Elemente der wissenschaftlichen Grammatik der deutschen Sprache: Für höhere Lehranstalten sowie zum Selbstunterrichte [Reprint 2021 ed.]
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Elemente der

wissenschaftlichen Grammatik

der deutschen Sprache für höhere Lehranstalten sowie zum Selbstunterrichte

von

Dr. Mich. Geistbeck.

Leipzig, Verlag von Veit & Comp.

Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.

Daß die Elemente der wissenschaftlichen Grammatik der deutschen

Sprache aus höheren Lehranstalten im Unterrichte zu behandeln seien, darüber ist man in fachmännischen Kreisen

längst einig;

Schulordnungen verlangen dies auch ausdrücklich.

sehr

viele

Die Schwierigkeit

besteht nur darin, die richtige Auswahl des Stoffes zu treffen und diesen in möglichst klarer und übersichtlicher Darstellung vorzuführen.

Wohl bieten nun manche Grammatiken den diesbezüglichen Stoff in

vorzüglicher Weise; ich erinnere an die trefflichen Werke von Blatz, Engelien,

Gelbe u. a.;

diese Werke sind jedoch, da sie mit der

wissenschaftlichen auch die Elementargrammatik verbinden, für die Hand

des Schülers zu umfangreich und deshalb zu kostspielig; die gewöhn­ lichen Schulgrammatiken wiederum sind vielfach zu knapp gehalten, um einen tiefern Einblick in das Leben und Wachstum unserer Sprache zu

gewähren.

Ich habe es deshalb versucht, an der Hand bewährter Hilfs­

mittel — ein Verzeichnis derselben mit kurzen orientierenden Bemerkungen

und

genauer Angabe der Verlagshandlung und des Preises ist am

Schluffe des Merkchens beigegeben — das in dieser Beziehung für

den Schüler höherer Lehranstalten Wissenswerte und Interessante zu­ sammenzustellen.

Daß ich hiebei in manchen Fällen nicht stets die neuesten

Theorien vertrete, hat seinen Grund besonders darin, daß eben in den

Kreisen der Germanisten selbst noch bezüglich vieler Fragen die größte Meinungsverschiedenheit herrscht.

Für ein Schulbuch, denke ich, ist dieser

Vorwort.

IV

Standpunkt eben nicht unberechtigt. — Außerdem habe ich mich bestrebt,

den Stoff möglichst übersichtlich zu gruppieren und so dem Schüler die

Aneignung desselben, soweit der Lehrer diese für nötig hält, recht sehr zu erleichtern.

Ob

und

inwieweit

ich das

angestrebte Ziel erreicht

habe, wird die Kritik entscheiden, deren Wohlwollen ich dieses aus inniger Liebe zu unserer Muttersprache hervorgegangene Büchlein hie-

mit bestens empfehle.

Freising, am Pfingstsonnabend 1882.

per Verfasser.

Seite

Einleitung............................................................................................................... 1 § 1. Begriff der Sprache........................................................................................1 § 2. Ursprung der Sprache .................................................................................... 1 § 3. Vielheit der Sprachen................................................................................... 1 § 4. Einteilung der Sprachen nach ihrer Bauart............................................... 2 § 5. Der semitische Sprachstamm..........................................................................3 § 6. Der indogermanische Sprachstamm.............................................................. 4 § 7. Verbreitung der indogermanischen Sprachen............................................... 4 8 8. Familien des indogermanischen Sprachstammes.......................................... 4 § 9. Die germanische Sprachfamilie................................................................... 5 § 10. Die hochdeutsche Sprache............................................................................. 7

Erster Teil. Lautlehre. Erstes Kapitel. Die Vokale............................................................................. 9 Zweites Kapitel. Die Konsonanten............................................................ 15 Anhang. A. Die Schrift........................................................................... 23 B. Geschichte der Orthographie.................................................. 25

Zweiter Teil. Wortlehre. Erster Abschnitt. Wortformenlehre.................................................................................33 Erstes Kapitel. Der Artikel............................................................................33 Zweites Kapitel. Das Substantiv................................................................. 34 Anhang. A. Die Personennamen............................... 40 B. Die Familiennamen.......................... 43 C. Die Ortsnamen....................................................................... 45 D. Die Fremdwörter............................... 48 Drittes Kapitel. Das Adjektiv...................................................................... 52 Viertes Kapitel. Das Numerale...................................................................... 56 Fünftes Kapitel. Das Pronomen................................................................. 58 Sechstes Kapitel. Das Verbum...................................................................... 63 Siebentes Kapitel. Adverbien...................................................................... 76 Anhang. Die Verneinung........................................................................... 79

VI

Inhalt.

