannten Bruchstellen sind in der „Emerging Church“-Konversation erkennbar. Häufig besteht keine Klarheit darüber, wie Autorität und Verantwortung (über die Gemeinschaft hinaus) zwischen den Einflusspolen von Individuum, Gemeinschaft und charismatischen Entrepreneuren verteilt sind. Auf den zweiten Aspekt von Thumma, nämlich auf das Fehlen einer Orthodoxie und auf eine notwendige konfessorische Existenz wurde in der theologischen Standortbestimmung unmissverständlich hingewiesen.
2.3.7 Die Ekklesialität emergenter Gemeinschaften Wenn man Christian Möller folgt, der mit dem Begriff „Kirche“ die rechtliche, institutionelle, geschichtliche und räumliche Gestalt der christlichen Gemeinde zur Sprache bringt, erscheint es problematisch, die „Emerging Church“-Konversation und viele emergente Vergemeinschaftungsformen unter anderem
156 Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 191. Miroslav Volfs Argument für eine Ein�gliederung der „free church“ in die „mainline church“ geht in dieselbe Richtung, wenn es um die Überlebenssicherung der Gemeinschaften geht. Dies nennt er den Prozess der Kongregationalisierung. Volf, After Our Likeness (1998), 12. 157 Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 191. 158 Zur Notwendigkeit institutionalisierter Verfasstheit gehört auch die Frage nach dem Lernen. Wie bildet sich eine Gemeinschaft weiter aus? Von wem lernt die Gemeinschaft? Diese und andere Fragen im Kontext der Nachhaltigkeit einer Gemeinschaft sind in der Konversation nur unzureichend geklärt.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
aufgrund ihrer fehlenden Einheitlichkeit in dieser Hinsicht zu deuten.159 Es kann jedoch nach Kennzeichen kirchlichen Seins gefragt werden,160 die in der Sozialität sichtbar werden sollten.161 Zur Beantwortung der Frage, wann und wo emergente Gemeinschaften als ekklesial (d. h. in ihrem Kirchesein) erkennbar werden,162 soll die Darstellung der vier Beziehungen von Kirche, wie sie im anglikanischen „Mission-shaped Church“-Report vorkommen und von Michael Moynagh aufgenommen wurden, dienen.163 Diese in ökumenischer Perspektive konsensfähige Bekenntnisgrundlage eignet sich, um die Konversation als „gelebte Religiosität“ im Hinblick auf neu entstehende Vergemeinschaftungsformate, zu reflektieren. Die Eignung liegt darin, die Kennzeichen als vier Dimensionen ekklesialer Sozialität zu interpretieren, die sich entwickeln sollen und im Blick auf Gemeinde als „practices“ verstanden werden.164 Moynagh beschreibt Kirche über vier Beziehungsdimensionen: 159 Siehe dazu Möller, Art. „Gemeinde“ (1984), 317. LeRon Shults etwa stellt die Frage, ob die „Emerging Church“-Konversation die vier Eigenschaften von Kirche erfüllt, und sagt dazu, dass die Merkmale nicht „absolute and exclusive“ verwendet werden dürften, und „[…] may in fact be misleading, [as] these may actually mark forms of religious community that have little to do with Jesus’ way of knowing, acting, and being in the world.“ Shults, „Transforming Ecclesiologies in a Multireligious World“ (2011), 149. 160 Wie schon von LeRon Shults ausgeführt. Siehe Shults, „Reforming Ecclesiology in Emerging Churches“ (2009). 161 So auch Schwöbel, der die Bestimmung und Gestaltung der Sozialgestalt kirchlichen Lebens aus dem Verständnis von Wesen und Auftrag der Kirche gewinnen will. Schwöbel sagt: „Was die Kirche zu sagen hat und wer die Kirche ist, läßt sich nicht voneinander trennen, und beides muß darin zum Ausdruck kommen, wie die Kirche ihr Sozialleben gestaltet.“ Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 384. 162 An dieser Stelle soll nicht auf die Unterscheidung „Kirche“ und „Gemeinde“ eingegangen werden. Wenn Christian Möller dazu sagt, dass der Begriff Kirche die rechtliche, institutionelle, geschichtliche und räumliche Gestalt der christlichen Gemeinde zur Sprache bringt, ist ihm zuzustimmen. Dadurch, dass in der anglo-amerikanischen „Emerging Church“-Konversa�tion mit dem Begriff „church“ keine Differenzierung vorliegt, wird dies auch hier nicht unter� schieden. Siehe dazu Möller, Art. „Gemeinde“ (1984), 317. 163 Zuerst wird dieser Gedanke entfaltet in Mission and Public Affairs Council (Hg.), Missionshaped Church (2004), 99. Der anglikanische Report hat in der deutschsprachigen Theologie im letzten Jahrzehnt Einzug gehalten und die deutschsprachige Gemeindeentwicklung und Gemeindeerneuerung beeinflusst. Siehe dazu Herbst, Kirche mit Mission (2013). Vgl. Moynagh, Church for Every Context (2012). 164 Moynagh, Church in Life (2017), 238–244. Genau hierin liegt aus reformatorischer Tradition auch ein problematischer Aspekt von Moynaghs (und der anglikanischen) Ausführungen, wenn sie die Eigenschaften der Kirche als „practices“ beschreiben. An dieser Stelle sei auf die systematisch-theologische Unschärfe hingewiesen. Die „notae ecclesiae“ beziehen sich auf die unsichtbare Kirche und sind zunächst nicht als Handlungsanweisung der sichtbaren Kirche zu verstehen. Sie sind deskriptiv zu verstehen und nicht normativ. Härle, Dogmatik (2007), 574–576. Nichtsdestotrotz gilt, gemäß den Ausführungen von Schwöbel (siehe Fussnote 287), dass das Wesen der Kirche in ihrer Sozialgestalt sichtbar werden muss. Die Kennzeichen werden im Folgenden im Sinn Moynaghs als „practices“ verstanden.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
1. 2. 3. 4.
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Gemeinschafts-Beziehung Gottes-Beziehung Traditions-Beziehung Welt-Beziehung
Durch diese Systematik wird eine fruchtbare und anschlussfähige Kontrastfolie geboten, die konfessionell gefärbt werden kann.165 Die vier BeziehungsDimensionen werden von Moynagh in Analogie gesetzt zu den Eigenschaften, die die altkirchlichen Bekenntnisse der Kirche zusprechen („notae ecclesiae“): Einheit, Heiligkeit, Katholizität und Apostolizität.166 Es sind vier Praktiken (oder auch Orientierungen), die diese vier Beziehungen ausmachen, die in ihrer Mitte durch Jesus Christus verbunden sind, also christozentrisch verstanden werden wollen. • „In“ („nach innen“) – Einheit: Es geht um tragfähige Beziehungen untereinander; Gemeinschaft, die nach innen gelebt wird. Die Beziehungen untereinander werden gepflegt, indem man sich regelmäßig trifft und Weggemeinschaft hat. • „Up“ („oben“) – Heiligkeit: Hierbei geht es um die Beziehung zum dreieinigen Gott. Diese Gottesbeziehung zeigt sich durch die Spiritualität der Gemeinschaft. Beziehung zu Gott wird durch die Verkündigung des Wortes Gottes, durch die Sakramente, durch Gottesdienst und Gebet gepflegt. • „Of “ („Teil sein von“) – Katholizität:167 Hiermit wird auf ein weiteres kirchliches Merkmal verwiesen, nämlich auf die Beziehungen zur weltweiten Kir165 Moynagh, Church for Every Context (2012), 106–114. 166 An dieser Stelle sei kurz auf ein weiteres Problem hingewiesen, nämlich die vier altkirchlichen Eigenschaften mit den genannten vier Beziehungs-Dimensionen gleichzusetzen. Die vier Eigenschaften können jeweils auch einzeln für alle vier Beziehungsdimensionen durchbuchstabiert werden. So kann auch danach gefragt werden, wie Heiligkeit sich in der Gottes-Beziehung, in der Gemeinschafts-Beziehung, in der Beziehung zur Welt und in der Beziehung zur Tradition zeigt. Dieser Zugang soll an dieser Stelle nicht weiter expliziert werden. Es soll aber auf die Flexibilität des Modells hingewiesen werden. Eine andere Darstellungsform ist über die Grundvollzüge der Kirche (Diakonie, Liturgie, Zeugnis / Martyria und Einheit / Koinonia) mit den Eigenschaften der Kirche vermittelbar. Diakonie entspricht der Eigenschaft „katholisch“, da sie auf Menschen bezogen. Liturgie ist die Vergewisserung im Glauben und Ausgangspunkt der Spiritualität und vermittelt damit Heiligkeit. „Martyria“ ist die Weitergabe der Botschaft und vermittelt das apostolische Element. „Koinonia“ vermittelt die Einheit durch die Gemeinschaft der Menschen untereinander. Durch diesen kurzen Diskurs zeigt sich, dass eine Analogie, wie im Text dargestellt wird, möglich und zulässig ist, aber bei weitem nicht der Komplexität der Merkmale kirchlichen Seins gerecht wird. 167 Hier treten Differenzen in der inhatlichen Bestimmung der Begriffe auf. „Katholizität“ kann genauso als missionarischer Sendungsauftrag verstanden werden. Kirche beruft und sammelt durch das begründende Evangelium von Jesus Christus alle Menschen ohne Unterschied. Vgl. dazu a. a. O.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
che Gottes und die Tradition. Die Beziehung zum weltweiten Leib Christi wird dort gestärkt, wo die Tradition geehrt und geachtet wird, wo das Feuer des Glaubens weitergetragen wird, wo Kirche sich als Teil einer größeren Gemeinschaft versteht – und sich auch so verhält und nicht nur den eigenen Kirchturm allein versorgt. Die Katholizität kann synchron und diachron ausgelegt werden, d. h. im Sinn der Ökumene (synchron) oder im Sinn der Vergegenwärtigung historischer Glaubenstraditionen (diachron). • „Out“ („nach außen“) – Apostolizität:168 Damit sind die Beziehungen zur Welt durch Liebe und Dienst, die Sendung / Mission der Kirche gemeint. Beziehung zur Welt entsteht, wenn sich die Gemeinde um diejenigen sorgt, die in Not sind. Dieser Beziehungsaspekt kommt zur Geltung, wenn für das Wohl des Menschen gesorgt wird und wenn Menschen mit der froh machenden Botschaft des Evangeliums zu ihrem Heil erreicht werden. Nach Moynagh sind diese vier genannten Beziehungsdimensionen miteinander verbunden, gleichwertig und sollen integrativ verstanden werden. Moynagh leitet sie aus den Beziehungen in der Trinität ab und schlägt vor, dass sichtbare Kirche die Beziehungen der Trinität widerspiegeln solle und in der Weise mit der Trinität verbunden sei.169 Der anglikanische „Mission-shaped Church“Report bezeichnet diese als die vier Dimensionen einer Reise, die die Kirche ausmache.170 Im Bericht wird betont, dass es eine ständige Bewegung hin zu diesen vier Kennzeichen brauche.171 168 Bei dieser Analogie können auch plurale inhaltliche Bestimmungen ausgemacht werden. „Apostolizität“ heißt, dass Kirche auf die apostolische Verkündigung gründet, also auf das von den Aposteln ursprünglich bezeugte Evangelium. An dieser Stelle könnte auch der Bezug zu den Wurzeln der Kirche betont werden und nicht die Sendung der Kirche als Mission. Vgl. dazu a. a. O. 169 Moynagh dazu weiter: „The relationship with God is modelled on the Father’s giving to the Son and the Son’s obedience to the Father. The relationship with the world is a participation in God’s mission through the Spirit. Fellowship within the gathering reflects the mutual love of the divine persons. Relations to the whole church are the ecclesial counterpart to the perichoretic relationships within the Trinity – one affects all.“ Moynagh, Church for Every Con�text (2012), 108. 170 Mission and Public Affairs Council (Hg.), Mission-shaped Church (2004), 99. 171 Ähnlich wird es von Frost und Hirsch dargestellt. Sie sprechen davon, dass Kirche entsteht, wenn „communion“ („Gemeinschaft mit Gott“), „community“ („Gemeinschaft untereinander“) und „commission“ („Sendungsauftrag“) zusammenwirken. Dieses Modell wurde in den darauf� folgenden Jahren von Frost weiterentwickelt, indem eine vierte Dimension hinzugefügt wurde, nämlich die „catholic orientation“. Damit beschreibt Frost die Beziehung zu anderen Glaubens�gemeinschaften. Frost fasst seine vier Kriterien zusammen: „trinitarian in theology“, „covenantal in expression“, „catholic in orientation“ und „missional in intent“. Trotz augenscheinlicher Übereinstim� mung der Begriffe ist zu bemerken, dass Frost einen anderen „community“-Begriff meint als
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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Im Blick auf die vier Beziehungs-Dimensionen lässt sich bei emergenten Gemeinschaften beobachten, dass die Gottesbeziehung besonders durch den für Gemeinschaften zentralen Aspekt „worship“, die Einflüsse der „alternative worship“-Bewegung und die Bedeutung des „ancient-future worship“ gestaltet wird. Dort, wo in emergenten Vergemeinschaftungen die Gottesbeziehung öffentlich und sichtbar gepflegt wird, wird – nach Moynagh – Kirche kenntlich. Weiter lässt sich eine hohe Gemeinschafts- und Binnenorientierung ausmachen. Emergente Gemeinschaften sind um das Wohl ihrer Gemeinschaft bemüht. Analog gilt, dass dort, wo emergente Vergemeinschaftungen um Gemeinschaft bemüht sind, Kirche kenntlich wird. Fragt man nach der Katholizität fällt zunächst auf, dass emergente Gemeinschaften durch den Rückgriff auf Elemente aus unterschiedlichen Traditionen eine Form von diachroner Katholizität zu wahren scheinen.172 Zugleich wird eine synchrone Katholizität durch ökumenische und interreligiöse Impulse sichtbar. Dennoch verweist die Beliebigkeit der Rückgriffe auf Teilstücke aus Liturgie oder Gottesdienstleben auf einen hoch individuellen Umgang mit der Tradition. Der Zugriff, der an verschiedenen Stellen mit „bricolage“ oder „à la carte“ beschrieben wurde, wird einem diachronen Katholizitätsbegriff insofern nicht gerecht, als Katholizität zu Verbindlichkeit verpflichtet. Verbindlichkeit meint in erster Linie, dass eine Glaubenstradition nicht nur als Archiv religiöser Symbole und religiösen Wissens für individuelle Befindlichkeiten benutzt wird, sondern man als Rezipient der betreffenden Tradition damit, etwa für den Rezeptionsprozess, verantwortlich wird.173 In einer vertieften Auseinandersetzung mit oynagh. Für Frost ist „community“ im Sinne einer „communitas“ eine spontan entstehende M Gemeinschaft. Moynagh verbindet mit „community“ eine Gemeinschaft, die eingebettet ist in eine „mixed economy“. „Mixed economy“ beschreibt das Miteinander von parochialen und nicht-parochialen Ausdrucksformen von Gemeinde. Zudem zeigt sich, dass Frosts Katholizitäts-Begriff von Moynaghs Begriff abweicht. Frost spricht von „anderen Glaubensgemeinschaften“ und deutet damit nur die synchrone Ebene des Begriffs an. Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), 76–81. Frost, Exiles (2006), 145. So auch Riddell, Threshold of the Future (1998), 168–171. 172 Obwohl Doug Gay hier nicht explizit die Katholizität der Kirche im Blick hat, macht er deutlich, dass durch die „bricolage“-Methode Bezug zur Vergangenheit hergestellt wird. „[…] [It] explains that creeds and other statements of faith are used in the Emerging Church not as a way of promoting doctrine, but rather as a way of connecting modern churchgoers with the generations of believers who came before them. In this way, creeds serve an historical purpose as opposed to an instructive one. They become a part of the ongoing discussion of religion, something to be understood and evaluated rather than memorized and adhered to.“ Gay, Re�mixing the Church (2011), 71. 173 Zum Rezeptionsprozess gehört die synchrone und diachrone Gemeinschaft. Mit Theißen kann der Tradition eine kritische Bedeutung in Folgender Hinsicht zugesprochen werden: „Tradition ist, was sich in Jahrhunderten bewährt hat, ihre Weisheit ist dem Einzelnen überlegen. Keiner muss von vorne beginnen. Tradition verarbeitet Erfahrungen von Irrtum und Gewalt.“ Theißen, Glaubenssätze, 27.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
den betreffenden Elementen können gewiss zusätzliche Bedeutungsebenen erschlossen werden, die die ursprüngliche jedoch nicht ersetzen. Vollständigkeit meint, dass es eines hermeneutischen Prozesses bedarf, um der religiösen Symbolik und dem dazugehörigen Wissen und Kontext gerecht zu werden. Blickt man auf die synchrone Katholizität – damit ist das Verhältnis zwischen den christlichen Glaubensgemeinschaften gemeint –, fällt auf, dass dies in der Konversation teilweise über den „Konversation“-Begriff der Bewegung thematisiert wird. Austausch und gegenseitiges Wahrnehmen christlicher Traditionen geschehen auch hier beliebig und zufällig. Dadurch, dass es in der „Emerging Church“-Konversation keine übergeordnete Verwaltungsstruktur und keine beauftragten Leitungspersonen gibt, stellt sich ein nachvollziehbarer und damit auch nachhaltiger Kommunikationsprozess als schwierig dar.174 Zuletzt sei auf die vierte Dimension „out“ verwiesen. Auch hier fällt zunächst auf, dass emergente Gemeinschaften diese Orientierung berücksichtigen. Liebender Dienst wird in der Konversation besonders durch lokales, sozial- politisches Engagement deutlich.175 Emergente Protagonisten wollen ihr soziales Engagement und ihre Gemeinschaft mit ihren Überzeugungen in Einklang bringen. Bei dem Thema Mission treten die Unterschiede der Strömungen innerhalb der Konversation hervor. Während „relevants“, die besonders in der ersten historischen Phase präsent waren, von einer Wiederentdeckung sozialen Engagements (einer sogenannten „Bekehrung zur Welt“) in Verbindung mit missionarischer Verkündigung ausgingen, sprechen „revisionists“ von der „Verkörperung der Mission“. Sie interpretieren ihren sozialen Umgang miteinander als missionarische „Außenwirkung“. Mission ist in der Konversation zu einem autoreferenziellen Wort geworden. Es nimmt damit jeweils die Bedeutung an, die ihm der Autor gibt. Im Hinblick auf Online-Vergemeinschaftungen, sowohl jene, die punktuell emergieren, als auch jene, die regelmäßig kommunizieren, jedoch nur online existieren, ist die Sachlage komplizierter. Nach den Moynaghschen Kategorien ließen sich Online-Vergemeinschaftungen als ekklesial bestimmen, wenn sie die Dimensionen / Merkmale „In“, „Up“, „Of “, Out“ beachteten. Für die Dimensionen „In“, „Of “ und „Out“ lassen sich in den Online-Vergemeinschaftungen schnell Beispiele der Umsetzung und Verwirklichung finden. Beispielsweise
174 An der fxC-Diskussion wird hingegen von emergenten Vertretern eine starke Orientierung an den verfassten Kirchen kritisiert. Moynagh greift die Kritik auf und benennt die Gefahr, dass Kirche nicht als alleinige Tür zum Reich Gottes verstanden werden darf. „The underlying assumption, however, remains the same: the church is the gateway to and the vehicle of the kingdom.“ Moynagh, Church for Every Context (2012), 101. 175 Zum Missionsverständnis in der „Emerging Church“-Konversation siehe Abschnitt II Kapi�tel 10.3 Missionstheologische Ansätze.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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entsteht durch dialogische Interaktion ein „In“, durch die bricolageartige Verwendung altkirchlicher Motive oder auch durch den überkonfessionellen Dialog ein „Of “, durch den einladenden und für Partizipierende offenen Charakter der Kommunikationsforen ein „Out“. Es scheint so, als wäre die Dimension „Up“ am schwersten zu fassen. Wie die „Up“-Dimension mit dem reformatorischen Verständnis kirchlichen Seins (CA VII) ins Verhältnis gebracht werden kann, ist im Blick auf den „Online“-Bereich ungeklärt. Nach reformatorischem Verständnis muss auf die mindestens notwendige und zunächst hinreichende Bestimmung in CA VII hingewiesen werden, nach der es die äußere Wortverkündigung und die ordnungsgemäße Sakramentsverwaltung braucht.176 Ein Dialog über die eigene Glaubensbiografie hat damit per se noch keinen ekklesialen Charakter, obwohl Menschen darin durchaus ihren Glauben teilen mögen. So gehört es zum reformatorischen Verständnis, dass ein theologischer Begriff der Kirche aus dem Verständnis des Glaubens entwickelt wird. Glaube wird nun dort geschaffen, wo Gott durch die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament den Geist gibt, der den Glauben bei den Hörenden des Evangeliums wirkt (CA V). So wird die Kirche als Versammlung aller Gläubigen benannt, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente evangeliumsgemäß gereicht werden (CA VII). Eine solche Versammlung der Gläubigen lebt vom „Gottesdienst“ und vom „Menschendienst“, wie Karl Barth ausführt.177 Nach dieser Bestimmung würden jene Online-Vergemeinschaftungen – und ebenso Offline-Vergemeinschaftungen – einen ekklesialen Charakter vermissen lassen, die nicht aus dem „verbum externum“ „ins Leben gerufen“ wer-
176 Nach reformatorischem Verständnis können die Moynaghschen Kategorien im Blick auf gemeindeentwickelnde Perspektiven thematisert werden. Sie beziehen sich auf die Aufgaben einer zu gestaltenden Kirche und sind von den in CA VII festgelegten Kennzeichen zu unterscheiden. Nach reformatorischem Verständnis ist Kirche „Geschöpf des Evangeliums“ und entsteht nicht aus dem Tun der Menschen. „Ihrem Ursprung nach verdankt sich die Kirche nicht dem Entschluß der Menschen, die ihr angehören, sondern dem Evangelium von Jesus Christus, das durch die Wortverkündigung und die Feier der Sakramente bezeugt wird und – durch das Wirken des Heiligen Geistes – Menschen beruft, erleuchtet und versammelt […].“ Härle, Dogmatik (2007), 570. 177 Barth bestimmt den Dienst als Zeugendienst und sagt: „Die Gemeinde ist das Volk der Christen, die ja auch als Einzelne entscheidend und wesentlich eben Zeugen sind: die Gemeinschaft derer, die Gottes Wort, gesprochen in der Existenz des in seinem propheten Amt tätigen, großen, primären Zeugen, des einen Mittlers zwischen Gott und den Menschen hören durften und dürfen […]. Ihr Dienst besteht darin, dieses Gotteswort von diesem Gotteswerk in der Welt hören zu lassen und also Jesus Christus der Welt zu bekennen. Unter das Niveau des durch diesen Ursprung, diesen Gegenstand und Inhalt bestimmten Zeugnisses darf der Dienst der Gemeinde, soll er wahrer, rechter Gottes- und Menschendienst sein, nicht sinken.“ Barth, Der Dienst der Gemeinde, KD IV/3, 956–957.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
den. Gleichzeitig ist im Blick auf Online-Vergemeinschaftung zu sagen, dass die geglaubte Kirche als inkarnierte und leiblich wahrnehmbare Kirche erfahren wird, beziehungsweise Glaube als Glaube in konkreten sozialen Bezügen und unter lokalen Bedingungen erfahren, geprüft, angefochten und auch stimuliert wird. Leiblichkeit ist in dieser Hinsicht notwendig.178 Jürgen Werbick spricht in dieser Hinsicht von der „Verörtlichung des Glaubens“, die etwa Wilfried Engemann als Prämisse dafür sieht, dass Glaubenslehre und Lebenskunde in Form einer Einübung christlicher Lebenskunst zusammenfallen können.179 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass emergente Gemeinschaften, die den vier Beziehungs-Dimensionen Beachtung schenken, im dargestellten Sinn (gemäß Moynagh) als „Kirche“ kenntlich werden. Nach reformatorischem Verständnis verdient die Dimension „Up“ besondere Beachtung, die einerseits inhaltlich mit CA VII qualifiziert wird und in weiterer Folge einer leiblichen Sozialität bedarf. So lassen sich besonders in der Katholizitäts- und in der Außenorientierung sonderbare Ausprägungen emergenter Gemeinschaften beobachten, die im Gespräch mit verfassten religiösen Organisationen zu Kommunikationsschwierigkeiten führen können.
178 So auch Karle, die sagt: „Ohne Beziehung verfällt der Glaube. Die Tradierung der Religion ‚setzt dichte, dialogische Sozialbeziehung voraus.‘ Die kleinen, überschaubaren Sozialformen, in denen sich Menschen direkt begegnen und die Glaubenswürdigkeit dessen, was sie sagen, ‚face to face‘ überprüfen können, sind unabdingbar für die religiöse Sozialisation und Identitätsbildung.“ Sie sagt weiter: „Der christliche Glaube stellt sich in vieler Hinsicht gegen die Evidenz des Tatsächlichen und Vorfindlichen. Umso mehr ist er darauf angewiesen, in der Beobachtung glaubender Personen Kraft und Plausibilität zu erfahren. Auch gemeinsame Handlungen, das gemeinsame Beten und Singen sowie die diakonische Aktion verleihen dem Glauben, der sich darin ausdrückt, Nachdruck.“ Karle, „Kirchenreform im Spannungsfeld von normativer Ekklesiologie und Empirie“ (2010), 109. 179 Werbick, „Plädoyer für die Verörtlichung des Glaubens“ (2004). Engemann, „Gemeinde als Ort der Lebenskunst“ (2009), 289. Im Gegensatz zu Engemann ist die Lebenskunst in dieser Arbeit nicht auf die im individuellen Selbstverhältnis liegende Gewissheit bezogen, sondern auch objektiv, im Sinn einer „Objektivität des Glaubens“ (Welker), bestimmt. Welker greift hierfür den Terminus „Wahrheit suchende Gemeinschaften“ auf. Er sagt: „Wahrheit suchende Gemeinschaften sind nicht Gruppen von Menschen, die in einer für den Glauben vermeintlich charakteristischen ‚Ungewißheit‘ im Nebel stochern, um mit einigem Glück vielleicht auf ‚die Wahrheit‘ oder bestimmte Wahrheiten zu stoßen. […] Wahrheit suchende Gemeinschaften sind Gruppen von Menschen, die Wahrheitsansprüche erheben, zugleich aber allgemein anerkannte Formen und Verfahren zur Überprüfung dieser Ansprüch entwickeln.“ Welker, „Subjektivistischer Glaube als religiöse Falle“ (2004), 155–156.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
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2.3.8 „Emerging Church“-Gemeinschaften als homogene Einheiten Es wurde bereits auf den besonderen Umstand hingewiesen, dass die „Emerging Church“-Konversation in einmaliger Weise dekonversive Merkmale und Phasen thematisiert und integriert und damit als dekonversiver Diskursraum interpretiert werden kann. Demnach sind emergente Vergemeinschaftungsformen in besonderer Weise von dekonversiven Merkmalen und Phasen geprägt und bieten solchen Protagonisten Heimat, die sich in einem Klärungsprozess ihrer religiösen Identität befinden. In der Konversation kann beobachtet werden, dass die Sozialgestalt christlicher Gemeinschaft sich an der Sozialgestalt menschlichen Lebens orientiert. Diese Erkenntnis wurde unter anderem von Robert Webber in die „Emerging Church“-Konversation eingebracht, was in der Konversation zu einer Neuorientierung christlicher Sozialität auf lokale, kontextuelle und lebensgeschichtliche Bezüge führte, die „Megachurch“-Ansätzen widersprechen wollte. Damit wurde unter anderem Kritik an der Dislozierung christlichen Lebens aus den unmittelbaren Lebenszusammenhängen der betreffenden Christen angeführt. So sehr das Prinzip diskutiert wurde, so auffallend ist eine weitere Beobachtung: Emergente Gemeinschaften können als homogene Einheiten beschrieben werden. Die Homogenität wurde bereits mehrfach und vielschichtig begründet.180 Ein solcher Blick auf emergente Vergemeinschaftungen ist damit Teil einer missionstheologischen Diskussion, die um die Frage kreist, welche Legitimation „culture-specific churches“ haben.181 Diese Debatte schließt an Donald McGavrans Vorschlag „homogeneous unit principle“182 an. Eine homogene Einheit kann eine kulturelle, sprachliche, interessensgeleitete oder wertegeleitete Vergemeinschaftung sein. McGavran vertrat die These, dass Menschen ungern kulturelle, sprachliche oder Werte-Barrieren überschreiten, um Christen zu werden. Deshalb sollte Mission von homogenen Einheiten für homogene Einheiten erfolgen. McGavrans Ansatz wurde überdies insofern weiterentwickelt, als dass homogene Gemeinschaften als auf den ersten Schritt in der Mission begrenzt beschrieben wurden. In der Weiterentwicklung war demnach die Brückenbildung zwischen einzelnen homogenen Gruppen ausschlaggebend. In der gegenwärtigen religiösen Landschaft sind es unter anderem fxC, die ihr 180 Aspekte der Homogenität innerhalb der Konversation wurden bereits an anderer Stelle mit den Verweisen auf die „Gen X“, die von Flory beschriebenen „innovators“ und die sozio-demo� grafischen Ähnlichkeiten emergenter Protagonisten angezeigt. Vgl. dazu Abschnitt II Kapitel 5.1 Sozio-demografische Daten emergenter Protagonisten. 181 Für eine ausführliche Darstellung siehe Moynagh, Church for Every Context (2012), 168–180. 182 McGavran, Understanding Church Growth (1980).
