128 117 92MB
German Pages 890 Year 2001
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel
Band 137
Elemente einer Theorie der Verfassung Europas Von
Anne Peters
Duncker & Humblot · Berlin
A N N E PETERS
Elemente einer Theorie der Verfassung Europas
Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel Herausgegeben von Jost D e l b r ü c k und R a i n e r
Hofmann
Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht
137
Völkerrechtlicher Beirat des Instituts:
Daniel Bardonnet FUniversitg de Paris II Rudolf Bernhardt Heidelberg Lucius Caflisch Institut Universitaire de Hautes Etudes Internationales, Gen&ve Antonius Eitel New York; Bonn
Fred L. Morrison University of Minnesota, Minneapolis Albrecht Randelzhofer Freie Universität Berlin Krzysztof Skubiszewski Polish Academy of Sciences, Warsaw; The Hague
Luigi Ferrari Bravo Universitä di Roma
Christian Tomuschat Humboldt-Universität zu Berlin
Louis Henkin Columbia University, New York
Sir Arthur Watts London
Tommy T. B. Koh Singapore John Norton Moore University of Virginia, Charlottesville
Rüdiger Wolfrum Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg
Elemente einer Theorie der Verfassung Europas Von Anne Peters
Duncker & Humblot • Berlin
Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Peters, Anne: Elemente einer Theorie der Verfassung Europas / Anne Peters. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Veröffentlichungen des Walther-Schücking-Instituts für Internationales Recht an der Universität Kiel; Bd. 137) Zugl.: Kiel, Univ., Habil.-Schr., 2000 ISBN 3-428-10602-4
Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 1435-0491 ISBN 3-428-10602-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©
Vorwort Diese Studie soll einen Beitrag zur theoretischen Grundlegung der europäischen Verfassungsdiskussion leisten. Ich habe versucht, konzeptionelle Stringenz mit einer Mindestsensibilität fur die aktuelle rechtspolitische Debatte zu verbinden und mit dieser Zielsetzung Elemente einer europäische Verfassungstheorie, eine „konstitutionalistische" Integrationstheorie sowie ein Modell der Legitimation durch Bewährung zu entwickeln. Die Arbeit wurde im Wintersemester 2000/2001 von der Juristischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Habilitationsschrift angenommen. Danach wurde sie geringfügig überarbeitet und aktualisiert; Literatur und Rechtsprechung sind bis Mai 2001 berücksichtigt. Die Grundrechtecharta vom 7. Dezember 2000 sowie die Vertragsänderungen von Nizza sind eingearbeitet, jedoch nicht im Detail analysiert. Zur Entstehung der Schrift trugen die Großzügigkeit meines verehrten akademischen Lehrers Jost Delbrück und die hervorragende wissenschaftliche Arbeitsatmosphäre am Walther-Schücking-Institut für Internationales Recht maßgeblich bei. Das Zweitgutachten übernahmfreundlicherweise Rainer Hofmann. Für Spezialrecherchen und kritische Lektüre danke ich Oliver Krüger und Martin Mennecke. Im übrigen haben praktisch alle Institutsangehörigen in irgendeiner Form das Gelingen der Untersuchung gefördert. Stellvertretend sei den Bibliothekarinnen Ulrike Jaekel, Pamela Kahl und Jeannette Treuer sowie Herrn Gerhard Köster gedankt. Die Schwerstarbeit bei der Literaturbeschaffung leisteten die Hilfskräfte Ursula Blanke, Arzu Erdogan, Jörg Föh, Julia Friedland, Monika Heymann, Natalie Kauther, Tilmann Laubner, Janine Schlichte, Kirsten Thelen, Jörn Trütner, Christiane Wandscher und Carl Zoellner. Am meisten verdanke ich Heiner, der tagsüber unsere Kinder betreute, mir in vielen nächtlichen Diskussionen wichtige Anregungen gab sowie sämtliche Korrekturen und Formatierungen erledigte. Ihm ist dieses Buch gewidmet.
Kiel, im Juni 2001
Anne Peters
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
29
Teil 1 Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
38
I.
Faktische und normative Verfassung 1. Semantische Vorklärung 2. Der doppelte Verfassungsbegriff
40 40 48
II.
Formelle und materielle Verfassung 1. Zur Bedeutung von Verfassungsurkunden 2. Die fehlende europäische Verfassungsurkunde 3. Zum Vorrang der Verfassung
51 53 56 58
III. Inhaltsneutrale oder inhaltlich festgelegte Verfassung
63
IV. Technische oder existentielle Verfassung
70
V.
72
Statische oder dynamische Verfassung
VI. Verfassungsfunktionen 1. Machtbegrenzung, Organisation, Verstetigung, Weisung und Rechtfertigung 2. Konstitution durch Verfassung 3. Integration durch Verfassung
78 83 85
VII. Fazit
91
Teil 2 Die Ablösung der Verfassung vom Staat I.
Keine durchgängige Koppelung von „Staat" und „Verfassung" 1. Der konstitutionalistische, nicht-staatsbezogene VerfassungsbegrifF in England, USA und Frankreich
76
93 95 95
8
nsverzeichnis 2. Der deutsche Etatismus des 19. Jahrhunderts und seine Nachwirkungen
II.
Der Bezugspunkt der Verfassung: Spezifika staatlicher Herrschaft 1. Das Volk 2. Das Gebiet a) Die nicht territorialbezogene europäische Verfassung b) Annäherung zwischen EG/EU und Staat: Die nicht mehr territorialbezogene Staatsverfassung
III. Insbesondere: Die Hoheitsgewalt 1. Politische Staatsgewalt versus technische europäische Hoheitsgewalt? .. a) Annäherung I: Der technisch-funktionale Staat b) Annäherung II: Die politische EG/EU c) Die europäische Wirtschaftsverfassung 2. Souveränität der Staatsgewalt versus Herrschaft der Mitgliedstaaten über die Europäischen Verträge? a) Souveränität als exklusives Staatsmerkmal b) Der doppelte Souveränitätsbegriff c) Annäherung von Staat und EG/EU I: Moderne Relativierungen der staatlichen Souveränität aa) Die Außenseite des Staates: Globalisierung bb) Die Innenseite des Staates: Enthierarchisierung und Dezentralisierung cc) Die Folgen: Der Staat als primus inter pares d) Annäherung von Staat und EG/EU II: Keine Rechtsherrschaft der Mitgliedstaaten über die Verträge aa) Rechtliche Herrschaft: Setzung von Primär- und Sekundärrecht, Austrittsrecht bb) Faktische Herrschaft der Mitgliedstaaten e) Annäherung von Staat und EG/EU III: Aufteilung von Hoheitsrechten zwischen EG/EU und Mitgliedstaaten 3. Kompetenzhoheit und potentielle Allzuständigkeit des Staates versus begrenzte Einzelermächtigung in EG und EU a) Staatliche Kompetenz-Kompetenz (Kompetenzhoheit) b) Staatliche Allzuständigkeit c) Europäische begrenzte Einzelermächtigung d) Die Relativierung der staatlichen Allzuständigkeit durch Menschenrechte, Volkssouveränität und Subsidiaritätsprinzip 4. Staatliches Gewaltmonopol versus Europäische Rechtsgemeinschaft?... a) Im Staat: Notwendige Ergänzung der Machtdimension durch die Rechtsdimension b) EG/EU: Dominanz der Rechtsdimension
98 103 105 106 106 111 113 113 116 117 122 125 126 127 130 130 133 135 140 140 143 144 149 149 151 152 153 155 155 156
nsverzeichnis c) Annäherung von Staat und EG/EU: Relativierungen des staatlichen Gewaltmonopols IV. Die öffentlichen Aufgaben V.
Fazit: Ablösung der Verfassung vom Staat und Entbündelung der Verfassungsfunktionen Teil 3 Grundfragen der europäischen Verfassung
9 157 161
163
167
I.
Die Verfassungslesart und ihre Rechtsfolgen 1. Keine BegrifFsjurisprudenz, aber Rechtsfortbildung 2. Kritik an der Verfassungslesart 3. Rechtfertigung der Verfassungslesart
167 167 171 174
II.
Integrationstheoretische Einbindung 1. Föderalismus: Die EG/EU als transnationales Mehrebenensystem a) Der alte und der neue Europa-Föderalismus b) Zum Föderalismus als allgemeines, nicht staatsgebundenes Ordnungsprinzip c) Föderalistische Strukturen in der EG/EU d) Das europäische Mehrebenensystem e) Kritik: Territoriale Fixierung und Unterkomplexität 2. Funktionalismus: EG/EU als „Zweckverbände funktioneller Integration" 3. Intergouvernmentalismus: EG/EU als Staatenverbund 4. Konstitutionalismus: EG/EU als Verfassungsverbund a) Die Verbundverfassung b) Insbesondere: Inhaltliche Verflechtung und Wechselwirkungen im Verbund c) Das polyzentrische System und der Netzwerkcharakter von EG/EU-Mitgliedstaaten
178 179 179
III. Verfassung oder Vertrag? 1. Die deutsche Bundesstaatstheorie a) Gründung und Verfassunggebung im Fall des Norddeutschen Bundes 1867 b) Dichotomische Deutungen c) Überwindung der Dichotomie I: Vereinbarungslehre und Gesamtakt. d) Überwindung der Dichotomie II: Der Verfassungsvertrag 2. Die völkerrechtliche Lehre
183 185 187 189 192 199 205 207 210 215 220 222 223 224 225 228 229
10
nsverzeichnis a) Trait6s-lois, Status- und Ordnungsverträge b) Die Doppelnatur der Gründungsakte Internationaler Organisationen . 3. Folgerungen für die europäische Vertragsverfassung a) Die Doppelnatur der Gründungsdokumente b) Die Vertragsverfassung ist besonderes Völkerrecht
IV. Die Autonomie des Gemeinschaftsrechts als Voraussetzung der Verfassung.. 1. Abgrenzung vom Völkerrecht zwecks Ausschaltung mitgliedstaatlicher Dispositionen über Einbeziehung und Rang des Gemeinschaftsrechts (Autonomie^) 2. Getrenntheit von den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten (Autonomie^) a) Grundnormen, Strukturen und Institutionen b) Verschränkung und Gleichordnung der Rechtsordnungen 3. Ursprünglichkeit/Unabgeleitetheit des Gemeinschaftsrechts beziehungsweise sein „autonomer" Geltungsgrund (Autonomie0rig) a) Zum Begriff des Geltungsgrundes des Gemeinschaftsrechts b) Etatismus c) Autonomismus: Institutionentheorie, Gesamtaktslehre und Grundnormmodell d) Kritik der Kontroverse, zugleich Plädoyer für den Pluralismus e) Pluralismus: Näher erläutert 4. Freiheit von mitgliedstaatlichen Eingriffen (Autonomie£ingr) a) Die konkurrierenden Letztentscheidungsansprüche aa) Gefährdung der Rechtseinheit bb) Keine Wahrung der Rechtseinheit mittels dezentralisierter Verfassungskontrolle b) Vorschlag: Zentrale Letztentscheidungsbefugnis mit Pflicht zur Abwägung und national verfassungskonformen Auslegung aa) Lösung von Verfassungskonflikten ohne Normenhierarchie bb) Selbstbeschränkung durch Rückbindung an die nationalen Verfassungsrechte cc) Positivrechtliche Ansatzpunkte für eine Pflicht zur nationalverfassungskonformen Auslegung europäischer Vorschriften . . . dd) Die wechselseitig annähernde Auslegung als nicht-hierarchiegebundene gemeinschaftsrechtliche Interpretationsmaxime c) Fazit V.
Unionsrecht als Verfassungsrecht 1. Die Verfassungsrechtsfähigkeit der Union 2. Kein einheitliches Verfassungssubjekt „EG und EU" 3. Eine Verfassung auch ohne einziges und einheitliches Zurechnungssubjekt
229 232 234 234 239 242
244 248 250 253 256 256 258 260 265 268 274 279 281 282 284 286 287 289 291 295 295 296 298 301
nsverzeichnis a) Die Entbehrlichkeit eines einheitlichen Verfassungssubjekts b) Bindung der Institutionen an gemeinsame, unions- und gemeinschaftsübergreifende Verfassungsgrundsätze V\. Der Vorrang der Europäischen Verfassung 1. Vorrang europäischer Verfassungsnormen auch ohne Verfassungsurkunde 2. Der gemeinschaftsexterne Vorrang des europäischen Verfassungsrechts. a) Die Rechtsprechung zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht aa) Der Europäische Gerichtshof: Überverfassungsrang kraft Autonomie bb) Die Rechtsprechung der mitgliedstaatlichen Höchstgerichte (1) Überwiegend Vorrang kraft nationaler Ermächtigung mit Verfassungsletztvorbehalt (2) Letztentscheidungsansprüche nationaler Gerichte Verfassungsgerichtliche Präventivkontrollen Teilweise Nichtangreifbarkeit des ratifizierten Gemeinschaftsrechts (3) Insbesondere: Das Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum deutschen Grundgesetz cc) Der Pluralismus der Positionen b) Modelle des externen Vorrangs aa) Die Völkerrechtsanalogie bb) Das föderale Modell (1) Vorrang kraft Kompetenzverlust (2) Vorrang kraft föderaler Kollisionsnorm cc) Die zwischenstaatlich-kollisionsrechtliche Analogie dd) Das konstitutionelle Modell (1) Verfassungsanaloge Funktionen des Gemeinschaftsrechtsvorrangs (2) Der Gemeinschaftsrechtsvorrang ist unabhängig von der Dignität der Inhalte und dient primär der Wahrung der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts 3. Der gemeinschaftsinterne Vorrang des europäischen Verfassungsrechts a) Der Vorrang des primären vor dem sekundären Gemeinschaftsrecht ist kein konstitutioneller Vorrang b) Die konstitutionelle Normenhierarchie innerhalb des Primärrechts... aa) Ansatzpunkte in Verträgen und Rechtsprechung bb) Hierarchisierungsvorschläge de lege ferenda cc) Fazit 4. Der Vorrang des (//ito/ijrechts
11 301 302 305 306 308 309 309 310 310 315 316 317 319 324 326 326 328 328 330 333 335 335
337 339 339 341 341 344 346 346
12
nsverzeichnis a) Kein gesteigerter externer Vorrang b) Der interne Vorrang des primären Unionsrechts 5. Folgerungen fur den Verfassungscharakter europäischer Normen a) Der externe Vorrang des Gemeinschafts- und Unionsrechts ist kein Wesenselement der Verfassung b) Der interne Vorrang des europäischen Verfassungsrechts ist Desiderat einer europäischen Verfassung aa) Verfassungen ohne Vorrang bb) Kontingenz der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung cc) Der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Recht ist funktional nicht ersetzbar Teil 4 Die europäische Verfassungsentwicklung
346 347 349 350 351 351 355 356
360
I.
Zum Begriff der Verfassungsentwicklung
360
II.
Die Verfassunggebung: Grundlagen 1. Die Anwendbarkeit des Konzepts der Verfassunggebung auf die europäische Situation 2. Zur historischen Entwicklung der Lehre vom pouvoir constituant 3. Probleme der heutigen Lehre vom pouvoir constituant a) Der politisch-rechtliche Charakter des pouvoir constituant und seine Rechtsbindungen b) Mangelnder Realitätsbezug der überkommenen Lehre
361
366 370
III. Die kontinuierliche Verfassunggebung 1. Das überkommene Punktualitätsdogma 2. Evolutionäre Theorien der Verfassunggebung im nationalen Bereich . . . 3. Europa: Konstitution durch Evolution
372 372 373 375
361 363 365
IV. Die verfassunggebende und die verfassungsändernde Gewalt bilden ein Kontinuum 1. Fehlendes eindeutiges Kriterium zur Unterscheidung von Verfassungneugebung und Verfassungsänderung außerhalb des Willens zur normativen Diskontinuität 2. Historische und rechtskulturelle Kontingenz der Unterscheidung von verfassunggebender und verfassungsändernder Gewalt 3. Unterminierung des Trennungskonzepts durch die Vorstellung des latenten pouvoir constituant 4. Fazit V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
386 388 390
1. Die Bürgerbeteiligung an der Entwicklung des europäischen Primärrechts
392
379
380 383
nsverzeichnis
13
2. Verfassungsentwicklung durch Gemeinschaftsorgane a) Autonome Änderungen des Primärrechts
395 395
b) Insbesondere: Verfassungsentwicklung durch den Rat nach Art. 308 EGV c) Verfassungsrechtsfortbildung durch Organe ohne vertragliche Grundlage 3. Insbesondere: Verfassungsentwicklung durch den Europäischen Gerichtshof
397 399 401
a) Felder richterlicher Verfassungsentwicklung
403
aa) Insbesondere: Grundrechte und -freiheiten b) Die richterliche Methodik der Verfassungsentwicklung c) Die Befugnis des Europäischen Gerichtshofs zur Verfassungsentwicklung aa) Grundsätzlich: Demokratische und funktionale Legitimation der (Verfassungs-)Rechtsprechung
404 408 410 411
bb) Insbesondere: Befugnis zur europarichterlichen (Verfassungs-) Rechtsfortbildung
414
cc) Gegenspieler der richterlichen Verfassungsentwicklungsbefugnis: Rechtsstaatsprinzip, Demokratieprinzip und mitgliedstaatliche Souveränität 4. Fazit: Plurale und mehrseitige Verfassungsentwicklung
422 426
VI. Die negative Ausübung des pouvoir constituant: sungsbeendigung
die Vertragsverfas427
1. Die Entgegensetzung vonfrei aufhebbarem Vertrag und unaufhebbarer Verfassung
427
2. Art. 51 EUV und Art. 312 EGV enthalten kein Verbot der Vertragsverfassungsbeseitigung
428
3. Verfahrensanforderungen an die Beendigung und Ersetzung der europäischen Ordnung a) Keine formfreie Vertragsbeendigung nach allgemeinem Völkerrecht.
430 430
b) Eine Vertragsverfassungsersetzung muß zumindest die Verfahrensstandards der Revision beachten VII. Dieförmliche Vertragsänderung 1. Die Struktur desförmlichen Änderungsverfahrens: Kontraktuell oder konstitutionell? a) Mitgliedstaaten versus Gemeinschaftsorgane b) Exekutiven versus Legislativen 2. Materielle Schranken der Vertragsänderung a) Die Korrelation von Änderungsfestigkeit und Verfassung
432 433 434 436 439 442 442
nsverzeichnis
14
b) Keinerichter- oder positivrechtlichen änderungsfesten Gehalte
443
c) Änderungsfest ist nur der Kerngehalt fundamentaler Menschenrechte
445
3. Zur Formstrenge der Vertragsänderung
448
b) Der Rückgriff auf das Völkerrecht entscheidet die Frage der Formstrenge nicht
450
c) Die zwingende Förmlichkeit für die Änderung von Grundlagenvorschriften
452
aa) Die Rechtsprechung
452
bb) Die Rechtfertigung der Formstrenge
456
cc) Die Formstrenge ist funktionales Äquivalent zum Verfassungstextänderungsgebot und zum Verbot der Verfassungsdurchbrechung
459
VIII. Die Kategorien informeller Vertragsverfassungsentwicklung
461
1. Verfassungsgewohnheitsrecht
462
2. Verfassungskonventionen
467
a) Das internationale soft law
467
b) Die englischen constitutional conventions
469
c) Erklärungskraft des Konzepts im europäischen Verfassungsrecht
470
3. Verfassungswandel
473
a) Zur Ideengeschichte des Konzepts
474
b) Zum Nutzen des Konzepts
476
IX. Die Grenzen informeller Verfassungsentwicklung 1. Der Normtext
X.
447
a) Die Praxis der irregulären Vertragsänderungen
478 478
2. Inhalts- und zeitbezogene Grenzen
480
3. Realität und Akzeptanz
481
Die zukünftige Verfassungsentwicklung
483
1.Zum Ergebnis der Verfassungsentwicklung: Weiter Stückwerk oder große Kodifikation 2. Zum Geltungsgrund der zukünftigen Verfassung
485 487
a) Die Evolution
487
b) Die Revolution
492
3. Stellungnahme
496
nsverzeichnis Teil 5 Die Legitimität der Europäischen Verfassung I.
II.
15 499
Die europäische Legitimitätsdiskussion 1. Die Akzeptanzkrise 2. Unterschiedliche Beurteilungen der Legitimitätsproblematik in Abhängigkeit vom integrationstheoretischen Leitbild
500 500
Begriffliche Vorklärung 1. Auszuscheidende Begriffe und Konzepte a) Rechtspositivismus: Legitimität allein durch Legalität b) Luhmann /: Legitimation allein durch Verfahren c) Systemtheorie (Luhmann II): Selbstlegitimation d) Postmoderne: Das Ende der Legitimationserzählungen e) Soziologische Perspektive: Legitimität als tatsächliche Anerkennung 2. Der hier zugrundegelegte Legitimitätsbegriff (Legitimität^)
505 506 506 508 509 513
502
514 515
III. Legitimität ex ante und ex post 1. Zur Dichotomie 2. Entsprechende Einteilungen 3. Insbesondere: Die Unterscheidung von input-orientierter und outputorientierter Legitimität (Fritz Scharpf)
517 517 518
IV. Legitimität ex ante 1. Die Vertragslegitimation a) Konzeption b) Kritik aa) Keine Bindung nicht ausdrücklich Zustimmender an einen historischen einmaligen oder implizit erneuerten Vertrag bb) Voluntarismus, Rationalismus und Chauvinismus der Vertragstheorie cc) Formaler Charakter der Vertragslegitimation dd) Vernachlässigung von Tatsachenfragen ee) Dilemma zwischen Entbehrlichkeit und Unmöglichkeit c) Fazit 2. Die diskurstheoretische Legitimation a) Konzeption b) Kritik aa) Zur transzendentalen Version bb) Zur Verfahrensversion c) Fazit
524 524 525 529
521
530 531 533 534 534 538 539 540 543 543 546 550
nsverzeichnis 3. Legitimität durch Zustimmung 4. Die Theorie der doppelten Legitimation der europäischen Verfassung... a) Konzeption aa) Die zwei Varianten der Theorie bb) Anwendung der Theorie auf Verfassungsentwicklung und auf Verfassungsinhalte b) Kritik aa) Reine Ex-ante-Legitimation bb) Notwendigkeit der Legitimitätsmittlung über die Mitgliedstaaten? cc) Kein Gegensatz zwischen Staaten und Bürgern dd) Kein Gegensatz zwischen Union und Mitgliedstaaten ee) Kein Gegensatz zwischen Staatsvolkssouveränität und europäischer Volkssouveränität ff) Verquickung mit der Souveränitätsfrage V.
Legitimität ex post 1. Legitimität durch Verwirklichung von Gemeinwohl und Staatszwecken . a) Zur Geschichte der Gemeinwohlidee b) Zum modernen Begriff des Gemeinwohls und seinem begrenzten Nutzwert als Legitimitätskriterium c) Zur Staatszwecklehre d) Die Verwirklichung von Staats- (oder Unions-)zwecken besteht in der Verfolgung vorläufiger, konkreter und laufend kontrollierter Politikziele 2. Legitimität durch Leistung (output-orientierte Legitimität)
VI. Legitimation durch Bewährung 1. Konzeption a) Rolle der Bewährung in der Ex-ante-Rechtfertigung b) Die Feststellung der Bewährung ex post 2. Was Legitimation durch Bewährung nicht ist 3. Rechtfertigung der Legitimationsstrategie 4. Theorie-Umfeld a) Kritischer Rationalismus aa) Ablehnung dogmatischer Rechtfertigung bb) Versuch und Irrtum, Folgenbewertung cc) Stückwerkstechnologie dd) Auszuräumende Einwände gegen den kritischen Rationalismus . b) Rechtsetzung als Experiment c) Friedrich A. von Hayek: Unwissen und spontane Ordnung d) Utilitarismus
552 556 556 557 559 561 561 561 563 564 565 566 567 567 567 569 572
575 577 580 580 580 581 584 586 594 595 595 598 599 601 604 606 609
nsverzeichnis
17
e) Law and Economics f) Neue Institutionenökonomik 5. Anwendung auf die Europäische Verfassung a) Form und Verfahren b) Inhalte c) Leistungen
611 613 615 615 619 622
Teil 6 Die europäische Demokratie
626
I.
Problemstellung
626
II.
Der Demokratiemaßstab 1. Ausrichtung des Maßstabs an unterschiedlichen Demokratietheorien 2. Beeinflussung des Maßstabs durch integrationstheoretische Annahmen . a) Föderalismus und Demokratie b) Neofunktionalismus und Demokratie c) Intergouvernmentalismus und pragmatische Positionen 3. Maßstab muß die entidealisierte, entstaatlichte und kontrollorientierte Demokratie sein a) Berücksichtigung der Transformation der (staatlichen) Demokratie durch Globalisierung, Sachverständigenherrschaft, Verhandlungssysteme und Vernetzung der Individuen b) Berücksichtigung supranationaler Besonderheiten c) Abschied von den Legitimationsketten d) Statt dessen: Effektive Selbstbestimmung und öffentliche Kontrolle der Regierenden
630 631 634 634 637 639 639
640 644 645 647
III. Das Subjekt demokratischer Legitimation: Die europäischen Bürger 1. Fehlt das Subjekt demokratischer Legitimation? 2. Ein europäischer Demos existiert 3. Das demokratische Subjekt ist in der Demokratie entwicklungsfähig 4. Grundlage der Demokratie ist die Selbstbestimmung des Einzelnen a) Das individualistische Demokratieverständnis b) Das individualistische Demokratieverständnis impliziert keine „Betroffenheitsdemokratie"
651 651 653 656 657 657
IV. Kreation und Kompetenzen der rechtsetzenden Institutionen 1. Das Europäische Parlament a) Kreation des Europäischen Parlaments aa) Wahlverfahren, politische Parteien und Wahlbeteiligung bb) Das ungleiche Wahlrecht
662 662 662 662 666
660
18
nsverzeichnis b) Kompetenzen des Europäischen Parlaments aa) Rechtsetzung bb) Organwahl cc) Parlamentarische Kontrolle dd) Rückkoppelung c) Fazit 2. Der Rat a) Zusammensetzung des Rates b) Verfahren der Beschlußfassung im Rat c) Kontrolle des Rates 3. Die Kommission a) Die Ernennung und Zusammensetzung der Kommission b) Leistungen und Verfahren der Kommission 4. Die nationalen Parlamente a) Beteiligung an der Gemeinschaftsrechtsetzung und parlamentarische Kontrolle b) Bewertung
V.
Transparenz und Publizität 1. Klarheit und Verständlichkeit des Rechts, individueller Zugang zu Dokumenten, allgemeine Veröffentlichungspflicht 2. Bewertung
670 670 673 674 679 679 681 681 682 685 686 686 687 689 690 693 694 694 697
VI. Vorrechtliche Funktionsbedingungen von Demokratie 1. Homogenität, Grundkonsens und Wir-Gefuhl a) Homogenität ist keine Funktionsbedingung des Mehrheitsprinzips... b) Sprachliche Homogenität ist keine Voraussetzung des demokratischen Diskurses c) Eine europäische Identität in nuce existiert d) Umformulierung des tradierten Kriterienkatalogs: Es kommt auf die Abwesenheit fixer Spaltungen, auf kognitive und ethische Kompetenz der Bürger und auf einen Verfahrenskonsens an 2. Die europäische Öffentlichkeit und die öffentliche Meinung 3. Alle außerrechtlichen Faktoren sind in der Demokratie entwicklungsfähig
699 700 703
718
VII. Die Größe der demokratischen Gebietseinheit
720
VIII.Einstimmigkeit und Mehrheitsprinzip 1. Der Status quo a) Befund: Dominanz der Einstimmigkeitsregel b) Deutung I: Ausdruck von Intergouvernmentalität
722 723 723 726
706 707
711 714
nsverzeichnis c) Deutung II: Konkordanzdemokratie 2. Perspektive: Ausweitung des Mehrheitsprinzips? a) Herkömmliche Rechtfertigungen des Mehrheitsprinzips aa) Das Richtigkeitsargument bb) Das Selbstbestimmungsargument cc) Das Argument des rationalisierenden Verfahrens b) Die Legitimitätsbedingungen der Mehrheitsregel sind in der Union prinzipiell vorhanden c) Mehrheits- und Konsens verfahren haben jeweils spezifische Leistungsvorteile IX. Entdemokratisierung durch Globalisierung und kompensatorische transnationale Demokratisierung 1. Drei Demokratiedefizite a) Demokratiedefizit I: Zunehmende (transnationale) Betroffenheit ohne Herrschaftsbeteiligung b) Demokratiedefizit II: Schwächung staatlicher (demokratischer) Herrschaft c) Demokratiedefizit III: Fehlende demokratische Beauftragung und Kontrolle der nichtstaatlichen Entscheidungsträger 3. Notwendigkeit und Möglichkeit transnationaler Demokratie X.
Perspektiven europäischer Demokratie 1. Institutioneller und gesellschaftlicher Befund (Zusammenfassung) 2. Die teilparlamentarisierte Demokratie 3. Die Verhandlungsdemokratie
19 728 730 730 731 732 733 734 737 743 743 745 746 747 748 751 751 754 758
Thesen
761
Literaturverzeichnis
782
Entscheidungsregister
866
Personenregister
875
Sachregister
879
Abkürzungsverzeichnis A.F.D.I.
Annuaire Fran9ais de Droit International
ABl.
Amtsblatt der Europäischen Union
AJIL
American Journal of International Law
All ER
All England Reports
Am. Econ. Rev.
American Economic Review
Am. J. Comp. L.
The American Journal of Comparative Law
Am. Pol. Sei. Rev.
American Political Science Review
Ann. IDI
Annuaire de PInstitut de Droit International
AöR
Archiv des öffentlichen Rechts
ARSP
Archiv ftir Rechts- und Sozialphilosophie
Austr. YIL
Australian Yearbook of International Law
BBG
Bundesbeamtengesetz
Berkeley J. Int'l L.
Berkeley Journal of International Law
Ber. d. Dt. Gesell, f. Völkerrecht Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht BFH
Bundesfinanzhof
BGBl.
Bundesgesetzblatt
BGH
Bundesgerichtshof
BGHZ
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs fur Zivilsachen
BK
Bonner Kommentar
BRRG
Beamtenrechtsrahmengesetz
BT
Bundestag
BT-Drs.
Bundestagsdrucksache
Bull. BReg.
Presse und Informationsamt der Bundesregierung (Hrsg.): Bulletin
Bull. EU
Bulletin der Europäischen Union
Bull. EWG
Bulletin der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerfGG
Bundesverfassungsgerichtsgesetz
Abkürzungsverzeichnis BVerwG
Bundesverwaltungsgericht
BVerwGE
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
BYIL
The British Yearbook of International Law
C.D.E.
Cahiers de Droit Europeen
Can. Yb. Int'l L.
The Canadian Yearbook of International Law
21
Cardozo L. Rev.
Cardozo Law Review
CML Rev.
Common Market Law Review
Const. Pol. Econ.
Constitutional Political Economy
Cornell Int'l L.J.
Cornell International Law Journal
COSAC
Conference des Organes Specialises dans les Affaires Communautaires
Crit. Rev.
Critical Review
DDR
Deutsche Demokratische Republik
DJZ
Deutsche Juristenzeitung
DÖV
Die öffentliche Verwaltung
Dt. Akad. Wiss. Berlin
Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin
Dt. Recht
Deutsches Recht
DVB1.
Deutsches Verwaltungsblatt
DZPhil
Deutsche Zeitschrift fur Philosophie
E.L.Rev.
European Law Review
EA
Europa-Archiv
ECA
European Communities Act
EEA
Einheitliche Europäische Akte
EG
Europäische Gemeinschaft
EGKS
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGKSV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGMR
Europäischer Gerichtshof fur Menschenrechte
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
EIB
Europäische Investitionsbank
EJIL
European Journal of International Law
ELJ
European Law Journal
EMRK
Europäische Menschenrechtskonvention
Envtl. Pol.
Environmental Politics
EP
Europäisches Parlament
22
Abkürzungsverzeichnis
EP Dok
Dokument des Europäischen Parlaments
EPG
Europäische Politische Gemeinschaft
EPIL
Encyclopedia of Public International Law
EPL
European Public Law
EPZ
Europäische Politische Zusammenarbeit
EU
Europäische Union
Eu. Rdsch.
Europäische Rundschau
EuG
Europäisches Gericht erster Instanz
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EuGMR
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
EuGRZ
Europäische Grundrechte-Zeitschrift
Eur. Court H.R., Reports
European Court of Human Rights, Reports of Judgments and Decisions
Eur. Econ. Rev.
European Economic Review
Eur. J. Pol. Econ.
European Journal of Political Economy
EUV
Vertrag über die Europäische Union
EuZW
Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht
EVG
Europäische Verteidigungsgemeinschaft
EVP
Europäische Volkspartei
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft
EWR
Europäischer Wirtschaftsraum
EYCGPA
European Yearbook of Comparative Government and Public Administration
EZB
Europäische Zentralbank
FAO
Food and Agricultural Organization of the United Nations
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FG
Finanzgericht
GA
Generalanwalt
GASP
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
GATT
General Agreement on Tariffs and Trade
GeschO
Geschäftsordnung
GG
Grundgesetz
GMB1.
Gemeinsames Ministerialblatt
Abkürzungsverzeichnis Gött. gel. Anz.
Göttingische gelehrte Anzeigen
GYIL
German Yearbook of International Law
23
Hamburger Jahrb. Wirt. Gesell- Hamburger Jahrbuch flir Wirtschaft und Gesellschaftspol. schaftspolitik Harv. Int'l L. J.
Harvard International Law Journal
Hist. Lex.
Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache
Hist. Wb. Philos.
Historisches Wörterbuch der Philosophie
HZ
Historische Zeitschrift
i.E.
im Erscheinen
in Deutschland
ICJ Reports
International Court of Justice Reports
ICLQ
International and Comparative Law Quarterly
id.
idem
IGH
Internationaler Gerichtshof
ILCYB
Yearbook of the International Law Commission
ILM
International Legal Materials
ILO
International Labour Organization
ILR
International Law Reports
ILRM
Irish Law Reports Monthly
IMF
International Monetary Fund
IMO
International Maritime Organization
Ind. J. Glob. Leg. Stud.
Indiana Journal of Global Legal Studies
InfoPhil
Information Philosophie
Int'l
International
Int'l Law
The International Lawyer
IntM Pol. Sc. Rev.
International Political Science Review
10
Internationale Organisation
IP
Die Internationale Politik
ITU
International Telecommunication Union
J. Common Mkt. Stud.
Journal of Common Market Studies
J. Eur. Publ. Pol.
Journal of European Public Policy
J. Int. Stud.
Journal of International Studies
J. Legal Stud.
Journal of Legal Studies
J.D.I.
Journal de Droit International
J.O.
Journal Officiel
24
Abkürzungsverzeichnis
Jb. Eur. Integration
Jahrbuch der Europäischen Integration
Jb. Ital. R.
Jahrbuch für italienisches Recht
Jb. Staats- u. Verwaltungswiss.
Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft
JNPÖ
Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie
JöR
Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart: Neue Folge
JZ
Juristenzeitung
KritV
Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft
KZfSS
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
L. Phil. L.J. L.Q.R. L.Rev. Lex. Pol. LIEI M.L.R. m.w.N. Martens N.R.G.
Law and Philosophy Law Journal The Law Quarterly Review Law Review Lexikon der Politik Legal Issues of European Integration The Modern Law Review mit weiteren Nachweisen Martens Nouveau Recueil General de Traites et Autres Actes Relatifs aux Rapports de Droit International Mitglied des Europäischen Parlamentes
MdEP
Michigan Law Review Max Planck Yearbook of United Nations Law
Mich. L. Rev.
New Political Science
MPYUNL
Netherlands International Law Review
New Pol. Sei.
Neue Justiz
NILR
Neue Juristische Wochenschrift
NJ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht
NJW
Netherlands Yearbook of International Law
NVwZ
ohne Jahr
NYIL
Organization of African Unity
o.J.
Organization for Economic Cooperation and Development
OAU OECD ÖJZ
Österreichische Juristen-Zeitung
Abkürzungsverzeichnis
25
OVG
Oberverwaltungsgericht
P.L.
Public Law
PCIJ
Permanent Court of International Justice
Philos. Jb.
Philosophisches Jahrbuch
PJZ
Polizeiliche und Justizielle Zusamenarbeit in Strafsachen
Pol. & Soc.
Politics & Society
Pol. Stud.
Politische Studien
Pol. Theory
Political Theory
Proc. Brit. Acad.
Proceedings of the British Academy
Publ. Adm. Rev.
Public Administration Review
Publ. AfT. Quart.
Public Affair Quarterly
PuZ
Aus Politik und Zeitgeschichte
PVS
Politische Vierteljahresschrift
R.B.D.I.
Revue Beige de Droit International
R.D.P.
Revue du Droit Public et de la Science Politique en France et k PEtranger
R.G.D.I.P.
Revue G6n6rale de Droit International Public
R.I.P.
Revue Internationale de Philosophie
R.I.P.P.
Revue Internationale de Philosophie Politique
R.M.C.
Revue du Marchs Commun et de TUnion Europöenne Rabeis Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht
RabelsZ RdA
Recht der Arbeit
RdC
Recueil des Cours
Rdn.
Randnummer
Ree.
Recueil du Conseil Constitutionnel
Rechtshist. J.
Rechtshistorisches Journal
Rev. Inst. Eur.
Revista de Instituciones Europöas
RGZ
Entscheidungen des Reichsgerichtshofs für Zivilsachen
Riv. Dir. Eur.
Rivista di Diritto Europeo
RL
Richtlinie
Routl. Enc. Philos.
Routledge Encyclopedia of Philosophy
Rs.
Rechtssache
26
Abkürzungsverzeichnis
RTD Eur.
Revue Trimestrielle de Droit Europeen
RUDH
Revue Universelle des Droits de PHomme
S. Ct.
Supreme Court
Slg.
Sammlung
Soc. Res.
Social Research
Staat
Der Staat
Staatswiss. und Staatsprax.
Staatswissenschaften und Staatspraxis
StIGH
Ständiger Internationaler Ständiger Gerichtshof
SZ
Süddeutsche Zeitung
U.E.F.
Union Europäischer Föderalisten
U.S.
United States Reports
UN
United Nations
UNCLOS
United Nations Law of the Sea Convention
UNESCO
United Nations Educational, Cultural and Scientific Organization
UNTS
United Nations Treaty Series
UNYB
United Nations Yearbook
Vand. J. Transnat'l L.
Vanderbilt Journal of Transnational Law
Verwalt.
Die Verwaltung
VerwArch
Verwaltungsarchiv
VN
Vereinte Nationen
VO
Verordnung
VVDStRl
Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer
W. Eur. Pol.
West European Politics
WHO
World Health Organization
Wld. Pol.
World Politics
WP
Wahlperiode
WRV
Weimarer Reichsverfassung v. 11. Aug. 1919
WTO
World Trade Organization
WVK
Wiener Vertragsrechtskonvention
Yale L.J.
Yale Law Journal
YB ECHR
Yearbook of the European Convention on Human Rights
YEL
Yearbook of European Law
Z. Phil. Forsch.
Zeitschrift für Philosophische Forschung
Abkürzungsverzeichnis
27
ZaöRV
Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht
ZBJI
Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres
ZEuS
Zeitschrift für Europarechtliche Studien
ZfP
Zeitschrift für Politik
ZfRSoz
Zeitschrift für Rechtssoziologie
ZfS
Zeitschrift für Soziologie
ZHR
Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht
ZIB
Zeitschrift für Internationale Beziehungen
ZRP
Zeitschrift für Rechtspolitik
ZSR
Zeitschrift für Schweizerisches Recht
ZStaatsw
Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft
ZUR
Zeitschrift für Umweltrecht
quid leges sine moribus vanae proficiunt Horatius1
Einleitung „Die Europäer sind in Verfassungsnot",2 meinen die einen; vor „Verfassungsillusionen" warnen die anderen.3 Bereits 1961 hatte Carl Friedrich Ophüls4 behauptet: „Von der »Verfassung' der Europäischen Gemeinschaften zu sprechen, ist allgemein üblich geworden".5 Der Europäische Gerichtshof urteilte 1986, der EG-Vertrag sei die „Verfassungsurkunde der Gemeinschaft".6 Auch die neuere Literatur hält zu großen Teilen die europäischen Verträge insgesamt (oder den EG-Vertrag oder den EU-Vertrag als solche) für die Verfassung der Gemeinschaft/Union.7 Zumindest gelte es, „angemessene Vorstellungen von ei1
Horatius, Carminum Üb. III, 24, 35. Koch, Das Ende des Selbstbetrugs, 1997, 196. 3 Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 590. 4 Vormaliger Juristischer Generalsachverständiger der deutschen Delegation bei der Ausarbeitung des EGKS-Vertrages und stellvertretender Delegationsleiter bei den Verhandlungen über den EWG- und Euratom-Vertrag. 5 Ophüls, Zur ideengeschichtlichen Herkunft der Gemeinschaftsverfassung, 1966, 387. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland 1, 1984, 542: „Die Qualifizierung der Verträge als Verfassungsrecht der Gemeinschaft ... ist mittlerweile unstreitig". 6 Rs. 294/83, Parti Ecologiste „Les Verts" v. EP, Slg. 1986, 1339, Rdn. 23; Gutachten 1/91, Entwurf eines Abkommens zwischen der Gemeinschaft einerseits und den Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation andererseits über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums, Slg. 1991,1-6079, Rdn. 21; in diesem Sinne bereits GA Lagrange in Rs. 8/55, Federation charbonntere de Belgique v. Hohe Behörde (F6dechar), Slg. 1956,197,267 und in Rs. 6/64, Costa v. ENEL, Slg. 1964, 1251, 1289. Vgl. auch Gutachten 2/94, Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Slg. 1996, 1-1759, Rdn. 35 („verfassungsrechtliche ... Dimension"). 7 H. P. Ipsent Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 64; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland 1, 1984, 541 (Die Verträge haben „den Rang der Grundnormen (Verfassungsnormen) einer eigenständigen Rechtsordnung"); Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 351; Beutler/B ieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, 1993, 50f; Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant, Staat 1993, 179 (zum EUVertrag); Mestmäcker, Zur Wirtschaftsverfassung in der Europäischen Union, 1994, 264; Oppermann, Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union, DVB1. 1994, 904; Weiler, Reflections on a Common Constitutional Law for the European Union, 1995, 416; Rodriguez Iglesias, Zur „Verfassung" der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 2
30
Einleitung
ner aus Vertrag und Verzichten entspringenden autonomen Verfassung über der Verfassung" zu entwickeln.8 Differenziert ist von einer europäischen Verfassung im materiellen Sinne die Rede, die aus grundlegenden Normen des EGV, EUV und des Sekundärrechts sowie aus ungeschriebenem Verfassungsrecht bestehen soll. So schreibt Roman Herzog: ,,[D]as Vertragswerk der Gemeinschaft ist natürlich - im materiellen Sinne - ihre Verfassung."9 Im Gegensatz dazu meint Joseph Weiler: ,,[T]he result ist not... a European legal order of constitutionalism without a formal constitution, but the opposite: it is a constitutional legal order the constitutional theory of which has not been worked out, its long-term, transcendent values not sufficiently elaborated, its ontological elements misunderstood, its sociological rootedness and legitimacy highly contingent."10 Vorsichtige Zeitgenossen sprechen von „droit constitutional sans constitution" 11 , von einer „Quasi-Verfassung der Europäischen Union ... im Bereich der Europäischen Gemeinschaft"12; wie schon das Bundesverfassungsgericht 1967 festgestellt hatte: „Der EWG-Vertrag ist gewissermaßen die Verfassung der Gemeinschaft".13 Nach Ansicht von Peter Häberle „lebt Europa beeits ein Ensemble von teils geschriebenen, teils ungeschriebenen Teilverfassungen" und ist damit eine „werdende Verfassungsgemeinschaft".14 Zurückhaltend heißt es, daß „die Union die verfassungstypischen Merkmale ihrer Grundordnung nicht auf eine eigene Verfassunggebung als politische Gemeinschaft gründen kann, sondern aus der weiterbestehenden Pluralität und autonomen Verfaßtheit ihrer Mitgliedstaaten beziehen muss." Die europäische Grundordnung sei deshalb eine „qualitativ gleichsam halbierte Verfassung".15
1996, 125; Seeler, Die Legitimation hoheitlichen Handelns der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union, EuR 1998, 724; Oppermann, Europarecht, 1999, Rdn. 473. 8 H Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes nach 1949,1987, Rdn. 33. 9 Herzog, Demokratische Legitimation in Europa, in den Nationalstaaten, in den Regionen, Bull. BReg. 25/1999, 242; ebenso H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 64; Snyder, General Course on Constitutional Law of the European Union, 1995, 55; Tomuschat, Das Endziel der europäischen Integration, DVB1. 1996, 1074. 10 Weiler, The Constitution of Europe, 1999, 8. 11 V. Const antinesco, L'Emergence d'un droit constitutionnel europeen, RUDH 1995, 446. 12 Badura, Der Bundesstaat Deutschland im Prozeß der europäischen Integration, 1993,24. 13 BVerfGE 22, 293, 296 (1967) (Hervorhebung d. Verf.). 14 Häberle, Europa als werdende Verfassungsgemeinschaft, DVB1. 2000, 841 u. 840. 15 S. Hammer, Wege zur Europäischen Verfassung, Juridicum 1/2000, 51.
Einleitung Schließlich mehren sich in neuerer Zeit die Stimmen, die - jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt - eine Interpretation der europäischen Verträge als Verfassung für verfrüht oder gänzlich verfehlt halten. So titelt Ulrich Preuß\ „Auf der Suche nach Europas Verfassung: Europa hat noch keine Verfassung."16 „Der Begriff Verfassung würde vorspiegeln, daß ein Staat entsteht, wo kein Staat entstehen soll," meint Paul Kirchhof}1 Für die Zukunft fordern einige eine europäische Verfassunggebung in einem feierlichen Konstitutionsakt: „Denn die Zeit für eine Verfassungsbewegung der Europäer ist nunmehr gekommen."18 „Nur ein europäischer Verfassungsstaat kann das Legitimationsdefizit in der EU beheben."19 Anstelle des einmaligen revolutionären verfassunggebenden Aktes propagieren andere die evolutionäre Fortentwicklung von existierendem Verfassungsrecht.20 Die Gemeinschaft habe, so der deutsche Richter am Europäischen Gerichtshof Günter Hirsch, einen Integrationsstand erreicht, der eine „moderne Verfassung" verlange.21 Wieder andere verneinen rundweg die Verfassungsbedürftigkeit und -fähigkeit Europas: „Ohne Volk keine Verfassung", schreibt Dieter Grimm.22 Diese kleine Auswahl repräsentativer Literaturstimmen zeigt: Die europäische Verfassungsfrage wird kontrovers diskutiert. Dabei handelt es sich vordergründig um einen Streit um Begriffe, hintergründig jedoch um zentrale Fragen der Legitimität und Finalität europäischer Hoheitsgewalt. Der Einsatz, mit dem die Debatte gefuhrt wird, speist sich aus tief verwurzelten, halbbewußten Vorstellungen, welche die Verfassung mit einer geradezu sakralen Weihe versehen. Die Verfassung ist heute in vielerlei Hinsicht Ersatzgebilde für verlorene religiöse und traditionelle Rückhalte, Substitut für die frühere personelle Verkörpe16
Preußy Auf der Suche nach Europas Verfassung, Transit 1999, 154. E. Klein, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRl 1991, 70, diagnostiziert das „Fehlen einer echten »Verfassung4 auf Gemeinschaftsebene". Gegen die (gegenwärtige) Existenz einer europäischen Verfassung auch Basedow, Von der deutschen zur europäischen Wirtschaftsverfassung, 1992, 8f; Schilling, The Autonomy of the Community Legal Order, Harv. Int'l L. J. 1996, 409; Schmitt Glaeser, Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, 1996, 50f; Koenig, Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, DÖV 1998, 275; Randelzhofert Souveränität und Rechtsstaat, 1995, 127; Marcel Kaufmann, Europäische Integration und Demokratieprinzip, 1997, 94; Böckenförde, Kommentar zu Ulrich K. Preuß, Transit 1999, 175. 17 Reifeprüfung furs Geburtstagskind, Rhein. Merkur v. 7. Mai 1999, 6. 18 Kockv Das Ende des Selbstbetrugs, 1997, 212. 19 Landfried, Die Zeit ist reif, FAZ v. 9. Sept. 1999, 10. 20 So etwa Pernice, Vertragsrevision oder europäische Verfassungsgebung?, FAZ v. 7. Juli 1999,7. 21 FAZ Nr. 130 v. 6. Juni 2000,4. 22 Grimm, Ohne Volk keine Verfassung, DIE ZEIT v. 18. März 1990, 4. Gegen die Verfassungsfähigkeit auch z.B. Müller-Grajft Europäische Verfassung und Grundrechtscharta, Integration 2000, 34.
32
Einleitung
rung des Staates durch den Herrscher, Symbol und Ausdruck der politischen Einheit.23 Meine Arbeit legt zunächst dar, daß europäische grundlegende Normen das materielle Verfassungsrecht der EG/EU bilden (Teile 1 und 2). Diese These entfalte ich in drei Schritten: Erstens zeige ich, daß der Sprachgebrauch der juristischen Alltagspraxis es ohne weiteres zuläßt, von einer Verfassung der EG/EU zu reden. Allerdings beeinflussen unterschiedliche Vorstellungen über Sinn und Charakteristika einer Verfassung die Übertragbarkeit des Verfassungskonzepts auf die EG/EU (Teil 1,1-V). Zweitens zeige ich, daß europäische grundlegende Normen herkömmliche Verfassungsfunktionen erfüllen (Teil 7, VI). Die Bezeichnung der europäischen Grundnormen als Verfassung ist insofern deskriptiv, als sie auf objektiv nachweisbaren Eigenschaften und Funktionen basiert. Gleichzeitig hebt sie aber - wertend - diese Eigenschaften als relevant und maßgeblich heraus, und hat dadurch auch ein gestaltendes Moment. Insofern kann man von einer Lesart der Verträge nebst ihrer ungeschriebenen Prinzipien als Verfassung sprechen. Im dritten Schritt wird die explizite oder implizite Koppelung von Staat und Verfassung, die in der europäischen Verfassungsdiskussion durchscheint, problematisiert. Eine wichtige Frage ist ja, ob die eingebürgerte Rede von der europäischen Verfassung nur ein ungenauer, untechnischer Sprachgebrauch ist, eine Irreführung24, eine „europarechtliche Regression"25, die grundlegende Unterschiede zwischen der nationalstaatlichen und der europäischen Verfassung verdeckt. Wenn dem so wäre, dann geböte es die inhaltliche Präzision, den Begriff „Verfassung" nicht auf das europäische Grundstatut zu erstrecken. In Teil 2 der Arbeit räume ich diese Bedenken aus. Ich zeige, daß die Institution der Verfassung vom Staat ablösbar ist, weil die - von der Verfassung zu verrechtli-
23 Ludwig Uhland (1787-1862), der auch Abgeordneter der Nationalversammlung der Paulskirche war, schrieb: „Die Verfassungsurkunde ist eine politische Bibel" (Uhland, Gesammelte Werke 8 (1914), 57). Siehe zur Sakralisierung des Verfassungsdiskurses in der französischen Revolution und zur „Vergöttlichung" der Verfassung 1793/94 Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung, 1988, 13f, 19, 6668. Damals war die Rede von der ,,heilige[n] Verfassung" als „Katechismus des Menschengeschlechts" (Fr.-A. Aulard, Recueil des actes du Comite de salut public, Bd. 8, Paris nach 1889, S. 273 (Couturier, repr6sentant chargä de la vente du mobilier de la liste civile ä Rambouillet ä la Convention, 7. Nov. 1793); Fr.-A. Aulard (Hrsg.), La Societe des Jacobins, Bd. IV, Paris nach 1889 S6ance 17. Feb. 1793; beides zitiert nach Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung, 1988, 13). 24 In diesem Sinne etwa Favoreu, Quel(s) mod£l(s) constitutionnel(s)?, RUDH 1995, 358. 25 H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung? JZ 1999, 1074.