Seite Achtes Kapitel. Präpositionen. . . . 81 Neuntes Kapitel. Konjunktionen 82 Zehntes Kapitel. Interjektionen . 84 Zweiter Abschnitt. Wortbildungslehre........................... . . . . 86 Anhang. A. Zur Bedeutungslehre................................................................ 91 B. Verzeichnis einiger Komposita, die in einem Teile oder in beiden entstellt oder veraltet und daher unver­ änderlich sind... 98

Dritter Teil. Syntaktisches. Erstes Kapitel. Zur Lehre von der Kongruenz ... 101 Zweites Kapitel. Zur Kasuslehre..................................................................... 102 Drittes Kapitel. Der zusammengesetzte Satz .... 104 Viertes Kapitel. Wortfolge............................................................................... 106 Fünftes Kapitel. Geschichte der deutschen Interpunktion........................... 108 Anhang. Geschichte der deutschen Grammatik ... 113 Benützte Litteratur . . . 120

Einleitung.

§ 1.

Begriff der Sprache.

Unter Sprache im weitesten Sinne versteht man jede Äußerung bert Gedanken durch sinnlich wahrnehmbare Zeichen.

Sprache in diesem Sirinne ist auch die Gebärden- und die Mienensprache. Gewöhnlich

abeier versteht man unter Sprache den lautlichen Ausdruck des Gedankens.

§ 2.

Ursprung der Sprache.

Die Sprache ist nicht, wie früher angenommen wurde, eine Er» finndung des Menschen, ein Werk bewußter Absicht; ihre Erzeugung gescschah vielmehr aus innerem Instinkte des Geistes, somit in der Form

einner organischen Naturthätigkeit.

Es ist anzunehmen, daß die

ursrsprüngliche Sprache nur aus einer geringen Zahl von Lautgebilden

bcststand und die verschiedenen Gegenstände in der einfachsten Weise bezeiclichnete.

§ 3.

Vielheit der Sprachen.

1. Bezüglich des Sprechens gibt es erfahrungsgemäß kein Gesetz, wotodurch der menschliche Geist gezwungen wäre, für einen bestimmten

Beoegriff auch ein bestimmtes Lautgebilde zu wählen; der Gedanke ist

vielelmehr von seinem Schallausdrucke völlig unabhängig, und der Mensch hat,it, absolut genommen, bezüglich des lautlichen Ausdrucks der Gedanmken gänzliche Freiheit in der Wahl der Lautgruppen.

verlrhält cs sich im wirklichen Leben.

Anders freilich

Denn sollte die Sprache ihren

Zwweck als Mittel des geistigen Verkehrs erfüllen, so mußte eine größere

Verereinigung von Menschen, die in enger Beziehung zu einander standen, behrhufs des gegenseitigen Verständnisses die gleichen Wortgebilde verwenenden.

So

bildete sich bei stammverwandten

6 Geistbeck, Elemente der wissens ch. Gramm.

Völkern,

die 1

unter

Einleitung.

2

den gleichen physischen Einflüssen standen und auch im Verkehre auf einander angewiesen waren, notgedrungen eine gleichartige Sprache. Derselbe Prozeß wiederholte sich nun in verschiedenen Gegenden der

Erde unter verschiedenen Bedingungen und Verhältnissen, und so ent­ standen gemäß der ursprünglichen Freiheit des Geistes, die Begriffe be­

liebig zu benennen, viele verschiedene Sprachen. 2. Die Zahl der Sprachen, die gegenwärtig auf der Erde gesprochen

werden, beträgt mindestens 900.

§ 4.

Einteilung der Sprachen nach ihrer Bauart.

Die Sprachen der Erde unterscheidet man mit Bezug auf den Wortbau und Wortformenbau (die Art

und Weise

der Wort­

biegung) in drei Hauptklassen, die zugleich Entwicklungsstufen der

Sprachbildung bezeichnen:

1. Die einsilbigen oder isolierenden Sprachen, welche nur

aus einsilbigen, getrennten, nicht flexibeln Wörtern bestehen; hierher ge­ hören z. B. das Chinesische, das Siamesische rc.