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Profil aufgrund homogener Einheiten oder anders – zielgruppenorientiert – entwickeln. Ansätze homogener Einheiten sind umstritten. Seiferlein argumentiert lerntheoretisch, wenn er sagt: „Homogene Gruppen dienen eher der Unterhaltung und dem Zeitvertreib. Lernen vollzieht sich dagegen in heterogenen Strukturen.“183 Weitere Kritik kommt von Vertretern parochial verfasster Strukturen, die in Parochien ein notwendiges Paradigma heterogener Strukturen sehen. Obwohl parochiale Ortsgemeinden auf dem Prinzip der Heterogenität basieren, lassen sich auch hier Homogenitätsfaktoren erkennen (soziale Stellung, Bildungsniveau, Alter, Uhrzeit des Gottesdienstes, Milieuverengung etc.), die beispielsweise durch das Format der Angebote bestimmt sind.184 Ein Aspekt, der für die Vergemeinschaftungen in der Konversation auffällt, soll nicht unerwähnt bleiben. Homogene Gemeinschaften können elitär werden (damit ist nicht nur die demografische Einengung oder die interessensgeleitete Gemeinschaftsbildung gemeint, sondern ein vorausgesetzter Beziehungsaspekt – wie in emergenten Debatten betont –, der als Hürde empfunden werden kann).185 Theologisch spricht für eine Heterogenität eine von der Taufe her verstandene Gleichrangigkeit und ein Miteinander aller in der Gemeinde, die sich in einer Intergenerativität der Gemeinde zeigt.186 Wie Söding darstellt, zeichnet sich eine ekklesiale Existenz dadurch aus, dass Gemeinschaft dort möglich wird, wo diese etwa aufgrund sozialer Unterschiede unwahrscheinlich erscheint. Neben der durch den Heiligen Geist gestifteten unwahrscheinlichen Gemeinschaft ist die christliche Gemeinschaft als Fürsorge-, Dienst-, Kommunikations- und Interpretationsgemeinschaft eine Versammlung zur Zurüstung und Stärkung der christlichen Identität.187 Dabei dient das Wort vom Kreuz als Kritik an möglichen sozialen oder interessensgeleiteten Missständen, wie für die Gemeinde in Korinth sichtbar wird. In dieser Hinsicht ist die soziale Struktur emergenter Gemeinschaften zu befragen. Wird in emergenten Gemeinschaften 183 Seiferlein, Projektorientierter Gemeindeaufbau (1996), 125–129, hier 164. 184 Beispielsweise werden Gottesdienste in parochial verfassten Gemeinschaften zu homogenen Einheiten, da sie zu einer bestimmten Zeit mit für gewisse Milieus ansprechenden Formaten angeboten werden. 185 Der geforderte Beziehungsfaktor ist gleichzeitig ein Ausschlussfaktor für jene, die nicht Teil der Beziehungen sind. Jon Slusser kritisiert einen anderen Aspekt der elitären Gemeinschaften, wenn er das hohe Bildungsniveau und den intensiven und reflektierten Kommunikationsbedarf anspricht. Jon Slusser: „[…] why does there not seem to be an appreciation for the simple, the poor, the not-so-educated, and the wild at heart […] among the emergent? […] It seems that if you are not waxing witty then it is unlikely that you will be taken seriously or become well received.“ Slusser, Zeal for His House (2011), 184. 186 Vgl. Möller, Lehre vom Gemeindeaufbau (1987), 102. 187 Vergleichbar argumentiert Thiessen ihre Kritik an Interessensgemeinschaften, wenn sie sagt: „[…] being in community is demanding.“ Thiessen, Apostolic and Prophetic (2011), 151.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
631
eine Gemeinschaft ermöglicht, die Unterschiede, soziale Herkunft, politische Orientierung, gesellschaftlichen Stand und Ansehen überbrückt? Setzen sich emergente Gemeinschaften mit „dem Anderen“ auseinander? Wenigstens hinsichtlich anderer theologischer Überzeugungen, Praktiken, Frömmigkeitshintergründe und auch anderer Religionen ist in der Konversation eine Auseinandersetzung dazu zu beobachten. Defizitär erscheint eine Inklusivität hinsichtlich unterschiedlicher Generationen oder hinsichtlich differierender sozialer Status. Überlegungen des Systematischen Theologen Hartmut Rosenau können herangezogen werden, um für eine Sozialität zwischen jenen, die Gottesferne, und jenen, die Gottesnähe erleben, zu plädieren188 – und damit homogene Gemeinschaften zu kritisieren. Es stellt sich die Frage, inwieweit eine aus Gleichartigen zusammengesetzte Gemeinschaft für zweifelnde Subjekte hinreichend ist. Hinsichtlich der Homogenität von Zweifelnden stellt sich die Frage: Inwieweit braucht „der Zweifelnde“ „den Feststehenden“ – um es in einer solchen vereinfachten Gegenüberstellung zugespitzt zu fragen? Wenngleich schnell biblische Bilder über die „Schwachen“ und „Starken“ im Glauben (1Kor 8,9–12) vor dem inneren Auge auftauchen, soll diese Frage zunächst aus wissenssoziologischer Perspektive beantwortet werden. Der Praktische Theologe Johannes Zimmermann hat im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Individualität und Sozialität die Bedeutung der Gemeinschaft für die Aufrechterhaltung der Plausibilitätsstruktur unterstrichen.189 Dies soll nun als Argument für eine Gemeinschaft zwischen Zweifelnden und Nicht-Zweifelnden herangezogen werden. Der Begriff „Plausibilitätsstruktur“ stammt von Peter L. Berger, der ausgehend von seiner wissenssoziologischen Bestimmung nach sozialen Faktoren und Prozessen bei der Entstehung und Erhaltung des christlichen Glaubens fragt. Mit dem Begriff wird der soziale Kontext beschrieben, innerhalb dessen moralische Überzeugungen, Haltungen und Praktiken plausibel sind und bleiben.190 Berger, und in dessen Folge Zimmermann, machen deutlich, dass religiöse Orientierung auf soziale Bestätigung angewiesen ist und damit wirklichkeitsbildend ist. Plausiblitätsstrukturen funktionieren nach bestimmten Faktoren: Es gibt einen Zusammenhang zwischen signifikant beitragenden Personen und einer signi-
188 Vgl. Rosenau, Ich glaube (2005), 132. 189 Für die gesamte Rezeption von Berger siehe dazu Zimmermann, Gemeinde zwischen Sozialität und Individualität (2009), 321–365. Das Bemühen, dem eigenen Leben und der gesellschaftlichen Wirklichkeit Sinn zu geben, wird als „Plausibilitätsstruktur“ beschrieben, Monika Wohlrab-Sahr spricht von „Weltsicht“. Darunter versteht man: „dass jeder in irgendeiner Weise solche Welt ordnenden Aktivitäten vornimmt und damit der Welt wie auch dem eigenen Leben Sinn verleiht.“ Donegani, „Säkularisierung und Pastoral“ (2012), 58–59. 190 Zimmermann, Gemeinde zwischen Sozialität und Individualität (2009), 334.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
fikanten Kommunikation.191 Es bedarf Personen, die durch dieselbe „Sprache“ wirklichkeitswahrend füreinander und darin stabilisierend sind. Zudem bedarf es der kommunikativen Auseinandersetzung mit der eigenen Wirklichkeit. Berger hebt hervor: „Der Abbruch des signifikanten Gesprächs mit den jeweiligen Mittlern einer Plausibilitätsstruktur bedroht die jeweilige subjektive Wirklichkeit […].“ Anschluss finden die hier angeführten Gedanken an die Diskussion der „Emerging Church“-Konversation darin, beispielsweise die Feier des Gottesdienstes zu betonen. Zimmermann stellt den Gottesdienst als herausragende Form religiöser Kommunikation heraus und „damit zusammenhängend die Relevanz der ‚versammelten Gemeinde‘ als Plausibilitätsstruktur religiöser Wirklichkeit […].“192 Im Hinblick auf Krisen und Grenzsituationen bedarf es der Intensivierung der Wirklichkeitssicherung. Zudem betont Zimmermann, im Unterschied zu und als Weiterführung von Berger, die Bedeutung von Inhalten für eine stabilisierende Wirklichkeit.193 Diese Impulse spannen den Bogen zu der bereits diskutierten konfessorischen Existenz, die durch und in einer wirklichkeitsbildenden Sozialität bewahrt wird. Aus missionstheologischer Sicht haben sowohl homogene als auch heterogene Gemeinschaften ihre Berechtigung, und für beide lassen sich neutestamentliche Beispiele finden.194 Wesentlich erscheint eine Verbindung homogener und heterogener Einheiten. Hirsch und Frost plädieren etwa für ein Miteinander von homogenen und heterogenen Elementen in ihrem inkarnatorischen Zugang.195 Der in der fxC-Bewegung prominente Theologe Michael Moynagh schlägt für die ekklesiale Gesundheit homogener Gemeinschaften ein Prinzip vor, das für emergente Gemeinden fruchtbar gemacht werden kann: Er nennt es „focused-and-connected-church“.196 Kontextuelle Ausdrucksformen christlicher Gemeinschaft sollten sich demnach auf eine spezifische Kultur fokussieren und gleichzeitig mit der weltweiten Kirche vernetzt und verbunden bleiben. Beide Bewegungen, Fokussierung und Vernetzung, sieht er als gleichwertig und gleichbedeutend an.197 Moynagh schlägt vor, dass homogene Gemein191 „Signifikant“ meint eine subjektiv empfundene Intensität oder Relevanz im Vergleich zu anderen Personen oder Kommunikationsformen. 192 Zimmermann, Gemeinde zwischen Sozialität und Individualität (2009), 335. 193 A. a. O., 341–342. 194 Vgl. dazu Moynagh, Church for Every Context (2012), 3–50. 195 Frost / Hirsch, The Shaping of Things to Come (2003), Kapitel 3. 196 Moynagh, Church for Every Context (2012), 171–180. 197 Moynagh weiter: „The more a Christian community focuses on the needs and longings of a single context, whether it is an age group, a locality or a network sharing an interest, the better it will serve people in that setting.“ A. a. O., 179. Weiter: „Taking connection seriously may re�quire church founders to spend almost as much time networking in the wider body as among the people they are called to.“ A. a. O., 180.
2.3 Die Bedeutung der Gemeinschaft
633
schaften beispielsweise in zeitlichen Abständen lokal mit anderen Gemeinschaften zusammenarbeiten sollten (z. B. in Mission und in der Förderung lebendigen, mündigen Christseins). Die Möglichkeit, sich als Teil einer größeren Gemeinschaft und nicht nur als Teil der vorfindlichen Gruppe zu erleben, stärkt die homogene Einheit.198 Schließlich führt der Autor an, dass es neben den technologischen Möglichkeiten zur Vernetzung eine menschliche Neigung für Gruppen mit hoher Affinität und der Zugehörigkeit zu einem größeren Ganzen gebe. Moynaghs Ansatz aufgreifend können emergente Gemeinschaften dann als „new contextual churches“ bezeichnet werden, wenn sie dem Bereich „connecting“ stärkere Aufmerksamkeit widmen würden als bisher. Beobachtbar ist dies in der Konversation bereits dort, wo emergente Vergemeinschaftungen in verfasste religiöse Organisationen eingebunden sind. Dieses Argument wurde bereits bei der notwendigen Katholizität emergenter Gemeinschaften verhandelt, um ekklesial zu sein. Aus theologischer Sicht bedarf das Prinzip der Homogenität weiterer Prüfung. Nach biblischem und reformatorischem Verständnis ist das Gemeinschaftsbildende christlicher Sozialität die durch den Heiligen Geist gestiftete Gemeinschaft als gemeinsame Teilhabe an dem Sich-Geben Gottes. Problematisch erscheint es indes ausschließlich von Interessensgemeinschaften, wie für die Konversation feststellbar, zu sprechen. Die Teilhabe an der Selbstgabe Gottes wird nach dem in dieser Arbeit skizzierten Verständnis durch die Teilhabe an dem äußerlichen Zeichen von Wort und Sakrament deutlich. Dies ist von Interessensgemeinschaften, die auf gemeinsame Praktiken, Werte und Haltunge gründen, zu unterscheiden. In dieser Hinsicht müssen emergente Gemeinschaftsverständnisse mit dem neutestamentlichen „koinonia“-Begriff ins Gespräch gebracht werden. Damit ist nicht nur eine Charakterisierung des Gemeinschaftslebens der Kirche gemeint, sondern ihre Begründung im Wesen und Wirken des dreieinigen Gottes. Der Neutestamentler Ulrich Kuhnke beschreibt Gemeinschaft als „koinonia“, nicht als ein Zusammensein aufgrund gemeinsamer Erlebnisse, also nicht als „Sympathiegemeinschaft von Gleichgesinnten“, sondern als eine Gemeinschaft, deren Identität durch eine andere Realität konstituiert wird.199 So kann es allzu schnell zu einer „Totalität der
198 A. a. O., 172. 199 Kuhnke, Koinonia (1990), 103. Ich verdanke diesen Hinweis Robert Doornenbal. Siehe Doornenbal, Crossroads (2012), 64. Emergente Stimmen wie Leonard Sweet betonen, dass christliche Gemeinschaft (koinonia) nicht in einer Verbindung Gleichgesinnter aufgehen soll, sondern auf ein offenes Beziehungsgeflecht abzielen soll. Er unterscheidet zwischen „groups that are bonding“ (Gleichgesinnte) und „groups that are bridging“ (Beziehungsgeflecht der Verschiedenen). Sweet, The Gospel
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Gemeinschaft“ kommen, wenn sich Gemeinschaft nicht aus dem Angesprochensein durch Gott etabliert.200 In paulinischer Tradition wird, wie etwa in Phil 3,10 f.201, „koinonia“ als ein In-Christus-Sein verstanden, also eine Teilhabe an Christi Tod und Auferstehung, die zugeeignet wird.202 Diese von Gott gewährte „koinonia“ soll in allen Lebensdimensionen der christlichen Gemeinde zum Ausdruck kommen (z. B. materieller Austausch, Kollekte usw.).203 Eine daraus entstehende Gemeinschaft ist erst in einem zweiten Schritt abgeleitet von der durch die mit dem dreieinigen Gott gestiftete Gemeinschaft. Der Terminus „belonging before believing“ kann somit als soziologischer Begriff durchaus fruchtbar sein, als theologischer Begriff ist er jedoch unzureichend. „Belonging“ als theologischer „koinonia“-Begriff setzt voraus, dass es einen Unterschied gibt zwischen einer Gemeinschaft, die durch eine Teilhabe an Christus gestiftet ist und einer nachbarschaftlichen Gemeinschaft oder Interessensgemeinschaft. In neutestamentlichen Quellen ist eine solche Teilhabe an Christus eindeutig verknüpft mit Buße („metanoia“) und Taufe.204 Der Aspekt der Veränderung als Ausdruck lebendigen mündigen Christseins wird in der „Emerging Church“-
According to Starbucks (2007), 153. Sweet betont die Verbundenheit mit Jesus als die zentrale Gemeinsamkeit, wobei nicht deutlich wird, wie sich die christuszentrierte Verbundenheit anders zeigt als in einem personalen Bekenntnis. A. a. O., 149. Sweet bedient sich hier der Ergebnisse von Putnam, Bowling Alone (2000). 200 Wilfried Härle dazu: „Es sind nicht die wechselseitige Sympathie oder die Verbundenheit durch gemeinsame Interessen, die aus den Christen, die verschiedenen Geschlechtern, Klassen, Ländern, Konfessionen und Zeiten angehören, eine Kirche machen, sondern das Verbindende ist der gemeinsame Glaube, richtiger: Die hoffende Ausrichtung auf den einen Gott verbindet die Christen miteinander und konstituiert so Kirche.“ Härle, Dogmatik (2007), 571. Udo Schnelle verweist auf die frühchristlichen Gemeinden und schreibt: „In den christlichen Hausgemeinden verloren nun diese Unterschiede zwischen Menschen ihre Bedeutung. Alle wurden von Gott aus ihrem alten Leben herausgerissen und in eine neue Wirklichkeit gestellt, die Paulus als das Sein in Christus beschreibt.“ Schnelle, „Die Attraktivität der frühchristlichen Gemeinde“ (2014), 81. Nur knapp merken Ganiel und Marti an, dass es für einige auch eine „It’s almost too much community“ gibt. Ganiel / Marti, The Deconstructed Church (2014), 53. 201 Phil 3,10 f.: „Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Koinonia seiner Leiden und so seinem Tode gleichgestaltet werden, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten. Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin.“ (nach Lutherbibel 2017). 202 Schwöbel, Art. „Koinonia“ (2001), 1478. Oder auch Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (1993), 103. 203 In der Apostelgeschichte werden als Kennzeichen der „Koinonia“ apostolische Lehre, Brotbrechen, Gebet und gemeinsame Güternutzung genannt (Apg 2,42; 44–47a). 204 Zuweilen wirkt es bei emergenten Stimmen so, als ob Gemeinschaft „belonging without belie� ving“ anbietet. Emergente Stimmen betonen, dass jeder kommen kann, wie er ist, und jeder bleiben darf, wie er ist.
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen
635
Konversation im Gemeinschaftsbegriff selten intentional und zielgerichtet in den Blick genommen. In diesem Sinn ist christliche Gemeinschaft auch „ekklesia“, nicht nur öffentliche Versammlung, sondern auch „herausgerufene Gemeinde“.205 Natürlich ist es aus menschlicher Sicht nicht möglich zu beurteilen, wo eine wahre „koinonia“ vorherrscht. Gleichzeitig ist an eine Teilhabe an Christus dort verheißen, wo im Glauben die äußerlichen Zeichen von Wort und Sakrament empfangen werden. Hier zeigt sich eine deutliche Unterscheidung zu der in der Konversation propagierten Teilhabe am „Reich Gottes“ durch Werte oder Haltungen. Das Werk der Gemeinschaft wird von Gott selbst geschaffen und nicht vom Menschen. Dem widerspricht jedoch nicht, dass der Christ aus einem neuen Gehorsam, also aus einer befreiten Existenz heraus Werke tut. Der christliche Glaube und seine ekklesiale Existenz, die sich in christlichen Werten, Haltungen und Praktiken ausdrücken und womit eine wesentliche ethische Dimension mitinbegriffen ist206, sind stets auf das Wort Gottes und die Predigt des Gekreuzigten bezogen. Gute Werke an sich sind nach Luther jedoch kein Signum für eine befreite Existenz, denn für ihn gilt, dass die Heiden ebenso in guten Werken geübt sind, diese jedoch nicht aus dem Hören auf Gottes Wort tun.207 Orthopraxie, die nicht aus dem Hören auf Gottes Wort erwächst, ist, gemäß Luther, nicht eindeutig als „koinonia“ erkennbar. Gleichzeitig erwächst aus der Teilhabe an Christus eine Praxis, die seit dem Urchristentum die Attraktivität christlicher Gemeinde begründet.
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen 2.4.1 Aspekte theologischer Diskurse In der Konversation werden theologische Diskurse stark orientiert an spirituellen Erlebnissen und an handlungsorientierten und partizipativen Formaten. Die prinzipielle Infragestellung theologischer Diskurse und ihrer systemati-
205 Von ihrem Wortsinn her bezeichnet die „ekklesia“ die Herausgerufenen aus der Welt, was zum Beispiel durch die doppeldeutige Metapher der παρεπιδήμοις in 1Petr 1 deutlich wird und anknüpft an die ausgesonderte Stellung Israels als Volk Gottes und ַעמ יהוהim Alten Testament. Zu der christlichen Gemeinde gehört also wesentlich eine exklusive Komponente, mit der sie sich von der Welt unterscheidet. Vgl. Kandler, Das Wesen der Kirche nach evangelisch-lutherischem Verständnis (2007), 11. 206 Theißen, Einführung in die Dogmatik (2015), 74–79. 207 Vgl. Bayer, Martin Luthers Theologie (2007), 238.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
schen Aussagekraft sowie der Wunsch von situativen, lebensgeschichtlichen, konkreten Lösungen stehen in der Konversation in der Herangehensweise theologischen Arbeitens und Denkens im Vordergrund. Eine an Erlebnissen orientierte Theologie kann als Pendelbewegung zu einer (besonders) im Evangelikalismus und den „mainline“-Kirchen ausgeformten Theologie (ämterzentrierte Lehre / Orientierung an dogmatischen Lehrmeinungen / „bounded set“-Verständnis / Glaube als operationalisierbares Produkt / abstrakte Überzeugungen, die eine persönliche Relevanz vermissen lassen etc.) beschrieben werden.208 Die Ausformungen und Konsequenzen solcher Diskurse sind für die Konversation genügend beschrieben worden – etwa in der einseitigen Deutung der „Reich Gottes“-Verständnisse oder der kreuzestheologischen Debatten. Einerseits bedarf ein solcher Zugang einer angemessenen Würdigung, andererseits einer kritischen Reflexion. Würdigend kann hervorgehoben werden, dass die theologische Entwicklung, ausgehend von einer „gelebten Religiosität“, an die gegenwärtige (englischsprachige) Forschung anschließt. Hier geht es zunächst nicht nur um die methodische Beachtung von vielfältigen Zugängen zu theologischem Arbeiten, etwa der audiovisuellen Dimension oder des veränderten Schreib- und Leseverhaltens durch die gegenwärtigen Informations- und Kommunikationstechnologien. Mit der „Emerging Church“Konversation zeigt sich eine Variante einer „ordinary theology“. Jeff Astley hat diesen Begriff für das Theologisieren von nicht theologisch ausgebildeten Personen eingeführt.209 „Ordinary theology“ entsteht, wenn Christen über ihren Glauben sprechen und diesen reflektieren („God-talk“). Der Ort der Reflexion ist der eigene Kontext – das Zuhause, die Familie, im Bus etc. – und nicht die Kirche (als Sozialraum oder Gebäude) oder die Universität. Eine solche Art Theologie zu betreiben ist erfahrungsgesättigt, erzählerisch, autobiografisch und unsystematisch. Das Ziel ist nicht, präzise, kohärente oder systematische Aussagen zu tätigen, die im Allgemeinen Gültigkeit erlangen sollen.210 Das Potenzial einer „ordinary theology“ liegt darin, wahrzunehmen, was Menschen glauben, und darin, aufzuzeigen, welche Relevanz das Geglaubte für sie hat.211 208 Hier fällt zum einen eine plakative und pauschale Verwendung und Austauschbarkeit der Begriffe „evangelikal“, „Megakirchen“, „modern“ auf. Zum anderen wird eine unklare Zuweisung von biblischem, theologischem, historischem und kulturellem Gebrauch der Begriffe deutlich. Vgl. Bielo, Emerging Evangelicals. Faith, Modernity, and the Desire for Authenticity (2011), 197. Zu den genannten Stichworten siehe Abschnitt II Kapitel 1.4 Missionstheologische Grundbegriffe aus dem anglo-amerikanischen Kontext. 209 Astley, Ordinary Theology (2002); Astley / Francis, Exploring Ordinary Theology (2013). 210 Astley, Ordinary Theology (2002), 1, 55–57, 140–145. 211 A. a. O., 145–148.
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen
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Die Informations- und Kommunikationstechnologien, speziell „social media“, spielen nun dahingehend eine Rolle, dass Texte, Inhalte, Bekenntnisse und „Festgelegtes“ entgrenzt werden und es zu einer Art „Hypertextualität“ religiöser Kommunikation und schließlich der religiösen Identitätsbildung kommt. Moody führt mit Blick auf die online Kommunikation aus: „The interactivity denied by the closed texts of printed theological treatises is encouraged in the blogosphere, serving to create ‚ordinary’ theologians and theological communities, and to provide a platform for their textual interactions together.“212 Im Sinn einer kritischen Würdigung soll hier ein bereits genanntes Argument wiederholt werden, nämlich gelebte Religiosität mit überlieferten Lehrmeinungen ins Verhältnis zu setzen und ins Gespräch zu bringen. Wenn eine „ordinary theology“ dazu führen würde, Glaubenstraditionen und Bekenntnisgrundlagen zu ersetzen, dann würde man unweigerlich den Boden reformatorischer Glaubensüberzeugung verlassen und eine post-christliche, individuelle Spiritualität vertreten. Susanne Heine warnt in diesem Zusammenhang von einer Normativität des Faktischen.213 Bei Protagonisten der „revisionist“-Strömung sind in dieser Hinsicht religionstheologische Relativierungen zu erkennen, die mit einer weitreichenden Relativierung der christlichen Lehre einhergehen. Der göttliche Logos wird von Jesus von Nazareth losgelöst betrachtet, der Stellvertretungsgedanke wird ausgeschieden, die Trinitätslehre wird interreligiös aufgelöst, die Gotteserwählung wird universalisiert. Es ist die Tendenz zu erkennen, das partikulare Heilsgeschehen in Jesus Christus auszublenden und das Spezifikum christlichen Glaubens durch einen Kanon moralischer Überzeugungen zu ersetzen.214 Im Zusammenhang dieses Gedankenganges stellt sich die Frage, wie eine vertiefende Orientierung geboten werden kann, ohne dabei Orientierung in Form von Lehrtraditionen oder Autoritäten zu haben. Die Gefahr einer beliebigen Pluralität von Lehrmeinungen wurde bereits mit Schneider-Flume kritisierte. In der Konversation wird seit Ende der zweiten historischen Phase und dem Ausscheiden der Protagonisten der „relevant“-Strömung eine solche Gefahr nicht wahrgenommen. In emergenten Vergemeinschaftungsformen, die sich innerhalb bestehender religiöser Organisationen befinden, zeigen sich in dieser Hinsicht Alternativen. So werden beispielsweise durch die konfessionelle 212 Moody, „The Desire for Interactivity and the Emerging Texts of the Blogosphere“ (2008), 104. 213 Heine, „Gelebte Religion“ (2010), 80. 214 Diese Gedanken sind vergleichbar mit den Ausführungen von Henning Wrogemann, der über die ökumenischen Debatten der Gegenwart im Zusammenhang des christlich-muslimischen Dialogs spricht. Es ist eine augenfällige Ähnlichkeit zu theologischen Entwürfen von Michael von Brück und Mark Heim zu erkennen. Vgl. Wrogemann, Theologie Interkultureller Beziehungen (2015), 81–91. Wrogemann, „Wie kann ein christliches Glaubenszeugnis gegenüber Muslimen begründet werden“ (2016), 310–313.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Ausbildung, strukturelle Beauftragung und Einsetzung leitender Personen in Gemeinschaften Sicherheiten geboten (wie beispielsweise im Fall von Nadia Bolz-Weber). Nichtsdestotrotz sind in der Konversation, die eine Variante von „ordinary theology“ aufweist, substanzielle inhaltliche Lücken zu beobachten. Der Verzicht auf inhaltliche Säulen des christlichen Glaubens, etwa Sündenlehre, Christologie, Stellvertretungs- und Gnadenlehre bedeutet jedenfalls, die Grundlagen neutestamentlicher wie auch reformatorischer Theologie zu verlassen. Protestantische Theologie ist eingebettet in das Spannungsfeld von Schrift, Bekenntnis und systematischer Theoriebildung215 und eben auch der Erfahrung der Person216 – wie besonders durch die Konversation deutlich vor Augen geführt wird. Wenn jedoch eine „ordinary theology“ dazu führte, nach einer angemessenen und anschlussfähigen Sprache überlieferter Bekenntnisse zu fragen – und mit dem Erleben der Person in Verbindung zu bringen –, dann würde dies den reformatorischen Anliegen insofern entsprechen, als eine sprachliche Aktualisierung und die Suche nach Anschluss und Relevanz deutlich werden würden.217 Nach dem oben skizzierten Verständnis einer theologischen Anthropologie gilt es folgende Spannung auszutarieren: Einerseits zeigt sich christliche Existenz im Theologisieren und im Finden theologischer Sprach- und Urteilsfähigkeit. In dieser Hinsicht wird dem anthropologischen Ort des Glaubens, beispielsweise dem Gefühl, Zutrauen entgegengebracht. Andererseits ist sich das religiöse Subjekt – wie dargestellt – im Letzten selbst verborgen und auf Erkenntnis und Wahrheit von außen angewiesen. Obwohl diese Wahrheiten natürlich nicht unmittelbar in den Bekenntnissen und Lehrmeinungen einer theologischen Tradition abgebildet sind, zeugen Bekenntnisse und geformte Lehrmeinungen von einem beständigen Theologisieren und Formieren – und sind „Zeugnis des Wortes Gottes“218. Sie sind „normae normatae“ und haben (in ihrem „abgeleiteten Charakter“) eine „anleitende Funktion“.219 Sie sind hermeneutische Schlüssel, die „den Zugang zur biblischen Botschaft erschließen [sollen].“220 215 Haigis, Pluralismusfähige Ekklesiologie (2008), 61. 216 Siehe dazu Ebeling, „Schrift und Erfahrung“ (1978). Vgl. zum Versuch einer Rehabilitierung der religiösen Erfahrung: Gäckle, „Ich schäme mich des Evangeliums nicht, denn ist eine Kraft Gottes“ (2018). 217 Es kann an Richard Becks Kritik erinnert werden, der meint, dass eine Verbindung zwischen dem Erleben und den Überzeugungen emergenter Protagonisten fehle. Er vermisse in dieser Hinsicht eine „supportive theology“. Beck, Reviving Old Scratch (2016). 218 Vgl. dazu Ebeling, „Wort Gottes und kirchliche Lehre“ (1966), 173. 219 Abgeleitet ist das Bekenntnis („norma normata“) von der Bibel („norma normans“). Härle, Dogmatik (2007), 150–155. 220 A. a. O., 151.