Einleitung chende - Hoheitsausübung durch den Staat nicht (mehr) kategorial verschieden von der Hoheitsausübung durch die EG/EU ist. Teil 3 der Arbeit behandelt die wichtigsten konzeptionellen Grundfragen der europäischen Verfassung. Zunächst diskutiere und entkräfte ich Einwände gegen die Verfassungslesart (I). Daraufhin setzte ich sie zu den konkurrierenden Integrationstheorien (Föderalismus, Funktionalismus und Intergouvernmentalismus) in Beziehung (II). Die Verfassungsinterpretation ist Ausdruck einer neuen Integrationstheorie, die ich als konstitutionalistische Theorie bezeichne, und die quer zu den überkommenen Theorien steht. Sie faßt die EG/EUMitgliedstaaten als polyzentrisches System auf, deren Verfassungen in einem Verbund stehen. Sie überwindet die tradierte Dichotomie von Vertrag und Verfassung und erkennt die Möglichkeit einer Vertragsverfassung, die im Völkerrecht steht, an (III). Die nächste schwierige Frage ist die, ob die sogenannte Autonomie des Gemeinschaftsrechts, mit der vier ganz verschiedene Rechtsaspekte gemeint sind, die Voraussetzung einer Verfassung ist (IV). Ich argumentiere, daß das rechtspolitische Ziel der Abscheidung des Gemeinschaftsrechts vom Völkerrecht auch völkerrechtsimmanent erreicht werden kann (IV. 1) und zeige, daß die am europäischen Verbund beteiligten multiplen, nicht verschmolzenen Rechtsordnungen in einem Verhältnis der verschränkten Gleichordnung stehen (IV.2). Ich lege dar, daß der Streit um die Unabgeleitetheit des Gemeinschaftsrechts und seinen autonomen Geltungsgrund nur durch definitorische Festlegungen entscheidbar ist, halte den Pluralismus der Perspektiven jedoch für unschädlich, da das Kriterium der Unabgeleitetheit für den Verfassungscharakter europäischer grundlegender Normen irrelevant ist (IV.3). Entscheidend ist vielmehr die Freiheit von laufenden Eingriffen durch die Mitgliedstaaten, die sich in Durchgriff, Vorrang, unmittelbarer Anwendbarkeit und gemeinschaftseigener richterlicher Letztentscheidungsbefugnis äußert. Hier besteht ein Dissens zwischen dem Europäischen Gerichtshof und den meisten mitgliedstaatlichen Gerichten, der durch die Anerkennung einer zentralen Letztentscheidungsbefugnis mit Pflicht zu Abwägung und nationalverfassungskonformer Auslegung überwunden werden könnte (IV.4). Abschnitt V zeigt, daß auch das Unionsiecht Verfassungsrecht sein kann, obwohl es kein einheitliches Verfassungsubjekt „EG und EU" gibt. Denn die Forderung nach einem einzigen und einheitlichen Verfassungssubjekt liegt nicht in einer übernational geteilten europäischen Tradition und wird der heutigen Fragmentierung von Hoheitsgewalt nicht gerecht. Der Vorrang der europäischen Verfassung (Abschnitt VI) wirft komplexe Fragen auf. Der externe Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor den mitgliedstaatlichen Verfassungen ist nicht restlos gesichert. Da er aber funktional kein konstitutioneller Vorrang ist, beschädigt die Unsicherheit nicht den Verfas-
34
Einleitung
sungscharakter der europäischen Grundnormen (VI.2 u. 5). Innerhalb des Systems EG/EU-Gemeinschaftsrecht bestehen Hierarchien zwischen Primär- und Sekundärrecht sowie Ansätze zu einem Vorrang grundlegender Gemeinschaftsund Unionsnormen, wobei die Hierarchisierung des Primärrechts entscheidender Faktor weiterer Konstitutionalisierung sein wird (VI.3-5). Teil 4 behandelt die europäische Verfassungsentwicklung. Dabei wird die europäische Verfassunggebung nicht als punktueller, sondern als zeitlich gestreckter Vorgang aufgefaßt (III). Dieser ist - außer unter Rekurs auf den Willen zur Diskontinuität - nicht von der Verfassungsänderung zu unterscheiden; beide Vorgänge bilden ein Kontinuum (IV). Diese kontinuierliche Verfassungsentwicklung ist ein pluraler und mehrseitiger, kein einheitlicher und hierarchischer Vorgang (V). Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt sind theoretisch in letzter Instanz die europäischen Bürger, die durch staatliche und europäische Organe vertreten werden sollen, deren tatsächlicher Einfluß auf die Verfassungsrechtserzeugung jedoch gering ist. Weitgehende Verfassungsentwicklungsbefugnisse nimmt der Europäische Gerichtshof für sich in Anspruch; diese stehen in einem Spannungsverhältnis zum Rechtsstaats- und Demokratieprinzip und - spezifisch im supranationalen System - zur mitgliedstaatlichen Souveränität. Als Gegenstück zur Verfassunggebung wird die Verfassungsbeendigung bzw. -ersetzung diskutiert, die aus Gründen des Vertrauensschutzes zumindest die Verfahrensstandards der Revision beachten muß (VI). Weiter werden näher sowohl die förmliche als auch die informelle Verfassungsentwicklung erörtert. Die Struktur des formlichen Änderungsverfahrens ist gemischt kontraktuell-konstitutionell (VII. 1). Es sind, über den Kerngehalt fundamentaler Menschenrechte hinaus, keine materiellen Revisionsschranken nachweisbar, die ein zusätzliches Argument für den Verfassungscharakter der Verträge liefern könnten (VII.2). Jedoch ist die Vertragsänderung in formeller Hinsicht durch Verfahrensvorschriften eingeschränkt. Diese gelten nach der Rechtsprechung abschließend und zwingend jedenfalls für Grundlagenvorschriften, womit ein funktionales Äquivalent zum Verfassungstextänderungsgebot und dem Verbot der Verfassungsdurchbrechung existiert (VII.3). Die informelle Verfassungsentwicklung wird als Verfassungsgewohnheitsrecht, Verfassungskonvention und Verfassungswandel systematisiert (VIII) und kurz die von Seiten der Rechtswissenschaft gezogenen normativen Grenzen informeller Verfassungsentwicklung, wozu auch das Richterrecht gehört, angesprochen. In der Realität werden die akademischen Grenzen oft nicht eingehalten, als faktisches Korrektiv wirkt letztlich nur die Akzeptanz (IX). Abschließend werden die Optionen zukünftiger Verfassungsentwicklung unter zwei verschiedenen Gesichtspunkten kategorisiert: Mit Blick auf das Ergebnis als Stückwerk versus große Kodifikation, mit Blick auf den Geltungsgrund als Evolution versus Revolution. Es wird sich zeigen, daß die Rede von der Umstellung der Geltungsgrundlage von Mitgliedstaatensouveränität auf Volkssouveränität irreführend
Einleitung ist und daß eine kontinuierliche Entwicklung unter wesentlich stärkerer Einbeziehung der Bürger vorzuziehen ist, die eine radikale redaktionelle Konsolidierung mit schrittweisen substantiellen Reformen kombinieren sollte (X). Teil 5 untersucht die Legitimität der europäischen Verfassung. Auf diese kommt es für die weitere Konstitutionalisierung entscheidend an, weil eine illegitime Verfassung auf Dauer keinen Bestand haben wird. Ich verwende Legitimität als eigene Kategorie neben Legalität und faktischer Wirksamkeit (II.2). Die europäische Verfassung ist legitim in diesem Sinne, wenn sie anhand von verfassungsexternen Maßstäben gerechtfertigt ist. Die gängigen Rechtfertigungsstrategien unterteile ich in Ex-ante- und Ex-post-Strategien (III). Aus der ersten Gruppe diskutiere und kritisiere ich näher die kontraktualistische und die diskurstheoretische Rechtfertigung (IV. 1 u. 2). Auch die Zustimmung der Bürger wird oft als Ex-ante-Legitimitätskriterium eingesetzt und deshalb in dieser Gruppe aufgeführt. Die Zustimmung der Verfassungsunterworfenen ist ein wichtiges, aber nicht das einzige Legitimitätskriterium (IV.3). Zu den Ex-anteStrategien gehört schließlich die spezifisch auf die EG/EU zugeschnittene Theorie der doppelten Legitimation. Nach dieser Theorie fließt die Legitimität der europäischen Verfassung aus zwei Quellen, nämlich der Mitgliedstaatensouveränität und der Volkssouveränität. Streit besteht darüber, ob die Staatensouveränität die Hauptquelle sein soll oder ob beide Quellen gleichberechtigt sind. Je nach Standpunkt werden unterschiedliche rechtspolitische Forderungen in bezug auf die Träger des weiteren Konstitutionalisierungsprozesses (Bürger und Staaten) und die institutionelle Reform erhoben. In beiden Versionen krankt die Theorie vor allem daran, daß sie einen Gegensatz zwischen Staaten und Bürgen konstruiert und letztlich lediglich die Souveränitätsfrage verbrämt (IV.4). Unter die Ex-post-Legitimationsstrategien fallen die alten Lehren vom Gemeinwohl und den Staatszwecken und sämtliche Leistungs- oder outputorientierten Betrachtungen, sofern sie nicht schon die bloße Ex-ante-Festlegung von Leistungen oder Erfolgen als legitimierend ansehen. Auf der Grundlage der Ex-ante-/Ex-post-Unterscheidung schlage ich ein Modell der Legitimation durch Bewährung vor, das durch Elemente des kritischen Rationalismus, das Hayeks che Unwissenheitsargument und den Fokus auf Normfolgen in Law and Economics und der Neuen Institutionenökonomik angeregt ist (zum Theorieumfeld VI.5). Die europäische Verfassung ist dann gerechtfertigt, wenn sie durch ihre (weitgehend indirekten) Leistungen zum Wohlergehen (einschließlich Selbstbestimmung) der Bürger beiträgt. Der reale Output kann in letzter Instanz nur von den Bürgern festgestellt und bewertet werden, und zwar primär ex post. Ex-ante-Überlegungen zur potentiellen Leistungsfähigkeit einer Verfassung müssen bewährte Vergleichsfälle einbeziehen, die Ex-ante-Legitimation wird mit dem Zeitablauf aber irrelevant. Der Anwendungsbereich der Bewährungsstrategie ist insofern begrenzt, als Grundwerte nicht auf diese Weise gerechtfertigt werden können. Diese sind als solche auf
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Einleitung
europäischer Ebene aber ohnehin unproblematisch. Praktisch weit bedeutsamer sind ihre konkrete Ausgestaltung und rechtliche Schutzmechanismen, und vor allem die verfassungsmäßigen Institutionen, Zuständigkeiten und Verfahren. Auf diese Verfassungselemente (auf das „Systemdesign" der europäischen Verfassung), ist die Bewährungsstrategie gut anwendbar (VI.6.b). Sie ist deshalb vorzugswürdig, weil jedes Ex-ante-Urteil über die Leistungsfähigkeit einer rechtlichen Konstruktion in der Praxis notwendigerweise unvollkommen ist. Die Strategie der Legitimation durch Bewährung integriert die konstitutionelle Unwissenheit als zentrales Element (VI.4). Auf die europäische Verfassung angewendet, legt der Bewährungsgedanke eine weiterhin reformistische Verfassungsentwicklung und den Verzicht auf eine Finalitätsdiskussion nahe, wobei der wichtigste negative Effekt der Stückwerkstechnologie, nämlich die Unübersichtlichkeit des Verfassungsrechts, minimiert werden müßte (VI.6.a). Weil die Verfassung konkrete europäische Politiken zwar ermöglicht und begünstigt, jedoch kaum inhaltlich determiniert, sind Erkenntnisse zur Output-Legitimität des europäischen Regierens in konkreten Politikfeldern nur begrenzt für die Beantwortung der Frage der Legitimität der Verfassung nutzbar zu machen (VI.ö.c). Teil 6 behandelt die europäische Demokratie. Das hier zugrundegelegte, individualistische, output- und kontrollorientierte Demokratiekonzept verlangt, daß das Gemeinwesen Leistungen im Sinne der Bürger erbringt und diese von den Amtsträgern öffentlich verantwortet werden, wobei die öffentliche Kontrolle nicht nur über Wahlen erfolgen muß (II.3). Der Demokratisierungsgrad der Union darf allerdings nicht an einem idealisierten Prinzip gemessen werden, sondern muß die realen Strukturen der mitgliedstaatlichen Demokratien berücksichtigen, die sich aufgrund der Globalisierung, der Vorherrschaft von Sachverständigen und von Verhandlungssystemen sowie der verbesserten Möglichkeiten individueller Kommunikation und Information gegenwärtig stark verändern (II.3). Insbesondere die wirtschaftliche Globalisierung und die darauf reagierende Globalisierung von Recht und Politik unterminieren die nationalstaatlichdemokratischen Strukturen weltweit (IX). In diesem Kontext gesehen, erscheint das europäische Regieren zwar unbefriedigend demokratisiert, jedoch nicht kraß defizitär. Das gravierendste Manko ist die unzureichende Kontrolle des Hauptrechtsetzungsorgans Rat, die durch fehlende direkte rechtliche Verantwortungsbeziehungen zu den Bürgern und deren Repräsentanten und durch mangelnde Transparenz verursacht wird (IV). Das demnach bestehende demokratische Defizit ist durch institutionelle Reformen behebbar, weil diesbezüglich keine unüberwindlichen metarechtlichen Hindernisse bestehen. Die Funktionsbedingungen der Demokratie einschließlich der Mehrheitsregel, insbesondere die kognitive und ethische Kompetenz der Bürger sowie ein Verfahrenskonsens sind vielmehr im Ansatz vorhanden und in der Demokratie entwicklungsfähig (VI). Die aufscheinende europäische Perspektive ist eine teilparlamentarisierte Verhandlungsdemokratie (X).
Einleitung Schließlich ist klarzustellen, was die vorliegende Arbeit nicht leistet: Sie ermittelt nicht empirisch-rechtsvergleichend verfassungstypische Inhaltskategorien und konkrete Inhalte europäischer Staatsverfassungen, die sich entsprechend angepaßt in der supranationalen europäischen Verfassung finden müßten.26 Solche Verfassungsgehalte dürften weder schematisch als kleinster gemeinsamer Nenner noch ebenso schematisch als Maximalstandard festgelegt werden. Wie bereits im 19. Jahrhundert für die Rechtsvereinheitlichung Deutschlands festgestellt wurde: „Eine solche Combination mag sehr interessant und legislativ sehr wichtig seyn und manchen Blick in den Geist der positiven Rechte werfen lassen; aber wie daraus unmittelbar eine geltende Rechtstheorie, wie daraus ... ein gemeines positives Recht... hervorgehen ... soll, dies ist in der That nicht einzusehen."27 Anstelle einer Addition von Partikularrechten28 ist deshalb eine Neuaneignung der eigenen Tradition im Lichte der anderen nationalen Perspektiven gefragt, so daß die derart relativierten parallelen Rechtsprinzipien eine übernational geteilte europäische Verfassungsrechtskultur bilden können.29 Gleichzeitig müßte die europäische Verfassung eine Alternative zu traditionellen nationalstaatlichen Verfassungskonzepten darstellen und nicht nur eine negativ, etwa durch Verzicht auf parlamentarische Rechte, definierte, abgeschwächte Reproduktion.30 Das konkrete europäische Verfassungsdesign obliegt der Rechtspolitik; die vorliegende Arbeit will einen Beitrag zur notwendigen theoretischen Grundlegung liefern.
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Neuere tiefergehende Versuche, den gemeinsamen europäischen Verfassungsbestand zu umreißen, sind etwa Grewe/Fabri, Droits constitutionnels europeens, 1995; Müller-Graff/Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union, 1998. Gute Gesamtdarstellung der aktuellen konkreten europäischen (Verfassungs-) Reformvorschläge bei Höreth, Die Europäische Integration im Legitimationstrilemma, 1999,245-322. 27 Wächter, Gemeines Recht Deutschlands, 1844,251. 28 Kritisch undrichtigetwa Scholz, Europäische Union, 1995, 119 (Aus der Feststellung eines Grundbestandes an gemeineuropäischem Verfassungsrecht läßt sich keine eigenständige verfassungsrechtliche Legitimation der EU ableiten). 29 Habermas, Faktizität und Geltung, 1992, 643; siehe auch Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, 1991,262. 30 Nicolaysen, Ansichten zur Gemeinschaftsverfassung, EuR 1987,301.
Teil 1
Begriff und Funktion der europäischen Verfassung Um die Frage zu beantworten, ob das europäische Grundstatut eine Verfassung ist, müssen wir zunächst den Verfassungsbegriff klären.1 Maßgeblich ist selbstverständlich kein nationaler, sondern ein aus dem Wurzelboden der mitgliedstaatlichen Rechtstraditionen stammender, „gemeineuropäischer"2 Begriff. Dieser Arbeit liegt keine transhistorische, substantialistische Vorstellung von Verfassung zugrunde, sondern eine historische und funktionale. Das heißt, die Untersuchung fragt nicht ontologisierend nach dem Wesen von Verfassung, das immer und überall gleichbleibt, und somit unabhängig von Raum und Zeit begrifflich-definitorisch zu fassen wäre. Statt dessen bestimmt sie die Institution der Verfassung nach ihren Ausprägungen und Funktionen.3 Weil die Institution der Verfassung selbst eine zeitbedingte Antwort auf konkrete politische und gesellschaftliche Fragen darstellt, ist auch jedes einzelne Verfassungsinstitut ein „im Strom der Geschichte stehende[r] Versuch der Lösung eines politischen Problems."4 Dementsprechend sind die Verfassungsfunktionen historisch und
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Siehe zur Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Aufklärung Mohnhaupt, Verfassung 1, 1995; von der Aufklärung bis zur Gegenwart Grimm, Verfassung 2, 1995; umfassend auch Bastid, L'id6e de Constitution, 1985. Begriffsklärung und Bezug auf Europa sind nicht zwei vollkommen unabhängige Schritte: erst Definition, dann Subsumtion. Denn die juristische Begriffsbildung erfolgt, wie auch die Auslegung eines gesetzlichen Tatbestandes, immer mit Blick auf den konkret interessierenden Lebenssachverhalt, mit einem „Hin- und Herwandern des Blickes" (,Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 1963, 15). 2 Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, 26Iff. 3 Siehe zur Überwindung des älteren Substanzdenkens durch den Funktionalismus in Soziologie und Psychologie (etwa durch Emile Durckheim oder Max Weber) Thiel, Funktion(alismus), Handlex. Wiss.theorie, 1989, 87; auch Bigelow, Functionalism in Social Science, Routl. Enc. Philos. 3, 1998, 813-819; als grundlegend gilt bereits Cassirer, Substanzbegriff und Funktionsbegriff, 1910 (Zusammenfassung des Gedankengangs in 3-34, siehe insb. 27 und 29 (Funktion hier allerdings mehr im Sinne von Relation)). Nach Bühl, Transnationale Politik, 1978, 16 liegt das „Nationalstaatsparadigma" ganz in der Tradition des Substanzdenkens. Die Staaten stehen sich hier „wie undurchdringliche Billardkugeln gegenüber", z.B. bei einer nur-hoheitsrechtlichen (nicht funktional-organisatorischen) Definition des Staates. 4 Thomat Einleitung 1930, 5.
Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
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kulturell kontingent.5 Aus der Relativität der Verfassungsfunktionen folgt, daß es für unsere Fragestellung nur auf die Funktionen rechtsstaatlich-demokratischer Verfassungen ankommt, die im heutigen Europa gelten. Ein in diesem Sinne funktionaler Ansatz ist in den Rechtswissenschaften6, etwa in der Rechtsvergleichung7 oder im Völkerrecht8 allgemein anerkannt, und auch für die Auslegung von Verfassungsrecht wird auf funktionelle Gesichtspunkte rekurriert.9 Funktionalität bedeutet dabei nicht pure Rationalität oder Technizität. Sowohl Verfassung als auch Staat oder andere Gemeinwesen haben - unter Umständen latent oder versteckt - auch irrationale, emotionale und historisch gewachsene Funktionen. Mit dem integrationstheoretischen Funktionalismus Ipsenschei Prägung hat dieser Ansatz, das sei zur Klarstellung ausdrücklich hervorgehoben, nichts zu tun. Meine funktionale Betrachtungsweise impliziert, daß die untersuchten Gegenstände - die EG/EU und ihre Verfassung - kein Selbstzweck sind, sondern bestimmten Zwecken genügen müssen. Sie steht damit in krassem Gegensatz zu Hans Peter Ipsens Funktionalismus, der behauptete, die Europäischen Gemeinschaften seien technisch, unpolitisch-neutral und insbesondere begrenzt im Vergleich zum historisch gewachsenen, auch dysfunktionalen, potentiell allzuständigen Staat.10 Ipsens Funktionalismus unterstellte, daß die Gemeinschaften we5 K Eichenberger, Sinn und Bedeutung einer Verfassung, ZSR 1991, 176; Grimm, Die Gegenwartsprobleme der Verfassungspolitik und der Beitrag der Politikwissenschaft, 1991 (1978), 398f; Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1996,3. 6 Juristische Begriffe sind nach Josef Esser, „funktionsbedingt" (Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, 324). Siehe auch Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, 310-314; umfassend Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, für eine teleologischen Begriffsbildung unter Beachtung der zu erwartenden rechtlichen und sozialen Folgen der Begriffsbildung insb. 151. Siehe allgemein Legaz y Lacambra, Die Funktionen des Rechts, ARSP 1974. 7 Kabel, Aufgabe und Notwendigkeit der Rechtsvergleichung, 1925, 4; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1996, 33-47. 8 Siehe etwa Johnston, Functionalism in the Theory of International Law, Can. Yb. Infi Law 1988, 3-60 mit Nachweisen zu Vertretern auf 14f; zum Funktionalismus in der Theorie internationaler Beziehungen K Dicke, Effizienz und Effektivität internationaler Organisationen, 1994, 334-340 m.w.N. 9 Die Gewaltenteilung wird vor allem Konrad Hesse als „prinzipielles Verbot der Wahrnehmung oder Zuweisung von Funktionen, die der Struktur des Organs und der von ihm wahrzunehmenden Grundfunktion nicht entsprechen" aufgefaßt (Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 489, Hervorhebungen weggelassen); siehe für eine ausführliche Würdigung des Gewaltenteilungsprinzips als „Grundsatz funktionsgerechter Organstruktur" auch von Danwitz, Der Grundsatz funktionsgerechter Organstruktur, Staat 1996, 329-350 und bereits Zimmer, Funktion - Kompetenz - Legitimation, 1979. 10 //. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 197; dementsprechend fragt Ipsen „ob und inwieweit in diesem Aufgabenbereich der funktionellen Integration ein
Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung gen ihrer Begrenztheit und Technizität - im Gegensatz zum Staat - nicht weiter rechtfertigungsbedürftig seien; meine Sichtweise unterstellt, daß europäische Herrschaft rechtfertigungsbedürftig ist.
I. Faktische und normative Verfassung 1. Semantische Vorklärung „Verfassung" hat zum einen eine faktische Bedeutung (Zustand/Stimmung) (Verfassung/rafr_Zu5,); früher auch: Akt der Errichtung (Verfassung/^.,**,), zum anderen eine normative Bedeutung: „Verfassung" als grundlegende Sollensordnung (Verfassung^,,™).11 Im folgenden sollen diese Bedeutungen geklärt und ihre Relevanz für die europäische Rechtsordnung gezeigt werden.
zusätzliches Konsentierungs- und Legitimationsbedürfnis staatsrechtlichen Demokratieverständnisses überhaupt noch besteht." Id., 163. 11 Den Begriff „Verfassung" im Sinne von Zustand bzw. Akt der Errichtung nenne ich „faktisch", weil er sich auf Tatsachen bezieht. Der hier primär interessierende Verfassungsbegriff (Verfassung^,™) ist normativ, weil er sich auf eine Sollensordnung, also auf Normen, nicht auf Tatsachen bezieht (zur Unterscheidung von Tatsachen und Normen Schurz, The Is-Ought Problem, 1997). Oft sind im Deutschen die Sollenssätze, aus denen die normative Verfassung besteht, der Form nach Aussagesätze („Die Würde des Menschen ist unantastbar"), so daß ihr vorschreibender Charakter nur vom Inhalt und Kontext her erkennbar ist (und dementsprechend mit „The dignity of man shall be inviolable" übersetzt werden muß). Vielfach ist auch von einem deskriptiven bzw. präskriptiven Verfassungsbegriff die Rede. Diese Terminologie entspricht ungefähr meinem Begriffspaar faktisch - normativ. Zum Teil ist von einem „soziologischen" respektive »juristischen" Verfassungsbegriff die Rede. Mit dieser Dichotomie ist manchmal (vereinfachend) die Perspektive der jeweiligen Disziplin gemeint, die die normative Verfassung betrachtet. Der Soziologe schaut in der Regel mehr als der Jurist auf die tatsächlichen Erfolge, Leistungen, oder Wirkungen der normativen Verfassung in der Gesellschaft (und wird darüber hinaus auch die Einflüsse außerrechtlicher Faktoren und Kräfte auf die tatsächlich existierenden Herrschafts- und Machtverhältnisse beachten). Im Überschneidungsbereich der Disziplinen betrachten aber beide denselben Gegenstand, nämlich die Verfassung als Normensystem. Sie haben also denselben Verfassungsbegriff, nur beleuchten sie unterschiedliche Aspekte mit unterschiedlichem Erkenntnisinteresse. (Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 6, spricht zutreffend von zwei Fragestellungen in bezug auf die Verfassung als normatives Gebilde: Die normative Fragestellung lautet z.B.: Was ordnet die Verfassung an, was will sie? Empirische Fragen sind etwa: Welche Kompetenzordnung wird praktiziert? Welche Interpretationen liegen vor und welche setzten sich durch?). Es ist heute Allgemeingut, daß die juristische Betrachtung der normativen Verfassung über die reinen Normen hinausgehen sollte, also auch ihre Wirksamkeit im tatsächlichen Leben, ihre Befolgung, Durchsetzung, die Art und Weise ihrer Anwendung usw. betrachten sollte. Der Gegenstand juristischer Untersuchung ist also erweitert. Bei einer solch umfassenden Untersuchung hat aber der Beobachter keinen anderen Verfassungsbegriff.
I. Faktische und normative Verfassung
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Die faktischen Bedeutungen von „Verfassung" wurden im historischen Sprachgebrauch nicht klar von der normativen Bedeutung unterschieden. Erst die Weimarer Staatslehre hat die Unterscheidung und die Wechselbezüglichkeit von normativer und faktischer Verfassung klar herausgearbeitet und den „doppelten" (faktischen und normativen) Verfassungsbegriff etabliert.12 Wegen dieser Dialektik werden auch heute noch beide Bedeutungen von „Verfassung" oftmals nicht sauber getrennt.13 Als erste Bedeutung von Verfassung nennt Grimms Wörterbuch noch „geordnete herrichtung (als handlung)", also die faktische Bedeutung (VerfassungFah-Akt)'14 Johann Gottlieb Fichte definiert „Konstitution = Gesetz über Errichtung eines regierenden Körpers. Errichtung sage ich, Genesis."15 Nach unserem heutigen Sprachgebrauch wäre dies allerdings eher „Konstituierung", nicht ,»Konstitution". Bezeichnenderweise setzt aber noch Rudolf Smend die bei ihm genuin dynamische „Verfassung" mit „Konstituierung" gleich.16 Auch Peter Häberles Charakterisierung der „Verfassung als öffentlicher Prozess"17 kann an
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Hierzu sogleich S. 48ff. Eindeutig die normative Verfassung ist gemeint, wenn Verfassung definiert wird als „rechtliche Grundordnung des Staates, System höchster und letzter Normen (Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland 1, 1984, 70f); als „Gefüge (oder vorsichtiger: ein Ensemble) von normativen Sinnprinzipien, denen die Aufgabe zukommt, begründend, weisend und begrenzend die rechtliche Grund-Ordnung des politischen Gemeinwesens zu konstituieren" beziehungsweise als der „grundlegende, auf bestimmte Sinnprinzipien ausgerichtete Strukturplan für die Rechtsgestalt eines Gemeinwesens" (Hollerbach, Ideologie und Verfassung, 1969, 46); als „rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens ..., der gegenüber Gesetzen und anderen Rechtsquellen ein besonderer Rang zukommt und die in alle Bereiche der Rechtsordnung ausstrahlt" (Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1994,58). Eher auf die Verfassung im faktischen, zuständlichen Sinne zielte etwa General de Gaulle ab, der in einer Pressekonferenz von 1964 gesagt hat: „Une constitution, c'est un esprit, des institutions, une pratique" (zitiert in Gicquel/A. Hauriou, Droit constitutiona l et institutions politiques, 1985, 265). Ernst Rudolf Huber definiert Verfassung als „Gesamtgefüge von Ideen und Energien, von Interessen und Aktionen, von Institutionen und Normen" (E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte 1, 1978, V). Ernst-Wolfgang Böckenförde schreibt von der „konkreten politisch-sozialen Bauform einer Zeit" (Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert, 1961, 211), wobei die Form - im Gegensatz zur Bau Vorschrift - ein Zustand, keine Norm ist. Auch die Schlagwörter „Verfassung als evolutionäre Errungenschaft" (Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshist. J. 1990, 176) und „Verfassung als Kulturzustand" (Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1998, 292) haben weniger die Verfassung im normativen Sinne als die zuständliche Verfassung im Blick. 14 J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch 12,1. Abt., 1956, Sp. 313. 15 Fichte, Staatslehre, 1912 (1813), 554 (IV, 510). 16 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 193. 17 So der Titel von Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozeß, 1978. 13
Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung diese aktive Bedeutung von „Verfassung" anknüpfen, die wiederum auf die Konstituierungs- und Integrationsfunktion der normativen Verfassung verweist. Im Englischen und Französischen ist der Handlungs-Sinn von „constitution" noch erhalten. Larousse nennt als erste Bedeutung:, Action de composer", auch ,,[a]ction d'etablir legalement" mit dem Beispiel „la constitution d'une dot".18 Auch Friedrich August von Hayeks „The Constitution of Liberty" spielt mit dem Doppelsinn von Errichten und normativer Ordnung, der mit „Verfassung der Freiheit" nur unvollkommen übersetzt werden kann. Die nächste und wichtigere faktische Bedeutung von Verfassung ist Zustand, Zusammensetzung, Struktur, Beschaffenheit, Stimmung (Verfassung^.^,). Wir sprechen von gesundheitlicher Verfassung, geistiger, körperlicher, seelischer Verfassung (Gemütsverfassung) eines Menschen.19 Jedes Gemeinwesen oder Regime hat eine zuständliche Verfassung (VerfassungFakt-zusd- Im älteren Sprachgebrauch war mit Staatsverfassung oft primär dieser Seinszustand gemeint. Man spricht hier rückschauend und vereinfachend von einem vor-konstitutionalistischen deskriptiven Verfassungsbegriff.20 Allerdings war damals die Unterscheidung von Seins- und Sollenssätzen und die Möglichkeit der Spannung von Sein und Sollen allenfalls ansatzweise begrifflich thematisiert. Da beispielsweise Aristoteles anscheinend nicht reflektierte, daß der bloße Erlaß von Vorschriften nicht automatisch die tatsächlichen Machtverhältnisse entsprechend formt, beschrieb er den Zustand des Gemeinwesens und die existierenden Vorschriften gleichermaßen.21 Niccold Machiavelli verwendete „costituzione" im Sinne von „Staatsform", „Staatseinrichtung" und „Regierungsform", dabei jedoch zum Teil eindeutig in einem normativen
18 Grand Larousse encyclopedique 3, 1960, 428. Ebenso die Bedeutung des italienischen „costituzione'*; vgl. Battaglia, Grande Dizionario Deila Lingua Italiana III, 1964,903. 19 Vgl. J. Grimm/W. Grimm, Deutsches Wörterbuch 12,1. Abt., 1956, Sp. 314f. Dort auch: ,,[S]ie befand sich in gesegneter Verfassung". Der kategoriale Unterschied zur normativen Verfassung zeigt sich etwa daran, daß man diese Verfassung im Englischen nicht mit „constitution", sondern mit „state" übersetzen muß (z.B. state of health). Verfassung ist hier ebenso wenig normativ wie die Naturgesetze oder Regeln der Biologie. Auch diese sind keine Normen, sondern nur Regelmäßigkeiten, statistisch wahrscheinliche Abläufe. Sie können, im Gegensatz zu Sollenssätzen, nicht in ein Spannungsverhältnis zum Sein treten. 20 Isensee, Staat und Verfassung, 1987, Rdn. 129; Grimm, Verfassung 2,1995,100. 21 So setzte Aristoteles Staatsverfassung (rcoAireia) mit Staatslenkung (ttoAiteu^oc), also mit einer Handlung gleich (Aristoteles, Politik, 1278bll, [Ausgabe 1989, S. 166]). Seine Verfassungstypen basieren nicht auf jeweils verschiedenen Vorschriften, sondern sind „Arten der Herrschaft (apxi])" (Id., 1278b30f, Ausgabe 1989, S. 167). Ihn interessiert vor allem die tatsächliche Machtverteilung (ÖeoTroteia) (Id., 1278b32). Daneben, nur am Rande, verwendet er „Verfassung" gleichermaßen im Sinne von Vorschrift, also normativ (dazu sogleich).
I. Faktische und normative Verfassung
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Sinne.22 Er war sich offenbar eines dialektischen Verhältnisses von Norm und Gesellschaft bewußt: „Wie nämlich zur Erhaltung guter Sitten Gesetze nötig sind, so sind auch zur Beachtung der Gesetze gute Sitten erforderlich."23 Die deutsche „Statistik" (Staatenkunde) vom ausgehenden 17. bis zum 18. Jahrhundert verstand unter der „Staatsverfassung" die Geographie, Demographie, Ökonomie, Regierung und Verwaltung des Staates. Die existierenden Rechtsnormen wurden nicht als eigene Sollens-Kategorie erkannt, sondern als Faktum und Teil des Gesamtzustandes behandelt. So schrieb Anton Friedrich Büsching in seiner vielfach aufgelegten „Vorbereitung zur gründlichen und nützlichen Kenntniß der geographischen Beschaffenheit und Staatsverfassung der Europäischen Reiche und Republiken" (1758):, Außer der sonst üblichen geographischen Kenntniß der Länder sucht man sich in neuern Zeiten auch mit dem bekannt zu machen, was zu den vornehmsten Naturprodukten eines Landes, der Zahl seiner Einwohner, zu ihrem Fleiß in Manufakturen und Fabriken, zum Handel, zu den schönen Künsten und Wissenschaften, zu den Einkünften, der Kriegsmacht, Regierung, oder sonst zur Einsicht in die Staatsverfassung gehört".24 Noch Charles Secondat de Montesquieu verstand unter „constitution" primär die individuelle Beschaffenheit eines Gemeinwesens (Verfassung/rafa.ZttJ,);25 und selbst bei Immanuel Kant scheint Verfassung faktischer Zustand und Norm bzw. Wille zu
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Machiavelli, Discorsi 1966 (1532), I. Buch, Kap. 6 (S. 24), Kap. 18 (S. 64), Kap. 25 (S. 78). 23 Id., Buch 1, Kap. 6 (S. 24). 24 Büsching, Vorbereitung zur Europäischen Länder- und Staatenkunde, 1802 (1758). Vgl. für die mehrdeutige - zuständliche und normative - Verwendung von „Verfassung" auch Pütter, Vom Ursprung der Landeshoheit, 1777, 109: „Deutschland hat zwar von ältesten Zeiten her aus vielerlei Völkern bestanden, die ursprünglich weder einer gemeinsamen höhern Gewalt unterworfen waren, noch unter sich in allgemeiner Verbindung standen, „deren jedes also seine eigne innerliche Verfassung unabhängig von jedem anderen hatte." Gewisse Völker unterwarfen sich nur „mit Vorbehalt ihrer eignen Landesobrigkeit und Verfassung" den Franken. Mohnhaupt, Verfassung 1, 1995, 72 resümiert: „»Verfassung4 und ,Zustand* bleiben noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts austauschbare Begriffe"; zum Verfassungsbegriff der Statistik id., 1995, 71-75 m.w.N. 25 Dies zeigt deutlich der Untertitel der Erstausgabe von „De VEsprit des lois" von 1748, der später wegfiel: „Du rapport que les lois doivent avoir avec la constitution de chaque gouvernement, les mceurs, le climat, la religion, le commerce etc." (zitiert nach Mohnhaupt, Verfassung 1, 1995, 42f). Livre XXIV, Chapitre XVI trägt die Überschrift: „Comment les lois de la religion corrigent les inconvenients de la constitution politique." Der Titel des Livre XI lautet: „Des lois qui forment la liberty politique dans sön rapport avec la constitution." Lediglich im berühmten Chapitre VI des Livre XI („De la constitution de l'Angleterre") kann „constitution" auch normativ gelesen werden: „Voici done la constitution fondamentale du gouvernement dont nous parlons." (Montesquieu, Esprit des lois (1748), 1995,339). 26 Nach Kant ist das öffentliche Recht „ein System von Gesetzen für ein Volk, d.i. eine Menge von Menschen, oder für eine Menge von Völkern, die, im wechselseitigen
Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung Es ist also - mit den gemachten Einschränkungen - in der Tendenz richtig27, von einem älteren faktisch-zuständlichen Verfassungsbegriff zu sprechen, der im Konstitutionalismus weitgehend von einem normativen Begriff abgelöst wurde und erst nach Einführung und Etablierung der Verfassungsurkunden wieder auftauchte.28 Insbesondere in der neuen Disziplin der Soziologie fand der faktische Verfassungsbegriff zunehmendes Interesse.29 Der Nationalsozialismus schließlich verabsolutierte die faktische Verfassung.30 Die zweite Bedeutung von Verfassung ist normativ (Verfassung^,™). Verfassung/vora meint die grundlegenden Vorschriften, die das Zusammenleben einer organisierten Gruppe regeln, also deren normative Grundordnung.31 Der Hauptfall der normativen Verfassung ist die Staatsverfassung. Ganz überwiegend wird der moderne normative Begriff der Staatsverfassung als Produkt der
Einflüsse gegeneinander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden." (Kant, Metaphysik der Sitten, 1797 (1977), 429; Hervorhebung d. Verf.) 27 Mit Grimm, Verfassung 2, 1995, 13lf. 28 So sagte Ferdinand Lassalle in seiner bekannten Berliner Rede „Über Verfassungswesen" von 1862: „Sie sehen meine Herren, ein König, dem das Heer gehorcht und die Kanonen - das ist ein Stück Verfassung." „Die Herren Borsig und Egels, die großen Industriellen überhaupt - die sind ein Stück Verfassung." „Wir haben jetzt also gesehen, meine Herren, was die Verfassung eines Landes ist, nämlich: die in einem Lande bestehenden tatsächlichen Machtverhältnisse" (Lassalle, Über Verfassungswesen, 1993 (1862), 17, 20 und 23 (Hervorhebungen ausgelassen). Georg Jellinek reichte „das Dasein einer faktischen, die Staatseinheit erhaltenden Macht, um dem Minimum von Verfassung zu genügen, dessen der Staat zu seiner Existenz bedarf4 (,Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1914, 505). 29 Max Weber bezeichnete als „Verfassung" „die Art der faktischen, die Möglichkeit, das Gemeinschaftshandeln durch Anordnungen zu beeinflussen, bestimmenden Machtverteilung in einem Gemeinwesen.44 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1976 (1922), 194 (Hervorhebung d. Verf.). Wenn vom „soziologischen Verfassungsbegriff4 die Rede ist, wird oft die (soziologische) Beobachterperspektive mit dem Charakter der untersuchten Sätze verwechselt. Eine Aussage über den normativen Satz »Ausnahmegerichte sind unzulässig44 und seine tatsächliche Durchsetzung etc., macht aber diesen Satz nicht deskriptiv. 30 So hieß es, daß die Verfassungsurkunde niemals die „eigentliche Verfassung44 sei, sondern „nur Ausstrahlungen und Niederschläge des ungeschriebenen Verfassungskerns44. Die eigentliche Verfassung sei „überhaupt kein Inbegriff von ausdrücklichen Bestimmungen, von geschriebenen Rechtssätzen, von festen Organisationen und Institutionen. Der Kern der Verfassung ist die ungeschriebene lebendige Ordnung, in der die politische Gemeinschaft des deutschen Volkes ihre Einheit und Ganzheit findet44 (E. R. Huber, Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 1937/1939, 55). Dieses Verfassungsverständnis ist bereits in Carl Schmitts Charakterisierung von Verfassung als Entscheidung - nicht als Norm - angelegt (Schmitt, Verfassungslehre, 1928,23f). 31 Vgl. Duden 8, 1995, 3649; Fellmann, Constitutional Law, Encyclopedia Britannica 5,1980, 84; Grand Larousse encyclop£dique 3,1960,428.
I. Faktische und normative Verfassung
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konstitutionellen Bewegung des 18. und 19. Jahrhunderts angesehen.32 Dieser knüpft jedoch an antike und mittelalterliche Verständnishorizonte an. Aristoteles verstand zwar - wie bereits erwähnt - unter „Verfassung" (TioAixeia) primär die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse, jedoch meint er mit „Verfassung" an anderer Stelle grundlegende Vorschriften über die Staatsordnung, Kompetenzverteilung und Staatsziele.33 Auch Cicero verwendete „constitutio" stellenweise im Sinne von normativer Ordnung.34 Seit dem 16. Jahrhundert wurden grundlegende Vorschriften zur Ordnung des Staates (meist in vertraglicher Form) „leges fundamentales" genannt, oft auch im Zusammenhang mit „constitutiones".35 Zu diesen Fundamentalgesetzen werden beispielsweise die Goldene Bulle (1356), der Allgemeine Landfrieden (1548), der Augsburger Religionsfriede (1555) oder der Westfälische Friede (1648) gezählt,36 auch die Wahlkapitulationen der Kurfürsten mit dem Kaiser des Heiligen Römischen
32 Siehe etwa Badura, Verfassung, Evang. Staatslex. 1987, Sp. 3738, der die Anknüpfung an Antike und Mittelalter für rein äußerlich hält. 33 „Staatsverfassung meint nämlich die Ordnung für die Staaten mit Rücksicht auf die Ämter, auf welche Weise sie zugeteilt sind, was die Entscheidungsinstanz über die Verfassung ausmacht und was das Ziel einer jeden Gemeinschaft ist." Aristoteles, Politik, 1289al5ff (Ausgabe 1989, S. 203). 34 Vgl. Cicero, Der Staat, Erstes Buch, 45: Die „zusammengesetzte und maßvoll gemischte Staatsverfassung" („constitutio rei publicae") „verfugt erstens über eine gewisse Gleichheit in hohem Maße, die länger die Freien kaum entbehren können, zweitens über Stärke, weil einerseits jene erstgenannten Formen leicht in die gegenteiligen Fehl erscheinungen umschlagen,..."; Id., Zweites Buch, 21: „Jetzt wird jener Ausspruch Catos klarer, daß die Verfassung unseres Staates Sache weder einer Zeit noch eines Menschen sei; denn es ist offenbar, welch gewaltiger Zuwachs an Gutem und Nützlichem unter jedem einzelnen König eintritt." Siehe zum Verfassungsbegriff der römischen Republik Grziwotz, Das Verfassungsverständnis der römischen Republik, 1985; auch Mohnhaupt, Verfassung 1, 1995, 10-14. 35 Johann Stephan Pütter stellt 1777 fest: „Die meisten Landesgrundgesetze, die jetzt in fast allen teutschen Ländern unter dem Namen Recesse, Abschiede, Verträge, Vergleiche, Compactate, Reversalien u.s.w. bekannt sind, haben deswegen erst seit dem Ende des XV. Jahrhunderts ihren Anfang genommen,..." (Pütter, Vom Ursprung der Landeshoheit, 1777, 128f, Hervorhebung d. Verf.). Siehe zur Einbürgerung der Ausdrücke „lex fundamentalis"/„Lois fondamentales"/„fundamental laws"/„Grundgesetz", daneben auf englisch und französisch „constitution" Mohnhaupt, Verfassung 1, 1995, 36-48, 62-66; Stourzh, Naturrechtslehre, leges fundamentales und die Anfänge des Vorrangs der Verfassung, 1995,17. 36 So in Johann Georg Gritschs „Sammlung des heil. Römischen Reichs GrundGesetze, Friedens-Schlüße, und Satzungen". Die Sammlung enthält nur diejenigen „Reichs-Gesetze, so entweder unmittelbar einen Einfluß in die innere ReichsVerfassung haben, oder doch damit verknüpftet sind". „Die andere Gattung fasset diejenigen Gesetze in sich, die zwar auch allgemeine Reichs-Geschäffte und Rechte angehen, inzwischen dem Wesen nach mit jenen nicht von einerley Erheblichkeit sind; wohin das Münz-Policey und Justiz-Wesen, ferner den Militair-Etät betreffende Verordnungen zu zehlen." (Gritsch, Der auserlesenen Sammlung des heil. Römischen Reichs GrundGesetze, Friedens-Schlüße, und Satzungen/Erster Theil, 1737, Vorrede).
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
Reiches seit 1516. Die leges fundamentales zielten auf Begrenzung der Herrschermacht einerseits und Sicherung der Ständerechte andererseits ab und gelten „als wichtigste Vorläufer der heutigen Verfassungen, als eine Art Verfassungsurkunde."37 Als erste moderne (Staats-)Verfassungsdefinition (VerfassungAtorm) gilt die des Emer de Vattel von 1758. Vattel erklärt: ,,[L]e reglement fondamental qui determine la maniere dont l'Autorite Publique doit etre exercee est ce qui forme la Constitution de l'Etat." 38 Was Form und Entstehungsart betraf, wurde ungefähr ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weder der Herrschaftsvertrag39 noch die vom Fürsten oktroyierte Charte, sondern nur noch die einseitig vom Volk, dem pouvoir constituant, gegebene schriftliche Urkunde als Verfassung anerkannt.40 Auch inhaltlich verengte sich der Verfassungsbegriff, so daß nur noch bestimmte (legitime) Festlegungen als Verfassung galten, dazu später.41 Neben dem Staat haben vor allem sonstige territorial organisierte Einheiten normative Verfassungen42: So sprechen wir von Bundesstaats-, Landes- und Gemeindeverfassungen. Darüber hinaus werden normative Grundordnungen von primär personal organisierten, nicht radizierten Einheiten oder Institutionen „Verfassung" genannt. Wir kennen die Gerichtsverfassung, die Betriebsverfassung, die Vereinsverfassung, die Verfassung einer politischen Partei, die ständische Verfassung, die kanonische Verfassung, nach älterem Sprachgebrauch auch die bürgerliche Verfassung. Insbesondere die Gründungsverträge Internationaler Organisationen werden vielfach - auch amtlich - als Verfassung bezeichnet.43 Bekannte Beispiele sind die „Verfassung der Internationalen Arbeitsorganisation" vom 9. Oktober
37 Oestreich, Vom Herrschaftsvertrag zur Verfassungsurkunde, 1977, 60f; in diesem Sinn auch Mohnhaupt, Die Lehre von der „Lex Fundamentalis" und die Hausgesetzgebung europäischer Dynastien, 1982, 8f. 38 de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle appliquös ä la conduite et aux affaires de Nations et des Souverains, 1758, livre I, chap. III, § 27 (S. 31). 39 Siehe zur Konzeption der Verfassung als Vertrag unten S. 224ff. 40 Siehe zur Lehre vom pouvoir constituant unten S. 363ff. 41 Siehe unten S. 63ff. 42 Das Bundesverfassungsgericht geht von der Verfassungsfähigkeit unterstaatlicher Gebietskörperschaften aus: „Ob die Länder der Bundesrepublik «Staaten* sind oder von Körperschaften am Rande der Staatlichkeit1 zu ,höchstpotenzierten Gebietskörperschaften4 in einem dezentralisierten Einheitsstaat herabsinken, läßt sich nicht formal danach bestimmen, daß sie eine eigene Verfassung besitzen ..." (BVerfGE 34, 9, 19 (1972)). 43 Ausfuhrlich in Verfassungsperspektive zu Gründungsverträgen von internationaler Organisationen wohl erstmals Jenks, Some Constitutional Problems of International Organizations, BYIL 1945, 11-72; Bezeichnung als Verfassung in neuerer Zeit etwa bei Schermers/Blokker, International Institutional Law, 1995, § 1145.
I. Faktische und normative Verfassung
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194644 und die „Konstitution der Internationalen Fernmeldeunion" vom 22. Dezember 1992. 45 Das Gründungsstatut der Weltgesundheitsorganisation vom 22. Juli 1946 heißt in den authentischen Vertragssprachen Englisch und Französisch „Constitution".46 Ebenfalls eine „Constitution" haben die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) 47 und die Organisation der Vereinten Nationen für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) 4 8 1991 nannte die Kommission des Europarates die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ein „instrument constitutionnel de 1'ordre public europeen dans le domaine des droits de l'homme".49 In der Literatur wird insbesondere die Charta der Vereinten Nationen als deren Verfassung bezeichnet,50 was mit dem allgemeinen Sprachgebrauch und lexikalischen Angaben zu „Charta" als synonym zu „Verfassungsurkunde" im Einklang steht (Man denke an die Magna Charta Libertatum von 1215 und die kanadische Charta der Rechte und Freiheiten von 1992). Die Grundstatuten von Verbänden, die keine „high politics" betreiben, werden allerdings vielfach nicht Verfassung, sondern Satzung oder Statut genannt (Gemeinde-, Vereins-, Ordens-, Parteisatzungen). Trotzdem kann man aus offiziellen Bezeichnungen wie Völkerbundsatzung oder WHO-Satzung nicht auf einen unpolitischen Charakter der betreffenden Organisationen schließen, weil
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BGBl. 1957 II, 317 (i.d.F. v. 25. Juni 1953). BGBl. 1996 II, 1316ff mit Änderungsurkunde id., 1415. Ursprünglich war Grundlage der internationalen Fernmeldeunion (ITU) der internationale Fernmeldevertrag von 1982. An dessen Stelle sind die Konstitution und Konvention von 1992 getreten. Die Konstitution, deren Bestimmungen durch diejenigen der Konvention (id., I340ff) ergänzt werden, ist dabei die grundlegende Urkunde der ITU (K. Ipsen, Völkerrecht, 1999,815). 46 UNTS 14, Nr. 221; BGBl. 1974 II, 43 (i.d.F. v. 28. Mai 1959) (deutsche nichtauthentische Übersetzung als „Satzung"). Siehe auch das IGH-Gutachten „Legality of the Use by a State of Nuclear Weapons in Armed Conflict (Request by the World Health Organization for an Advisory Opinion)", ICJ Reports 1996, 66ff, Rdn. 19 zum institutionellen, nicht bloß vertraglichen Charakter des Gründungsstatuts. 47 Constitution of the Food and Agricultural Organization of the United Nations v. 16. Okt. 1946, UNYB 1946-47, 693ff. 48 Constitution of the United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization v. 16. Nov. 1945, UNTS 4, Nr. 52 (S. 275). Gründungsakte weiterer internationaler Organisationen, die amtlich Verfassung heißen, sind in Peaslee, International Governmental Organizations, 1961, XXXI, genannt. 49 Loizidou v. Türkei, Entsch. v. 4. März 1991, abgedr. in RUDH 3 (1991), 193ff, 201, Rdn. 22. 50 Siehe nur Alf Ross' Monographie mit dem Titel „Constitution of the United Nations" aus dem Jahr 1950; aus neuerer Zeit Simma, From Bilateralism to Community Interest in International Law, 1994, 258-262; Fassbender, UN Security Council Reform and the Right of Veto, 1998, 89-115; Macdonald, The Charter of the United Nations in Constitutional Perspective, Austr. YIL 1999,205-231. 45
Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung die Namengebung in anderen Sprachen abweicht (Covenant of the League of Nations, Constitution of the WHO). 5 1 Die angeführten Beispiele zeigen, daß das Grundstatut der Europäischen Union im Einklang mit dem herkömmlichem Sprachgebrauch problemlos als normative Verfassung bezeichnet werden kann. Andererseits ist in der Alltagsund der Rechtssprache der Ausdruck Verfassung ohne näheren Zusatz nur der Staatsverfassung vorbehalten. Auch werden zwar alle anderen Verfassungen, niemals aber die Staatsverfassung, auch gelegentlich Satzung oder Statut genannt. Der Sprachgebrauch vereinheitlicht also einerseits, unterstreicht aber andererseits die Herausgehobenheit der Staatsverfassung. Dies trägt der Tatsache Rechnung, daß die Staatsverfassung bis heute der wichtigste und bekannteste Fall von Verfassung bleibt.
2. Der doppelte Verfassungsbegriff Jede normative Verfassung eines politischen Gemeinwesens ist zweifach auf seine faktische Verfassung bezogen. Verfassung/^,™ ist einerseits der juristische Niederschlag bestimmter ideologischer und sozialökonomischer Voraussetzungen, die ihren Inhalt und ihre Verwirklichung mitbestimmen. Sie hat aber gleichzeitig den Anspruch und die Aufgabe, diesen Zustand durch Normen zu beeinflussen, indem sie ihn stabilisiert und verändert.52 Um diese Steuerungswirkung zu erreichen, müssen Verfassungsschöpfer, -änderer und -anwender die faktischen Gegebenheiten, einschließlich der tatsächlich vorhandenen Wertvorstellungen der Gemeinschaft beachten. Daß die normative Verfassung in das gesellschaftlich-historische Sein organisch eingebettet sein muß, wurde vor allem in der Romantik und der historischen Schule (zum Teil mit anti-liberaler Stoßrichtung53) betont - in Gegenre51
Auch etymologisch ist der unpolitische Charakter von „Satzung" nicht vorgegeben. „Satzung" kommt, genau wie „Gesetz" von „satzen". Grimms Wörterbuch gibt als Synonym zu „Satzung": Gesetz, lex, constitutio, civitatis norma (8. Bd., Leipzig 1893, Sp. 1841). 52 Siehe statt vieler Hollerbach, Ideologie und Verfassung, 1969, 51; Badura, Staatsrecht, 1996, A9. Zum Teil wird deshalb unter Normativität der Verfassung nicht nur ihr Steuerungsanspruch, sondern ihre Steuerungskraft verstanden; vgl. etwa Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 42-44. Die Tatsache, daß Verfassungsnormen niemals perfekt in der Wirklichkeit umgesetzt werden, wird insbesondere in Deutschland unter dem Schlagwort „Verfassung und Verfassungswirklichkeit" problematisiert (siehe nur Hennis, Verfassung und Veifassungswirklichkeit, 1968). Zu Recht kritisch zum Terminus „Verfassungswirklichkeit" Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 47. 53 Insbesondere Hegel wandte sich gegen liberale Bestrebungen, aus „abstrakten Grundsätzen" Verfassungen zu machen: „Was eine Verfassung sein soll, ist ein Resultat
I. Faktische und normative Verfassung
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aktion auf das mechanistische, rationalistische, ahistorische Verfassungskonzept der frühen Aufklärer. Auch Wilhelm von Humboldt schrieb: „Jede Verfassung, auch als ein bloß theoretisches Gewebe betrachtet, muß einen materiellen Keim ihrer Lebenskraft in der Zeit, den Umständen, dem Nationalcharakter vorfinden, der nur der Entwicklung bedarf. Sie rein nach Principien der Vernunft und Erfahrung gründen zu wollen, ist im hohen Grade mißlich... ." 54 Heute ist allgemein bekannt, daß Akzeptanz und Durchsetzbarkeit der Verfassung von vornherein in Frage gestellt wäre, wenn die Norm nicht an die realen Gegebenheiten und Entwicklungschancen anknüpfte, sondern sich auf unerreichbare Ideale ausrichtete.55 Dann würde das Verfassungsrecht seine Steuerungskraft verlieren und wäre letztlich irrelevant. Wenn aber die für den Erhalt der Steuerungsfähigkeit der Verfassung notwendige Anpassung ihrer Normen an die gesellschaftliche Wirklichkeit zu weit getrieben wird, so daß die Verfassung nur noch die tatsächlichen Machtverhältnisse, soziale Strömungen und Ideologien widerspiegelt, schlägt Flexibilität wiederum in Steuerungsverlust um. 56 Die Verfassung muß also dasrichtigeMaß an Responsivität wahren. Insofern spricht man zu Recht von einer Wechselbezüglichkeit von faktischalles vorhergehenden, niemand steht ausser seiner Zeit, die Grundsätze pp. sind jedesmal ein Resultat der Zeit und bei den Liberalen ist das Denken in der Abstraktion stehen geblieben, sonst wären sie nicht auf die Idee gekommen, daß eine Verfassung zu machen ist..." CHegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831 IV, 1974 (18181831), 659f). Die Verfassung ist „kein bloß Gemachtes: sie ist die Arbeit von Jahrhunderten, die Idee und das Bewußtseyn des Vernünftigen, in wie weit es in einem Volk entwickelt ist. Keine Verfassung wird daher bloß von Subjekten geschaffen ... Das Volk muß zu seiner Verfassung das Gefühl seines Rechts und seines Zustandes haben, sonst kann sie zwar äußerlich vorhanden seyn, aber sie hat keine Bedeutung und keinen Werth" {Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1928 (1821), § 274, Zusatz (S. 3770). 54 Humboldt, Denkschrift über die deutsche Verfassung, 1922 (1813), 91. Siehe auch Lorenz von Stein: ,,[D]as Verfassungsrecht entsteht nicht aus dem Recht der Gesetze, sondern aus dem Recht der Verhältnisse" (von Stein, Zur preußischen Verfassungsfrage, 1961 (1852), 36). 55 Isensee, Staat und Verfassung, 1987, Rdn. 132; siehe bereits Heller, Staatslehre, 1963 (1934), 251-259. Vgl. auch Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, 1973,35: Stärke oder Schwäche einer Verfassung hängen nicht allein von ihrer juristisch greifbaren Wirksamkeit ab, sondern von der Fortdauer des in der Verfassunggebung bezeugten Konsenses und der gesellschaftlichen Ambiance ab, in der die Verfassung zu verwirklichen ist. 56 Im heutigen Europa scheint namentlich dasfranzösische Verfassungsverständnis, das stark politikwissenschaftlich beeinflußt ist, Gefahr zu laufen, die Normativität dem gesellschaftlichen Sein unterzuordnen. So zitieren Gicquel/A. Hauriou, Droit constitutional et institutions politiques, 1985, 24 zustimmend Napoleon: „Aucune constitution d'est restäe telle qu'elle a 6t6 faite. Sa marche est toujours subordonnee aux hommes et aux circonstances" (Hervorhebung d. Verf.) Auch die weitgehende Zulassung der „coutume constitutionnelle" geht in diese Richtung (dazu kritisch Camy, Le retour au däcisionisme, R.D.P. 1996,1019-1067).
Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung zuständlicher und normativer Verfassung57 und kennzeichnet das als „doppelten Verfassungsbegriff4.58 Diese Betrachtungsweise wurde erstmals von Rudolf Smend,59 Hermann Heller60 und Dietrich Schindler51 herausgearbeitet. Smend bezeichnete das Verhältnis von faktischer und normativer Verfassung als ein „Kernproblem der Verfassungstheorie",62 Heller nannte es das „Grundproblem aller Rechts- und Staatssoziologie".63 Nach dem II. Weltkrieg nahm vor allem Karl Loewenstein64 die Problematik auf. Zu ihrer Zeit bildete die dialektische Sichtweise die Gegenbewegung zu zwei einseitigen Positionen, nämlich der rechtspositivistischen, totalen Ausklammerung des Verhältnisses des Rechts zur gesellschaftlich-politischen Situation auf der einen Seite65 und der These von der normativen Kraft des Faktischen66 auf der anderen Seite, zwei Extrempositionen, die letztlich zu einer „Kapitulation [des Normativen] vor der Macht der
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Siehe nur Lerche, Stiller Verfassungswandel als aktuelles Politikum, 1971, 285; Isensee, Staat und Verfassung, 1987, Rdn. 131 f. Auch Ulrich Scheuner betont diese Wechselbezüglichkeit, wenn er Verfassung bezeichnet als „auf die Zukunft ausgerichteten Entwurf künftiger Ordnung", „wobei sie den durch vorausgehende politische Vorgänge geschaffenen Zustand zum Ausgang nimmt". Scheuner, Verfassung, Evang. Soziallex., 1980, Sp. 1364. 58 Vgl. nur Isensee, Staat und Verfassung, 1987, Rdn. 144. 59 „Als positives Recht ist die Verfassung nicht nur Norm, sondern auch Wirklichkeit; als Verfassung ist sie integrierende Wirklichkeit". Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 192. Siehe zur Dialektik auch id., 187-189. 60 Insb. Heller, Staatslehre, 1963 (1934), 249-269 (stellt die „politische Verfassung als gesellschaftliche Wirklichkeit" der verselbständigte^] Rechtsverfassung" gegenüber). „[N]eben dieser normativen Kraft des faktisch Normalen ... kommt der normalisierenden Kraft des Normativen eine durchaus eigene und sehr grosse Bedeutung zu" (id., 252). 61 Schindler, Verfassungsrecht und soziale Struktur, 1944 (1931), passim, insb. 15f; vgl. auch Schmitt, Verfassüngslehre, 1928, 4-11 (Verfassung als „Daseinsweise" gegenüber Verfassung als „Norm der Normen"). 62 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 188. 63 Heller, Staatslehre, 1963 (1934), 253. 64 Loewenstein, Verfassungslehre, 1959, 152: „Um lebendig zu sein, genügt es nicht, daß eine Verfassung im Rechtssinne gültig ist. Um wirklich und wirksam zu sein, muß sie von allen Beteiligten getreulich befolgt werden, sie muß in die Staatsgesellschaft und die Staatsgesellschaft in sie hineingewachsen sein. Verfassung und Gemeinschaft müssen eine Symbiose eingegangen sein." An anderer Stelle propagierte er eine „Symbiose der positivrechtlichen und der wirklichkeitsgerechten Betrachtungsweise", da die „Gemeinschaftsordnung eines Volkes" aus dem „Knochengerüst" der Staatsordnung und dem „Muskelspiel" des politischen Prozesses (Loewenstein, Staatsrecht und Staatspraxis von Großbritannien 1, 1967, VIII). 65 Kelsen z.B. forderte, daß die „Allgemeine Staatslehre als Wissenschaft aufs schärfste von Politik getrennt werden" müsse CKelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, 44); siehe auch Bergbohm 1892, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie 1, passim. 66 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1914,338-344.
II. Formelle und materielle Verfassung
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Fakten" geführt hatten. 67 Auch in der dialektischen Perspektive lautet die richtige Fragestellung: Welches Milieu braucht die Verfassung, damit sie die Wirklichkeit formen kann (und zu diesem Zwecke der Wirklichkeit auch in gewissem Maße folgen muß)? Ziel bleibt der normative Selbststand der Verfassung.
Das Spannungs- und Wechselwirkungsverhältnis zwischen zuständlicher und normativer Verfassung ist in bezug auf die europäische Verfassung bedeutsam. Es wird nicht erst nach der Verabschiedung einer förmlichen Verfassungsurkunde relevant,68 sondern bereits in deren Vorfeld, und im Zuge der Entwicklung von materiellem Verfassungsrecht durch Gemeinschaftsorgane und Mitgliedstaaten. Soll die europäische normative Verfassung auf Dauer Verwirklichungschancen haben, muß sie sich an der faktischen orientieren. Hier stellt sich die Frage, ob die gegenwärtige faktische Verfassung Europas überhaupt „reif ist für eine europäische normative Verfassung. Mit Anklängen an Hegel, nach dem Verfassungen „nur ein Produkt, eine Manifestation des eigentümlichen Geistes des Volkes" sind 69 , wird teilweise die Möglichkeit einer europäischen normativen Verfassung unter Verweis auf das mangelnde historischkulturelle Substrat in Frage gestellt. Hierauf wird im Zusammenhang mit der Frage der demokratischen Legitimation einzugehen sein. 70
I I . Formelle und materielle Verfassung Die wissenschaftliche Begriffsbildung von „Verfassung im formellen Sinne" und „Verfassung im materiellen Sinne" 71 ist mißverständlich, weil es sich nicht um zwei verschiedene Arten von Verfassung handelt. Die üblichen formellen Verfassungseigenschaften sind: (1) Schriftliche Beurkundung und feierliche Verabschiedung in einem einmaligen Akt; (2) Vorrang vor einfachem Recht; (3) erschwerte Abänderbarkeit (teilweise sogar mit änderungsfestem Kern).