Das Chinesische

namentlich ist die Sprache, die aller grammatischen Sinnbegrenzung entbehrt. Ihr fehlen Deklination und Konjugation, jede Unterscheidung von Haupt- und Zeitwort, jede Wortbildung überhaupt.

Die Lautgruppe

ta z. B. kann groß, Größe, groß sein, groß machen und sehr bedeuten. Was sie in einem gegebenen Falle bedeutet, entscheidet die Stellung im Satze und der Sinn der ganzen Rede. Sehr wichtig ist außerdem die Betonung der Wörter. So bedeutet z. B. im Anamesischen ba, mit schwerem Accente gesprochen, eine Dame, mit scharfem Accente den Günstling eines Fürsten, gar nicht betont — drei, mit

fragendem Ton eine Ohrfeige.

Diese Sprachklasse zeigt den niedrigsten Grad der Entwicklung; denn sie bezeichnet die Begriffe und ihre Beziehungen zu einander nicht in bestimmten Wortgestalten, sondern nur andeutungsweise.

2. Die anfügenden oder agglutinierenden Sprachen, in welchen Wurzelelemente zur Bildung eines wortähnlichen Ganzen so

zusammengefügt werden, daß das Hauptelement seine volle Selbständig­ keit behält, die angefügten Elemente aber mehr oder minder ihre Selb­ ständigkeit verlieren.

Zweck der Anfügungen ist, die verschiedenen Be­

ziehungen des Wortes im Satze, z. B. den Kasus, den Numerus rc.

auszudrücken; so heißt k6s (gespr. kesch) ungarisch „Messer", k6s-ek „die Messer" (ek ist Pluralzeichen), kes-ek-nek „den Messern" (nek ist Dativzeichen). Ein Hauptoertreter dieser Sprachklasse

ist

der ural-altaische

Einleitung.

3

Sprach stamm, der das Tungusische, Mongolische, Samojedische, Finnische

und Türkische umfaßt.

Gegenüber den einsilbigen Sprachen bekunden die agglutinierenden

einen wesentlichen Fortschritt dadurch, daß sie die Beziehungen der Wörter im Satze ganz genau auszudrücken vermögen.

Auch besteht

darüber kein Zweifel, daß sie eine Fortbildung der isolierenden Sprachen

sind; denn die angefügten Elemente sind ursprünglich ebenfalls voll­

ständige Begriffswörter gewesen, die erst allmählich in ihrer Bedeutung sich abschwächten, sich verkürzten und so zu bloßen Bildungssilbcn wurden.

3. Die flektierenden Sprachen,

in denen die Wurzel selbst

und zwar der Vokal zum Zwecke des Beziehungsausdruckes regelmäßig

verändert werden kann; das ist z. B. der Fall in der deutschen Sprache: ich binde, band, gebunden, Binde, Band, Bund. Diese Veränderlichkeit des Wurzelvokals zum Ausdruck der Beziehung nennt man Flexion

und die Sprachen, denen sie eigen ist, die flektierenden. Die flektierenden Sprachen repräsentieren die höchste Stufe sprach­

licher Entwicklung.

Die Wörter

und Wortformen sind durch schöne

Abrundung und nachdrucksvolle Kürze ausgezeichnet; zugleich erscheint

das, was eine Gedankeneinhcit bildet — Wurzel und Beziehungsaus­

druck derselben — auch lautlich als Einheit. Im übrigen bedienen sich freilich auch die flektierenden Sprachen noch vielfach der Anfügung zum Ausdruck der Beziehungen. Zu dieser Sprachklasse zählen der semitische und der indoger­

manische Sprachstamm.

§ 5. Der semitische Sprachstamm. Alle Wurzelwörter dieses Sprachstammes bestehen aus drei Kon­

sonanten; man redet daher auch von einer Dreiteiligkeit der Wurzel.

Vor, nach oder zwischen diese Konsonanten werden Vokale eingeschoben.

Die Bedeutung der Wurzel hängt an den Konsonanten, die Vokale, die überdies unbeschränkt veränderlich sind, drücken nur die Beziehungen

des Wortes

aus.