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen
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Zudem erscheint es in der hier skizzierten Argumentationslinie problematisch, das Erlebte von der konfessorischen Existenz zu lösen. Damit soll nicht einem Misstrauen in das Gefühl Vorschub geleistet, sondern an die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch erinnert werden. Im Hinblick auf „ordinary theology“ ist kritisch zu bemerken, dass es eine kritische Distanz zum eigenen Erleben braucht und alleinig die Welterfahrung – theologisch gesprochen – nicht geeignet erscheint, den Glauben zu bestätigen. Die Welterfahrung führe vielmehr in die Anfechtung, die ertragen und überwunden werden solle, so Luther. Ein zweites kritisches Argument soll angeführt werden. Eine gelebte Religiosität, die im Sinn einer „ordinary theology“ geformt wird, muss danach befragt werden, welche Rolle Theologie als methodisch diszipliniertes Nachdenken spielt. Härtner weist in seiner Kritik an emergenten theologischen Diskursen auf ein eben solches Defizit hin.221 Susan Burt, die in ihrer Untersuchung der Frage nachgeht, wie „Christian education“ in der Konversation geschehe, erkennt, dass Lernen über „imagination“ vollzogen werde. „Imagination“ meint, dass Emotionen und Erlebnisse in einen biblischen Text hineingelegt werden. Burts weist darauf hin, dass argumentative und kognitive Aspekte fehlen würden. Für Burt zeige sich in der Konversation – im Gegensatz zu der Argumentation in diesem Kapitel – wie Theologisieren unter postmodernen Bedingungen geschehen müsse. Vergleichbar formuliert es Grenz. Grenz meint, dass eine „postmoderne“ Artikulation des Evangeliums post-rationalistisch sei222 und man sich damit auf die Dimension des Gefühls konzentrieren müsse. Grenz, Burt und emergenten Protagonisten kann in der hier dargestellen Argumentationslinie widersprochen werden. Sie beachten nicht das Zusammenwirken der drei unterschiedenen anthropologischen Orte des Glaubens Gefühl, Verstand und Wille. Zudem darf, um Härtners Votum aufzugreifen, theologische Urteilsbildung nicht dem Belieben ausgesetzt oder der menschlichen Auslegungswillkür preisgegeben werden. Konkret kristallisiert sich eine aus den Erlebnissen abgeleitete Theologie in der Bezugnahme auf mystische Elemente oder Metaphern. Ein Drang zur einer solchen Spiritualität223 ist beispielsweise darin zu erkennen, dass von einer
221 Härtner, „Emerging Church“ (2009), 130. Härtners betonen das, was Ebeling mit der Aufgabe „theologischer Erörterung“ in Verbindung bringt. Ebeling sagt: „Theologische Eröertung soll gründlichem Verstehen dienen.“ Ebeling, „Wort Gottes und kirchliche Lehre“ (1966), 158. 222 Grenz, A Primer on Postmodernism (1996), 171. 223 Mit diesem Begriff kann die thematische Vielfalt der spirituellen Ausdrücke beschrieben werden als Innerlichkeit, ekstatische Erlebnisse, Wunsch einer Begegnungen mit dem Übernatürlichen, eine Unmittelbarkeit vertikaler oder horizontaler Transzendenzgefühle oder auch religiöser Eskapismus.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Partizipation an der Trinität Gottes gesprochen wird.224 Neben der Unklarheit, wie sich dies konkret beschreiben lässt, erkennt der systematische Theologe Miroslav Volf die Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Zugangs, Theologie durch Analogien zu betreibt: „Although trinitarian ideas can undeniably be converted into ecclesiological ideas […] it is undeniable that this process of conversion must have its limits, unless one reduces theology to anthropology, or, in a reverse fashion, elevates anthropology to theology.“225 Volf ist zuzustimmen, wenn er zu Vorsicht mahnt, trinitarische Ideen vorbehaltlos auf Ekklesiologie und die Sozialgestalt der Kirche – in diesem Fall emergente Gemeinschaften – zu übertragen. Damit werden Grenzen der Theologie und Anthropologie übergangen. Volf verweist aber auf die Möglichkeit einer Diskussion der Entsprechung, wenn er sagt: The correspondance of trinitarian and ecclesial communion, therefore, builds on the catholicity of the divine persons. Like individual persons, so also entire communities have specific identifying charateristics […]. And like persons, they transmit these characteristics to other communities. By opening up to one another both diachronically and synchronically, local churches enrich one another, thereby increasingly becoming catholic churches.226
In der Sprachfindung emergenten Theologisierens kommt es nicht nur zu einer Fokussierung auf erlebnisorientierte Aspekte theologischen Denkens, sondern zu einer Hinwendung zu apophatischen, negativen Aussagen über Gott. Diese stehen in enger Verbindung mit dem eigenen Erleben der Gottesferne. Das Ablegen affirmativer, bejahender Aussagen über Gott (kataphatisch) signalisiert
224 Dies wird in der US-amerikanischen evangelikalen Theologie mehrfach thematisiert, so auch von Stanley Grenz. Beispielhaft sagt Stanley Grenz: „Ultimately then, we enjoy the fullness of community as, and only as God graciously brings us to participate together in the fountainhead of community, namely, the life of the triune God […] The community that is ours is nothing less than shared participation – a participation together – in the perichoretic community of Trinitarian persons. […].“ Grenz, „Ecclesiology“ (2003), 268. Grenz weiter: „In the end, par� ticipation in the perichoretic dance of the triune God as those who by the Spirit are in Christ is what constitutes community in the highest sense and hence marks the true church […].“ A. a. O. 225 Volf, After Our Likeness (1998), 198. Vergleichbar formuliert er an anderer Stelle: „In a strict sense, of course, there can be no correspondence to the interiority of the divine persons at the human level. Another human self cannot be internal to my own self as the subject of my actions. Human persons are always external to one another as subjects. The indwelling of other persons, in facts, is an exclusive prerogative of God. Furthermore, even the divine persons indwell human beings in a qualitatively different way than they do one another.“ Volf, „Com�munity Formation as an Image of the Triune God“ (2002), 227. 226 A. a. O.
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen
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eine sprachliche Ungewissheit, die sich in die Sprachlosigkeit flüchtet. Gemäß den theologischen Ausführungen in dieser Arbeit erscheint es problematisch, Glaube und Vernunft als Gegensätze zu betrachten und sich in eine ausschließliche Erlebnisorientierung zu flüchten. Die Suche nach einer angemessenen theologischen Sprache spiegelt sich ebenfalls in dem Gebrauch ironischer Mittel wider – wie besonders Bielo und Packard herausstreichen.227 So ist die Suche einerseits ein Widerhall der Fragmentarität des Glaubens und andererseits Symptom des Zweifels. An dieser Stelle müssen die Auswirkungen dekonstruierender Sprache auf das religiöse Selbst- und Gemeinschaftsverständnis bedacht werden. Die durch Sprache konstruierte Wirklichkeit benötigt für eine stabile religiöse Identitätsbildung neben dekonstruierenden auch konstruierende Prozesse, um zweifelnden Subjekten Sicherheit und Stabilität zu vermitteln. Was kann über Identitätskonstruktionen in der Konversation gesagt werden? Zunächst fällt auf, dass dem Ringen um religiöse Identitätskonstruktion und Identitätssicherung in Zeiten des Zweifels durch Erzählen begegnet wird.228 Damit zeigen sich Ähnlichkeiten zu Theorien narrativer Identitätskonstruktion.229 Darin wird die These aufgestellt, dass das Erzählen der Lebensgeschichte und der darin erzählte Umgang mit dem Phänomenen der Loslösung und Abwehr für die Konturierung der Identität zentral sind. Es wird deutlich, dass Widerfahrnisse in eine Ordnung und Struktur gebracht werden, die durch Auswahl und Umformung Gestalt bekommen. In der Konversation wird hinsichtlich des Erzählverhaltens vor Augen geführt, dass der Einsatz von Erzählungen Partizipation fördern soll. So wird beispielsweise methodisch durch verschiedene Stationen in Gottesdiensten die Möglichkeit geboten, die eigenen Fragen und Erfahrungen in die Erzählung „einzutragen“ und dadurch die Erzählung für die 227 Vgl. Bielo, Emerging Evangelicals (2011), 62–69. Packard, The Emerging Church (2012), 145– 170. 228 Siehe dazu beispielhaft Rollins, The Orthodox Heretic and Other Impossible Tales (2009). 229 Im Hinblick auf den identitätsstiftenden Wert des Erzählens können die Beobachtungen des katholischen Theologen Schröder herangezogen werden, der Erzählprozesse in sozialen Transformationsprozessen untersucht und auf kirchliche Erneuerungsprozesse überträgt. Er spricht darüber – und das lässt sich für die Konversation beobachten –, dass in den Erzählungen über Veränderungen drei Aspekte behandelt werden: 1) „story of self “ 2) „story of us“ und 3) „story of now“. Zu 1) stellen sich Partizipierende die Frage, warum sie Teil der „Bewegung“ sind. Zu 2) wird ein verbindendes Narrativ entwickelt und 3) behandelt den Aspekt, warum die Bewegung in der betreffenden Gegenwart als dringend notwendig wahrgenommen wird. Die „Emerging Church“-Konversation beschäftigt sich mit den Aspekten 2) und 3) und öffnet Kommunikationsräume, damit Individuen ihre Narrative zu 1) entwickeln können. Vgl. Schröder: „Mehr Drama bitte!“, https://www.euangel.de/ausgabe-1-2017/sprache/storytelling/ am 05.05.2018. Ich verdanke diesen Hinweis Maria Herrmann.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Gemeinschaft zu bereichern. In gottesdienstlichen Veranstaltungen und anderen Vergemeinschaftungen kommen biblische und außerbiblische Geschichten sowie Erzählungen vor, die in der lebensgeschichtlich verhafteten Krise Interpretationshilfen und Deutungsschemata anbieten. Auf die identitätsstiftende Kraft des Erzählens wurde bereits an mehreren Stellen hingewiesen. In der „Emerging Church“-Konversation entdeckt man, dass es nicht nur die biblischen oder die in der eigenen spirituellen Tradition verorteten Geschichten sind, die in Gemeinschaften, gottesdienstlichen Handlungen und Diskursen eingebracht werden. Dies hängt nicht zuletzt mit Offenbarungsverständnissen und einem pneumatologisch aufgeladenen Welt- und Wirklichkeitsverständnis zusammen, die die christliche Religion und das Zeugnis der Heiligen Schrift in dieser Hinsicht nicht exklusiv verstehen. Im Hinblick auf eine Vergewisserung und den Zweifel überwindende christliche Identität kann das Zeugnis der Heiligen Schrift nicht ohne Weiteres mit außerbiblischen Schriften gleichgesetzt werden. Ohne in die komplexen Debatten des Verständnisses der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus und ihr Verhältnis zur Heiligen Schrift eindringen zu können, kann mit einem Rückgriff auf die reformatorische Bekenntnistradition von einer Sonderstellung der Heiligen Schrift gesprochen werden.230 Diese Sonderstellung gilt es auch im Blick auf Interpretationshilfen und Deutungsschemata beizubehalten.231 Ein anderer nicht minder wichtiger Aspekt des Erzählens, der in der Konversation deutlich wird, wird von Alister McGrath konturierter beschrieben.232 Er fragt nach der Bedeutung des Erzählens für die christliche Gemeinschaft in der Postmoderne und sagt: „Auf diese Weise lässt sich die Kirche als eine Gemeinschaft verstehen, die von der christlichen Erzählung ins Leben gerufen ist und diese Erzählung in ihren Handlungen, insbesondere in ihrer sakramentalen Existenz, verkörpert. Durch Predigt, Gottesdienst und Feier bezeugt die Kirche die Erzählung, auf der sie gegründet ist.“233 McGrath weist darauf hin, dass sich das Erzählen in besonderer Weise auf Dogmen beziehen. Er sagt: „Das Mysterium des Glaubens lässt sich nicht bewahren, ohne ein intellektuelles Gerüst zu erarbeiten, das es vor Erosionen und Schaden schützt. Die christliche Dogmatik beschützt unsere Wasserlöcher und stellt sicher, dass ihre
230 Härle, Dogmatik (2007), 111–139. 231 Kritisch bemerkt Wells, dass dort, wo in der Konversation ein nachvollziehbares Schriftverständnis fehle, es keine Klarheit und Auskunft über die theologischen Verständigungen gebe. Siehe Wells, The Courage to be Protestant (2008), 80–87. 232 McGrath, „Erzählung, Gemeinschaft und Dogma“ (2010). Vgl. auch Hovi, „Religious Convic� tion Shaped and Maintained by Narration“ (2004). 233 McGrath, „Erzählung, Gemeinschaft und Dogma“ (2010), 31.
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Lebenskraft bestehen bleibt und die Menschen ihre Anziehungs- und Transformationskräfte genau verstehen.“ Die Beschäftigung mit Dogmatik diene dazu die Wirklichkeit des Glaubens „in Ehren zu halten, zu identifizieren und zu verkünden. Wahre Dogmatik erwächst auf dem Nachdenken über die christliche Erzählung.“234 In diesem Sinn ist für zweifelnde Subjekte die Kraft der Narration wiederzugewinnen.235
2.4.2 Die Begegnung mit dem Anderen Die Begegnung mit dem Anderen wird in der Konversation vielschichtig thematisiert. Im Folgenden sollen einige wenige Aspekte beachtet werden, die im Hinblick auf die Methode der Begegnung relevant erscheinen – nämlich Begegnung durch Dialog und Konversation. Zunächst kann das Bedürfnis für Dialog skizziert werden. Der Wunsch, dass sich religiöse Orientierung durch Konversation generiert, ist im Kontext dekonversiver Erfahrungen nachvollziehbar, da Debatten und Verständigung eben jene Prozesse sind, die emergente Protagonisten in ihrer vormaligen Gemeinschaft häufig vermisst haben. Im Hinblick auf einen interreligiösen Dialog bedarf es aber – in der theologischen Argumentationslinie dieser Arbeit – eines differenzierten Herangehens. Verhältnisbestimmungen zu anderen Religionen und spirituellen Traditionen sind zunächst hinsichtlich ihrer Würdigung für andere Traditionen und der Suche nach gemeinsamen Überzeugungen zu beachten und wertzuschätzen. Das Bestreben tragfähige soziale Lösungen zu suchen und der Wunsch nach nachhaltigen diakonischen Veränderungen ist ein zu würdigender Aspekt interreligiöser Bemühungen in der Konversation. Dazu spielt der „Dialog“-Begriff eine bedeutende Rolle. Besonders in der „revisionist“-Strömung und der Konversation gegen Ende der zweiten und in der dritten historischen Phase ist ein Dialogverständnis zu beobachten, das Wrogemann als Informationsdialog oder Konsensdialog beschreibt. Während Informationsdialog darauf bedacht ist, in den Dialog zu treten, um Kenntnis über das Gegenüber zu gewinnen, ist man im Konsensdialog auf der Suche nach gemeinsamen Überzeugungen, die zur Gesprächsbasis werden können. Ausgespart wird ein Überzeugungsdialog, also ein Dialog, bei dem Dialogpartner einander von der eigenen Überzeugung 234 A. a. O., 37. 235 Dieser Gedanke schließt an die Ausführungen zur Plausibilitätsstruktur (Berger) an. Narration dient demnach der Stärkung der Plausiblität christlichen Glaubens in der Gemeinschaft. Siehe dazu Abschnitt IV Kapitel 2.3.8 „Emerging Church“-Gemeinschaften als homogene Einheiten.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
überzeugen wollen. Nach Wrogemann kann ein solches Aussparen zu religionspluralistischen Ansätzen führen, die von dem christlichen Glauben differieren.236 In der „Emerging Church“-Konversation sind etwa in der „revisionist“-Strömung solche Ansätze zu erkennen. Mit Blick auf ein Dialog-Verständnis, das von einer konfessorischen Existenz ausgeht – und nicht nur von einer dialogischen Haltung –, müsse man Wrogemanns Spannung von Anerkennung und Zurückweisung im Gespräch mit anderen Religionen aufnehmen.237 Ein ausgewogener „Dialog“-Begriff beinhaltet dahingehend ebenso den Aspekt des dialogischen Nein-Sagens.238
2.4.3 Über einen begrenzten und notwendigen Dualismus Zunächst sind jene Diskurse in der Konversation aufzurufen, die einen Dualismus von sakral und profan thematisieren. Einerseits werden damit theologische Entwicklungen im Evangelikalismus thematisiert, die aus Sicht von emergenten Protagonisten beispielsweise zu einem Rückzug aus der Welt und ihren Anliegen und zu geschlossenen christlichen Kreisen und einer christlichen Kultur geführt haben. Darum wird in der Konversation eine Verfälschung des christlichen Glaubens kritisiert. Dabei sind an verschiedenen Stellen die Belange der Welt in den Hintergrund gerückt. Stimmen, wie McLaren, ist dahingehend zuzustimmen, dass der christliche Glaube zu einem Engagement in der Welt anregen und anleiten soll. Andererseits sprechen emergente Protagonisten den zu überwindenden Dualismus an, nämlich Gottesdienst und kirchliches Handeln als „sakral“ und alltägliche Vollzüge als „profan“ zu verstehen. Eine solche Trennung führt in ein gespaltenes und schließlich krank machendes Verständnis des christlichen Glaubens – im Hinblick auf seinen das ganze Leben umfassenden Anspruch. In der Argumentationslinie dieser Arbeit, in der der Glaube als geschichtlicher Glaube dargestellt wurde, soll Glaube als eine das ganze Leben umfassende Teilhabe an Gottes Wirken verstanden werden. Inso236 Wrogemann, Theologie Interreligiöser Beziehungen (2015), 297–312. 237 Wrogemann, „Wie kann ein christliches Glaubenszeugnis gegenüber Muslimen begründet werden“ (2016), 317. Außerdem ist zu kritisieren, dass der emergenten Mission und Evangelisation theologische Verbindlichkeiten abhanden zu kommen scheinen. Auf den notwendigen Zusammenhang von Christologie, Missiologie und Soteriologie wurde bereits verwiesen. Abschnitt II Kapitel 10.3.1 Zum Missionsverständnis. Vgl. dazu auch Mackenzie, „Mission and the Inclusive Kingdom of Jesus“ (2015). Mission und Evangelisation scheinen eine Frage der Haltung und nicht der inhaltlichen Auseinandersetzung zu sein. 238 Wrogemann, „Wie kann ein christliches Glaubenszeugnis gegenüber Muslimen begründet werden“ (2016), 320.
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen
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fern ist Glaube integrativ, also im Hinblick auf das Heil und das Wohl des Menschen zu deuten. Die in der Konversation thematisierte Befürchtung, dass eine christliche religiöse Orientierung sich ausschließlich auf die Belange des persönlichen Heils fokussiert und damit zu einem Rückzug aus den „weltlichen“ Vollzügen führt, ist im Sinn eines bereits diskutierten integrativen Glaubensverständnisses abzulehnen.239 Kritik, die einerseits den christlichen Glauben vielschichtig und integrativ versteht und andererseits den christlichen Glauben im Zusammenhang der alltäglichen Fragen sieht, ist neutestamentlich nachvollziehbar. Im Hinblick auf Anteile dekonversiver Prozesse und zweifelnde Anfragen ist es eben jenes Hinterfragen vermeintlicher, zum Teil unvereinbarer Gegensätze, die zu einer Überwindung und zugleich Entgrenzung dualistischer Verhältnisse geführt haben. Gleichzeitig ist die durch den christlichen Glauben geschaffene Exklusivität christlicher Existenz nicht aufgebbar. Durch den christlichen Glauben wird der Mensch stets aus den vorherigen Gefügen (Familie, Welt etc.) herausgerufen, in Folge wieder hineingestellt, bleibt ihnen aber fortan ein wenig fremd. Hierin liegt die Exklusivität der christlichen Existenz, die sich zwar mit den Belangen der Welt solidarisieren kann und soll, jedoch durch den Geist Gottes in die christliche Gemeinschaft gestellt ist, die sodann in die Welt gesandt ist. Die Exklusivität des Sich-Gebens-Gottes, wie es Schwöbel formuliert, die sich in einer exklusiven Gemeinschaft kristallisiert, kann und darf nicht zu Gunsten einer Anpassung an die „Tagesordnung“ der Welt aufgegeben werden. Es bleibt gegensätzlich, einerseits soll ein Dualismus überwunden werden, andererseits soll an einer beschriebenen Exklusivität festgehalten werden. Diese bleiben aufeinander bezogen und lassen sich nicht einseitig auflösen. Eine bestehende Gegensätzlichkeit ist darin begründet, dass es noch keine universale Versöhnung Gottes mit der ganzen Welt gibt, sondern diese noch aussteht – jedoch in der sichtbaren Kirche fragmentarisch erfahrbar wird.240 Darüber hinaus machen 239 Vgl. Boursier, „The Necessity of Social Just-ness for a Postmodern Ecclesi-odicy“ (2015). 240 Obgleich das Anliegen hinter einer Überwindung des Dualismus von profan und sakral in der „Emerging Church“-Konversation zu würdigen ist, werden in der Konversation Argumente laut, die in den ökumenischen Diskussionen von 1950–1970 (ÖRK) bereits zu einem Widerruf solcher Forderungen geführt haben. Man kann der Konversation eine theologiegeschichtliche Ignoranz vorwerfen, denn es wurde in den ökumenischen Debatten beispielsweise durch Lesslie Newbigin auf die Einzigartigkeit, Notwendigkeit und Exklusivität der Kirche hingewiesen. Die „Emerging Church“-Diskussion täte gut daran, die Positionen und Diskussionen und schließlich die Brückenschläge der ökumenischen Bemühungen des vorherigen Jahrhunderts wahrzunehmen. Emergente Diskurse erinnern dabei an Debatten im ÖRK in den 1950er- bis 1970er-Jahren, die beispielsweise prominent vom Sekretär des Referats für Evangelisation im ÖRK Johannes Christian Hoekendijk vorangetrieben wurden. Hoekendijk vertrat, ähnlich wie Protagonisten der „revisionist“-Strömung, die Meinung, dass die Kirche hinsichtlich des „Reiches Gottes“
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Menschen in der christlichen Gemeinschaft Differenzerfahrungen, die ebenfalls eine missionarische Dimension haben können. Die hier vorgeschlagene Argumentation ließe sich einreihen in die „postfoundationalist“-Debatte, beispielsweise wie in dem Ansatz von Roger Olson deutlich wird.241 Olson greift Hieberts „centered set“-Verständnis auf und kombiniert es mit dem „fuzzy set“. Er meint, dass es ein klares Zentrum (Christus, Bekenntnisse etc.) kombiniert mit beweglichen Grenzen geben müsse. Für Olson fügt sich das Zentrum aus Folgendem zusammen: Jesus Christus, das Evangelium sowie „biblicism, conversionism, crucicentrism, activism in missions and social transformation, and deferential respect for historic Christian orthodoxy.“242 Was das Zentrum betrifft, bleibt Olson natürlich im Evangelikalismus beheimatet. „Fuzzy“-Elemente erlaubt Olson bei der Frage nach der Organisation oder Struktur christlicher Sozialität.243 Ohne Olsons inhaltlicher Bestimmung zu folgen, kann dem methodischen Zusammendenken der verschiedenen Modelle gefolgt werden. Grundsätzlich kann aus Olsons Vorschlag gefolgert werden, dass es ein Zusammenspiel der drei verschiedenen „sets“ benötigt, also sowohl zentrale inhaltliche Überzeugungen, Phasen des Übergangs als auch unterscheidbare Grenzen („centered set“, „fuzzy set“ und „bounded set“). Was nun zu dem Zentrum gehört, ist in der protestantischen Tradition, trotz unterschiedlicher Strömungen, durchaus beantwortbar: das Rechtfertigungsgeschehen.244 Mit dem Rechtfertigungsgeschehen lasse sich „kontigente Gewissheit“ (Hoffmann) für den Einzelnen, für die Gemeinschaft und den Dienst in der Welt gewinnen. Ausgehend davon lassen sich Unterscheidungen und Grenzziehung bestimmen und ebenso flexible und bewegliche Bestimmungen eruieren (etwa Fragen nach Strukturen und Vergemeinschaftungsformaten). Für Grenzen spricht: „Boundaries and fences are crucial for any mature and healthy church; however, they should not been seen as either / or. Rather, boundaries should provide directions towards the center, Jesus
keine vorrangige Stellung und Aufgabe habe. Für eine Zusammenfassung der ökumenischen Debatten siehe Herbst, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche (2010), 172–198. Und auch Herbst, „Von Lausanne nach Kapstadt“ (2011). 241 Olson, Reformed and Always Reforming (2007). 242 A. a. O., 60. Olson übernimmt hier weitgehend Bebbingtons Merkmale des Evangelikalismus. 243 Da Hiebert selbst „fuzzy sets“ nicht auf christliche Vergemeinschaftungen übertragen hat, bleibt unklar, worauf „fuzzy“ in weiterer Folge noch „übertragen“ werden kann. Vgl. Yoder / Lee u. a., „Understanding Christian Identity in Terms of Bounded and Centered Set Theory in the Writings of Paul G. Hiebert“ (2009), 186. 244 Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens (2006).
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen
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Christ.“245 Pascal Bazzell beschreibt eine mögliche Zuordnung der Verständnisse mit der Metapher eines Trichters: „It is within this tension and movement that the church is constantly rearticulating the center. […] It is this dialectic tension between the boundaries, the context, and its center in Christ that is necessary in order to allow a community to live out and express its identity.“246 Fruchtbar lassen sich die „fuzzy“-Aspekte im Hinblick auf die Vergemeinschaftsformate machen, jedoch nicht im Hinblick auf die inhaltlichen Überzeugungen und Lehrmeinungen.247 Aus den genannten Gründen ist eine christliche Sozialität, die nicht als gesonderte Sozialität (im Verhältnis zu anderen Sozialitäten) – und damit als exklusiv – erkennbar ist und in den Belangen der Welt verschwindet, wie dies etwa Rollins propagiert, abzulehnen.248 Ebenso ist eine christliche Sozialität abzulehnen, die als Geschöpf und Werkzeug des Evangeliums ihrem Auftrag in der Welt nicht nachkommt und sich einer Zuwendung zur Welt verweigert. So bleibt christliche Sozialität in der Spannung zwischen einem begrenzten und einem notwendigen Dualismus.
2.4.4 Jesus als Vorbild Es fällt auf, dass eine ausgewogene Diskussion über die menschliche und göttliche Natur Jesu in der Konversation fehlt. Eine starke Verdiesseitigung ist, neben den „Reich Gottes“-Interpretationen, ebenso in dem Vorbildgedanken Jesu erkennbar. Dies mag aus dem Umstand erklärbar sein, dass es im anglo-amerikanischen Evangelikalismus eine Überbetonung der göttlichen Natur und des göttlichen Heilshandelns Jesu Christi gibt,249 die in der dekonversiven Bewegung emergenter Diskurse eine Umkehrung erfährt. Es findet eine Betonung sowie Reduktion auf das Menschsein Jesu als „exemplum“ bei emergenten Chris-
245 Bazzell, „Ecclesial Identity and the Excluded Homeless Population “ (2012), 111. Ähnlich for�muliert es Ormerod: „The establishment of boundaries is to be expected because one role of the church is to preserve the practice taught by Jesus, as well as the meanings and values that preserve those practices, including the meaning and value of Jesus’ own person as the definitive act of God in history.“ Ormerod, „Ecclesiology and Exclusion“ (2012), 215. 246 Bazzell, „Ecclesial Identity and the Excluded Homeless Population“ (2012), 112. 247 Weyers / Saayman, „Belonging before believing“ (2013). 248 Carson kritisiert diese Haltung und belegt mit neutestamentlichen Stellen, dass die christliche Gemeinschaft eine Gemeinschaft mit Grenzen sein muss (1Kor 6,9–11) und weist darauf hin, dass es in der Urchristenheit Formen der Ausgrenzung und Exkommunikation gab. Carson, Becoming Conversant with the Emerging Church (2005), 152. 249 Vgl. dazu Grenz, Renewing the Center (2006). Grenz / Franke, Beyond Foundationalism (2001).