67
Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, 1973,137. Zwar tauchte natürlicherweise die Frage der hinter der normativen Verfassung liegenden Faktoren erst nach der Erreichung des ersten Ziels, der Verabschiedung förmlicher Verfassungen im 19. Jahrhundert auf. Denn erst als diese die mit ihr verbundenen hohen Erwartungen (der schlagartigen Umgestaltung der politischen Verhältnisse) nicht erfüllten, schaute man zurück auf die politisch-soziale Verfassung. Grimm, Verfassung 2, 1995,100. 69 Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818-1831 IV, 1974 (1818-1831), 663. 70 Siehe unten S. 65Iff u. 662ff. 71 Erstmals wohl im Ansatz bei Carl von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts und der Staatswissenschaften 2, 1964 (1840), Anm. auf 180f; deutlicher Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1914, 506 und 508; siehe auch Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994(1928), 237f. 68
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
Der Rechtspositivismus der Jahrhundertwende definierte die Verfassung ausschließlich anhand formeller Merkmale. Die formellen Eigenschaften waren notwendig und hinreichend, so daß über die Verfassungsurkunde hinaus kein materielles Verfassungsrecht möglich war. 72 Umgekehrt sind in den Ländern, die keine geschriebene, zusammenhängende, formale Verfassungsurkunde besitzen, wie etwa England, keinerlei formelle Verfassungseigenschaften anerkannt. Verfassungsrecht wird hier ausschließlich materiell definiert: Es muß „something fundamental"73 an sich haben, genießt aber keinen Vorrang und keine Änderungsfestigkeit. Heute ist in Europa ein nichtpositivistischer Verfassungsbegriff herrschend. Bestimmte formelle Eigenschaften allein, wie etwa die feierliche Verabschiedung in einer Urkunde, können einen inhaltlich beliebigen Rechtstext nicht zu einer Verfassung im anerkannten Sinne machen. Es muß sich in materieller Hinsicht um Normen handeln, die bestimmte Inhaltskategorien umfassen, nach engerem Verständnis sogar bestimmte konkrete Inhalte. 74 Es ergeben also formelle und materielle Eigenschaften zusammen die Verfassung, wobei nicht jede einzelne Norm alle formellen und materiellen Eigenschaften aufweisen muß. Einzelne Vorschriften können nur formell Verfassungsrecht sein, wenn sie zwar aus bestimmten politischen Gründen in die Urkunde aufgenommen wurden, aber nicht eigentlich inhaltsmäßig verfassungswürdig sind. Umgekehrt werden Normen, die fur die Herrschaftsausübung fundamentale Bedeutung haben, aber nicht in der Verfassungsurkunde kodifiziert sind (wie etwa in der Bundesrepublik das Wahlrecht), als nur-materielles Verfassungsrecht auch zur Verfassung gezählt, obwohl sie an wichtigen Verfassungswirkungen, wie der Fähigkeit zur Derogation von entgegenstehendem einfachen Recht nicht teilhaben. Die Zusammengehörigkeit der formellen und der materiellen Verfassungseigenschaften charakterisiert den Konstitutionalismus. Dieser entwickelte sich ja um Inhalte herum, insbesondere um die Idee der unverletzlichen Menschenrechte und der daraus folgenden Notwendigkeit der Mäßigung und Teilung der Staatsgewalt. Die Forderung nach einer schriftlichen Verfassungsurkunde (mit Vorrang und erschwerter Abänderbarkeit) diente der Verwirklichung dieser Ideale. Weil die Verfassungsinhalte wichtig sind, werden sie feierlich und autoritativ in einer Urkunde festgeschrieben. Was wichtig und wesentlich ist, beansprucht natürlicherweise einen besonderen Rang und ist vor Abänderung zu schützen. Die formellen Verfassungseigenschaften sind also Konsequenz der
72 Labandy Das Staatsrecht des Deutschen Reiches 2, 1964 (1911), 72f (Verfassung definiert als erschwert abänderbares Gesetz). 73 Turpin, British Government and the Constitution, 1995,4. 74 Zum inhaltsneutralen und inhaltlich festgelegten (legitimistischen) Verfassungsbegriff unten S. 63ff.
II. Formelle und materielle Verfassung
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materiellen Eigenschaften. Sie bringen ihrerseits einen inhaltlichen Gewinn: Durch die Urkunde wird Transparenz, Rechtsklarheit und Rechtsgewißheit geschaffen, also dem Rechtsstaat genügt. Die Kodifizierung in einer Urkunde erleichtert den klaren und eindeutigen Vorrang und somit die Verfassungskontrolle, womit wiederum die Steuerungskraft und Maßgeblichkeit der Verfassung aufrechterhalten wird. Die erschwerte Abänderbarkeit ermöglicht erst die Grundlagen- und Stabilisierungsfunktion der Verfassung, letztlich ihre Eigenschaft als Grundordnung des Gemeinwesens, und dient schließlich dem Minderheitenschutz. Die üblicherweise als formell und materiell bezeichneten Verfassungseigenschaften stehen also in einer Wechselbeziehung. Die formellen Eigenschaften sind Ausdruck und gleichzeitig Förderer bestimmter inhaltlicher Vorstellungen.75 Solange man sich dieses Verhältnisses bewußt bleibt, mag man von formeller und materieller Verfassung sprechen, übertragen auf die europäische Verfassung von „acquis formel" und „acquis substantiell" 76 oder von „constitutionnalisation formelle" und „constitutionnalisation substantielle".77
1. Zur Bedeutung von Verfassungsurkunden „La Constitution, ä Torigine, est d'abord un acte ecrit". 78 Dies gilt jedenfalls für den modernen, nordamerikanischen und kontinentaleuropäischen Verfassungsbegriff. Die Forderung nach einer Verfossungsurkunde war die erste, vorrangige Forderung der konstitutionalistischen Bewegung, in den Vereinigten Staaten nicht zuletzt als Reaktion gegen die ungeschriebene englische Verfassung. Schon etymologisch ist die schriftliche Beurkundung eng mit dem Begriff der Verfassung verknüpft. Bereits ab dem 14. Jahrhundert entwickelte sich eine Bedeutungslinie von „Verfassung", die dazu fuhrt, daß insbesondere seit dem 17. Jahrhundert „Verfassung" auch Vereinbaren, Abfassen, Ordnen, schriftliches Absetzen eines Textes bedeutet.79 Die Gründungspakte der Pilgerväter 75 Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, 1973, 32: „Die raison d'etre der Verfassung geht nicht aus den formellen Eigenschaften des Verfassungsgesetzes, dessen Vorrang und dessen erschwerter Abänderbarkeit, hervor... Diese formellen Eigenschaften des Verfassungsgesetzes sind Mittel, um die normativen Ziele zu verwirklichen, die von der Verfassung erwartet werden." 76 Pescatore, Aspects judiciaires de 1\,acquis communautaire", RTD Eur. 1981, 621 und 638. 77 Gerkrath, [/emergence d'un droit constitutionnel pour F Europe, 1997, 216. 78 D. Rousseau, Une resurrection: La notion de Constitution, R.D.P. 1990, 5. 79 Dazu Mohnhaupt, Verfassung 1,1995,22-25,49-53.
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
wurden schriftlich fixiert, um ihren feierlichen Charakter zu bekräftigen.80 Die hohe Autorität und der damit verbundene Anspruch auf Dauerhaftigkeit der Verfassungsverträge wurde durch die Beurkundung hervorgehoben und gleichzeitig befördert. Die Verfassungsurkunde trägt also zur normativen Stabilisierung bei. In der europäischen Aufklärung wurde der Staat als künstliche Maschine aufgefaßt, die planmäßig konstruiert werden konnte. 81 Diese Vorstellung beförderte die Idee der geschriebenen Verfassung, die den (kontext- und geschichtsunabhängigen) Bauplan der Staatsmaschine darstellte. Die Urkunde ist insofern ein Element der bewußten, planmäßigen Systematisierung und Rationalisierung der Verfassung. Vor allem schafft die Festlegung des Verfassungsinhalts in einer Urkunde Rechtssicherheit und -klarheit und hat damit herausragende rechtsstaatliche Bedeutung.82 Trotzdem ist die Zusammenfassung und Beurkundung des Verfassungsrechts kein unabdingbares Wesensmerkmal von Verfassung. Dies zeigen schon die heutigen Verfassungsstaaten ohne Verfassungsurkunde, wie England. 83 Auch muß man sich klarmachen, daß es in Wirklichkeit weder vollkommen „ungeschriebene" Verfassungen, noch vollständig „geschriebene" Verfassungen gibt. In den Staaten ohne formales, zusammenhängendes Verfassungsdokument sind zahlreiche Einzelregelungen mit Verfassungsgehalt schriftlich fixiert, etwa in Form von Gesetzen. Eine Mittelposition nehmen Israel sowie die skandinavischen Staaten Finnland und Schweden ein, die nicht eine Verfassungsurkunde besitzen, sondern jeweils mehrere Verfassungsgesetze.84 Auf der anderen Seite sind in den Staaten, die eine Verfassungsurkunde besitzen, die in dieser enthaltenen Regeln durch eine zum Teil sehr erhebliche Masse von nichtkodiflziertem
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Jellineky Allgemeine Staatslehre, 1914, 511. So forderte Emmanuel Joseph Sieyes, den „Mechanismus der Gesellschaft" „wie eine gewöhnliche Maschine zu analysieren" (Sieyes, Was ist der dritte Stand?, 1981 (1789), 164). Zur Bauplanmetapher H. Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, 1986, 290-292. 82 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 32. 83 Darüber hinaus hat Bhutan bis heute, das Sultanat Oman hatte bis 1996 keine geschriebene Verfassungsurkunde. In Saudi-Arabien ist die staatliche Grundordnung in sechs königlichen Dekreten von 1992/93 festgelegt. 84 Die israelische Verfassung besteht aus neun Grundgesetzen und weiteren Dokumenten mit verfassungsrechtlicher Relevanz, wie etwa der Unabhängigkeitserklärung von 1948 und dem Gleichberechtigungsgesetz von 1951. Nach Art. 1 des finnischen Verfassungsgesetzes v. 1919/1994 ist die demokratische Verfassung Finnlands im Verfassungsgesetz und in anderen verfassungsbezogenen Gesetzen des Parlamentes niedergelegt, wozu das Parlamentsgesetz, das Gesetz über Ministerialverantwortung und das Gesetz über das Oberste Amtsenthebungsgericht zählen. Die schwedische Verfassung besteht aus 4 Gesetzen mit Verfassungsrang (Regierungsform (1974), Thronfolgegesetz (1810), Pressefreiheitsgesetz (1949), Meinungsfreiheitsgesetz (1991)). 81
II. Formelle und materielle Verfassung
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Verfassungsrecht überlagert. Insofern macht Vorhandensein oder Fehlen einer formellen Verfassungsurkunde in der Lebenswirklichkeit nur einen graduellen Unterschied aus.85 Die theoretische Überhöhung des einheitlichen, einzigen Verfassungsdokuments hat nicht praktische, sondern tiefsitzende historische Gründe. Sie ist untrennbar mit dem Etatismus der Neuzeit verknüpft und fällt mit dessen Überwindung. Wie Hermann Heller herausgestellt hat, ist die moderne Verfassung nicht eigentlich durch ihre schriftliche Form, sondern dadurch gekennzeichnet, daß in einem einzigen Dokument der Gesamtaufbau des Staates geregelt werden sollte. Darin drückte sich der „bewusste Wille zur einheitlichen Bestimmung des politischen Schicksals" aus. Die Forderung einer „Verfassung im Sinne einer planmässigen Ordnung und Einheit des Staates" ist nach Heller als Reaktion auf die dezentralen, durch zahlreiche intermediäre und überlappende Gewalten durchkreuzten politischen Verbände des Mittelalters zu verstehen. Mit der Zentralisierung der Rechtsetzungsgewalt und der weitgehenden Ausschaltung der intermediären Gewalten erhöhte der Staat seine Wirkungskraft und konstituierte sich als eine „bis auf den Boden durchgreifende Einheit und Ordnung." 86 Triebkraft der Verfassungskodifikation war demnach die „Vorstellung, daß von einem Zentrum aus der einheitliche Staat seine grundlegende Gestaltung" empfangen sollte. 87 Gerade diese Einheit des Staates ist aber heute nicht mehr gegeben. Wie noch näher zu erörtern sein wird, können aufgrund der neueren trans- und innerstaatlichen Entwicklungen im technischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereich die heutigen Staaten ihre Aufgaben nicht mehr durch einseitige und isolierte Regelungen erfüllen. 88 Sie müssen vielmehr mit über- und unterstaatlichen Akteuren horizontal und flexibel zusammenarbeiten. Im postmodernen Staat gibt es kaum noch eine „zentrale Entscheidung" und „Einheit der zentralen Wirkung" mehr, deren „Gesamtorganisation eines einheitlichen Planes, einer normativen Verfassung" bedarf. 89 Auch staatliche Verfassungen sind heute - so die im folgenden zu erhärtende These - nur noch Teilverfassungen, die nicht mehr die Totalität der Machtausübung regeln können. In der Konsequenz dieser Entwicklung liegt es, erstens, die Pluralität nebeneinander wirksamer, komplementär aufeinander bezogener Verfassungen zuzulassen und zweitens, die Erwartungen, die an die Beurkundung geknüpft werden, zurückzuschrauben. Der Verfassungsverbund, in dem die europäische und die mitgliedstaatlichen 85 86 87 88 89
Fellmann, Constitutional Law, Encyclopedia Britannica 5, 1980, 86. Heller, Staatslehre, 1963 (1934), 270; Hervorhebung d. Verf. Jelhnek, Allgemeine Staatslehre, 1914, 521; Hervorhebung d. Verf. Siehe unten S. 130ffu. 161 ff. Vgl. noch Heller, Staatslehre, 1963 (1934), 271.
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
Verfassungen zusammenwirken, ist ein Beispiel für Verfassungspluralismus und Teil- anstatt Totalkodifikation. 90
2. Die fehlende europäische Verfassungsurkunde Es gibt gegenwärtig keine ausdrücklich als solche bezeichnete und verabschiedete europäische Verfassungsurkunde, und die Qualifizierung des Unionsvertrages und/oder der Gemeinschaftsverträge als formelle Verfassungsurkunden ist unplausibel. Eine erste Merkwürdigkeit einer solchen Qualifizierung wäre, daß wir in Anbetracht der diversen Gemeinschaftsverträge (EGV, EGKSV und Euratomvertrag), dem Unionsvertrag und weiteren ergänzenden Verträgen mehrere Verfassungsurkunden nebeneinander hätten. Zweitens sind Vorschriften mit materiellem Verfassungsgehalt nicht nur in den multiplen Verträgen, sondern in diversen anderen Texten unterschiedlichster Rechtsqualität verstreut. So erscheint es nach den übereinstimmenden Verfassungsvorstellungen der Mitgliedstaaten plausibel, zu den materiell verfassungskräftigen Normen der Verträge etwa folgende Vorschriften zu zählen 91 : Gründung von Gemeinschaft und Union (Art. 1 EGV, Art. 1 EUV); Ziel- und Aufgabenbestimmungen, Grundwerte und Prinzipien der Gemeinschaft (Art. 2 EUV, Art. 2f EGV); Vorschriften über die Zusammensetzung und Kompetenzen der Organe; allgemeine Prinzipien, die das Verhältnis zwischen Gemeinschaft, Union und Mitgliedstaaten betreffen (Subsidiarität, loyale Zusammenarbeit, begrenzte Einzelkompetenz); Artikel zur Unionsbürgerschaft mit Wahl- und Petitionsrecht (Art. 1721 EGV); grundrechtsähnliche Prinzipien wie das allgemeine Diskriminierungsverbot (Art. 12 EGV), Abgabengleichheit (Art. 90 EGV), Wettbewerbsfreiheit (Art. 81 EGV). Als verfassungskräftig muß aber beispielsweise auch der Grundsatz der Gleichberechtigung der Geschlechter gelten, der lediglich in der Gleichbehandlungsrichtlinie kodifiziert ist. 92 Der dritte und entscheidende Einwand gegen eine pauschale Qualifizierung des Primärrechts als Verfassungsurkunde(n) ist, daß die Gemeinschaftsverträge 90
Zum Verfassungsverbund mit Komplementärverfassungen unten S. 205ff. Bericht des EP-Ausschusses für konstitutionelle Fragen über die Vorschläge des EP für die Regierungskonferenz, EP Dok A5-0086/2000 v. 27. März 2000, Teil II, Ziff. 26.1 ( 13. Juli 2000); Bri6oH7z-Studie des Centre Robert Schuman am Europäischen Hochschulinstituts Florenz v. 15. Mai 2000: Ein Basisvertrag für die Europäische Union: Studie zur Neuordnung der Verträge (25. Juli 2000); vgl. aus der Literatur Dowrick, A Model of the European Communities' Legal System, YEL 1983, 226; Gerkrath, L'&nergence d'un droit constitutionnel pour PEurope, 1997, 319. 92 RL 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976, ABl. 1976 L 39/40. 91
II. Formelle und materielle Verfassung
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zahlreiche technische und administrative Vorschriften enthalten, die nicht m teriell verfassungswürdig sind. Zwar gibt es keine natürlichen oder logischen Vorgaben dafür, welche Normen ihrem Inhalt nach nicht in eine Verfassungsurkunde gehören. Die Ansichten darüber hängen von der Grundeinstellung zur Verfassung ab und können sich über die Zeit wandeln. Deshalb enthalten existierende Verfassungsurkunden zwar typische Inhalte, was jedoch im einzelnen in ihnen enthalten ist bzw. was nicht aufgenommen wurde, hängt von der Tradition, der politischen Zweckmäßigkeit, der Machtlage und weiteren Faktoren ab. 93 Sicherlich kommt auch in nationalen Verfassungsurkunden das bereits erwähnte nur-formelle Verfassungsrecht vor. Dies sind Normen, die nach der aktuellen Verfassungsauffassung nicht grundlegend sind, jedoch trotzdem, aus den unterschiedlichsten politischen oder technischen Gründen, in die Verfassung aufgenommen werden. So werden in der Schweiz zahlreiche technische Einzelheiten über Volksinitiativen Verfassungsartikel, weil sie auf demselben Wege nicht in das einfache Recht hätten aufgenommen werden können.94 Insgesamt besteht wohl bei den meisten europäischen Staatsverfassungen eine gewisse Tendenz zur Anreicherung mit technischen Details. So moniert in Deutschland Rüdiger Zuck: „Schon seit einiger Zeit wird das Grundgesetz als Schublade für die Aufbewahrung des einfachen Rechts mißbraucht. Die Endloskataloge des Art. 23 ... oder des Art. 16a ... und jetzt eben auch des Art. 13 I I bis IV nutzen die Form des Verfassungsrechts und dessen hierarchischen Rang, um beide zur Sanktionierung des einfachen Rechts zu nutzen." 95 Trotzdem ist der Anteil rein technischer, vor allem wirtschaftsverwaltungsrechtlicher Vorschriften in den europäischen Verträgen im Vergleich zu ähnlichen Normen in den nationalen Verfassungsurkunden so erheblich, daß Quantität hier in Qualität umschlägt: Auch wenn in der verfassungsstaatlichen Realität die sogenannte formelle und materielle Verfassung nie vollkommen deckungsgleich sind, muß in bezug auf die europäische Verfassung zugegeben werden, daß die Divergenz zu groß ist, um überhaupt sinnvoll von Verfassung im formellen Sinne sprechen zu können. Es ist deshalb nicht gerechtfertigt, sondern wäre purer Formalismus, der Gesamtheit der mehr als 15 Gründungs-, Änderungs-, Ergänzungs- und Beitrittsverträ-
93
Hierzu Heller, Staatslehre, 1963 (1934), 276f. Vgl. etwa den Übergangsartikel 17 v. 26. Feb. 1984 (Autobahngebühren), und Artikel 27 v. 22. Sept. 1985 (Schuljahresbeginn) zur alten Schweizer Verfassung v. 29. Mai 1874 sowie die Übergangsbestimmungen in Art. 196 der neuen Verf. v. 18. April 1999. Nachweise zu eher technischen Vorschriften der WRV 1918, die aus aktuellen parteipolitischen Interessen in die Verfassung aufgenommen wurden bei Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 12; entsprechend zur RV 1871 und älteren ausländischen Verfassungen Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1914,533. 95 Zuck, Der totale Rechtsstaat, NJW 1999,1519. 94
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
ge insgesamt den Charakter von Verfassungsurkunden (im Plural!) zuzusprechen. 96 Richtigerweise nehmen deshalb eine Reihe von Autoren an, daß europäisches materielles Verfassungsrecht existiert, jedoch (bisher) ohne Verfassungsurkunde; in herkömmlicher Terminologie also eine Verfassung im materiellen, nicht aber im formellen Sinne?1 Diese Differenzierung erklärt auch, daß neben der verbreiteten prinzipiellen Anerkennung des im Gemeinschaftsrecht enthaltenen Verfassungspotentials die Forderung nach der Verabschiedung einer förmlichen europäischen Verfassungsurkunde weiter besteht.98
3. Zum Vorrang der Verfassung Vorrang der Verfassung bedeutet heute normativer Höchstrang in Verbindung mit uneingeschränkter Rechtsverbindlichkeit der Verfassung. Die Vorstellung von besonders wichtigem, höherem Recht, das über den normalen Gesetzen steht, ist sehr alt und von Anfang an mit dem Verfassungsbegriff verknüpft. Bereits Aristoteles führte aus: „Denn man muß die Gesetze nach den Verfassungen (TroXiieiai) einrichten, und sie werden auch alle danach eingerichtet, aber nicht die Verfassungen nach den Gesetzen."99 (Allerdings ist 7ioXiT€ia - wie bereits erwähnt - nicht eindeutig Verfassung im normativen Sinne, so daß hier nicht klar eine normative Rangfolge angesprochen wird). Eine unzweifelhaft normative Höherrangigkeit der Grundverträge und der - ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts so genannten - leges fundamentales wurde von der Naturrechtslehre postuliert. 100 Der Grund des höheren Rangs war die Wichtigkeit und Grundsätzlichkeit der leges fundamentales. Da sie sich nach naturrechtlicher Vorstellung aus göttlichem Gebot oder naturgegebenen Grund96
Im Ergebnis ebenso Bieber, Verfassungsentwicklung der EU, 1998, 211. Eiselstein, Europäische Verfassunggebung, ZRP 1991, 18; V. Constantinesco, L'ämergence d'un droit constitutionnel europäen, RUDH 1995, 446; Bieber, Die Vereinfachung der Verträge zur Errichtung der Europäischen Union, DVB1. 1996, 1337; Tomuschat, Das Endziel der europäischen Integration, DVB1. 1996, 1074; Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1996, 29; Gerkrath, L'Emergence d'un droit constitutionnel pour 1'Europe, 1997, 303; Herzog, Demokratische Legitimation in Europa, in den Nationalstaaten, in den Regionen, Bull. BReg. 25/1999, 242; H P. Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, 1992, Rdn. 9. 98 Zur zukünftigen Verfassungsentwicklung unten S. 483ff. 99 Aristoteles, Politik, 1289a 1 Off (Ausgabe 1989, S. 202). Siehe auch 1282b 10: „Außerdem ist noch das offenbar, daß die Gesetze im Einklang mit der Verfassung vorliegen müssen." (Ausgabe 1989, S. 180). 100 Zum folgenden vor allem Stourzh, Naturrechtslehre, leges fundamentales und die Anfänge des Vorrangs der Verfassung, 1995, 13-28. 97
II. Formelle und materielle Verfassung
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Wahrheiten ableiteten, wohnte ihnen wesensmäßig eine gesteigerte Autorität inne. Dem naturrechtlichen Richtigkeitsanspruch entsprechend war Höherrangigkeit zunächst vor allem mit Dauerhaftigkeit assoziiert.101 Denn das höhere, „richtige" Recht war per definitionem unwandelbar. Dementsprechend war ein Fundamentalgesetz ein unveränderliches Gesetz. Eine prominente Illustration dieser Auffassung ist das dänische Königsgesetz von 1665, das „als die maßgebende Grundlage des Königreichs und seiner Verfassung für immer unwandelbar und unwiderruflich bleiben muß." 1 0 2 Der hier noch erhobene Ewigkeitsanspruch wurde im Laufe der Zeit abgeschwächt und führte im folgenden unter dem Einfluß der Vertragstheorie und der Lehre von der Volkssouveränität zum Postulat, daß die leges fundamentales nicht einseitig durch die Landesherren abänderbar seien, sondern nur mit Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen. 103 Das nur theoretisch eingeforderte, nicht praktisch realisierte Einstimmigkeitserfordernis bildete den Ausgangspunkt für die Entwicklung besonderer, erschwerter Änderungsverfahren. So sind für Verfassungsänderungen praktisch immer qualifizierte Mehrheiten, oft Volksabstimmungen104, Sperrfristen zwischen den Änderungen, 105 mehrfache parlamentarische Annahme des Revisionsvorschlags mit zeitlichem Mindestabstand,106 das Erfordernis mehrfacher Beschlüsse mit dazwischenliegender Parlamentsauflösung und Neuwahl 107 und
101 Die leges fundamentales „genießen einen höheren Rang der Dauerhaftigkeit und Unverbrüchlichkeit vor allen anderen normativen Quellen. Darin liegt folgerichtig auch ihre Verfassungsqualität nach der Auffassung der Zeit begründet" (Mohnhaupt, Die Lehre von der „Lex Fundamentalis" und die Hausgesetzgebung europäischer Dynastien, 1982, 9). 102 Teil B.III.a.E., auszugsweise übers, u. abgedr. in Ekman, Das dänische Königsgesetz von 1665, 1973 (1957), 230ff, 232 (Hervorhebung d. Verf.). Deutlich auch Marbury v. Madison, 5 U.S. 137, 176 (1803): „The principles, therefore, so established, are deemed fundamental. And as the authority from which they proceed is supreme, and can seldom act, they are designed to be permanent." 103 Vgl. H Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, 1986, 277, der vor allem auf die Lehre vom Herrschaftsvertrag abstellt. 104 Art. 47 irische Verf. v. 1. Juli 1937; Titel VI, Abschn. II, Art. 138 ital. Verf. v. 22. Dez. 1947; Teil X, Nr. 88 dän. Verf. v. 5. Juni 1953; Art. 89 Abs. 2, 3franz. Verf. v. 28. Sept. 1958 (fakultatives Referendum); Art. 167 Abs. 3, Art. 168 Abs. 3 span. Verf. v. 29. Dez. 1978. 105 Z.B. Art. 284 Abs. 1 port. Verf. v. 2. April 1976; Art. 110 Abs. 5 griech. Verf. v. 7. Juni 1975. 106 Z.B. Art. 138 Abs. 1 ital. Verf. v. 22. Dez. 1947; Art. 110 Abs. 2 griech. Verf. 107 Art. 195 belg. Verf. v. 17. Feb. 1994 (Die Legislative erklärt, daß eine von ihr bestimmte Verfassungsbestimung einer Revision bedarf. Dann wird das Parlament aufgelöst, neu gewählt und die eigentliche Änderungberatung und -entscheidung findet im neuen Parlament statt). Kap. 8, § 15 der schwedischen Regierungsform von 1974 (Ein Grundgesetz wird durch zwei gleichlautende Beschlüsse des Reichstags mit dazwi-
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
ähnliches vorgesehen. Derartige Revisionsklauseln stellen besondere Hürden auf und haben oft auch eine Warnfunktion. Vor allem das Erfordernis mehrfacher Beschlußfassung mit Mindestabstand oder dazwischengeschalteten Neuwahlen soll vor impulsiven Reaktionen des (Verfassungs-)Gesetzgebers schützen. A l l dies dient der Stabilisierung und Verstetigung des Verfassungsrechts. Auch wird Rechtssicherheit geschaffen und den Verfassungsunterworfenen die Planung persönlicher und wirtschaftlicher Dispositionen erlaubt. Dauerhaftigkeit und Unverbrüchlichkeit grundlegender Regeln konstituieren also einerseits den besonderen, höheren Charakter des Verfassungsrechts. Andererseits fungieren qualifizierte Verfassungsänderungsverfahren als Sicherung des Vorrangs der Verfassung, denn dieser fiele in sich zusammen, wenn das Parlament befugt wäre, im Wege normaler Gesetzgebung die Verfassung zu ändern. Die erschwerte Änderbarkeit ist somit ein erstes Korrelat des Vorrangs der Verfassung und dient materiellen Zielen, vor allem der normativen Beständigkeit. 108 Die zweite Implikation des Vorrangs der Verfassung, nämlich die Eignung der Verfassung als Maßstab der Rechtmäßigkeit aller anderen Gesetze und sonstiger Rechtsakte, ist jünger als die Vorstellung der besonderen Dauerhaftigkeit und Festigkeit der Verfassung. Die Maßgeblichkeit der Verfassung für den Gesetzgeber wird damit begründet, daß der Gesetzgeber entsprechend der Vorschriften der Verfassung konstituiert wird und seine Autorität aus ihr herleitet. Mit der Maßstabsfunktion hängt also, drittens die rechtserzeugende und autorisierende Funktion der Verfassung zusammen (und beides setzt wiederum eine konzeptionelle Unterscheidung der verfassunggebenden von der gesetzgebenden Gewalt voraus). 109 Sowohl Maßstabsfunktion als auch Rechtserzeugungsfunktion erscheinen bereits klar in der „Charter or fundamentall Laws of West New Jersey" von 1676, in deren 13. Kapitel es hieß: ,,[T]he said legislative authority is constituted according to these fundamental^ to make such Laws as agree with and maintaine the said fundamentals and to make no Laws that in the least contradict differ or vary from the said fundamental under what pretence or allegation soever." 110 Und nach Emer de Vattel (1758) kann die gesetz-
schenliegenden Wahlen erlassen); siehe auch Teil X, Nr. 88. dän. Verf. v. 5. Juni 1953; Art. 114 luxemb. Verf. v. 17. Okt. 1868; Art. 137 Abs. 3 niederl. Verf. v. 17. Feb 1983; Art. 112 norweg. Verf. v. 1814. 108 Rein formale Korrelation jedoch bei Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, § 32 (S. 75f). 109 Siehe jedoch für eine rein formale Konzeption der Rechtserzeugungsfunktion Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, § 31 (insb. S. 74f). 110 Diese Charter war Bestandteil der „Concessions and Agreements of the Proprietors Freeholders and Inhabitants of the Province of West New Jersey in America" v. 3. März 1676, die von 151 Vertragsschließenden unterzeichnet wurde (Text abgedr. in Boyd, Fundamental Laws and Constitutions of New Jersey, 1964, 7Iff, 83; Hervorhebung d. Verf.).
II. Formelle und materielle Verfassung
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gebende Gewalt nicht die Verfassung („les Loix fondamentales") ändern, „si la Nation ne leur a pas donne tres expressement le pouvoir de les changer. Car la Constitution de l'Etat doit etre stable ... Enfin, c'est de la Constitution que ces Legislateurs tiennent leur pouvoir, comment pourroient-ils la changer, sans detruire le fondement de leur Autorite?" 111 Die Maßstabsfunktion hängt, viertens, eng mit der Idee der Bindung und Begrenzung der Staatsgewalt zusammen. Bereits im Absolutismus war der vom Gesetz entbundene Herrscher an die Verfassung gebunden, wie die bereits erwähnte Vorschrift der dänischen lex regia von 1665 unübertrefflich klarstellt: ,»Deshalb soll der König auch die höchste Macht und Gewalt besitzen, um nach seinem guten Willen und Belieben Gesetze und Verordnungen zu erlassen, um Gesetze auszulegen, zu verändern, etwas hinzuzufügen oder wegzulassen, sogar um einfach Gesetze abzuschaffen, die von ihm selbst oder seinen Vorgängern gemacht wurden, und auch, um von der allgemeinen Gültigkeit des Gesetzes etwa oder jemand, wie es ihm gefällt, auszunehmen, wobei allein dieses Königsgesetz die Ausnahme bildet, ... . " l l 2 Dementsprechend lehrte Christian Wolff (1754): „Die Gesetze, an welche die Verwaltung der Herrschaft gebunden ist, werden Grundgesetze (leges fundamentales) genannt ... Es erhellet ausser dem, daß der Regente eines Staates zur Beobachtung der Grundgesetze verbunden ist, und dieselbe nicht nach seinem Gefallen ändern kann". 113 Im Konstitutionalismus setzte sich die Vorstellung der Begrenzung der Staatsgewalt, einschließlich des demokratisch legitimierten Gesetzgebers, durch. 114 Der Vorrang der Verfassung begrenzt die Macht der regulären gesetzgebenden Autorität. Dementsprechend beginnt das erste, 1791 verabschiedete Amendment zur USamerikanischen Verfassung mit den Worten: „Congress shall make no law ..." Im deutschen Kaiserreich drückte Albert Haenel den Konnex von erschwerter Erzeugung und Abänderbarkeit der Verfassung und ihrer materiellen Leit- und 111
de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle appliques ä la conduite et aux affaires de Nations et des Souverains, 1758, Buch I, Kap. 3, § 34 (S. 36f; Hervorhebung d. Verf.). 112 Teil B.III., auszugsweise übers, u. abgedr. in Ekman, Das dänische Königsgesetz von 1665, 1973 (1957), 230ff, 232 (Hervorhebung d. Verf.). 113 Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, 1980 (1754), § 984; siehe bereits Spinoza, Politischer Traktat/tractatus politicus, 1994 (orig. 1677), Kap. VII, § 1 (S. 95): ,,[D]ie Grundlagen des Staates (fundamenta imperii) sind als gleichsam ewige Beschlüsse des Königs anzusehen, so daß seine Staatsdiener ihm durchaus gehorsam sind, wenn sie sich weigern, seine Anordnung auszufuhren, sobald er etwas befiehlt, was sich mit den Grundlagen des Staates nicht verträgt." 114 Daß die Vorstellung der Bindung und Begrenzung des Gesetzgebers in Nordamerika entstand, hängt wohl damit zusammen, daß die Amerikaner in erster Linie die Gesetzgebung eines Parlaments, nämlich des Parlaments in London bekämpften, nicht einen absolutistischen König (Stourzh, Naturrechtslehre, leges fundamentales und die Anfänge des Vorrangs der Verfassung, 1995, 26).
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
Bindungsfunktion so aus: „Ihnen, den Verfassungsgesetzen, steht die Summe der »einfachen, Gesetze gegenüber, für deren rechtsgültigen Erlaß die einfachen, die leichten und regelmäßigen Formen der Gesetzgebung genügen. Grund und Absicht dieses Unterschiedes ist es aber allein, an die Grundrichtungen des Staatslebens, die die , Verfassung' vorzeichnet, an die Grundsätze, die sie in allgemeinen Formulierungen aufstellt, nicht nur die Vollziehung, sondern auch nicht minder die Gesetzgebung selbst zu binden "us Die konsequente Fortführung und Zuspitzung der Maßstabs- und Begrenzungsfunktion ist, fünftens, die derogierende Kraft der Verfassung.116 Diese wurde in der nordamerikanischen Verfassungslehre in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt, und zwar in engem Zusammenhang mit dem richterlichen Prüfungsrecht. Erst damit war der Vorrang der Verfassung im modernen, vollen Sinn etabliert. In den Federalist Papers schrieb Alexander Hamilton: „ A Constitution is, in fact, and must be regarded by the judges as, a fundamental law." „No legislative act, therefore, contrary to the Constitution, can be valid." 1 1 7 Die Leitentscheidung des Supreme Courts zur Verfassungskontrolle von Gesetzen, Marbury v. Madison (1803), stützt sich auf diese Argumentation: „Certainly all those who have framed written constitutions contemplate them as forming the fundamental and paramount law of the nation, and, consequently, the theory of every such government must be, that an act of the legislature, repugnant to the constitution, is void." 1 1 8 Wichtig ist schließlich, daß der Vorrang der Verfassung, insbesondere in seiner konfliktlösenden Funktion, nur dann auf breiter Front praktisch relevant wird, wenn er prozessual durchsetzbar ist, wenn also die Möglichkeit der verbindlichen Feststellung der Verfassungswidrigkeit von einfachem Recht besteht.
115 Haenel, Deutsches Staatsrecht 1, 1892, 125f (Hervorhebung d. Verf.). Vgl. aus neuerer Zeit zur Begrenzungs- und Bindungsfunktion des Vorrangs der Verfassung Starck, Rangordnung der Gesetze, 1995, 12; Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1996, 27; Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, 2000, 5. 116 Siehe aber für ein formales Verständnis der derogierenden Kraft Kelsen, Reine Rechtslehre, 1934, § 31, (S. 75): Die Derogation ist eine negative Rechtserzeugungsregel, eine negative Bestimmung, welche Gesetze nicht erzeugt werden sollen. 117 Federalist No. 78 (Hamilton), in Hamilton/Madison/Jay, The Federalist Papers, 1961 (1788), 464, 467. Siehe bereits zuvor James Iredell, einen der bedeutenden Theo retiker der amerikanischen Revolution: „... in a Republic where the Law is superior to any or all the Individuals, and the Constitution superior even to the Legislature, and of which the Judges are the guardians and protectors" (in „Instructions to Chowan County Representatives", Sept. 1783, abgedr. in Higginbotham, The Papers of James Iredell 2, 1976,446,449). 118 Marbury v. Madison, 5 U.S. 137,177 (1803).
III. Inhaltsneutrale oder inhaltlich festgelegte Verfassung
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Der Vorrang ist somit Bedingung der Verfassungsgerichtsbarkeit, und der Vorrang wird durch sie erst real. 119 Es wird später zu zeigen sein, daß der - nur eingeschränkt realisierte - externe Vorrang des europäischen Rechts gegenüber den mitgliedstaatlichen Verfassungen kein verfassungsartiger Vorrang ist. Deshalb beeinträchtigt seine gegenwärtige Ungesichertheit den Verfassungscharakter grundlegender europäischer Normen nicht. Gravierender ist das Fehlen einer klaren internen Normenhierarchie, also ein Vorrang des europäischen materiellen Verfassungsrecht vor sonstigem europäischen Recht. Zwar ist der Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Recht rein definitorisch kein notwendiges Merkmal einer Verfassung, wie die englische Verfassung oder die deutsche Reichsverfassung von 1871 zeigen; er ist jedoch notwendig, damit die konstitutionellen Funktionen der Machtbegrenzung, der normativen Stabilisierung und der gerichtlichen Konfliktlösung erfüllt werden können. Die Hierarchisierung des Primärrechts ist deshalb ein entscheidendes Element weiterer Konstitutionalisierung. 120
I I I . Inhaltsneutrale oder inhaltlich festgelegte Verfassung Nachdem wir nun die formalen Verfassungseigenschaften, insbesondere die Beurkundung und den Vorrang näher betrachtet haben, wenden wir uns den materiellen Verfassungselementen, also den Norminhalten zu. Auf dieser Ebene begegnen wir einer inhaltsbezogenen Unterscheidung: Eine Verfassung im weiteren Sinne sei - so meinen viele - jedes Organisationsstatut, eine Verfassung im engeren und eigentlichen Sinne sei jedoch nur ein Dokument, das Wertvorstellungen verkörpert, und zwar nicht beliebige, sondern die Ideale des Konstitutionalismus. Tatsächlich begann die Ära der formellen Verfassungsurkunden mit der Forderung nach bestimmten Inhalten. Dem konstitutionalistischen Verfassungsbegriff waren bestimmte Legitimitätsanforderungen immanent. Er war kein Neu-
119 Vgl. bereits Karl August Fürst von Hardenberg und Wilhelm von Humboldt, die in ihrer Begleitnote zu ihren Entwürfen für eine Bundesverfassung an den Wiener Kongreß (1815) die Überzeugung äußerten, „daß, wenn es der künftigen Verfassung an einem Bundesgerichte fehlt, man nie wird die Überzeugung aufheben können, daß dem Rechtsgebäude in Teutschland der letzte und notwendigste Schlußstein mangle" (Note der königlich-preussischen Heim Bevollmächtigten an den kaiserlich-östreichischen ersten Bevollmächtigten, Herrn Fürsten von Metternich, datirt Wien den 10. Febr. 1815, womit dieselben zwei neue Pläne zu einer Bundesverfassung übersenden, den einen mit, den andern ohne Kreiseintheilung, abgedr. in Klüber (Hrsg.), Akten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, Bd. 2, 1819,6,17). 120 Näher zum ganzen unten S. 305ff.
Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
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tralbegriff mehr, sondern ein „Idealbegriff' 121 . Nur Dokumente, die Menschenrechte und Gewaltenteilung festschrieben, wurden Verfassung genannt: „Toute societe dans laquelle la garantie des droits n'est pas assuree, ni la separation des pouvoirs determinee, n'a point de constitution", so die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, welche in die Verfassung von 1791 inkorporiert ist. 1 2 2 Später trat die Demokratie als notwendiger Verfassungsinhalt hinzu. Wenn diese Ideale nicht erfüllt waren, galt der Staat als verfassungslos. 123 Eine weitere Legitimitätsanforderung bezog sich auf die Art und Weise der Entstehung der Verfassung. Nur die vom Volk gegebene (nicht die oktroyierte) Urkunde erhielt das Prädikat Verfassung.124 Der Konstitutionalismus führte also einen inhaltlich festgelegten, legitimistischen Begriff von Verfassung ein. Dieser fungierte als Kampfbegriff und Instrument der politischgesellschaftlichen Revolution. 125 Der legitimistische Verfassungsbegriff ist heute nicht der einzige Verfassungsbegriff und dominiert nicht den politischen und rechtlichen Sprachgebrauch. Wir sprechen üblicherweise nicht erst dann von einer Verfassung, wenn ein Dokument konkrete Inhalte (Demokratie, Menschenrechte usw.) garantiert. Es müssen jedoch in dem Dokument bestimmte Inhaltskategorien vorliegen, um es Verfassung nennen zu können. Zutreffend definiert Georg Jellinek: „Die Verfassung des Staates umfaßt demnach in der Regel die Rechtssätze, welche die obersten Organe des Staates bezeichnen, die Art ihrer Schöpfung, ihr gegenseitiges Verhältnis und ihren Wirkungskreis festsetzen, femer die grundsätzliche Stellung des einzelnen zur Staatsgewalt."126 Welche Organe konkret vorge121
Schmitt, Verfassungslehre, 1928, 36. Ziff. 16 der Erklärung der Rechte des Menschen und der Bürger v. 26. Aug. 1789, inkorporiert in französische Verfassung v. 3. Sept. 1791 (abgedr. in Franz, Staatsverfassungen, 1964, 302, 306); zustimmend seinerzeit etwa Georg Wedekind (Wedekind, Die Rechte des Menschen und des Bürgers 1975 (1793), 766 (Art. XVI)). Siehe auch Freiherr vom Stein in einer Denkschrift von 1806: „Der preußische Staat hat keine Staatsverfassung, die oberste Gewalt ist nicht zwischen dem Oberhaupt und Stellvertretern der Nation geteilt" {vom Stein, Briefe und amtliche Schriften II/l, 1956 (1806), Nr. 194, Denkschrift „Darstellung der fehlerhaften Organisation des Kabinetts und der Notwendigkeit der Bildung einer Ministerialkonferenz v. 26./27. April 1806,208). 123 Siehe nur Dahlmann, Ein Wort über Verfassung, 1979 (1815): „Aber ebenso gewiß ist, daß, wo dem Volke jede Willkür aufgedrungen werden kann, wo in den wichtigsten Angelegenheiten der Gesetzgebung und Staatswirtschaft das Gutachten der Volksvertreter darf verachtet werden, daß da alles Verfassungsmäßige, was auch stattfinden mag, nur einem leeren Gaukelspiele gleicht." Derartige Regelungen seien nur „halbe und Viertel-Verfassungen". 124 Paine, The Rights of Man, 1996 (1792), 428: „A constitution is not the act of a government, but of a people constituting a government;..." 125 Badura, Verfassung, Evang. Staatslex. 1987, Sp. 3741; Grimm, Verfassung 2, 1995, 100. 126 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1914, 505. 122
III. Inhaltsneutrale oder inhaltlich festgelegte Verfassung
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sehen sind (Monarch, Politbüro, Revolutionsrat, Föderalorgane etc.), welche Kompetenzen diese ausüben und welche Rechte die Staatsbürger haben, ist für diesen Verfassungsbegriff unerheblich, sondern eine Frage der Legitimität der gegebenen Verfassung. Die Jellineksche Definition wird nicht nur in der Wissenschaft nach wie vor weitgehend akzeptiert, 127 sondern bildet auch die politische Praxis ab. Europäische und außereuropäische Staatsverfassungen enthalten in aller Regel Vorschriften über die Staatsorganisation, über Kompetenzen der Institutionen und zur Stellung der Individuen. Hinzu kommen als moderne verfassungstypische Inhaltskategorie die Wertund Zielbestimmungen, welche die ideelle Ausrichtung des Staates festlegen. Diese waren allerdings historisch kein zwingender Bestandteil von Staatsverfassungen. Noch Ulrich Scheuner stellte Staatsverfassungen, „die sich mit dem Charakter eines Organisationsstatuts begnügen" und andere, „die in Grundrechten und sachlichen Leitsätzen eine umfassende Sozialgestaltung anstreben" gegenüber.128 Beispiele für ersteren Typus sind die französische Verfassung vom 25. Februar 1875, die bis 1940 gegolten hat und die als bloßer „code de procedure constitutionnel" bezeichnet wurde, 129 oder die Verfassung („Landessatzung") des Bundeslandes Schleswig-Holstein vom 7. Februar 1984. Heute sind nicht nur die Staatsverfassungen, sondern auch die Grundstatuten Internationaler Organisationen (einschließlich der EG/EU) überwiegend nicht bloß Geschäftsordnungen, sondern enthalten Werte und Ziele. 1 3 0
127
Mit ausdrücklichen Bezug auf Jellinek: Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland 1, 1984, 73 („Dieser Verfassungsbegriff kann mit geringfügigen Modifizierungen als herrschend bezeichnet werden"); Mohnhaupt, Verfassung 1, 1995, 5, Fn. 21 („immer noch hilfreiche Definition"); sinngemäß nach Jellinek auch die BrockhausEnzyklopädie 1994, 191; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 1999, 51; Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, 1995, 346; Isensee, Staat und Verfassung, 1987, Rdn. 137 U.139; für England ebenso Wade/Bradley, Constitutional and Administrative Law, 1993, 9; Turpin, British Government and the Constitution, 1995, 3f; für Frankreich Pactet, Droit constitutionnel, 1998, 67. 128 Scheuner, Verfassung, Görres-Staatslex., 1963, Sp. 122. Aubert nennt als „notion minimale de la constitution" von Staaten die rudimentären Organisationsregeln {Aubert, La Constitution, son contenu, son usage, ZSR 1991,28 (Rdn. 24) und 31 (Rdn. 29). 129 So Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, 71; der Verfassungstext ist mit dt. Übers, abgedr. in Franz, Staatsverfassungen, 1964,396ff. 130 So legt beispielsweise Art. la) der Satzung des Europarats als Aufgabe der Organisation fest, „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Förderung der Ideale und Grundsätze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fördern." Weil zu den Inhaltskategorien der europäischen Verfassung auch materiellprogrammatische Zielbestimmungen gehören, ist die verbreitete Rede vom bloßen Organisationsstatut der EG/EU irreführend. Siehe näher zu den programmatischen, wertbezogenen Vorschriften der Europäischen Verträge unten S. 78ff. Vgl. aber Lasok/Bridge, Law & Institutions of the European Communities, 1991, 113: „They [the Rome Trea-
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
Die aufgeführten Inhaltskategorien schließen bestimmte Inhalte und Wertvorstellungen (Menschenrechte, Gewaltenteilung, Demokratie etc.) nicht aus, legen sie aber auch nicht fest. Der herrschende Verfassungsbegriff ist insoweit neutral. Verfassungen mit bestimmten Inhalten sind lediglich eine Teilmenge der so umschriebenen Masse von Verfassungen. Das europäische Recht enthält die verfassungstypischen Inhaltskategorien (Organisations- und Kompetenzvorschriften, Zielbestimmungen, begrenzte Aussagen zur Stellung der Individuen) ist deshalb eine Verfassung im neutralen Sinne. Demgegenüber wollen Teile des Schrifttums nur den aus rechtsstaatlichdemokratischer Sicht „guten" Verfassungen den Ehrentitel der Verfassung zuerkennen. Als Verfassung soll nur eine inhaltlich gehaltvolle, an bestimmten politischen Zielen orientierte Verfassung durchgehen; andere Dokumente ohne Wertausrichtung oder mit den falschen Idealen sollen Nicht-Verfassungen sein. So führt Ulrich Preuß aus: „Aber eine Verfassung ist mehr als ein Organisationsstatut. Eine Verfassung vereinigt die grundlegenden Rechtsprinzipien, nach denen Individuen und Gruppen gemeinsam leben wollen und durch die sie sich zu einem Gemeinwesen formieren. Eine Verfassung ist der Inbegriff einer durch Recht konstituierten und durch Recht organisierten guten politischen Ordnimg, in der die Träger dieser Ordnung einander als freie und gleiche Subjekte anerkennen". 131 Dies wird verschiedentlich unter Verweis auf die konkrete geschichtliche Bedeutung des Instituts des Verfassungsstaats begründet. Mit dem Prädikat des Verfassungsstaates verbinden wir eine bestimmte staatstheoretische und politische Wertung. Verfassungsstaat ist nur der liberale, bürgerliche und demokratische Rechtsstaat.132 Das heißt, „[d]er Verfassungsstaat impliziert bestimmte inhaltliche Anforderungen an das in einem Staat geltende Verfassungsgesetz."133 Innerhalb des zusammengesetzten Begriffes des Verfassungsstaates hat sich also ein engerer, legitimistischer Verfassungsbegriff eingebürties] are Constitutional Treaties because together they form the organisational law of the Community." 131 Preuß, Auf der Suche nach Europas Verfassung, Transit 1999, 155. In diesem Sinne auch Hollerbach, Ideologie und Verfassung, 1969, 47; Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, 1973, 32; Grewe/Ruiz Farbi, Droits constitutionals europöens, 1995,41; Violini, Der gemeineuropäische Bestand von Gegenständen mit Verfassungsrang, 1998, 35; Böckenförde, Kommentar zu Ulrich K. Preuß, Transit 1999, 176; S. Hammer, Wege zur Europäischen Verfassung, Juridicum 1/2000,49. 132 Siehe zum Begriff Böckenförde, Begriff und Probleme des Verfassungsstaates, 1999, 127-140, der eine „formelle", inhaltsneutrale Bedeutung und eine „materielle", werthafte Bedeutung des Begriffs unterscheidet. Das werthafte Verständnis von Verfassungsstaat ist das übliche; siehe nur Isensee, Staat und Verfassung, 1987, Rdn. 125 m.w.N.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 2, Fn. 2; H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung? JZ 1999,1066, Fn. 18. 133 Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, 1973,26.
III. Inhaltsneutrale oder inhaltlich festgelegte Verfassung
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gert. Das ist akzeptabel, weil hier kein Anspruch auf Universalität erhoben wird. Der Verfassungsstaat ist ein spezieller Typ von Staat mit einem speziellen Typ von Verfassung; daneben gibt es andere Staaten mit anderen Verfassungen.
Deshalb ist es nicht gerechtfertigt, aus dem Institut des Verfassungsstaats einen prinzipiell verengten, legitimistischen Verfassungsbegriff zu deduzieren. Ein solcher entspricht erstens nicht dem allgemeinen Sprachgebrauch und ist zweitens nicht universal. Staaten wie China, Irak, Libyen usw. sind nicht verfassungslos, mag auch ihre Verfassung aus europäischer Sicht illegitim sein. Die Staatsverfassung gehört zum Staat, und in bezug auf den Staatsbegriff sind terminologische Reduktionen nicht üblich: Wir sprechen vom Schurkenstaat oder Unrechtsstaat, akzeptieren diese jedoch als Staaten. Drittens ist die legitimistische Aufladung des Verfassungsbegriffs keine rechtspolitisch sinnvolle Strategie. Sie stellt letztlich einen Versuch dar, unerwünschte Erscheinungen wegzudefinieren. Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Strategie des „Engsoz" in George Orwells „1984" ist hier nicht zu verkennen. „Siehst du denn nicht, daß die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite des Gedankens zu verkürzen?" läßt Orwell einen Sprachwissenschaftler sagen. „Der Wortschatz der Neusprache war so konstruiert, daß jeder Mitteilung, die ein Parteimitglied berechtigterweise machen wollte, eine genau und oft sehr differenzierte Form verliehen werden konnte, während alle anderen Inhalte ausgeschlossen wurden." Das wurde dadurch erreicht, indem man die „Worte so weitgehend wie möglich jeder unorthodoxen Nebenbedeutung entkleidete. Ein Beispiel hierfür: Das Wort frei gab es zwar in der Neusprache noch, aber es konnte nur in Sätzen wie »Dieser Hund ist frei von Flöhen4 oder ,Dieses Feld ist frei von Unkraut4 angewandt werden." 134 Wie bei Orwell fuhrt auch in der Verfassungstheorie die definitorische Verengung zur Konturlosigkeit und Beliebigkeit, weil ein gemeinsamer Oberbegriff, der sowohl legitime als auch illegitime Statuten umfaßt, fehlt. In größtmöglicher Überspitzung führt dies zu Carl Schmitts Sicht, in der „von vornherein mit Entschiedenheit zu betonen [ist], daß jede Verfassung ihren eigenen Verfassungsbegriff hat". 1 3 5 Dann aber gibt es gerade keinen Verfassungsbegriff mehr, sondern alles (oder nichts) kann Verfassung genannt werden. In einem auffälligen Gegensatz zur wohl herrschenden neutralen Rede von Verfassung steht der Sprachgebrauch in der europäischen Verfassungsdiskussion. Hier wird nämlich überwiegend ein legitimistischer Verfassungsbegriff eingesetzt: „[L]a reference ä la notion de constitution dans le contexte du droit communautaire n'a d'interet que si eile a un contenu non seulement institutiona l , mais egalement et surtout substantiel, en ce sens qu'elle est rincarnation de 134 135
Orwell, Neunzehnhundertvierundachtzig, 1974 (1949), 50 und 274. Schmitt, Ein Jahr nationalsozialistischer Verfassungsstaat, Dt. Recht 1934, 27.