So wendet die arabische Sprache die Dreikonso­

nantengruppe q-t-1 für alles an, was sich auf das Vergießen von

Menschenblut bezieht; daraus bildet sie qatala, er hat getötet, qutila, er wurde getötet, uqtul, töten?c.

Die meisten der semitischen Sprachen sind

ausgestorben, so das

Phönizische, Aramäische, Chaldäische, Hebräische rc.

Von Be­

deutung ist von den semitischen Sprachen heute nur mehr die arabische.

Einleitung.

4

§ 6. Der indogermanische Sprachstamm. Die Lautform der Wurzel ist im Indogermanischen sehr frei, nur muß sie stets einsilbig sein; hier giebt es Wurzeln wie i gehen, da geben, sta stehen, ad essen, vart sich drehen, sein, werden rc.

Ferner

ist ein bestimmter Wurzelvokal gegeben, der nicht wie bei den semiti­ schen Sprachen unbeschränkt veränderlich ist; es ist ihm vielmehr eine bestimmte und begrenzte Bahn vorgeschrieben, die er nach keiner Seite hin überschreiten kann. Anmerkung 1. Der Ausdruck „indogermanisch" sollte ursprünglich die Ost- und Westgrenze des Gebietes dieses Sprachstammes bezeichnen. Obwohl nun später die Kelten, die noch westlicher als die Germanen wohnten, als zu diesem Sprachstamme gehörig erkannt worden sind, so ist doch der Name belassen worden. Andere in Anwendung gebrachte Bezeichnungen dieses Sprachstammes sind „indo­

europäisch" und „arisch". Anmerkung 2. Vielfach haben Gelehrte sich bemüht, den Nachweis dafür zu liefern, daß der semitische und indogermanische Sprachstamm aus einer im letzten Grunde gemeinsamen Wurzel stammten. Ob diese Verwandtschaft je erwiesen werden wird, ist noch fraglich, sie ist aber auch nicht als unmöglich abzuweisen.

§ 7. Verbreitung der indogermanischen Sprachen. Die

Ahnen

derjenigen

Stämme,

welche

dem

indogermanischen

Sprachgebiet angehören, bildeten in vorgeschichtlicher Zeit ein Volk, das Durch allzu großes Anwachsen, vielleicht auch aus anderen Gründen, wurde eine Auswanderung ein­ zelner Teile dieses Urvolkes hervorgerufen. Ein Teil desselben wanderte

seinen Wohnsitz in Zentralasien hatte.

in nordwestlicher Richtung nach Europa und spaltete sich hier in Ger­

Ein anderer Teil blieb in Asien zurück und ergoß sich allmählich über Indien und Iran; wieder ein anderer Teil manen und Slaven.

ging nach Westen und überzog Kleinasien und den Süden und Westen Europas; aus diesem Teile gingen die Griechen, Italer und Kelten hervor.

§ 8. Familien des indogermanischen Sprachstammes. Der indogermanische Sprachstamm gliedert sich in folgende Sprach­

familien:

1. Die indische Familie; sie umfaßt die älteren und neueren

indischen Sprachen; von den älteren sind für die Sprachforschung von besonderer Wichtigkeit die Veda- und die Sanskritsprache; letztere wird bis auf den heutigen Tag als Schriftsprache von den Gelehrten

gebraucht.

(Einleitung.