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
ten statt. Es ist nicht neu, dass Jesus als „Inkarnation ethischer Postulate“ verstanden wird, wie Thielicke besonders für das 19. Jahrhundert feststellt.250 Dieser einseitigen Akzentuierung ist zu widersprechen, da dies letztlich zu einem „moralischen Jesus“ führt.251 In dieser Hinsicht wird „imitatio“ vornehmlich als ethisches Training verstanden, dem ein gesetzlicher Zug anhaftet. Hierbei wird Nachfolge und Christus selbst in problematischer Weise zum Gesetz gemacht.252 Mit Thielicke kann gefolgert werden: „Umgekehrt wird das Gesetz, das sich in der Forderung der imitatio meldet, seinerseits zum Evangelium gemacht, indem es die Verheißung der Christusähnlichkeit an seine Erfüllung knüpft.“253 Jesus Christus nur als Vorbild für eigenes Handeln zu sehen und nicht, vor allem, als „Sakramentum“, treibt den Menschen entweder in die Selbstgerechtigkeit oder in die Verzweiflung.254 Mit Eckstein soll für eine „hohe Christologie“ geworben werden, die darum bemüht ist, menschliche und göttliche Natur Jesu angemessen einzuordnen. „Er [Jesus Christus gilt vielmehr als die persönliche Gegenwart und Zuwendung Gottes. Alles, was von Christus im Evangelium bekannt wird, ließe sich von keinem Menschen, sondern theologisch gesprochen nur von Gott selbst […] aussagen.“255
2.4.5 Verständigung über die Kreuzestheologie Auf eine, nach reformatorischem Verständnis, wesentliche Orientierung an einer kreuzestheologischen Formatierung christlicher Existenz wurde bereits hingewiesen. Es bleibt noch auf die Interpretationsweisen kreuzestheologischer Bezugnahmen hinzuweisen. Würdigend ist zu erwähnen, dass in der „Emer250 Thielicke, Theologische Ethik (1981), 309. 251 Theologiegeschichtlich wurde diese Frage in mehreren Wellen der Historischer-Jesus-Forschung behandelt. 252 Thielicke folgert weiter: „[…] d. h. es würde gebieten statt zu schenken und wäre deshalb in seinem Wirksamwerden an Bedingungen geknüpft, sagen wir: an die Erreichung einer gewissen Mindestnähe zu diesem normativen Modell der Gestalt Christi. Darum hört das Evangelium auf, Trost in Anfechtung zu sein und übt statt dessen die Funktion des Gesetzes in der Weise aus, daß es mich gerade in die Anfechtung stürzt und in der Anfechtung erhält. Hier meldet sich als resultierende Haltung die desperatio.“ Thielicke, Theologische Ethik (1981), 314. 253 A. a. O. 254 Die Probleme beginnen wieder bei der Verkennung der eigenen Voraussetzungen und der Überschätzung der eigenen Möglichkeiten. „Aber spätestens bei der Umsetzung unserer Ideale im Alltag wird uns bewusst, dass wir uns nicht nur hinsichtlich unserer eigenen Kraft und Möglichkeiten, sondern zugleich auch im Hinblick auf die Gebrochenheit und Widersprüchlichkeit der Realität […] Illusionen gemacht haben.“ Eckstein, Glaube als Beziehung (2006), 18. 255 A. a. O., 20.
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen
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ging Church“-Konversation, besonders in den Diskursen, die in Abgrenzung zum Evangelikalismus geführt werden, die Ausschließlichkeit einer evangelikalen Interpretation der sühnetheologischen Deutung des Kreuzestodes Jesu aufgebrochen wird und weitere Bilder und Interpretationen erschlossen werden. Dabei bedienen sich emergente Protagonisten altkirchlicher Deutungen oder Interpretationen verschiedenster Traditionsstränge und Denominationen. Hierin werden intellektuelle Synchronisationsleistungen des zweifelnden Subjekts sichtbar. Es zeigt sich eine Bedeutungsverschiebung des Verständnisses vom Kreuzestod Jesu, die auch mit der historischen Genese der Bewegung korreliert (also die Konzentration auf die „revisionist“-Strömung). Zwei problematische Richtungen werden sichtbar: Zum einen wird emergenten Gemeinschaften die Aufgabe zugeschrieben, das Heilswirken Jesu konkret in der Gemeinschaft durch ihren Umgang miteinander vorzuleben.256 Zum anderen werden der Kreuzestod Jesu von einer zwangsläufigen Verbindung zum Seelenheil Einzelner gelöst und werden soteriologische Aspekte vornehmlich im Kontext der „Reich Gottes“-Verständnisse gedeutet – etwa durch die Teilhabe an „Reich Gottes“-Haltungen, Werten und Taten. Beide Interpretationen sind im Horizont eines zweifelnden Subjekts verständlich, da unverfügbare soteriologische Aspekte durch eine Verdiesseitigung in den Handlungsspielraum Einzelner gelangen. Dem zweifelnden Subjekt wird in dieser Hinsicht Selbstvergewisserung durch Mitbestimmung und Partizipation ermöglicht. Aus theologischer Perspektive bergen beide Aspekte Gefahren, auf die bereits mit Ecksteins Kritik einer möglichen Selbstverherrlichung des Menschen geantwortet wurde – im Rahmen des ersten Aspekts antwortet die Kritik auf eine Verherrlichung der emergenten Gemeinschaft. Wenn die Gemeinschaft das Versöhnungswerk Jesu repräsentiert, wie dies McKnight vorschlägt, ist kritisch zu fragen, wie sich das versöhnende Werk Christi in dem Leben der Christen fortsetzt, ohne das menschliche Tun mit Christi Tun gleichzusetzen. Auf diese Problematik einer Verkörperung des Evangeliums ist bereits hingewiesen worden. Weiter ist kritisch anzufragen, ob McKnights Applikation, wie er sie mit der Frage „Does atonement work?“ ausdrückt, nicht eine gefährliche Schlagseite aufweist, die die Sühnevorstellung funktionalisiert. Die Betonung der Funktionalität und des subjektiven Nutzens der Bedeutung des Kreuzestodes Jesu schließt nahtlos an die bereits beschriebene grundsätzliche Verschiebung der Deutungshoheit christlicher Existenz und christlichen Glaubens an. Obwohl die Frage nach der lebensgeschichtlichen Relevanz einer sühnetheologischen Deutung des Kreuzes für
256 Vgl. dazu die Ausführungen zu McKnights Ansatz „a community called atonement“. Siehe Abschnitt II 10.2.2 Die Bedeutung des Kreuzestodes Jesu.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
die Gestaltung christlichen Lebens durchaus wichtig ist, muss eine Umkehr der Reihenfolge aus grundsätzlichen theologischen Überlegungen abgelehnt werden. In diesem Fall heißt das, weil eine lebensgeschichtliche Relevanz vermisst wird, wird die theologische Interpretation abgelehnt. Problematisch erscheint zudem der zweite angeführte Interpretationsansatz. Im Blick auf die zueignende Wirkung des Kreuzes (sühnetheologisches Verständnis) komme es zu einer Trennung zwischen „Reich Gottes“-Gedanken und Christologie. Obwohl in der „Emerging Church“-Konversation zu Recht beklagt wird, dass es im Evangelikalismus geschichtliche Phasen gab, wo zu sehr auf die Christologie geachtet und das „Reich Gottes“ vergessen wurde, sind beide aufeinander bezogen und untrennbar verbunden. In der „Emerging Church“-Konversation ist beobachtbar, dass eine Anteilhabe am „Reich Gottes“ zwar mit der Inkarnation und dem Leben Jesu begründet wird und verbunden scheint, eine kreuzestheologische Deutung jedoch wegfällt. In dieser Hinsicht ließe sich im Umgang mit dem Zweifel auf Bonhoeffer rekurrieren und dem Zweifel die Einfalt zur Seite stellen und so ein möglicher konstruktiver Weg erschließen. Das Einfältige liegt für Bonhoeffer in der geradlinigen und bewussten (auch schlichten) Ausrichtung auf Jesus Christus.257 Es geht ihm um das Wesentliche, nämlich dass der Mensch sich nicht von diesem Kern abbringen lässt. Wer Einfalt und Klugheit miteinander zu verbinden vermag, kann bestehen. Aber was ist Einfalt? Was ist Klugheit? Wie wird aus beiden eins? Einfältig ist, wer in der Verklärung, Verwirrung und Verdrehung aller Begriffe allein die schlichte Wahrheit Gottes im Auge behält, wer nicht ein Dipsychos, ein Mann zweier Seelen (Jakobus 1, 8), ist, sondern der Mann des ungeteilten Herzens. Weil er Gott kennt und hat, darum hängt er an den Geboten, an dem Gericht und der Barmherzigkeit, die täglich neu aus Gottes Mund gehen. Nicht gefesselt durch Prinzipien, sondern gebunden durch die Liebe zu Gott ist er frei geworden von den Problemen und Konflikten der ethischen Entscheidung. Sie bedrängen ihn nicht mehr. Er gehört ganz allein Gott und Gottes Willen. Weil der Einfältige nicht neben Gott auch auf die Welt schielt, darum ist er imstande frei und unbefangen auf die Wirklichkeit der Welt zu schauen. So wird die Einfalt zur Klugheit. Klug ist, wer die Wirklichkeit sieht, wie sie ist, wer auf den Grund der Dinge sieht. Klug ist darum allein, wer die Wirklichkeit in Gott sieht. Erkenntnis der Wirklichkeit ist nicht dasselbe wie Kenntnis der äußeren Vorgänge, sondern das Erschauen des Wesens der Dinge. Nicht der Bestinformierte ist der Klügste.258 257 Mit „Einfalt“ ist nicht die „Torheit“ gemeint, sondern der „einfältige Gehorsam“ gegenüber Jesus Christus. Vgl. dazu die Aufnahme dieses Gedankens bei K. Barth. Barth, Der Ruf in die Nachfolge, KD IV/2, 611–614. 258 Tödt / Tödt u. a. (Hg.), Dietrich Bonhoeffer, Ethik (1991), 67–68.
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Eine in der „Emerging Church“-Konversation forcierte Harmonisierung sowie Bagatellisierung der biblischen Überlieferung (im Hinblick auf die sühnetheologischen Interpretationen), die Konsequenzen der bereits beschriebenen hermeneutischen Prämissen sind, sind aus reformatorischer Sicht nicht haltbar. Aus theologischer Sicht gilt es einerseits auf die Bedeutungsvielfalt des Kreuzestodes hinzuweisen, und andererseits die sühnetheologische Deutung des Kreuzestodes in die theologische Urteilsbildung zu integrieren, lebensgeschichtlich fruchtbar zu machen und im christlichen Sprach- und Verstehenshorizont wieder zu verorten.
2.4.6 Diskussion über „Reich Gottes“-Verständnisse Die Bedeutung der „Reich Gottes“-Verständnisse in der „Emerging Church“Konversation wurde bereits hervorgehoben. Eine grundsätzliche Betonung des „Reiches Gottes“, wie sie in der Konversation stattfindet, schließt an die neutestamentliche Forschung an, die mehrheitlich darin übereinstimmt, dass dem Thema „Reich Gottes“ eine zentrale Stellung zukommt und es ein Leitbegriff in der Verkündigung Jesu ist.259 „Wer das Wortplakat Gottesherrschaft als Zentralwort Jesu nicht anerkennt oder es sogar ganz und gar Jesus absprechen will, hat also die gesamte synoptische Tradition mit ihrer schönen Einhelligkeit gegen sich.“260 Jürgen Beckers pointierte Aussage korrespondiert mit dem dominanten theologischen Themencluster in der Konversation. In der Pointierung ist im Hinblick auf die „Emerging Church“-Konversation Vorsicht geboten. Man darf nicht der Versuchung erliegen – wie dies viele Protagonisten in der Konversation tun – zu meinen, dass das „Reich Gottes“ eine vergessene oder gar absichtlich verborgene Botschaft sei.261 Auf der einen Seite weisen die Verwendung ironischer und sarkastischer Formulierungen sowie emotional geführte Diskurse in der Konversation über eine Verfälschung oder Verkürzung des Evangeliums darauf hin, dass in den vormaligen Gemeinschaften der inhaltliche Aspekt des Evangeliums, nämlich das „Reich Gottes“, vermisst wurde. Dies führte zu fachlichen Auseinandersetzungen und alternativen Deutungen. Auf der anderen Seite deutet die Art und Weise der Kommunikation im Blick auf die Themencluster „Evangelium“ und „Reich Gottes“ auf dekonversive Prozesse hin, die 259 Siehe dazu Schröter, Art. „Reich Gottes. III. Neues Testament“ (2004), 205. Becker, Jesus von Nazaret (1996), 100–398. 260 Becker, Jesus von Nazaret (1996), 123. 261 Siehe dazu die Auseinandersetzung und die Impulse zur „Reich Gottes“-Theologie von Ladd / Hagner, A Theology of the New Testament (1993).
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
sich beispielsweise in dem Gefühl kristallisieren, „betrogen“ oder „hinters Licht geführt“ worden zu sein. Bemerkenswert ist, dass Impulse zum Verständnis über das „Reich Gottes“ dazu drängen, sich neu darüber zu verständigen, was die Grundlagen der Kommunikation des Evangeliums sowie Wesen und Aufgabe kirchlichen Handelns sind. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede, was die Bedeutung und Implikation des Ausdrucks „basileia tou theou“ betrifft. An dieser Stelle kann nur mit den Worten von Leonard Hell die Diskussion zusammengefasst werden, wenn Jesu Predigt vom Gottesreich auf eine „Mehrdimensionalität des biblischen „basileia“-Begriffs“262 verweist.263 Jesu Verkündigung vom „Reich Gottes“ wird in spannungsvollem Zusammenhang in Form von „Entgegensetzungen“264 gehalten. So wird vom „Reich Gottes“ als räumliche Gestalt,265 als Durchsetzung der Macht Gottes, als einer politischen Größe und als spirituelle Innerlichkeit
262 Hell, Reich Gottes als Systemidee der Theologie (1993), 221. 263 Andreas Lindemann weist sowohl auf die unterschiedlichen Akzentuierungen der „Reich Gottes“-Verständnisse der Evangelisten als auch auf die fehlenden Hinweise in der neutestamentlichen Briefliteratur hin. Lindemann, Art. „Herrschaft Gottes / Reich Gottes IV.“ (1986). Etienne Gilson, der die Rezeption des „Reiches Gottes“-Denkens seit Augustinus untersucht hat, kommt zu dem Urteil, dass es „im europäischen Denken eigentlich nur noch Parodien der Reich-Gottes-Idee gab“. Zitiert in Habichler, „Reich-Gottes-Theologie und philosophische Aufklärung“ (2007), 105. Gilson will zeigen, dass alle Versuche, die um eine geschichtliche Realisierung eines Gottesreiches gerungen haben, Schiffbruch erlitten haben. „Es ist, nachdem es in der Anfangszeit des Christentums doch das Hauptthema war, sozusagen ausgewandert aus der Kirche und ihrer Normaltheologie, abgewandert zunächst in politisch-theokratische Zielsetzungen hinaus (etwa bei Karl dem Großen oder im mittelalterlichen Caesaropapismus), abgewandert dann zu den spirituellen Randgruppen, in die apokalyptischen und chiliastischen Subkulturen, zu den Joachiten, Schwärmern, Täufern, Pektoraltheologen, Mormonen und anderen ‚Reichsnarren‘, abgewandert schließlich in profane Verfremdung hinaus, in die philosophischen und literarischen Sozialutopien mit ihren Traumbildern einer schlaraffia politica et oeconomica […].“ Seckler, „Das Reich Gottes-Motiv in den Anfängen der Katholischen Tübinger Schule“ (1988), 261. 264 Schwöbel sagt dazu genauer: „Zukünftigkeit und Gegenwärtigkeit des Reich Gottes, seine innerliche Bedeutung und äußere Realisierung, seine transzendente und immanente Verwirklichung, sein Verständnis von Herrschaftsweise und Herrschaftsbereich Gottes, seine Realisierung durch das Handeln Gottes und seine Funktion für das menschliche Handeln, seine Bedeutung für den einzelnen in der Konstitution menschlicher Personalität und für die Gemeinschaft als Bestimmung menschlicher Sozialität zur Gemeinschaft mit Gott.“ Schwöbel, Art. „Reich Gottes. IV. Theologiegeschichtlich und dogmatisch“ (2004), 209. Die von Schwöbel aufgezeigten Differenzierungen des „Reiches Gottes“ scheinen in der Konversation unberücksichtigt. 265 Aus diesem Grund ergibt sich die Frage nach der Übersetzung des Begriffs „basileia“ entweder als Herrschaft oder Reich. Stellen wie etwa Lk 7,28; Mk 9,47; Mk 10,26 oder Mk 12,34 sprechen von einer räumlichen Vorstellung des „Reiches Gottes“ und implizieren eine göttliche Heilssphäre.
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen
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gesprochen. Diese Mehrdimensionalität sowie die Verhältnisse zueinander werden in der „Emerging Church“-Konversation nur vereinzelt oder gar nicht wahrgenommen. Es fällt das Fehlen des räumlichen Aspekts in den Diskursen auf, dagegen wird die Transformation gesellschaftlicher Umstände in hohem Maß thematisiert. Darüber hinaus kommt das Thema der spirituellen Innerlichkeit, etwa bei McLaren oder bei Rollins, verbunden mit moralischen Maßstäben und Aufforderungen vor. Probleme sind auch dort zu verorten, wo sich der „Reich Gottes“-Begriff von einer christologischen Lesart und Bestimmung löst und verselbstständigt. Ein Kernproblem des Begriffs „Reich Gottes“, welches in der bisherigen Darstellung der „Emerging Church“-Konversation wenig berücksichtigt wird, ist die Frage, ob das ‚Reich Gottes‘ eine gegenwärtige oder zukünftige Größe oder beides zugleich ist, und wie sich die beiden Ansätze zueinander verhalten.266 Nur vereinzelt wird auf die Zukünftigkeit und Verborgenheit hingewiesen (beispielsweise zu Beginn der ersten historischen Phase etwa in der „relevant“-Strömung), jedoch kaum auf das Verhältnis zwischen der Zukünftigkeit und Verborgenheit und dem gegenwärtigen, sichtbaren „Reich Gottes“.267 Man vermisst eine Verhältnisbestimmung, wie sie in der gegenwärtigen Forschung mit einem proleptischen Verständnis der „basileia tou theou“ vertreten wird.268 In der „Emerg ing Church“-Konversation wird in erster Linie der konsequent präsentische Bezug aufgegriffen und geschichtsimmanent diskutiert.269 Man erkennt eine Reaktion auf einen im Evangelikalismus üblichen futurischen heilsgeschicht266 Siehe dazu genauer Vanoni / Heininger, Das Reich Gottes (2002), 63. Während sich Jesu Herrschaft über die Dämonen etwa als Sichereignen des „Reiches Gottes“ zeigt (Lk 11,20), wird auch vom Hineingehen ins „Reich Gottes“ als zukünftige Ordnung gesprochen (Lk 13,28 f.). In der Metapher des Senfkorns, das bereits ausgesät ist, dessen Wachstumsprozess jedoch noch aussteht, wird die Spannung von „jetzt“ und „noch nicht“ deutlich. Schröter, Art. „Reich Gottes. III. Neues Testament“ (2004), 206. 267 Es fällt auf, dass in der „Emerging Church“-Konversation nicht über den notwendigen Zusammenhang zwischen Zionstheologie, alttestamentlichen Herrschaftsvorstellungen und Jesu Adaption dieses Gedankens gesprochen wird. Genauer dazu siehe Becker, Jesus von Nazaret (1996), 21. 268 Der Wiener Neutestamentler Kurt Niederwimmer dazu: „Die Spannung zwischen den futurischen und den präsentischen Aussagen wird man […] so zu verstehen haben, dass die zukünftige Gottesherrschaft bereits jetzt in die Gegenwart hereinbricht. Sie wirft ihr Licht voraus. ‚Sie kommt, sie ist schon da!‘ Die große Umwälzung hat schon eingesetzt. Die Zukunft hat schon begonnen.“ Niederwimmer, Theologie des Neuen Testaments (2004), 32. 269 Vergleichbar ist damit die durchwegs positive Sicht der Welt innerhalb des ökumenischen Gesprächs, welche soteriologisch begründet wird. Es wird davon ausgegangen, dass die Osterwirklichkeit in der Weltwirklichkeit Einzug genommen habe. Vgl. dazu Herbst, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche (2010), 179. Durch die Auferstehung Jesu Christi sei jeder Mensch ein Glied der neuen Menschheit. Herbst weiter: „Hier wird mit aller Klarheit zum Ausdruck gebracht: Alle sind schon erlöst; allein die ‚intra muros ecclesiae‘ wissen es
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
lichen Schwerpunkt270 und kann eine kontextuelle Prägung der Begriffsverwendung erahnen. Alfred Habichler formuliert treffend den Zusammenhang zwischen gegenwärtigen kulturgeschichtlichen Merkmalen und der Füllung theologischer Begriffe: Gibt es so etwas wie einen geschichtlichen Kairos für die Ausbildung von ReichGottes-Theologien und Reich-Gottes-Philosophien? Sind solche Theologien und Philosophien womöglich eine Art historischer Reflex auf bestimmte politische Krisen und Umbrüche nach dem Motto: Wenn weltliche Reiche in die Krise stürzen, gewinnt die Sehnsucht nach dem göttlichen Reich deutlich an Nahrung?271
Habichlers Frage aufnehmend wird ersichtlich, dass zeitdiagnostische Perspektiven unvermittelter als von emergenten Protagonisten selbst angenommen in die „Reich Gottes“-Verständnisse der Konversation hineinwirken. Habichlers Formulierung kann ebenso als dekonversiver Reflex interpretiert werden. Die Gestaltung des Jetzt, der partizipatorische Ansatz, die Vorläufigkeit und Beweg-
schon (noetischer Vorsprung), während die ‚extra muros ecclesiae‘ es erst erfahren sollen und erfahren werden. […] Der Ruf: ‚Lasset Euch versöhnen mit Gott!‘ (2Kor 5,20) gehört damit nicht mehr zum Repertoire der missionarischen Verkündigung.“ Obwohl auf den ökumenischen Diskurs seit den 1950er-Jahren zu diesem Thema in der Konversation nicht Bezug genommen wird, tauchen vergleichbare ökumenische Begriffe, Konzepte und Ansätze in der „Emerging Church“-Konversation auf. An dieser Stelle sei auf ein Forschungsdesiderat hingewiesen. Der ökumenische Diskurs in der Auseinandersetzung zwischen Hartenstein und Hoekendijk im Gespräch mit der „Emerging Church“-Konversation könnte für weitere Forschungen fruchtbar sein. 270 Grenz, Renewing the Center (2006). Emergente Protagonisten finden möglicherweise deshalb in der präsentischen jesuanischen „Reich Gottes“-Vorstellung viele Anschlusspunkte, da der Hauptstrom frühjüdischer Theologie zutiefst heilsgeschichtlich ausgerichtet war. Siehe dazu Becker, Jesus von Nazaret (1996), 155. 271 Habichler, „Reich-Gottes-Theologie und philosophische Aufklärung“ (2007), 111. Alfred Habichler weist darauf hin, dass es neben der Erfolgsgeschichte des „Reiches Gottes“-Gedankens (und das bereits seit dem 17. Jahrhundert) eine „befremdliche Verlegenheitsgeschichte“ (vor allem seit Mitte des 19. Jahrhunderts) gibt. Er beschreibt den Gedanken sogar als „Parodie der Geschichte“. A. a. O., 104. Marion Dittmer weist etwa die Verquickung des „Reiches Gottes“-Gedankens mit zeitgenössischen Strömungen in der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts nach. Dittmer, Reich Gottes (2014). Etienne Gilson, der die Rezeption des „Reiches Gottes“-Denkens seit Augustinus untersucht hat, kommt zu dem niederschmetternden Urteil, dass es „im europäischen Denken eigentlich nur noch Parodien der Reich-Gottes-Idee gab“. Gilson will zeigen, dass alle Versuche, die um eine geschichtliche Realisierung eines Gottesreiches gerungen haben, Schiffbruch erlitten haben. Zitiert in Habichler, „Reich-Gottes-Theologie und philosophische Aufklärung“ (2007), 105. Seckler, „Das Reich Gottes-Motiv in den Anfängen der Katholischen Tübinger Schule“ (1988), 257–282.