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
,1'officialisation d'une idee de droit', c'est-ä-dire qu'elle exprime les fondements, les valeurs, les principes, bref Tidentite de l'Union europeenne."136 Nur ein volksursprüngliches Dokument könne eine europäische Verfassung sein, 137 oder nur eine freiheitliche und demokratische Grundordnung. 138 Wer, etwa mit Ernst-Wolfgang Böckenförde, einen legitimistischen Verfassungsbegriff zugrundelegt („Das heißt, nur eine demokratische Verfassung, die zudem einen Republikanismus im Sinne Kants zum Ziel hat, ist eine Verfassung"), gelangt zwangsläufig zum Schluß: „Es ist deshalb müßig, über die Errichtung einer Verfassung in dem dargelegten Sinn für Europa zu spekulieren, dafür fehlt jetzt und auf absehbare Zeit die hinreichende Grundlage; der Stand der Integration müßte ein wesentlich anderer sein." 139 Diese Rückwendung zum legitimistischen Begriff hat wohl zwei Gründe. Zum einen herrscht Einigkeit darüber, daß die Inhalte einer europäischen Verfassung aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten heraus zu entwickeln sind und keinesfalls hinter die historischen Errungenschaften zurückfallen dürfen. Alle Mitgliedstaaten sind demokratisch, rechts- und auch in einem gewissen Grade sozialstaatlich verfaßt; sie sind Verfassungsstaaten im oben erklärten, materiellen Sinn. Eine Verfassung für die EG/EU müßte so beschaffen sein, daß sich eine „Verfassungsgemeinschaft" ergibt. Parallel zum Institut des Verfassungsstaats wäre die Verfassungsgemeinschaft nicht aus zwei formalen Elementen zusammengesetzt, sondern notwendig mit den Inhalten Menschenrechte, Herrschaft des Rechts, Demokratie ausgefüllt. Insofern könnte man einen engeren, genuin europäischen Verfassungsbegriff annehmen. Universelle Gültigkeit besitzt dieser aber nicht, wenn sich auch nach der Auflösung des sozialistischen Blocks der territoriale Bereich, in dem allein die genannten Inhalte akzeptabel sind, vergrößert hat. 140
136 D. Simon, Les fondements de Pautonomie du droit communautaire, 2000, 225 (Fußnote ausgelassen). 137 von Bogdandy, Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, 1993, 101; Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? JZ 1995, 586; Rupp, Europäische „Verfassung" und demokratische Legitimation, AöR 1995, 270f; Grimm, Ohne Volk keine Verfassung, DIE ZEIT v. 18. März 1990, 4; Koenig, Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, DÖV 1998, 272; Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 1999, 903, 912. 138 van Gerven, Toward a Coherent Constitutional System within the European Union, EPL 1996, 82; implizit auch Heldrich/Eidenmüller, European Constitutionalism, 1995,204. 139 Böckenförde, Kommentar zu Ulrich K. Preuß, Transit 1999,176. 140 Die Durchsetzbarkeit der Legitimitätsstandards hat sich in der legitimistische Praxis der Anerkennung neuer (osteuropäischer) Staaten nach 1989 bestätigt (dazu Hillgruber, Die Aufnahme neuer Staaten in die Völkerrechtsgemeinschaft, 1998, 642-647 und 725-728). In der Euphorie der Umbruchsjahre nach 1989 wurde die universelle Gültigkeit „westlicher" materialer Verfassungsprinzipien angenommen wurde; symptomatisch
III. Inhaltsneutrale oder inhaltlich festgelegte Verfassung
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Der zweite Grund für die Präferenz des legitimistischen Verfassungsbegriffs für Europa hängt speziell mit der europäischen Verfassungsdiskussion zusammen. Hier wird Verfassung wieder - wie im konstitutionalistischen Kampf des 19. Jahrhunderts - als polemischer Begriff eingesetzt. In der französischen Revolution transportierte die Verfassungsidee die Vision eines neuen Zeitalters. Man glaubte „an die Möglichkeit des »absoluten Neubeginns durch Verfassung'" 1 4 1 , die dementsprechend den Charakter eines Zukunftsentwurfes hatte. Dieser hing mit der inhaltlichen Aufgeladenheit des Verfassungsbegriffs zusammen. Die Verfassung verhieß Freiheit, Wahrheit und Glück und war deshalb „Gegenstand allen Sehnens".142 Diesen dynamischen und zukunftsoptimistischen Zug besitzt auch die europäische Verfassungsbewegung. Ihre legitimistische Sprache ist - wie in den Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts - Ausdruck eines empfundenen Defizits, eines Umbruchs oder einer Krise, Ausdruck einer „Bewußtseinssituation des Alles oder Nichts, in der das Glück der Zukunft zu ergreifen - oder zu verlieren" 143 ist. Sie wird deshalb gerade auch von Autoren gebraucht, die die Existenz einer europäischen Verfassung bestreiten und auch für die nähere Zukunft nicht erstrebenswert und/oder nicht realisierbar halten. Im Europa des anbrechenden 21. Jahrhunderts ist der legitimistische Verfassungsbegriff also Symptom grundlegend divergierender Auffassungen über Finalität und Legitimität der europäischen Einigung. Die europäische Verfassungsdiskussion entpuppt sich somit als eine Finalitäts- und Legitimitätsdiskussion. Dagegen ist nichts einzuwenden, solange diese beiden wichtigen Aspekte nicht im Wege der Begriffserschleichung in den Verfassungsbegriff selbst hineingepackt werden. Die Verfassungsdiskussion ist insofern zu Recht eine Finalitätsdiskussion, als sie die Frage aufwirft, ob die europäische Integration ein grundsätzlich politischer oder ein primär wirtschaftlich-technokratischer Prozeß ist; 1 4 4 aber zu Un-
Fukuyama, Das Ende der Geschichte, 1992 mit der These, daß sich ein universaler Konsens über die Legitimität der liberalen Demokratie als Regierungsform herausgebildet habe und daß diese Verfaßtheit möglicherweise den Endpunkt der kulturellen Evolution der Menschheit darstelle, mithin das „Ende der Geschichte" markiere. Von dieser Euphorie ist heute wenig übrig. 141 Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung, 1988, 58. 142 Revolutions de Paris, d6di6es ä la Nation et au District des Petits-Augustins, hrsg. v. L.-M. Prudhomme, Paris, Nr. 20, 21.-28. Nov. 1789, S. 3; zitiert nach der Übers, v. Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung, 1988, 13. Siehe auch id., 13,
22, 60.
143 Schmale, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung, 1988, 12 zur Mentalitätsgeschichte der Verfassung in Frankreich, 1715-1794. 144 Als Frage der Finalität stellt vor allem S. Hammer, Wege zur Europäischen Verfassung, Juridicum 1/2000, 48-55 die Verfassungsfrage. Mit einer Verfassung werde „die rechtliche Freiheit der Bürger zum eigentlichen Zweck des Staates gemacht". Euro-
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
recht insofern, als die Verfassungsbejahung - fälschlich - gleichgesetzt wird mit der Forderung nach Verstaatlichung der Union. Denn die Koppelung von Staat und Verfassung ist historisch kontingent. 145 Die Verfassungsdiskussion ist zu Recht eine Legitimitätsdiskussion. Demi die für Sicherung und Fortgang der Integration entscheidenden Fragen sind die legitimen Inhalte der potentiellen Verfassung. Die Beantwortung der Legitimitätsfragen wird aber nicht gefordert, sondern eher behindert, wenn diese schon in den Verfassungsbegriff gesteckt und dieser so polemisch aufgeladen wird. Daß es vor allem um Legitimität geht, tritt klarer zutage, wenn der Verfassungsbegriff auch in bezug auf die EU entideologisiert bleibt. „Verfassung" heißt, auf die Union angewendet, nichts anderes als „Verfassung" in bezug auf Staaten. Das heißt, „ Verfassung" sollte auch in bezug auf Europa - wie in der allgemeinen Staatslehre üblich - nach formellen Eigenschaften im Zusammenspiel mit bestimmten Kategorien von Inhalten (Organisationsnormen, Kompetenznormen, Regeln über die Stellung der Einzelnen, Wert- und Zielbestimmungen) definiert werden,146 Die inhaltlichen Mindestanforderungen an eine europäische Verfassung sind über den Begriff der Geltung (im Sinne von Legitimität und von Wirksamkeit) miteinbezogen. Eine illegitime Verfassung fände auf Dauer keine Akzeptanz und könnte nur kurzfristig, nicht auf Dauer als Verfassung wirksam sein.
I V . Technische oder existentielle Verfassung Heute existiert eine Bandbreite von Vorstellungen über Sinn und Aufgaben der Verfassung. Unter verschiedenen Aspekten kann man Extrempunkte ausmachen. Eine erste Polarität liegt im technisch-rationalen im Gegensatz zum existentiell-umfassenden Verfassungsverständnis; wobei die Dichotomie ungefähr
pa bedürfe somit, um ein verfaßtes Gemeinwesen zu werden, „einer politischen Thematisierung der Grundrechte im Sinne einer Neubestimmung des europäischen Integrationsziels", einer „Transzendierung marktökonomischer Finalität" und „einer neuen Ausrichtung der Gemeinschaft auf die Verwirklichung der allgemeinen grundrechtlichen Freiheit der Unionsbürger" (id., 52 u. 53). Siehe auch Weiler, The Constitution of Europe, 1999, 9 mit der Forderung nach Reflexion der Ziele des europäischen Konstitutionalismus. Siehe näher zum nur vermeintlich unpolitischen Charakter der Integration S. 117fF. 145 Siehe zur Koppelung von Staat und Verfassung sogleich unten S. 93ff. 146 Vgl. in diese Richtung auch Di Fabio, Eine europäische Charta, JZ 2000, 739, der mit Blick auf die europäische Verfassung eine „Rückkehr zu einem entzauberten Verfassungsverständnis" „ohne den mystischen Zauber einer durch die Form bereits vorweggenommenen Aussage über Ursprünge der Legitimität der als ewig dargestellten Machtverhältnisse" anmahnt.
IV. Technische oder existentielle Verfassung
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dem Gegensatz zwischen liberaler und republikanisch/kommunitaristischer politischer Theorie entspricht. Nach dem eher technischen Verständnis bezieht sich die Verfassung ausschließlich auf den Staat, der als getrennt von der Gesellschaft begriffen wird. 1 4 7 Die Verfassung soll lediglich klare Leitlinien für die Organisation, den Umfang und die Grenzen von Staatsmacht enthalten, alles andere bleibt dem freien gesellschaftlichen Prozeß und der Initiative Einzelner überlassen. Dementsprechend enthält die technische Verfassung eher prozedurale als materiale Vorgaben, regelt Kompetenzen und Verfahren, konstituiert aber keinen „Tugendstaat". Dieses Verfassungsverständnis scheint in der Charakterisierung der Verfassung als Rahmen 148 auf. Nach dem eher existentiell-umfassenden Verfassungsverständnis stellt die Verfassung eine umfassende Ordnung des Gemeinwesens dar, die nicht auf die Regelung des Staates beschränkt ist. 1 4 9 Sie bildet nicht nur den organisatorischen Rahmen für den Staat, erschöpft sich nicht in negativer Schrankenziehung, sondern konstituiert und integriert das politische Gemeinwesen. Staat und Gesellschaft werden nicht als strikt getrennte Sphären aufgefaßt; die Verfassung ist auch „Gesellschaftsverfassung".150 Verfassungsvorgaben sind eher material denn bloß prozedural, sie sollen das Gute und Gerechte verkörpern und die inhaltliche Richtigkeit der Tagespolitik gewährleisten. Die Verfassung ist „bildendes, alle Lebensäußerungen des Staates durchwaltendes, zusammen-ord-
147 So dezidiert Badura, Staatsrecht, 1996, Al3: Die Verfassung ist nicht Fundamentalnorm für Staat und Gesellschaft, sondern eine Grundordnung für den Staat und die Ausübung öffentlicher Gewalt. 148 Siehe nur Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, 2099; Isensee, Staat und Verfassung, 1987, Rdn. 142; Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 390; Starck, Die Verfassungsauslegung, 1992, 195; Elster, Die Schaffung von Verfassungen, 1994, 38; K. Eichenberger Verfassung und Verfassungsreform, JöR 1998,57. 149 Vgl. in diese Richtung vor allem Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), passim, z.B. auf 190: „Es ist also der Sinn der Verfassung selbst, ihre Intention nicht auf Einzelheiten, sondern auf die Totalität des Staates und die Totalität seines Integrationsprozesses" gerichtet zu sein. Auf 206, Fn. 3 zitiert Smend zustimmend eine philosophische Dissertation, die „die lebendigste Durchdringung aller gesellschaftlichen Sphären durch den Staat zu dem allgemeinen Zwecke, alle vitalen Kräfte des Volkskörpers für das Staatsganze zu gewinnen" fordert, und meint, das sei „genau der Integrationsbegriff der vorliegenden Untersuchung". Siehe aus neuerer Zeit Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 1960, 250; Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 390; Preuß, Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, 1994, 7; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 18. 150 Vgl. Brugger, Einleitung, 1996, 7; auch Höllerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 1960,245 u. 249.
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
nendes Grund-Gesetz'". 151 Dieses Verfassungsverständnis wird mit der Redeweise von Verfassung als Grundlage, Grundordnung oder Grundgesetz152 transportiert. Die Grundlagenformel betont gleichermaßen die Wichtigkeit und den Basischarakter der Verfassungssätze, von denen alles staatliche Handeln ausgehen soll. Je nachdem, welche der konträren Positionen man einnimmt, wird man die Möglichkeit des Transfers von Verfassung auf die europäische Ebene unterschiedlich beurteilen. Je mehr die Verfassungsvorstellung in Richtung des umfassenden und material aufgeladenen Konzepts geht, desto schwieriger erscheint die Ablösung der Verfassung von der traditionellen politischen Einheit, dem Nationalstaat, und die Übertragung auf die europäische Ebene. Denn aus dieser Sicht gilt mit Hegel:, ,Da der Geist nur als das wirklich ist, als was er sich weiß, und der Staat, als Geist eines Volkes zugleich das alle seine Verhältnisse durchdringende Gesetz, die Sitte und das Bewußtsein seiner Individuen ist, so hängt die Verfassung eines bestimmten Volkes überhaupt von der Weise und Bildung des Selbstbewußtseins desselben ab; in diesem liegt seine subjektive Freiheit und damit die Wirklichkeit der Verfassung."153 Die metarechtlichen Gegebenheiten, auf denen die umfassende Staats- und Gesellschaftsverfassung beruht und auf die sie gleichzeitig einwirken will, sind innerhalb der neuartigen politischen Entität Europa weit weniger einheitlich gesichert als innerhalb der Nationalstaaten. Je existentieller Verfassung konzipiert wird, in desto weitere Ferne rückt sie für Europa.
V. Statische oder dynamische Verfassung Das zweite Paar diametral entgegengesetzter, idealtypischer Verfassungskonzeptionen (das sich mit dem eben genannten Positionen-Paar zum Teil, aber nicht vollständig deckt) ist durch die jeweilige Bewertung der Veränderlichkeit und Anpassungsfähigkeit der Verfassung definiert. Die eine Seite erblickt das Wesen von Verfassung in Stabilität und Beharrlichkeit; die andere Seite assoziiert mit Verfassung vor allem Dynamik und Erneuerung. 151
Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 1960,249. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, passim; Scheuner, Verfassung, Görres-Staatslex., 1963, Sp. 118; Herzog, Allgemeine Staatslehre, 1971, 309; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland 1, 1984, 70; Karpen, Die verfassungsrechtliche Grundordnung des Staates, JZ 1987, 433; Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1994, 58; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 17; Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1996, 26. Grundgesetz als synonym zu Verfassung in Brockhaus-Enzyklopädie 1994, 191. 153 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1928 (1821), § 274. 152
V.
ische oder
i s e Verfassung
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Fritz Fleiner schrieb, die Verfassung stelle das ,»ruhende, beharrende Moment des staatlichen Lebens" dar. 154 „Mit dem Begriff der Verfassung verbindet sich die Vorstellung der Stabilität", so Werner Kägi}55 „Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates muß in der Flut der Neuerungen, deren atembeklemmendes Tempo Krisen weniger löst denn auslöst, der ruhende Pol des Ganzen bleiben." 156 Hasso Hofmann sieht „den ursprünglichen Sinn von Konstitution" darin, „in ihrem Kernbestand grundlegende systematische, folglich dauernde, ja legaliter überhaupt unabänderliche und deswegen in einem Gesetz herausgehobene und ausgeformte Ordnung des Staatslebens zu sein." 157 Kurt Eichenberger betont die „herausgeforderte Ordnungsfunktion [der Verfassung] angesichts der allgemeinen Dynamisierung und Verunsicherungen".158 Demgegenüber schreibt Rudolf Smend: „Die Wirklichkeit wird nicht durch die Verfassung als das ,ruhende, beharrende Moment im staatlichen Leben4, sondern durch das sich immerfort erneuernde Verfassungsleben immer neu hergestellt." 159 Ulrich Scheuner und andere erblicken die Eigenart des Verfassungsrechts gerade in seiner Dynamik. 160 Peter Häberle sieht in der zunehmenden Verwendung von zukunftsorientierten, dynamischen Aufgabennormen in Staatsverfassungen ein „Charakteristikum der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates."161 Und Gunnar Folke Schuppert resümiert: ,,[0]ffenbar befinden wir uns auf dem Weg von der formal-begrenzenden zur materiellprogrammatischen Verfassung, vom eher rigiden zum flexiblen Verfassungsrecht." 162 Grob zuordnend kann man sagen, daß dem statischen Verfassungsverständnis eher die liberale politische Theorie korrespondiert, nach der die Verfassung den 154 155
tat 77. 156 157
ändert.
F. Fleiner, Institutionen des Deutschen Verwaltungsrechts, 1928,3. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, passim, ZiStern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland 1,1984, VII. H. Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, 1986, 262; Hervorhebungen ge-
158 K Eichenberger, Sinn und Bedeutung einer Verfassung, ZSR 1991, 180; vgl. auch Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991, 427f zur (stabilisierenden) Entlastungs- und Kontrollfunktion der Verfassung. 159 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 192; aus neuerer Zeit Scheuner, Verfassung, Görres-Staatslex., 1963, Sp. 126; Häberle, Zeit und Verfassung, ZfP 1974, 116 (Verfassung als zukunftsweisender Prozeß); vgl. auch D. Rousseau, Une resurrection: La notion de Constitution, R.D.P. 1990, 15 (Verfassung als „un espace vivant"). 160 Scheuner, Verfassung, Görres-Staatslex., 1963, Sp. 126; ebenso H.-P. Schneider, Direkte Anwendung und indirekte Wirkung von Verfassungsnormen, 1982,24. 161 Häberle, Artenreichtum und Vielschichtigkeit von Verfassungstexten, 1989,241. 162 Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, 1995, 56.
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
Staat als Garanten bürgerlicher Freiheit beschränken und organisieren soll. Demgegenüber erscheint die sozialstaatliche politische Theorie eher dynamisch, indem sie dem Staat in der Verfassung Handlungspflichten auferlegt und inhaltliche Ziele vorgibt. 163 Die Europäische Verfassung ist nun „der Prototyp einer dynamischen Verfassung. Dies liegt in ihrer Eigenart begründet, ein verfassungsrechtlicher Rahmen für einen fortschreitenden Integrationsprozeß zu sein, ein Rahmen, der sich im Laufe dieses Integrationsprozesses ständig selbst wandelt und die politischen Institutionen dem Stand des Integrationsprozesses anpassen muß." 1 6 4 Diese Dynamik unterscheidet aber das europäische Verfassungsrecht nicht kategorial von Staatsverfassungen, weil jede Verfassung sowohl statische als auch dynamische Elemente benötigt und besitzt, die auf der einen Seite stabilisieren und begrenzen, auf der anderen Seite anregen und verändern.165 „Die Frage nach der »Starrheit* oder nach der »Beweglichkeit4 der Verfassung ist daher keine Frage einer Alternative, sondern eine Frage der »richtigen4 Zuordnung dieser Ele-
163
Programmatische Ziel- und Aufgabennorm sind aus zwei Gründen „dynamisch44: Weil sie per se zukunftsorientiert sind und weil sie aufgrund ihrer Weite veränderlicher Auslegung unterliegen. Femer erhalten Verfassungen Dynamik durch die jeweilige Ausgestaltung der Vorschriften über die Verfassungsänderung. 164 Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, 1995, 96. Siehe bereits Ophüls, Die Europäischen Gemeinschaftsverträge als Planungsverfassungen, 1965, 232f („Planungsverfassungen44); Schwarze, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, 1984, 35 und 37 (prinzipielle Offenheit, Elastizität und Flexibilität der Verfassung); H. P. Ipsen, Über Verfassungs-Homogenität in der Europäischen Gemeinschaft, 1990, 172 („Wandelverfassung44); von Bogdandy, Skizzen einer Theorie einer Gemeinschaftsverfassung, 1993, 27 („gradualistischer Charakter der Verfassung44); Bieber, Verfassungsentwicklung der EU, 1998, 214 („Prozeßqualität der Verfassung"); Preuß, Auf der Suche nach Europas Verfassung, Transit 1999, 164 („Wandel- und Integrationsverfassung44). 165 Bereits Heller, Staatslehre, 1963 (1934), 250; Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, 9-15 zur Zeitoffenheit der Verfassung; Verfassung als „stabilisierender Verhaltensentwurf4 (24); Scheuner, Die Funktion der Verfassung für den Bestand der politischen Ordnung, 1979, 115: „Im Ganzen wirkt die Verfassung im stabilisierenden Sinne. Sie bleibt aber stets im Spannungsfeld der Kräfte der Politik und der Veränderungen im gesellschaftlichen Leben und in den geistigen Strömungen.44 Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, 1973, 33f: Die Verfassung soll „die Gewinnung und Ausübung von Herrschaft an feste Verfahren und inhaltliche Grundsätze geben und so der politischen Macht unter Ausschaltung von Willkür und Beliebigkeit Berechenbarkeit geben und Grenzen setzten. Die Verfassung ist aber auch ein Plan, der Aufgaben normiert, ein Versuch der Bestimmung der politischen Zukunft durch Leitgedanken und Richtlinien für den politischen Prozeß und die Wirksamkeit des Staates, der Entwurf einer politischen Form... Konservierende Gewährleistung ... verbindet sich in der Verfassung spannungsvoll mit Verheißungen, Antizipationen und Programmen.44 Zum zugleich statischen dynamischen Charakter der Verfassungen internationaler Organisationen Schermers/Blokker, International Institutional Law, 1995, § 1149.
V.
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mente". 166 Je kritischer nun die Dynamik von Verfassungsrecht gesehen wird, desto zweifelhafter erscheint die Eignung der genuin dynamischen europäischen Rechtsordnung als Verfassung. Wem mit Kägi die „Dynamik des Rechtes" als ein prinzipiell antinormatives Element gilt, als lediglich „eine beschönigende Umschreibung dafür, daß die Verfassungsnormen nur noch sehr bedingt und eingeschränkt gelten sollen", 167 der tut sich schwerer mit der Anerkennung einer europäischen „constitution evolutive". 168 Mit Bezug auf Staatsverfassungen wird als Hauptproblem der Verfassungsdynamik, die in häufiger Verfassungsänderung liegt, die Schwächung der normativen Kraft gesehen. Wenn eine Verfassung keine dauerhaften, verläßlichen Verhaltensrichtlinien aufstellt, sondern laufend, in Anpassung gewandelter Wertvorstellungen, geändert wird und damit nur noch nacheilend die tatsächlich herrschenden Auffassungen und Verhaltensweisen sanktioniert, dann ist die Verfassung - so der Vorwurf - nicht mehr normierendes Vorbild, sondern nur noch Abbild der Verhältnisse. So pauschal kann Dynamik jedoch nicht mit Normativitätsverlust gleichgesetzt werden, weil - wie dargelegt - Flexibilität und Anpassung der Verfassung auch dem Erhalt der normativen Kraft dient. 169 Vor allem aber sind die regelmäßigen, auch einschneidenden Änderungen des europäischen Verfassungsrechts ein Spezifikum. Sie sollen nicht primär die Reaktion auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen ermöglichen, sondern „von ihrer Struktur selbst auf aktiv fortschreitenden Wandel ausgerichtet" sein. 170 Weil sie als Integrationsverfassung prinzipiell auf Wandel hin angelegt ist, nämlich auf den Prozeß zunehmender Zusammenführung der Mitgliedstaaten und Bürger, ist ihr Wandel in einem spezifischen Sinne Verfassungsverwirklichung. 171 Die Dynamik der europäischen Verfassung ist weniger reflexiv als kreativ, weniger den gesellschaftlichen Entwicklungen nacheilend als sie formend. Die besondere Dynamik der europäischen Verfassung ist damit nicht Ausdruck eines Steuerungsdefizits, sondern eines spezifischen Steuerungswillens. 172
166 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 36. 167 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945,10f. 168 Gerkrath, L* Emergence d'un droit constitutionnel pour rEurope, 1997, 142, 299, auch 127. 169 NäherobenS. 49-51. 170 Schwarze, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, 1984, 39. 171 H. P. Ipsen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs für die Integration, 1983, 50f. 172 Richtig Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, 135.
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Als letzte Problemdimension der Verfassungsdynamik tritt bei der europäischen Verfassung das Verhältnis der EU/EG zu den Mitgliedstaaten hinzu. 173 Ein eher statisches Verständnis der supranationalen Verfassung wirkt als Schutzschild gegen Aktivismus der europäischen Organe insofern, als verfassungsüberschreitende Ultra-vires-Akte unzulässig sind. Je dynamischer, also flexibler und extensiver die supranationale Verfassung interpretiert wird, desto stärker wird die mitgliedstaatliche Souveränität eingeschränkt. Die skizzierten Konzepte sind Extrempositionen; den meisten zeitgenössischen Verfassungstheorien und den existierenden europäischen Staatsverfassungen liegt ein „gemischtes Verfassungsverständnis"174 zugrunde, nach dem die Verfassung sowohl Rahmenordnung als auch Wertordnung, sowohl Schranke von Macht als auch Konstituierung des Gemeinwesens, sowohl rationale Ordnung als auch Symbol, Appell und Sinnstiftung, sowohl statischstabilisierend als auch dynamisch-gestaltend sein soll. Unterschiede zwischen verschiedenen Verfassungskonzepten ergeben sich praktisch nur noch aus abweichender Gewichtung der einzelnen Elemente. Die Anerkennung der Möglichkeit einer europäischen Verfassung ist entsprechend diesen Gewichtungen nuanciert.
V I . Verfassungsfunktionen Europäische grundlegende Normen erfüllen, wie im folgenden gezeigt wird, ähnliche Aufgaben wie die Staatsverfassungen der Mitgliedstaaten, teils in Ergänzung, teils parallel zu diesen. 175 Wir können deshalb die „Verträge als funktionelles Verfassungsrecht" bezeichnen. 176 Einem Einwand soll vorweg begegnet werden. Zum Teil wird behauptet, die europäischen Grundlagenvorschriften hätten nur eine geringe normative Kraft. 1 7 7 Die Rede von der normativen Kraft weist daraufhin, daß Normen eine unterschiedlich starke „Fähigkeit, in der Wirklichkeit geschichtlichen Lebens
173 Vgl. hierzu Schermers/Blokker, International Institutional Law, 1995, § 1342 zu internationalen Organisationen allgemein. 174 Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, 1997,23. 175 Auf die Entbündelung der Verfassungsfunktionen, also die Veränderung des Zusammenspiels der Funktionen der Staatsverfassung selbst durch Globalisierungs- und Entstaatlichungsprozesse ist weiter unten einzugehen (S. 163ff). 176 Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998,142. 177 von Bogdandy, Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, 1993, 121; siehe auch die (etwas wirre) Diskussion bei Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, 115-136.
VI. Verfassungsfunktionen
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bestimmend und regulierend zu wirken" haben. 178 In der Verfassungstheorie wurde dieser Aspekt von Karl Loewenstein beleuchtet, der die „normative" mit der ,,nominalistische[n]" Verfassung kontrastierte.179 „Normativ" ist nach dieser - etwas irreführenden - Terminologie 180 eine Verfassung nur dann, wenn sie nicht nur rechtlich gültig, sondern wenn sie faktisch wirksam ist, also den politischen Prozeß wirklich beherrscht. Eine Verfassung ist demgegenüber nur „nominalistisch", wenn sie ein programmatischer Vordruck ist, der angesichts der tatsächlichen Lage nicht lebendig und wirkkräftig ist. In diesem Zusammenhang ist zuzugeben, daß der politische Wille ein entscheidender, aber labiler Faktor bei der Entwicklung und Formulierung des Gemeinschafts- und Unionsrechts ist, der nicht selten zu Reformstau und Kompromißformeln führt. Mit dem nationalen Verfassungsrecht verhält es sich jedoch nicht prinzipiell anders. Bekanntlich gilt auch dieses als „politisches Recht", ist also durch eine besonders enge Verbindung von Politik und Recht charakterisiert.181 Verfassungsbegriffe sind typischerweise „Schleusenbegriffe" und „offen für eine entsprechende Unterwanderung und ... Begriffsverschiebung". 182 Auch nationale Verfassungsnormen enthalten nicht selten Formelkompromisse, die politische Dissense kaum übertünchen, und die deshalb als normativ schwach bezeichnet werden könnten. Ferner gibt es in Europa Situationen, in denen Normverletzungen toleriert oder nachträglich legalisiert werden oder in denen an den Rechtsvorschriften vorbei agiert wird. 1 8 3 Hier erscheint das europäische Recht wirkungsschwach, nur reflektierend, als Kapitulation vor der Macht des Faktischen. Diese Situationen sind aber die Ausnahme. Im ganzen gesehen ist das europäische Recht wirkmächtig, wird vom Europäischen Gerichtshof durchgesetzt und wird ak-
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Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 42. 179 Loewenstein, Verfassungslehre, 1959,152f. 180 Irreführend deshalb, weil auch wirkungsschwache Normen Sollensanordnungen, also Normen, bleiben. Deshalb bevorzuge ich den Ausdruck „normative Kraft". 181 Grundlegend für das neuere Verständnis Heinrich Triepels Berliner Antrittsrede, die gegen die rechtspositivistische Staatsrechtswissenschaft gerichtet war (Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927). Auf Ideengeschichte und Bedeutungsvielfalt des Topos vom politischen Verfassungsrecht kann hier nicht eingegangen werden. Siehe den Überblick bei Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht", 1992, m.w.N. 182 Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, 1983, 329f. 183 Man denke nur an den Luxemburger Kompromiß von 1966; an das dänische opting-out von Einzelregelungen des Maastrichter Vertrages im Jahr 1992, an die „informelle" Vorab-Einführung des Euro bereits 1997, die auf Art. 235 EGV a.F. [jetzt Art. 308 EGV] gestützt wurde.
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
zeptiert und befolgt. Von einer nur „nominalistischen" Verfassung kann keine Rede sein.
1. Machtbegrenzung, Organisation, Verstetigung, Weisung und Rechtfertigung Herkömmlich werden der Verfassung sowohl rechtliche als auch politische Funktionen zugeschrieben. Als spezifisch rechtliche Funktion gilt die Ordnung/ Organisation des Gemeinwesens und die Verrechtlichung seiner Aktivität. Als spezifisch politische Funktion gilt die politische Einheitsbildung, die Integration des Gemeinwesens.184 Weil aber die Verrechtlichung der Herrschaft auch ein politischer Vorgang ist und andererseits die politische Integration gerade über das Recht erfolgen soll, schlage ich statt der groben Zweiteilung eine differenziertere Aufteilung in sieben Verfassungsfunktionen vor. Es sind dies Machtbegrenzung, Organisation, Verstetigung, Weisung, Rechtfertigung sowie Konstitution und Integration. Diese Funktionen der Verfassung sind prinzipiell anerkannt, wobei die Gewichtung und die Konkretisierung im einzelnen vom zugrundegelegten Verfassungsverständnis und natürlich von der in Frage stehenden konkreten Verfassung und ihren jeweiligen (ordnenden, stabilisierenden, programmatischen etc.) Einzelbestimmungen abhängen. Summa summarum werden diese Verfassungsaufgaben jeweils auch vom europäischen Recht, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, erfüllt. Die klassisch liberale Verfassungsfunktion ist die Begrenzung von Herrschermacht zum Schutz der Rechte des Einzelnen. Dieser Gedanke war das Programm der konstitutionalistischen Bewegung des 19. Jahrhunderts, trefflich ausgedrückt im Titel von Wilhelm von Humboldts epochemachender Abhandlung: „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen". 185 Das liberale Verfassungsdenken entspringt zwar dem historischen Prozeß der Überwindung des absolutistischen Fürstenstaates, bleibt aber solange aktuell, als Hoheitsträger mit spezifischen Mitteln öffentlicher Gewalt fortbestehen. Auch im Hinblick auf die Ausübung nichtstaatlicher Hoheitsgewalt ist die Begrenzungsaufgabe der Verfassung unmittelbar relevant. Dort, wo Hoheitsgewalt auf die EG/EU übertragen ist, bedarf diese ebenso der normativen
184 In dieser Art zweiteilend Badura, Verfassung, Evang. Staatslex. 1987, Sp. 3737; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 6-15; 185 Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, o.J. (1792).
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Riickbindung wie die staatliche Gewalt. 186 Diese Schranken wirken zum einen zugunsten der Mitgliedstaaten und damit mittelbar zugunsten der Unionsbürger, aber auch - wegen des Durchgriffs europäischer Hoheitsakte auf die Einzelnen direkt zugunsten der Individuen. Die europäischen Grundrechte sind ein Hauptbeispiel für den direkten Individualschutz. Hinzukommt, daß europäische Grundnormen nicht nur das Gemeinschafts- und Unionshandeln begrenzen, sondern auch die Mitgliedstaaten zusätzlichen Bindungen unterwerfen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der nationalen Außenpolitik, der im traditionellen Nationalstaat einer vergleichsweise schwachen Verfassungskontrolle unterlag. Damit gleichen die supranationalen Bindungen eventuelle konstitutionelle Defizite der Nationalstaaten aus. 187 Zum zweiten bewirkt die Verfassung die Verrechtlichung und Organisation von Herrschaft. Sie normiert die Grundlagen und Grundzüge der politischen Ordnung. 188 Ein wichtiges Element der Verrechtlichung liegt in der Bereitstellung von Verfahren der Konfliktbewältigung. Einer solchen Verrechtlichung bedarf, wenn das Herrschaftsmonopol des Staates zerfällt und er seine Befugnisse mit nichtstaatlichen Trägern teilt, auch die europäische Hoheitsgewalt, unabhängig davon, daß sie einem überstaatlichen Gebilde zusteht. 189 Die europäischen Verträge erfüllen diese Funktion, indem sie die Verbandszuständigkeit von Union und Gemeinschaft definieren, Institutionen und deren Kompetenzen festlegen und ein gerichtliches Rechtsschutzsystem bereitstellen. Drittens hat die Verfassung die Funktion der inhaltlichen Weisung und Ausrichtung der politischen Einheit an Werten. Sie tut dies vor allem mit Grundrechte- und Staatszielbestimmungen.190 Ulrich Scheuner hat diesen zukunftsgerichteten, materiell gehaltvollen Orientierungscharakter der Verfassung mit dem 186 Di Fabio, Für eine Grundrechtsdebatte ist es Zeit, 1999, 11; Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, 2000, 6. A.A. Isensee, Integrationsziel Europastaat?, 1995, 580: Die EG/EU sei nicht vevfassungsbedürftig, da sie - anders als der Staat - auch ohne Verfassung keine bloße Machtorganisation ist, sondern von Anfang an dem Recht, nämlich den Verträgen unterworfen ist und nur durch diese lebensfähig ist. 187 Petersmann, Proposals for a new Constitution for the European Union, 1995, 1124 erblickt hierin die wesentliche konstitutionelle Funktion der europäischen Verträge; vgl. in diese Richtung auch Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, 1997, 30. 188 Diese Funktion wird betont etwa von Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, 88f („Rationalisierung der Macht"); Tomuschat, Obligations Arising for States Without or Against Their Will, RdC 1993, 216 (Verfassung als „meta-rules, rules on how the bulk of other rules are produced, how they enter into force, how they are implemented and who, in case of differences over their interpretation and application, is empowered to settle an ensuing dispute." 189 Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? JZ 1995, 585. 190 Scheuner, Verfassung, Evang. Soziallex., 1980, Sp. 1364.
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
Ausdruck „Verfassung als Norm und Aufgabe" gekennzeichnet.191 Im europäischen Primärrecht finden sich Zielvorschriften, Aufgabennormen und Programmsätze. Die Zielbestimmungen in Titel I des EUV sind „gemeinsame Bestimmungen" für EGV und EUV und legen rechtsverbindliche Ziele für beide Entitäten fest. 192 Dabei sind in der historischen Entwicklung die primär wirtschaftlichen Ziele durch weitere, außerökonomische Ziele ergänzt worden: Frieden und Sicherheit, Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und soziale Gerechtigkeit sind seit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 Ziele der Union. 1 9 3 Insgesamt sind die Verträge final strukturiert und auf fortschreitende Veränderung angelegt. Der (verfassungsähnliche) Orientierungs- und Leitcharakter ist also stark ausgeprägt. Eine andere Frage ist, ob der außerordentlich hohe Anteil programmatischer Vorschriften insgesamt eine Schwächung der Normativität der europäischen Verfassimg nach sich zieht. Ziel- und Aufgabenbestimmungen sind von ihrer Formulierung und Struktur her offen. Selbst wer hier optimistisch von „Steuerung durch Offenheit" 194 spricht, kann nicht leugnen, daß solche Normen zum einen stärker manipulierbar und in ihrer Auslegung den tatsächlichen Gegebenheiten anpaßbar sind. Zum zweiten sind sie zwangsläufig geringer justiziabel als statische, negativ begrenzende und inhaltlich entlastete Verfassungsgehalte. Eine tendenziell noch weiter reduzierte normative Kraft hat „weiches" Verfassungsrecht in Form von nicht-justiziablen Deklarationen, Resolutionen, Prinzipien- und Grundwerteerklärungen usw., das zum Teil in bezug auf Europa vorgeschlagen wird. 1 9 5 Die mit diesen beiden Aspekten einhergehende Schwächung der Wirkkraft solcher Vorschriften ist jedoch unvermeidlich und wird auch im 191
Scheuner, Verfassung, Görres-Staatslex., 1963, Sp. 118; Hervorhebung d. Verf. Aus EuGH Rs. 6/72, Europeemballage v. Kommission, Slg. 1973, 215, 244f ergibt sich, daß die Ziele der Verträge keine bloßen Programmsätze, sondern rechtlich verbindlich sind. Die Zielbestimmungen definieren den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts, sind Kompetenzgrundlage in Abwesenheit einer speziellen Ermächtigung und fungieren als Auslegungsrichtlinie. 193 Präambel EGV Abs. 8 u. Art. 2, 4. Spiegelstrich EUV (Frieden und Sicherheit); Art. 6 Abs. 1 EUV (Demokratie, Menschenrechte und Grundfreiheiten, Rechtsstaatlichkeit); Präambel EUV Abs. 4 (soziale Grundrechte). Siehe zur Zielstruktur der Europäischen Gemeinschaft und zu den Gemeinschaftszielen Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, 280-296; Müller-Graff, Einheit und Kohärenz der Vertragsziele von EG und EU, EuR 1998, 67-80. 194 Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, 1995, 66f. 195 So etwa vom deutschen Außenminister Joschka Fischer, Rede zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft vor dem EP am 21. Juli 1999, Bull. BReg. 45/1999, 478, 481: „Wir sollten uns [in der Diskussion über eine europäische Verfassung] von einem strikten rechtlichen Verständnis freimachen und unter »Verfassung4 eher eine Zusammenstellung der Werte und der Grundprinzipien europäischen Zusammenlebens einschließlich des Funktionierens der Europäischen Union als Konstrukt sui generis begreifen". 192
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nationalen Verfassungsrecht hingenommen.196 Diese Grundhaltung ist deshalb richtig, weil sie überzogene Erwartungen an die Steuerungsleistung von Verfassungsrecht vermeidet. Sämtliche weisende Verfassungsnormen, also Programmsätze, Verfassungsdirektiven, Gesetzgebungsaufträge oder Staatszielbestimmungen sind „hauptsächlich auf indirekte Wirkung angelegt", und gerade nicht auf präzise Determinierung des Gesetzgebers, der nur noch Verfassungsvollstrecker wäre. 197 Diese Teile des Verfassungsrechts werden nicht unmittelbar und rigide angewendet, sondern sind auf eigenverantwortliche und (im vorgegebenen Rahmen) kreative Konkretisierung durch den politischen Prozeß an198
gewiesen. In gewissem Zusammenhang mit dem Aufgabencharakter der Verfassung steht das Verständnis der Verfassung als Wertordnung, das heißt als materielle Einheit, deren Inhalt grundlegende, der positiven Rechtsordnung vorausliegende Werte verkörpert. 199 Auch die Europäische Unionsgrundordnung wird als „Wertordnung" apostrophiert.200 Bei identischer Terminologie unterscheiden sich jedoch die Konzepte in der Feinausrichtung. Der nationalverfassungsrechtliche (insbesondere bundesrepublikanische) Topos der Wertordnung ist als Reaktion auf die Mißachtung von Werten durch die nationalsozialistische Herrschaft zu verstehen und ist durch die Wertethik, die vom Bundesverfassungsgericht in der Nachkriegszeit rezipiert wurde, inspiriert. 201 Demgegenüber soll die Rede von der europäischen Wertordnung herausstellen, daß Europa nicht bloß eine Marktordnung mit ökonomischen Zielen ist, sondern eine geistige und politische Gemeinschaft. Trotz dieser unterschiedlichen Motivationslage ist aber 196
Vgl. Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, AöR 1972,500. H.-P. Schneider, Direkte Anwendung und indirekte Wirkung von Verfassungsnormen, 1982,42f. 198 Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, 1995, 51. 199 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 3 u. 299; siehe bereits Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 159, 264f: („keine formelle Integration ohne sachliche Wertgemeinschaft", Grundrechte als Wertsystem); Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, 47. Die frühe bundesverfassungsgerichtliche Argumentationsfigur der „verfassungsrechtlichen Wertordnung" (BVerfGE 6, 32,41 (1957) und st. Rspr. bis Anfang der siebziger Jahre) ist als methodisch bedenklich stark kritisiert worden (grundlegend Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973) und wird heute vermieden. 200 de Vigo- und Tsatsos-Bericht über den Vertrag von Amsterdam v. 5. Nov. 1998, EuGRZ 25 (1998), 72, 73, Einleitung Ziff. 2 b). Havel, Eine Gemeinschaft der Werte und der Mitverantwortlichkeit, FAZ v. 8. Nov. 1996, 10 spricht von einer „Gemeinschaft der Werte und der Mitverantwortlichkeit für diese Werte". Jacque, Cour g6n£ral de droit communautaire, 1991, 275 nennt „valeurs ... qui sont largement partagöes par les ßtats membres [et] qui constituent les bases de la constitution politique de PEurope communautaire". 201 Hartmann, Ethik, 1962 (1926); Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1980 (1916). 197
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
die Stoßrichtung beider Konzepte jedenfalls prinzipiell dieselbe; es geht beide Male um die ideelle Ausrichtung des Gemeinwesens. Gegenüber dem vorgenannten eher dynamischen, zukunftsorientierten Konzept der Verfassung als Aufgabe betont Dieter Grimm die Stabilisierungs- und Verstetigungsaufgabe der Verfassung.202 Die Verfassung übernehme die „Funktion der generationenübergreifenden Stabilisierung eines historisch gefundenen Grundkonsenses". Erstens werde durch die schriftliche Fixierung eines verbindlichen Konsenses die Politik der Notwendigkeit enthoben, diesen Konsens immer wieder neu herzustellen. Der politische Entscheidungsprozeß werde damit „von der immer neuen Diskussion über die Grundlagen der Einheitsbildung entlastet... Die Verfassung ermöglicht diese Entlastung, weil ihre Regelungen nicht mehr Thema, sondern Prämisse von Politik sind." Zweitens verhindern Verfassungen den abrupten sozialen Wandel, „indem sie auf der Ebene der Prinzipien und Verfahren höhere Kontinuität institutionalisieren als auf der Ebene der Ausführung und Konkretisierung." Durch Verschärfung der Konsens- und Rechtfertigungsanforderungen und Erschwerungen des Verfahrens konstituieren Verfassungen einen „Selbstschutz der Gesellschaft vor Übereilung und schaffen Raum für soziales Lernen." Der geschilderte doppelte „Entlastungs- und Kontrolleffekt" garantiere den sozialen Frieden. Wenn auch das europäische Regelwerk insgesamt durch eine starke Dynamik gekennzeichnet ist, so bildet es doch auch einen stabilisierenden Rahmen. Das Vertragsrecht fixiert den Konsens der Regierungen und ratifizierenden Parlamente. Es darf prinzipiell nur in festgelegten, schwerfälligen Verfahren geändert werden. Der konstitutionelle Kern des Primärrechts ist noch weitergehend gegen formlosen Verfassungswandel geschützt.203 Damit entlastet das Vertragsrecht das politische Tagesgeschäft und kontrolliert den Wandel in verfassungsähnlicher Weise. Schließlich hat die Verfassung die Funktion der Rechtfertigung von Herrschaft. Wenn das Handeln von Amtsträgern und Institutionen verfassungsgemäß ist, ist es aus strikt rechtspositivistischer Sicht vollständig legitimiert, aus nicht rechtspositivistischer Perspektive bildet die Übereinstimmung mit der Verfassung einen (widerleglichen) Faktor von Legitimation. 204 Europäische Grundsatznormen sind Maßstab der Rechtmäßigkeit des Handelns der Institutionen und haben insofern eine legitimatorische Funktion.
202
Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 1991,427f. Zur europäischen Verfassungsänderung unten S. 447ff. 204 Vgl. Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1995, 18 (zur „normativen Geltung" des einfachen Rechts). Zur Legitimationsfunktion der Verfassung auch Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, 1973, 21. Eine andere Frage ist die der Rechtfertigung der Verfassung selbst. Dazu unten S. 499ff. 203
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Im Gegensatz zu den bisher genannten Verfassungsfunktionen sind die Konstitutions- und Integrationsfunktionen der Verfassung umstritten, gleichzeitig aber für die europäische Verfassung besonders relevant. Auf diese beiden Funktionen soll deshalb etwas näher eingegangen werden.
2. Konstitution durch Verfassung Im deutschen Etatismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts dominierte noch die Vorstellung, daß der Staat ein prä-existentes, unverfaßtes, außer-rechtliches Gebilde sei, das von der nachträglich hinzutretenden Verfassung organisiert, gemäßigt und begrenzt werde. 205 Diesem Verfassungsverständnis müssen die europäischen Normen als aliud erscheinen.206 Denn die EG/EU ist eine primär rechtlich konstituierte Entität. Die europäische Verfassung hegt nicht ein vorgängiges Machtgebilde ein, sondern erzeugt die EG/EU als „Rechtsgemeinschaft" (Walter Hallstein).201 Ein solcher Kontrast zwischen nicht-konstitutiver Staatsverfassung und konstitutiver europäischer Verfassung wird jedoch von weiten Teilen der modernen Staatsrechtslehre nicht mehr so empfunden. In mehreren Lagern wird nämlich zunehmend die konstituierende Funktion der Staatsverfassung betont, wenn auch mit unterschiedlicher Nuancierung und Stoßrichtung. Auf der einen Seite geht die republikanische politische Theorie, auf die sich etwa der USamerikanische „new constitutionalism" 208 stützt, in die genannte Richtung. Diese Theorie legt dabei einen eher existentiell-umfassenden Verfassungsbegriff, bezogen auf das gesamte politisch-gesellschaftliche Gemeinwesen zugrunde 209 205
Siehe hierzu unten S. 100. Deutlich bei Th. Fleiner, Verfassungsbegriff, Verfassungsziele und Verfassungscharakteristika in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union und in der Europäischen Union, 1998,30. 207 Hallstein, Die EWG - Eine Rechtsgemeinschaft, 1979 (1962), 341. Rechtsgemeinschaft ist die EG/EU in einem dreifachen Sinne: Sie ist, erstens, Schöpfung des Rechts (mit verhältnismäßig schwachem kulturell-soziologischen Substrat). Sie ist, zweitens, Rechtsetzungsgemeinschaft, hat also nur das Recht als Gestaltungsinstrument und verfügt nicht über einen faktischen Zwangsapparat. Drittens unterliegt sie dem Recht (rule of law) und ihr Handeln ist grundsätzlich Subjekt gerichtlicher Kontrolle (Ähnlich Ehlermann, Vergleich des Verfassungsprojekts des Europäischen Parlaments mit früheren Verfassungs- und Reformprojekten, 1984, 81-93). Das Konzept der EG/EU als Rechtsgemeinschaft stellt keine Parallele zu Kelsens Gleichsetzung des Staates mit seiner Rechtsordnung dar (Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, 14f und 16-21). Jener behandelte den Staat als rein normatives Gebilde, als reines Sollen, wohingegen das europäische Konzept die soziologischen Grundlagen nicht ausklammert, sondern lediglich ihre relative Schwäche (im Vergleich zum Staat) feststellt. 208 Elkin/Soltan (Hrsg.), A New Constitutionalism, 1993. 209 Dazu oben S. 7If. 206
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
und bezieht auch die Konstitutionsfunktion der Verfassung auf dieses Gemeinwesen. 210 Andere erkennen die konstituierende Funktion der Verfassung sozusagen abstrakt für die Institution des Staates an, nicht unbedingt in bezug auf konkrete einzelne Staaten. Die Verfassung sei die „rechtliche Institutionalisierung neuzeitlicher Staatlichkeit". 211 Der moderne Staat, der sich immer weniger über tradierte Rollenverständnisse oder religiöse und ethische Sinnsysteme organisieren konnte, fand im Recht ein Handlungssystem, das ihm eine verläßliche Formation erlaubte. 212 A m deutlichsten wird die konstituierende Funktion der Verfassung wohl von der strikt rechtsstaatlichen Staatslehre herausgestellt. Diese Lehre definiert den Staat als Verfassungsstaat vom Verfassungsrecht her und konstatiert dementsprechend einen „Paradigmenwechsel" vom Staat zur Verfassung. Aus dieser Sicht leistet das Verfassungsrecht nicht bloß Organisation des Staates und des Staatshandelns, sondern beansprucht, „den Staat erst zu schaffen und dessen Tätigkeit sozusagen a priori rechtlich zu determinieren."213 Friedrich Müller führt aus: „Das ,Geben' ... gibt nicht ,dem Staat eine Verfassung4, sondern ,gibt* den Staat als Verfassungsstaat, konstituiert ihn als solchen, verfaßt einen Staat nicht nur im ausformenden, sondern zuerst im ihn begründenden Sinn." 214 Nach Peter Häberle gibt es „nur soviel Staat, wie die Verfassung konstituiert." 2 1 5 Die Prämisse dieser Lehre ist, daß weder der Staats- noch der Verfassungsbegriff heute noch sinnvoll „formal" zu verstehen sind. Beliebige Machtorgani2,0 Preuß, Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, 1994, 11; Bäkkenförde, Kommentar zu Ulrich K. Preuß, Transit 1999, 175; ähnlich auch Badura, Verfassung und Verfassungsgesetz, 1973, 34. 2N H. Hofmann, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes, 1986, 269-274. 212 Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997,31. 2,3 H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung? JZ 1999, 1066. Zum Paradigmenwechsel auch schon Isensee, Staat und Verfassung, 1987, Rdn. 3. 214 Fr. Müller, Fragment (über) Verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1995, 37; Hervorhebungen im Orig. 215 Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1998, 620. Siehe bereits Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 193: „Die Norm, die Verfassung ... ist die Form der Begründung und der steten Erneuerung und Herstellung dieses Bestandes" (Hervorhebung d. Verf.). Siehe in diesem Sinne auch Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1962, 74; Scheuner, Verfassung, GörresStaatslex., 1963, Sp. 118; Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 1995, 117; H.-P. Schneider, Die Europäische Union als Verfassungsstaat?, 1996, 45; Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, 1995, 36; Badura, Staatsrecht, 1996, A7 (Verfassung als „programmatischer Gründungs- und Gestaltungsakt").
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sationen mit beliebigen Organisationsstatuten sollten nach dieser Auffassung nicht als Staat bezeichnet werden. Denn diese Redeweise ginge am konkreten geschichtlichen Sinn des Begriffs des Verfassungsstaates vorbei, der nicht aus zwei formalen Elementen zusammengesetzt ist, sondern den liberalen (heute auch demokratischen) Rechtsstaat meint. 216 Für diesen verengten, legitimistischen Staatsbegriff gilt das, was ich bereits zum legitimistischen Verfassungsbegriff ausgeführt habe. 217 Es trifft zu, daß jedenfalls innerhalb Europas nur Rechtsstaaten existieren und daß nur diese legitime Staaten sind, so daß sich die europäische Staatslehre auf solche Staaten beziehen muß. Der Staatsbegriff sollte aber universal bleiben. Es ist deshalb nicht sinnvoll, Unrechtsstaaten mittels begrifflicher Reduktion zum Nichtstaat zu erklären. Die konstituierende Funktion der Verfassung ist deshalb nicht dahingehend zu verstehen, daß sie den Staat erzeugt, wohl aber in dem Sinne, daß Staat und Recht in einer Wechselbeziehung stehen. „Das Recht wird zu einer wirksamen Größe nur in der Ausgestaltung und Sicherung durch den Staat wie umgekehrt der Staat erst durch rechtliche Ordnung Wirklichkeit gewinnt." 218 Dieses Zusammenspiel konstituiert den Rechtsstaat. Damit wird anerkannt, daß das (Verfassungs-)Recht nicht nur für die EG/EU, sondern ebenso für den Staat eine positive, kreatorische Funktion hat. Eine in dieser Hinsicht absolute Funktionsdifferenz zwischen Staatsverfassungen und europäischer Verfassung ist nicht auszumachen.
3. Integration durch Verfassung Die letzte, nicht unproblematische Verfassungsfunktion ist die der Integration des politischen Gemeinwesens.219 So unterstellt Dolf Sternbergers Wort vom „Verfassungspatriotismus"220 eine solche integrierende Kraft der Verfassung. Gemeint ist damit, daß die Verfassung als ganze oder einzelne ihrer Institutio216
H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung? JZ 1999, 1066, Fn. 18. 2.7 Siehe oben S. 67. 2.8 Hesse, Der Rechtsstaat im Verfassungssystem des Grundgesetzes, 1962, 75; in diesem Sinne aus neuerer Zeit Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, 31. Siehe bereits von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, 1913, 317 mit der „Auffassung, dass das Recht nicht zum Theil vor und über, zum Theil von und unter dem State sei, sondern dass Recht und Staat miteinander erwachsen, für einander bestimmt und ineinander gebunden seien". 219 Näher K. Eichenberger, Sinn und Bedeutung einer Verfassung, ZSR 1991, 207218; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1995, Rdn. 6-12. 220 Sternberger, Verfassungspatriotismus, 1990(1982), 17-31.
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
nen (Krone, Präsidentschaft, ein Oberstes Gericht, Grundrechte, Wahlen, Referenden etc.) eine (minimale) Übereinstimmung der Bürger in politisch-gesellschaftlichen Fragen sowie ein inneres Zusammengehörigkeitsgefühl soweit ausbilden, wachhalten und weiterentwickeln, daß eine politische Handlungseinheit ermöglicht wird. Der Topos der Integration durch Verfassung geht im deutschsprachigen Raum maßgeblich auf die Integrationslehre von Rudolf Smend zurück, die allerdings im europäischen Ausland wenig rezipiert wurde. 221 Diese Lehre war eine Antwort auf die Krisensituation der jungen und ungefestigten Weimarer Demokratie, die an inneren Gegensätzen zu zerbrechen drohte. 222 Hier fehlte es an der Integration, am „einigenden Zusammenschluss ...". 2 2 3 In dieser Lage behauptete Smend nun, daß die Integration das „Sinnprinzip" der Verfassung sei. 224 Er erklärte: „Die Verfassung ist die Rechtsordnimg des Staats, genauer ... seines Integrationsprozesses. Der Sinn dieses Prozesses ist die immer neue Herstellung der Lebenstotalität des Staates, und die Verfassung ist die gesetzliche Normierung einzelner Seiten dieses Prozesses."225 Nach Smend sind die „legitimierenden sachlichen Gehalte" der Verfassung „zugleich sachliche Integrationsfakto-
221 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928). Der Haupteinwand gegen Smends Lehre lautet, sie schwäche die Normativität der Verfassung (Kelsen, Der Staat als Integration, 1971 (1930), 88-91; Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, 66; Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 1978, 582, Fn. 76; Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, 1995, 39f; Grimm, Verfassung 2, 1995, 135f („Prozedurale Auflösung des Verfassungsgesetzes"); Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung, 1995, 42 (Verfassung nur noch Abbild der Machtverhältnisse)). In der Tat scheint für Smend das geschriebene Verfassungsrecht nicht letztlich maßgebend zu sein: Der „aufgegebene Erfolg [der Integration] mag dabei vom politischen Lebensstrom vielfach in nicht genau verfassungsmäßigen Bahnen erreicht werden: dann wird die ... Erfüllung der Integrationsaufgabe trotz dieser einzelnen Abweichungen dem Sinn auch der Verfassung eher entsprechen als ein paragraphentreueres, aber im Erfolge mangelhafteres Verfassungsleben" (Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 190). Und die von Smend propagierte verfassungsspezifische teleologische, extrem dynamische, nicht an den Wortlaut gebundene Auslegung, die Offenheit der Verfassung gegenüber dem stillen Verfassungswandel und gegenüber der ,,fließende[n] Geltungsfortbildung des gesetzten Verfassungsrechts" (Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 190, 233-242, Zitat 242) lassen Raum für politische Manipulationen und richterlichen Dezisionismus. Trotz berechtigter Bedenken gegenüber extremen Auswüchsen sind doch Smendsche Ansätze wie die teleologische Auslegung, das Prinzip der Einheit der Verfassung, Wertordnung, Grundkonsens und schließlich die Integrationsfunktion der Verfassung zum festen Bestandteil der bundesrepublikanischen Verfassungslehre geworden. 221 Smend, Integration, Evang. Staatslex. 1, 1987, Sp. 1357; siehe auch Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 1978, 581. 223 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), Vorbemerkung (S. 120). 224 Id., 120. 225 Id., 189.
VI. Verfassungsfunktionen
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ren", mit anderen Worten, „Legitimierung der positiven Staats- und Rechtsordnung" und „sachliche Integrationsabsicht" fallen zusammen.226 Legitimierende und damit integrierende Verfassungsgehalte sind vor allem die Grundrechte, aufgefaßt als „Wert- ... oder Kultursystem" 227 , ferner „Präambel, Staatsgebiet, Prinzip der Staatsform, Nationalflagge." 228 Einen größeren Raum in Smends grundlegender Abhandlung „Verfassung und Verfassungsrecht" nimmt die Integration durch tatsächliche Erlebniszusammenhänge ein. Diese werden nicht notwendig durch das (Verfassungs-)Recht ausgelöst. Smend nennt gemeinsames Marschieren,229 die „persönliche Führerschaft, die den Führer ... zum Integrationsfaktor macht" (der Faschismus sei besonders gelungene „unmittelbare Integration") 230 und auch die Abgrenzung vom Fremden: „Der Gegensatz zu anderen Staaten läßt plötzlich Wert und Würde der eigenen und die persönliche Einbezogenheit in den eigenen erleben". 231 Ein integrierendes Erlebnis, das maßgeblich von der Verfassung vorgegeben wird, ist nach Smend die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen und das Erleben des Wahlausgangs. Dieses gehe einher mit „einer wohltuenden Entladung von Spannungen, einer Katharsis, ähnlich wie beim Ausgang eines Spiels." Wahlen bewirkten „deshalb zugleich eine Erhöhung des Lebensgefühls des Einzelnen, einerlei ob er zur Mehrheit oder zur Minderheit gehört." 232 Obwohl Smend ursprünglich annahm, nur die Staatsverfassung sei (gegenüber anderen Verbandsverfassungen) eine „Integrationsordnung", habe eine „Orientierung nach dem Integrationswert",233 hat er selbst nach dem II. Weltkrieg seine Integrationstheorie auf internationale Zusammenschlüsse, ausdrücklich auch auf die EG für anwendbar erklärt, jedoch ohne dies näher auszuführen.234 Nach Ansicht seiner Anhänger greift Integration im S/welschen Sinne problemlos über den staatlichen Bereich hinaus. Die Öffnung des Staates gebe Raum für eine supranationale Verfassung, in der sich eine neue, den Status der Gliedstaaten verändernde, umfassende Einheit bilde. Dementsprechend sei aus 226
Id, 217 u. 265. Dazu id, 260-268. 228 Id, 217. Zu Art. 1 und 3 WRV (Republik, Demokratie und Reichsflagge) führt Smend aus: Solche Gehalte „wirken als Festlegung des Legitimitätstypus des Staats" und „richten das Zeichen auf, in dem das deutsche Volk einig sein soll, und nach Meinung der Verfassung am leichtesten einig sein kann - der Zusammenhang zwischen Sachintegration und spezifischer Legitimität ist hier besonders deutlich." Id, 262. 229 Id, 149. 230 Id, 157. 231 Id, 165. Das Element der Integration durch Ausgrenzung übersieht Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 1995, 113. 232 Id. 150-152. 233 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 195f. 234 Smend, Integration, Evang. Staatslex. 1, 1987, Sp. 1355. 227
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
der Sicht der Integrationslehre eine nichtstaatliche Verfassung ohne weiteres annehmbar.235 Sicherlich paßt die Integrationslehre insofern zur europäischen Verfassung, als sie das zu verfassende politische Gebilde (für Smend ursprünglich der Staat) nicht vorzufinden meint, sondern als laufend zu schaffende Entität ansieht. 236 Die Einheit muß durch Integrationsfaktoren immer neu gestiftet, Gemeinsamkeit muß immer neu begründet werden 2 3 7 Dabei bezog sich Smend ausdrücklich auf ideologisch und territorial zersplitterte Gebilde und nahm an, daß Individuen über die Integration ihrer Staaten (bzw. damals der deutschen Länder) in die übergeordnete Einheit integriert werden könnten. 238 Diese Ausführungen scheinen die europäische Integration geradezu zu antizipieren. Eine nähere Betrachtung zeigt aber, daß eine Gleichsetzung von Smendschei Integration mit europäischer Integration inadäquat ist, und daß die europäische Verfassung bisher im Smendschen Sinne nicht integrierend wirkt. Die europäische Verfassung gilt vielen als „Integrationsverfassung" und es firmiert die „Integration als Verfassungsprinzip".239 Das ist insofern richtig, als das Oberziel der Verfassung die Integration ist: Die Präambel des EUV beginnt mit einer Bekräftigung der Entschlossenheit, den „Prozeß der europäischen Integration auf eine neue Stufe zu heben". Die Eingangsbestimmung des Art. 1 Abs. 2 EUV, die auch für die EG verbindlich ist, setzt als Ziel die „Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas". 240 Zur näheren Klärung müssen nun zwei Integrationsdimensionen unterschieden werden. Erstens die äußere institutionelle und wirtschaftliche Integration, zweitens die innere Integration, das innerliche Zusammenwachsen der Menschen. Die Weimarer Inte235 Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 1995, 115 u. 117. 236 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 136 u. 138: Der Staat „ist überhaupt nur vorhanden in diesen einzelnen Lebensäußerungen", er ist ein „Prozeß beständiger Erneuerung." „Der Staat ist nur, weil und sofern er sich dauernd integriert." 237 Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 1995, 113. 238 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994 (1928), 186, 192,270. 239 H. P. Ipsen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs für die Integration, 1983, 50; ders, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 66; auch Schwarze, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, 1984, 39; Preuß, Europäische Einigung und integrative Kraft von Verfassungen, 1994, 286; Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, 1997, 29 (Integrationswirkung des gemeineuropäischen Veifassungsrechts). 240 Vgl. auch EuGH Gutachten 1/91, Entwurf eines Abkommens zwischen der Gemeinschaft einerseits und den Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation andererseits über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums, Slg. 1991, 1-6079, Rdn. 17: Oberziele sind Binnenmarkt und Wirtschafts- und Währungsunion, daneben die Europäische Union.
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grationslehre handelt von der inneren Integration in einem Staat, der äußerlich bereits integriert war. Demgegenüber war die europäische Integration bisher vor allem eine Frage der äußeren Integration. Diese wurde und wird zwar ebenfalls über das Recht bewirkt, dabei handelt es sich aber um gänzlich andere Mechanismen als die von Smend beschriebenen. Die äußere europäische Integration hat eine institutionell-öffentliche und eine wirtschaftlich-gesellschaftliche Dimension. Institutionelle Integration heißt, daß gewisse öffentliche Aufgaben vergemeinschaftet wurden. Der Integrationsgrad ist meßbar an der Anzahl und Bedeutung der einbezogenen Politikbereiche, der Art und Weise der Beschlußfassung und der Verbindlichkeit der Beschlüsse. Die wirtschaftlich-gesellschaftliche Integration liegt darin, daß materielle Transaktionen grenzüberschreitend stattfinden, also Waren, Arbeitnehmer, Dienstleistungen, Informationen und Kapital im Gemeinsamen Markt frei zirkulieren. Alle diese Integrationsvorgänge sind durch Rechtsregeln ermöglicht worden, namentlich durch Vergemeinschaftung von Rechtsmaterien, durch Vereinheitlichung und Angleichung des nationalen Rechts und schließlich durch die europäischen Grundfreiheiten. Dabei wird das Recht selbst integriert und wirkt seinerseits als Integrator von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, ist also gleichzeitig Gegenstand und Mittel der Integration. Diese Mechanismen meinen Juristen, die das Gemeinschaftsrecht, vor allem in Gestalt der Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs, als entscheidendes Medium der europäischen Integration 241 , als „droit de 1' integration" (Pierre Pescatore)242 bezeichnen. Als Integrationsmedium in diesem Sinne können alle möglichen Rechtsnormen, vor allem im wirtschaftlichen Bereich wirken, ein spezifisches Ensemble von Normen bestimmter Dignität, eine europäische Verfassung, ist hierfür nicht vonnöten. Eine ganz andere Frage ist die der inneren, sozialpsychologischen Integration, die in der Herausbildung eines gemeinsamen „europäischen" Bewußtseins liegt. Spätestens seit der europäischen Legitimitätskrise, die in der MaastrichtDebatte manifest wurde, wurde ein diesbezügliches Defizit konstatiert. Erst an diesem Punkt kann man die Lehre von der Integrationsfunktion der Verfassung einbringen. Nach dieser integriert das (Verfassungs-)Recht nicht in seiner Eigenschaft als Verhaltensregel, sondern als emotionaler Kristallisationspunkt. Voraussetzung dafür wäre ein Rechtstext, der erstens überhaupt für Bürger als Einheit erkennbar ist, zweitens von ihnen als bedeutsam und prinzipiell legitim 241
Siehe nur Koch, Europa ohne Verfassung, Merkur 1996, 20: Das Recht sei der „faktische Föderator". Zur europäischen Integration durch Recht Ehler mann, Vergleich des Verfassungsprojekts des Europäischen Parlaments mit früheren Verfassungs- und Reformprojekten, 1984, 81-93; Schwarze, Das Recht als Integrationsinstrument, 1987, 643-650. 242 Pescatore, Le droit de Fintögration, 1972.
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
gewürdigt wird, und drittens spezifische identitätsstiftende, symbolische, appellative und edukatorische Gehalte hat. Die Bürger müßten, ohne die Verfassung im einzelnen zu kennen, das Gefühl haben, sie sei ein Dokument, das sich bewährt hat und das wirksam ist. Das europäische Verfassungsrecht erfüllt bisher keine der genannten Bedingungen. Es ist undurchsichtig und verstreut und dementsprechend unbekannt, es stellt keine Positivierung grundlegender Werte dar, und es enthält nur sehr wenige identitätsstiftende europäische Verfassungsinstitute. Es gibt zwar eine Unionsbürgerschaft, aber die Wahlen zum Parlament sind nicht vereinheitlicht. Die Ratspräsidentschaft ist nicht personalisiert, Kommission und Gerichtshof haben sich bisher noch nicht als Sympathieträger erwiesen. Insofern ist es verständlich, daß die europäische Grundrechtecharta vom 7. Dezember 2000 243 in allererster Linie als Integrationsfaktor gerechtfertigt wird. Befürworter der Charta hoffen, daß diese eine gemeinsame Wertebasis dokumentieren und damit eine gemeinsame europäische Identität stärken werde. Als Symbol soll die Charta Bezugspunkt der Identifikation mit Europa sein. 244 Gänzlich verfehlt sind solche Erwartungen an die Grundrechtecharta sicher nicht, aber sie sollten nicht überspannt werden. Denn diese stellt lediglich ein Integrationselement dar, dem integrationsfeindliche Elemente des europäischen Verfassungsrechts (vor allem ihre Unübersichtlichkeit und Disparatheit) gegenüberstehen.245 In Anbetracht des gegenwärtig unterentwickelten konkreten Integrationspotentials der europäischen Verfassung sollen hier die grundlegenden Probleme der inneren Integration politischer Gebilde nicht vertieft werden. Dazu müßten zunächst das liberale Konzept der Integration durch Recht mit der kommunitaristischen Vorstellung der Integration über das Gute kontrastiert werden. Eine damit zusammenhängende Frage ist die, inwieweit eine Verfassung ohne starken kulturellen und gesellschaftlichen Unterbau eine solche Grundlage selbst erzeugen oder zumindest befördern kann („constitutional boot-strapping") und
243
ABl. 2000 C 364/1 ff. Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung, DVB1. 1999, 1685; Di Fabio, Für eine Grundrechtsdebatte ist es Zeit, 1999, 11; Hirsch, EG: Kein Staat, aber eine Verfassung?, NJW 2000, 47; Däubler-Gmelin, Eine europäische Charta der Grundrechte, EuZW 2000, 1. 245 Kritisch zur Integrationskraft der europäischen Verfassung etwa Lecheler, Braucht die „Europäische Union" eine Verfassung?, 1995, 406f; Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, 2000, 11 („Überforderung absehbar"); siehe auch Grimm, Ohne Volk keine Verfassung, DIE ZEIT v. 18. März 1990, 4 (Mangels Übersichtlichkeit und Einprägsamkeit kann das europäische Verfassungsrecht nur schwer an die Bürger appellieren, geschweige denn Sympathie erwerben); Randelzhofer, Souveränität und Rechtsstaat, 1995, 133 (Eine europäische Verfassung sollte - wenn überhaupt - darauf gerichtet sein, den erreichten Integrationszustand zu sichern). 244
VII. Fazit
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ob insofern die europäische Verfassung grundsätzlich anders dasteht als die Staatsverfassung, die sich auf stärkere gesellschaftlich-kulturelle Grundlagen stützt. 246 Schließlich bleibt die Grundsatzfrage, ob in der heutigen pluralistischen, postmodernen Gesellschaft überhaupt irgendeine zentrale Institution, sei es der Staat 247 , sei es die Verfassung248, sei es die Nation, innere Einheit erzeugen kann.
V I I . Fazit Verfassung im normativen Sinne ist die Grundordnung eines Gemeinwesens. Auch Internationale Organisationen haben eine solche Verfassung. Die normative Verfassung steht in dialektischer Wechselbeziehung zur faktischen Verfassung der betreffenden Entität. Bei einem neuartigen Gebilde wie der EG/EU kann die normative Verfassung nicht auf gefestigte historische, kulturelle und soziologische Gegebenheiten aufbauen und muß deshalb besonders behutsam entwickelt werden. Das europäische Verfassungsrecht besitzt nicht alle formellen Verfassungseigenschaften. Die Verträge enthalten zu viele technische Vorschriften, als daß sie insgesamt als Verfassungsurkunde(n) qualifiziert werden könnten. Die einheitliche, geschlossene Kodifikation von Verfassungsrecht ist jedoch weder empirisch noch theoretisch ein unabdingbares Verfassungsmerkmal. Der Kodifikationsgedanke hängt nämlich eng mit der Herausbildung der Einheit und Geschlossenheit der Staatsgewalt zusammen, die heute nicht mehr real gegeben ist. Auch der Vorrang der europäischen Verfassung (der an anderer Stelle eingehend zu erörtern sein wird) ist nicht uneingeschränkt gesichert. Mit Blick auf Verfassungsinhalte können zwei konkurrierende Verfassungsvorstellungen unterschieden werden. Eine engere, legitimistische Konzeption will das Prädikat Verfassung nur Dokumenten mit bestimmten legitimen Inhalten vorbehalten. Diese Verfassungsdefinition legt es nahe, den europäischen Normen die Verfassungsqualität abzusprechen, weil sie den angelegten Legitimitätsstandards (insbesondere in puncto Demokratie und Volkssouveränität) 246 Siehe zu Homogenität und Grundkonsens als Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie unten S. 700ff. 247 So die klassisch etatistische Position, siehe etwa Isensee, Staat und Verfassung, 1987, Rdn. 47: Der Staat hat die Aufgabe „über die Spaltung der Gesellschaft Einheit herstellen und wahren zu müssen"; „Einheits- und Friedensfunktion des Staates"; auch Böckenförde, Die Zukunft politischer Autonomie, 1999, 119-123. Grundsatzkritik bei Haltern, Integration als Mythos, JöR 1997, 31-88. 248 Kritisch Aubert, Necessite et fonctions de la Constitution, 1995, 17; Hennis> Integration durch Verfassung?, JZ 1999,487.
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Teil 1: Begriff und Funktion der europäischen Verfassung
nicht genügen. Der legitimistische Verfassungsbegriff ist jedoch abzulehnen, weil er nicht universal ist und Legitimitätsvorstellungen rein definitorisch einbringt. Vorzugswürdig ist der übliche, neutrale Verfassungsbegriff. Ein Dokument ist in materieller Hinsicht eine Verfassung, wenn es typische Inhaltskategorien (Regeln über Organe, Kompetenzen, Stellung der Einzelnen sowie Wert- und Zielbestimmungen) hat. Die konkrete inhaltliche Ausfüllung dieser Kategorien ist eine Frage der Legitimität der Verfassung. Das europäische Recht enthält die verfassungstypischen Inhaltskategorien. In traditioneller Begrifflichkeit ausgedrückt, existiert demnach eine europäische Verfassung im materiellen, nicht aber im formellen Sinne (wobei zu bedenken ist, daß die sogenannten formellen Eigenschaften substantiellen Zielen dienen). Die Vorstellungen über Sinn und Aufgaben einer Verfassung gehen auseinander. Je existentiell-umfassender die Verfassung gedacht wird, desto schwerer erscheint sie für die EG/EU realisierbar. Je statischer man das Institut der Verfassung konzipiert, desto krasser weicht die europäische Verfassung, die durch eine hohe Dynamik gekennzeichnet ist, hiervon ab. Offenheit und Veränderlichkeit der europäischen Verfassung resultieren zum Teil daraus, daß sie einen dynamischen Prozeß, nämlich die europäische Integration, verfaßt. In der europäischen Dynamik drückt sich kein Steuerungsdefizit, sondern eine spezifische Steuerungstechnik aus. Die europäische Verfassung erfüllt in mehr oder minder großem Maß die herkömmlichen Verfassungsfunktionen der Machtbegrenzung, Organisation, Verstetigung, Weisung und Rechtfertigung. Überdies konstituiert sie die EG/EU als Rechtsgemeinschaft. Damit ähnelt sie funktional der Staatsverfassung insofern, als auch diese, im Wechselspiel mit dem faktischen Macht-Unterbau, den Staat als Rechtsstaat konstruiert. Das europäische Recht ist primäres Medium der europäischen „äußeren" institutionellen und gesellschaftlichen Integration durch Vergemeinschaftung von Kompetenzen, Rechtsvereinheitlichung und Herstellung des Binnenmarktes. Mit einer verfassungsspezifischen Integrationsfunktion im Sinne der Smendsehen Lehre hat das nichts zu tun. I m Gegenteil, das Potential der europäischen Verfassung zur inneren Integration, also zur Herausbildung eines Gemeinschaftsbewußtseins der Bürger, ist wegen der Disparatheit und Intransparenz des europäischen Verfassungsrechts unterentwickelt. Es ist allerdings grundsätzlich zweifelhaft, ob selbst innerhalb der kulturell und ideell zunehmend inhomogeneren staatlichen Gesellschaften ein Verfassungsdokument noch eine substantielle innere Integration bewirken kann.
Teil 2
Die Ablösung der Verfassung vom Staat Nachdem wir in Teil 1 festgestellt haben, daß das europäische Grundstatut ohne größere Schwierigkeiten Verfassung genannt werden kann und auch Verfassungsfunktionen erfüllt, ist näher zu untersuchen, ob dennoch kategoriale Unterschiede zwischen der europäischen Verfassung und der Staatsverfassung bestehen. Es geht dabei nicht um den Nachweis einer Staatlichkeit der EU, sondern umgekehrt um die Frage, ob Staatlichkeit eine Voraussetzung von Verfassung ist. Es soll - mit Blick auf die Europäische Union - geprüft werden, ob die in der Alltagssprache längst vollzogene Ablösung des Verfassungsbegriffs vom Staat sachlich gerechtfertigt ist. Hat die EU eine solche Verfassung, wie sie herkömmlich Staaten vorbehalten ist, ist die Verfassung staatsverfassungsäquivalent? An diese Frage werde ich unter der Prämisse herangehen, daß die primäre soziale Einheit der Mensch ist. Alle anderen sozialen Gebilde dienen dem Menschen, der sein Zusammenleben mit anderen regeln will. Neben dem Menschen gibt es keine selbständige soziale Einheit, auch der Staat ist keine solche.1 Da1 Vgl. im Gegensatz dazu Schelling, Vorlesungen über die Methode (Lehrart) des akademischen Studiums, 1990 (1803), Zehnte Vorlesung a.E. (S. 110): Staat als unbedingter und unabhängiger Selbstzweck, als „das unmittelbare und sichtbare Bild des absoluten Lebens", als „absolutefr] Organismus in der Form des Staates". Ähnlich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1928 (1821), insb. §§ 257-259 (S. 328-337): Staat als „Wirklichkeit der sittlichen Idee" und „des substantiellen Willens", „das an und für sich Vernünftige". In den Rechtswissenschaften wurde diese Staatsauffassung etwa von Adam Müller vertreten: „Der Staat ruhet ganz in sich; unabhängig von menschlicher Willkür und Erfindung, kommt er unmittelbar ünd zugleich mit dem Menschen eben daher, wo der Mensch kommt: aus der Natur: - aus Gott, sagten die Alten" (Adam Müller, Von der Idee des Staates, 1921 (1809), 3-16, Zitat auf 14). Auch Smend neigte - trotz Leugnung der Vorfindlichkeit des Staates - zu einer Hypostasierung des Staates, verstanden als „Prozeß beständiger Erneuerung" und begründete die „Sonderstellung der Staatsverfassung" gegenüber Verbandsverfassungen mit „der kategorischen Notwendigkeit der ihr gestellten Integrationsaufgabe gegenüber dem fakultativen Charakter anderer Verbände". Nur der Staat sei „kraft primärer Geistesgesetzlichkeit notwendig, während jene Verbände im allgemeinen fakultative Mittel zu bestimmten einzelnen sachlichen Zwecken" seien. Nur für die Staatsverfassung seien „die Festlegung des staatlichen Zwecks oder Tätigkeitsbereichs und der Stellung seiner Mitglieder keine wesentlichen Erfordernisse .. - ist ja doch das formale Dasein und das Leben des Staates und die Gewährleistung dieses Daseins und Lebens zunächst Selbstzweck und damit die einzige wesentliche Aufgabe der Verfassung." Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, 1994
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Teil 2: Die Ablösung der Verfassung vom Staat
mit soll nicht behauptet werden, daß der Staat überflüssig ist, 2 sondern lediglich, daß er kein Selbstzweck ist. Er ist eine dem Menschen dienende Einheit neben anderen. Deshalb kommt es auf seine Leistungen und auf die damit verbundenen Leistungen seiner Verfassung für die Menschen an.3 Folglich muß auch das Verhältnis von Staat zu Verfassung funktional das heißt in Ansehung der tatsächlichen und angestrebten Funktionen der beiden Institutionen, bestimmt werden.4
(1928), 136, 196f (Hervorhebung d. Verf.), siehe auch id, 160 und zur Affinität der Integrationslehre zu Hegel auf 183. Siehe aus neuerer Zeit noch H. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1964, 190-197, nach dem der Staat „diejenige menschliche Verbindung [darstellt], für die das Vorhandensein als solches ,Zweck4 ist." (192). Folglich lehnt Krüger jede Rechtfertigung des Staates aus seinem Zweck ab und überhaupt die Lehre der „instrumentalen Staatsauffassung", die „den Staat aus einem notwendigen Sein zu einem gewählten Mittel bagatellisiert" (759). 2 In diesem Sinne etwa systemtheoretische Ansätze: „Neben dem Politiksystem bleibt kein Raum für den Staat als eigenständiges Funktionssystem, weil der Staat für die Gesellschaft nichts leistet, was nicht genuine Aufgabe der Politik wäre" (Willke, Ironie des Staates, 1992, 9). Siehe aber gemäßigter Luhmann: Der Staat sei „ein Resultat von Selbstmystifikation, die notwendig ist, damit man ihn von Kommunikation zu Kommunikation, von Ereignis zur Ereignis, herstellen kann" (Luhmann, Metamorphosen des Staates, InfoPhil 4/1994, 8). 3 Hierzu grundlegend Laski, Die Souveränität des Staates, 1970 (1917), insb. 98ff. Die „pluralistische Staatstheorie ... hebt... den eingewurzelten Anspruch des Staats auf Gehorsam auf. Sie besteht darauf, daß sich der Staat wie jede andere Vereinigung durch Erfolge zu bewähren habe." (Id, 106). Vgl. auch Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemseer Entwurfs zum deutschen Grundgesetz vom August 1948: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen." Abgedr. in Der Parlamentarische Rat 1948-1949: Akten und Protokolle 2, 1981, Nr. 14 (S. 580). Selbst staatsfreundliche Verfassungslehrer erkennen heute (mit einigen Einschränkungen), daß der Staat, um legitim zu sein, „sich als funktionstüchtig und effizient bewähren [muß], um die von ihm geforderten Leistungen zu erbringen" (Isensee, Die alte Frage nach der Rechtfertigung des Staates, JZ 1999, 270). 4 Siehe bereits Hollerbach, Ideologie und Verfassung, 1969, 59: Auch für „supranationale Funktionsgemeinschaihen ... stellt Verfaßtheit nach dem Maß verfassungsstaatlicher Sinnprinzipien das unabdingbare Ziel dar" (Hervorhebung d. Verf.); zur funktional orientierten Analyse einer potentiellen europäischen Verfassung femer Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRl 1991, 10 (fragt nach einer „funktionalen Äquivalenz"); Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? JZ 1995, 585 („Verfassung" bezieht sich nicht auf die Herrschaftsform des Staates, sondern auf das Herrschaftsmittel der Hoheitsgewalt); Gerkrath, L'emergence d'un droit constitutionnel pour TEurope, 1997, 89f; Heintzen, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuR 1997, 14 (Organisationsgefüge sowie „Zwecke und Aufgaben" der Union - haben sich zu Grundsätzen verfestigt, welche die „lange bestrittenen Parallelen zu dem Organisationsmodell ,Staat4" aufweisen); Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung, DVB1. 1999, I683f; siehe auch schon Scelle, Le Droit constitutionnel international, 1933, 514 für das internationale Verfassungssystem, das sich nicht funktional von innerstaatlicher Verfassung unterscheide; allgemein zur funktionalen Begriffsbe-
I. Keine durchgängige Koppelung von „Staat" und „Verfassung"
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I. Keine durchgängige Koppelung von „Staat44 und „Verfassung44 Etymologisch sind die Begriffe von Staat und Verfassung gekoppelt, sie haben sich aufeinanderbezogen entwickelt. Die ältere zuständliche Bedeutung von Verfassimg hat ihre Entsprechung im Wort „status". In dieser Grundbedeutung, die bereits in der Antike vorgeprägt wurde,5 haben wir demnach eine Identität von Staat und Verfassung.6 Politisch-historisch ist unbestreitbar, daß die Verfassung eine in einem geschichtlichen Prozeß errungene Institution zur Lösung von Problemen ist, die vielfältig mit der Staatlichkeit eines sozialen Verbandes zusammenhängen.7 Die Assoziation von Staat und Verfassung ist jedoch komplex.
1. Der konstitutionalistische, nicht-staatsbezogene Verfassungsbegriff in England, USA und Frankreich Im 18. und 19. Jahrhundert, in dem sich der moderne, konstitutionalistische Verfassungsbegriff herausbildete, wurden in den Mutterländern des Konstitutionalismus die demokratisch-rechtsstaatlichen Verfassungsurkunden gerade nicht mit primär staatlichem Bezugspunkt erkämpft. Im Gegensatz zum deutschen etatistischen Verfassungsbegriff ist der britische Verfassungsbegriff als genuin politisch, der amerikanische als genuin gesellschaftlich und der französische als genuin nationsbezogen beschrieben worden.8 So lautet die berühmte Verfassungsdefinition des Lord Bolingbroke von 1733: , 3 y Constitution, we mean, whenever we speak with propriety and exactness, that assemblage of laws, institutions and customs, derived from certain fixed principles of reason ... that compose the general system, according to Stimmung der Verfassung Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland 1, 1984, 70. 5 Aristoteles schreibt: „Deijenige, der über die Verfassung (icoAiteia) nachdenkt, was jede und wie beschaffen eine ist, muß gerade seine erste Betrachtung auf den Staat richten, um zu sehen, was wohl der Staat ( t i ö A i O ist." Aristoteles, Politik, 1274b, 3. Buch Abschn. 1 (Ausgabe 1989, S. 154). Cicero hat offenbar „status civitatis" synonym mit „constitutio rei publicae" gebraucht (so Grziwotz, Das Verfassungsverständnis der römischen Republik, 1985, 19, Fn. 8). Dementsprechend wird die Passage aus den Digesten, I. Buch, 1. Teil, 1.2: „Publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat" heute übersetzt als: „Öffentliches Recht ist das, was sich auf die Ordnung des römische Staatswesens bezieht" (Corpus Iuris Civilis: Text und Übersetzung II, Digesten 1-10, 1995,91). 6 Siehe zur engen Verbindung der Begriffe „Konstitution" und „Verfassung" mit der Genese des Begriffes „Staat" bis in die Moderne Mohnhaupt, Verfassung 1,1995, lf. 7 Hierzu Preuß, Auf der Suche nach Europas Verfassung, Transit 1999,157. 8 Preuß, Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, 1994,11-25.
Teil 2: Die Ablösung der Verfassung vom Staat
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which the community hath agreed to be governed."9 Der Staat ist kein Bezugspunkt von „Verfassung", weil im anglo-amerikanischen Kulturbereich „State" nicht die Leitkategorie der politischen Wahrnehmung ist. So ist England die Vorstellung vom Staat als abstrakter interner Rechtspersönlichkeit fremd. 10 England gilt als „the stateless society par excellence".11 Die spezifisch englische „non-admission of the idea of state" 12 im Verfassungsleben liegt im mittelalterlichen, unpolitischen Charakter des englischen Rechts begründet, in der fehlenden Rezeption der römischen Vorstellung vom Staat als öffentlicher Einrichtung, die im öffentlichen Interesse handelt und schließlich in der Tatsache begründet, daß die Einheit der Gemeinschaft unter einem Monarchen mit dem entsprechenden Nationalbewußtsein bereits im Mittelalter existierte, also vor der Herausbildung des Territorialstaates.13 Mangels Staatsbezug konzentrierte sich das englische Verfassungsverständnis nicht auf Schrankenziehung oder Fesselung von (staatlicher) Macht, sondern ist eher aktiv, wie bereits der Titel von Oliver Cromwelh „Instrument of Government" von 1653 illustriert. Ein Instrument of Government gewährleistet den Prozeß gesellschaftlicher Selbstregierung weniger durch Recht als durch den politischen Prozeß, der eher in informellen Netzwerken zwischen privat organisierten Gruppen als über formalisierte Ämter abläuft. 14 Dementsprechend sind eine wichtige Erscheinungsform der englischen Verfassung die constitutional conventions, die nichtrechtlichen Charakter haben, sondern Regeln der politischen Praxis sind. 15 Sie werden eingehalten wegen der politischen Schwierigkeiten, die sich aus ihrer Verletzung ergeben würden, nicht weil sie vor staatlichen Gerichten einklagbar wären. Für die Vereinigten Staaten bemerkte Samuel Huntington „the virtual absence of the concept of ,the state' in American thought." 16 Der amerikanische Konstitutionalismus zielte insbesondere auf den Schutz gesellschaftlicher Minderheiten (ursprünglich die durch die englische Parlamentsherrschaft Benachteiligten, heute Afro-Amerikaner und andere).17 Die kulturell und ethnisch stark
9
Bolingbroke, A Dissertation Upon Parties, 1997 (1733-34), 88 (Hervorhebung d. Verf.). 10 Siehe hierzu Passerin d'Entreves, The Notion of the State, 1967, 33f; Marshall, Constitutional Theory, 1971, 13-17; Dyson, The State Tradition in Western Europe, 1980, 36-44 und 186-196; Allott, The Crisis of European Constitutionalism, CML Rev. 1997,451. 11 Nettl, The State as a Conceptual Variable, Wld. Pol. 1968, 562. 12 Turpin, British Government and the Constitution, 1995,9. 13 Dyson, The State Tradition in Western Europe, 1980,41-43. 14 Vgl. id, 42. 15 Hierzu unten S. 469f. 16 Huntington, American Politics, 1981, 34. 17 Preuß, Der Begriff der Verfassung und ihre Beziehung zur Politik, 1994, 15-19.
I. Keine durchgängige Koppelung von „Staat" und „Verfassung"
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segmentierte Gesellschaft integrierte sich primär über Recht und Verfassung, nicht über den Staat.18 Auch amerikanische republikanische und kommunitaristische Theoretiker, die heute das klassische liberale Rezept der Integration durch Recht kritisieren, präsentieren keinesfalls den Staat als Alternative, sondern erblicken in der Gemeinschaft (community) die entscheidende Organisations» und Integrationseinheit. Die kommunitaristische These vom Vorrang des (gemeinschaftsweiten) Guten vor den Rechten19 wurde primär für „relativ kleine und homogene Gemeinschaften"20 aufgestellt, nicht für große Staatsnationen. Zur Stärkung des Gemeinschaftsethos empfiehlt der Kommunitarismus dementsprechend eine Stärkung der Regionen und Netzwerke, auch der interregionalen Beziehungen, ob sie sich nun innerhalb der Staatsgrenzen bewegen oder über sie hinausgehen.21 Die „Sphären der Gerechtigkeit" 22 können also auch über den Staat hinaus erstreckt werden.23 Der universalistisch orientierte Kommunitarismus betrachtet sogar die gesamte Menschheit als die maßgebliche Gemeinschaft.24 Der französische Konstitutionalismus schließlich bezog Verfassung auf die Nation. Nach Emmanuel Joseph Sieyes ist die Nation vor allem anderen da, sie ist der Ursprung.25 Bereits zuvor sah Emer de Vattel in der Verfassung „la forme sous laquelle la Nation agit en qualite de Corps Politique." 26 Georges 18 Cohen-Tanugi, Le droit sans l'Etat, 1985, passim. Laurent Cohen-Tanugi betitelte seine scharfsinnige Analyse der US-amerikanischen Demokratie deshalb mit „Le droit sans l'Etat". Das soll besagen, daß der Staat nur einer von zahlreichen Erzeugern von Recht ist. Dieses System sei eine Form von „autorögulation de la societö americaine par le droit" (id, 9). 19 Sandel, Liberalism and the Limits of Justice, 1998, X. 20 Fallon, What is Republicanism and is it Worth Reviving?, Harv. L. Rev. 1989, 1733. 21 Etzioni, Die Verantwortungsgesellschaft, 1997 (1996), 296-310. 22 Walzer, Sphären der Gerechtigkeit, 1992 (1983). 23 Zweifelnd aber der konservative Kommunitarismus, so etwa Michael Walzer schon in bezug auf eine Gemeinschaft aller Amerikaner: „In these circumstances, republicanism is a mirage, and American nationalism or communitarianism is not a plausible option; it doesn't reach to our complexity" (Walzer, What Does it Mean to be an „American"?, Soc. Res. 1990, 591, 613). 24 Siehe das kommunitaristische Programm 1991, abgedr. in Etzioni, Die Entdeckung des Gemeinwesens, 1995 (1993), 282ff, auf S. 297f: „Wir glauben, so utopisch es klingen mag, daß eine weltweite Verbreitung demokratischer Gemeinschaften das Entstehen einer globalen Gemeinschaft ermöglichen würde ... Unser kommunitaristisches Interesse mag bei uns selbst und unseren Familien beginnen, zielt aber letztlich auf die Gemeinschaft aller Menschen." 25 Sieyes, Was ist der dritte Stand?, 1981 (1789), 167. 26 de Vattel, Le droit des gens ou principes de la loi naturelle appliques k la conduite et aux affaires de Nations et des Souverains, 1758, Ii vre I, chap. III, § 27 (S. 31); Hervorhebung d. Verf.
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Teil 2: Die Ablösung der Verfassung vom Staat
Scelle sieht in der Wortwahl der französischen Menschenrechtserklärung „Toute societe dans laquelle la garantie des droits n'est pas assuree, ni la separation des pouvoirs determinee, n'a point de constitution" 27 bereits den „point essentiel qui marque le divorce entre la notion d'Etat et la notion de Constitution, ... la notion de Constitution est inseparable de la notion de Societe politique." 28 Dieser Tradition entsprechend haben heutige französische Verfassungsund Europarechtler kaum Schwierigkeiten, der EG/EU eine Verfassung zuzuerkennen: „Etat et Constitution ne sont pas les deux faces d'une seule et meme medaille", „la notion de constitution s'applique ä toutes les formes de communautes politiques, passees ou presentes, y compris l'Union europeenne."29 „On peut parfaitement reconnaitre un caractere constitutionnel au systeme communautaire sans pourtant en induire que la Communaute a atteint ce qu'on appelle parfois le ,seuil etatique4, ou l'etaticite". 30
2. Der deutsche Etatismus des 19. Jahrhunderts und seine Nachwirkungen Im Jahre 1802 diagnostizierte Hegel: „Deutschland ist kein Staat mehr. Es ist kein Streit mehr darüber, unter welchen Begriff die deutsche Verfassung falle. Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr." 31 Hegels bekanntes Diktum ist hier deshalb vorangestellt, weil es eine damalige deutsche Hauptsorge, die fehlende Staatlichkeit, formuliert. Im Gegensatz zu den Mutterländern des Konstitutionalismus war Deutschland gewissermaßen staatsfixiert, gerade weil Eigen- und Einheitsstaatlichkeit fehlten. Trotz dieser Fixierung wurden zunächst Verfassung und Staat nicht logisch oder begrifflich gekoppelt. Hegel bezog sich auf die seinerzeit ungefähr 150 Jahre alte, bereits abgeklungene Diskussion über die Verfassungsform und Rechtsnatur des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation (bis 1806). I m 17. Jahrhundert war es streitig gewesen, ob es sich um eine Monarchie oder eine Aristokratie im Sinne der aristotelischen Verfassungsformenlehre handele, nach herrschender Meinung lag ein status mixtus vor. 3 2 In diesem Streit hatte bekanntlich Samuel Pufendorf eine neue, bis heute nachwirkende Position bezogen. Er qualifizierte das 27 Ziff. 16 der Erklärung der Rechte des Menschen und der Bürger v. 26. Aug. 1789, abgedr. in Franz, Staatsverfassungen, 1964, 302, 306; Hervorhebung d. Verf. 28 Scelle, Le Droit constitutionnel international, 1933, 505. 29 Zoller, Droit constitutionnel, 1998,21 f. 30 D. Simon, Les fondements de l'autonomie du droit communautaire, 2000, 225. 31 Hegel, Die Verfassung Deutschlands, 1922 (1802), 11. 32 Siehe zu den Lehrmeinungen des 17. und 18. Jahrhunderts in dieser Frage Randelzhofer, Völkerrechtliche Aspekte des Heiligen Römischen Reiches nach 1648, 1967, 68-91.
I. Keine durchgängige Koppelung von „Staat" und „Verfassung"
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Reich nicht mehr als Monarchie und vor allem nicht mehr als Staat, sondern als „irreguläre aliquod corpus, & monstro simile", das ein „systema plurium civitatum foedere nexarum" sei, ein Mittelding zwischen Staat und Staatenbund (Konföderation).33 Für unsere Fragestellung bedeutsam ist nun, daß auch diejenigen, die in Weiterfuhrung von Pufendorfs Ansatz das Reich als konföderatives, also als nichtstaatliches, völkerrechtliches Gebilde qualifizieren, ohne Zögern von „Verfassung" sprachen und sprechen, wobei allerdings nicht deutlich zwischen dem deskriptiven und normativen Begriff unterschieden wird. 34 Der sich an das Heilige Römische Reich anschließende Deutsche Bund (1815-1866) war aus heutiger Sicht ein Staatenbund, nach Art. 1 der Wiener Schlußakte vom 15. Mai 1820 „ein völkerrechtlicher Verein". 35 Trotz fehlender Staatlichkeit bezeichnete Art. 3 der Schlußakte die konstituierende „BundesActe" vom 8. Juni 1815 als den „ Verfassung, Evang. Staatslex. 1987, Sp. 3758. Siehe aus der schweizerischen Literatur Aubert, La Constitution, son contenu, son usage, ZSR 1991, 28, Rdn. 24: „la constitution se rapporte necessairement ä l'Etat... il n'y a pas, au sens oü nous prenons ce terme, de constitution sans Etat"; ebd., 30, Rdn. 27: „l'Etat est sup£rieur ä la constitution, c'est lui qui la cr6e, il la precede et il arrive qu'il lui survive". 51 Kirchhof Kompetenzaufteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der EU, 1994, 59. Siehe in diesem Sinne auch Schmitt Glaeser, Grundgesetz und Europarecht als Elemente Europäischen Verfassungsrechts, 1996, 51; Howe, Gegen eine neue europäische Zwangsjacke, 1996, 29; Schilling, Die Verfassung Europas, Staatswiss. u. Staatsprax., 1996, 387, 393, 393, Fn. 63; Badura, Supranationalität und Bundesstaatlichkeit durch Rangordnung des Rechts, 1998 (1995), 65: „Eine Verfassung Europas [könnte es] erst geben, wenn die Nationalstaaten Europas in ein quasistaatliches Gesamtsystem Europas inkorporiert würden"; implizit auch Grimm, Vertrag oder Verfassung, 1995, 527: „Soweit die Forderung ,Vom Vertrag zur Verfassung4 jedoch darauf zielt, den Verträgen diejenigen Elemente hinzuzufügen, welche sie bislang noch von einer Verfassung im vollen Sinne des Begriffs trennen, würde dies gerade auf die Verstaatlichung der Europäischen Union hinauslaufen." Siehe auch Brinkmann, Verfassungslehre, 1994, X: Die „Europäische Union ist ... weil es nur um einen Staatenbund und keinen Staat geht, verfassungstheoretisch unerheblich." Einige Wissenschaftler, die nach meiner Einteilung eher dem etatistischen Lager zuzurechnen wären, nehmen in neuerer Zeit eine mittlere Position ein und lassen die Verfassungsfähigkeit der EU offen. Randelzhofer, Souveränität und Rechtsstaat, 1995, 127; Isensee, Vorrang des Europarechts und deutsche Verfassungsvorbehalte, 1997, 1244, 1263, Fn. 83. 52 Auf der anderen Seite kann der Staat als organisiertes Gebilde nur dauerhaft fortbestehen, wenn er an Verfahren und Formen gebunden ist und auf Ordnungsideen ausgerichtet ist (Böckenförde, Begriff und Probleme des Verfassungsstaates, 1999, 138f). Insofern stehen Staat und Verfassung in einer Wechselbeziehung (siehe oben S. 49ff). 53 H. Hofmann, Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung? JZ 1999,1066, Fn. 18; ähnlich Möllers, Staat als Argument, 2000,271.
II. Der Bezugspunkt der Verfassung: Spezifika staatlicher Herrschaft
103
gisch-begriffliche Vorgängigkeit des Staates und damit die Deklaration des Staates zur logisch-begrifflichen Verfassungsvoraussetzung nicht zulässig. Ei zwingende Staatsbezogenheit von Verfassung könnte nur mit realen Besonderheiten staatlicher Herrschaft begründet werden. Diese sind nun zu prüfen.
I I . Der Bezugspunkt der Verfassung: Spezifika staatlicher Herrschaft Die erörterten Verfassungsfunktionen beziehen sich im Staat auf die drei klassischen Staatselemente.54 Es ist die staatliche Herrschaft über ein Staatsvolk auf einem Staatsgebiet, die konstituiert, organisiert, begrenzt und gerechtfertigt wird. Die EG/EU ist aber kein Staat.55 Sie hat kein eigenes Gebiet (dazu sogleich), kein eigenes Volk, das heißt keine erst durch die Zugehörigkeit zur EG/EU in einen körperschaftlich organisierten und handlungsfähigen Personenverband verwandelte Menge von Individuen) 56 und keine souveräne Hoheitsgewalt (auch dazu sogleich näher). Daraus ergibt sich der grundlegende Einwand: Selbst wenn die Funktionen der europäischen Verfassung - wie dargelegt - funktional äquivalent oder komplementär zu den Funktionen staatlicher Verfassungen sind, so machen die Spezifika des Staates eben doch einen kategorialen Unterschied. Anders gewendet, die Verfassung verrechtliche Herrschaft, aber eben nur staatliche Herrschaft. Wer so argumentiert, stellt insbesondere spezifische Eigenschaften staatlicher Hoheitsgewalt (etwa ihre Souveränität), aber auch den Volk- und Gebietsbezug der staatlichen Herrschaft heraus.
Die Frage ist aber, inwiefern die sogenannten Staatselemente bzw. die mit diesen assoziierten Eigenschaften wirklich noch Staaten vorbehalten sind und Staatsverfassungen von allen anderen Verfassungen kategorial unterscheiden. Auch die Frage nach exklusiven Staatseigenschaften ist funktionenbezogen zu beantworten. Das heißt, die Sonderstellung des Staates muß funktional gerechtfertigt werden. Wenn der Staat seine Aufgaben nicht mehr alleine erfüllt, sondern herkömmlich dem Staat zugeschriebene Aufgaben von anderen über-, unter- oder nebenstaatlichen Einheiten miterfüllt werden, und wenn es auch kein staatsspezifischen Mittel mehr zur Erfüllung dieser Aufgaben gibt, so wird da
54 Siehe zu den drei Elementen Gebiet, Volk und Herrschaft nur Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 1914, 144 und 394-434. 55 Bleckmann, Europarecht, 1997, Rdn. 143-152; Oppermann, Europarecht, 1999, Rdn. 902-906. 56 Definition nach Preuß, Auf der Suche nach Europas Verfassung, Transit 1999, 159.
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Teil 2: Die Ablösung der Verfassung vom Staat
durch die Sonderstellung des Staates, die Sonderstellung staatlicher Herrschaf und folglich auch die Sonderstellung staatlicher Herrschaftsverrechtlichung durch die Verfassung relativiert. Die traditionellen Staatseigenschaften sind gegenwärtig, unter anderem infolge der veränderten Problemlösungsfähigkeit des Staates, im Wandel begriffen. 57 Auf der anderen Seite wachsen der EU, aber auch anderen organisierten 57
Siehe aus neuerer Zeit in staatsrechtlicher Perspektive Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, 1998; in historischer Perspektive mit der These zum „Niedergang des Staates" van Creveld, Aufstieg und Untergang des Staates, 1999, insb. 371-463; sowie Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, mit der Conclusio, daß die historische Entwicklung zu einer „Desintegration des modernen Staates führt." „Der moderne Staat... existiert nicht mehr.... Zuwenig Staat in den ehemaligen Kolonien und zuviel Staat in Europa fuhren zur Auflösung des staatlichen Machtmonopols zu Gunsten intermediärer Instanzen und substaatlicher Verbände der verschiedensten Art. Auf der anderen Seite sind die Staaten übernational in einer Weise vernetzt und gebunden, die mit den Kategorien eines Völkerrechts souveräner Staaten nicht mehr angemessen erfaßt werden kann" (id., 509 u. 535f). Siehe in wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive zum Schwinden staatlicher Autorität und zum „retreat of the state" insbesondere wegen Stärkung der Marktkräfte grundlegend Strange, The Retreat of the State, 1996. Radikal bereits J. H Kaiser, Staatslehre, Görres-Staatslex. 5, 1989, Sp. 195, 190, 197: „Der Staat ist eine im Abstieg begriffene Kategorie." In Europa sei die Staatsidee „durch pluralistische Funktionalisierung im Innern, und zwischenstaatlich durch supranationale Integration und größere Durchlässigkeit ... eingeebnet". Andere Gemeinschaften, wie die EG „dürfen als Träger von Gewalt von der Staatslehre nicht ignoriert werden." Schmitter, Is it Really Possible to Democratize the Euro-Polity?, 1991, 15, 17, vertritt die These, daß der gegenwärtige Kontext systematisch die Umwandlung von Staaten in „post-Hobbesian politics", nämlich „confederatii, condominii or federatii" begünstige. Grande, Auflösung, Modernisierung oder Transformation?, 1997, 45-59 spricht von einem „Epochenwechsel" in ftinf Dimensionen der Staatlichkeit: der territorialen Dimension bzw. äußeren Souveränität (Problem- bzw. Aufgabenbereich sind nicht mehr weitgehend territorial deckungsgleich mit dem Zuständigkeitsbereich), der sozialen Dimension bzw. inneren Souveränität (das Verhältnis von Staat und Gesellschaft betreffend), der funktionalen Dimension (staatliche Aufgabenerfüllung), der politischen Dimension (schleichende Entdemokratisierung) und der soziokulturellen Dimension (der Eigenschaft als Nationalstaat). Die idealistische Theorie der internationalen Beziehungen erblickt den entscheidenden Strukturwandel des internationalen Systems seit dem Ende des Ost-West-Konflikt im Obergang von der Staatenwelt zur „Gesellschaftswelt", die zwar noch staatlich geordnet ist, in der die Regierungen jedoch zunehmend auf die Forderungen der Gesellschaft (nach Mitbestimmung, Entwicklung usw.) Rücksicht nehmen müssen (Czempiel, Weltpolitik im Umbruch, 1993, 105-107, 160f). Die neorealistische Politikwissenschaft behauptet demgegenüber auch im Zeitalter der Globalisierung ein fortbestehendes Primat des souveränen Staates als internationaler Akteur. Siehe stellvertretend Thomson/Krasner, Global Transactions and the Consolidation of Sovereignty, 1989, 195219, die eine Konsolidierung der staatlichen Souveränität durch globale Transaktionen nachzuweisen suchen; Gelber, Sovereignty through Interdependence, 1997 mit der Hauptthese, daß die Staatensouveränität nicht geschrumpft ist, weil die Regierungen lediglich geringfügige strategische Zugeständnisse an Wirtschaftsakteure, internationale Organisationen und andere Staaten machen. Nach W. Link, Die Neuordnung der Welt-
II. Der Bezugspunkt der Verfassung: Spezifika staatlicher Herrschaft
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Wirkungseinheiten, partiell herkömmliche Staatseigenschaften zu. Es findet somit eine Annäherung zwischen Staaten und nichtstaatlichen Hoheitsträgern statt und gleichzeitig eine Aufteilung von Funktionen, die früher in einer geschlossenen „organisiertefn] Entscheidungs- und Wirkungseinheit" (wie Hermann Heller den Staat definierte) 58 , konzentriert waren.59 Dabei geht es mir hier, um das noch einmal zu betonen - nicht um eine Verstaatlichung der EU 6 0 , sondern darum, daß Staat-Sein oder -Nichtsein für die Organisation des menschlichen Zusammenlebens zunehmend an Bedeutung verliert und folglich für die Verfassungsfähigkeit politischer Gemeinschaften irrelevant wird. Wenden wir uns nun den herkömmlichen Staatselementen zu.
1. Das Volk Insbesondere Dieter Grimm argumentiert, daß eines der entscheidenden Elemente, welche die Europäischen Verträge „von einer Verfassung im vollen Sinne des Begriff trennen ... die Volkslegitimation des Rechtsakts, der die Union konstituiert, und die darin inbegriffene Selbstbestimmung der Unionsbürger über Form und Inhalt ihrer politischen Einheit" sei. 61 In der Tat wird gegenwärtig, unter Verweis auf den Grundsatz der Volkssouveränität, die Verfassungge-
politik, 1998, 50-104, reagieren die Staaten auf die ökonomische Globalisierung durch Regionalisierung, behaupten sich dadurch und steigern ihren Einfluß, wodurch der Territorialstaat in seinem Kernbereich bestätigt und erhalten werde (id., 99). „Er bleibt zugleich bzw. ist in noch höherem Maße als früher Entscheidungsinstanz" (id., 68). Die Grundthese von Krasner, Sovereignty, 1999, ist, daß die heutigen Formen der Souveränitätsverkürzungen qualitativ nichi neu sind, weil die Eigenschaften, die normalerweise mit Souveränität assoziiert werden - nach Krasner Territorium, Autonomie, Anerkennung und Kontrolle - in der geschichtlichen Wirklichkeit vielen Entitäten, die gemeinhin als souveräne Staaten angesehen werden, fehlen (id., 237). Siehe auch Hondrich, Der Westen irrt: Nationalstaaten stabilisieren, FAZ v. 24. April 1999, 43 (Die Staaten als überschaubare und legitime Gewaltmonopolinhaber stellen die wichtigsten Glieder der Weltgesellschaft dar); Di Fabio, Der Staat als Institution, 1999,225-234. 58 Heller, Staatslehre, 1963 (1934), 228; Hervorhebung d. Verf. 59 Vgl. bereits Ermacora, Altgemeine Staatslehre, 1970, 1194: „Ein juristisch und faktisch dialektischer Prozeß macht die Staatengemeinschaften zu potentiellen Gegenkräften des nationalen Staates und zur ersten Etappe der Staatsnegation überhaupt." 60 Irreführend insofern Pernice, Carl Schmitt, Rudolf Smend und die europäische Integration, AöR 1995, 100 (Die Frage, ob der Staatsbezug der Verfassung notwendig sei, könne offenbleiben, da der Prozeß des Verfassens Europas und die Entwicklung zum Bundesstaat parallellaufen). 61 Grimm, Vertrag oder Verfassung, 1995, 527; ebenso Grimm, Braucht Europa eine Verfassung? JZ 1995, 590; Isensee, Integrationsziel Europastaat?, 1995, 581; Piris, Does the European Union have a Constitution? E.L.Rev. 1999, 558, auch Fn. 3, 569 und 576f.
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Teil 2: Die Ablösung der Verfassung vom Staat
bung durch das Volk (als pouvoir constituant) üblicherweise als einzig legitime Art und Weise der Verfassungsentstehung angesehen. Eine nach diesem Muster legitime Verfassungserzeugimg hat bisher in Europa nicht stattgefunden. Ein volksursprünglicher verfassunggebender Akt in exakter Kopie nationaler Konstitutionsakte könnte auch in nächster Zukunft nicht nachgeholt werden, weil gegenwärtig ein europäisches Volk, das in puncto Zusammengehörigkeitsgefühl, Loyalität und Solidarität sowie in bezug auf objektive Eigenschaften wie Sprache, Kultur usw. auch nur annähernd die Dichte eines durchschnittlichen Mitgliedstaatsvolkes hätte, nicht existiert. 62
Der Ursprung einer Verfassung vom Volk her ist jedoch nicht notwendiger Bestandteil des neutralen Verfassungsbegriffes. Wie bereits dargelegt, ist es vorzugswürdig, Legitimitätsanforderungen nicht bereits definitorisch in den Verfassungsbegriff hineinzutransportieren.63 Nach der hier vertretenen Auffassung schließt also eine eventuell fehlende Volkslegitimation nicht schon begrifflich die Existenz einer Verfassung aus, sondern ist eine Frage ihrer Leg timität. Diese wird eingehend zu erörtern sein, wobei jetzt schon angemerkt werden darf, daß eine bestimmte Entstehungsart weder hinreichender noch notwendiger legitimierender Faktor der Verfassung ist. Es kommt für die Legitimität einer Verfassimg vielmehr auf ihre - nur ex post feststellbaren - Leistungen und Akzeptanz an. 64
2. Das Gebiet Ein weiterer Unterschied zwischen Staatsverfassung und überstaatlicher Verfassung könnte in ihrem jeweiligen territorialen Bezug liegen, wie überhaupt die Territorialität ein herkömmliches Abgrenzungskriterium zwischen Staat und Internationaler Organisation ist.
a) Die nicht territorialbezogene
europäische Verfassung
Internationale Organisationen sind keine territorialen Herrschaftsverbände. Sie haben weder im physikalischen Sinne noch im Rechtssinne ein Gebiet 65 und üben dementsprechend keine Gebietshoheit, sondern sachbezogene Herrschaft
62 Siehe zum Volk als Voraussetzung von Demokratie unten S. 651 ff; zur Rolle der europäischen Bürger bei der Verfassungsentwicklung unten S. 392fT. 63 Siehe oben S. 67. 64 Siehe näher unten S. 567ff. 65 Siehe nur Obs. Calle y Calle, ILCYB 1977/1, 118.
II. Der Bezugspunkt der Verfassung: Spezifika staatlicher Herrschaft
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aus. Im Falle der EG/EU ist aber die Frage der Territorialität nicht einfach zu beantworten. Es wird jedenfalls kontrovers diskutiert, ob die EG/EU eine primär funktionale oder eine zunehmend territorialbezogene Herrschaftsform darstellt. 66 Diese Dichotomie stammt aus der Gegnerschaft der beiden älteren Integrationstheorien, nämlich dem territorial orientierten klassischen Föderalismus und dem explizit als Alternative dazu formulierten Funktionalismus.67 In Wirklichkeit stehen „territorial" und „funktional" nicht in einem eindeutigen Gegensatz, denn jedes praktische Problem, daß durch Politik und Recht zu lösen wäre, tritt raum-zeitlich auf, und Herrschaft wird innerhalb eines Gebiets ausgeübt. Die Dichotomie kennzeichnet vielmehr zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Verknüpfung von Territorium und Aufgabenbereich. Wer von territorialer Herrschaft der EG/EU redet, meint, daß die EG/EU ein Gebiet haben und daß dieses der primäre Anknüpfungspunkt für die Ausübung europäischer Kompetenzen sei. 68 Funktionale Herrschaft meint, daß Zuständigkeiten nicht primär an das Gebiet angeknüpft werden, sondern an die Eigenart der Aufgaben. Deren Erledigung wird der jeweils angemessenen territorialen Einheit anvertraut. Das Territorium ist damit flexibel, seine Abmessungen werden funktional zur Aufgabenerfüllung bestimmt 69 Funktional definierte Herrschaft heißt also, daß ein rechtliches und/oder politisches System immer nur System in bezug auf bestimmte Problemfelder (wie etwa Binnenmarkt, Währung, Asyl- und Einreise, etc.) ist. 70 Tendenziell legt diese Herrschaftskonzeption Überlappungen territorialer Zuständigkeiten sowie Zusammenarbeit verschiedener territorialer Einheiten zwecks gemeinsamer Aufgabenerfüllung nahe. Diese Sichtweise findet einen Rückhalt in der funktionalistischen Integrationstheo-
66 Siehe etwa Schmitter, Representation and the Future Euro-Polity, Staatswiss. u. Staatsprax. 1992, 383-387; Ruggie, Territoriality and beyond, 10 1993, 165; Welz/ Christian Engel, Traditionsbestände politikwissenschaftlicher Integrationstheorien, 1993, 138; Sbragia, The European Community, Publius 1993, 27; insb. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, 21 und 29. 67 Siehe zu diesen Integrationstheorien näher unten S. 178ff. 68 Eine andere Charakterisierung eines territorial basierten Machtträgers stellt auf die prinzipiell territorial begründete Übereinstimmung von Herrschaftsausübung und -unterworfenen ab. So von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, 30. 69 Vgl. bereits Joseph H. Kaiser 1966, 28 zur „Bildung eines Pluralismus von spezialisierten, räumlich keineswegs kongruenten, auf bestimmte Staatsfunktionen beschränkten Einheiten mit unterschiedlicher Integrationsdichte"; Schmitter, The European Community as an Emergent and Novel Form of State Domination, 1991, 13; Schmitter; Representation and the Future Euro-Polity, Staatswiss. u. Staatsprax. 1992, 381 und 385f; Schmitter, Is it Really Possible to Democratize the Euro-Polity?, 1991, 29; Grande, Auflösung, Modernisierung oder Transformation?, 1997, 53; Kohler-Koch/Ulbert, Internationalisierung, Globalisierung und Entstaatlichung, 1997,72,74,75f. 70 Vgl. Bühl Transnationale Politik, 1978, 32.