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen
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lichkeit von Entscheidungen – das alles sind Merkmale, die sich in der Diskussion um das „Reich Gottes“ in der „Emerging Church“-Konversation wiederfinden. Wenn vom „Reich Gottes“ als gestaltbarer, sich in den Koordinaten dieser Welt abspielender Realität gesprochen wird, wenn die Anteilhabe durch Veränderung der Strukturen, wenn die Transformation dieser Welt und ein „tangible kingdom“ (McLaren) angedeutet werden, sind Parallelitäten zwischen emergenten Sichtweisen und Habichler sichtbar. Mit Erich Gräßer muss kritisiert werden, dass ein einseitig präsentischer „Reich Gottes“-Begriff, wie er in der „Emerging Church“-Konversation deutlich hervortritt, ungenügend ist.272 Der Aspekt der Jenseitigkeit der Gottesherrschaft, etwa durch eine heilsgeschichtliche Deutung, ist im Sinn der Zwei-Reiche-Lehre erschließbar. Das Fehlen eines zukünftigen „Reiches Gottes“-Verständnisses korrespondiert in auffälliger Weise mit einem in der Konversation diesseitig orientierten Glaubensverständnis. Ein weiteres Kernproblem ist die überhöhte präsentische, sozialpolitische, transformatorische (und damit partizipative Deutung) und Realisierung des „Reiches Gottes“ (etwa bei McLaren mit dem Begriff „Schalom“).273 Verzerrungen werden dort deutlich, wenn die Erwartung des „Reiches Gottes“ als Transformation des Bestehenden (welches durchaus in der synoptischen Tradition den Schwerpunkt bildet) beschrieben wird und die Aspekte Umbruch, Abbruch oder Neuanfang bestehender Ordnungen nicht vorkommen (wie etwa in Apk 21,1).274 Mit einer transformatorischen Deutung ist nicht klar, wie Gottes Handeln – etwa im Sinn eines Reiches zur Linken und zur Rechten – unterschieden werden kann. Gottes Handeln wird einlinig als ein fortschreitendes Sichdurchsetzen Gottes interpretiert. Es ist nicht klar, wie die von McLaren und anderen gezeigten einseitigen „Reich Gottes“-Positionen die angeführten Kritikpunkte sinnvoll integrieren. Aus der Perspektive des zweifelnden Subjekts ist eine solche Diesseitsbezogenheit nachvollziehbar, theologisch jedoch unzureichend. Weiter ist zu sagen, dass es irrig wäre zu meinen, dass die Gottesherrschaft im Hier durch menschliche Initiative verwirklicht werden könne, wie es in der 272 Gräßer, „Zum Verständnis der Gottesherrschaft“ (1974), 16. 273 VanDrunen kritisiert den Hype um das transformatorische Modell. Er mahnt an, dass es für ein geschichtsimmanentes „Reich Gottes“-Verständnis biblische und systematisch-theologische Anhaltspunkte gebe, diese jedoch als Teilaspekte zu verstehen seien. VanDrunen, Living in God’s Two Kingdoms (2010), 103. 274 Zum „Reich Gottes“ als Abbruch bestehender Verhältnisse siehe Becker, Jesus von Nazaret (1996), 127. Nachfolger des Ansatzes, dass das „Reich Gottes“ als Transformation der gegebenen Umstände zu verstehen ist, ist etwa Johannes Reimer, der den prominenten Stimmen der „Emerging Church“-Konversation folgt. Er spricht davon, dass die Gemeinde mit ihrem „sozial-transformativen Auftrag Gottes Königsherrschaft in dieser Welt in Wort und Tat aufrichten“ solle. Reimer, Die Welt umarmen (2009), 149.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Konversation oft anklingt.275 Es erscheint problematisch (1Kor 15,50 „Fleisch und Blut [des Menschen] [können] die Gottesherrschaft nicht ererben“ LUT17), von einer christlichen Existenz zu sprechen, die Verantwortung dafür trägt, das „Reich Gottes“ zu verwirklichen.276 Der Anteil am „Reich Gottes“ auf menschlicher Seite ist als rein passiver Anteil zu bestimmen („ins Reich Gottes eintreten“, „das Reich Gottes empfangen“).277 Theo Sundermeier hebt hervor: „Mission ist Patchwork, immer und überall, Patchwork im Blick auf das Reich Gottes.“278 Gräßer geht weiter, wenn er sagt, dass die Gottesherrschaft nicht des beteiligten Menschen bedürfe, vielmehr suche sie den bedürftigen Menschen. Er hält fest: Sie kommt ohne Zutun des Menschen und verändert die Gestalt der Welt. […]. Im Sinne Jesu kann man nicht sagen, daß die Gottesherrschaft ‚durch Menschen geschieht‘, sondern daß sie kommt, nahe ist oder erscheint. Daß Menschen durch sittliches Tun oder sozial-revolutionäre Praxis an der Realisierung der Gottesherrschaft arbeiten könnten, ist eine […] für die Predigt Jesu unmögliche Vorstellung.279 275 Gräßer, „Zum Verständnis der Gottesherrschaft“ (1974), 16. Karl Barth warnt etwa im Blick auf den Dienst der Gemeinde davor, auf das Erleben von Erfüllungen und Verheißungen (im Blick auf das „Reich Gottes“) zu bauen. Barth, Der Dienst der Gemeinde, KD IV/3, 964–965. K. Barth formuliert scharf: „Was hat die Gemeinde Jesu Christi an Erfolgen ins Feld zu führen? […] Was die Christenheit in der Welt schafft, das erscheint in seiner Eigentlichkeit tatsächlich nie und nirgends auf der Oberfläche. Das ist ihre notorische Schwachheit.“ Barth, Das Volk Gottes im Weltgeschehen, KD IV/3, 855–856. 276 Ähnlich vertreten es gegenwärtig Johannes Reimer oder auch Tobias Faix in der Nachfolge eines solchen Verständnisses. Sie sagen: „Nichts wäre heute wichtiger als die Entscheidung der Christen, das „Reich Gottes“ in der Welt mit den Menschen zu bauen. Nicht für sie und erst recht nicht gegen sie, sondern mit ihnen.“ http://buecheraenderleben.wordpress.com/2012/03/31/ tobias-faix-johannes-reimer-die-welt-verstehen/ am 09.12.2014. Vergleiche dazu Tobias Faix: „Die Betonung liegt auf der eschatologischen Gegenwart, nicht auf der eschatologischen Zukunft.“ Faix / Reimer u. a. (Hg.), Die Welt verändern (2009), 19. Unter dem Stichwort „Gesellschaftstransformation“ wird eine Veränderung des Denkens und des Lebens gefordert, das sich nicht oder nur schwer durch die Proklamation des Evangeliums erreichen ließe. 277 Besonders die exegetischen Ausführungen Darrell Guders sind an dieser Stelle hilfreich, wenn er sagt, dass im Neuen Testament der Begriff „Reich Gottes“ im Kontext der Verben „annehmen“ und „eintreten“ platziert wird. Guder dazu: „[…] the reign of God is, first of all, a gift one receives. The reign of God is something taken to oneself. It is a gift of God’s making, freely given. It calls for the simple, trusting act of receiving. The reign of God is something that has been given. […] It is something, then, that one can possess now. […] While God’s reign can ‚belong‘ to the children, as something already possessed, it is also described as a gift that awaits our possessing. It will be inherited. […]. In addition to being a gift, the reign of God is equally a realm one enters.“ Guder (Hg.), Missional Church (1998), 94–95. 278 Sundermeier, Mission (2005), 111. 279 Gräßer, „Zum Verständnis der Gottesherrschaft“ (1974), 20. In der „Emerging Church“-Konversation werden Töne laut, die von einer möglichen (menschen�gemachten) Wiederkehr des „Reiches Gottes“ in Form einer Theokratie oder eines neuen „Christendoms“ nachdenken. Hier sind Karl Hartensteins Worte aus dem Jahr 1939 in ihrer
2.4 Theologische Themen und Herangehensweisen
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Vollständigkeitshalber soll diesem Argumentationsstrang ein seelsorglicher Aspekt hinzugefügt werden. Nachdem aus theologischen Gründen deutlich wurde, dass der Glaube sowie das Reich Gottes eine zukünftige Perspektive besitzen, ist dies auch aus seelsorglicher Perspektive geboten. Wenn die Zukünftigkeit der Heilserwartung verloren geht – im positiven Sinn eine Vertröstung auf die Ewigkeit – dann kann dies entweder zu einer Selbstüberschätzung oder zur Verzweiflung des religiösen Individuums führen.280 Schließlich sei auf eine besondere Entgegensetzung in der „Emerging Church“Konversation verwiesen. In der „Emerging Church“-Konversation wird häufig ein Gegensatz zwischen dem „Reich Gottes“ und der Kirche inszeniert. Menschen sollen für das „Reich Gottes“ gewonnen werden und nicht für die Kirche (damit ist oftmals Kirche als verfasste Institution gemeint). Während sich in den Diskursen anti-institutionelle, anti-klerikale, anti-organisationale Themenstränge kristallisieren, wird dem Wirken Gottes in der Welt – außerhalb der Kirche oder häufig in bewusster Abgrenzung zur Kirche – ein hoher Wert zugeschrieben. Einerseits ist dies vor dem Hintergrund der erkennbaren dekonversiven Merkmale und Phasen und im Hinblick auf das zweifelnde Subjekt doppelt verständlich. Zum einen wird dem religiösen Subjekt statt der vormaligen Gemeinschaft eine alternative Beheimatung, nämlich das „Reich Gottes“, gegenübergestellt. Zum anderen ist es nachvollziehbar, dass – im Fall eines Zusammenwirkens von Loslösungs- und Abwehrursachen religiöser Orientierung und dem gemeindlichen Leben – eine Distanzierung zur Gemeinschaft vollzogen wird. Andererseits erscheinen nach reformatorischer Unterscheidung mehrere Aspekte problematisch. Es fällt auf, dass das „Reich Gottes“ zu einer Utopie inszeniert wird; eine Utopie, die im Horizont negativer Erfahrungen, zweifelnder Auseinandersetzung, zwischenmenschlicher Probleme, Leitungskrisen u. v. m. in der Gemeinde, inszeniert wird. Abgesehen davon, dass ein biblisches „Reich Gottes“-Verständnis in den Hintergrund rückt und bestenfalls zur Legitimation verschiedener und zum Teil widersprüchlicher Überlegungen herangezogen wird, wird das „Reich Gottes“ zu einer Chiffre, die abweichende, individuelle Loslösungs- und Abkehrprozesse in sich aufnimmt. Aktualität für die Konversation nicht zu überbieten, wenn er den Optimismus derer, die das „Reich Gottes“ auf Erden bauen möchten, geißelt: „Hier ist das Christentum eine umfassende Lösung, um den Kampf für die Verwirklichung des Reiches Gottes auf allen Gebieten des sozialen und politischen Lebens zu führen. Ungebrochenes Vertrauen zum Menschen, zäher Tatenwille und ein geradezu leidenschaftlicher Glaube an die Verwirklichung der Gottesherrschaft in dieser Zeit und auf dieser Erde bewegte die amerikanischen Brüder.“ Hartenstein, „Tambaram, wie es arbeitete“ (1939), 41 f. 280 Siehe dazu die Ausführungen in Abschnitt IV Kapitel 2.2.1 Die Thematisierung der Entwicklung der religiösen Identität.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Zuletzt sei auf die problematischen Aspekte des Kontextualisierungsbegriffs in der Konversation eingegangen. Weder geht es bei angemessener Kontextualität um einen einfachen Übersetzungsvorgang (des Evangeliums) im Sinn von formaler Anpassung an lokale Gegebenheiten / Anfragen / Ästhetisierung („relevants“), noch um einen Kultur- und Kontextbegriff, der nicht kritisch reflektiert wird. Nur allzu leicht wird ein positives verklärtes oder zumindest neutrales Bild des Kontextes gezeichnet und der Kirche als Oppositum gegenüber gestellt („revisionist“). Gleichwohl die Einbeziehung des Kontextes in den theologischen Prozess der Kontextualisierung von Anfang an notwendig ist, ist angemessene Kontextualisierung nach Niebuhr dort sichtbar, wo die verschiedenen Ansätze integrativ und ergänzend verstanden werden und situativ angewandt werden.281 Wo Evangelium und Tradition in einen Dialog mit einer Lebenswelt eintreten (in Anknüpfung und Widerspruch), erschließt sich die Wirklichkeit des christlichen Glaubens, während er zugleich seine transformierende Kraft gegenüber der partikularen Umwelt entfalten wird.
2.4.7 Diskussion zu missionstheologischen Aspekten Zunächst ist zu würdigen, dass Mission und Evangelisation in der ersten und zweiten historischen Phase besonders für „relevants“ und „reconstructionists“ wesentliche Themen in der „Emerging Church“-Konversation sind. Die Konversation erinnert durch den Bezug auf die „missio Dei“ daran, dass Kirche und Gemeinde an der Sendung des trinitarischen Gottes zum Heil der Welt teilnehmen. Damit ist die Kirche selbst erste Adressatin dieser Sendung. Verantwortlichen wird durch die Diskurse in der „Emerging Church“-Konversation zu Recht in Erinnerung gerufen, dass gemeindliches Handeln nicht zur Pflege der eigenen Frömmigkeit und Struktur dient, sondern in der Sendung Christi steht. Sammlung ist der Sendung zugeordnet und verpflichtet. In der Betrachtung der Konversation wird deutlich, dass Gemeinde und Kirche im Verhältnis zum „Reich Gottes“ in der „Emerging Church“-Konversation bewusst zurückgedrängt werden. So werden Individuen und lebensgeschichtlich oder situativ verortete Vergemeinschaftungsformen (die einen institutionellen Charakter vermissen lassen) zu möglichen „Reich Gottes“-Vehikeln. Der Gewinn solcher Positionen in der Konversation ist die Thematisierung eines problematischen Ekklesiozentrismus, der sich beispielsweise in der Fixierung auf den
281 Niebuhr, Christ & Culture (2001), 230–256. Für Niebuhr erschließt sich der Weg der Kontextualisierung durch den Glauben an Jesus Christus. A. a. O., 234–241.
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Selbsterhalt kirchlicher Institutionen zeigt. Dies ist mit Blick auf einen Missionsbegriff, der sich, wie in der „Emerging Church“-Konversation deutlich wird, aus einer vermeintlichen Klammer der Mitgliedergewinnung löst, begrüßenswert.282 Gleichzeitig ist eine Trennung von der „Reich Gottes“-Rede und gemeindlichem Handeln sowie kirchlicher Existenz zumindest fraglich. Es ist darauf zu verweisen, dass Kirche neben dem „Reich Gottes“ keinen eigenen Bestand hat, sie bleibt in ihrer Existenzberechtigung immer auf das „Reich Gottes“ bezogen.283 Gleichzeitig ist die Existenz der Kirche ein Geschöpf und sichtbares Zeugnis des Evangeliums und damit des „Reiches Gottes“. Kirche hat eine nicht aufgebbare Existenzberechtigung und einen Auftrag in der „missio Dei“, wie dies etwa von Lesslie Newbigin284 und jenen lutherischen und reformierten Theologen der „missional church“-Debatte deutlich gemacht wurde. Ihre Sonderstellung, wie es von Newbigin hervorgehoben wird, büßt sie nicht durch ein „Reich Gottes“-Verständnis ein, das das Wirken Gottes in der Welt wahrnimmt und ernst nimmt, sondern verpflichtet sie vielmehr zu einem „herausragenden“ Dasein. Dabei ist das missionarische Handeln der Gemeinde und Kirche ein intentionelles Handeln, das von der Selbstmitteilung des dreieinigen Gottes ausgeht. Diese Selbstmitteilung ist der Welt nicht automatisch erschlossen, sondern erschließt sich in einzigartiger Weise durch den Heiligen Geist in der Sendung der Kirche. Somit muss einem Verständnis von Evangelisation, das als dialogisches Geschehen auf der gemeinsamen Suche nach Wahrheit deutlich wird – wie bei „revisionist“-Vertretern – widersprochen werden.285 Ein Dialogverständnis, das den von Wrogemann geforderten Aspekt des Überzeugungsdialogs wegfallen lässt, ist nicht mit dem in dieser Arbeit skizzierten Verständnis der Sendung der Kirche zu vereinbaren.286 Dies gilt, obwohl unter der Perspektive des Zweifels, also der Ungewissheit, eine solche vorsichtige Selbstpositionierung (im Sinn von Überzeugungen) und dialogische Fremdwahrnehmung (im Sinn von Informations- und Konsensdialog) verständlich erscheinen.
282 Solche Befürchtungen sind offensichtlich im deutschsprachigen Diskurs zum Missionsbegriff noch immer aktuell, wenn Michael Nüchtern sagt: „In der Tat kann ein Problem mancher missionarischer Strategien darin gesehen werden, dass sie das Missionarische weniger als Deutlichkeit der Verkündigung, sondern als Sicherung und Reglementierung der Antwort auf die Verkündigung verstehen.“ Nüchtern, „Erwachsenenbildung und ‚Erwachsen glauben‘“ (2010), 60. 283 „Diese deutliche Unterscheidung bewahrt die Ekklesiologie davor, die stets konkret im Hier und Jetzt existierende Kirche utopisch zu überfordern.“ Haigis, Pluralismusfähige Ekklesiologie (2008), 18. 284 Newbigin, The Gospel in a Pluralist Society (1989). 285 Frost und Hirsch nehmen hier eine deutlich heilsgeschichtlichere Position ein und behalten ein Bekenntnis zu einer christologischen Mitte in ihrem Dialogverständnis. 286 Wrogemann, Theologie Interreligiöser Beziehungen (2015), 297–312.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Hierbei kommt es zu einer Neu-Fokussierung der Bedeutung von Mission. Mission wird, um die Vokabeln der ökumenischen Debatte des 20. Jahrhunderts zu verwenden, augenfällig verheißungsgeschichtlich und politisch orientiert (etwa mit den Stichworten Mission als Reise, Mission als Geheimnis, Mission als Konversation) verstanden.287 Das „Reich Gottes“ verwirklicht sich unter den Bedingungen des Kontextes, der Kultur und der Gesellschaft, während die Gemeinde und Kirche eine nachrangige Ordnung spielen.288 Mit Blick auf die Kritik an einem Dualismus zwischen sakralen und profanen Bereichen wird hierin ein „missio Dei“-Verständnis deutlich, welches der Präsenz Gottes in der Welt und speziell dem außerkirchlichen und außergemeindlichen Dasein und Handeln einen positiven Stellenwert gibt. Es ist zu beobachten, dass sich die Diskurse dazu in den drei historischen Phasen und den Strömungen insofern zuspitzen, dass der Kirche und dem gemeindlichen Handeln zunehmend skeptisch, bis hin zu ablehnend, begegnet wird. Theologisch wird hier eine Wertschätzung für Gottes erneuerndes Wirken in der Welt betont und Impulse eines erlösenden Wirkens Gottes in der Welt (ohne christozentrischen Bezug) dominant. Analog zeigt sich dies in vielen „Reich Gottes“-Verständnissen, die dem Wirken Gottes in der Welt – außerhalb der Kirche oder häufig in bewusster Abgrenzung zur Kirche – Geltung zuschreiben. Nach reformatorischer Unterscheidung der Zwei-Reiche-Lehre ist den Argumentationsmustern in der Konversation, die vorwiegend pneumatologisch aufgeladen sind, zu widersprechen oder zumindest zu entgegnen.289 287 Klaus Müller etwa verortet besonders im US-amerikanischen Kontext eine Nähe des Begriffs zum „social gospel“. Müller, „Was in der Welt ist ‚missional‘“ (2015), 99. 288 Auf das Spektrum unterschiedlicher Bestimmungen des kirchlichen Auftrags (Frost / Hirsch, Rollins, Claiborne, McLaren) wurde bereits hingewiesen. Siehe Abschnitt II Kapitel 10.2.3 „Reich Gottes“-Verständnisse in der „Emerging Church“-Konversation. 289 Luther erkennt eine biblische Unterscheidung in zwei Reiche, die, nachträglich als Zwei-ReicheLehre formuliert, zwischen zwei Reichen und deren Regimenten, einem weltlichen und einem geistlichem differiert, wobei beide notwendig aufeinander bezogen bleiben und eine rechte Zuordnung verfolgt werden soll. Härle, Art. „Zweireichelehre II“ (2004). Die Unterscheidung der beiden Reiche erfolgt aufgrund von drei Kriterien, nämlich nach der Gemeinschaft mit Jesus Christus oder dem Satan, also personal, nach der Unterscheidung der Regierweise, also funktional, und nach den Gegenständen, die regiert werden, also material. Zum „Reich Gottes“ gehören „[…] alle Rechtgläubigen in Christus und unter Christus […] Zum Reich der Welt oder unter das Gesetz gehören alle, die nicht Christen sind […].“ WA 11, 249–251. Die Art der Herrschaft schildert Luther wie folgt: „Darum hat Gott zwei Regimente verordnet: das geistliche, welches Christen und fromme Leute macht durch den heiligen Geist, unter Christus, und das weltliche, das den Unchristen und Bösen wehrt, dass sie äußerlich Frieden halten und still sein müssen, ob sie wollen oder nicht […] Darum muss man die beiden Regimente sorgfältig voneinander unterscheiden und beide bleiben lassen: eins, das fromm macht, das andere das äußerlich Frieden schafft und bösen Werken wehrt. Keins reicht ohne das andere aus in der Welt.“ (A. a. O., 251–252.) Hinsichtlich der Gegenstände der beiden Reiche unter-
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Zum einen haben gerade die Debatten und Erkenntnisse über die „missio Dei“ vor Augen geführt, dass Luthers Radikalität einer strikten Trennung der Regimente hinsichtlich des Heils zu überdenken ist.290 Das Wirken und Handeln Gottes im weltlichen Regiment (sowohl zum Heil als auch der Kirche verborgen) hat zu einer gebotenen Demut der Kirchen in ihrem Dasein und Handeln geführt. In der Konversation spiegelt sich dieser Gedankengang darin wider, dass betont wird, dass das „Reich Gottes“ über die Kirche hinausreiche und die Kirche nicht das Gefäß des „Reiches Gottes“ sei. Zum anderen ist der Gewinn einer systematischen Perspektivierung aus der Zwei-Reiche-Lehre Folgendes: Einerseits wird die Bindung an Jesus Christus durch den Heiligen Geist deutlich – wie für das Reich zur Rechten essenziell. Andererseits bleibt das „Reich Gottes“ in besonderer Weise auf die Kirche bezogen. Dabei kommt der Kirche als Zeugnisgemeinschaft, als Werkzeug und Geschöpf des Evangeliums hinsichtlich des „Reiches Gottes“ eine vorrangige Rolle zu.291 Darrell Guder führt dies so aus, dass die Kirche als Gemeinschaft nach 1Thess 2,10–12 (sowie 2Thess 1,11; Kol 1,9–10; Phil 1,27; Eph 4,1–3) eine verbindliche Zeugnisgemeinschaft ist, die einen vorbildlichen Charakter entfalten soll.292 Mit Bosch kann an jener Stelle Kritik geübt werden, wo sich die Sendung und der Auftrag der Kirche von ihrem gemeinschaftlichen Leben loslösen (oder eben darin nicht sichtbar werden) und Kirche nur mehr lebensgeschichtliche oder situative Vergemeinschaftung ist. Dies rückt das Leben der Kirche in den
scheidet Luther, wenn er von Krieg, Frieden, Ehe oder Erziehung als „weltlich Ding“ spricht und die Predigt und den Glauben den „geistlichen Dingen“ zuordnet. Gottes spirituelles Regiment werde durch die Predigt ausgeübt, während das weltliche Regiment durch die Fürsten ausgeübt werden solle. Luther verfolgt keineswegs einen Rückzug aus dem Reich zur Linken, also der Welt, sondern betont die Verantwortung der Christen in der Welt. Hebblethwaite dazu: „Durch seine Zwei-Reiche-Lehre und durch sein Verständnis des primus usus legis erweiterte und rationalisierte Luther das Vertrauen zum ‚weltlichen Regiment‘.“ Hebblethwaite, Art. „Sozialethik“ (2000), 500. Das Reich der Welt steht, obwohl es das Reich des Satans ist, doch unter der Herrschaft Gottes, der sie durch das Evangelium erlösen will und durch das Gesetz erhält. 290 Darauf wird beispielsweise von Wrogemann in der Darstellung aktueller Religionstheorien hingewiesen. Wrogemann, Theologie Interreligiöser Beziehungen (2015), 69–142. 291 „‚Ekklesia‘ und ‚basileia‘ werden einander zugeordnet als ‚zwei Aspekte des endzeitlichen Heilsgeschehens‘, das ‚basileia theou‘ von der Perspektive des Herrschers und als ‚ekklesia theou‘ von der Perspektive des zugehörigen Volkes her zur Sprache kommt […].“ Möller, Art. „Gemeinde“ (1984), 318. 292 Guder, Called to Witness (2015), 129–130. Das zeigt sich nicht vorrangig in den Werken der Kirche, nicht in einer vollendeten Gemeinschaft, nicht in institutionellem Erfolg, sondern in einer integren mit dem Leben Jesu kongruenten Lebensführung beispielsweise hinsichtlich politischer und öffentlicher Fragen. A. a. O., 132–135.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Bereich des Beliebigen.293 Eine solche Konsequenz ist in Teilen der „Emerging Church“-Konversation erkennbar („revisionist“-Strömung). Zur Frage nach der notwendigen Bindung an Jesus Christus ist eine Auseinandersetzung zwischen dem englischen Missionstheologen Lesslie Newbigin und dem Vorsitzenden des ÖRK Konrad Raiser in den 1990er-Jahren hilfreich. Die im Hinblick auf die Konversation zu thematisierende Kritik an einem rein pneumatologischen Verständnis des Wirkens Gottes in der Welt kann in einen missionstheologischen Kontext eingeordnet werden.294 Der Streit konzentriert sich auf die Interpretation des Begriffs „missio Dei“. Während Newbigin für eine „christozentrische“ Interpretation plädierte: „[…] the church participates in the mission of God by continuing the universal mission of Christ in the power of the Spirit“, stand Raiser für eine pneumatologische Interpretation: „[…] the Spirit’s work that embraces both the church and the world […] The church participates in God’s mission by participating in what God is doing through the Spirit in the world.295 Dafür forciert er den Begriff „christologisch“. Raiser betont den historischen Jesus von Nazareth und will seine Taten im Licht der gegenwärtigen Nöte wiederentdecken – dies benötigt eine dienende Kirche. Für Newbigin gilt: „Since Jesus is the fullest revelation of the Father’s character and will, our starting point for thinking about God and his mission must be Jesus Christ.“296 Newbigin misstraut der Erkennbarkeit von Gottes Wirken in der Welt. Goheen fasst treffend zusammen: […] when the Spirit’s work in the world is the starting point for mission, there is no criteria by which the church can assess and evaluate where God is at work: ‚[…] there are many spirits abroad, and when they are invoked, we are handed over to other powers. The Holy Spirit, the Spirit of the Father and the Son, is known by the confession that Jesus alone is Lord.‘297
hne weiter in die Diskussion einzutauchen, wird das grundsätzlich verschiedene Verständnis der „missio Dei“ deutlich: Raiser stellt fest, dass eine exklusive Bezugnahme auf Jesus Christus die Balance des Miteinanders bedrohe und plädiert für plurale Positionen: „His consistent strain is to ask how the Christian church can
293 Bosch, Mission im Wandel (2012), 459. In der deutschsprachigen Debatte hat dies eindrucksvoll Jüngel entfaltet und von Mission als „Herzstück der Kirche“ gesprochen. Jüngel, „Referat zur Einführung in das Schwerpunktthema“ (2000). 294 Goheen, „The Future of Mission in the World Council of Churches“ (2004). 295 A. a. O., 101. 296 A. a. O., 102. 297 A. a. O., 103.
2.5 „Kontexte“ in der Konversation
663
contribute toward a culture of dialogue and solidarity that will ease global tensions.“298 Diese Positionen sollen auf ein gelingendes Leben fokussieren, an dem verschiedene Kulturen und Religionen partizipieren sollten. Im Hinblick auf die „Emerging Church“-Konversation fallen auffallende Ähnlichkeiten zu Konrad Raisers Ausführungen auf. An dieser Stelle soll lediglich der christozentrische Fokus markiert werden. In der Argumentationslinie dieser Arbeit wird an der Bindung an Jesus Christus (Luther, Newbigin) festgehalten und nicht nur auf den historischen Jesus verwiesen, sondern an dem universalen Heilshandeln durch Christus festgehalten. Dadurch wird auch der Auftrag der christlichen Gemeinde für die Welt bestimmt. Der Auftrag, etwa in Barmen III festgehalten, fordert von der christlichen Gemeinde und Kirche stets ein Aufbrechen und Ausrichten an jene (sowohl in inhaltlicher als auch in struktureller Hinsicht), die vom Evangelium noch nicht oder nicht mehr angesprochen sind, einen Einsatz der Gaben jener (zum Dienst der Gemeinde in der Welt), die in der „Gemeinde der Brüder“ an Christi Tod und Auferstehung teilhaben sowie eine Einladung zum Glauben an den dreieinigen Gott und in die christliche Gemeinde. Die Kirche ist dazu aufgerufen „die Botschaft der freien Gnade auszurichten an alles Volk“ (Barmen IV) und damit Menschen zur Umkehr zu Christus und in den Leib Christi einzuladen.299 Gleichzeitig werden die Begrenzungen deutlich, wie sie in Barmen VI formuliert werden: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne die Kirche in menschlicher Selbstherrlichkeit das Wort und Werk des Herrn in den Dienst irgendwelcher eigenmächtig gewählter Wünsche, Zwecke und Pläne stellen.“300 Die Lehren der fehlerhaften und irrtümlichen Wahrnehmung von Gottes Wirken in der Welt durchziehen die Barmer Theologische Erklärung, die um eine notwendige Selbstbegrenzung der Erkenntnisfähigkeit der Gemeinde bemüht ist.
2.5 „Kontexte“ in der Konversation Im Folgenden soll lediglich auf die Bestimmung veränderter geistesgeschichtlicher Bedingungen eingegangen werden. Auf die anderen Aspekte der Kritik und der Krisen wurde wahlweise bereits eingegangen (etwa Kritik an religiösen Organisationen und religiöser Praxis). 298 A. a. O., 108. 299 Goppelt führt aus, dass Jesu Ruf zur Umkehr in die Nachfolge sowie zum Glauben in der Weiterführung der christlichen Sozialformen ihre Berechtigung hat. Goppelt, Theologie des Neuen Testaments (1978). So auch zu finden bei Herbst, Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche (2010), 64. 300 Heimbucher / Weth (Hg.), Die Barmer Theologische Erklärung (2009), 42.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
2.5.1 Kontextbezogene Krisenerfahrungen Es ist festzustellen, dass sich die emergente Diskussion durch die sensible und achtsame Wahrnehmung gesellschaftlicher, kultureller, philosophischer, technologischer (etc.) Gegebenheiten und Veränderungen auszeichnet. Die Beschäftigung mit den kulturellen Veränderungen ist Schwerpunkt bei den prominenten Protagonisten der „Emerging Church“-Konversation.301 Eine Stärke der „Emerging Church“-Konversation ist in dieser Hinsicht die Betonung und Formulierung von Differenzerfahrungen in Glaube, Kirche und Kultur sowie das Erproben kontextueller Ausdrucksformen (Technologie etc.). Diese Sensibilität für aktuelle, globale, weltpolitische, aber auch geistesgeschichtliche Fragen und Veränderungen ist für Menschen, die unter postmodernen Bedingungen leben, essenziell. Dies gilt besonderes für jene, deren religiöse Orientierung davon beeinflusst wurde. Zwei Aspekte sollen hervorgehoben werden: Zum einen kann die Rede von der Krise durchaus, wie für die Konversation beobachtbar, einen diagnostischen Effekt haben und notwendige Prozesse in der religiösen Orientierung sowie in gemeindlichem Handeln provozieren. Der Begriff „Krise“ wird damit seiner Wortbedeutung gerecht: „urteilen / prüfen“ („κρίνειν“). So gesehen gehört Krise essenziell zur religiösen Identitätsbildung und zur Kirche dazu.302 Zum anderen ist der Glaube nur geschichtlich artikulierbar und erfahrbar. Gerhard Ebeling weist auf die zeitlichen und geschichtlichen Konstitutionsbedingungen des Glaubens hin und sagt, dass eben diese stets Herausforderungen für einen denkenden und begründeten Glauben sind und bleiben. Eine begründete Rechenschaft des Glaubens „[…] ist nicht etwas Zeitloses. Seine Wirklichkeit hängt in einem Zeitbezug. Er lebt von Überlieferungen, stellt sich den Heraus-
301 So auch Scott Thumma, der über die „Emerging Church“-Konversation meint: „The ideals expressed by the lead figures within the emerging church movement are sophisticated and well-reasoned analyses of contemporary society and the role of both God and the church in a changing reality.“ Thumma, „The Shape of Things to Come“ (2006), 192. Das Thema Christentum und Postmoderne ist von vielen Autoren außerhalb der „Emerg ing Church“-Konversation aufgenommen und diskutiert worden. Siehe dazu Flory / Miller, Finding Faith (2008), 47. Seit den 1980er-Jahren ist das Thema in theologischen Diskursen präsent. Liederbach und Reid dazu: „[…] a groundswell of laypersons, ministers, theologians, and churches who are influenced by and are responding to, real or perceived worldview shifts from modernity to postmodernity and who seek to make the Christian message relevant in the postmodern environment via shifts and adjustments in at least ministerial methodologies and usually theological / philosophical ideologies as well.“ Liederbach / Reid, The Convergent Church (2009), 19–20. 302 Vgl. dazu Rosenau, Ich glaube (2005), 117.