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rie, insofern als diese „den Konnex zwischen Herrschaft und Territorium [bricht] und durch den von Autorität und spezifischer Funktion [ersetzt]." 71 Nach vorzugswürdiger Ansicht ist die europäische Herrschaft primär funktional angeknüpft und nicht radiziert. 72 Zunächst einmal besitzen die EG/EU kein eigenes, sondern nur ein von den Mitgliedstaaten vermitteltes und abgeleitetes Hoheitsgebiet. Art. 299 EGV, der den räumlichen Anwendungs- und Geltungsbereich des EG-Vertrages regelt, knüpft indirekt an den räumlichen Anwendungsbereich des Rechts der Mitgliedstaaten an. 73 Die Abhängigkeit vom Gebiet der Mitgliedstaaten zeigt sich unter anderem in der Geltung des völkerrechtlichen Grundsatzes der beweglichen Vertragsgrenzen: Jede Gebietsveränderung bei den Mitgliedstaaten ändert automatisch den räumlichen Geltungsbereich von EGV und EUV, wie auch bei der deutschen Wiedervereinigung geschehen. Nun könnte man argumentieren, daß die bloße Tatsache der »Ableitung" des De-facto-Unionsgebiets von den Staaten nichts an der auch territorialen Orientierung der Union ändere. Das Grundprinzip der wirtschaftlichen Integration ist die Umwandlung der Staatsgebiete in einen Binnenmarkt ohne Grenzen, also einen Binnenraum. Die Grundfreiheiten knüpfen an Grenzüberschreitung an. 71 So etwa Welz/Christian Engel, Traditionsbestände politikwissenschaftlicher Integrationstheorien, 1993, 138; ähnlich auch Zellentin, Der Funktionalismus, 1992, 71 zur funktionalistischen Transformation souveräner Macht in Sachkompetenzen „in einem ausufernden, offenen, global angelegten Ensemble funktionalistischer Kooperationsbereiche". 72 So etwa Guehenno, Das Ende der Demokratie, 1994, 82-86; Jachtenfuchs/KohlerKoch, Einleitung, 1996, 35 (die EU stelle das „Grundmodell territorialer Herrschaft" in Frage); Snyder, General Course on Constitutional Law of the European Union, 1995, 66; Ladeur, Towards a Legal Theory of Supranational^, ELJ 1997, 54, auch 51; Bieber, Verfassungsentwicklung der EU, 1998, 213 (Unionsverträge begründen weder territorial noch inhaltlich eine in sich abgeschlossene Rechtsordnung); differenziert Sbragia, The European Community, Publius 1993, 28-37 (sowohl territoriale als auch nichtterritoriale Dimensionen der EG/EU, die austariert werden müssen). Funktionalität legitimiert auch entscheidend die Unionsherrschaft, soweit Aufgaben nur auf der überstaatlichen Ebene sinnvoll angepackt werden können, dazu näher unten S. 615ff. A.A. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, 10; Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaats, 1998, 235 (sieht die EU als „einen neuen politischen Raum mit allerdings etwas unscharfen territorialen Grenzen"); auch D. Simon, Les fondements de l'autonomie du droit communautaire, 2000, 223. 73 Geiger, EU/EGV, 2000, Art. 299 EGV, Rdn. 1; BocWThiesing/Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum EU/EG-Vertrag 5, 1997, Art. 227, Rdn. 4 (Schröder). Im Gegensatz dazu pflegen Staatsverfassungen ihren Geltungsbereich nicht zu definieren. Es gibt aber durchaus Staatsverfassungen, die das Staatsgebiet geographisch umschreiben und damit indirekt ihren räumlichen Anwendungsbereich regeln: siehe nur Art. 2 der Irischen Verfassung (i.Kr. am 29. Dez. 1937); Art. 5 portugiesische Verfassung v. 2. April 1976 i.d.F. v. 20. Sept. 1997. Vor der deutschen Wiedervereinigung regelte Art. 23 GG explizit den Geltungsbereich des Grundgesetzes.
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Dementsprechend mag man in der Schaffung eines Binnenraumes ohne Grenzen Anhaltspunkte für die Bildung eines Gemeinschaftsgebiets sehen.74 Der Europäische Gerichtshof sprach im Hinblick auf den räumlichen Anwendungsbereich der Diskriminierungsvorschriften zwanglos vom „Gebiet der Gemeinschaft" 75 oder hielt in der Zellstoff-Entscheidung „die Zuständigkeit der Gemeinschaft für die Anwendung ihrer Wettbewerbsvorschriften auf derartige Verhaltensweisen [für] durch das Territorialitätsprinzip gedeckt", wegen der Wirkungen eines Kartells innerhalb des Gemeinsamen Marktes. 76 Der Amsterdamer Vertrag hat die geographische Dimension der Integration verstärkt.77 Als Ziel wurde in Amsterdam die „Erhaltung und Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" gesetzt (Art. 2 EUV). Die neugefaßte gemeinsame Sicherheitspolitik soll erstmals auch die „Unversehrtheit" der Union und ihre »Außengrenzen" wahren (Art. 11 EUV). Trotz alledem schafft der räumliche Geltungsbereich des Gemeinschafts- und Unionsrechts kein einheitliches Territorium, sondern ist (über einen Kernbereich hinaus) durchaus nach Sachbereichen differenziert (in Spezialvorschriften und in Art. 299 EGV). Auch werden Teilaspekte des Gemeinsamen Marktes mittels völkerrechtlicher Abkommen auf ein größeres Territorium ausgedehnt, beispielsweise auf den Europäischen Wirtschaftsraum. Aufgrund von Assoziationsabkommen haben, so der Europäische Gerichtshof, Nichtmitgliedstaaten „am System der Gemeinschaft" teil. 78 Der Gemeinsame Markt ist deshalb ein primär funktionales, kein territoriales Integrationskonzept.79 Überhaupt werden zahlreiche europäische Politiken nach Maßgabe des in Frage stehenden Sachbereichs räumlich unterschiedlich ausgedehnt. Die gemeinsame Währung gilt nur in einem kleineren Territorium (in „Euroland"), der völlige Wegfall der Grenzkontrollen ist auf das Gebiet der Schengenstaaten beschränkt, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen. Das alte Konzept der „geometrie variable" meinte genau diese räumliche Differenzierung von Politiken, 80 der Amsterdamer Vertrag knüpfte hieran und an andere Differenzierungskonzepte an und führt allgemein die Möglichkeit der verstärkten Zusam74
So Groux, »Territoriality et droit communautaire, RTD Eur. 1987, 5-33. Rs. 36/74, Walrave und Koch v. Association Union Cycliste internationale, Slg. 1974,1405, Rdn. 28/29. 76 Verb. Rs. 89, 104, 114, 116, 117, 125-129/85, Ahlström Osakeyhtiö v. Kommission, Slg. 1988,5193, Rdn. 18. 77 Hierzu insb. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, 29f. 78 Rs. 12/86, Demirel v. Stadt Schwäbisch Gmünd, Slg. 1987,3719, Rdn. 9. 79 So von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, 29. 80 Vgl. Stubby A categorization of differentiated integration, J. Common Mkt. Stud. 1996, 287; Ehlermann, Engere Zusammenarbeit nach dem Amsterdamer Vertrag, EuR 1997, 364; Ladeur, Towards a Legal Theory of Supranational^, ELJ 1997, 53; Choltiel, Le Trait£ d'Amsterdam et la cooperation renforc£e, R.M.C. 1998, 290. 73
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Teil 2: Die Ablösung der Verfassung vom Staat
menarbeit einzelner Mitgliedstaaten innerhalb der Union ein (Titel VII, Art. 4345 EUV). Es existiert also ein variables Territorium für die Problembearbeitung. Diese Variabilität des Territoriums wird durch den Grundsatz gesteigert, daß Gemeinschaft und Union gerade nicht gebietsuniversal zuständig sind, sondern im Gegenteil nur nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.81 Blickt man nun auf das Zusammenspiel der Herrschaftsausübung durch die europäischen Institutionen und durch die Mitgliedstaaten in und neben der Union, so erweist sich die europäische Integration als „erste wahrhaft postmoderne internationale politische Form". 82 Postmodern deshalb, weil es sich hier um eine analoge (umgekehrte) Transformation von Herrschaft handelt wie die des vormodernen Verbandes zum modernen Staat, nämlich um eine partielle Wiederablösung der Herrschaft vom Gebiet. 83 Die Union und ihre Mitgliedstaaten haben also zusammengenommen ein „funktionelles Territorium". 84 Die räumliche Einheit, innerhalb derer Politik gemacht wird, ist veränderlich, so daß „Politik eine Angelegenheit von je nach Projekt wechselnden, sich erweiternden und sich verengenden politikgestaltenden Gemeinschaften ist". 85 Es soll hier nicht geleugnet werden, daß die funktionale Anknüpfung erheblichen praktischen Schwierigkeiten begegnet. Erstens ist die Bestimmung der angemessenen territorialen Einheit, die für bestimmte Aufgabenbereiche zuständig sein soll, mit erheblich größerer Unsicherheit behaftet als die einfache und eindeutige Anknüpfung staatlicher Jurisdiktion an Gebiet und Staatsangehörige. Zum zweiten ist wegen der Mehrdimensionalität der Aufgaben keine einfache Äquivalenz zwischen Aufgaben- bzw. Problemerstreckung und Entscheidungszuständigkeit (nach der Devise: für jede Aufgabe eine besondere Entscheidungsinstanz) herstellbar. Mehrdimensionalität heißt, daß ein Aufgabenbereich durch Interdependenzzusammenhänge in unterschiedlichen Dimensionen mit unterschiedlicher räumlicher Erstreckung charakterisiert ist. Folglich erlaubt eine strikte Aufteilung und Trennimg von Zuständigkeiten keine angemessene Problembearbeitung. Europäische und nationale Entscheidungseinheiten müssen deshalb interagieren. Schließlich kann die funktionale Bestimmung des Territoriums, also die Zuständigkeitsverteilung, nicht nach rein rationalen Kriterien (wie etwa Effizienz und Bürgernähe), erfolgen. Es fließen unvermeidbar auch
81
Dazu näher unten S. 152f. Ruggie, Territoriality and beyond, 10 1993,140 und 169. 83 In diesem Sinne auch Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, 98. 84 Bischoff/Kovar, L'application du droit communautaire, J.D.I. 1975, 693. ,,[L]e droit communautaire vise, dans certaines limites et de maniere progressive, & substituer, fonctionnellement, aux territoires des douze Etats" (Growt, »Territoriality et droit communautaire, RTD Eur. 1987,25). 85 Bühl, Transnationale Politik, 1978, 173. 82
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symbolisch-kulturelle, traditionale, nationalistische und tagespolitische Gesichtspunkte mit ein. Es ist nun zu überlegen, ob die Nicht-Territorialität der Unionsherrschaft diese grundlegend von staatlicher Herrschaft unterscheidet.
b) Annäherung zwischen EG/EU und Staat: Die nicht mehr territorialbezogene Staatsverfassung Der „institutionelle FlächenstaaX der Neuzeit" wird gemeinhin gerade durch seine Territorialität von älteren, personal orientierten Herrschaftsverbänden unterschieden.86 Die Territorialität des Staates hat zwei Aspekte: Erstens, die gesicherten Grenzen der „befriedeten, territorial in sich geschlossenen und für Fremde undurchdringlichen, organisierten politischen Einheit", 87 und zweitens die ausschließliche und umfassende Herrschaft über das abgeschlossene Gebiet, die Gebietshoheit, die nicht zuletzt mittels eines territorial organisierten Verwaltungs- und Behördenapparats ausgeübt wird. Die parallel zum modernen Staat entwickelte Souveränität ist ebenso territorial bezogen. Die nach innen souveräne Gewalt ist die einzige, umfassende und exklusive territoriale Jurisdiktion, die das mittelalterliche Gemengelage von personalen Treue- und Gehorsamspflichten, von konkreten Schutz- und Dienstverhältnissen, Blutbann, Regalien und auch geographisch überlappenden und verknüpften Hoheitsrechten ersetzte.88 Auch der Begriff der äußeren Souveränität macht vor allem Sinn vor dem Hintergrund der territorialen, das heißt nicht nur rechtlichen, sondern faktischen Abgeschlossenheit des Gebiets vor einem möglichen Angreifer. 89 Die Territorialität des Staates unterliegt jedoch gegenwärtig einer tiefgreifenden Wandlung. Es ist von „Feudalisierung" des Staates90 und vom „neuen
86 Grundlegend Th. Mayer, Die Ausbildung der Grundlagen des modernen deutschen Staates, HZ 1939, 487 (Hervorhebung d. Verf.); differenzierend Brunner, Land und Herrschaft, 1943 (1939), 518-521: Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 1987, 113f; Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1988, 87-90. Bereits Jacob Burckhardt hat auf den Bedeutungswandel von „lo stato" von einer Personenbezeichnung zur Gebietsbezeichnung in der italienischen Renaissance hingewiesen (Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 1996 (1860), 2, Fn. 3). 87 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, 34. 88 Hierzu Brunner, Land und Herrschaft, 1943 (1939), 413-450. 89 Herz, Rise and Demise of the Territorial State, Wld. Pol. 1957, 474; Bühl, Transnationale Politik, 1978,48. 90 So bereits Schieder, Wandlungen des Staates in der Neuzeit, HZ 1973, 297f.
112
Teil 2: Die Ablösung der Verfassung vom Staat
Mittelalter" 91 die Rede. Im Inneren des Staates ist Macht auf zahlreiche Träger (Verbände, politische Parteien, Konzerne) aufgeteilt, so daß sich die umfassende, einheitliche staatliche Gebietshoheit möglicherweise „in ein Geflecht von quasi-ständischen Herrschaftsbeziehungen zurückentwickelt". 92 Im Außenverhältnis bewirkt die Globalisierung der Wirtschaft ein „unbundling of territoriality", dazu später.93 In Anbetracht moderner Entwicklungen ist die territoriale Basis von Macht jedenfalls fur industrialisierte Staaten weitgehend irrelevant geworden.94 Staatsgrenzen bilden praktisch kein Hindernis mehr für Waffen, Umweltverschmutzung, Informationsflüsse, Kapital- und Wirtschaftsbewegungen. Materielle Res-
91 Scharpf, Die Handlungsfähigkeit des Staates, PVS 1991, 621: „Vom souveränen Staat zum neuen Mittelalter?"; Nach Mine, Das neue Mittelalter, 1995, zeichnet sich das neue Mittelalter dadurch aus, daß es „keine durchorganisierten Systeme mehr" gibt, »jedes Zentrum verschwindet; fließende und flüchtige Gemeinschaften entstehen", es „entwickeln sich immer mehr ,Grauzonen4 in denen es keine Autoritäten mehr gibt". (Id. 8f). Siehe auch Grande, Auflösung, Modernisierung oder Transformation?, 1997, 58f mit der These, daß die Modernität des Staates selbst in Frage steht. 92 Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 1996, 102. 93 Ruggie, Territoriality and beyond, 10 1993, 165 und 171; in diesem Sinne auch Snyder, Governing Economic Globalisation, 1999, 336. Zur Globalisierung näher unten S. 130ff. Siehe für eine originelle funktionale Betrachtung der Staatlichkeit bereits Wehner 1992 mit dem Titel „Nationalstaat, Solidarstaat, Effizienzstaat". Da die territoriale Ausdehnung für die Aufgabenerfüllung im jeweiligen Sachbereich nicht deckungsgleich, sondern variabel ist, müßten auch die Staatsgrenzen nicht in allen staatlichen Funktionsbereichen (Sparten) deckungsgleich sein (Id., 40f). Es seien vielmehr staatliche Funktionsbereiche, und damit einzelne Politikfelder, aus dem Universalstaat herauslösen und auf neu zu schaffende, eigenständige Spartenstaaten zu übertragen, deren geographische, sich unter Umständen überlappende Grenzen demokratisch zu bestimmen wären (Id., 45 und 51). Auch neue Modelle transnationaler Demokratie fordern, daß „die Reichweite öffentlicher Räume vollständig variabel ist und sich nicht durch formale Grenzen, Zuständigkeiten oder veraltete Vorstellungen nationaler Souveränität einschränken läßt" (McGrew, Demokratie ohne Grenzen?, 1998, 396). 94 Grundlegend bereits John Herz mit dem Titel „Rise and Demise of the Territorial State" (Herz 1957, 473-493). Siehe aus neuerer Zeit umfassend Elkins, Beyond Sovereignty, 1995; M. Albert/Brock, Debordering the World of States, New Pol. Sei. 1996, 67-106 (Es finde in mindestens drei Bereichen (wirtschaftlich, politisch, und sozial) eine „Entgrenzung der Staatenwelt" statt in dem Sinne, daß neue politische Einheiten entstünden, die territorial definierte Räume transzendieren ohne zu neuen Territorialgrenzen zu fuhren); siehe auch Guehenno, Das Ende der Demokratie, 1994, 25, 36f und 165; Kimminich, The Convention for the Prevention of Double Citizenship, GYIL 1995, 229; Ladeur, Towards a Legal Theory of Supranationality, ELJ 1997, 48 und 54; Habermas, Die postnationale Konstellation, 1996, 104; Schäuble/Lamers, Europa braucht einen Verfassungsvertrag, FAZ v. 4. Mai 1999, 11. A.A. W. Link, Die Neuordnung der Weltpolitik, 1998, 50-102, insb. 66 und 99, u.a. unter Verweis auf zahlreiche Konflikte der neunziger Jahre, in denen es um die Beherrschung von Territorium ging. Der Einwand ist insoweit zutreffend, als die nichtindustrialisierte Welt von den modernen Entwicklungen, auch von der Globalisierung, weitgehend ausgenommen ist.
III. Insbesondere: Die Hoheitsgewalt
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sourcen sind weniger wichtig als die Ressource Information und Technologie. Schließlich bedarf der Territorialstaat diverser komplementärer funktionaler Ordnungsregime (wie Kommunikations- und Koordinationseinrichtungen) als Einheit von governance überhaupt in Erscheinung zu treten.95 Macht besteht dementsprechend - so Jean-Marie Guehenno - nicht mehr in Herrschaft über ein abgegrenztes Territorium, sondern vor allem im Zugang zu Kommunikationsnetzen: „Mächtig sein heißt dann, Kontaktstellen zu haben, im Netz verbunden zu sein, ... L'emergence d'un droit constitutionnel europeen, RUDH 1995, 450; bereits Friedrich, Federal Constitutional Theory and Emergent Proposals, 1955, 526 unter Verweis auf denföderalen Charakter der EG; auch Heinr. Schneider, Rückblick für die Zukunft, 1986, 79. Im Anschluß an V. Constantinesco auch Gerkrath, L'emergence d'un droit constitutionnel pour l'Europe, 1997, 187, 260, 264f: Wir haben eine „pluralite des pouvoirs constituants". Da Europa einerseits demokratisch sein müsse, andererseits auf die Staaten nicht verzichtet werden könne, gehöre der pouvoir constituant „conjointement aux Etats membres und peuples europeens." 141 Siehe unten S. 56Iff.
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Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
Volk. 1 4 2 Auch aus diesem Grund erscheint es inadäquat, die Staatsvölker gegen ein (nicht existentes) europäisches Volk auszuspielen. Im folgenden sollen die genannten defizitären Theorien außer acht gelassen werden und die empirisch vorfindbaren verfassungsentwickelnden Akteure vorgestellt werden. Weil es unter der Demokratieprämisse auf den tatsächlichen Einfluß der Bürgermeinungen ankommt, soll zunächst dieser in bezug auf das europäische Primärrecht, in dem die meisten Verfassungsinhalte anzutreffen sind, skizziert werden.
1. Die Bürgerbeteiligung an der Entwicklung des europäischen Primärrechts Die europäischen Gründungsverträge sind an die Zustimmung der Bürger gebunden. Die verhandelnden Regierungsvertreter waren jedenfalls mittelbar demokratisch legitimiert und die Verträge mußten in allen Mitgliedstaaten parlamentarisch ratifiziert werden.143 Allerdings können die nationalen Parlamente mit den Ratifikationen keinen inhaltlichen Einfluß auf das Vertragsrecht nehmen, sondern nur ein Plazet geben. Eine inhaltliche Debatte, die mit dem innerstaatlichen Vorgang parlamentarischer Verfassunggebung vergleichbar wäre, findet nicht statt. Dennoch wird die Klage, daß die nationalen Parlament nicht anders können, als ein ausgehandeltes Ergebnis zu ratifizieren oder die Verhandlungen scheitern zu lassen,144 dem tatsächlichen Zustand der Interdependenz nicht ganz gerecht. Denn sie setzt ja voraus, daß die nationalen Akteure ein Problem tatsächlich hätten einseitig regeln können. Das ist aber gerade nicht der Fall. Die wirkliche Alternative, die sich den nationalen Parlamenten (in den meisten Fällen) stellt, ist also, dem Ergebnis zuzustimmen oder das Problem ungelöst zu lassen. Die mitgliedstaatliche Kooperation ist also keine Einschrän-
142
Siehe näher unten S. 657ff. Jetzt nach Art. 52 EUV und Art. 312 EGV. Die parlamentarischen Ratifikationen wurden bereits in der Frühphase der Integration als Elemente demokratischer Legitimation des Primärrechts anerkannt (siehe nur Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRl 1966, 72; Pescatore, Les exigences de la democratic et la l£gitimit£ de la Communaute europ£enne, C.D.E. 1974, 508f). Für die nationalen Parlamente als primären Akteur der Verfassunggebung etwa J. H. Kaiser, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRl 1966, 19; Hilf Wege und Verantwortlichkeiten europäischer Verfassungsgebung, 1984, 266. Nach von Bogdandy erfüllt die Ratifikationspflicht auf der Ebene der Unionsgrundordnung die Funktion von Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG, indem er über die demokratische Herkunft der in den Verträgen begründeten Hoheitsmacht Rechenschaft ablegt (von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999,56). 144 Etwa bei von Bogdandy, Zweierlei Verfassungsrecht, Staat 2000,165. 143
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
393
kung, sondern aufs Ganze gesehen eine Erweiterung der Handlungsfähigkeit auch der Parlamente.145 Überdies gibt es auch im innerstaatlichen Bereich Verfassungsentwicklung durch parlamentarische Akklamation. So wurden Änderungen des Grundgesetzes, die unmittelbar mit dem Beitritt der DDR zusammenhingen, im völkerrechtlichen Einigungsvertrag von den Regierungen der DDR und Bundesrepublik vereinbart. Der Bundestag stimmte lediglich zu, wenn auch mit verfassungsändernder Mehrheit. Das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG fungierte also hier als verfassungsänderndes Gesetz.146 Für die europäischen Änderungsverträge147 gilt dasselbe: Die Wahl der verhandelnden Regierungsvertreter und die parlamentarischen Ratifikationen sind zwei Rückbindungen an die Bürger. Hinzu kommt als dritter Weg der Einflußnahme das Anhörungsrecht des direkt gewählten Europäischen Parlaments im vertraglichen Änderungsverfahren (Art. 48 EUV). Schließlich fanden - und dies ist ein vierter Kanal der Bürgerbeteiligung - in vielen Mitgliedstaaten nach jeweils innerstaatlichem Recht Referenden zu Beitritten und Änderungen der Verträge statt.148 Gegenüber dieser Sachlage wird argumentiert, die multiplen Wege der Rückkoppelung des Primärrechts an die Bürger Europas ließen keinen Schluß auf einen europäischen pouvoir constituant zu, weil ja hier jeweils Staatsvölker handelten, und zwar allein in bezug auf die Ausübung nationaler Hoheitsgewalt. 149 In Entgegnung hierauf ist zu wiederholen: Legitimationssubjekte sind die europäischen Bürger, kein Kollektiv als eigenständige Entität.150 Es kommt also nicht auf ein abstraktes Prinzip der Volkssouveränität an, sondern auf die
145
Scharpf, Demokratie in der transnationalen Politik, 1998,237. Das Bundesverfassungsgericht hielt dieses Verfahren für zulässig, da es eine verfassungsrechtliche Grundlage in Art. 23 a.F. i.V.m. dem Wiedervereinigungsgebot fand (BVerfGE 82,316(1990)). 147 Nach meinem Konzept der kontinuierlichen Verfassungsentwicklung ist die förmliche Vertragsverfassungsänderung eine Ausprägung von Verfassungsentwicklung. Siehe zu speziellen Problemen derförmlichen Änderung unten S. 433ff. 148 Zu den Beitritten 1973: Irland, Dänemark, Norwegen ablehnend; zum Verbleib in der EG Großbritannien 1975; zu den Beitritten 1995: Österreich, Finnland, Schweden, Norwegen ablehnend. Zur Vertragsänderung durch die EEA 1986: Dänemark und Irland; zur Vertragsänderung von Maastricht 1992: Irland, Frankreich, Dänemark (zweimal); zur Vertragsänderung von Amsterdam 1997: Dänemark, Irland. Siehe zu den älteren Referenden näher Peters, Das Gebietsreferendum im Völkerrecht, 1995, 33f m.w.N. 149 Vgl. BVerfGE 89, 155, 186 (1993) (Maastricht): „Jedes der Staatsvölker ist Ausgangspunkt für eine auf es selbst bezogene Staatsgewalt". 150 Näher unten S. 657ff. 146
394
Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
konkrete Möglichkeit der Einflußnahme einzelner.151 Die Bürger handeln in unterschiedlichen juristischen Rollen, als Staatsbürger und als EU-Bürger. Die verschiedenen Rollen und die geschilderten Kanäle der Einflußnahme (über europäische und nationale Organe und Verfahren) schließen sich gegenseitig nicht aus. So ist es beispielsweise unschädlich, daß die Bürger Vertragsänderungen in nationalen Ratifikationsverfahren zustimmen. Denn diese Verfahren werden im jeweiligen Fall auf die Etablierung europäischer Hoheitsgewalt bezogen, deren konkrete Ausübung ja wiederum im Wesentlichen durch oder in Zusammenarbeit mit nationalen Stellen erfolgt. Hinzukommt, daß die Einhaltung der nationalen Ratifikationsverfahren unionsrechtlich gesichert und nicht dem Belieben der Mitgliedstaaten überlassen sind. Denn die Ratifikation ist eine unionsrechtliche Wirksamkeitsvoraussetzung der Revision, deren Einhaltung vom Gerichtshof überprüft werden kann. 152 Selbst im allgemeinen Völkerrecht der Verträge ist anerkannt, daß ein internationales Gericht prüfen kann, ob die Zustimmung eines Staates zu einem Vertrag unter offenkundiger Verletzung innerstaatlicher Rechtsvorschriften von grundlegender Bedeutung zustandekam (Art. 46 WVK). Bei offenkundiger Verletzung einer mitgliedstaatlichen Ratifikationsvorschrift kann somit der Europäische Gerichtshof die Unionsrechtswidrigkeit des betreffenden mitgliedstaatlichen Akts im Verfahren nach Art. 226 EGV feststellen, womit die Vertragsänderung mangels vollständiger Ratifikation nicht in Kraft treten würde. Diese gerichtlich kontrollierbare Einbindimg der nationalen Parlamente in das Ratifikationsverfahren gewährleistet eine demokratische Minimallegitimation jeder Vertragsverfassungsrevision. Es zeigt sich, daß eine formalistische Trennung der Ebenen und Rollen den faktischen und rechtlichen Verschränkungen nicht gerecht würde. Es wäre deshalb sachunangemessen, die Einflußnahme der Einzelnen allein ihrer Eigenschaft als Staatsbürger zuzuordnen. Sie sind gleichzeitig europäische Bürger und handeln auch in dieser Rolle. Bei den Referenden zu den Änderungsverträgen wird das besonders deutlich. Auch wenn diese nach nationalem Recht stattfinden, geht es inhaltlich um Europa und um die Rolle des Mitgliedstaates darin. Die Wahlberechtigten stimmen als Staatsbürger und als Europäer ab. Je nach Verfahren ist der tatsächliche Einfluß von Bürgermeinungen allerdings so gering, daß man bezweifeln kann, daß hier noch Verfassunggebung bzw. -entwicklung „durch" die Bürger vorliegt. Um gemeineuropäischen Standards von Volkssouveränität zu entsprechen, müßten sich vor allem die förmlichen
151
In diesem Sinne auch von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 1999, 56 (Normgeber seien die in den mitgliedstaatlichen Verfassungssystemen organisierten Unionsbürger). 152 Koenig/Pechstein, Die EU-Vertragsänderung, EuR 1998, 147-149 mit Fn. 43; Ansatzweise auch de Witte, International Agreement or European Constitution?, 1996, 14.
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
395
Verfahren der Vertragsverfassungsänderung erheblich weiter in Richtung verbesserter Bürgerbeteiligung bewegen, sei es über das Europäische Parlament, sei es über die verstärkte Einbeziehung der nationalen Parlamente bereits in die Ausarbeitungsphase.
2. Verfassungsentwicklung durch Gemeinschaftsorgane Neben den Mitgliedstaaten und (über nationale Parlamente und das Europäische Parlament vermittelt) den Unionsbürgern erscheinen die anderen Gemeinschaftsorgane sowie der Europäische Rat als Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt. Dabei werden die großen Leitlinien der Verfassungsentwicklung zweifellos maßgeblich vom Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs (Art. 4 EUV) vorgezeichnet.153 Zwar sind die Beschlüsse und Erklärungen dieses intergouvernmentalen Führungsgremiums grundsätzlich im politischen Raum angesiedelt und nicht rechtsverbindlich, können jedoch in (Verfassungs-)Recht umgesetzt werden. So war es beispielsweise der Europäische Rat, der beschloß, eine Charta der Grundrechte erarbeiten zu lassen.154 Er bestimmte selbst Zusammensetzung und Arbeitsverfahren des Gremiums zur Ausarbeitung eines Entwurfs,155 formulierte aber nicht selbst die Charta.
a) Autonome Änderungen des Primärrechts Gemeinschaftsautonome Anpassungen der Primärrechtstexte durch europäische Organe sind an zwei Stellen der Verträge vorgesehen: Erhöhung der Anzahl der Richter oder Generalanwälte (Art. 221 Abs. 3; 222 Abs. 3 EGV) und Änderung der Zahl der Kommissionsmitglieder (Art. 213 EGV). Indem die autonome Anpassung dem Rat (also den Regierungsvertretern) zur einstimmigen Entscheidung übertragen wurde, liegt der Unterschied zum formellen Änderungsverfahren vor allem im Verzicht auf die Ratifikation durch die nationalen Parlamente und auf die Beteiligung von Kommission und Europäischem Parla153 Bieber, Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung, 1991, 406; Marcel Kaufmann, Permanente Verfassunggebung und verfassungsrechtliche Selbstbindung, Staat 1997, 533; Grabitz/Hilf Das Recht der Europäischen Union: Kommentar, 1/1, 1999, Rdn. 41 zu Art. D EUV a.F. (Hilf/Pache). 154 Siehe die Schlußfolgerungen des Vorsitzes, Rdn. 44f nebst Anhang IV: Beschluß des Europäischen Rates (Köln) zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union v. 4. Juni 1999 (Bull. BReg. 49/1999, 509, 535). 155 Schlußfolgerungen des Vorsitzes Europäischer Rat (Tampere) 15. und 16. Oktober 1999, Bull. BReg. 84/1999, 793, 799: Zusammensetzung und Arbeitsverfahren des Gremiums zur Ausarbeitung des Entwurfs einer EU-Charta der Grundrechte sowie einschlägige praktische Vorkehrungen entsprechend den Schlußfolgerungen von Köln.
396
Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
ment. Die hierin liegende Verschärfung des parlamentarischen Defizits ist nicht gänzlich unbedenklich, denn mit den im autonomen Anpassungsverfahren erlaubten rein numerischen Veränderungen der Organbesetzung kann durchaus Verfassungspolitik gemacht werden: Man denke an den (gescheiterten) „Courtpacking" Plan des US-amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt, mit dem dieser im Jahr 1937 durch Erhöhung der Richterzahl den sozialgesetzgebungsfeindlichen Supreme Court gefügig machen wollte, die New Deal-Gesetzgebung konstitutionell abzusichern suchte und letztlich die Herausbildung eines amerikanischen Sozialstaats einleitete. Ein anderer Typus vertraglich vorgesehener autonomer Anpassung ist die sogenannte kleine Revision " der Befugnisse der Kommission im Rahmen des EGKSV (Art. 95 Abs. 3 und 4 EGKSV). 1 5 6 Es handelt sich hierbei um eine Art clausula rebus sie stantibus: Voraussetzung sind unvorhergesehene Schwierigkeiten bei der Vertragsdurchführung oder eine tiefgreifende Änderung der Marktbedingungen. Die kleine Revision wird unter Beteiligung des Rats (10/12Mehrheit), des Gerichtshofs und des Europäischen Parlaments durchgeführt, bisher ersichtlich nur einmal im Jahre 1960. Der zugelassene Änderungsrahmen ist sehr begrenzt (keine Änderung der grundlegenden Aufgaben- und Zielbestimmungen und des institutionellen Gleichgewichts). Hans Peter Ipsen vergleicht Technik und Motive dieser Änderungsschranke mit Art. 79 Abs. 3 GG und charakterisiert damit die kleine Revision als Verfassungsänderung.157 Wieder ein anderer Typus von Rechtsentwicklung, der unter Umständen verfassungsmäßiges Gewicht haben kann, sind vertraglich vorgesehene Maßnahmen zur Ausfüllung (nicht Textänderung) des Primärrechts. Diese werden durch den Rat oder durch interinstitutionelle Vereinbarung bewirkt. Zum Teil sind sie ratifikationsbedürftig und damit dem Primärrecht angenähert, ohne dessen Bestandteil zu werden. So ist beispielsweise nach Art. 190 Abs. 4 EGV das Verfahren der Wahlen zum Europäischen Parlament in einem ratifikationsbedürftigen Ratsbeschluß zu regeln.158 Nach herkömmlichen Verfassungsvorstellungen handelt es sich beim Wahlrecht um Verfassungsrecht im materiellen Sinne. Ein Beispiel für vertraglich vorgesehene Ausfüllungen des Primärrechts Ratifikationspflicht sind die Delegation von Durchführungsbefugnissen Rat an die Kommission per Ratsbeschluß auf der Grundlage von Art. 202 dritter Spiegelstrich. Da die mit dieser Delegation zusammenhängenden
ohne vom EGV Aus-
156 Dazu z.B. H P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 105f; L-J. Constantinesco, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften 1,1977,269-271. 157 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, 105. 158 In Ausführung dieser Vorschrift erging 1976 der Direktwahlakt (Beschluß des Rates (76/787/EGKS, EWG, Euratom) v. 20. Sept. 1976, ABl. 1976 L 278/1 ff. Dieser verweist auf mitgliedstaatliche Vorschriften. Ein neuer Beschluß des Rates zur Vereinheitlichung des Wahlverfahrens ist überfällig.
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
397
schußverfahren (Komitologie) sowohl das institutionelle Gleichgewicht als auch das Demokratieprinzip tangieren, hat die Materie erhebliche Verfassungsrelevanz. Die Voraussetzungen der Durchfuhrungsmaßnahmen sowie das für deren Erlaß anwendbare Verfahren wurden seit 1987 in sogenannten Komitologiebeschlüssen des Rates und in einem Modus vivendi zwischen den Organen geregelt, wobei die Position des Europäischen Parlaments von Regelung zu Regelung kontinuierlich gestärkt wurde. 159 Weitere bedeutsame Ausfüllungen des Primärrechts sind etwa die Einrichtung des Gerichts Erster Instanz per Ratsbeschluß auf der Grundlage von Art. 168a a.F. (jetzt Art. 225) 1 6 0 oder den Beschluß des Europäischen Parlaments über die Regelung und allgemeine Bedingungen der Pflichten des Bürgerbeauftragten in Ausführung von Art. 138e EGV a.F. (jetzt Art. 195 Abs. 4 EGV). 1 6 1
b) Insbesondere: Verfassungsentwicklung
durch den Rat nach Art 308 EGV
Praktisch bedeutsam ist (Verfassungs-)Rechtsfortbildung auf der Grundlage von Art. 308 EGV. Nach dieser Vorschrift kann der Rat dann, wenn eine spezielle vertragliche Kompetenzgrundlage fehlt, geeignete Vorschriften zur Verwirklichung der Gemeinschaftsziele im Rahmen des Gemeinsamen Marktes erlassen. Es handelt sich also um eine Generalkompetenz, die das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in gewisser Weise aufweicht, aber nicht vollkommen außer Kraft setzt. Denn auch die Inanspruchnahme der sehr weiten Kompetenzvorschrift ist an bestimmte (wenn auch flexible) Voraussetzungen gebunden; Art. 308 EGV räumt der Gemeinschaft keine Kompetenz-Kompetenz ein. 162 Unter dem Gesichtspunkt der Verfassungsentwicklung stellt sich vor allem die Frage, wann Art. 308 in Anspruch genommen werden darf und wann eine formelle Vertragsänderung nach Art. 48 EUV notwendig ist. Denn die Konkretisierung von Art. 308 EGV dahingehend, daß neue Gemeinschaftskom-
159 Erster Komitologie-Beschluß des Rates 87/373/EWG, ABl. 1987 L 197/33ff (Keine formelle Beteiligung des EP); Modus vivendi v. 20. Dez. 1994 zwischen dem EP, dem Rat und der Kommission betreffend die Maßnahmen zur Durchführung der nach dem Verfahren des Artikels 189b EG-Vertrag erlassenen Rechtsakte, ABl. 1996 C 102/01 (informelle Information des EP und Gelegenheit zur Stellungnahme); zweiter Komitologie-Beschluß 1999/468/EG, ABl. 1999 L 184/23ff (insb. Art. 5 Abs. 5: EPRecht zur Stellungnahme in bezug auf Umgehung seiner Beteiligungsrechte im Mitentscheidungsverfahren; Art. 7 Abs. 3: verbesserte Information des EP). 160 Beschluß des Rates (88/591/EGKS, EWG, Euratom) v. 24. Okt. 1988, ABl. 1988 L 319/lff. 161 Beschluß des EP (94/262/EGKS, EG, Euratom) v. 9. März 1994, ABl. 1994 L 113/15ff. 162 Vgl. BVerfGE 89, 155, 210 (1993) (Maastricht).
398
Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
petenzen geschaffen und ausgeübt werden, stellt der Sache nach eine Weiterbildung des geschriebenen Vertragsrechts dar. 163 Von 1973 bis zum Inkrafttreten der EEA 1988 wurde die Generalermächtigung auf ausdrückliche Empfehlung der Staats- und Regierungschefs großzügig im Sinne einer Vertragsabrundungskompetenz angewendet, um neue Aufgaben angehen zu können, ohne die Verträge förmlich ändern zu müssen.164 Die Literatur betonte damals des Art. 235 EGV a.F. „Schlüsselstellung für eine flexible Anpassung an die jeweiligen Erfordernisse" der Integration165 und erkannte den Rat als „vertragsergänzende Legislative" an. 166 Was die Mitwirkungen der Gemeinschaftsorgane sowie der mitgliedstaatlichen Regierungen angeht, so weicht das Verfahren der „kleinen Vertragsergänzung" nach Art. 308 EGV nicht erheblich vom Verfahren der förmlichen Vertragsänderung ab. 167 Der entscheidende Unterschied liegt vielmehr in der Ausschaltung der nationalen Parlamente beim Rekurs auf Art. 308 EGV, da hier keine Ratifikation erforderlich ist. Zwar kann man argumentieren, daß die fehlende Ratifikation allein noch kein substantielles demokratisches Defizit darstellt. Denn weil die Regierungen von den Parlamentsmehrheiten getragen und gestützt werden, akzeptieren in der Realität die nationalen Parlamente alle möglichen Vorgaben ihrer Regierungen, der bloße Ratifikationsakt erscheint so gesehen als bloße Formsache. Trotzdem bringen die gesamten Umstände einer Ratifikation einen demokratischen Gewinn, nämlich die Artikulationsmöglichkeit diverser Interessengruppen, die auf die eine oder andere Weise in die nationalen politischen Prozesse eingebunden sind. Die Kompetenzbegründung nach Art. 308 EGV ist also zumindest deshalb demokratisch defizitär, weil die
163
Hierzu Häde/Puttler, Zur Abgrenzung des Art. 235 EGV von der Vertragsänderung, EuZW 1997, 13-17. 164 Siehe die Erklärung der Konferenz der Staats- bzw. Regierungschefs der Mitgliedstaaten der erweiterten Europäischen Gemeinschaften in Paris am 19. u. 20. Okt. 1972, Ziff. 15, die dazu aufrief, „alle Bestimmungen der Verträge, einschließlich des Artikels 235 des EWG-Vertrages, weitestgehend auszuschöpfen" (abgedr. in EA 27 (1972), D 502, D 508). 165 Nicolay sen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1979, 45; ihm folgend Schwarze, Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, 1984,38. 166 Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassungsstruktur in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRl 1966, 47, Fn. 50; H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972,347. 167 Eine ganz andere Frage ist das Verhältnis der Generalkompetenz zu den speziellen vertraglichen Kompetenznormen. Bei Anwendung der Spezialermächtigungen gehen nämlich unter Umständen die Mitwirkungsbefugnisse der Organe, insbesondere die des EP, über die bloße Anhörung (nach Art. 308) hinaus. Um das institutionelle Gleichgewicht zu wahren, überprüft der Gerichtshof die Wahl der richtigen Kompetenzgrundlage strikt; siehe nur EuGH, Rs. 45/86, Kommission v. Rat, Slg. 1987, 1493, Rdn. 11 ff; Rs. C-300/89, Kommission v. Rat (Titandioxid), Slg. 1991,1-2867, Rdn. lOff.
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
399
pluralistischen Interessengruppen weitgehend ausgeschaltet und nur „StaatenInteressen, das heißt Regierungsperspektiven, berücksichtigt werden.168
Das demokratische Defizit, das mit der extensiven Anwendung von Art. 308 EGV verbunden war, wurde allerdings dadurch geheilt, daß in wichtigen Bereichen nachträglich per Vertragsänderung (EEA und Maastrichter Vertrag) spezielle Kompetenzgrundlagen für das zunächst nur auf Art. 235 EGV a.F. gestützte Gemeinschaftshandeln (so etwa für Umweltschutz, Forschungspolitik, Regionalpolitik und Entwicklungspolitik) geschaffen wurden. Die Erschließung von Annexkompetenzen auf der Grundlage von Art. 308 (bzw. Art. 235 EGV a.F.) hatte also eine Vorreiterfunktion für Vertragsänderungen mit materiell verfassungswürdigem Gehalt. 1996 versuchte der Gerichtshof erstmals, eine inhaltsbezogene Abgrenzung des Anwendungsbereichs von Art. 308 EGV und der förmlichen Vertragsänderung vorzunehmen. Im EMRK-Gutachten befand er, die Generalkompetenz könne „nicht als Rechtsgrundlage für den Erlaß von Bestimmungen dienen, die der Sache nach, gemessen an ihren Folgen, auf erne Vertragsänderung ohne Einhaltung des hierfür im Vertrag vorgesehenen Verfahrens hinausliefen." „Eine solche Änderung des Systems des Schutzes der Menschenrechte in der Gemeinschaft, die grundlegende institutionelle Auswirkungen sowohl auf die Gemeinschaft als auch die Mitgliedstaaten hätte, wäre von verfassungsrechtlicher Dimension und ginge daher ihrem Wesen nach über die Grenzen des Artikels 235 [jetzt Art. 308] hinaus. Sie kann nur im Wege einer Vertragsänderung vorgenommen werden."169 Die verfassungsrechtliche Dimension erscheint hier als „materielle, etwa in der Gewichtigkeit des Vorhabens, begründete immanente Grenze", als zusätzliches negatives Tatbestandsmerkmal von Art. 308 EGV. 1 7 0
c) Verfassungsrechtsfortbildung
durch Organe ohne vertragliche
Grundlage
Eine ganz anderes Problem ist die vertraglich nicht vorgesehene Rechtserzeugung der Organe, die zum Teil nach Materie und Gewicht verfassungsfortbildend wirkt. Bereits 1981 hat Rudolf Bernhardt daraufhingewiesen, daß hier „parakonstitutionelle Entwicklungen" vorliegen, die „für die Entwicklung der Gemeinschaft und ihrer Realverfassung eine große Bedeutung erlangt haben."171 168
Weiler, The Transformation of Europe, Yale L.J. 1991, 2453. EuGH, Gutachten 2/94, Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Slg. 1996, 1-1759, Rdn. 30, 35 (Hervorhebung d. Verf.). 170 Vedder, Die „verfassungsrechtliche Dimension" - die bisher unbekannte Grenze für Gemeinschaftshandeln?, EuR 1996, 315 und 318. 171 Bernhardt, Die „Verfassung" der Gemeinschaft, 1981, 88. 169
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Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
Die genaue rechtliche Einordnung der sehr unterschiedlichen Texte ist schwierig und nur einzelfallweise möglich. Zum Teil ist bereits die rechtliche Bindungswirkung unklar, gegebenenfalls ihr Rang (Sekundär- oder Primärrecht?), auch ihr Charakter (einseitige Maßnahme oder interinstitutionelle Vereinbarung?172). Verfassungsrelevant sind vor allem solche Instrumente, die später zu einer substantiellen Vertragsänderung führten. Dazu gehört etwa das Petitionsrecht der Unionsbürger an das Europäische Parlament, dessen schrittweise Konstitutionalisierung gut sichtbar ist. Das Petitionsrecht basierte zunächst auf parlamentarischen Geschäftsordnungsbestimmungen.173 1989 wurde es dadurch gefestigt und effektiviert, daß sich Kommission und Rat in einer interinstitutionellen Vereinbarung verpflichteten, mit dem Parlament bei der Behandlung von Petitionen zusammenzuarbeiten.174 1992 schließlich wurde das Petitionsrecht im Maastrichter Vertrag kodifiziert (jetzt Art. 194 EGV). Heute ist es ausweislich des Art. 21 EGV ein aus der Unionsbürgerschaft fließendes Recht, das als genuin europäisches Verfahrensgrundrecht angesehen wird. 175 Auch die Steigerung parlamentarischer Kompetenzen im Rechtsetzungsverfahren wurde durch Abmachungen der Organe vorbereitet. So verpflichtete sich 172 Vor allem die interinstitutionellen Vereinbarungen sind eine interessante Strategie zur Vermehrung der Kompetenzen des EP im Rechtsetzungs- und Haushaltsbereich. Die Bezeichnung als interinstitutionelle Vereinbarung tauchte erstmals 1988 auf, als die Vereinbarung über die Haushaltsdisziplin und die Verbesserung des Haushaltsverfahrens erstmals im Amtsblatt L veröffentlicht wurde (ABl. 1988 L 185/33ff). Mit Blick auf das institutionelle Gleichgewicht bedeutsam und in hohem Maße verfassungsrelevant ist das Rahmenabkommen zwischen der Kommission und dem EP v. Juli 2000, mit dem die Zusammenarbeit zwischen den beiden Organen in den Bereichen der Rechtsetzung, internationale Abkommen, Erweiterung, Zugang zu Kommissionsdokumenten verbessert werden soll (Dok. C5-0349/2000). Nach der Erklärung für die Schlußakte der Konferenz von Nizza zu Art. 10 EGV dürfen interinstitutionelle Vereinbarungen „die Vertragsbestimmungen weder ändern noch ergänzen und dürfen nur mit Zustimmung [von EP, Rat und Kommission] geschlossen werden." Näher zu Typologie, Rechtsnatur und Bindungswirkung von interinstitutionellen Vereinbarungen Monar, Interinstitutional Agreements, CML Rev. 1994, 693-719; Schwarze, Möglichkeiten und Grenzen interinstitutioneller Vereinbarungen, EuR, Beiheft 1,1995,49-67. 173 Groeben/Thiesing/Ehlermann, Kommentar zum EU/EG-Vertrag 4, 1997, Rdn. 1 zu Art. 138d EGV a.F. (Haag). 174 Vereinbarung („Briefwechsel zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften") v. 12. April 1989, ABI. 1989 C 120/90. 175 Art. 23 der Erklärung des EP der Grundrechte und Grundfreiheiten v. 12. April 1989, ABl. 1989 C 120/51fT; auch Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993, 164. Wegen der Differenzen in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen ist das Petitionsrecht kein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts (Groeben/Th iesing/Ehler mann, Kommentar zum EU/EG-Vertrag 4, 1997, Rdn. 1 zu Art. 138d EGV a.F. (Haag)).
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
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beispielsweise der Rat 1982 zur Konsultation des Parlaments bei allen „wesentlichen Rechtsakten".176 Die Anhörungsrechte des Europäischen Parlaments wurden seitdem kontinuierlich vertraglich ausgeweitet und damit die demokratische Legitimation der Rechtsetzung zumindest ansatzweise verbessert. Zur Verfassungsentwicklung tragen ferner Grundsatzerklärungen der Institutionen zu Verfassungsthemen (Grundrechte, Demokratie, Transparenz und Subsidiarität usw.) bei. Diese können - wie an anderer Stelle auszuführen sein wird - als Verfassungskonventionen qualifiziert werden.177 Die Vielfalt von unionsinternen Mechanismen und Instrumenten, die oft in der Grauzone zwischen Verfassungsrecht und -politik greifen, konnte hier nur angedeutet werden. Festzuhalten ist jedenfalls, daß Gemeinschaftsorgane neben Mitgliedstaaten und Bürgern Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt sind. Die herausragende Rolle hat dabei unter den Organen der Gerichtshof, auf den nun näher einzugehen ist.
3. Insbesondere: Verfassungsentwicklung durch den Europäischen Gerichtshof Zu Recht wird allgemein anerkannt, daß die Konstitutionalisierung der europäischen Verträge zu einem ganz erheblichen Teil das Werk des Europäischen Gerichtshofs ist. 178 Dieser Befund wirft schwierige Fragen auf nach der Rolle des Gerichtshofs im Integrationsprozeß, seinen Auslegungsmethoden, nach der 176
1982. 177
Schreiben des Ratspräsidenten an das EP vom 8. April 1982, Bull. EP Nr. 11/
Siehe unten S. 467ff. Grundlegend E. Stein, Lawyers, Judges and the Making of a Constitution, 1981, 771; Mancini, The Making of a Constitution for Europe, CML Rev. 1989, 566. Nach Rasmussen, The Court of Justice of the European Communities and the Process of Integration, 1991, 201 ist „the Treaty's constitutional character essentially a matter of judicial craftsmanship". „Le refus des Etats d'&aborer une veritable constitution conduit ä la mise en place d'une constitution judiciaire" (Jacque, Le röle du droit dans Tint^gration europäenne, R.I.P.P. 1991, 132). „La v6rit€ est qu'au fil des annöes la Cour de Justice a progressivement construit un Edifice de type constitutionnel, tout en estompant les 616ments qui apparentaient la Communautl ä un ordre international classique" (Dehousse, La Cour de Justice des Communautäs europ6ennes, 1994, 42). Nach Everting, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, 1995, 72 hat der EuGH schrittweise aus Rudimenten eine „geschlossene Rechts- und Verfassungsordnung herausgebildet". Mestmäcker, Risse im europäischen Contrat Social, 1997, 54 meint: „Von einer Verfassung der Gemeinschaft können wir sprechen, weil der Europäische Gerichtshof die Grundpflichten der Mitgliedstaaten zur Grundrechten der Bürger weiterentwickelt hat." Zur „Verfassungsrechtsentwicklung" durch den EuGH auch Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, 229; Wolf-Niedermaier, Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik, 1997, 216; Maduro, We The Court, 1998, 7-34. 178
402
Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
Legitimität von Richterrecht, also judizieller Rechtsfortbildung überhaupt und speziell im Falle eines supranationalen Spruchkörpers. Diese juristischen Fragestellungen sind Gegenstand zahlreicher Studien.179 Weitere, hochinteressante Fragen sind, warum der Gerichtshof die Rolle des „Verfassungmachers"180 an sich ziehen konnte beziehungsweise von wem sie ihm aus welchen Gründen zugeschoben wurde und wieso seine verfassungsentwickelnde Tätigkeit auf prinzipielle Akzeptanz stößt. Diese eher soziologisch-politologische Fragestellung kann hier nicht weiter verfolgt werden.181 Vielfach wird grundsätzliche und scharfe Kritik am „gouvernement des juges" 182 , am „Europe des juges" 183 , an „We The Court" 184 geübt.185 Der Gesamtkomplex kann hier nur kursorisch behandelt werden.
179
Monographien aus neuer Zeit etwa Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice, 1986; Wechsler, Der Europäische Gerichtshof in der EGVerfassungswerdung, 1995; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik, 1995; Wolf'Niedermaier, 1997, (zum „Einfluß des EuGH auf dieföderale Machtbalance zwischen der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten"); Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, 1998 (zum Gerichtshof „als Förderer und Hüter der Integration"); Maduro, We the Court, 1998 (zur Ausdehnung der Gemeinschaftskompetenzen durch den EuGH); Arnull, The European Union and its Court of Justice, 1999; Mittmann, Rechtsfortbildung durch den EuGH und die Rechtsstellung der Mitgliedstaaten der EU, 2000. 180 Wechsler, Der Europäische Gerichtshof in der EG-Verfassungswerdung, 1995, 144. 181 Hierzu ein guter Überblick bei Weiler, Journey to an Unknown Destination, J. Common Mkt. Stud. 1993, 417-446. Siehe aus unterschiedlichen Perspektiven: Burley/Mattli, Europe before the Court, 10 1993,41-76 (neofunktionalistischer Erklärungsansatz); Garrett, The Politics of Legal Integration in the European Union, IO 1995, 171-181 (intergouvemmentalistische Erklärung); Wechsler, Der Europäische Gerichtshof in der EG-Verfassungswerdung, 1995 144-172 (public choice Perspektive); WolfNieder maier, Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik, 1997, 250-265 (mit neoinstitutionalistischer Deutung). 182 Colin, Le gouvernement des juges dans les Communaut6s Europeennes, 1966. 183 Lecourt, L'Europe des juges, 1976. 184 Maduro, We The Court, 1998. 185 Teilweise scheinen Wissenschaftler, Politiker und mitgliedstaatliche Gerichte dem EuGH skeptischer gegenüberstehen als etwa den nationalen Verfassungsgerichten. Das ist insoweit gerechtfertigt, als der EuGH ein aktives Gericht ist, es manchmal an richterlicher Zurückhaltung fehlen läßt und offensichtlicher als andere Gerichte Politik macht. Besonders allergisch ist man dagegen offenbar deshalb, weil die progressive, gemeinschaftsfreundliche Rechtsprechung des Gerichtshofs die nationale Souveränität der Mitgliedstaaten bedroht. Vgl. etwa Grimm, Vertrag oder Verfassung, 1995, 529, der ohne Begründung „die engeren Interpretationsgrenzen vertragsauslegender Gerichte einer supranationalen Gemeinschaft gegenüber verfassungsauslegenden Gerichten der Mitgliedstaaten" postuliert.
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
a) Felder richterlicher
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Verfassungsentwicklung
Dierichterliche Verfassungsentwicklung erstreckt sich auf zahlreiche Felder. Zunächst hat der Europäische Gerichtshof die Grundkoordinaten des Verhältnisses von Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Recht fixiert. Dazu gehörte zunächst die Zuerkennung der unmittelbaren Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts.186 Unmittelbare Anwendbarkeit umfaßt zweierlei: Erstens Geltung ohne transformierende Hoheitsakte und zweitens die Berechtigung der Einzelnen, sich vor nationalen Gerichten auf Gemeinschaftsrecht zu berufen. Insbesondere die Rechtsprechung dahingehend, daß auch Richtlinienbestimmungen unmittelbar anwendbar sein können (sofern sie unbedingt, klar und genau sind) 187 stellt eine Rechtsfortbildung dar, die wohl als contra legem eingestuft werden muß, weil sie sich über die vertragliche Differenzierung zwischen Richtlinie und Verordnung hinwegsetzt (Art. 249 EGV). Auch der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist rein richterrechtlich geschaffen worden.188 Der Europäische Gerichtshof hat ferner die Stellung der Institutionen und das Rechtsschutzsystem maßgeblich definiert.189 Er hat die Prinzipien der Staatshaftung (Amtshaftung der Gemeinschaft nach Art. 288 Abs. 2 E G V 1 9 0 sowie die Amtshaftung der Mitgliedstaaten bei fehlerhafter Durchführung des Gemeinschaftsrechts191) eigenständig entwickelt. Frappierend ist schließlich die richterliche (und schwankende) Entwicklung von Außenkompetenzen der Gemein-
186
Rs. 26/62, Van Gend & Loos v. Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963,1. Rs. 41/74, Van Duyn v. Home Office, Slg. 1974,1337, Rdn. 12-13/14. 188 Rs. 6/64, Costa v. ENEL, Slg. 1964, 1251. 189 Zum Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts Rs. 9/56, Meroni v. Hohe Behörde, Slg. 1958, 9, 44. Klagebefugnis und Beklagtenstellung des EP wurde richterrechtlich - unter Verweis auf das Prinzip des umfassenden Rechtsschutzes und das institutionelle Gleichgewicht - ausgeformt: Rs. 294/83, Parti äcologiste „Les Verts" v. EP, Slg. 1986, 1339, Rdn. 25; Rs. C-70/88, EP v. Rat (Tschernobyl), Slg. 1990, 1-2041, Rdn. 23-31. Vgl. demgegenüber noch Rs. 302/87, Parlament v. Rat, Slg. 1988, 5615, Rdn. 26-28 (verneinte die Klagebefugnis des EP). Dierichterliche Rechtsfindung wurde nachträglich im Maastrichter Vertrag kodifiziert (jetzt Art. 230 Abs. 1 und 3 EGV). 190 Grundlegend Rs. 5/71, Schöppenstedt v. Rat, Slg. 1971,975. 191 Verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Francovich v. italienische Republik, Slg. 1991, I5357; verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93, Brasserie du pecheur v. Bundesrepublik, Slg. 1996, 1-1029; verb. Rs. C-178/94 u.a., Dillenkofer u.a. v. Bundesrepublik Deutschland (MPTravel-Line), Slg. 1996, 1-4845, 3141. Thomas von Danwitz bewertet die „besondere methodische Kühnheit derrichterlichen Dezision" in dieser „zweiten großen Rechtsfortbildung im institutionellen Europarecht" „als geradezu revolutionär" (von Danwitz, Die gemeinschaftsrechtliche Staatshaftung der Mitgliedstaaten, DVB1. 1997,1 und 10). 187
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Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
schaft in Parallelität zu den Innenkompetenzen ohne eigentliche Basis im Vertragstext.192
aa) Insbesondere: Grundrechte und -freiheiten Vor allem hat der Europäische Gerichtshof die europäischen Grundrechte unter Rückgriff auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze der Mitgliedstaaten und die EMRK in wertender Rechtsvergleichung ermittelt.193 Er hat sie nicht nur als Grenze von Gemeinschaftshandeln konzipiert, sondern setzte sie in zwei Konstellationen auch als Begrenzung mitgliedstaatlicher Maßnahmen ein. 194 Die erste ist der mitgliedstaatliche Vollzug von Gemeinschaftsrecht (jetzt Art. 51 Abs. 1 Grundrechtecharta).195 In der Agency-Situation erscheint in der Tat die Bindung der Mitgliedstaaten wegen des grundsätzlich dezentralisiertem Vollzugs des Gemeinschaftsrechts plausibel und - unter der (nicht uneingeschränkt akzeptierten) Prämisse, daß das Gemeinschaftsrecht insoweit eine Sperrwirkung
192
Rs. 22/70, AETR, Slg. 1971, 263, Rdn. 9/11-23/29; Gutachten 1/76, Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt, Slg. 1977, 741, Rdn. 4 (gemeinschaftsrechtliche Vertragsabschlußkompetenz ungeachtet dessen, ob von der parallelen internen Zuständigkeit bereits Gebrauch gemacht wurde, falls zur Erreichung eines Gemeinschaftsziels notwendig); Gutachten 1/94, Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Abschluß völkerrechtlicher Abkommen auf dem Gebiet der Dienstleistungen und des Schutzes des geistigen Eigentums (WTO), Slg. 1994, 1-5267, Rdn. 77 (externe Zuständigkeiten nur in dem Maße, wie gemeinsame Vorschriften auf interner Ebene tatsächlich erlassen wurden); Synthese in Gutachten 2/92, OECD, Slg. 1995,1-521, Rdn. 31 f. 193 Grundlegend Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft v. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide- und Futtermittel, Slg. 1970, 1125, Rdn. 4 (unter Verweis auf gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten) und Rs. 4/73, Nold v. Kommission, Slg. 1974, 491, Rdn. 13f (erstmals Verweis auf internationale Verträge). Umfassende Bestandsaufnahme der Gemeinschaftsgrundrechte bei Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, 1993; Chwolik-Lanfermann, Grundrechtsschutz in der Europäischen Union, 1994. 194 Hierzu Ruffert, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte, EuGRZ 1995, 518-530; Jürgensen/Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten, AöR 1996, 200228; Cirkel, Die Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2000. 195 In Rs. 5/88, Wachauf v. Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Slg. 1989, 2609, Rdn. 19 führte der EuGH aus „daß eine gemeinschaftsrechtliche Regelung, die dazu fuhren würde, daß der Pächter ... entschädigungslos um die Früchte seiner Arbeit und der von ihm in dem verpachteten Betrieb vorgenommenen Investitionen gebracht würde, mit den Erfordernissen des Grundrechtsschutzes in der Gemeinschaftsrechtsordnung unvereinbar wäre. Da auch die Mitgliedstaaten diese Erfordernisse bei der Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen zu beachten haben, müssen sie diese, soweit wie irgend möglich, in Übereinstimmung mit diesen Erfordernissen anwenden." Bestätigt in Rs. C-2/92, The Queen v. Ministry of Agriculture (Bostock), Slg. 1994,1955, insb. Rdn. 16.
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
405
entfaltet - auch geboten. Wenn die Staaten quasi als verlängerter Arm der Gemeinschaft agieren, ersetzt die Bindung an die europäischen Grundrechte die nationale Grundrechtsbindung, d.h. entsprechende nationale Garantien kommen wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht mehr zur Anwendung.196 Andernfalls wäre die einheitliche Vollziehung des Gemeinschaftsrechts in den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht gewährleistet. Diese (nicht unumstrittene) „Relativierung der [nationalen] Grundrechtsbindung" gilt allerdings grundsätzlich nicht beim Vollzug von Richtlinien, weil diese den Mitgliedstaaten einen Spielraum lassen.197 Zweitens sind Mitgliedstaaten (indirekt) an die europäischen Grundrechte gebunden, wenn diese als Schranken-Schranke der wirtschaftlichen Grundfreiheiten fungieren. Wenn ein Mitgliedstaat sich auf eine Vertragsausnahme beruft, um die Ausübung einer Grundfreiheit zu behindern, muß diese Rechtfertigung im Lichte der Gemeinschaftsgrundrechte ausgelegt werden.198 Schließlich hat der Gerichtshof die Bindungswirkung fur Private (also nach deutscher Terminologie eine unmittelbare Drittwirkung) des Grundrechts der Lohngleichheit anerkannt.199 Bisher scheinen die Grundrechte unter einem allgemeinen Gemeinschaftsvorbehalt zu stehen. „Die Gewährleistung dieser Rechte muß ... sich aber auch in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen".200 Die Grundrechte können beschränkt werden, „sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen".201 Diese weitge-
196
Befürwortend H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz: Kommentar 1, 1996, Art. 1 Abs. 3, Rdn. 13 m.w.N. (H. Dreier); Streinz, Europarecht, 1999, Rdn. 368; vgl. auch Bleckmann, Europarecht, 1997, Rdn. 17. 197 H, Dreier (Hrsg.), Grundgesetz: Kommentar 1, 1996, Art. 1 Abs. 3, Rdn. 13 (//. Dreier); in diesem Sinne auch Kingreen/Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, 281. Eingehend zur Grundrechtsgeltung speziell bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in innerstaatliches Recht B. Rickert, Grundrechtsgeltung bei der Umsetzung europäischer Richtlinien in innerstaatliches Recht, 1997. Vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 12. Mai 1989, EuGRZ 16 (1989), 339, 340 (einstweilige Anordnung zur TabaketikettierungsRL). 198 Rs. C-260/89, ERT v. DEP, Slg. 1991,1-2925, Rdn. 2964; Rs. C-62/90, Kommission v. Deutschland, Slg. 1992,1-2575, Rdn. 23; Rs. C-368/95, Familiapress v. Heinrich Bauer Verlag, Slg. 1997,1-3689, Rdn. 24-26 (mit Verweis auf Art. 10 EMRK). 199 Rs. 43/75 Defrenne v. Soci6t6 anonyme beige de navigation a&ienne Sabena (Defrenne II), Slg. 1976,455, Rdn. 21/24. 200 Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft v. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide- und Futtermittel, Slg. 1970,1125, Rdn. 4. 201 Rs. C-306/93, SMW Winzersekt v. Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1994, 1-5555, Rdn. 22. Siehe bereits Rs. 4/73, Nold v. Kommission, Slg. 1974,491, Rdn. 14: Die Gemeinschaftsrechtsordnung sei „weiterhin auch berechtigt, für diese Rechte bestimmte Begrenzungen vorzubehalten, die durch die dem allgemeinen Wohl dienenden Ziele der Gemeinschaft gerechtfertigt sind, solange die Rechte nicht in ihrem Wesen angetastet werden."
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Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
hende und pauschale Möglichkeit der Grundrechtsbeschränkung wird ihrerseits durch einen Gesetzesvorbehalt202, das Verhältnismäßigkeitsgebot203 und die Wesensgehaltsgarantie204 relativiert (jetzt Art. 52 Abs. 1 Grundrechtecharta). Die vier gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten (Freizügigkeit, Dienstleistungs-, Niederlassungs- und Kapitalverkehrsfreiheit) hat der Europäische Gerichtshof einerseits von bloßen Diskriminierungsverboten (Gleichheitsrechten) zu umfassenden Beschränkungsverboten (Freiheitsrechten) ausgebaut,205 ande-
202 Der EuGH fordert für Einschränkungen eine „Rechtsgrundlage" und eine Rechtfertigung „aus den gesetzlich vorgesehenen Gründen". Verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst v. Kommission, Slg. 1989, 2859, Rdn. 19. Dabei handelt es sich natürlich nicht um einen Parlamentsvorbehalt, sondern um einen Vorbehalt des exekutivlastigen Gemeinschaftsgesetzgebers. 203 Art. 5 Abs. 3 EGV. Siehe bereits Rs. 44/79, Hauer v. Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1979, 3727, Rdn. 23: Grundrechtsbeschränkende Maßnahmen dürften nicht „einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff in die Vorrechte des Eigentümers darstellen, der das Eigentumsrecht in seinem Wesensgehalt antastet". Aus neuerer Zeit Rs. C-306/93, SMW Winzersekt v. Land RheinlandPfalz, Slg. 1994,1-5555, Rdn. 22. Kritisch zur pauschalen und vom konkreten Eingriff losgelösten Verhältnismäßigkeitsprüfung Storr, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, Staat 1997, 570. 204 Rs. 44/79, Hauer v. Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1979, 3727, Rdn. 23; aus neuerer Zeit Rs. C-280/93, Bundesrepublik Deutschland v. Rat (Bananen), Slg. 1994, 1-4973, Rdn. 78. 205 Zur Warenverkehrsfreiheit Rs. 120/78, Rewe-Zentral-AG v. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, Rdn. 8 (selbst nichtdiskriminierende mitgliedstaatliche Maßnahmen sind nicht uneingeschränkt zulässig, sondern müssen sich an bestimmte Anforderungen halten). Zur Niederlassungsfreiheit'. Ansatzweiser Schutz über ein Diskriminierungsverbot hinaus in Rs. 107/83, Ordre des avocats v. Klopp, Slg. 1984, 2971, Rdn. 20 und in Rs. C-55/94, Gebhard v. Consiglio dell'ordine degli awocati e procuratori di Milano, Slg. 1995,1-4165, Rdn. 33-38. Vgl. zur Dienstleistungsfreiheit noch Rs. 2/74, Reyners v. belgischen Staat, Slg. 1974, 631, Rdn. 15, 16/20 und 24/28 (Diskriminierungsverbot und Grundsatz der Inländergleichbehandlung) mit Rs. 33/74, van Binsbergen v. Bestuur van de Bedrijsvereniging, Slg. 1974, 1299, Rdn. 10/12: „Unter die Beschränkungen, deren Beseitigung die Artikel 59 und 60 [Art. 49f EGV n.F.] vorsehen, fallen alle Anforderungen, die ... nicht für im Staatsgebiet ansässigen Personen gelten oder in anderer Weise geeignet sind, die Tätigkeiten des Leistenden zu unterbinden oder zu behindern" (Hervorh d. Verf.). Deutlich im Sinne eines umfassenden Beschränkungsverbots auch Rs. 205/84, Kommission v. Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1986, 3755, Rdn. 25. Zur Freizügigkeit der Arbeitnehmer: Rs. C-415/93, Union royal beige v. Bosman, Slg. 1995, 1-4921, Rdn. 96): „Bestimmungen, die einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates daran hindern oder davon abhalten, sein Herkunftsland zu verlassen ..., stellen daher eine Beeinträchtigung dieser Freiheit dar, auch wenn sie unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Arbeitnehmer Anwendung finden." Rs. 131/85, Gül v. Regierungspräsident Düsseldorf, Slg. 1986, 1573, Rdn. 14: „Wie es in den Begründungserwägungen dieser Verordnung heißt, ist die Freizügigkeit ein Grundrecht ,der Arbeitnehmer und ihrer Familien* ...; sie verlangt, daß alle Hindemisse beseitigt werden, die sich der Mobilität der Arbeitnehmer entgegenstellen".
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
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rerseits hat er zum Teil deren Schutzgehalt richterrechtlich reduziert.206 Der Gerichtshof hat allmählich, losgelöst vom Vertragstext, einen einheitlichen Rechtfertigungsmaßstab für freiheitsbeschränkende Maßnahmen der Mitgliedstaaten entwickelt, der einer Verhältnismäßigkeitsprüfung ähnelt, und damit sozusagen einheitliche immanente Schranken der Grundfreiheiten gefunden.207 Ebenfalls ohne ausdrückliche vertragstextliche Grundlage hat er die Bindung Privater an die Grundfreiheiten statuiert.208 Schließlich hat der Gerichtshof den Mitgliedstaaten eine Pflicht zum Schutz der Grundfreiheiten vor deren Beeinträchtigung durch Dritte auferlegt.209 Mit all diesem hat er letztlich die Grundfreiheiten zu grundrechtsähnlichen Positionen umgebaut,210 allerdings mit der wichtigen Ein-
206
In Keck grenzte der EuGH den Begriff der „Maßnahme gleicher Wirkung" (Art. 28 EGV) ein, und nahm bloße „Verkaufsmodalitäten" davon aus. Mitgliedstaatliche unterschiedslose Regelungen der Verkaufsmodalitäten gelten nicht mehr als Beschränkungen der Warenverkehrsfreiheit (Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91, Keck u. Mithouard, Slg. 1993,1-6097, Rdn. 16). 207 Erster Ansatz in Rs. 120/78, Rewe-Zentral-AG v. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979, 649, Rdn. 8. Heute gilt, „daß nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nicht diskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist" (Rs. C-55/94, Gebhard v. Consiglio deirordine degli awocati e procuratori di Milano, Slg. 1995, I4165, Rdn. 37). Aus der Literatur dazu Kischel, Die Kontrolle der Verhältnismäßigkeit durch den Europäischen Gerichtshof, EuR 2000,380-402. 208 Rs. 36/74, Walrave & Koch v. Association Union Cycliste Internationale, Slg. 1974, 1405, Rdn. 16/19; Rs. C-415/93, Union royal beige v. Bosman, Slg. 1995, 1-4921, Rdn. 82-87. Im Bereich der Warenverkehrsfreiheit deutete der EuGH zunächst die Möglichkeit der Privatrechtsbindung an (Rs. 58/80, Dansk Supermarked v. Imerco, Slg. 1981, 181, Rdn. 17 („Überdies ist daraufhinzuweisen, daß Vereinbarungen zwischen Privaten in keinem Fall von den zwingenden Bestimmungen über denfreien Warenverkehr abweichen dürfen."). Er lehnte jedoch später eine Drittwirkung ab und verwies auf die Bindung Privater (hier in bezug auf eine Nichtangriffsabrede) an die Wettbewerbsregeln (Art. 8Iff EGV) (Rs. 65/86, Bayer v. Süllhöfer, Slg. 1988, 5249, Rdn. 11). Drittwirkung des Freizügigkeitsrechts nach Rs. C-281/98, Angonese v. Cassa di Risparmio di Bolzano, Urt. v. 6. Juni 2000, EuZW 11 (2000), 468ff = EuGRZ 27 (2000), 306ff, Rdn. 30-36. Monographische Behandlung der Drittwirkungsproblematik bei Jaensch, Die unmittelbare Drittwirkung der Grundfreiheiten, 1997; Ganten, Die Drittwirkung der Grundfreiheiten, 2000. Siehe auch Kluthy Die Bindung privater Wirtschaftsteilnehmer an die Grundfreiheiten des EGVertrages, AöR 1997, 557-582. 209 Rs. C-265/95, Kommission v.französische Republik, Slg. 1997, 1-6959, insb. Rdn. 24-35. Zur grundfreiheitlichen Schutzpflicht der Staaten etwa Szczekalla, Grundfreiheitliche Schutzpflichten, DVB1. 1998, 219-224. 210 In diesem Sinne Carl O. Lenz, Der europäische Grundrechtsstandard in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, EuGRZ 1993, 585; Hartmut Schneider, Zum Funktionswandel der Grundfreiheiten des EGV, NJ 1996, 512-515; Bleckmann, Europarecht, 1997, Rdn. 755-782; kritisch Kingreen, Die Struktur der Grund-
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Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
schränkung, daß sie nach wie vor nicht ohne grenzüberschreitenden Bezug eingreifen.211 Die gesamte, hier nur angedeutete, Dogmatik der Grundrechte und -freiheiten ist reines Richterrecht, das in der Grundrechtecharta212 zwar zusammengefaßt, jedoch (bisher) nicht in den Status von förmlichem Vertragsrecht erhoben wurde.
b) Die richterliche
Methodik der Verfassungsentwicklung
Die Verfassungsrechtserzeugung und -entwicklung bewerkstelligt der Gerichtshof mittels einer Methodik, in der die - ohnehin fließenden Grenzen zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung weitgehend aufgelöst sind. Das Ziel der Auslegung ist weniger die Ermittlung der subjektiven Regelungsintentionen der Vertragsautoren als die Bestimmung des objektiven Normsinns.213 Dementsprechend wird nur sparsam auf die travaux preparatories zum Primärrecht zurückgegriffen.214 Die teleologische Auslegung rangiert vor der Wortlautinterpretation. Symptomatisch ist die Reihenfolge, in der die Methoden in Van Gend & Loos aufgezählt werden: Die Auslegungsfrage sei „vom Geist dieser Vorschriften, von ihrer Systematik und von ihrem Wortlaut her zu entscheiden".215 Pierre Pescatore rechtfertigt diese Priorität wie folgt: ,,[L]a methode teleologique n'est pas ici une methode parmi d'autres; bien loin de lä, il s'agit d'une methode particulierement appropriee aux caracteristiques propres des traites
freiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, insb. 115-118. A.A. (gegen den Grundrechtscharakter der Grundfreiheiten) Zuleegf Die Verfassung der Europäischen Gemeinschaft in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, BB 1994, 584; Storr, Zur Bonität des Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, Staat 1997,555; Kingreen/Störmer, Die subjektiv-öffentlichen Rechte des primären Gemeinschaftsrechts, EuR 1998, 288; von Bogdandy, Zweierlei Verfassungsrecht, Staat 2000, 173. 211 Verb. Rs. 35/82 u. 36/82, Morson v. Niederländischer Staat u.a.; Jhajan v. Niederländischer Staat, Slg. 1982, 3723, Rdn. 15-17; st. Rspr., aus neuerer Zeit Rs. C332/90, Steen v. Deutsche Bundespost, Slg. 1992,1-341, Rdn. 9. 2,2 ABl. 2000 C 364/Iff, abgedr. in EuGRZ 27 (2000), 554ff. 213 Vgl. in diesem Sinne die Auslegungsmaxime des BVerfG (st. Rspr. seit BVerfGE 1,299,312 (1952)); aus neuerer Zeit BVerfGE 62,1,45 (1983)). 214 Vgl. Schwarze, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, EuR 1983, 33; Potacs, Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1996, 21 f; Opper mann, Europarecht, 1999, Rdn. 687. Nur gelegentlich werden Regierungsbegründungen oder parlamentarische Erörterungen anläßlich der Ratifizierung erwähnt, z.B. in Rs. 6/60, Humblet v. Belgischer Staat, Slg. 1960,1163,1194 (hier zu einem Protokoll zum EGKSV). 215 Rs. 26/62, Van Gend & Loos v. Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 1,
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
409
instituant les Communautes."216 Bei der Interpretation werden topoi wie der „effet utile" 217 „System und Ziele des Vertrages"218, die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft219 und die „einheitliche Auslegung"220 herangezogen. Grundfreiheiten werden prinzipiell weit ausgelegt.221 Zusammengenommen ergeben diese 216
328.
Pescatore, Les objectifs de la Communautö Europeenne, 1972, 325-363, Zitat
217 Grundlegend Rs. 8/55, Föderation Charbonntere de Belgique v. High Authority (F&techar), Slg. 1955/56, 297, 312. Mit diesem Argument definiert der Gerichtshof unter anderem seine eigenen Auslegungskompetenzen möglichst weit: „Die praktische Wirksamkeit des mit Artikel 177 EWG-Vertrag [Art. 234 EGV n.F.] geschaffenen Systems setzt voraus, daß die innerstaatlichen Gerichte in weitestmöglichen Umfang zur Anrufung des Gerichtshofes befugt sind" (Rs. 348/89, Mecanarte v. Chefe do Servi^, Slg. 1991,1-3277, Rdn. 3313). 218 Rs. 6/72, Europemballage und Continental Can v. Kommission, Slg. 1973, 215, Rdn. 22. 219 EuGH Rs. 804/79, Kommission v. Vereinigtes Königreich, Slg. 1981, 1045, Rdn. 23: Die Rechtmäßigkeit mitgliedstaatlicher Maßnahmen muß „anhand aller verfugbaren rechtlichen Gesichtspunkte, seien sie auch fragmentarischer Natur, bestimmt werden, und es müssen dabei femer die Strukturprinzipien, die der Gemeinschaft zugrundeliegen, berücksichtigt werden. Diese Prinzipien verlangen, daß die Gemeinschaft unter allen Umständen imstande bleibt, ihren Verantwortlichkeiten unter Beachtung der vom Vertrag geforderten wesentlichen Gleichgewichtsverhältnisse nachzukommen." 220 Einheitliche Auslegung heißt zum einen, daß sich die im Gemeinschaftsrecht „verwendeten Begriffe nicht nach Maßgabe der Besonderheiten des jeweiligen innerstaatlichen Rechts verändern dürfen" (Rs. 69/79, Jordens-Vosters v. Bestuur van de Bedrijfsvereniging, Slg. 1980, 75, Rdn. 6). Vertragsbestimmungen sind vielmehr autonom, das heißt nicht unter Rückgriff auf Bestimmungen der nationalen Rechtsordnungen auszulegen. Denn ein solcher Rückgriff würde „im Ergebnis die Einheit und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts beeinträchtigen" und kann „daher nicht zugelassen werden" (Rs. 149/79, Kommission v. Belgien, Slg. 1980,3881, Rdn. 19). Einheitliche Auslegung heißt zum zweiten, daß sie letztverbindlich dem EuGH obliegt und das deshalb die nationalen Gerichte Auslegungsfragen vorlegen sollen. Die „entsprechende Zusammenarbeit zwischen ihnen und dem Gerichtshof diene dem „Ziel, eine einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen", ein Ziel, das für den EuGH „zwingend und offenkundig" ist. Man dürfe deshalb die Feststellung der Bedeutung von Bestimmungen nicht „den zahlreichen nationalen Gerichten überlassen, deren Auslegung divergieren kann, und dem Gerichtshof die Befugnis zur einheitlichen Auslegung dieser Normen entziehen" (Rs. C-221/88, Acciaierie e fernere Busseni, Slg. 1990,1-495, Rdn. 15f). Es bestehe „für die Gemeinschaftsrechtsordnung ein offensichtliches Interesse daran, daß jede Bestimmung des Gemeinschaftsrechts unabhängig davon, unter welchen Voraussetzungen sie angewandt werden soll, eine einheitliche Auslegung erhält, damit künftige unterschiedliche Auslegungen verhindert werden" (verb. Rs. C-297/88 u.C-197/89, Dzodzi v. Belgischer Staat, Slg. 1990,1-3763,1-3793, Rdn. 37). 221 Siehe als Beispiele: „Die Herstellung der größtmöglichen Freizügigkeit der Wanderarbeitnehmer, die der Grundlagen der Gemeinschaft darstellt, bildet den Hauptzweck von Artikel 51 [Art. 42 EGV n.F.] des Vertrages. Die zur Durchfuhrung dieses Artikels erlassenen Verordnungen sind im Lichte dieser Zielsetzung auszulegen" (Rs. 10/78, Belbouab v. Bundesknappschaft, Slg. 1978, 1915, Rdn. 5). Begriffe, die den „Anwendungsbereich einer der vom Vertrag garantierten Grundfreiheiten" festlegen, „dürfen ...
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Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
Ansätze eine verfassungstypische Auslegungsmethodik, die sich von der Methode der Auslegung einfachen Rechts abhebt.222 Die divergierenden Auslegungsmethoden werden erstens durch typische Verfassungstexteigenschaften (offene, politisch umkämpfte Formulierungen) nahegelegt, und zweiten durch die Direktivenfunktion der Verfassung. Die Verfassungssätze werden für den Gesetzgeber weniger als subsumtionsgeeignete Normen maßgeblich, sondern vielmehr mit der Wirkung von Grundsätzen und Richtlinien für die im Parlament stattfindende Abwägung und Ausgleichung der Interessen.223 Deshalb ist Verfassungsauslegung vor allem teleologische, weniger Wortlautauslegung. Die damit einhergehende Schwächung der normativen Kraft der Verfassung ist wohl unvermeidlich.224 Diese verfassungstypische Methodik findet sich sowohl im nationalen Recht als auch im Völkerrecht,225 und ist ein weiteres Indiz für Verfassungscharakter der Verträge.226
c) Die Befugnis des Europäischen Gerichtshofs zur Veifassungsentwicklung Es fragt sich, ob die vom Gerichtshof eingenommene Rolle als permanenter pouvoir constituant mit Grundsätzen von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
nicht einschränkend ausgelegt werden" (Rs. 53/81, Levin v. Staatssecretaris van Justitie, Slg. 1982, 1035, Rdn. 13). 222 So sagte bereits Chief Justice John Marshall in McCulloch v. Maryland, 17 U.S. 316, 407 (1819): ,,[W]e must never forget that it is a constitution we are expounding." In diesem Sinne auch BVerfGE 62, 1, 45 (1983); aus der Literatur Scheuner, Verfassung, Görres-Staatslex., 1963, Sp. 127; Wahl, Der Vorrang der Verfassung, Staat 1981, 486f; Badura, Verfassung, Evang. Staatslex. 1987, Sp. 3748f. 223 Badura, Verfassung, Evang. Staatslex. 1987, Sp. 3749. 224 Kritisch etwa Kägi> Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, 120. 225 Für die nur graduelle Abweichung der gemeinschaftsrechtlichen Auslegungsmethoden von den völkerrechtlichen Methoden E. Klein, Statusverträge im Völkerrecht, 1980, 330f; Bernhardt, Die „Verfassung" der Gemeinschaft, 1981, 20f; Wyatt, New Legal Order, or Old?, E.L.Rev. 1982, 158f; Peters, The Position of International Law in European Community Law, GYIL 1997, 23-26; Bleckmann, Europarecht, 1997, Rdn. 537. A.A. (kategorischer Unterschied zwischen gemeinschaftsrechtlicher und völkerrechtlicher Auslegung): Schwarze, Das allgemeine Völkerrecht in den innergemeinschaftlichen Rechtsbeziehungen, EuR 1983, 26; schwächer Oppermann, Europarecht, 1999, Rdn. 681. A.A.: völkerrechtliche versus verfassungsrechtliche Auslegung bei E. Stein, Lawyers, Judges and the Making of a Constitution, 1981, 771; Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, 156. 226 Wie hier z.B. Cahiert Le droit interne des organisations internationales, R.D.G.I.P. 1963, 578; Diez-Picazo, Reflexiones sobre la id6a de Constitucion Europea, Rev. Inst. Eur. 1993, 539; Dehousse, La Cour de Justice des Communautes europlennes, 1994,66f.
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
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vereinbar ist. Eine weitere wichtige Problemdimension ist, daß der richterliche Aktivismus zu Lasten souveräner mitgliedstaatlicher Handlungsspielräume geht.
aa) Grundsätzlich: Demokratische und funktionale Legitimation der (Verfassungs-)Rechtsprechung An die richterliche Tätigkeit werden zwei konkurrierende Legitimationsanforderungen gestellt, die sich einerseits ergänzen, andererseits in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis stehen. Die erste Anforderung ist die der demokratischen Legitimation, die von der Prämisse ausgeht, daß im demokratischen Gemeinwesen alle Hoheitsgewalt vom Volk ausgehen soll. Da Gerichte Hoheitsgewalt ausüben, insbesondere Verfassungsgerichte Politik machen, und erst recht die Verfassungsrechtsfortbildung von grundlegender Bedeutung für das Gemeinwesen ist, müßten Verfassungsgerichte (auch der Europäische Gerichtshof) prinzipiell demokratisch legitimiert sein. Offensichtlich ist aber die Tätigkeit des Gerichtshofs nur äußerst schwach durch demokratische Ernennung seiner Mitglieder gerechtfertigt Nach Art. 223 Abs. 1 und Art. 225 Abs. 3 Satz 1 EGV werden die Richter des Europäischen Gerichtshofs und des Gerichts erster Instanz einvernehmlich durch die Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt. In der Praxis entsendet jeder Mitgliedstaat einen Richter, und die Besetzung wird in Wirklichkeit bereits durch die Vorauswahl innerhalb der Mitgliedstaaten selbst entschieden. Diese ist bisher einzig in Österreich gesetzlich geregelt und findet dort unter Beteiligung des Parlaments statt. In den übrigen 14 Mitgliedstaaten fällt die Auswahlentscheidung im Kabinett und hat einen eminent politischen Charakter (keine Einschaltung der nationalen Parlamente, vor allem in Deutschland Entscheidungsmacht der Regierungspartei).227 Damit unterscheidet sich das Ernennungsverfahren nicht wesentlich von den Ernennungsverfahren für höchste nationale Richter in den meisten Mitgliedstaaten. Auch diese laufen - wenn überhaupt - nur mit marginaler Bürger- oder Parlamentsbeteiligung ab. Tendenziell wirken allerdings - soweit spezialisierte Verfassungsgerichte existieren - die Parlamente auf die Wahl von Verfassungsrichtern stärker ein als auf die Wahl der Richter der allgemeinen Gerichtsbarkeit.228 Das deutlich (partei-)politische 227
Siehe zum Ernennungsverfahren für EuGH-Richterkandidaten in den einzelnen Mitgliedstaaten Epping, Die demokratische Legitimation der dritten Gewalt der europäischen Gemeinschaften, Staat 1997, 361-374; zur Nominierung des deutschen Kandidaten ausfuhrlich Pieper, Verfassungsrichterwahlen, 1998, 55-70. In der Bundesrepublik sind seit 1988 die parteipolitischen Erwägungen bei der Benennung des deutschen EuGH-Richters besonders dominant. 228 Siehe zu den Ernennungsverfahren für höchste mitgliedstaatliche Gerichte in westlichen Demokratien von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen
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Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
Moment der realen Richter-Auswahlverfahren delegitimiert die Gerichte, weil die Qualitäten der Sachkompetenz und Unabhängigkeit hierdurch in den Hintergrund gedrängt werden können. Wenn auch gewichtige Argumente für eine weitere Demokratisierung der Ernennungen der Richter zum Europäischen Gerichtshof (also etwa direkte Wahl durch das Europäische Parlament, nationale Parlamente oder Bürger) sprechen, ist jedoch auf der anderen Seite zu bedenken, daß diese tendenziell der funktionalen Legitimation der Rechtsprechung zuwiderliefe. Wie im einzelnen an anderer Stelle näher auszufuhren sein wird, muß die Ausübung europäischer Hoheitsgewalt in erster Linie durch Leistung und Bewährung, also funktional gerechtfertigt werden.229 Das gilt auch für die Ausübung von Hoheitsgewalt durch den Europäischen Gerichtshof. Es können vier allgemeine Funktionen des Europäischen Gerichtshofs identifiziert werden: die richterliche Kontrolle, die Wahrung der Rechtseinheit (insb. über das Vorabentscheidungsverfahren, Art. 234 EGV), die Förderung der Integration und schließlich die komplementäre Rechtsetzung. Die Erfüllung dieser richterlichen Aufgabe erfordert richterliche Unabhängigkeit und nichtöffentliche Entscheidungsfindung. Sie verbietet eine direkte demokratische Rückkoppelung der Richter und die Möglichkeit ihrer Abwahl bei unliebsamen Entscheidungen. Das zwar schließt strenggenommen nicht aus, Richter (unter Einräumung späterer Unabhängigkeit) demokratisch zu wählen. Da aber Wahlentscheidungen nicht primär unter dem Gesichtspunkt der Sachkompetenz der Kandidaten gefällt werden, tragen sie zur funktionalen Legitimation verfassungsrichterlicher Urteile kraft Sachkompetenz nichts oder wenig bei. 230
Demokratien, 1992, 30-34 (sechs Grundmodelle); in den EU-Staaten Epping, Die demokratische Legitimation der dritten Gewalt der europäischen Gemeinschaften, Staat 1997, 369-371; zu Verfassungsrichterwahlen in Deutschland Pieper, Verfassungsrichterwahlen, 1998, 22-38. In der Bundesrepublik sind nach Art. 94 Abs. 1 GG Verfassungsrichter von Bundestag und Bundesrat zu wählen, in der Praxis sind diese Wahlen jedoch nach verbreiteter Ansicht zu einem parteipolitischen „Kuhhandel" verkommen, in dem die Auswahlentscheidung primär nach Proporz und nur sekundär nach Qualifikation getroffen wird (siehe nur die Nachweise in Geck, Wahl und Status der Bundesverfassungsrichter, 1987, Rdn. 14). Diese Übung ist wohl kaum ein Ausdruck von Volksherrschaft, sondern zeugt eher von Parteienherrschaft (deutlich zu den Gefahren parteipolitischer Einflußnahmen auch id., Rdn. 16). 229 Siehe unten S. 580f. 230 A.A. von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, 1992, 34: Parteienproporz verbessert die Funktionsfähigkeit der Verfassungsgerichte durch Repräsentation von Minderheitspositionen, dadurch verbesserte Problemverarbeitungskapazität und höhere Akzeptanz.
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In unserem Zusammenhang interessiert vor allem die Rolle des Europäischen Gerichtshofs als Verfassungsgericht,231 in der er unter anderem die Aufgaben hat, Grundrechte der Bürger zu schützen, die Einhaltung der Organ- und Verbandskompetenzen zu überwachen und den ordnungsgemäßen Ablauf des Rechtsetzungsprozesses zu sichern. Damit „ruhen Friede, Wohlfahrt und Bestand der Union selbst" in ihm, wie Alexis de Tocqueville zum USamerikanischen Verfassungsgericht bemerkt hat; ohne Verfassungsgericht sei „die Verfassung ein totes Gebilde".232 Eine spezielle funktionale Legitimation der Verfassungsrechtsprechung liegt darin, daß sie das Funktionieren der Demokratie schützt und sichert, und in diesem demokratieschützenden Output liegt eine gewisse Kompensation ihrer defizitären demokratischen InputLegitimation.233 Verfassungsgerichte (zu denen, wie gesagt, auch der Europäische Gerichtshof gehört) kontrollieren den demokratischen Gesetzgeber am Maßstab der Verfassung und schützen Individualrechte gegen die Mehrheit. Indem sie der Neigung von Mehrheiten, ihre Machtstellung zu Lasten der Minderheiten zu perpetuieren, Schranken ziehen, gewährleisten sie die Offenheit des demokratischen Prozesses.234 Damit sichern Verfassungsgerichte langfristig
231 Diese Rolle wurde durch die neue Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen EuGH und EuG durch den Vertrag von Nizza gestärkt: Das EuG wird grundsätzlich für direkte Klagen zuständig sein, der EuGH für die Vertragsverletzungsklagen und die Vorabentscheidungen (Art. 225 EGV i.d. Fassung v. Nizza). Allgemein zum EuGH als Verfassungsgericht Steinberger, Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft, VVDStRl 1991, 37; Oppermann, Die Dritte Gewalt in der Europäischen Union, DVB1. 1994, 902; Dehousse, La Cour de Justice des Communautes europeennes, 1994, 26-29; Rodriguez Iglesias, Zur „Verfassung" der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 1996, 125; Epping, Die demokratische Legitimation der dritten Gewalt der europäischen Gemeinschaften, Staat 1997, 367; Streinz, Europarecht, 1999, Rdn. 494; Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 220; kritisch Favoreu, Quel(s) mod£l(s) constitutionnel(s)?, RUDH 1995, 359f. 232 Tocqueville fuhr fort: An den Supreme Court „wendet sich die vollziehende Gewalt, um den Übergriffen der gesetzgebenden Körperschaften zu begegnen; die gesetzgebende Gewalt, um sich gegen die Vorhaben der vollziehenden Gewalt zu verteidigen; die Union, um die Staaten zum Gehorsam zu bringen; die Staaten, um die übertriebenen Ansprüche der Union zurückzuweisen; das öffentliche gegen das private Interesse; der Geist des Bewahrens gegen die demokratische Unbeständigkeit" (Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1987 (1835), Erster Teil, Kap. 8 „Hoher Rang des Obersten Gerichtshofes innerhalb der großen Staatsgewalten" (S. 219)). 233 Siehe zur demokratischen Input- und Output-Legitimation unten S. 647ff. Vgl. Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 221: Legitimation des EuGH zur Rechtsfortbildung, weil Demokratie sich nicht nur durch die Rückbindung der Hoheitsgewalt an das Volk verwirkliche, sondern zugleich durch andere Faktoren wie Gewaltenteilung, Transparenz, Bürgerrechte und effektiven Rechtsschutz. Gerade weil in der Gemeinschaft die Elemente einer parlamentarischen Demokratie noch lückenhaft seien, komme dem EuGH eine besondere Verantwortung für Ausbau und Sicherung einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Ordnung zu. 234 Ely, Democracy and Distrust, 1980.
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Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
die Grundlagen der Demokratie gegen Gefahren, die sich aus der Anwendung des Mehrheitsprinzips und der strukturellen Orientierung der politischen Akteure auf ihre Wiederwahl hin ergeben.235 Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist also ein unverzichtbares Korrelat des demokratischen Mehrheitsprinzips.236 Im Endeffekt ist die Tätigkeit der Verfassungsrichter primär durch Sachkunde und Unparteilichkeit der Richter sowie ihre Unterworfenheit unter das Recht, nicht aber durch demokratische Wahl zu rechtfertigen237 - womit nicht geleugnet werden soll, daß nach diesem Maßstab die Legitimation einzelner Verfassungsrichter schwach sein kann.
bb) Insbesondere: Befugnis zur europarichterlichen (Verfassungs-)Rechtsfortbildung Eine funktionale Betrachtung impliziert zunächst, daß es keinen pauschalen, allgemeingültigen Maßstab der Legitimität richterlicher Rechtsfortbildung geben kann, sondern nur eine Beurteilung anhand der spezifischen Funktionen ei-
235 Vgl. in diesem Sinne bereits Alexis de Tocqueville: „Die den amerikanischen Gerichten zustehende Befugnis, über die Verfassungswidrigkeit von Gesetzen zu urteilen, bildet selbst innerhalb ihrer engen Grenzen eines der stärksten Bollwerke, die man je gegen die Tyrannei der politischen Versammlung errichtet hat" (Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1987 (1835), Erster Teil, Kap. 6 a.E. (S. 151)). 236 Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, 1976 (1929), 103f; heute wohl allgemeine Meinung. 237 Wie hier Pescatore, La constitution, son contenu, son utilite, ZSR 1992, 47: „C'est une leurre de penser que le juge doive etre democratiquement legitime. Bien loin de lä, l'election est le plus sür moyen de soumettre des juges ä la politique partisane. La legitimite des juges derive de leur ind£pendance et de leur soumission au droit". Siehe in diesem Sinne auch Schockweiler, L'independance et la legitimite du juge, Riv. Dir. Eur. 1993, 678; Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 222. A.A. von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, 1992, 34, auch 150: Der Einfluß politischer Parteien auf die Wahl der Verfassungsrichter sei unabdingbar, um den Gerichten eine so hohe demokratische Legitimation zu verschaffen, daß sie im Verfassungsleben eine aktive Rolle spielen können. Für demokratische Input-Legitimation der dritten Gewalt auch Pieper, Verfassungsrichterwahlen, 1998, 15-21 mit der Forderung nach Bundesverfassungsrichterwahlen durch den Bundestag (id., 82-84). Mit der Forderung nach verstärkter demokratischer Legitimation des EuGH im Hinblick auf die „starke Stellung des Gerichtshofs bei der dynamischen Entwicklung des Europäischen Rechts" Pernice, Vertragsrevision oder europäische Verfassungsgebung?, FAZ v. 7. Juli 1999, 7, Sp. 6, auch Sp. 4. Das Bundesverfassungsgericht hält Gerichte dadurch für indirekt („institutionell und funktionell") demokratisch legitimiert, daß sie vom Verfassunggeber eingesetzt wurden (BVerfGE 49, 89, 125 (1978) (Kalkar)). Diese Legitimierung durch Rückgriff auf den pouvoir constituant ist jedoch strukturell recht verschieden von der Rechtfertigung des Gesetzgebers über den laufenden demokratischen Prozeß.
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
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nes bestimmten Gerichts in einem spezifischen Rechtsgebiet.238 Im Falle des Europäischen Gerichtshofs ist etwa zu bedenken, daß der Europäische Gerichtshof mit Richtern aus verschiedenen Rechtskulturen besetzt ist, und allein diese Tatsache dürfte ein höheres Maß an Kreativität bei der Urteilsfindung erforderlich und auch akzeptabel machen. Weiter fällt ins Gewicht, daß die EG/EU primär eine „Rechtsgemeinschaft" ist. 239 Der Begriff der Rechtsgemeinschaft wurde zunächst vor allem als Gegenbegriff zur politischen, sozialen oder Zwangsgemeinschaft verwendet und besagte vor allem, daß die Gemeinschaft nur ein schwaches soziales, faktisches Substrat hat und sich für die Verwirklichung ihrer Ziele allein auf die Macht des Rechts stützen kann. In Les Verts griff der Europäische Gerichtshof den Begriff auf und gab ihm eine neue Wendung dahingehend, „daß weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde, dem Vertrag, stehen."240 Rechtsgemeinschaft heißt also hier Gemeinschaft auf der Grundlage von Rechtsstaatlichkeit und richterlicher Kontrolle. Aus beiden genannten Lesarten des Konzepts der Rechtsgemeinschaft kann gefolgert werden, daß wesentliche Aufgaben dem Gerichtshof zufallen müssen.241 Vor allem aber sind es Spezifika des anzuwendenden Rechts, welche die Rechtsfortbildung begünstigen oder sogar erfordern. Erstens besteht das Europarecht über lange Strecken aus weiten und weichen Formulierungen und ist recht lückenhaft.242 Schon aus rechtsstaatlichen Gründen müssen diese Lücken (richterrechtlich) geschlossen werden.243 Zweitens ist das Europa-
238 Nach BVerfGE 34, 269, 287f (1973) (Soraya) lassen sich die Grenzen der „Befugnis zu »schöpferischer Rechtsfindung4 ... nicht in einer Formel erfassen, die für alle Rechtsgebiete und für alle von ihnen geschaffenen oder beherrschten Rechtsverhältnisse gleichermaßen gälte." Siehe aus der Literatur Badura, Grenzen und Möglichkeiten des Richterrechts, 1973, 51; speziell zum EuGH T. Stein, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Integrationsmotor, 1986, 640. 239 Hallstein, Die EWG - Eine Rechtsgemeinschaft, 1979 (1962), 341. Siehe auch oben S. 83 m. Fn. 207. 240 Rs. 294/83, Parti öcologiste „Les Verts" v. EP, Slg. 1986, 1339, Rdn. 23. 241 I.E. ebenso Kutscher, Über den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, EuR 1981,393. 242 Gründe hierfür sind unter anderem die Unfähigkeit, eine politische Einigung über die zu setzenden Normen zu erzielen, der kleine Bestand gesicherte gemeinsamer Rechtsüberzeugungen, auch die fehlende Übersicht über die mögliche Reichweite präziser Rechtsetzung. 243 Für eine weitgehende Befugnis zur Rechtsfortbildung wegen der Lückenhaftigkeit etwa Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1976, 16f und 152; Bleckmann, Die Rolle der richterlichen Rechtsschöpfung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 1983, 63 und 70; Beutler/B ieber/Pip kor n/Streil, Die Europäische Union, 1993, 237; Streinz, Europarecht, 1999, Rdn. 496; Everling, Richterliche Rechtsfortbildung in der Europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 221.
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Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
recht in besonderem Maße zukunftsoffen, auf fortschreitende Entwicklung angelegt und folglich auf spätere Entfaltung und Ergänzung angewiesen.244 Vor diesem Hintergrund werden alle eingangs angeführten Funktionen des Europäischen Gerichtshofs herangezogen, um die richterliche Verfassungsentwicklung zu rechtfertigen. Bereits die Kontrollaufgabe der „Wahrung des Rechts" - nicht bloß des positiven Gesetzes - (vgl. Art. 220 EGV) dürfte über die bloße Gesetzesanwendung hinausgehen und die Befugnis zur Rechtsfortbildung mitenthalten.245 Dementsprechend hat der Europäische Gerichtshof selbst die Entwicklung allgemeiner Rechtsgrundsätze damit gerechtfertigt, daß er sich ohne diese der Rechtsverweigerung („deni de justice") schuldig machen würde. 246 Mit der Notwendigkeit der Wahrung der Rechtseinheit begründete der Gerichtshof Entwicklung von gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten. Denn andernfalls würde Rechtsschutz in den nationalen Verfassungen gesucht werden. 247 Vor allem aus einem dem Gerichtshof zugeschriebenen besonderen Integrationsauftrag - Walter Hallstein hat den Gerichtshof als „Integrationsfaktor erster Ordnung'4248 bezeichnet - wurde bis in die achtziger Jahre hinein eine weitgehende Befugnis des Europäischen Gerichtshofs zur Rechtsfortbildung abgeleitet. 249 Tatsächlich zeichnet sich die Rechtsprechung durch eine „preference for Europe" aus, die - jedenfalls nach Aussagen einiger Angehöriger des Europäischen Gerichtshofs - dem Gerichtshof durch den „genetic code" der „ever closer union" verbindlich vorgegeben sein soll. Da die Verträge so codiert sei-
244 T. Stein, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Integrationsmotor, 1986, 619f; Beutler/Bieber/Pipkorn/Streil, Die Europäische Union, 1993, 237. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, 94, 96 schreibt dem EuGH deshalb eine „integrationsrechtliche Notkompetenz zur Sicherung des dynamischen Ansatzes des EG-Vertrages" zu. 245 So Potacs, Auslegung des Gemeinschaftsrechts durch den Europäischen Gerichtshof, 1996, 44f; Streinz, Europarecht, 1999, Rdn. 495. Entsprechende Rechtfertigung der Rechtsfortbildung deutscher Gerichte durch Verweis auf Art. 20 Abs. 3 GG (Bindung der Rechtsprechung an „Recht und Gesetz") in BVerfGE 34, 269, 286 (1973) (Soraya); BVerfGE 82,6,12 (1990). 246 EuGH, verb. Rs. 7/56 u. 3-7/57, Algera v. Gemeinsame Versammlung der EGKS, Slg. 1957, 83, 118; Rs. 25/62, Plaumann v. Kommission, Slg. 1963, 211, 237. Aus der Literatur vor allem Pescatore, La carence du ldgislateur communautaire et le devoir du juge, 1983, 576f; kritisch T. Stein, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Integrationsmotor, 1986,636. 247 Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft v. Einfuhr und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1970,1125, Rdn. 3. 248 Hallstein, Die echten Probleme der europäischen Integration, 1965, 9. 249 Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1976, 118f; T. Stein, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Integrationsmotor, 1986,621.
V. Die multiplen Träger der verfassungsentwickelnden Gewalt
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en, erfüllten die Richter durch Fortbildung des Rechts in die erwünschte Richtung nur ihre Pflicht.250 In den Anfangsjahren verfolgte die Rechtsprechung offensichtlich das Ziel, den Einfluß der Mitgliedstaaten zurückzudrängen und die Gemeinschaftskompetenzen auszuweiten. Spätestens seit 1992 ist der richterliche Aktivismus jedoch gedämpft. Der Gerichtshof scheint sich selbst nicht mehr primär als „Motor der Integration"251 zu sehen, sondern ist um Festigung und Sicherung des erreichten Standes bemüht252 - was einzelne tendenziell gemeinschaftskompetenzausweitende Urteile nicht ausschließt.253 Eine spezielle Befugnis zur Rechtsfortbildung aus der Integrationsfunktion heraus erscheint in der gegenwärtigen Situation weniger dringlich. Am weitesten führt die dem Europäischen Gerichtshof vielfach zugeschriebene Rolle als komplementärer Gesetzgeber. Pierre Pescatore und andere haben argumentiert, im Falle einer „carence du legislateur", also der Untätigkeit des Ministerrats und der an der Rechtsetzung beteiligten Organe, sei ein richterliches, auch kreatives Tätigwerden legitim, ja notwendig.254 In der Tat ist auf der europäischen Ebene die Gefahr der carence du legislateur relativ groß, weil die Setzung von Primärrecht im Vergleich zur Setzung von nationalem Recht schwerfällig und die Erzeugung von Sekundärrecht durch den Grundsatz der beschränkten Einzelermächtigung begrenzt ist. Trotzdem bleibt die Frage, ob in dieser Situation ein Gericht die eigentlichen (Verfassungs-)Gesetzgeber substituieren kann und darf. Ausgangspunkt aller Überlegungen muß die im demo250
186.
251
Mancini/Keeling,
Democracy and the European Court of Justice, M.L.R. 1994,
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Teil 4: Die europäische Verfassungsentwicklung
kratischen, gewaltenteiligen Gemeinwesen (wozu auch die EU gehört) verfassungsmäßig zuerkannte Prärogative der Legislative sein.255 Nur unter diesem Vorbehalt sind Arbeitsteilungs-Thesen akzeptabel, nach denen (Verfassungs-)Gesetzesrecht und (Verfassungs-)Richterrecht keine Gegenpole, sondern „wechselseitig sich ergänzende und bedingende Modalitäten aktueller Rechtsverwirklichung" sein sollen; nach denen beide Gewalten in engem Zusammenwirken die gemeinsame Aufgabe einer Integration der Rechtsgemeinschaft im Wege der Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung verfolgen.256 Ein verwandtes Argument, das wohl ursprünglich zur Rechtfertigung von »judicial activism" des US-amerikanischen Supreme Courts entwickelt wurde, besagt, daß Richter zur Überwindung einer Diskrepanz zwischen demokratischer Theorie und Praxis berufen seien („democratic myth/reality gap"Argument).257 Zur Kompensation struktureller oder akzidenteller Defizite des parlamentarischen Verfahrens müßten Richter als Ersatzgesetzgeber einspringen, insbesondere zum Schutz konfliktschwacher Minderheiten oder nicht durchsetzungsfahiger allgemeiner Interessen.258 „The hypothesis, hence, estab-
255 Ein Modell konkurrierender Zuständigkeiten, in dem Legislative und Judikative als prinzipiell gleich befähigt und berechtigt zur Rechtsetzung erscheinen, fände im geltenden Recht keine Stütze. 256 H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, 28 und 33; siehe auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, 311: „Das Verhältnis von Gesetz- und Verfassungsgeber einerseits und Richter andererseits ist demgemäß nicht das von Rechtssetzer und Rechtsanwender. Vielmehr hat der Richter eine originäre rechtsschöpferische Gewalt." Vgl. auch Häberle, Pluralismus der Rechtsquellen in Europa, JöR 1999, 94: „Im Typus Verfassungsstaat wird die Alternative Gesetzes- oder Richterrecht immer mehr zu einem Sowohl-als-auch von beiden ,Rechtsquellen4". Zur Ähnlichkeit der Normproduktion durch den Gesetzgeber und durch den Richter etwa Ermacora, Verfassungsrecht durch Richterspruch, 1959, 27; H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969, 16; Haverkate, Verfassungslehre, 1992, 394 („Das Verfassungsgericht produziert Verfassungsrecht im Prinzip nicht anders als der parlamentarische Gesetzgeber Gesetze produziert.") Die neuere einschlägige Monographie von Reinhardt, Konsistente Jurisdiktion, 1997, basiert auf dieser Annahme. Der Autor fordert „Methoden, die dierichterliche Rechtsetzung nicht allein auf eine bloß am Rande geduldete lückenfüllende Funktion zur Unterstützung des .eigentlichen4 Gesetzgebers reduzieren, sondern als zentralen Bestandteil der staatlichen Normsetzung anerkennen." „In einem homogenen Verfahren der mehrphasigen Maßstabsetzung greifen die von Legislative, Exekutive und Judikative ausgeübten Funktionen dergestalt ineinander, um von politischen Grundentscheidungen interpretierende, konkretisierende und korrigierende Entscheidungen zu den für eine als gerecht empfiindene rechtliche Lösung des Einzelfalls erforderlichen materiellen Maßstäben zu gelangen" (id., 88f, siehe auch § 5, v. a. 346-349). 257 Dazu Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice, 1986, 6175 m.w.N. 258 Nach Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1981, 265f, ist jedes Verfassungsorgan „verpflichtet, ergänzend oder stützend tätig zu werden, wo ein anderes Organ zur vollen Erfüllung seiner Aufgaben nicht bereit oder in der Lage ist,
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lishes a linkage between the legitimacy of judicial activism and the failure of the legal system to embed necessary public policies in laws through the constitutionally presumed institutional channels."259 Unter der Prämisse der Prärogative des (Verfassungs-)Gesetzgebers ist aber folgendes zu bedenken. Weil - wie dargelegt - die europäische Richtermacht nicht selbst demokratisch input-legitimiert ist (und dies auch nicht zu sein braucht), müßte richterliche Verfassungsentwicklung, die als (prinzipiell nachrangiges) Substitut der eigentlichen Verfassungsrechtsetzung gedacht wird, durch die genuin rechtsetzungsbefugten Organe (die zumindest mittelbar demokratisch legitimiert sind) korrigiert werden können. Dementsprechend wird weitgehend angenommen, daß die Verfassungs-)Rechtsfortbildung durch den Europäischen Gerichtshof insoweit legitim ist, als der (Verfassungs-)Gesetzgeber korrigierend eingreifen kann. Urteile seien zunächst eher ein „Entwurf mit einstweiliger Geltung als Akte der versteckten Gesetzgebung". Sie würden zur permanenten Normsetzung erst aufgrund der Entschlußlosigkeit des eigentlichen Gesetzgebers.260 Indem der Gesetzgeber durch Untätigkeit die richterliche Rechtsfortbildung billigt, übernimmt er sozusagen die Verantwortung für die ursprünglich richterliche geschaffene Norm, die dadurch legitimiert wird. Gegen diese Argumentation kann zunächst geltend gemacht werden, daß die richterliche Norm das legislative Verfahren unzulässig umdreht: Wenn die Regierungen normalerweise einstimmig handeln müßten, um den Vertrag zu än-
während es selbst kraft seiner andersartigen Struktur tätig werden kann. So kann es namentlich zur Verantwortung der rechtsprechenden Gewalt gehören, in Fällen des Regelungsdefizits einzutreten, sei es, weil die gesetzgebenden Körperschaften zu keiner Lösung finden, sei es, weil das Parlament sich scheut, eine unpopuläre Entscheidung zu treffen." Nach Jörg P. Müller kann die „spezifische Aufgabe des Verfassungsgerichts mit seiner korrektiven und komplementären Funktion gegenüber dem Gesetzgeber ... nur wahrgenommen werden durch [unabhängige] Richter" (Müller, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRl 1981, 94). Alexander von Brünneck rechtfertigt dierichterliche Verfassungsrechtsentwicklung unter Verweis auf die Bedingungen des modernen Sozialstaats. Verfassungsverletzungen ergeben sich nicht nur aus zu weitgehenden Eingriffen des Staates in verfassungsmäßig geschützte Rechte, sondern auch durch Untätigkeit des Gesetzgebers. In dieser Situation könne die Verfassungsgerichtsbarkeit ihre Aufgabe, Strukturprinzipien der Demokratie zu schützen, nur erfüllen, wenn sich nicht nur negative Kassationsrechte, sondern auch positive Gestaltungsbefugnisse habe (von Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, 1992, 172-184). 259 Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice, 1986,64. 260 Schwarze, Die Befugnis zur Abstraktion im europäischen Gemeinschaftsrecht, 1976, 239; ähnlich Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, 187; Gerkrath, L'emergence d'un droit constitutionnel pour l'Europe, 1997, 236f; Sander, Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Integration, 1998, 50f, 117. Für das nationale Recht in diesem Sinne BVerfGE 19, 166, 177 (1965).