2.5 „Kontexte“ in der Konversation
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forderungen der Gegenwart und harrt der Zukunft.“303 Im Hinblick auf die in der „Emerging Church“ verdichteten Diskurse zu den sich verändernden und veränderten zeitgeschichtlichen Kontexten lässt sich mit Ebeling auf den notwendigen konkreten geschichtlichen Bezug des Glaubens hinweisen. Dies wird in der Konversation insofern thematisiert, als die Klärung des religiösen Selbstverständnisses und Fragen des Glaubens zentral sind. Die „Emerging Church“Konversation hat damit einen wesentlichen Beitrag für den US-amerikanischen und britischen Evangelikalismus geleistet. Die Konversation trägt hinsichtlich der Diskurse zu gelebter Religiosität sowie gemeindlicher Praxis im Verhältnis von Kultur und Evangelium bei. Weiter besteht ein Gewinn für den US-amerikanischen Evangelikalismus etwa in einer prominenten Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Postmoderne. Dabei werden Pluralisierung, Veränderungen im Informations- und Wissensmanagement, Institutionsskepsis oder die Konkurrenz kleiner durch Sprache etablierter Wirklichkeiten genannt. Auffällig ist, dass einerseits keine systematische Herangehensweise für eine Begriffsbestimmung der Postmoderne gewählt wird. Dabei werden etwa philosophische Positionen, wie etwa das „Ende der großen Erzählungen“, mit soziologischen oder kulturellen Beobachtungen vermischt verhandelt. Andererseits kann festgestellt werden, dass emergente Protagonisten den Umstand, dass die Gegenwart postmodern sei, positiv rezipieren und dies als nicht hinterfragbare Bedingung festgestellt wird. Obwohl häufig in „Emerging Church“-Quellen in einleitenden Kapiteln fast durchgängig eine Gegenwartsanalyse erfolgt, gibt es keine Auseinandersetzung damit, ob die Annahmen richtig sind oder in welcher Weise ihre Grenzen bestimmt werden. Auch Kritiker der Konversation beschäftigen sich in den Debatten zurückhaltend mit der Frage, ob und in welcher Hinsicht von Postmoderne gesprochen werden darf und welche Postmoderne dann gemeint sei. Kritiker der emergenten Debatte befassen sich zwar damit, wie die Kirche auf gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen reagieren soll, aber nicht ob und inwieweit die zeitdiagnostischen Analysen überhaupt zutreffen.304 Es wird deutlich, dass in der emergenten Konversation Postmoderne häufig als Ablehnung von oder als Gegenbegriff zur Moderne definiert wird. Die Gegenüberstellungen von Moderne und Postmoderne etwa als geistesgeschichtliche Epochen wirken oftmals schematisch und pauschal. Dabei werden die
303 Ebeling, „Gewissheit und Zweifel“ (1969), 138. 304 Es fällt auf, dass das Individuum in der „Emerging Church“-Konversation deutlich positiver wahrgenommen wird als in der gegenwärtigen „Postmoderne“-Debatte. Während Bauman von der Person unter postmodernen Bedingungen als „Tourist“ spricht, der weder festen Sitz noch Ziel im Leben hat sowie von Unsicherheit und Existenznot getrieben ist, kommt diese Schattenseite in der emergenten Debatte nicht vor. Bauman, Unbehagen in der Postmoderne (1999).
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
emergenten Diskurse von Meinungen dominiert, die von einem „Ende der Moderne“, also von abrupten Brüchen und in sich geschlossenen Systemen sprechen. Einer solchen Sicht kann mit Ward widersprochen werden, der behauptet, es müsse von einer Gleichzeitigkeit von Moderne und Postmoderne gesprochen werden.305 Ob der Wunsch nach dem Zurücklassen „geschlossener Systeme“ mit Aspekten des Zweifels oder dekonversiven Prozessen ins Verhältnis gesetzt werden kann, bleibt ungewiss. Es kann aber auf eine interessante strukturelle Parallele hingewiesen werden.
2.5.2 Exkurs: Zum Verständnis von Postmoderne Zur Beantwortung der Frage, was die Postmoderne sei, kann man verschiedene Wege einschlagen.306 Man kann versuchen, ein Repertoire postmoderner Merkmale zu erstellen.307 Dabei lässt sich darüber streiten, ob man inklusiv oder exklusiv vorgehen soll. Soll die Postmoderne als Epoche konzipiert werden, als eine eigene Ära, die sich von der Moderne abgrenzt? Oder soll die Postmoderne als Strömung begriffen werden, die die Moderne in gewisser Weise fortführt? Besonders in den 80er-Jahren hat die Vorstellung der Postmoderne als einer verlängerten Moderne an Bedeutung gewonnen. In diesem Zusammenhang wird mit den Worten Wolfgang Welschs von einer „postmodernen Moderne“308 gesprochen.309 Besonders in den 1990er-Jahren hat sich die Postmoderne als Epochenbegriff stärker etabliert, was im neuen Jahrtausend wiederum zurück305 Graham Ward ist recht zu geben, der meint: „Neither does the current fashion for describing where we are as at ‚the end‘ of something – the end of history (for Fukuyama), the end of metaphysics (for Derrida), the end of modernity (for Vattimo), the end of art (for Danto) – actually tell us anything.“ Ward, „Introduction“ (2005). 306 Im Folgenden kommt der soziologischen Bedeutung eine herausragende Stellung zu. Für eine genaue Darstellung des geschichtlichen Zusammenhangs zwischen Soziologie und Postmoderne siehe Zanotti, „Sociology and Postmodernity“ (1999). Für eine religionsphilosophische Aus�einandersetzung siehe Graf, Art. „Postmoderne.I.Soziologisch und sozialgeschichtlich“ (2003). 307 Dieser Weg wird oft beschritten. Postmoderne ist demnach: „Programmatischer Eklektizismus, bunte Vielfalt und ironische Brechung des Neuen durch das zitierte Alte dienten der spielerischen Inszenierung einer anarchischen Subjektivität, die sich in bewußter Abgrenzung von alten einheitsfixierten Ich-Konzepten als fragmentiert, gespalten, ambivalent und vieldeutig präsentierte.“ Graf, Art. „Postmoderne.I. Soziologisch und sozialgeschichtlich“ (2003), 1515. 308 Das ist der programmatische Titel von Wolfgang Welsch. Welsch, Unsere postmoderne Moderne (2008). 309 Als ein gewichtiger Vertreter dieser Meinung sei Lyotard genannt. Dieser Ansatz soll im Folgenden für die Ausführungen in diesem Kapitel verwendet werden. Ähnlich beschreibt es Ulrich Beck, wenn er davon spricht, dass wir Zeugen „eines Bruchs innerhalb der Moderne“ sind. Beck, Risikogesellschaft (1986), 13. Beck verwendet den Begriff der „zweiten Moderne“,
2.5 „Kontexte“ in der Konversation
667
haltend diskutiert wurde.310 Wesentlich ist beiden Modellen, dass es zu einer Wirklichkeits- und Denkverschiebung gekommen sei – die Diskussion um eine letztgültige Systematisierung kann an dieser Stelle offenbleiben.311 Gemäß dem Bamberger Philosophen Welsch ist die Postmoderne nicht eine „Trans- und Anti-Moderne“, sondern greift das auf, was in der Moderne bereits vorkam und in der Breite der Wirklichkeit eingelöst wird – sozusagen die zeitgenössische Form der Moderne.312 Lyotard dazu: „Die Postmoderne situiert sich weder nach der Moderne noch gegen sie. Sie war in ihr schon eingeschlossen, nur verborgen.“313 Welsch meint, dass die Postmoderne einlöst, was die Moderne versprochen hat, und deshalb als Transformations-Form zur Moderne gehört.314 Sie wende sich aber gegen Konzepte der Moderne in der Neuzeit, die „Einheitsträume, die vom Konzept der Mathesis universalis über die Projekte der Weltgeschichtsphilosophien bis zu den Globalentwürfen der Sozialutopien“, vertreten würden.315 Einzig an einer Stelle wende sich die Postmoderne gegen die Moderne des 20. Jahrhunderts. „Sie lässt die Ideologie der Potenzierung, der Innovation, der Überholung und Überwindung, sie lässt die Dynamik der Ismen und ihre Akzeleration hinter sich.“316 Damit werde die Postmoderne utopielos, sie entwerfe kein Zukunftsbild mehr.317 Besonders Welsch lehnt den Begriff der Postmoderne als Epochenbegriff ab und sagt: „Er scheint einen Epochenanspruch auszudrücken, aber damit übernimmt er sich.“318 Welsch unterscheidet zwischen einem diffusen und einem präzisen Postmodernismus und meint zur diffusen der sich seit den 1990er-Jahren bei ihm durchgesetzt hat. Beck spricht nicht von einem Ende der Moderne, obwohl für ihn die Gegenwart nicht mehr in den Kategorien der klassischen Moderne erfassbar ist. Siehe dazu: Schroer, „Theorie reflexiver Modernisierung“ (2009), 493. 310 Siehe dazu Welsch, Unsere postmoderne Moderne (2008), 10. Die Zurückhaltung zeigt sich darin, dass sogar von einem Ende der Postmoderne oder einer Post-Postmoderne gesprochen wurde. 311 In dieser Arbeit wird vorwiegend dem ersten Modell, das von einer verlängerten Moderne spricht, gefolgt. 312 Welsch, Unsere postmoderne Moderne (2008), 5. 313 Lyptard zitiert a. a. O., 82. 314 „‚Moderne‘ ist das Substantiv. ‚Postmoderne‘ bezeichnet nur die Form, wie diese Moderne gegenwärtig einzulösen ist. Unsere Moderne ist die ‚postmodern‘ geprägte. Wir leben noch in der Moderne, aber wir tun es genau in dem Maße, in dem wir ‚Postmodernes‘ realisieren. In einem strikten Sinn post-modern ist diese unsere postmoderne Moderne nur gegenüber einer anderen Moderne; nicht gegenüber der letzten und weiterhin verbindlichen des 20. Jahrhunderts, sondern gegenüber Moderne im ältesten und wirklich antiquierten Sinn, gegenüber der Moderne im Sinn der Neuzeit.“ A. a. O., 6. 315 A. a. O. 316 A. a. O. 317 Zima weist darauf hin, dass in der Postmoderne der Begriff der Utopie verloren gegangen sei. Zima, Die Dekonstruktion (1994), 233. Genauer noch Gross: „Die Postmoderne stellt nämlich nicht die Frage, wo wir sind und wohin wir gehen.“ Gross, Von der Antike bis zur Postmoderne (1998), 383. 318 Welsch, Unsere postmoderne Moderne (2008), 1.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
Variante, dass diese den öffentlichen Diskurs bestimme und in seiner Beliebigkeit und Unbestimmtheit abzulehnen sei.319 Der präzise Postmodernismus hingegen ist in Wahrheit weder irrational […] noch huldigt er einem ‚anything goes‘, sondern beachtet die Unterschiede des Gutgehens, Danebengehens und Zugrundegehens sehr genau. Auch ist er kein Agent von Beliebigkeit, sondern schätzt spezifische und benennt allgemeine Verbindlichkeiten, und er plädiert nicht für Orientierungslosigkeit, sondern tritt für präzise Maßgaben ein.320
Dieser Exkurs macht im Hinblick auf die Debatten in der Konversation deutlich, dass die Postmoderne insofern zur Moderne gehört, als sie die Versprechen der Moderne einlöst und radikalisiert. Aus diesem Grund kann nicht von einer Trennung der beiden oder einem Paradigmenwechsel gesprochen werden. Gleichzeitig zeigt sich in der Konversation in dem Bezug auf einen diffusen Postmodernismus etwa darin eine eigentümliche Ausprägung, dass emergente Protagonisten keineswegs utopielos sind, sondern mit der Chiffre „Reich Gottes“ Anschluss an vermeintlich „moderne“ Triebfedern finden.
2.6 Werte, Haltungen und Praktiken Im Folgenden werden vier ausgewählte Aspekte diskutiert, die sich als eigentümliche Ausprägungen zweifelnder Subjekte in der „Emerging Church“-Konversation zeigen. a) Eine die Praxis betonende christliche Existenz wurde im Zusammenhang mit dekonversiven Prozessen bereits als Selbstvergewisserung des Einzelnen gedeutet, die konkrete, greifbare, verfügbare und sichtbare Vollzüge in den Mittelpunkt stellt. Es wird deutlich, dass eine auf den Nächsten und auf die Verbesserung sozialpolitischer Umstände bezogene Praxis dogmatische Festlegungen ersetzt. Auf die Gefahr und die theologische Problematik 319 „Seine Spielarten reichen von wissenschaftlichen Universal-Mixturen in Lancan-Derrida-Tunke bis zu aufgedrehten Beliebigkeits-Szenarien chicer Kulturmode. Das Credo dieses diffusen Postmodernismus scheint zu sein, daß alles, was den Standards der Rationalität nicht genügt oder Bekanntes allenfalls verdreht widergibt, damit auch schon gut, ja gar gelungen sei, daß man den Cocktail nur ordentlich mixen und mit reichlich Exotischem versetzen müsse. Man kreuze Libido und Ökonomie, Digitalität und Kynismus, vergesse Esoterik und Simulation nicht und gebe auch noch etwas New Age und Apokalypse hinzu – schon ist der postmoderne Hit fertig. […] Solcher Postmodernismus der Beliebigkeit, des Potpourri und der Abweichung um jeden (eigentlich um keinen) Preis erfreut sich gegenwärtig großer Beliebtheit und Verbreitung.“ A. a. O., 2. 320 A. a. O.
2.6 Werte, Haltungen und Praktiken
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einer vornehmlich moralisch begründeten christlichen Existenz ist bereits mehrfach hingewiesen worden. Auf den Zusammenhang zwischen Glaube und Werken wird in besonderer Weise in Jak 2,23–24 eingegangen, wo das Verhalten derjenigen kritisiert wird, die behaupten zu glauben, aber nicht danach leben (Jak 2,1).321 Die in der Konversation durchaus angebrachte Kritik an „Lippenbekenntnissen“, beziehungsweise an der Loslösung religiöser Überzeugungen von konkretem Handeln, ist nachvollziehbar. In der Konversation werden dahingehend Diskurse geführt (etwa von Claiborne), die zu einer integrativen Sicht des christlichen Glaubens mahnen. Gleichzeitig ist das Bemühen zu würdigen, dass „tätig werdende Liebe“ als Form des spirituellen Ausdrucks durchaus für sich stehen kann. In der Konversation wird damit zu Recht eine vermeintliche Instrumentalisierung sozialpolitischen Engagements für religiöse Zwecke (wie etwa Druck zur Bekehrung aufgrund sozialer Hilfestellung) angegriffen. Jedoch ist gemäß der hier ausgeführten Argumentation einer Praxis zu widersprechen, die ihre Teilhabe an dem sich gebenden Gott ablehnt beziehungsweise vergessen hat. Das ist dahingehend zu problematisieren, sozialpolitisches Engagement als Heilshandeln Gottes zu qualifizieren und somit an Gerechtigkeit orientierte Praxis mit dem Heilshandeln Gottes gleichzusetzen. Eine Orientierung an der Praxis ohne eine Rückbindung zu christlichen inhaltlichen Überzeugungen ist in der Argumentationslinie dieser Arbeit kritisch zu sehen. Die Gefahr einer uninformierten Praxis, wie es Sargeant formuliert, liegt nahe.322 Wenn man die Diskurse zum Verhältnis von christlichen Inhalten und sozialpolitischer Praxis beachtet, fällt auf, dass es durch die Konversation zu „einer Ehrenrettung der Tat, der Aktivitäten und überhaupt der missionalen Praxis“323 kommen müsste. Neben der Selbstüberschätzung werden die missionstheologischen integrativen Bemühungen und Diskurse der letzten 75 Jahre nicht beachtet. b) Es ist aus der Darstellung der „Emerging Church“-Konversation in Erinnerung zu rufen, dass „worship“ ein zentrales Merkmal emergenter Gruppen und Gemeinschaften ist und dass gottesdienstliche Ausdrucksformen zum Selbstverständnis emergenten gemeindlichen Lebens gehören. Es sind jene Diskurse in der Konversation zu würdigen, die im gottesdienstlichen Leben partizipative Formate erproben und fördern, sowie jene Anliegen
321 „Jak richtet seinen Angriff nicht gegen Glauben im pln. Sinne von ‚Vertrauen‘, sondern gegen bloße Lippenbekenntnisse. Der Glaube an Christus muß in der Nächstenliebe gelebt werden (2, 1–7), welche die Erfüllung des Gesetzes ist […].“ Hooker, Art. „Glaube. III. Neues Testament“ (2000), 953. 322 Sargeant, Christian Education and the Emerging Church (2015), 51. 323 Dies bejaht Walter Färber. Siehe http://www.walterfaerber.de/2007/11/04/praxis-als-sakrament/ am 10.06.2012.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
ernst zu nehmen, die, ähnlich wie in der „alternative worship“-Tradition, neben den sprachlich verkündenden Aspekten beispielsweise visuellen, auditiven oder handlungsorientierten Verkündigungsformaten nachgehen. Im Blick auf das zweifelnde Subjekt wird Begegnung und Interaktion mit Alternativen – wie in dekonversiven Prozessen festgelegt – zur Ressource der Synchronisationsbemühungen des ungewissen Subjekts. Die Dominanz handlungsorientierter Formate324 begegnet dem Verlangen nach Erleben und diesseitiger Orientierung und scheint Hinweise für den Umgang mit Zweifel und dekonversiven Prozessen in der Konversation zu geben. Das bricolageartige Verhalten in gottesdienstlichen Formen soll zudem in einer doppelten Weise diskutiert werden. Zum einen wird das Überschreiten konfessioneller Grenzen und das Erproben fremder Praktiken und Überzeugungen als ökumenischer Impuls diskutiert.325 Bereits Robert Webber war eine solche Überschreitung für den US-amerikanischen Evangelikalismus ein Anliegen, um eine integrativere religiöse Praxis für den Evangelikalismus zu gewinnen. Zum anderen ist eine an individuellen Bedürfnissen orientierte bricolage zu kritisieren, wenn es letztlich um Erlebnisbefriedigung des spirituell suchenden Subjekts geht.326 c) Hinsichtlich des Themas Inklusion ist zu würdigen, dass die „Emerging Church“-Konversation einen Beitrag dazu geleistet hat, das Thema „Frauen in gemeindlichen Leitungsämtern“ im Kontext des Evangelikalismus zu thematisieren und Gleichberechtigung in christlichen Gemeinschaften zu forcieren.327 Dies geschieht neben den öffentlichen Debatten auf informeller Ebene, also vorwiegend relational.328 Im Hinblick auf intellektuelle Motive 324 Vgl. dazu Abschnitt II Kapitel 12.4 Gottesdienstliches Leben und spirituelle Ausdrucksformen. 325 Gay schlägt vor, dass Ökumene im 21. Jahrhundert von der „bricolage“-Haltung in der „Emer�ging Church“-Konversation lernen könne. Die sprachlichen Neuformulierungen und wider�sprüchlichen theologischen Ansätze geraten aber auch an ihre Grenzen. Der Autor meint: „[…] [it] runs a high risk of falling over into a consumerist evasion of responsibility for seeking the peace and unity of the Church.“ Gay argumentiert mit Volfs These, dass die ökumenische Dis�kussion im 20. Jahrhundert durch die rasante „congregationalization“ nicht die Kraft für einen Neuanfang hat. „The Church: Emerging may yet be a hopeful bridge between a Protestantism too careless of its catholicity and a ‚catholicism / orthodoxy‘ that has too often fetishized its own apostolicity.“ Gay, Remixing the Church (2011), 70. 326 Becks meint dazu: „Diese Ästhetisierung kann in anderen Bereichen zu eigentümlicher „Entfremdung von den Inhalten“ führen, indem äußerlich geprägte Kulturformen nachvollzogen werden nicht um des Inhalts, sondern um der Stilisierung willen.“ Becks, Der Gottesdienst in der Erlebnisgesellschaft (1999), 54. 327 Dies wird in emergenten Debatten theologisch etwa über die Trinität als Urbild der wechselseitigen Anerkennung thematisiert. 328 In dieser Hinsicht wird in emergenten Vergemeinschaftungen das verwirklicht, was Gerhard Wegner im Kontext der Inklusions-Debatten gefordert hat: „Menschen mehr Rechte zuzusprechen ist entscheidend, reicht aber nicht aus. Inklusion greift nicht, solange sie nicht in tra-
2.6 Werte, Haltungen und Praktiken
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in dekonversiven Prozessen kann beobachtet werden, dass es für Protagonisten mit evangelikalen Biografien bei dieser Frage zu einem dekonversiven Reflex gekommen ist. Gleichzeitig ist zu erkennen, dass der Begriff „Inklusion“ zu einem Container-Begriff in der Konversation geworden ist, der Zugehörigkeit und Inklusionstugenden (Empathie oder Solidarität) zum obersten Prinzip macht. So gilt für emergente Debatten, dass die idealisierten Ideen zum Dogma werden. Es wird versucht, alle Aspekte, die Zugehörigkeit verhindern, etwa sexuelle Orientierung, Geschlecht, Hautfarbe oder auch konfessionelle Unterschiede, zu nivellieren. Dabei fällt auf, dass Lehrtraditionen diesem obersten Prinzip oftmals rasch untergeordnet werden (etwa bei konfessionellen Grenzen und bei der strittigen Diskussion der Segnung homosexueller Partnerschaften). Es fällt auf, dass der Inklusionsbegriff darüber definiert wird, keine wertende, voreingenommene Haltung anderen Personen, Religionen oder Weltanschauungen gegenüber zu haben. Eine solche Haltung ist grundsätzlich begrüßenswert, kann jedoch überdehnt werden.329 Nach biblisch-theologischem Verständnis wird Inklusion über den Glauben möglich. Der Glaube ist demnach ein nach innen verbindendes und nach außen abgrenzendes Kennzeichen (sowohl „centered-set“ als auch „bounded set“). Dem hier skizzierten Glaubensverständnis zufolge gilt keine universale Inklusion, sondern eine aus dem Glauben abgeleitete Exklusion. So ist die durch den Glauben geformte „koinonia“ die vergemeinschaftete Anteilhabe an Christi Tod und Auferstehung. Ihre Zueignung geschieht beispielsweise im äußerlichen Zeichen des Abendmahls als Teilhabe am Leib des erhöhten Christus (1Kor 10,16f) und schafft exklusive Einheit der Glaubenden.330 genden und befähigenden Beziehungen lebendig wird.“ Wegner, „Inklusion braucht tragende Beziehungen“ (2013), 41. 329 Radikale Inklusion, die Orientierung an Begabungen, radikale Selbstverwirklichung, zivile Verantwortungsübernahme, Unmittelbarkeit oder hohe Partizipation sind Haltungen, die nicht Alleinstellungsmerkmal der „Emerging Church“-Konversation sind, sondern beispielsweise auch im paganen Musikfestival „Burning Man“ zu finden sind. https://burningman.org/cul�ture/philosophical-center/10-principles/ am 01.02.2016. Kritisch sieht dies etwa Gilmore, der davor warnt, dass der christliche Gemeinschaftsbegriff ausgehöhlt werde, wenn sich emergente Gemeinschaften nicht der Schrift und den Bekenntnissen gegenüber verbindlich zeigten. Gilmore, „Divine Appointments“ (MA Thesis, Fuller Theological Seminary, 2006), 83–85. 330 Vgl. dazu: Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 399. Wenz: „Indem wir im Mahl des Herrn Anteil gewinnen an Leib und Blut, will heißen: an der in Gott verewigten Person des auferstandenen Gekreuzigten, werden wir untereinander zu einer personalen Gemeinschaft wechselseitiger Teilhabe und Teilgabe, zum Leib Christi zusammengeschlossen, der zu sein die Kirche in allen ihren Erscheinungsformen bestimmt ist.“ Wenz, Kirche (2005), 142.
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2. Diskussion der „Emerging Church“-Konversation
d) Partizipatives Leiten und Führen ist nicht nur aufgrund biblischer Begründungen für Vergemeinschaftungen in Betracht zu ziehen, sondern auch wegen der Anschlussfähigkeit an postmoderne Bedingungen ein zukunftsträchtiges Modell. Neben der Aktivierung der Selbstwirksamkeit der Protagonisten sind Organismus ähnelnde Modelle in der Lage, schnell auf Anfragen, den Bedarf und die Bedürfnisse zu reagieren. Fabian Vogt meint über den möglichen Einfluss des Leitungsverständnisses in der „Emerging Church“-Konversation auf die deutschsprachigen Gemeindesituationen: Die Gemeinden der Zukunft reduzieren ihre Leitungsorgane auf ein Minimum und fördern alle Konzepte, die das Verantwortungsbewusstsein der Gemeinde für die Gemeinschaft stärken. Das Wissen, dass jede und jeder (durch sein Verhalten und sein Engagement) mitentscheidet, in welche Richtung sich der Organismus entwickelt, wird Menschen beflügeln.331
Ob die Tatsache einer möglichen Partizipation, wie Fabian Vogt meint, allein die Zukunft der Gemeinden verändern wird, lässt sich mit Blick auf die komplexe Sozialgestalt der Kirchen bezweifeln. Fest steht, dass partizipative Modelle, wie sie in der „Emerging Church“-Konversation ausprobiert wurden, in einem Wechselspiel von Befähigung, Ermächtigung, Freiheit und auch Ordnung geschehen müssen. Das von der Konversation gezeichnete Bild einer auf das Individuum und die individuelle religiöse Entwicklung hin abzielenden Bewegung wird gestärkt, wenn man die persönliche Berufung („called to“) der öffentlichen Berufung, etwa durch kirchliche Organisationen („called by“), gegenübergestellt.
Luther erläutert, dass das Wort Gottes in äußerlichen Zeichen, das heißt in menschlichen Kommunikationshandlungen, mitgeteilt werden müsse. Luther betont gegen alle Innerlichkeit und allen Spiritualismus die Äußerlichkeit des Evangeliums als Bedingung seiner inneren Aneignung. Genauso werde im Abendmahl das Geschehen der Vergebung durch den Kreuzestod Christi mit seiner Mitteilung verbunden. Schwöbel: „Es gibt kein ‚an sich‘ der Vergebung ohne das ‚für euch‘ der Mitteilung durch das Wort. Der soteriologische Gehalt des Kreuzestodes Jesu ist somit für Luther die kommunikative Zueignung der Sündenvergebung an die Glaubenden.“ Schwöbel, „Kirche als Communio“ (2002), 415. 331 Vogt, Das 1 × 1 der Emerging Church (2006), 35.
3. Zusammenfassung und Nachbemerkungen
In dem vorliegenden Kapitel (Abschnitt IV Kapitel 2) wurde der Forschungsgegenstand „Emerging Church“, der zuvor durch die Perspektive dekonversiver Merkmale und Phasen interpretiert wurde, nun mit einer theologischen Kriteriologie des Zweifels (und des Glaubens) besprochen. Dabei orientierte sich die Diskussion an den fünf erarbeiteten Motiven, die den Forschungsgegenstand gut zu fassen vermögen. Am ausführlichsten wurde das erste Motiv, nämlich die Veränderung der religösen Orientierung, reflektiert, da sich daraus eine Vielzahl von weiteren Aspekten der Konversation erschließen lassen. Dabei wurden grundsätzliche Differenzen beispielsweise im Hinblick auf Anthropologie oder Glaubensverständnis deutlich. Danach wurde die Rolle und die Bedeutung der Gemeinschaft diskutiert, einige ausgewählte theologische Topoi sowie „Kontexte“ in der Konversation und ausgewählte Werte, Haltungen und Praktiken behandelt. Bevor nun ausgewählte Erträge der Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand „Emerging Church“-Konversation in das Kapitel „Ausblick“ überführt werden, soll darauf verwiesen werden, welche Aspekte der Darstellung der Konversation nicht diskutiert wurden. Es wurde nicht die Vielfalt an missionstheologischen Aspekten besprochen, da sie alle auf Prämissen des religiösen Selbstverständnisses sowie der Bedeutung der Relationalität zurückgeführt werden können. Darüber hinaus wurden nicht die verschiedenen Leitungsverständnisse, Gottesdienst- und Verkündigungsverständnisse besprochen, da sie ebenfalls Derivate grundlegender Überzeugungen der religiösen Orientierung sind, die ausführlich diskutiert und kritisiert wurden. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass die Bedeutung der Auswahl und der Gestaltung lokaler Zusammenkünfte emergenter Vergemeinschaftungen und deren Verhältnis zum Online-Verhalten nicht ausführlich besprochen wurde. Es wurde lediglich ein notwendiger Zusammenhang zwischen Online- und Offline-Präsenz begründet. Was den Forschungsgegenstand hinsichtlich des religiösen Selbstverständnisses, theologischer Diskurse etc. emergenter Protagonisten betrifft, können zwischen Online- und Offline- Konversation keine substanziellen Unterschiede ausgemacht werden. Zuletzt sei angeführt, dass der Aspekt der wechselnden lokalen Verortung emergenter Vergemeinschaftung nicht eigenständig diskutiert wurde.1 Jedoch 1
Die theologische Bedeutung der Lokalität und der Urbanität bleibt in dieser Arbeit offen und ist ein Forschungsdesiderat. Ob die Stadt für die „Emerging Church“-Konversation eine her� -
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3. Zusammenfassung und Nachbemerkungen
wurde deutlich, dass Relationalität den Vorrang gegenüber Lokalität bekommt und dass Lokalität den verschiedenen individuellen und gemeinschaftlichen Ausdrucksformen Raum geben soll. Durch die Verbindung lokaler Bezüge mit Online-Diskursen entsteht eine Hyperlokalität. Dies beschreibt ein Zugehörigkeitsgefühl emergenter Protagonisten unabhängig von ihrer Lokalität. Inhaltliche Aspekte wie das Ideal der Inklusion oder die Kritik an religiösem Konsumismus wurden in die anderen Debatten eingeschlossen. In der „Emerging Church“-Konversation zeigt sich der Rückgang eines traditionellen christlichen Religionsverständnisses (im historischen Kontext des Forschungsgegenstandes auf den Evangelikalismus bezogen) und bei genauerem Hinsehen eine Transformation von Religion – eine Variante gelebter postmoderner Religiosität. Motor der Transformation ist die Dekonversion, theologisch als Zweifel identifiziert. Die „Emerging Church“-Konversation wurde als Bewegung diskutiert, die für Protagonisten als Durchgangsphänomen dient – als liminaler Ort –, um individuelle Abwehr- und Loslösungsprozesse hinsichtlich der eigenen religiösen Orientierung zu gestalten. Die Konversation ist damit ein „alternative space“, der für die Protagonisten eine hohe Bedeutung hat. Es wurde gezeigt, dass die Konversation thematisch sowie strukturell einen dekonversiven Diskursraum verkörpert. Die „Emerging Church“ zeigt sich dabei als eine Bewegung, die den religiösen Zweifel thematisiert und für religiöse Subjekte Online und Offline ein Schwellenphänomen bildet. Auf die seelsorgliche Bedeutung wurde positiv hingewiesen. Erstaunlich sind dabei etwa die kreativen und selbstbestimmten Wege, auf die sich die Protagonisten in situativen und verbindlichen Vergemeinschaftungen einlassen. In der Konversation zeigen sich aktive und selbstbestimmte Protagonisten, die etwa durch visuelle, haptische und andere sinnliche und kreative Versatzstücke spirituelle Ausdrucksformen erproben, Interpretationsräume öffnen, Begegnung und Interaktion mit „dem Anderen“ suchen und religiöse Identität gestalten. Dabei kommt es auf vielfältigen Ebenen zu innovativen Prozessen (Gottesdienst, Sozialformen, theologische Diskurse etc.), die jedoch eine Verstetigung vermissen lassen. Wesentliche Elemente dieser Aushandlungsprozesse sind Bricolage, Dekonstruieren, Handlungsorientierung sowie Sprachformen wie Ironie, Erzählungen etc. Die in der Konversation beschworene „post“-Identität („postkonfessionell“, „postevangelikal“ etc.) weist dabei strukturelle Ähnlichkeiten mit einer post-christlichen Spiritualität (Possamai, Houtman / Aupers) auf.2
2
meneutische Schlüsselrolle spielt, wie sie etwa für fxC vermutet wird, bleibt unbeantwortet. Elhaus / Hennecke, „Gottes Sehnsucht in der Stadt“ (2011), 36. Vgl. dazu die Ausführungen in Abschnitt IV Kapitel 2.2.3 Post-christliche Spiritualität.