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dem, so müßte im Falle der richterlichen Vertragsfortbildung Konsens erzielt werden, um diese zurückzudrehen.261 Mein weiterer Einwand lautet, daß die Garantenstellung des Verfassungsgesetzgebers nur dann unterstellt werden darf, wenn der Verfassungsgesetzgeber tatsächlich korrigierend eingreifen könnte. Im Gemeinschaftsrecht ist aber eine Korrektur gerade durch die Rechtsetzungsverfahrensvorschriften erschwert. Damit soll nicht geleugnet werden, daß die nachträgliche legislative Korrektur von Gerichtsentscheidungen bereits vorgekommen ist. So haben die Mitgliedstaaten mit zwei Protokollen zum Maastrichter Vertrag eindeutig auf konkrete Gerichtsurteile reagiert und damit die Rechtsprechung ausgehebelt.262 Es bleibt aber dabei, daß die europäische (Verfassungs-)Rechtsetzungs-Hemmung kein Einzelfall in bestimmten politischen Konstellationen, sondern ein Strukturmerkmal ist. Genau diese Architektonik, die zu einem gebremsten und begrenzten Fortschritt der Integration führt, ist von den Vertragsparteien entworfen worden und es ist kaum angängig, sie unter Berufung auf einen Reformstau auszuhebein.263 Überdies ist die Rechtfertigung der Ersatzgesetzgebung selbstwidersprüchlich. Denn sie nimmt einerseits an, die strukturell bedingte Untätigkeit des Gesetzgebers erfordere die richterliche Ersatzgesetzgebung und sucht diese gleichzeitig damit zu rechtfertigen, daß der Gesetzgeber korrigierend eingreifen könne, wenn er wolle - womit die postulierte strukturell bedingte Untätigkeit des Gesetzgebers geleugnet wird. Die Vorstellung vom Europäischen Gerichtshof als komplementären Gemeinschaftsrechtsetzer, als „Bürgen für die Einlösung integrationsrechtlicher Gesetzgebungs- bzw. Umsetzungsverpflichtungen"264 überzeugt deshalb nicht. 261
Hartley, The European Court, L.Q.R. 1996, 107. Das sogenannte Barber-Protokoll (Nr. 2) („Im Sinne des Artikels 119 gelten Leistungen aufgrund eines betrieblichen Systems der sozialen Sicherheit nicht als Entgelt ...") ist gegen die Folgen des Urteils in Rs. C-262/88, Barber v. Guardian Royal Exchange Assurance Group, Slg. 1990,1-1889 gerichtet. Der Gerichtshof hat in einer späteren Entscheidung die Wertung des Protokolls beachtet (Rs. C-152/91, Neath v. Steeper, Slg. 1993,1-6935). Nach dem Grogan-Protokoll (Nr. 17) berühren die europäischen Verträge nicht die Anwendung des Artikels 40.3.3. der irischen Verfassung. Sinn der Regelung ist, eine Kollision des irischen Verfassungsauftrages zum Schutz des ungeborenen Lebens und der gemeinschaftsrechtlichen Dienstleistungsfreiheit zu vermeiden, nachdem der EuGH festgestellt hatte, daß Schwangerschaftsabbrüche Dienstleistungen im Sinne des EGV sind (Rs. C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland v. Grogan, Slg. 1991,1-4685). 262 Hartley, The European Court, L.Q.R. 1996, 104 argumentiert weitergehend, daß die Änderung von Primärrecht, das die meisten Vorschriften von Verfassungsrang enthält, leichter ist als die Verfassungsänderung im nationalen Bereich und daß deshalb kein Bedürfnis nachrichterlicher Verfassungsentwicklung bestehe. Diese Einschätzung teile ich nicht. Zwar finden in schöner Regelmäßigkeit Revisionskonferenzen statt. Diese sind auch, im Gegensatz zu den meisten Initiativen zur nationalen Verfassungsänderung, immer „erfolgreich", jedoch nicht unbedingt substantiell weiterführend. Die Ergebnisse sind oft durch Kompromisse erheblich verwässert. 264 Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH, 1995, 145. 262
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Letztlich erscheint richterliche Rechtsfortbildung nur pragmatisch rechtfertigbar. Die Praxis wohl aller nationalen Verfassungsgerichte zeigt, daß sie richterliche Verfassungsrechtsfortbildung betreiben.265 Dies ist deshalb unvermeidlich, weil der Auslegung und Anwendung des Rechts, also der genuin richterlichen Aufgabe, die Rechtsfortbildung immanent ist. Es gibt keine scharfe, theoretisch oder methodologisch ermittelbare Trennlinie zwischen Auslegung und Fortbildung. Bei jeder Interpretation muß auf der Basis eines bestimmten Vorverständnisses anhand des konkreten Sachverhalts die in Frage stehende Rechtsregel ermittelt und eine Entscheidung getroffen werden. Insofern ist jede Interpretation auch ein schöpferischer Akt und die offene Rechtsfortbildung unterscheidet sich von ihr lediglich in der Tendenz.266 In Frage steht also nicht „ob" Rechtsfortbildung, sondern nur ihr Maß und ihre Grenzen.267 Zu Recht hat deshalb das Bundesverfassungsgericht im Kreditvermittlerfall ausgeführt, „daß die Mitgliedstaaten die Gemeinschaft mit einem Gericht ausstatten wollten, dem Rechtsfindungswege offenstehen sollten, wie sie in jahrhundertelanger gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur ausgeformt worden sind. Der Richter war in Europa niemals lediglich ,1a bouche qui prononce les paroles de la loi';... Die Gemeinschaftsverträge sind auch im Lichte gemeineuropäischer Rechtsüberlieferung und Rechtskultur zu verstehen. Zu meinen, dem Gerichtshof der Gemeinschaften wäre die Methode der Rechtsfortbildung verwehrt, ist angesichts dessen verfehlt."268
265
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Menschenrechtsgerichtshof
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Europäische Gemeinschaft/Union
Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Rs. 8/55, F&teration charbonntere de Belgique v. Hohe Behörde (Fddechar), Slg. 1956, 197: 29, 180,212,236,409
Entscheidungsregister
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Rs. 9/56, Meroni v. Hohe Behörde, Slg. 1958, 9: 403,422 Rs. 20/59, Italien v. Hohe Behörde, Slg. 1960, 681: 274 Rs. 25/59, Niederlande v. Hohe Behörde, Slg. 1960,743: 274 Rs. 36/59, 37/59, 38/59 und 40/59, Präsident Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft v. Hohe Behörde, Slg. 1960, 885: 294, 309 Rs. 13/61, Kledingverkoopbedrijf de Geus en Uitdenbogerd v. Bosch, Slg. 1962, 97: 248 Rs. 26/62, Van Gend & Loos v. Niederländische Finanzverwaltung, Slg. 1963, 1: 204, 244,247, 260, 274f, 376,403,408 verb. Rs. 90 und 91/63, Kommission v. Belgien und Luxemburg (Milchproduktefall), Slg. 1964,1329: 227 Rs. 6/64, Costa v. ENEL, Slg. 1964, 1251: 29, 243f, 248, 252, 260, 275, 294, 305, 310, 337, 376,403 Rs. 16/65, Schwartze v. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. 1965,1151:253,280 Verb. Rs. 9 u. 58/65, Acciaierie San Michele v. Hohe Behörde, Slg. 1967, 1: 342 Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft v. Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel, Slg. XVI (1970-1), 1125: 309,337,404f Rs. 22/70, AETR, Slg. 1971, 263: 404 Rs. 5/71, Schöppenstedt v. Rat, Slg. 1971, 975: 403 Rs. 6/72, Europeemballage v. Kommission, Slg. 1973,215: 80 Rs. 39/72, Kommission v. Italienische Republik (Schlachtprämien), Slg. 1973,101: 337 Rs. 79/72, Kommission v. Italienische Republik, Slg. 1973, 667: 337 Rs. 4/73, Nold v. Kommission, Slg. 1974,491: 404f Rs. 159/73, Hannoversche Zucker v. Hauptzollamt Hannover, Slg. 1974, 121: 249 Rs. 2/74, Reyners v. Belgischer Staat, Slg. 1974,631: 342,406 Rs. 33/74, van Binsbergen v. Bestuur van de Bedrijsvereniging, Slg. 1974,1299: 406 Rs. 36/74, Walrave und Koch v. Association Union Cycliste internationale, Slg. 1974, 1405: 109,407 Rs. 41/74, Van Duyn v. Home Office, Slg. 1974,1337:403 Rs. 43/75, Defrenne v. Soci6t6 anonyme beige de navigation aSrienne Sabena, Slg. 1976,455:342,405 Rs. 52/75, Kommission v. Italien, Slg. 1976,277: 227 Rs. 114/76, Bela-Mühle v. Grows-Farm, Slg. 1977,1211: 212 Rs. 100/77, Kommission v. italienische Republik, Slg. 1978, 879: 293 Rs. 106/77, Staatliche Finanzverwaltung v. Simmenthai (Simmenthai II), Slg. 1978-1, 629:310,327, 330 Rs. 120/78, Rewe-Zentral-AG v. Bundesmonopolverwaltung für Branntwein (Cassis de Dijon), Slg. 1979,649: 406f Rs. 44/79, Hauer v. Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1979,3727: 213,309,406 Rs. 102/79, Kommission v. Belgien, Slg. 1980,1473: 293 Rs. 155/79, AM & S Europe v. Kommission, Slg. 1982,1575: 254, 307 Rs. 58/80, Dansk Supermarked v. Imerco, Slg. 1981,181:407 Rs. 244/80, Foglia v. Novello (Foglia II), Slg. 1981, 3045: 253 Rs. 230/81, Luxemburg v. EP, Slg. 1983, 255: 289
868
Entscheidungsregister
Verb. Rs. 35/82 u. 36/82, Morson v. Niederländische Staat u.a.; Jhajan v. Niederländischer Staat, Slg. 1982, 3723: 408 Verb. Rs. 205-215/82, Deutsche Milchkontor v. Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1983,2633:338 Verb. Rs. 286/82 u. 26/83, Luisi und Carbone v. Ministero del Tesoro, Slg. 1984: 295 Rs. 107/83, Ordre des avocats v. Klopp, Slg. 1984, 2971: 406 Rs. 294/83, Parti Ecologiste „Les Verts" v. EP, Slg. 1986, 1339: 29, 170,403 Rs. 152/84, Marshall v. Southhampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986, 723:213 Rs. 181/84, The Queen, ex parte E.D. & F. Man (Sugar) v. Intervention Board for Agricultural Produce, Slg. 1985, 2889: 212 Rs. 205/84, Kommission v. Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1986, 3755: 406 Rs. 222/84, Johnston v. Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Slg. 1986, 1651:307 Verb. Rs. 89, 104, 114, 116, 117, 125-129/85, Ahlström Osakeyhtiö v. Kommission, Slg. 1988,5193: 109 Rs. 131/85, Gül v. Regierungspräsident Düsseldorf, Slg. 1986, 1573: 406 Rs. 234/85, Keller, Slg. 1986, 2897: 309 Rs. 314/85, Foto-Frost v. Hauptzollamt Lübeck-Ost, Slg. 1987,4199: 279, 282, 340 Rs. 12/86, Demirel v. Stadt Schwäbisch Gmünd, Slg. 1987, 3719: 109 Rs. 45/86, Kommission v. Rat, Slg. 1987, 1493: 398 Rs. 65/86, Bayer v. Süllhöfer, Slg. 1988,5249:407 Rs. 222/86, Unectef v. Heylens, Slg. 1987,4097: 213 Rs. 249/86, Kommission v. Bundesrepublik Deutschland, Slg. 1989,1263: 307 verb. Rs. 46/87 u. 227/88, Hoechst v. Kommission, Slg. 1989, 2859: 288,405 Rs. 94/87, Kommission v. Deutschland, Slg. 1989, 175: 289 Rs. 265/87, Schräder v. Hauptzollamt Gronau, Slg. 1989,2237: 213 Rs. 302/87, Parlament v. Rat, Slg. 1988, 5615: 403 Rs. C-2/88, Zwartveld, Slg. 1990,1-3367: 289 Rs. 5/88, Wachauf v. Bundesamt für Ernährung und Forstwirtschaft, Slg. 1989, 2609: 404 Rs. C-70/88, EP v. Rat (Tschernobyl), Slg. 1990,1-2041: 403 Verb. Rs. C-143/88 u. C-92/89, Zuckerfabrik Süderdithmarschen v. Hauptzollamt Itzehoe, Slg. 1991,1-415:338 Rs. 166/89, International Chemical Corporation v. Amministrazione delle Finanze dello Stato, Slg. 1989, 1191:283 Rs. 188/89, Foster v. British Gas, Slg. 1990,1-3313: 213 Rs. C-213/89, The Queen v. Secretary of State for Transport ex parte: Factortame (Factortame I), Slg. 1990,1-2433: 214 Rs. C-260/89, ERT v. DEP, Slg. 1991,1-2925: 343,405 Rs. C-300/89, Kommission v. Rat (Titandioxid), Slg. 1991,1-2867: 398 Rs. C-348/89, Mecanarte v. Chefe do Servi^, Slg. 1991,1-3277: 409 Verb. Rs. C-6/90 u. C-9/90, Francovich v. italienische Republik, Slg. 1991,1-5357: 403 Rs. C-62/90, Kommission v. Deutschland, Slg. 1992,1-2575: 343,405
Entscheidungsregister
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Rs. C-159/90, Society for the Protection of Unborn Children Ireland v. Grogan, Slg. 1991,1-4685:285,289 Rs. C-332/90, Steen v. Deutsche Bundespost, Slg. 1992,1-341:408 Verb. Rs. C-267/91 u. C-268/91, Keck u. Mithouard, Slg. 1993,1-6097: 407 C-327/91, Frankreich v. Kommission, Slg. 1994,1-3641: 342 Rs. C-2/92, The Queen v. Ministry of Agriculture (Bostock), Slg. 1994,1-955: 404 Rs. C-91/92, Faccini Dori v. Recreb, Slg. 1994,1-3325: 290 verb. Rs. C-46/93 u. C-48/93, Brasserie du pecheur v. Bundesrepublik, Slg. 1996, I1029: 403 Rs. C-280/93, Bundesrepublik Deutschland v. Rat (Bananen), Slg. 1994, 1-4973: 213, 406 Rs. C-306/93, SMW Winzersekt v. Land Rheinland-Pfalz, Slg. 1994,1-5555: 405f Rs. C-316/93, Vaneetveld v. FMSS, Slg. 1994,1-763: 204 Rs. C-415/93, Union royal beige v. Bosman, Slg. 1995,1-4921: 406f Rs. C-473/93, Kommission v. Luxemburg, Slg. 1996,1-3207: 309 Rs. C-55/94, Gebhard v. Consiglio dell'ordine degli awocati e procuratori di Milano, Slg. 1995,1-4165: 406f verb. Rs. C-178/94 u.a., Dillenkofer u.a. v. Bundesrepublik Deutschland (MP-TravelLine), Slg. 1996,1-4845: 403 Rs. C-120/95, Decker v. Caisse de la maladie des employes prives, Slg. 1998, 1-1831: 191 Rs. C-265/95, Kommission v.französische Republik, Slg. 1997,1-6959: 407 Rs. C-368/95, Familiapress v. Bauer, Slg. 1997,1-3689: 343,405 Rs. C-149/96, Portugal v. Rat, Urt. v. 23. Nov. 1999, EuR 35 (2000), 62: 247 Rs. C-158/96, Kohll v. Union de caisse de maladie, Slg. 1998,1-1931: 191 Rs. C-170/96, Kommission v. Rat. Slg. 1998,1-2763: 304, 348 Verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Ministero delle Finanze v. IN.CO.GE., 90, Slg. 1998,16307: 331,337 Rs. C-281/98, Angonese v. Cassa di Risparmio di Bolzano, Urt. v. 6. Juni 2000, EuZW 11 (2000), 468 = EuGRZ 27 (2000), 306:407 Rs. C-285/98, Kreil v. Bundesrepublik Deutschland, Urt. v. 11. Jan. 2000, NJW 53 (2000), 497 = EuZW 11 (2000), 211: 273, 285,417 Gutachten 1/76, Stillegungsfonds für die Binnenschiffahrt, Slg. 1977, 741: 404 Gutachten 1/91, Entwurf eines Abkommens zwischen der Gemeinschaft einerseits und den Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation andererseits über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums, Slg. 1991,1-6079: 29, 88, 168, 171, 236, 275, 343,454f Gutachten 1/92, Entwurf eines Abkommens zwischen der Gemeinschaft einerseits und den Ländern der Europäischen Freihandelsassoziation andererseits über die Schaffung des Europäischen Wirtschaftsraums, Slg. 1992,1-2821: 275, 343 Gutachten 2/92, Zuständigkeit der Gemeinschaft oder eines ihrer Organe zum Beitritt zu dem dritten revidierten Beschluß des Rates der OECD über die Inländerbehandlung, Slg. 1995,1-521:404 Gutachten 1/94, Zuständigkeit der Gemeinschaft für den Abschluß völkerrechtlicher Abkommen auf dem Gebiet der Dienstleistungen und des Schutzes des geistigen Eigentums (WTO), Slg. 1994,1-5267: 404,458
870
Entscheidungsregister
Gutachten 2/94, Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Slg. 1996, 1-1759: 29, 153, 171, 343, 377, 399, 425, 455,481 Europäisches Gericht erster Instanz (EuG) Rs. T-188/97, Rothmans v. Kommission, Urt. v. 19. Juli 1999 (noch nicht in Slg. veröff.): 688 Rs. T-194/94, Carvel u. Guardian Newspapers v. Rat, Slg. 1995,11-2765: 695 Rs. T-105/95, World Wild Life Fund for Nature v. Kommission, Slg. 1997,11-313: 695 Rs. T-174/95, Schwedischer Journalistenverband v. Rat, Slg. 1998,11-2289: 695
Belgien
Cour de Cassation Urt. vom 27. Mai 1971, Etat beige, ministre des Affaires economiques v. Fromagerie Franco-Suisse Le Ski (Le Ski), dt. Übers, in EuGRZ 2 (1975), 308: 311
Dänemark
Hojesteret (Oberster Gerichtshof) Urt. v. 6. April 1998, dt. Übers, in EuGRZ 26 (1999), 49: 314f, 317
Deutschland
Bundesverfassungsgericht BVerfGE 1, 14 (1951): 367f, 382 BVerfGE 1, 184(1952): 571 BVerfGE 1,299 (1952): 408 BVerfGE 1,372 (1952): 674 BVerfGE 1,396 (1952): 246 BVerfGE 3, 225 (1953): 367 BVerfGE 4, 178(1955): 331 BVerfGE 5, 85 (1956) (KPD): 599,648 BVerfGE 6, 32 (1957): 81 BVerfGE 7, 198 (1958): 7 BVerfGE 8, 274 (1958): 673 BVerfGE 11,77(1960): 464 BVerfGE 12,205 (1961) (Fernsehurteil): 289 BVerfGE 18,224 (1964): 270 BVerfGE 19, 166(1965): 260 BVerfGE 22, 293 (1967): 248, 259 BVerfGE 27, 71 (1969) (Informationsfreiheit): 357
Entscheidungsregister
871
BVerfGE 29,221 (1970): 464 BVerfGE 29, 348 (1970): 246f BVerfGE 31,145(1971): 252 BVerfGE 34,9 (1972): 46 BVerfGE 34, 269 (1973) (Soraya): 415f, 421 BVerfGE 37,271 (1974) (Solange I): 248,259,319, 321 BVerfGE 42, 64(1976): 509 BVerfGE 42, 313 (1976): 569 BVerfGE 44,125 (1977): 569,658,699 BVerfGE 45,142 (1977): 246,321 BVerfGE 47,253 (1978): 520,646 BVerfGE 49, 89 (1978) (Kalkar): 382,414,521,587 BVerfGE 51,1 (1979): 667 BVerfGE 52,187 (1979) (Vielleicht): 246,254,320, 321 BVerfGE 55,72 (1980): 667 BVerfGE 62, 1 (1983): 408,410, 507 BVerfGE 65,1 (1983): 421 BVerfGE 68,1 (1984) (Stationierung): 521 BVerfGE 73, 339 (1986) (Solange II): 207 , 211,248, 253f, 259, 319 BVerfGE 74,101 (1987): 357 BVerfGE 74,358 (1987): 357 BVerfGE 75,223 (1987) (Kreditvermittlerin): 140, 149, 319,421,425,480,482 BVerfGE 81,142(1989): 357 BVerfGE 82, 6 (1990): 416 BVerfGE 82,316(1990): 393 BVerfGE 83,37 (1990): 660 BVerfGE 83,60 (1990): 520,646 BVerfGE 84, 90(1991): 443 BVerfGE 85,191 (1992) (Nachtarbeit): 319,322,357 BVerfGE 89, 155 (1993) (Maastricht): 143, 148-150, 153, 203f, 259, 280, 289f, 298, 317, 320-322, 393, 397,425,432, 504, 565, 567,629,653,691,699,719 BVerfGE 92,203 (1995) (Fernseh-RL): 289 BVerfGE 93,37(1995): 646 BVerfGE 95, 173 (1997): 321 BVerfGE 95,335(1997): 668 BVerfGE 95,408 (1997): 668 BVerfGE 97,350 (1998) (Euro): 246,323 Bundesverwaltungsgericht BVerwGE 35,262 (1968): 246 BVerwGE 87,154(1990): 331 BVerwGE 57, 130 (1978): 673 BVerwG, EuZW 9 (1998), 730: 323
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Entscheidungsregister Andere Gerichte
RGZ 117,284(1927): 267 BGH, NJW 47 (1994), 2607: 323 BGHZ 11, 135(1953): 267 BFH, NJW 49 (1996), 1367: 323 OVG Münster, EuZW 7 (1996), 158 : 323 FG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 7. Nov. 1994, LS abgedr. in EuZW 9 (1995), 588: 323
Frankreich
Conseil Constitutionnel Entsch. Nr. 71-44 DC v. 16. Juli 1971, Ree. 1971, 29: 421 Entsch. Nr. 92-308 DC v. 9. April 1992 (Maastricht I), dt. Übers, in EuGRZ 20 (1993), 187:316 Entsch. Nr. 92-312 DC v. 2. Sept. 1992 (Maastricht II), dt. Übers, in EuGRZ 20 (1993), 193:316 Entsch. Nr. 97-394 DC v. 31 Dez. 1997, dt. Übers, in EuGRZ 25 (1998), 27: 316 Conseil d'&tat Urt. v. 20. Okt. 1989 (Nicolo), dt. Übers, in EuGRZ 17 (1990), 99: 312 Urt. v. 24. Sept. 1990 (Boisdet), dt. Übers, in EuZW 2 (1991), 124: 312 Urt. v. 30. Okt. 1998 (Sarran), J.D.I. 126 (1999), 745: 312 Cour de Cassation Urt. v. 23. Mai 1975, Administration des Douanes v. Society „Cafös Jacques Vabre", RTD Eur. 11 (1975), 336: 248, 252
Griechenland
Symboulio tis Epikrateias (Staatsrat) Entsch. Nr. 815/1984, Bananenmarktfall, engl. Übers, in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994, 576: 312
Irland
Supreme Court of £ire Urt. v. 18. Feb. u. 9. April 1987, Crotty v. Taoiseach, abgedr. in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994,594: 315 Urt. v. 17. Juni 1983, Campus Oil v. Minister for Industry and Energy, Urt. v. 17. Juni 1983, auszugsweise abgedr. in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994,627: 315
Entscheidungsregister
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Urt. v. 19. Dez. 1989, Society for the Protection of Unborn Children Ireland v. Grogan, ILRM 1990, 350:315
Italien
Corte Costituzionale Urt. Nr. 185 v. 27. Dez. 1973, Frontini, dt. Übers, in EuR 9 (1974), 255: 244, 248, 274, 314 Urt. Nr. 170 v. 8. Juni 1984, Granital, engl. Übers, in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994, 643: 245, 248, 314, 329 Urt. Nr. 232 v. 21. April 1989, Fragd v. Amministrazione delle Finanze dello Stato, engl. Übers, in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994,653: 314 Urt. Nr. 389 v. 11. Juli 1989, Provincia di Bolzano v. Presidente Consiglio Ministri, Foro italiano, I, 1076: 254
Luxemburg
Conseil d\Etat Urt. v. 21. Nov. 1984, Bellion v. Minister für den öffentlichen Dienst, engl. Übers, in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994,668:311 Cour superieure de Justice Urt. v. 14. Juli 1954: Chambres des M&iers v. Pagani, auszugsweise engl. Übers, in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994, 671:311
Spanien
Tribunal Constitucional Erklärung Nr. 108/1992 v. 1. Juli 1992 (Antrag Nr. 1236/92 der Regierung), dt. Übers. in EuGRZ 20 (1993), 285ff: 314,317f Urt. 28/91 v. 14. Feb. 1991, engl. Übers, in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994,702: 314 Urt. 64/91 v. 22. März 1991, Asepesco, engl. Übers, auszugsweise in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994, 705: 315 Tribunal Supremo Urt. 4524 v. 17. April 1989, Kanarische Inseln (engl. Übers, in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994, 694): 314
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Entscheidungsregister Vereinigte Staaten
Supreme Court Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803): 59,62, 306,451 McCulloch v. Maryland, 17 U.S. 316 (1819): 410,419 Lochner v. New York, 198 U.S. 45 (1905): 386 Missouri v. Holland, 252 U.S. 416 (1919): 462 American Federation of Labor v. American Sash and Door Co., 335 U.S. 538 (1948): 423 Vereinigtes Königreich
House of Lords Urt. v. 11. Okt. 1990, Regina v. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame (Factortame II), abgedr. in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994, 882: 214 Equal Opportunities Commission and another v. Secretary of State for Employment, All ER 1 (1994), 910: 214 Divisional Court (Queen's Bench Division) Urt. v. 30. Juli 1993, Regina v. Secretary of State for Foreign and Commonwealth Affairs, abgedr. in Oppenheimer, The Relationship between European Community Law and National Law, 1994,911: 316
Personenregister (enthält die Namen der im Obertext erwähnten Personen) W. Abendroth 475 H. Abromeit 436 B. Ackerman 385f, 388 K. Adam 616 H. Albert 148,517,555,578,594,597-599, 603 W. E. Albrecht 301 R. Alexy 286, 543, 546f P. Allott 196 J. Althusius 187, 363, 568 G. Anschütz 227 K.-0. Apel 541f Aristoteles 42,45, 58, 567, 73 lf K. Arrow 537-539,658 J. Austin 250 P. Badura 577 W. Bagehot 672 Bartolus v. Saxoferrato 518 J. Basedow 292 U. Beck 759 K. Bergbohm 229 R. Bernhardt 399 P. Bernholz 499 K. v. Beyme 680 A. Bickel 423 R. Bieber 254,474,489,491 K. Binding 225-227 0. v. Bismarck 100 A. Bleckmann 726 E.-W. Böckenförde 68,366, 563,646 A. v. Bogdandy 299,489 F. Böhm 122f Lord Bolingbroke 95 H. Bribosia 491 H. Brugmans 180 A. v. Brünneck 716 J. Bryce 351,388 J. Buchanan 533,615 W. Bühl 621 O. Bülow 604 A. F. Büsching 43
G. Calabresi 610 U. Campagnolo 179 Abr. Chayes 138 Ant. Chayes 138 W. Churchill 179, 640 M. T. Cicero 45 J.-P. Colin 486 V. Constantinesco 361, 391 R. Graf Coudenhove-Kalergi 179f O. Cromwell 96 J. L. da Cruz Vila9a445 D. Curtin 726 E.-O. Czempiel 161 R. Dahl 645 A. Dashwood 490 J. L. Dehaene 491 J. Delors 205, 500 K. Deutsch 206, 708 E. P. De Vigo 378 A. V. Dicey 469 U. Di Fabio 136 K. Doehring 116 R. Dworkin 286 D. Easton 553 K.-D. Ehlermann 489 K. Eichenberger 73 T. Ellwein 591 F. Ermacora 164 T. Eschenburg 135 W. Eucken 123 M. Everson 593 J. G. Fichte 41 F. Fleiner 73 H.-P. Folz 437 E. Forsthoff 116,135, 590,642 E. Fraenkel 270, 594, 704 E. Francis 654 F. Frankfurter 423 C. J. Friedrich 187,438
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Personenregister
J. F. Fries 536 H.-G. Gadamer 169 H. Gaudin 342 C. de Gaulle 178, 194, 201 J. Gicquel 463 O. v. Gierke 651 E. v. Glasersfeld 603 E. Grabitz 474, 674f E. Grande 138 D. Grimm 31, 82, 105, 220f, 539, 594 J.-M. Guehenno 113,590 B. Guggenberger 589 F. Guiccardini 519 E. B. Haas 118, 178, 192f, 195f P. Häberle 30,41, 73, 84, 373 J. Habermas 499, 539, 542, 544, 546, 548, 655,748, 755 A. Haenel 61, 224, 236 Lord Hailsham 672 W. Hallstein 83, 118, 180, 194, 221,416 A. Hamilton 62 R. Hare 602 H. L. A. Hart 251,260 T. Hartley 265 A. Hauriou 463 M. Hauriou 261 V. Havel 121 G. Haverkate 365 F. A. v. Hayek 35,42,548,595,606-609, 622, 639 G. W. F. Hegel 51, 72, 98, 301, 568, 651, 659 D. Held 750 H.Heller 50, 55,105 W. Hennis 577 G. H6raud 493 J. G. Herder 653, 708 F. Herman 344f E. Herriot 179 R. Herzog 30, 578, 593,718 K. Hesse 478 M. Hilf 429 O. Hintze 156 G. Hirsch 31,235, 281 A. Hirschman 735 T. Hitzel-Cassagnes 436 T. Hobbes 155, 507, 527, 533
E. Hobsbawm 708 S. Hoffmann 199, 201 H. Hofmann 73 0. W. Holmes 331,462 Horatius 29 E. R. Huber 563 W. v. Humboldt 49, 78 S. Huntington 96 R. v. Ihering 167 H. P. Ipsen 39, 115-117, 227, 237, 262, 396,473, 638, 642 J. Isensee 102, 155, 373 W. James 603 G. Jellinek 64, 65, 100, 126, 225,475, 574 C. Joerges 336 J. H. G. v. Justi 198, 363,379 W. Kägi 73, 75 J. H. Kaiser 474, 638 K. Kaiser 749 1. Kant 43,68,184,535,537 W. Karl 441 A. Kaufmann 509, 602 M. Kaufmann 504,577 H. Kelsen 126, 139,227,251, 260, 263265, 706 P. Kerr (Lord Lothian) 179 W. Kersting 533, 536 P. Kirchhof 31, 102, 203, 259, 323 C. Koch 495 C. Koenig 298,457 R. Koselleck 119 M. Kriele 566,731 H. Krüger 135,153f, 166, 578,731 W. Kuhlmann 542f J. E. Kuntze 226 K.-H. Ladeur 499 M. Lagrange 236 H. Laski 270,594 L. Le Fur 225 W. Leisner 590 H. Leo 198 R. Lepsius 561,655, 707 A. Lincoln 630,660 L. Lindberg 192,194
Personenregister C. Lindblom 600 M. Lipset 578 J. Locke 154, 160, 268, 533,657 K. Loewenstein 50, 77 N. Luhmann 271, 278, 372, 508-511, 513 J.-F. Lyotard 513, 544 N. MacCormick 254 N. Machiavelli 42 J. Madison 385,650, 705 H. Maine 527 F. W. Maitland 353 G. Majone 578, 650 T. Marshall 306 F. Meinecke 653 A. J. Merkl 355 D. Mertens 155 E.-J. Mestmäcker 122 K. v. Metternich 505 G. Meyer 99, 224 J. S. Mill 603, 706 D. Mitrany 192f, 195, 206 R. Monaco 233f,261f J. Monnet 178 C. Secondat de Montesquieu 43 A. Moravscik 204 E. Morin 709 A. Müller 198 F. Müller 84, 373f M. Nettesheim 299 J. Neyer 336 J. Nida-Rümelin 658,661 E. Noelle-Neumann 717 R. Nozick 533 C. F. Ophüls 29, 125, 180, 329 G. Orwell 67 T. Paine 363 M. Pechstein 298,457 A. Pellet 242 I. Pernice 207f, 249,499 P. Pemthaler 208 P. Pescatore 89,249,408,416 N. Pi9arra 445
K. R. Popper 368,497, 517, 594,597-603 R. Posner 610 U. Preuß31,66, 756
S. Pufendorf 98f, 535 H. Putnam 603 H. Quaritsch 266 J.-L. Quermonne 378 A. Randelzhofer 238 J. Rawls 533, 537, 610 G. Reischl 310 E. Renan 655 G. Ress 574 G. C. Rodriguez Iglesias 277 S. Romano 261 F. D. Roosevelt 396 J. Rosenau 161, 177 A. Ross 236, 726 J.-J. Rousseau 658, 709, 731, 742 P. Saladin 162 M. Sandel 710 F. C. v. Savigny 485, 653 G. Scelle 98 F. Scharpf 188, 52lf, 578f, 623, 721, 759 S. Scheingold 192, 194 F. W. Schelling 536 H. Schelsky 116,589, 64lf U. Scheuner 65, 73, 79, 353,594,734 D. Schindler 50, 173 R. Schmalz-Bruns 633, 750 C Schmitt 67, lOOf, 145, 228f, 365, 372, 386-388,446, 564, 652, 705 G. F. Schuppert 73 E. J. Sieyäs 97, 363, 372, 379, 383-385, 654 D. Simon 491 R. Smend 41, 50, 73, 86-89, 92, 116, 277, 373,475f F. Snyder 216,499 A. Spinelli 180f, 344,493 L. Stephen 353 D. Sternberger 85 J. Story 385 S. Sur 138 C. M. de Talleyrand 505 G. Tesauro 458 G. Teubner 511 A. F. J. Thibaut 485 Thomas v. Aquin 568
878
Personenregister
A. de Tocqueville 119, 144,358,413 C. Tomuschat 726 H. Triepel 225f, 229 D. Tsatsos 378 H. Vaihinger 603 E. de Vattel 46, 60, 97, 363 R. Vaubel 499, 737 C. Vedder 437 F. Vibert 499 F. de Vitoria 741 R. Wahl 564 M. Walzer 199, 71 Of A. Ward 490 I. Ward 172
M.Weber 155, 514 W. Weidenfeld 174 J. Weiler 30,167,218f, 499, 655,693, 717 R. v. Weizsäcker 491 Wilhelm v. Ockham 568 B. de Witte 436 C. Wolff 61 T. Würtenberger 577 R. Zippelius 146, 554 E. Zoller 383 P. Zorn 99 R. Zuck 57 M. Zürn 161,755
Sachregister Acquis communautaire 444 actus contrarius 432 Akzeptanz - allgemein 106, 369, 374,481,483, 500f, 514-516, 553, 582 - als Legitimitätskriterium 516, 552f, 582 Akzeptanzkrise 500 Allzuständigkeit 149, 151-155, 164,436, 449f Amsterdam, Vertrag von 80, 109, 120f, 157, 162,203, 210, 297, 299, 303f, 34lf, 345f, 377f, 436, 449f, 489, 560, 626, 629,663, 666, 670f, 673,694696, 724 Anti-Induktivismus 597f Arrow-Theorem 537-539, 571, 658, 740 Fn. 456 Assisen (Konferenz der Parlamente der EG/EU) 692 Aufhebung eines völkerrechtlichen Vertrages 430f Auflösung/Aufhebung der EG/EU 143f, 427-433 Auflösung einer internationalen Organisation 428 Auflösung eines Bundesstaates 428 Aufteilung des europäischen Primärrechts 345f, 484,490-492, 723 Austritt eines Mitgliedstaates 141 f, 143, 241,735f Autonomie des Gemeinschafts/Unionsrechts - als Abgrenzung vom Völkerrecht 243248, 259,261 - als Freiheit von Eingriffen von außen 243-295,443,445 - als Trennung vom Mitgliedstaatenrecht 243, 248-256, 259, 261, 263f, 270, 274 - als Ursprünglichkeit 243, 256273, 274, 310,333 - unspezifiziert 232f, 242-295
Autonomismus, bezüglich Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts 260-268,270 Autopoiesis 510 begrenzte Einzelermächtigung 152f, 575 Begriffsjurisprudenz 167f Beteiligungsföderalismus 635-637 bounded rationality 739 Brückentheorie 323 Bundesrat, indirekte Beteiligung an Gemeinschaftsrechtsetzung 690f Bundesstaat - Abgrenzung zum Staatenbund s. Staatenbund, Abgrenzung zum Bundesstaat - allgemein 142,184-187, 222, 227f, 350 - europäischer 179-182,205f, 328,617f, 634, 727, 730 - Gründung 222-229 Bundesstaatstheorie 144,149, 222, 262, 434 Bundestag, indirekte Beteiligung an Gemeinschaftsrechtsetzung 690f Bürger, europäische 393-395, 559,566, 570, 669, 682 Bürgerbeauftragter 679 Bürgerbeteiligung 221, 291, 392-395, 411,433,484,495f, 522f, 554, 561f, 588, 622, 627f Bürgerschaft 654 Competence d'attribution s. begrenzte Einzelermächtigung constitutional moment 385f, 717 COSAC 692 counter-majoritarian difficulty 423f Demokratie - als Entscheidungsregel und Organisationsprinzip 626 Fn. 1 - als Kontrolle der Hoheitsgewalt durch die Bürger 631,649-651, 675, 678, 681,685,716,749, 760
880 -
Sachregister
als Wert 626 Fn. 1 assoziative Theorie 632f, 756 Begriff 626 Fn. 1, 630f, 639f Betroffenen- 634, 660-662, 745f deliberative Theorie 540, 543, 633f, 689, 698 Fn. 290, 706, 750, 755f - europäische 36,456f, 539f, 626-760 - Funktionsbedingungen s. Demokratie, metarechtliche Voraussetzungen - identitäre 661 - kosmopolitische Theorie 750 - metarechtliche Voraussetzungen 629f, 657, 66lf, 679,681,699-720 - parlamentarische s. Parlamentarismus - pluralistische Theorie 632, 704 - reale Verwirklichung in den Mitgliedstaaten 640-644,672f, 674, 677f, 680, 682, 686, 688, 698 - repräsentative 661 - republikanische Theorie 631 f - Staatsbezug 652f - supranationale 644f - Träger (Subjekt) 566, 651-662, 681 f, 753 - transnationale 748-751 - Verhältnis zu Föderalismus s. Föderalismus, Verhältnis zur Demokratie Demokratiedefizit - allgemein 133, 562, 743-748 - der EG/EU 133, 502, 627f, 629f, 636f, 693, 721,760 Demokratiefähigkeit der EG/EU 629 Demokratiemaßstab 630 Demos 562, 653-656, 753 Deontologische Ethik 520 Deutscher Bund 99 diffuse support {David Easton) 553, 714 Fn. 355 Diskontinuität, normative s. Verfassungsersetzung Diskurs, europaweiter 539, 55lf, 699, 715 Diskurs, idealer 547-550,707,734 Diskurstheorie 499,534, 539-552, 706 Doppelte Legitimation s. Theorie der doppelten Legitimation der europäischen Verfassung Doppelte Mehrheit (betr. Abstimmungen im Rat der EG/EU) 560,636, 684, 743 Dualismus - deutsche konstitutionelle Monarchie 563f
-
Verhältnis Völkerrecht - Landesrecht 244f, 270, 276
Effizienz, Verhältnis zur Legitimität/Gerechtigkeit 590f, 730 Einheitliche Europäische Akte (EEA) 202, 472, 725 Einstimmigkeit 22lf, 440f, 623, 682f, 722-743 EMRK-Gutachten des EuGH 171, 343, 377, 399,425,455,481 Entparlamentarisierung 627 Erfolgswertgleichheit 662,666-670, 681, 684 Etatismus (bezüglich Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts) 258-260, 268, 270 Ethnos 654-656, 753 Europäische Menschenrechtskonvention 294, 356f Europäische Öffentlichkeit s. Öffentlichkeit, europäische Europäische Union - Rechtsnatur 296-298 - Verhältnis zur Europäischen Gemeinschaft 298-301,459 - Völkerrechtssubjektivität 296f Europäische Verfassung - als contrat social 525 - Auslegung 167, 169f, 408-410, s. a. nationalverfassungskonforme Auslegung - Begriff 70, 91f, 166 - legitimistischer 67-70 - Dynamik 74-76,470,473f - Entstehung 375-379 - Existenz 29-31 - Gebietsbezug 106-111 - Geltungsgrund 487-498 - im formellen Sinn 30,52f, 56-58,238 - im materiellen Sinne 30,52f, 72, 74f, 238 - Integrationsfunktion 78, 83, 85-92, 172-174 - Kodifikation (zukünftige) 483-487 - Kongruenz mit den mitgliedstaatlichen Verfassungen 504f - konkrete Inhalte 37 - Konsolidierung in einer Urkunde 489492,694 - Legitimität 67-70,175,499-625
Sachregister - Verfassungsreife 51 - Vorrang 63, 208, 255, 305-359 Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 117f, 435 Europäischer Gerichtshof - als komplementärer Gesetzgeber 417420 - als Verfassungsentwickler 401-425, 483,486,559,619, 738f - als Verfassungsgericht 413 f - Auslegungsmethode 408-410 Europäischer Rat 20lf, 724 Europäisches Parlament - Abgeordnete 664 - Beteiligung an der Rechtsetzung (allgemein) s. Europäisches Parlament, Rechtsetzung 626f, 672f - Beteiligung an der Vertragsänderung (Primärrechtsetzung) 439f, 616 - Fraktionen 664 - Kompetenzen 662,670-681 - Kompetenzerweiterung 629, 665, 680f, 684,719 - Kontrolle 627,670, 674-678, 752 - Kreation 662-670,679,751 - Opposition 677 - Organwahl 670,673f, 686 - Rechtsetzung 400f, 627,637,670-675, 684,687f - Rückkoppelung 670, 674f, 679 - Staatenvertretung 666f - Vertretung der europäischen Bürger 659f, 662, 669 - Völkervertretung 659f, 662, 667 - Wahlbeteiligung 665 - Wahlkampf 664 - Wahlverfahren 662-666, 751 - Zusammensetzung 637 Europäisches Parlament, Zweite Kammer s. Zwei-Kammer-Legislative für EG/EU Europäisierung des Verfassungsrechts 210-215 Europarecht s. Gemeinschaftsrecht Evaluierung s. Folgenbewertung Evolutionstheorie 608 EWR-Gutachten des EuGH 168,170f, 236, 343,443f, 453-455,457 Experimentelle Rechtswissenschaft 594, 604-606
Experimentiergesetze 585f faction-theory (James Madison) 669 Fn. 163, 705, 722 Fn. 389 Finalität der europäischen Integration 174f,500f, 617-619 Föderalismus - allgemein 183-191, 635f - Integrationstheorie 107, 178-183, 206f, 330-333, 502f, 556, 559, 564, 592, 634-637, 668, 676f, 688f - Verhältnis zur Demokratie 635f, 668f Folgenbewertung 582-584, 611, 613f Folgenfeststellung 582 Fundamentalgesetze 45f, 528 Funktionaler Ansatz 38-40, 94, 103f Funktionalismus (Integrationstheorie) 39f, 107f, 118,120,178f, 192-199, 206f, 216, 503, 592, 637f, 642 Gebietshoheit 111 Geltung - ethisch 257f, 270 - faktisch 256-258, 270 - positivistisch 257f, 262, 265, 266, 268, 270-272 - unspezifiziert 237,248, 256-258 Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts 236f, 247f, 256-295,310, s. a. Europäische Verfassung, Geltungsgrund; Legitimationsgrundlage Gemeinschaftsrecht - Durchgriff 241,274, 278 - Einbeziehung in das nationale Recht 245f - unmittelbare Anwendbarkeit 241,246f, 275,403 - Verhältnis zum deutschen Grundgesetz 319-324 - Verhältnis zum Mitgliedstaatenrecht 248-256 - Verhältnis zum Völkerrecht 240-242, 247f - Verschränkung mit dem Mitgliedstaatenrecht 249,253f - Vorrang vor dem Mitgliedstaatenrecht 247,241, 252,275, 277f, 292, 305, 308-339,403 - Vorrang vor dem mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht 309-325 Gemeinschaftstreue (Art. 10 EGV) 289f
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Sachregister
Gemeinwille 221f, 228,571,658,731 Gemeinwohl 174, 503, 505, 567-572, 614,711,713,732 Genese 236f Gesamtakt 226f, 234,237,262f Gesamtänderung s. Totalrevision der Verfassung Gesellschaftsvertrag 526 m Fn. 121,530, 587,654 Gesetzesfolgenabschätzung 582f Gewaltenteilung 64,66,146, 307,422424,465-467,486,635 Gewaltmonopol 155-161, 164 Global governance 176-178,640, 743f, 748f Globalisierung - rechtlich 131-133 - technisch-wirtschaftlich 130f - unspezifiziert 117, 130-133,154,176, 624,640, 680, 743f Grundfreiheiten als Grundrechte 406-408 Grundgesetze s. Fundamentalgesetze Grundkonsens 513, 526,699,702f, 713f Grundlagenkonsens s. Grundkonsens Grundnorm 250f, 259f, 263-266,268 Grundrechte, europäische 404-408 Grundrechtecharta vom 7. Dezember 2000 90, 395,408,438f, 470,487-489,497, 617 Fn. 500,679,695,717 Gründungsvertrag internationaler Organisation 232-234,452 Grundwerteklausel (Art. 6 EUV) 210, 295f, 303f, 34lf, 346,349,377,445, 504,619,626 Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 98f Hermeneutik 169 Herren der Verträge 140-144,273f, 492, 495,567 Herrschaftsvertrag 235,505, 526f Hierarchie (fehlende), zwischen Gemeinschaftsrecht und Mitgliedstaatenrecht 218f, 254-256,270,279,285f, 292, 325, 334, s. a. Gemeinschaftsrecht, Vorrang vor dem Mitgliedstaatenrecht Hierarchie - innerhalb des Gemeinschaftsrechts 63, 219, s. a. Vorrang des primären Gemeinschaftsrechts vor sekundärem Gemeinschaftsrecht; Vorrang des pri-
mären Gemeinschaftsrechts mit Verfassungsgehalt vor sonstigem Primärrecht - innerhalb des sekundären Gemeinschaftsrechts 345 Hoheitsgewalt - aufgeteilte 147f - europäische 113-115, 117-122,196f, 205f - Übertragung auf EG/EU 78,210f, 244f, 628 - Unabgeleitetheit (Ursprünglichkeit) 146,159f, 266f Homogenität - ethnische 654,700 - soziokulturelle 629,652, 699-702 - sprachliche 706-709 - unspezifiziert 229,700f, 703-705, 735, 753 Identität, europäische 707-713,719f, 740, 754 Infrastruktur, demokratische 699 Inputlegitimation s. Legitimation, InputInstitutionalismus, Neuer (politikwissenschaftlich) 62 lf Institutionalistisches Vorurteil 181 Institutionelles Gleichgewicht 422f, 459, 466f Institutionendesign s. Systemdesign Institutionenlehre s. Institutionentheorie Institutionenökonomik, Neue 595,613615, 621 Institutionenreform 560,622,630 Institutionentheorie 232,234,26 lf Integration - europäische 88-90,92,117-122,486, 503f - „negative" 623f - „positive" 623f Integrationslehre (Rudolf Smend) 86-88,475 Interdependenzkosten 742 Intergouvernmental 240,556,693,697f, 723,730 Intergouvernmentalismus (Integrationstheorie) 178f, 199-204,207, 504, 639,666f, 726-728 Interinstitutionelle Vereinbarung 400 mit Fn. 172 Ioannina, Beschluß von 683f m. Fn. 228 ius cogens 447,728
Sachregister Justiziabilität von Unionsrecht s. Unionsrecht, Justiziabilität Kaiserreich, Deutsches 61,222,358 Kaldor/Hicks-Kriterium 612 Fn. 475 Kodifikation, allgemein 55f, 91,466, 485-487 Kohärenzgebot 252, 300 Kollisionsrecht 333-335 Komitologie 396f, 687f, 695f, 752 Kommission - Durchführungsbefugnisse 686f - Entscheidungsverfahren 687-689,726, 752 - Ernennung 673,686f - Initiativrecht 686 - Kontrolle durch Parlament 675 - Leistungen 687 - Zusammensetzung 686f Kommissionspräsident 673 Kommunitarismus 71,90,97,199, 53lf, 550, 70lf Kompetenz, ethische 713,720,751 Kompetenzhoheit 127f, 149-155 Kompetenzkompensation 186 Kompetenz-Kompetenz s. Kompetenzhoheit Komplementärverfassung 208f Kompromißformeln 583 Konferenz der Parlamentspräsidenten 692 Kongruenz der europäischen Verfassung mit den mitgliedstaatlichen Verfassungen 504f Konkordanzdemokratie 643 Fn. 61,728730, 758-760 Konkurrenzdemokratie s. Mehrheitsdemokratie Konsens s. Einstimmigkeit Konsensprinzip im Völkerrecht 727f Konsensusverfahren, in internationalen Organisationen 727 Konsequentialistische Ethik 520 Konstitutionalisierung der europäischen Verträge 212f,360f, 401 Konstitutionalisierung des Völkerrechts 239 Konstitutionalismus - allgemein 52,63f, 95, 163, 174f, 591 - Integrationstheorie 205-220 Konstitutionelle (Politische) Ökonomie 499, 524,613,615,741 Kontraktualismus s. Vertragstheorie
Kooperationsverhältnis BVerfG - EuGH 321 Kultur, politische 656 Law and economics 611-613 Law-making Treaty s. Traitö-loi Legalität, unspezifiziert 257 Leges fundamentales s. Fundamentalgesetze Legitimation - Begriff499, s. a. Legitimität - doppelte s. Theorie der doppelten Legitimation der europäischen Verfassung - durch Bewährung 35f, 499, 579-615, 640, 647, 675 - durch Verfahren 508f, 533f, 546f, 585 - durch Zeitablauf 585 - ex ante 500,516-518, 539,541,550, 561, 580f, 587, 598 - ex post 500,516-518,567, 580f, 587, 598 - Input-236, 521-524, 552f, 561,593, 622,648 - institutionelle/funktionelle 521,646 - kontinuierliche 587f - Output-521-524, 567, 577-580, 588, 593,610,615, 623-625,648 - über die Mitgliedstaaten 504, 556-567 Legitimationsgrundlage 22lf, 238f, 483f, 487-498, s. a. Geltungsgrund Legitimationskette 520,645-647,682 Legitimationsquelle 504, 556,563,596 Legitimationsstrang s. Legitimationsquelle Legitimität - „affirmative" 552, 554 - Begriff 505-517 - demokratische 3 86f - durch Zustimmung 516, 522, 534-539, 549, 551-556, 585, 622, 732, 745 - ethisch fundierte 506, 515-517 - funktionale 503f, 552 Fn. 228, 589, 593, 648, 756. s. a. Legitimität kraft Leistung - im faktischen Sinne 506, 508, 514 - im rechtspositivistischen Sinne 506508 - kraft Entstehung oder Ableitung 518f - kraft Leistung 518f, 539, 552 Fn. 228, 561, 575, 577-581, 594,607, 609, 647f, 730 - „objektive" 553 Fn. 229
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Sachregister
-
„subjektive" 553 Fn. 229 unspezifiziert 257, 566, 749 Verhältnis zur Legalität 507, 515 m. Fn. 78 Legitimitätsdefizit 502 Legitimitätskrise 500, 554 Legitimitätskriterien 516 m. Fn. 79 Letztentscheidungsanspruch 279-295, 315-324 Letztentscheidungsbefugnis s. Letztentscheidungsanspruch Living instrument 461,462 Log-rolling 740 Loyalität, europäische 701, 707, 71 Of Loyalitätsgebot s. Gemeinschaftstreue Luxemburger Vereinbarung 448f, 471473,481,724
Maastricht, Vertrag von 120, 179, 183, 377,435,450, 500, 616, 663, 692, 717, 724 Medien, europäische 662,679,707,715 Mehrebenensystem 187-189, 192, 217f, 645 Mehrheit, qualifizierte 682, 684, 723f, 726, 737, 740f Mehrheitsbeschluß s. Mehrheitsprinzip Mehrheitsdemokratie 729 Mehrheitsprinzip 221,448,472f, 502, 615, 631, 682f, 698, 711, 712, 722743 Mehrheitswahlrecht 667672 Meinung, öffentliche 662, 706, 714-717 Methode Jean Monnet 501 Minimalkonsens s. Grundkonsens Ministerrat s. Rat (der EG/EU) Mißtrauensvotum 675f Mitentscheidungsverfahren 67 lf Monismus (Verhältnis Völkerrecht - Landesrecht) 24lf, 276f, 244-246, 264, 270 Nation - allgemein 97f, 654-656. s. a. Volk - europäische s. Volk, europäisches Nationale Identität der Mitgliedstaaten 172, 290,710 Nationale Parlamente s. Parlamente der Mitgliedstaaten Nationalitätenstaat 562
Nationalstaat 653,720,746,749 Nationalverfassungskonforme Auslegung 288-295, 325 Nation-building 657, 708f, 719f Naturrecht 517, 526, 541,568 Neofunktionalismus (Integrationstheorie) s. Funktionalismus (Integrationstheorie) Neokontraktualismus s. Vertragstheorie Neorealismus s. Realismus Netzwerk 215-220, 255, 756 Nichtregierungsorganisationen 132f, 747, 750, 756 Nizza, Revisionskonferenz und Vertragsänderungen 345, 440, 455f, 488, 560,617, 629, 671, 683f, 723f Norddeutscher Bund, Errichtung 99f, 222 Normenhierarchie s. Hierarchie Nützlichkeitsprinzip (principle of utility) 610 Objektives Regime 229-232 Öffentlichkeit als Funktionsbedingung von Demokratie 650f, 662, 715 Öffentlichkeit, europäische 629, 675f, 699,714,718, 754 One man - one vote 637 One state - one vote 666,668 Ordnungsvertrag s. Traite-loi Organgesetz (loi organique) 344f Osterweiterung 121, 203, 622, 666, 682, 684, 669, 739 Outputlegitimation s. Legitimation, OutputPareto-Optimum s. Paretoprinzip Paretoprinzip 538,612 Fn. 475 Parlamentarismus 630,643,649,672f, 754f, 757 - europäischer 662,676 - Parlamentarismus, Niedergang 643 m. Fn. 61, 680, 755 Parlamente (allgemein), Kontrollfunktion 626f Parlamente der Mitgliedstaaten - als Legitimationsmittler 504,565f, 629, 68lf, 693,691, 693, 753 - Benennungskompetenzen 674,682 - Kontrolle der nationalen Regierungen 677f
Sachregister -
Kontrolle des Rates 685,692f, 736 Mitwirkung an der europäischen Rechtsetzung (unspezifiziert) 565, 616, 690-693, 752 - Ratifikation der europäischen Verträge (europäisches Primärrecht) 392f, 394, 398,439 Partizipation s. Bürgerbeteiligung Performativer Widerspruch 542f Persistent objector 727 Petitionsrecht 400, 679 Piecemeal social engineering s. Stückwerkstechnologie Pluralismus (bezüglich Geltungsgrund des Gemeinschaftsrechts) 251, 268-273 Pluralismus (der Werte) 270 Pluralismus (Verfassungstheorie) 594, 704f Politiknetzwerk 217, 743. s. a. Netzwerk Politikverflechtung 188f, 624 Politische Ökonomie (political economics) 613,615 Politische Parteien, europäische 631, 663665,758 Polizeistaat 568 Polyidentität 710 Polyzentrismus 215-220, 255, 27lf, 295, 325, 647 Ponderierung s. Rat (der EG/EU), Stimmenwägung Postmoderne 91,110,218, 513f, 532, 544f Post-Parlamentarismus 680, 754-757 Pouvoir constituant - Abgrenzung von gesetzgebender Gewalt 383f - als Rechtsgewalt 366 - empirisch 371, 381f - europäische Bürger als 391 f, 393-395, 495-497 - europäisches Volk als 390 - latenter 386-388 - Mitgliedstaaten als 362f, 390f, 395, 427,492 - Rechtsbindungen 357-370,389 - Selbstbindung 368f - Träger (Subjekt) 390,427 - Trennung vom pouvoir constitu6 379390,431,437,496 - unspezifiziert 46, 105f, 206f, 220f, 228,362-372,596
Pouvoir constituant mixte 391,426, 559 Pouvoir constitue 363 Prinzip der kritischen Prüfung 591 f Prinzipien versus Regeln 286f Public choice 602, 613-615 Public interest norms 728 Rat (der EG/EU) - allgemein 141, 158, 395-398,400f, 438,441,458,564, 637, 752 - Beschlußfassung und -verfahren 682685, 697f, 724f, 736-738 - Kontrolle durch das Europäische Parlament 676f, 685 - Rechtsetzung 672 - Stimmenwägung 683f - Zusammensetzung 681 f Rationalismus, kritischer (Karl Popper) 594-604,618 Realismus (politikwissenschaftlich) 199f Rechnungshof, Europäischer 676 Rechtsanwendungsbefehl 246, 259 Rechtseinheit 281-284, 293, 325, 335, 337f, 340 Rechtsfortbildung - Abgrenzung zur Auslegung 408,421, 478f - contra legem 403, 479 - Legitimation zur 410425,483 - versus Demokratie 423f - versus Gewaltenteilung 422f - versus Rechtsklarheit 422 - versus Souveränität 424f - versus Vertragserweiterung 424f Rechtsgemeinschaft 83 Fn. 207,92,156, 164, 168, 236, 338,415,418,429 Rechtsklarheit s. Transparenz Rechtsnatur EG/EU 240, 628, 726, s. auch Europäische Union, Rechtsnatur Rechtspositivismus 50,52, 82,250,257f, 260,263, 265, 272, 35lf, 354, 364f, 384,474-476, 506-509, 514f, 568f, 573 Rechtssicherheit 54, 60, 282,294, 306f, 337, 359f, 422,432,457-459,465f Rechtsstaatlichkeit 53f, 66, 80, 85,92, 156,210,273,320, 342,410f, 415, 422-425,445,460,463,467,481, 485,489,497,619,694 Referenden zu den europäischen Verträgen 394,616, 622, 757f
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Sachregister
Regeln versus Prinzipien s. Prinzipien versus Regeln Regelselektion (Friedrich A. v. Hayek) 607-609 Regelungsziele s. Verfassungsziele Regime, internationale 200f Repräsentation 370, 56lf, 623, 636, 646f, 669, 683, 715, 720, 745 Revisionskonferenz 435,437f, 477
Sprache, gemeinsame, als Demokratievoraussetzung 539,679 Staat - als historische Voraussetzung der Verfassung 99-101 - als juristische Person 301 f - als logisch-begriffliche Voraussetzung der Verfassung 101-103 - als Organismus 198f, 531, 573 - als Selbstzweck 93 Fn. 1,563,573 - Gegensatz zur Gesellschaft 71,133135,157-160 - Wandel durch Globalisierung 104 Fn. 57 Staatenverbund 203f, 208 Staatsgebiet 111-113 Staatsvolk 102f, 105f, 165,651-653, 656f, 681, 744 Staatswille 237,259 Staatswillenstheorie 224,227,259,261 Staatszweck 161-163, 572-577 Staatenbund, Abgrenzung zum Bundesstaat 427f, 494f Statusvertrag s. Trait£-loi Strukturelle Kopplung 278f Stückwerkstechnologie 497,599-602, 615 Stufenbau der Rechtsordnung 355f Subsidiaritätsprinzip 154, 164,183, 185, 190,290f, 303, 320,470, 636 Supranationalität 164,202f, 219, 240, 243, 248, 296, 299, 336, 347f, 556, 644 Supranationalität, Komplementarität zur Demokratie 626 Fn. 3 System, Begriff 510 Systemdesign 345,618f, 621,623 Systemtheorie 218, 255,271,278f, 287, 372,388,499, 509-513,522
Sanktionen nach Art. 7 EUV 141,210, 241, 377, 304, 342 Schengener Abkommen 159, 162,450, 616 Schicksalsgemeinschaft 701, 709, 744 Schleier des Unwissens 537 Science of Muddling Through 600f Segmentierung der Gesellschaft 705,71 lf, 735 Selbstbestimmung - Authentizität 623,648 Fn. 82, 721f - Effektivität 623, 648 Fn. 82, 72lf - Träger s. Demokratie, Träger (Subjekt) Selbstlegitimation 509-513 Selbstreferenz 510, 512 self-contained regime 241 soft law 467-469 Solidarität, europäische 707,712, 719 Souveränität - „äußere" 127, 135-138 - der EG/EU Mitgliedstaaten im Verhältnis zur EG/EU 144-148,456f, 480f, 492, 556f, 617, 726, 728 - fusionierte 145 - geteilte 136, 144-148 - im legalistischen Sinne 127f, 136f, 185 - im realistischen Sinne 127f, 137f, 156 - „innere" 127,138f - schwebende 145, 228f, 269 - unspezifiziert 111,125-140, 164,181, Technokratie 116f, 197, 588-590, 637f, 189, 238, 267, 274, 277, 658 64lf, 747 Teilverfassung 2009,219, 302 Sozialstaat 396,588,605,624f Sozialtechnologie 603f Territorialstaat 111-113 Soziologische Jurisprudenz (sociological Theorie der doppelten Legitimation der europäischen Verfassung 391, 556jurisprudence) 604 567 Sperrklausel 667 spheres of justice (Michael Sandel) 97, Theorie öffentlicher/kollektiver Entschei710 dungen s. public choice Theseus' Schiff 381 Fn. 97 spill-over 193-195 Spontane Ordnung, Theorie (Friedrich A. Totalrevision der Verfassung 380f, 382, 428 v. Hayek) 595, 606-609
Sachregister Trait