3. Zusammenfassung und Nachbemerkungen
675
Emergente Protagonisten integrieren Widersprüchliches, Interkonfessionelles, altkirchliche sowie außerchristliche Bestände, technische Informationsund Kommunikationstechnologien etc. und fragen nach der Nützlichkeit und Relevanz für die eigene religiöse Identitätsbildung.3 Authentizität wird zum Gütesiegel und zugleich zum Containerbegriff. Das Drängen auf Unmittelbarkeit (Spiritualität), die Hypertextualität im Umgang mit Ressourcen (Inhalte, Technik, Material, Ort), dialogische-diskursive Vorgänge und partizipative Formen werden relational verwirklicht. Diese können im Sinn eines „networked individualism“ oder eines „kooperativen Egoismus‘“ verstanden werden. So versinnbildlicht die „Emerging Church“-Konversation als Variante gelebter Religiosität nicht nur ein Verflüssigungsphänomen hinsichtlich ihrer Sozialgestalten, sondern auch hinsichtlich ihrer religiösen Identitätsbildung sowie ihres Umgangs mit religiösen Inhalten und Ressourcen. Die OnlineKommunikation und das Online-Verhalten tragen hierzu einen erheblichen Anteil bei (Teusner, Moody). Ob die „Emerging Church“-Konversation als „viable post-Christendom future“ (Perriman) angesehen werden kann, bleibt unbeantwortet und muss weiter diskutiert werden. Denn obwohl die Bewegung weniger präsent ist, sind viele Diskurse, Protagonisten und Netzwerke in die religiöse Landschaft (etwa in das organisierte religiöse Segment – Hyphenates) diffundiert. Es ist für den Protestantismus nicht neu, dass ein Glaubensbegriff sowie ein Begriff christlicher Existenz entwickelt wird, der „die Grenzen der alten Dogmatik durchbricht“, wie Claussen historisch anhand von Schleiermacher und anhand von Tillich dargestellt hat.4 Dabei ist jedoch, wie in der theologischen Diskussion der Bewegung deutlich wurde, eine Zukunft der christlichen Existenz, wie sie in der „Emerging Church“-Konversation vor Augen geführt wird, höchst problematisch und mit reformatorischen Bestimmungen nicht in Einklang zu bringen. An vielen Stellen wurde den Mustern und Ausformungen in der Konversation widersprochen – wie sie etwa pointiert in der dritten historischen Phase und durch die „revisionist“-Strömung vertreten werden –, und beispielsweise eine Entsubstantialisierung des Glaubensbegriffs, eine Überschätzung menschlicher Freiheit oder eine Ablehnung der „assertio“ angeklagt. Die hier zusammengetragenen Überlegungen zeigen an vielen Stellen unüberbrückbare Differenzen auf, etwa in der Frage nach dem theologischen 3 4
Vgl. dazu die zeitdiagnostische Perspektivierung durch Charles Taylors Begriff „Authentizität“. Abschnitt IV Kapitel 2.2.8 Exkurs: Zweifel in zeitdiagnostischer Perspektive – die „Emerging Church“-Konversation als „kulturelles“ Phänomen. Claussen, „Religion ohne Gewissheit“ (2005), 440–442.
676
3. Zusammenfassung und Nachbemerkungen
Menschenbild oder in der Frage eines in das Unbestimmte und in das Subjektive driftenden Glaubensverständnisses. Dies wurde beispielsweise im Blick auf die Bedeutung von Lehrmeinungen oder Institutionalität diskutiert. Geht es nun um eine Eingrenzung der normativen Zumutung, um mit der „Emerging Church“-Konversation und ihren Ausläufern im Gespräch bleiben zu können? Ist die Zukunft christlicher Existenz bekenntnisfrei (oder bekenntnislos), über- und interkonfessionell und orientiert sie sich an der Relevanz, der Nützlichkeit sowie dem Bedürfnis derer, die danach fragen? Die theologische Diskussion dieser Arbeit basiert auf der Überzeugung, dass die zwei aufgeworfenen Fragen mit „Nein“ zu beantworten sind. Theologische Existenz und theologisches Nachdenken basieren auf Überzeugungen, die durch die Heilige Schrift, in Bekenntnissen und Tradition vermittelt sind und in deren Plausibilitätshorizont man sich in der Gemeinschaft stellen soll. Natürlich geschieht das nur mehr als eine Option unter vielen Optionen. Das entlastet die in dieser Arbeit vorgeschlagene Option theologischen Denkens natürlich nicht, sondern fordert heraus einerseits Rechenschaft über die Annahmen und Argumente zu geben und andererseits die daraus folgenden Überzeugungen verständlich zu vermitteln. Wie nun mit der in dieser Arbeit skizzierten Variante postmoderner Religiosität umgehen? Im Anschluss an die Überlegungen, die in dieser Arbeit zum Dialogbegriff getätigt wurden, kann gefolgert werden: Der Konversation muss weiterhin in Anknüpfung und Widerspruch sowie in der Anerkennung des Geleisteten und dem Ablehnen des Fragwürdigen und Problematischen, ausgehend von einer reformatorischen Bestimmung christlicher Existenz, begegnet werden. Die Aushandlungsprozesse, nämlich wie sich normatives theologisches Gedankengut zu empirisch Vorfindlichem verhalten soll, bleiben eine Aufgabe der Vermittlung theologischer Existenz.
Abschnitt V Ausblick und Impulse
„Die Entsubstantialisierung des Glaubensbegriffs dürfte nicht das geeignete Mittel sein, um die Irritation durch eine ‚Religion ohne Gewissheit‘ theologisch zu bearbeiten. Eine selbstkritische liberale Theologie sollte also nach einem Weg suchen, der es ermöglicht, so mit der eigenen – häufig genug nur sehr beiläufigen und unbestimmten – Religiosität umzugehen, dass sie zu einer qualitativ erfüllteren Gestalt emporgebildet wird.“1 Johann Hinrich Claussen
1. Vorbemerkungen
Im nunmehr letzten Kapitel sollen einige ausgewählte Erträge der Beschäftigung mit der „Emerging Church“-Konversation knapp für ausgewählte deutschsprachige Diskurse fruchtbar gemacht werden. Dies geschieht exemplarisch mit einem systematisch-theologischen Gesprächspartner, nämlich Hartmut Rosenaus Entwurf eines sapientialen Umgangs mit der Gottesferne. Zudem sollen einige konkrete exemplarische Handlungsempfehlungen für den Umgang mit Zweifelnden in gemeindlichen Kontexten gegeben werden.
1
Claussen, „Religion ohne Gewissheit“ (2005), 453.
2. Systematisch-theologischer Ausblick: Hartmut Rosenaus Ansatz des sapientialen Umgangs mit dem Zweifel
Im Folgenden wird ein gegenwärtiger deutschsprachiger theologischer Entwurf vorgestellt und anhand der Ergebnisse über den Forschungsgegenstand „Emerging Church“-Konversation diskutiert. Zum einen wird deutlich, dass die Fragestellungen betreffend des Forschungsgegenstandes auch in deutschsprachigen Bezügen zu finden sind.1 Zum anderen wird die Relevanz der vorliegenden Arbeit deutlich, da die Forschungserträge fruchtbare Impulse geben können. Hartmut Rosenau entwirft einen sapientialen Umgang mit dem Zweifel im Horizont der Gottesferne. Rosenaus Ansatz verdient Beachtung, da er erstaunlich viele strukturelle Korrespondenzen mit Ansätzen und Motiven der „Emerging Church“-Konversation aufzeigt. Rosenaus Entwurf geht von einer konstatierten Gottesferne aus und weist damit eine strukturelle Parallele zu zweifelnden und in dekonversiven Prozessen befindlichen emergenten Protagonisten auf. Korrespondenzen zeigen sich vornehmlich zu den Entwürfen seit dem Ende der zweiten historischen Phase und der Dominanz der „revisionist“- Strömung. Der Kieler Systematische Theologe Hartmut Rosenau stellt einen sapientialen Umgang mit dem Zweifel vor, wie er es bei Kohelet, dem weisen Prediger im Alten Testament, beobachtet.2 In der Krise der Theologie und des christlichen
1 Es finden sich ähnliche Argumentationen bei anderen deutschsprachigen Autoren und in gegenwärtigen theologischen Ansätzen wieder, die im Folgenden anhand Rosenaus Ansatz exemplarisch adressiert werden. Zum Beispiel plädiert Claussen für eine „Religion ohne Gewissheit“, eine sogenannte „Enzensberger-Religion“ (nach dem Lyriker Hans Magnus Enzensberger, der einen „beiläufigen Glauben“, einen Glauben im Vorübergehen formuliert). A. a. O. 2 Rosenaus Ansatz ist im Hinblick auf den Forschungsgegenstand dieser Arbeit deshalb von Interesse, da er einen Ansatz zwischen Offenbarungstheologie (von der Selbstmitteilung Gottes hergeleitet) und natürlicher Theologie (ein von menschlichen Erfahrungen hergeleitetes Gottesverständnis) vorschlägt. Rosenau, „Die ins Konstruktive gewendete Skepsis“ (2017), 127–132. Die „Emerging Church“-Konversation, die historisch bedingt stark durch im Evan�gelikalismus vertretene offenbarungstheologische Ansätze geprägt ist – und sich davon entfernt hat – erhält mit Rosenau einen geeigneten Gesprächspartner, der beide Ansätze beachetet.
2. Systematisch-theologischer Ausblick
681
Glaubens3 spricht sich Rosenau für eine ins Konstruktive gewendete Skepsis aus. Kohelets Zweifel an der Glaubwürdigkeit und Haltbarkeit überkommener religiöser Werte und Überzeugungen haben für Rosenau paradigmatische Bedeutung. Er sagt: „Im historischen wie systematischen Rückgang auf Kohelet bietet sich hier eine weisheitliche, sapientiale Gestalt der Theologie an, die auf assertorische, dogmatische Behauptungssätze im streng normativen oder präskriptiven Sinn verzichtet, ohne aber in Unverbindlichkeit abzugleiten.“4 Sein Ansatz geht von den in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur vergleichbaren Erfahrungen der Gottesferne aus (Josefsnovelle Gen 37–50, Sprüche, Kohelet etc.).5 Es stelle sich nämlich die Herausforderung, wie die autoritativen Verheißungen Jahwes trotz gegenläufiger Eigenerfahrungen fruchtbar gemacht werden könnten. Es gelte zu vermeiden, entweder irrelevant zu werden oder „zu einer unkritischen Apokalyptik mit ihrer spekulativen Endzeit- und Jenseitsvorstellung […]“6 zu verkommen. In dieser Hinsicht biete sich „Weisheit“ an als „[…] gegenwartsbezogenes, undogmatisches, praktisches Erfahrungswissen im Dienst der Ermöglichung eines sinnvollen und gelingenden Lebens […].“7 Ein solcher sapientialer Umgang will nun Spuren einer indirekten Gegenwart Gottes in der Lebenswelt der Menschen, beispielsweise durch die Ordnungsstrukturen der natürlichen und sozialen Ordnung, finden (Familie, Beruf, Schule und nicht Tempel, Priester- bzw. Prophetengemeinschaften). Es kämen in dieser Hinsicht hauptsächlich schöpfungstheologische und ethische Perspektiven der eigenen religiösen Tradition und anderer religiöser Traditionen zum Tragen. Diese Ordnungen würden etwa in einem Tun-Ergehen-Zusammenhang deutlich, der aber zugleich selbst infrage stünde. Ziel eines sapientialen Umgangs sei es, sich in der Haltung der Gottesfurcht in ein gelingendes Leben einzufügen. Nach Rosenau führe das nicht lösbare Zerbrechen eines Tun-Ergehen-Zusammenhangs (wie in der Theodizee Hiobs 3
Rosenau meint: „Denn Zweifel betreffen nicht nur einzelne und immer wieder andere dogmatische oder ethische topoi, überkommene Lehrsätze oder Überzeugungen […]. Sie betreffen vielmehr den Erkenntnis- und Verstehensgrund des christlichen Glaubens und somit der Theologie als dessen Explikation überhaupt und im Ganzen.“ Rosenau, Ich glaube (2005), 10. Grundlegender formuliert Rosenau die gegenwärtig diskutierte Diskrepanz zwischen „gelehrter“ und „gelebter“ Religion in: Rosenau, Vom Warten (2012), 15–40. 4 Rosenau, Ich glaube (2005), 14. 5 „Ihre Genese ist das Ergebnis zunehmender Uneindeutigkeit und abnehmender Unmittelbarkeit in der Gott-Mensch-Relation insbesondere im Kontext exilisch-nachexilischer Heilsprophetie.“ Rosenau, „Die ins Konstruktive gewendete Skepsis“ (2017), 132. Zur Charakteristik der Weisheitstheologie siehe Rudolph / Köhlmoos u. a., Art. „Weisheit / Weisheitsliteratur I. Religionsgeschichtlich II. Altes Testament III. Judentum IV. Neues Testament V. Systematischtheologisch V/1. Dogmatisch V/2. Ethisch VI. Praktisch-theologisch.“ (2003). 6 Rosenau, „Die ins Konstruktive gewendete Skepsis“ (2017), 132–133. 7 Rosenau, Ich glaube (2005), 126.
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2. Systematisch-theologischer Ausblick
sichtbar) und die Erfahrung der Nichtigkeit menschlicher Bemühungen zu einer sapientialen Theologie, „die eine produktive Spannung zwischen tradierten Angeboten religiöser Weltdeutungen und ethischer Ordnungen einerseits und gegenläufiger Eigenerfahrungen andererseits aufbaut, ohne das eine gegen das andere auszuspielen oder absolut zu setzen.“8 An der Figur Kohelet sei eine „wartende Theologie“ zu beobachten, d. h. eine Pflege aktuell unglaubwürdig gewordener religiöser Inhalte im Zitat und damit eine Erwartung der Möglichkeit neuer Erfahrungen. Die passenden Formen einer solchen Art der Theologie seien „das aphoristische Sprichwort, die Erzählung, die Poesie“ und nicht die dogmatischen Lehrsätze und autoritativen „Sprüche Jahwes“. Rosenau verweist darauf, dass die Ästhetik die Möglichkeit gebe, etwas zu zeigen und zu bedenken, ohne es vorschreiben oder festlegen zu wollen.9 In ethischer Perspektive führe eine sapientiale Theologie zu einer Verschiebung vom „Letzten“ hin zum „Vorletzten“, genauer: zur Frage nach der Nützlichkeit des christlichen Glaubens unter den Bedingungen der Gottesferne.10 „Ein solcher Utilitarismus kann ‚christlich‘ genannt werden, weil es ihm nicht um Nutzenmaximierung zur eigenen Selbstkonstitution geht, sondern um die stetige Optimierung der Lebensbedingungen für die Um- und Mitwelt […].“11 In dogmatischer Perspektive werde gegenüber dem eschatologischen Heil der 8 Der Autor weiter: „Insbesondere an Kohelets Reflexionen über die Zeit (Koh 3,1 ff.) kann gesehen werden, wie die zu ihm nicht mehr sprechenden Traditionen von indirekter Gottesnähe in den Ordnungsstrukturen der Welt (LXX: kairos) angesichts der Eigenerfahrung durchgängiger Nivellierung menschlicher Lebensentwürfe und Vergänglichkeit des Erreichten (LXX: chronos) wechselseitig relativiert und zumindest noch im Zitat präsent gehalten werden.“ Rosenau, „Die ins Konstruktive gewendete Skepsis“ (2017), 133. Rosenau fährt fort: „Diese beiden unterschiedlichen Ausdrücke – ‚chronos‘ und ‚kairos‘ – markieren prägnant einen Übergang von der Erfahrung zeichenhafter Zeit der Nähe Gottes im traditionellen Glauben Israels zur Erfahrung einer zeichenlosen Zeit der Gottesferne in der Erfahrung Kohelets.“ Rosenau, Ich glaube (2005), 131. 9 Rosenau, „Die ins Konstruktive gewendete Skepsis“ (2017), 134. „Sie [Ästhetik] eröffnet in existentieller Verbindlichkeit einen offenen hermeneutischen Horizont von Deutungsmöglichkeiten des menschlichen Daseins in wechselseitig kritischer Korrelation von Traditionsbeständen und Eigenerfahrungen.“ 10 Der Autor beschreibt dies genauer: „Das vermögen die Menschen, die sich nicht aufgrund radikaler soteriologischer Ohnmacht oder Sündhaftigkeit exklusiv auf kultisch-religiöse Heilsvermittlung angewiesen sehen, durch eine in traditionsgelenkter Eigenerfahrung begründete Situationsethik, die auf prinzipielle Vorschriften verzichtet, aber im Blick auf die Vielzahl sozio-kultureller und natürlicher Determinanten (wie z. B. das In-der-Welt-Sein als solches, die Leiblichkeit und Sterblichkeit, die Gebundenheit an Zeit und Raum, die Geschichtlichkeit) unterschiedliche Lebensformen und ihre Konsequenzen (Segen; Verderben) zur Ermunterung oder zur Warnung kritisch beschreibend und perspektivisch erzählend vor Augen führt.“ Rosenau, Ich glaube (2005), 127. 11 Rosenau, „Die ins Konstruktive gewendete Skepsis“ (2017), 134.
2. Systematisch-theologischer Ausblick
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prä-eschatologische Segen bemüht.12 Segen stehe für „[…] den Sinn, den Wert, den Erfolg, das ganzheitliche Gelingen und Glücken des Lebens angesichts seiner vielfältigen Ambivalenzen und Gefährdungen, für die positive Entfaltung aller Lebensmöglichkeiten innerhalb einer Schöpfungsgemeinschaft […].“13 Segen wird hier nicht nur individuell verstanden, sondern im Zusammenhang des Selbst-, Welt- und Gottesverständnisses. Rosenau plädiert dafür, dass einerseits Glaube und Glaubensgewissheit und andererseits Zweifel sich weder ausschlössen noch einander in einer höheren Synthese argumentativ aufhöben. Ihr Verhältnis zueinander sei „nur situativ oder in unterschiedlichen Kontexten unter Verzicht auf absolute Lösungen jeweils neu zu beschreiben und mit dem Ziel lebensweltlich, existentiell oder seelsorgerisch hinreichender Gewissheit immer wieder neu auszutarieren.“14 Die Wirkung des Heiligen Geistes sei es, den Menschen in ein „schöpfungsgemäßes Maß und Wesen“ zu bringen. Das sei auch das „zuletzt Erwartete“.15 Rosenau verweist vorsichtig auf die Bedeutung der Gemeinschaft, in der die „schlechten Erfahrungen der Gottesferne im diachronen und synchronen Vergleich mit den vielleicht guten Erfahrungen der Gottesnähe anderer relativiert werden können und ihre grundsätzliche Schärfe verlieren, ohne dass sie unterdrückt werden müssten.“16 Er stellt ein solches Beziehungsgeschehen beispielsweise bezogen auf die Seelsorge vor, das basierend auf dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen „als eine Korrelation gleichermaßen Besorgter und Bedürftiger zu verstehen [ist].“17 Es gelte, die religiöse Dimension der jeweiligen Lebensprobleme anhand der Weisheitstheologie zu erschließen. Sie beschreibt ästhetisch-ethische Lebensstrukturen und Lebenssituationen im Licht angesammelten und bewährten Wissens, ist nicht gebunden an spezifische Traditio-
12 Rosenau genauer dazu: „Denn wenn in Zeiten der Gottesferne das Reden vom eschatologischen Heil, dem Rettungshandeln Gottes in Jesus Christus […] fragwürdig, zweifelhaft und pro blematisch geworden ist und alles zeitlich oder qualitativ Letzte (Eschatische) skeptisch eingeklammert oder ausgesetzt wird, dann wird im umgekehrten ontologischen Ranggefüge das Prä-Eschatische, das Bild, das Gleichnis wichtiger und lebensweltlich zugänglicher als das Eschatische, das Abgebildete oder das Verglichene – und somit auch die Rede vom Segen zugänglicher als die vom Heil.“ A. a. O., 135. 13 A. a. O. 14 A. a. O., 136. 15 Rosenau, Vom Warten (2012), 193, 195–206. 16 Rosenau, Ich glaube (2005), 132. Rosenau fährt fort: „So sind nicht nur die Anlässe zum Zweifeln am Gesamtsinn des Daseins, sondern auch die Möglichkeiten, solche Glaubensanfechtungen, Sinnkrisen oder Zweifel zu überwinden, nur in der Gemeinschaft, in relationalen Beziehungen zu anderen gegeben, nicht aber in intellektuellen Selbstgesprächen oder Meditationen.“ A. a. O., 140. 17 A. a. O., 143.
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2. Systematisch-theologischer Ausblick
nen von Kult und Lehre, sondern appellativ auf allgemein menschliche, elementare und alltägliche Erfahrungen von Natur, Gesellschaft und zwischenmenschlichen Beziehungen unter dem Vorzeichen der ‚Gottesfurcht‘ (jirat elohim) bezogen.18
Rosenaus Entwurf ist der Versuch, die theologische Disziplin der Systematischen Theologie aus der gegenwartsbezogenen Perspektive der Gottesferne darzustellen. Der Ansatz einer sapientialen Theologie ist hinsichtlich des Forschungsgegenstandes „Emerging Church“ deswegen interessant, weil er religiöse Existenz und Theologie in Anbetracht der Gottesferne bedenkt. Genauer gesagt, setzt der Autor bei der „Verzweiflung“ an.19 In gebotener Kürze soll der sapientiale Umgang gewürdigt und im Kontext der dargestellten Orientierung über den Zweifel und die „Emerging Church“ kritisch reflektiert werden. Der Ansatz zeichnet sich vor allem durch den Begriff des „Wartens“ aus, einer Pflege und Wartung der Lehrbestände und Erwartung der gegenwärtig unzugänglichen Gottesnähe. Beachtenswert ist der Versuch, sowohl Aspekte einer natürlichen Theologie20 aufzunehmen, wie sie in dem Votum deutlich werden, indirekte Spuren Gottes wahrzunehmen, als auch Aspekte einer Offenbarungstheologie, die in der Pflege der biblischen Verheißungen vorkommen, zu Wort kommen zu lassen.21 Ausgedrückt wird dies in der gelungenen Formulierung: „traditionsgelenkte Eigenerfahrung“. Dieser Ansatz will an dem biblischen Wort festhalten und tut dies in doppelter Weise. Zum einen als Pflege im Zitat, zum anderen in der Erwartung einer möglichen Veränderung. Die Form eines solchen weisheitlichen Umgangs ist angemessen mit der Ästhetik bedacht – insbesondere deshalb, weil die Ästhetik als Sprachform unter postmodernen Bedingungen relevant erscheint. Dieser Ansatz erweist sich anschlussfähig an aktuelle Diskurse zur religiösen Identitätsbildung hinsichtlich der Deutung der Nützlichkeit des christlichen Glaubens und der Wiederentdeckung des Potenzials des Segens. Dem gegenwärtigen Verlangen nach intensiven persönlichen religiösen Erfahrungen wird mit der Deutung des Begriffs des Segens begegnet. Diese Deutung betont das Leibhaftige und die Sinnenhaftigkeit des Evangeliums und rückt damit etwaige unterbetonte Aspekte des Gottesverhältnisses ins Licht.22
18 19 20 21
A. a. O., 146. Sparn, „Rosenau, Hartmut“ (2013). Vgl. Rosenau, Vom Warten (2012), 41. Der Verfasser sagt an anderer Stelle: „Theologie ist verantwortliche Rede von und vor Gott im Spannungsfeld zwischen Apologetik und Fideismus, natürlicher und geoffenbarter, philosophischer und christologischer Erkenntnis.“ A. a. O., 27. 22 Zudem ist Gesegnetwerden als Kommunikationsform inklusiv, da es keine Aktivität erfordert. Vgl. dazu: Grethlein, Praktische Theologie (2016), 571.
2. Systematisch-theologischer Ausblick
685
Rosenau betont die sinnliche Vergewisserung, wie sie etwa mit der Feier der Sakramente beibehalten wurde, und schlägt vor, die Sinneserfahrung des Abendmahls im Hinblick auf einen angefochtenen Glauben fruchtbarer zu machen.23 Wenn auch nur kurz, jedoch verheißungsvoll, wird die Aufgabe der Gemeinschaft im Umgang mit Zweifeln von Rosenau hervorgehoben. Positiv führt Rosenau die seelsorgliche Bestimmung der Gemeinschaft als Ermöglichungsund Erwartungsraum für eine personale Begegnung mit Jesus an.24 Anhand der Perikope des ungläubigen Thomas’ stellt Rosenau die vorsichtigen Versuche der Gemeinschaft der Jünger Jesu dar, die Bedenken des Thomas zu teilen und nicht seine Zweifel in apologetischer Absicht zu widerlegen. Er weist weiter darauf hin: „Sie versprechen ihm noch nicht einmal, dass er ganz bestimmt auch selbst den Auferstandenen sehen wird. Denn so wenig wie sie dieses selbst erwartet hatten, so sehr bleibt eine solche Begegnung mit dem Auferstandenen unverfügbar und unberechenbar.“25 Folgende Strukturparallelen zur „Emerging Church“-Konversation lassen sich erkennen: • Der Fokus auf indirekte Spuren Gottes ist begrüßenswert, denn die Debatten über die „missio Dei“ haben in Erinnerung gerufen, dass Gott dem Handeln der Kirche in der Welt voraus ist. Gleichzeitig kann ein Ansatz, der, wie jener von Rosenau, sich vorwiegend auf solche Spuren stützt, die subjektiven Wahrnehmungen überschätzen und die „revelatio generalis“, die durchaus in der Weisheitstheologie ihren Platz hat, der „revelatio specialis“, wie sie in Jesus Christus einzigartig beschrieben wird, gleichsetzen.26 Dies ist im Licht der in dieser Arbeit verfolgten theologischen Zusammenhänge mehr als zweifelhaft. Auf eine christologische Formatierung der „missio Dei“-Debatte wurde in der Auseinandersetzung zwischen Newbigin und Raiser hingewiesen. • Allgemein gesagt werden anhand von Rosenaus Ausführungen die Stellung und Autorität der Offenbarung Gottes sowie sein bibelhermeneutischer Ansatz nicht deutlich. Während Rosenau die gelingenden Lebensbezüge im Sinn einer natürlichen Theologie in Ehrfurcht vor Gott betont, wurde in dieser Arbeit in Anschluss an Luther und Ebeling argumentiert und der Offenbarung Gottes ein Vorrang eingeräumt. Das wurde in der Weise expliziert, dass erst durch den Glauben Selbst- und Welterkenntnis 23 24 25 26
Rosenau, Ich glaube (2005), 149. A. a. O. A. a. O., 147–148. Eine ähnliche Kritik äußert Werner Schock, der eine klarere biblische Prägung des Weisheitsbegriffs vermisst. Schock, Geist Perspektive (2014), 81.
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2. Systematisch-theologischer Ausblick
möglich wird. Die Welterfahrung an sich ist und bleibt in der reformatorischen Tradition für die Bestätigung des Glaubens ungeeignet. Nichtsdestotrotz ist Rosenau zuzustimmen, dass ein Beitrag an der Um- und Mitwelt auch ohne Glaubensgewissheit erfolgen kann. Ein schöpfungstheologischer Fluchtpunkt ist nachvollziehbar, jedoch ohne eine kreuzestheologische Formatierung ungenügend. Im Zusammenhang der offenbarungstheologischen Ansätze setzt sich Rosenau auch mit Ebeling auseinander und wirft ihm vor, dass eine Aufhebung des Zweifels in Glaubensgewissheit behauptet werde, ohne dass Ebeling eine argumentative Auseinandersetzung mit den skeptischen Einwänden im Einzelnen führe. Zudem wirft er Ebelings Ansatz vor, dass auch die höhere Ordnung skeptisch infrage gestellt werden könne (also die Existenz Gottes an sich) und dies somit keine letzte Lösung des Problems darstelle.27 Rosenaus Kritik an Ebeling ist zu widersprechen, da Ebeling im Anschluss an Luther gerade nicht von einer optimistischen (innerweltlichen) Erfüllung der Gewissheit spricht, sondern „eines bleibenden Miteinanders“28 von Zweifel und Glaubensgewissheit gewahr ist. Der Zweifel als Werk des Gesetzes steht im Kampf mit der Gewissheit, und es gibt im Blick auf das Diesseits keine Garantie des „guten Ausgangs“. Rosenaus Ansatz berücksichtigt einen solchen offenen Ausgang im Diesseits nicht. • Einigkeit kann man Rosenau und der „Emerging Church“-Konversation darin unterstellen, in der theologischen Sprachbildung assertorische Bezüge wegzulassen und Sprachformen wie die Erzählung oder die Ironie zu favorisieren. • Positiv ist zu vermerken, dass die seelsorglichen Konsequenzen Rosenaus auf lebendige, subjektive Wahrheiten in der geschichtlich-biografischen Situation zielen. Rosenau nutzt die Bedeutung der Relevanz, um zwischen dem „wahren“ und einem „wahrheitsgemäßen“ seelsorglichen Wort zu unterscheiden. Er führt weiter aus: „Wenn daher in der seelsorgerlichen Situation etwas angemessen sein kann, was dogmatisch oder ethisch nicht richtig oder bedenklich ist, dann stimmt etwas mit der Dogmatik oder der Ethik nicht, und nicht umgekehrt.“29 Eine solche Unterscheidung ist an dieser Stelle nicht nachvollziehbar, besonders wenn Rosenau an anderer Stelle um eine „traditionsgelenkte Eigenerfahrung“ bemüht ist. Es ist unklar, warum Rosenau darum bemüht ist zu betonen: „Es geht im seelsorglichen Umgang mit Skepsis und Zweifel nicht um zeitlose, objektive Richtigkeiten
27 Rosenau, Ich glaube (2005), 16. 28 Ebeling, „Gewissheit und Zweifel“ (1969), 140. 29 Rosenau, Ich glaube (2005), 145.
2. Systematisch-theologischer Ausblick
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von dogmatischen oder ethischen Glaubenssätzen im Sinne von Informationen und Mitteilungen […].“30 Man mag vermuten, dass die seelsorgliche Situation es erlaube, dogmatische Lehrsätze aufzukündigen. Im Sinne der vorangegangenen Darstellung kann Rosenau mit Luthers Verständnis der „assertio“ widersprochen werden. Die Bedeutung, die Lehrsätze für die praktische Glaubensgewissheit haben können, wird von Rosenau zugunsten subjektiver, vermeintlich situativer Kongruenz aufgehoben. Die Gefahr eines Glaubensrelativismus und Religionspluralismus, wie für die „Emerging Church“-Konversation befürchtet, wird nicht erkannt. • Zudem erscheint es problematisch, die Gewichtung des christlichen Glaubens und der christlichen Existenz ausschließlich auf die innerweltlichen Zusammenhänge (Verdiesseitigung) von gelingendem Leben unter der theologischen Chiffre „Segen“ zu stellen. Damit wird der Begriff des Heils unterbestimmt und auf einen ethisch-religiösen Zusammenhang reduziert. Bei Rosenaus Ansatz wird nicht deutlich, wie die eschatologische Hoffnung in die gegenwärtige Existenz integriert werden soll. Es ist nicht nachzuvollziehen, warum das eschatische Heil vom prä-eschatischem Segen getrennt wird und die charakteristische Verbindung von Glaube und eschatischem Heil damit untergraben wird.31 Die einzige offensichtliche Begründung ist jene der größeren Anschlussfähigkeit und Relevanz für Menschen in der Gottesferne. Im Kontext der Diskussion der „Emerging Church“-Konversation wurde der „Relevanz“-Begriff bereits kritisch durchleuchtet und auf die theologische Notwendigkeit eines „fremden Wortes“ hingewiesen. Wenn man die Glaubensgewissheit im Horizont der neutestamentlichen Berichte erschließt, wird einerseits ein Glaube deutlich, der auf die Zukunft ausgerichtet ist, „ja es ist geradezu das Kommen-Lassen des Zukünftigen.“32 Zudem wird das Verständnis des Heils trivialisiert, wenn die Rede von der Sünde verloren geht. Rosenau grenzt seinen Ansatz, eine Haltung der Ehrfurcht vor Gott zu entwickeln, bewusst von einem sündenbewussten Verständnis des Lebens ab.33 Dabei lassen sich anthropologische Bestimmungen erkennen, die gemäß dem in dieser Arbeit dargestellten Verständnis nicht geteilt werden können.
30 A. a. O. 31 Ebeling, „Jesus und Glaube“ (1960), 252–253. Für eine eschatologische Bezugnahme siehe Thiselton, Doubt, Faith and Certainty (2017), 127–142. 32 Ebeling, „Jesus und Glaube“ (1960), 247. 33 Obwohl der Verfasser die Gottesferne aufgrund einer sündigen Verkehrung der Schöpfungsordnung beschreibt (Rosenau, Vom Warten (2012), 86.), sagt er: „Denn es muss nicht ständig um Schuld und Sühne gehen, um evangeliumsgemäß in Ehrfurcht vor Gott zu leben.“ R osenau, Ich glaube (2005), 135.
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2. Systematisch-theologischer Ausblick
• Es scheint, als würde Rosenau der „Hochkonjunktur des Segens“34 folgen und dabei dem anthropologisch-kulturgeschichtlichen Aspekt, nämlich der Sehnsucht des Menschen nach Wohlergehen, den Vorrang geben. Rosenaus inhaltliche Bestimmung von Gottes Heilshandeln an der Welt ist beeindruckend diesseitsorientiert: „Verantwortlichkeit, Wahrhaftigkeit, Sachlichkeit, Toleranz, Selbstbescheidenheit, Gelassenheit und Solidarität“.35 Rosenaus Verständnis ist weiter anzufragen, nämlich wie das Verständnis des Segens, das sich mit den Formulierungen „Segen Christi“ (Röm 15,29) oder Christus „als Segen“ (Eph 1,3–14) zeigt und über den irdischen Bereich hinausweist, auf die konkreten Lebensbezüge reduziert bleiben kann. Christian Grethlein verweist darauf, dass erst „eine Theologisierung des Segens“ eine Grenzziehung zu einem Verständnis, das an magische Praxis erinnere, ermögliche. Er sagt: „Magische Praxis ist keine ergebnisoffene Kommunikation wie der Segen im christlichen Sinn. Sie zielt auf direkten, meist materiellen Erfolg. Segnen ist dagegen vom Vertrauen auf Gottes Zuwendung getragen […].“36 Grethlein benennt die Sehnsucht des Menschen nach Wohlergehen als Gefahr für den Menschen, der den Segen mit Erfolg vertauscht. Ein solches Verständnis interpretiert die Zuwendung Gottes in einem falschen Licht.37 • Rosenaus Perspektive der Nützlichkeit des Glaubens in Zeiten der Gottesferne bedarf eines kritischen Widerspruchs, denn die Perspektive der Nützlichkeit ist nur dann „nützlich“, wenn sie für jeden gleichermaßen „nützlich“ werden kann, d. h. ebenso aus der Sicht des Schwachen beantwortet werden kann. Das hier vorausgesetzte selbstbestimmte Subjekt ist problematisch. Eine solch radikale Konzentration auf das Diesseits muss sich die Frage gefallen lassen, was geschähe, wenn ein gelingendes Leben unter den vorherrschenden Bedingungen nicht möglich wäre – niemals möglich werden würde? Was, wenn die positive Entfaltung keine Option ist? Rosenaus Ansatz eines sapientialen, ins Produktive gewendeten Umgangs mit dem Zweifel geht von einem allzu starken, selbstbestimmten Subjekt aus, das Optionen gegenübersteht, dem Zweifel situativ begründet (auf die konkreten Lebensbezüge hin) zu widerstehen. Gleichzeitig steht ein solches Subjekt
34 35 36 37
Grethlein, Praktische Theologie (2016), 568. Rosenau, Ich glaube (2005), 135. Grethlein, Praktische Theologie (2016), 569. A. a. O., 570. Grethlein führt die Gefahr einer Gleichsetzung von Segen und Erfolg aus und nimmt auf zwei in der Christentumsgeschichte erkennbare Problemfelder Bezug. Zum einen wurde der im Segen liegende Aspekt des Dankens schnell vernachlässigt und der Aspekt des Empfangens überbetont. Zum anderen nahmen die im Vollzug des Segnens zur Hilfe genommenen Versatzstücke (z. B. Weihwasser etc.) zu.
2. Systematisch-theologischer Ausblick
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(wie auch das schwache Subjekt) in der Gefahr, dem Zweifel zu unterliegen. Rosenau konzentriert sich ausschließlich auf den produktiven Aspekt, der meint, „Sinn- und Verstehenshorizonte der menschlichen Existenz zu öffnen und zu erweitern anstatt zu verschließen oder einzuengen“.38 Die Frage des scheiternden Subjekts bleibt unbeantwortet. • Zuletzt sei auf die Schwierigkeit hingewiesen, dass einer auf der Weisheitstheologie basierenden Theologie – wie Rosenau selbst feststellt – Grenzen gesetzt sind. Eine offensichtliche Grenze zeigt das Gegenüber „[…] einer institutionellen ‚kirchlichen‘ Religiosität und Pflege von Heilsgeschichte (Kult; Tempel; Priesterschaft; Gottesdienst; heilige Traditionen etc.)“.39 Von Rosenau werden in dieser Hinsicht keine Hinweise gegeben, wie beides zu vereinbaren wäre. Dies wäre jedoch in der gegenwärtig (noch) teilweise bestehenden institutionellen Religiosität dringend notwendig. Die kurze Auseinandersetzung mit dem systematisch-theologischen Entwurf von Hartmut Rosenau zeigt die Relevanz der Beschäftigung mit der „Emerg ing Church“-Konversation und deren theologischen Verortung auf. Es wurde auf ausgewählte vergleichbare Argumentationsmuster und Korrespondenzen hingewiesen. Deutlich wird sowohl bei Rosenau als auch in der „Emerging Church“-Konversation eine Tendenz, religiöses Erleben immanent sowie auf die Nützlichkeit hin zu verorten. Für beides ist ein starkes, selbstbestimmtes Subjekt notwendig, das die Entwicklung der religiösen Entwicklung in die Hand nimmt. Theologische Lehrformeln und Bekenntnisse scheinen bei beiden ihre Gültigkeit, zumindest ihre Relevanz, verloren zu haben. Während für Rosenau die Verbindlichkeit zur Tradition in Form der „Pflege im Zitat“ noch gegeben scheint und ein offenbarungstheologischer Türspalt geöffnet bleibt, wird in der Konversation Tradition zunehmend zum Archiv des Bedarfs. Rosenaus Vernachlässigung einer konfessorischen Existenz kann – nach den bisherigen Ausführungen – nicht geteilt werden. In „revisionist“-nahen Aussagen sind Tendenzen zu finden, die über Rosenaus Ausführungen insofern hinausgehen, als dass diese christliche Traditionsstränge und Bekenntnisse zum einen verändert aufnehmen oder mit anderen Religionstraditionen vermischen als auch nicht mehr rezipieren. Damit wird Rosenaus Votum eines sapientialen Umgangs durch die Pflege der Tradition im Zitat und der Erwartung neuer Erfahrungen an seine Grenzen gebracht. Bei beiden ist eine „Flucht“ in eine religiöse Gestimmtheit zu beobachten, bei Rosenau deutlich mit dem Begriff „Gottesfurcht“, die von einer kreuzes-
38 Rosenau, Ich glaube (2005), 142. 39 A. a. O., 126.
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2. Systematisch-theologischer Ausblick
theologischen Bestimmung weit entfernt scheint. Rosenaus hilfreicher Hinweis, die fruchtbare Relationalität von jenen, die Gottesferne erleben, und jenen, die Gottesnähe erleben, zu fördern, wurde in der Diskussion der Konversation bereits aufgegriffen. Zudem liegt in der Feier des Abendmahls – auch nach reformatorischem Verständnis – eine einleuchtende Orientierungshilfe für zweifelnde Subjekte. Dies ist jedoch nicht nur für die Sinnenhaftigkeit der Fall, sondern auch aufgrund der theologischen Bedeutung des Abendmahls. Abschließend bleibt jedoch der Eindruck, dass hinsichtlich des vorgestellten Entwurfs deutlich mehr Widerspruch als Zuspruch zu formulieren ist.
3. Streiflichter für gemeindliches Handeln: Umgang mit Zweifelnden
Als zweiter Brückenschlag dieses Kapitels „Ausblick und Impulse“ werden einige wenige Spuren gelegt, die sich damit beschäftigen, welche Konsequenzen der Forschungsgegenstand „Emerging Church“ und dessen Interpretation für Handlungsfelder der Gemeinde haben. Auch dies soll exemplarisch geschehen. • Zunächst bedarf es hinsichtlich des gemeindlichen Handelns des Hinweises, dass der Umgang mit Zweifelnden und Menschen in dekonversiven Prozessen im gemeindlichen Alltag kaum Beachtung findet. Eine kurze Seitenbemerkung sei erlaubt: Die Nichtbeachtung fällt ebenso dann auf, wenn man die gegenwärtigen Seelsorgelehren zur Hand nimmt.1 • Es scheint so, als ob Gemeinden zuallererst für den Tatbestand sensibilisiert werden müssten, dass sich Menschen in ihren Reihen befinden, die in dekonversiven Prozessen stehen – und das in unterschiedlichen Phasen. Dazu ist es notwendig, wahrzunehmen, dass Menschen – bei Jamiesons Untersuchung waren es Hochverbundene – möglicherweise kurz vor dem Verlassen der Gemeinschaft stehen. Jamiesons Hinweis, „leaver-sensitive“ zu werden, ist hilfreich.2 Das bedeute, nicht nur den Blick auf jene zu richten, die durch die Eingangstür der Gemeinde kommen (Konversion), sondern 1 Es sei bemerkt, dass das Thema Zweifel und die konnotierenden Begriffe (z. B. Anfechtung, Glaubensabfall) in der Seelsorgelehre einen bedeutenden Wandel erlebt haben. Während für Schleiermacher Zweifel / Glaubensnöte, moralisches Versagen und Krankheit / Leid die drei grundlegenden Verursachungen kirchlicher Seelsorge sind, traten diese Facetten der Glaubensthematik in der Auseinandersetzung mit der kerygmatischen Seelsorge im 20. Jahrhundert zurück. In den gegenwärtigen deutschsprachigen Seelsorgelehren steht die Beschäftigung mit dem Zweifel und dessen Bewertung nicht mehr im Vordergrund. Grundsätzlich vermisst man dogmatische Bezugnahmen und Brückenschläge beziehungsweise werden dogmatische Topoi, wie Glaubensverlust, Glaubensabfall, Sünde oder Unglaube, nicht thematisiert und mit dem Erleben der Zweifelnden ins Verhältnis gesetzt. Eine Ausnahme bildet Eschmann, Theologie der Seelsorge (2000). 2 Auch Francis und Richter betonen in ihrer Untersuchung „Gone but not Forgotten“, dass 92 % der Befragten „church leavers“ angaben in den ersten sechs Wochen nach ihrem Rückzug aus der Gemeinde nicht nach ihren Beweggründen zum Verlassen der Gemeinde befragt worden zu sein. Francis / Richter, Gone But Not Forgotten (1998), 145. Vgl. a. a. O., 142–166. Die folgenden Hinweise wollen nicht die verschiedenen Differenzierungen des Zweifels übergehen und verweisen auf jene Aspekte, die auf die menschliche Einflussnahme bezogen sind. Barth spricht davon, dass „Einiges zur Behebung seiner Gefährlichkeit zu tun geboten ist“, während ein anderer Aspekt des Zweifels, nämlich jener des Existenzials, ausgehalten und ertragen werden soll. Barth, Einführung in die evangelische Theologie (1962), 96.
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3. Streiflichter für gemeindliches Handeln
auch auf jene, die durch die Hintertür die Gemeinde verlassen (Dekonversion). Jamieson gibt dazu folgende Hinweise:3 Ȥ „Provide places for people to explore, question and doubt.“ Ȥ „Provide a theology of journey.“ Ȥ „Provide resources for people in the dark places.“ Ȥ „Provide models of other theological understandings.“ Ȥ „Provide models of an honest Christian Life rather than ‚shoulds‘.“ Ȥ „Provide room for Emotions and institutions.“ Jamiesons Hinweise orientieren sich alle an dem Diktum, zweifelnden Personen Hilfen und Ressourcen zur Verfügung zu stellen, sei es auf den sozialen Kontext bezogen, etwa durch „sichere Häfen“, theologisch, durch Interpretationsmodelle für verschiedene Modelle, auf die Praxis ausgerichtet, durch Rituale oder relational. Jamieson pointiert: „What the leavers need now is time, space, resources, understanding, validation and support for their own inner journey.“4 Jamieson fand in seiner Untersuchung heraus, dass besonders signifikante Beziehungen für Zweifelnde in den sogenannten „post-church groups“ im Hinblick auf ihre religiöse Orientierung geschätzt wurden.5 Dies verweist auf eine notwendige Mündigkeit der Christen, die für Zweifelnde Wegbegleiter in den Schwellenzuständen sein können. • Mit dem Stichwort „Mündigkeit“ wird jene Spur verstärkt, die im Lauf dieser Arbeit an verschiedenen Stellen sichtbar wurde. So ist es die Aufgabe der Katechese, mündiges Christsein nicht nur in der Taufvorbereitung in den Blick zu nehmen, sondern Christen in ihrer Sprach- und Aussagefähigkeit für den Glaubensweg zuzurüsten.6 Ein denkender Glaube ist in dieser Hinsicht genauso zu fördern wie die Aspekte Wille und Gefühl als weitere Orte des Glaubens zu beachten. Darüber hinaus sind nicht nur die drei anthropologischen Orte des Glaubens für die Glaubensbildung in den Handlungsfelder gemeindlichen Lebens fruchtbar zu machen, sondern ebenfalls die fünf Merkmale dekonversiver Prozesse zu reflektieren (die ebenfalls den Sozialraum des Glaubens in den Blick nehmen): (1) Zweifel oder Ablehnen eines Glaubenssystems, (2) moralische Kritik an dem Lebensvollzug Einzelner oder der Gemeinschaft, (3) emotionale Leiderfahrung, entweder Trauer,
3 4 5 6
Jamieson, A Churchless Faith (2002), 146–151. A. a. O., 129. Er sagt: „This indicates that we should not underestimate the importance of fellow travellers on the faith journey. In all difficult journeys, including the difficult phases of Christian faith, companionship is an enormous strength, motivation and reassurance.“ A. a. O., 154. Vgl. dazu eine aktuelle Veröffentlichung, die dies gezielt in den Blick nimmt: Herbst / Stahl, „Kingdom Learning“ (2018).
3. Streiflichter für gemeindliches Handeln
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Schuld, Einsamkeit oder Verzweiflung, (4) Ablehnung oder Entfremdung von einer Gemeinschaft, (5) Verlust von religiösen Erfahrungen. Die Frage der Glaubensbildung (oder des „Wachsens im Glauben“) ist und bleibt eine dringliche Aufgabe gemeindlichen Handelns, bedarf jedoch im Hinblick auf dekonversive Merkmale und Phasen neuer Aufmerksamkeit. Zur Mündigkeit gehört es eine Resilienz im Glauben herauszubilden,7 zu der natürlich nicht nur die Gemeinde, sondern auch die Familie ihren Beitrag leistet. Faix, Hofmann und Künkler plädieren für eine „zweite Naivität“ im Glauben und sagen: Denn mit zunehmender Bewusstwerdung der eigenen Prägung bzw. Bedingtheit des eigenen Glaubens sowie der intellektuellen Infragestellung gewohnter Bilder, Rituale und Überzeugungen kommt der eigene ‚Kinderglaube‘ ins Schwanken und kippt früher oder später. Daraus muss und kann aber ein neuer, stärkerer und reiferer Glaube erwachsen, der mit der Wirklichkeit dieses Lebens umgehen kann und gleichzeitig Halt und Identität gibt.8
Obwohl der Entwicklungs- und Optimierungstendenz der Autoren widersprochen werden muss, kann – wie im Rahmen dieser Arbeit bereits geschehen – von der „zweiten Naivität“ (Ricoeur) als einem anderen Zugang zu Wirklichkeit gesprochen werden, der von gemeindlichem Handeln in den Blick genommen werden soll. • Ein anderer Aspekt der „Mündigkeit“ beziehungsweise ein eher grundlegender Aspekt christlichen Glaubens ist die Herausforderung, in der Predigt, der Lehre, dem gemeindlichen Leben und Handeln einen „gesunden Glauben“ zu vermitteln und in der Gemeinschaft einzuüben. „Gesunder Glaube“ soll nicht nur auf bestimmte Inhalte und Überzeugungen bezogen verstanden werden, sondern kann ebenso religionspsychologisch9 wie auf 7
8 9
Faix, Hofmann und Künkler plädieren für Gemeindeprogramme zur Stärkung der Resilienz. Sie sagen: „Vielleicht bräuchte es auch in Gemeinden nicht nur Grund-, Basic- oder Alphakurse, sondern die gezielte Förderung eines mündigen, eigenständigen Glaubens. Noch wichtiger als irgendwelche Programme sind jedoch, wie schon beschrieben, eine gute und förderliche Gemeindekultur sowie das Vorleben eines ganzheitlichen Glaubens, der sich, in geistlichen Vokabeln verpackt weder um sich selbst noch auf selbstzerstörerische Art und Weise um andere dreht und eigene Bedürfnisse leugnet.“ Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 205. Die Autoren plädieren in dem Nachfolgeband der Dekonversionsstudie für die Entwicklung eines mündigen Glaubens durch angemessenes gemeindliches Handeln. Faix / Hofmann u. a., Warum wir mündig glauben dürfen (2015). Faix / Hofmann u. a., Warum ich nicht mehr glaube (2014), 206. Auf das Individuum bezogen, bedeute „gesunder Glaube“ beispielhaft: „Selbstkontrolle und Veränderung“, „Bedingungslose Selbstakzeptanz“, „Bedingungslose Akzeptanz Anderer“, „Hohe Frustrationstoleranz“, „Angemessene Leistungsorientierung“, „Bedürfnis nach Be-
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3. Streiflichter für gemeindliches Handeln
die Kultur einer Gemeinde bezogen verstanden werden. Auf die Gemeindekultur bezogen hieße das, so sagt es Michael Herbst: […] dass sich in einer Gemeinde gesunde, förderliche ‚Gotteskonstrukte‘ bilden. Die Förderung der Gewissheit, dass uns nichts ‚scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist‘ (Röm 8,39), kann auch die psychische Resilienz stärken, unabhängiger machen und damit Vulnerabilität mildern. […] Die Förderung geschieht, indem Menschen in der Gemeinde sich als geliebt, begabt, herausgefordert, in ihrer Person gewürdigt und in ihrem Sosein respektiert erleben.10
stätigung und Liebe“, „Verantwortungsübernahme“, „Mut zur Selbstbestimmung“, „Sinnvolle Vergangenheitsbewältigung“, „Annahme der Gefahren des Lebens“. Vgl. Willberg, Lehrbuch Kognitive Seelsorge (2015), 49. 10 Herbst, Beziehungsweise (2012), 442–443. Vergleichbar formuliert es Karl Barth: „Der Zweifel kann aber seinen Grund […] auch in der ihn umgebenden Gemeinde haben: in der Gebrechlichkeit, der Uneinigkeit, vielleicht gar der Pervertiertheit der Gestalt und Verkündigung der ihm bekannten Kirche.“ Barth, Einführung in die evangelische Theologie (1962), 100–101.
4. Weiterführende Fragen
Zuletzt sei angemerkt, dass die Erträge der Beschäftigung mit dem Forschungsgegenstand „Emerging Church“-Konversation dazu anregen, weitere Themen in der praktisch-theologischen Diskurslandschaft zu bedenken. Exemplarisch können folgende Fragen genannt werden: Welche Impulse lassen sich durch das in der Konversation vorgeschlagene Mitgliedschaftsverständnis gewinnen, nämlich Mitgliedschaft durch Partizipation und Relationalität zu verstehen?1 Welche Grenzen sind damit verbunden? Welche Impulse lassen sich durch die Online-Partizipation beziehungsweise durch das Verhältnis zwischen Online- und Offline-Vergemeinschaftung gewinnen? Welche Grenzen sind damit verbunden? Welche Impulse lassen sich durch die vielfältigen Leitungsmodelle gewinnen und welches Innovationspotenzial bergen sie?2 Welche Fragen werden durch die Erträge dieser Arbeit hinsichtlich dekonversiver Prozesse und religiösen Erlebens für die Ausbildung von Haupt- und Ehrenamtlichen in kirchlichen Handlungsfeldern laut? In einem abschließenden Versuch könnte man mit den Erträgen dieser Arbeit vergleichbare populärwissenschaftliche Phänomene und Diskursstränge im deutschsprachigen Raum suchen. Schnell würde man nicht nur auf das deutschsprachige Netzwerk „Emergent“ stoßen, sondern auch auf prominente Postevangelikale wie Siegfried Zimmer (vertreten in dem Podcast „Worthaus“3), Gofi Müller und Jakob Friedrichs (mit dem Podcast „Hossa Talk“)4, Thorsten Hebel5 oder auf die österreichische Plattform www.burningchurch.at6 stoßen. Obwohl bei diesen der Begriff „Emerging Church“ kaum oder gar nicht auftaucht, nehmen sie nichtsdestotrotz auf die entsprechenden Ansätze und Motive der Konversation Bezug oder weisen strukturelle Korrespondenzen auf. 1 2 3 4 5 6
Überlegungen dazu gibt es bereits von Lehmann, „Leutemangel“ (2008). Dieser Frage gehen etwa Bruce und Packard nach. Bruce / Packard, „Organizational innovation“ (2016), 163–169. https://worthaus.org/geschichte/ am 20.05.2018. http://hossa-talk.de/ am 05.05.2018. http://badchristianmedia.com/badchristian-podcast am 05.05.2018. Sowie die zu diesem Forschungsgegenstand passende Veröffentlichung: Müller, Flucht aus Evangelikalien (2017). Hebel / Schneider, Freischwimmer (2016). www.burningchurch.at am 07.03.2018.
Anhang
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 Ausstiegsverläufe aus „EPC“-Gemeinschaften. Eigene Darstellung nach Jamieson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ���������� 66 Abbildung 2 Ausstiegsverläufe aus „EPC“-Gemeinschaften. Eigene Darstellung nach Jamieson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ���������� 69 Abbildung 3 Ausstiegsverläufe aus „EPC“-Gemeinschaften und Fowlers Stufen des Glaubens. Eigene Darstellung nach Jamieson . . . . ���������� 70 Abbildung 4 Quantitative Ergebnisse von Dekonversions-Dynamiken im religiösen Feld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �������� 101 Abbildung 5 Darstellung der Strömungen nach dem Stetzer/ Doornenbal-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ��������204 Abbildung 6 Darstellung der Strömungen nach den Aspekten des Dekonstruierens – eigenes Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �������� 214 Abbildung 7 Ganiel und Marti-Studie, Altersverteilung emergenter Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �������� 215 Abbildung 8 Ganiel und Marti-Studie, Bildungsgrad emergenter Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �������� 217 Abbildung 9 Emergente Protagonisten stammen aus folgender Tradition (nach Ganiel und Marti) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �������� 219 Abbildung 10 Emergente Protagonisten identifizieren sich mit folgender Orientierung (nach Ganiel und Marti) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �������� 220 Abbildung 11 Verständnis emergenter Protagonisten bezüglich der religiösen Orientierung ihrer Gemeinschaft (nach Ganiel und Marti) . �������� 221 Abbildung 12 McLarens Vorstellung vom „Reich Gottes“ – Darstellung nach Siegfried Kröpfel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �������� 375 Abbildung 13 Verhältnisbestimmung von Welt – „Reich Gottes“ – Kirche – eigene Darstellung nach Frost/Hirsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �������� 377 Abbildung 14 Hirsch / Frost – das inkarnierende Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �� 402 Abbildung 15 „Bounded set“ – eigene Darstellung nach Hiebert . . . . . . . . . . . . �� 465 Abbildung 16 „Centered set“ – eigene Darstellung nach Hiebert . . . . . . . . . . . . �� 466 Abbildung 17 Hieberts „set“-Typologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �� 469 Abbildung 18 Einordnung religiöser Strömungen nach Tim Keller . . . . . . . . . . �� 473 Abbildung 19 Unterscheidung zwischen Konversion und D ekonversion . . . . . �� 487 Abbildung 20 Dekonversive Merkmale und Phasen nach eigener Darstellung . �� 513 Abbildung 21 Emergente Protagonisten verglichen mit Dekonvertiten . . . . . . . �� 515 Abbildung 22 Die Bedeutung der Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �� 520 Abbildung 23 Emergente theologische Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �� 523
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 24 Vergleichbarkeit der Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �� 526 Abbildung 25 Werte, Haltungen und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . �� 528 Abbildung 26 Dekonversionen im religiösen Feld nach Streib et al. . . . . . . . . . . �� 533
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