5

2. Die iranische oder persische Familie; die ältesten iranischen Sprachen sind das in Keilschrift geschriebene Altpersische und das Altbaktrische oder ßenb; die noch jetzt lebenden Sprachen dieser Familie sind die neupersische und die armenische. 3. Die griechische Familie; ihr bedeutendster Zweig ist das Altgriechische; denn in ihm sind die vollendetsten Meisterwerke der Poesie und des Prosastils, die der menschliche Geist bis jetzt hervorge­ bracht hat, niedergelegt. Aus dem Altgriechischen ist das jetzt gesprochene Neugriechische hervorgegangen. 4. Die italische Familie; sie ist unter den lebenden Sprachen nur durch die romanischen Dialekte vertreten, welche aus der Um­ bildung des Latein im Volksmunde und den neben der alten Sprache fortlebenden Mundarten entstanden sind. Die romanischen Sprachen sind folgende: das Provenzalische, Italienische, Spanische, Por­ tugiesische, Frauzösische, das Walachische und das Rhätoromanische, letzteres in einigen Thälern der Südostschweiz. — Aus Inschriften und einer reichen Literatur kennen wir auch das Alt­ lateinische und die lateinische Schriftsprache. 5. Die keltische Familie; die erhaltenen Mundarten zerfallen in zwei Gruppen, in das Kymrische und das Gälische. Der kymrische Dialekt umfaßt das Welsche in Wales, das jetzt ausgestorbene Kornische in Cornwall und das Armorische in der Bretagne. Die gälische Gruppe umschließt das Irische und das Schottische. 6. Die slavische Familie; sie spaltet sich: a) in den wendischen Zweig, umfassend 1. das ausgestorbene Altpreußische, 2. das Li­ tauische in Ostpreußen und Samogizien und 3. das Lettische in Kur­ land und Livland; b. in den slavischen Zweig im engeren Sinne; er umschließt das Russische, Polnische, Bulgarische, Czechische, Serbische und Albanesische. 7. Die germanische Familie; von ihr wird im folgenden des Näheren die Rede sein. Anmerkung.

Die Einheit der indogermanischen Sprachen, zu denen

hienach die bedeutendsten Kultursprachen Asiens imb Europas gehören, ist unter sich zunächst nachweisbar aus den Worten selbst, die sich vielfach auf

Urwurzeln zurückführcn lasser:: sodann ist

gleiche einsilbige

die Verwandtschaft derselben unter sich

daraus erkennbar, daß in allen die Flexion auf demselben Prinzipe beruht.

§. 9. Die germanische Sprachfamilie. Die germanische Grundsprache ist uns nicht erhalten, sie ge­ hört der vorgeschichtlichen Periode an. In der geschichtlichen Zeit hatte sich dieselbe bereits in drei Hauptmund arten gespaltet:

6

Einleitung.

1. in das Ostgermanische ober Gotische; 2. in das Nordgermanische oder Nordische; 3. in das Südgermanische oder Deutsche.

1. Die gotische Sprache. a. Diese Sprache ist uns nur in den Resten der Bibelübersetzung des gotischen Bischofs Wulfila (Wölfel, griechisch Ulphilas, f 381 n. Chr.) erhalten. Da dieses Werk die ältesten germanischen Sprachformen bietet, so ist es für die Sprachforschung innerhalb des Deutschen von größter Wichtigkeit. b. Charakteristisch ist für die gotische Sprache die reichste Mannig­ faltigkeit und die größte Regelmäßigkeit in der Bildung der Formen; sie zeichnet sich ferner aus durch wohlklingende und kräftig tönende Laut­ gestaltung, besonders auch in den End- und Flexionssilben.

2. Die nordische Sprache.

Die nordische Sprache lebt noch jetzt als Dänisch, Schwedisch, Norwegisch und Isländisch fort. Die zwei wichtigsten Denkmäler der altnordischen Sprache sind die ältere und jüngere Edda. Beide Werke sind auf Island im 12. und 13. Jahrhundert entstanden und haben nicht bloß in sprachlicher Hinsicht große Bedeutung, sondern sind auch die Hauptfundgrube für die deutsche Mythologie und die alten Heldensagen. 3. Die deutsche Sprache.

Das Deutsche bestand und besteht noch jetzt aus zwei Hauptteilen: dem Niederdeutschen und dem Ober- oder Hochdeutschen. Die niederdeutsche Mundart wird in Norddeutschland, die oberdeutsche in Mittel- und Süddeutschland gesprochen. Die niederdeutsche Sprache spaltete sich in das Friesische und das Sächsische. Das Sächsische tritt wieder auf als Altsächsisch und Angelsächsisch. Aus dem Altsächsischen ging das Plattdeutsche, das Holländische und das Vlämische hervor. Aus dem Angel­ sächsischen entstand in Britannien, wohin die Angelsachsen eingewandert waren, durch Beimischung von romanischen Elementen, welche die von Frankreich kommenden Normannen dorthin brachten, das Englische. — Das Friesische ist an den Küsten der Nordsee noch erhalten. Die bedeutendsten oberdeutschen Dialekte sind der alemannisch­ schwäbische, der fränkische, der bayerisch-österreichische und der thüringische. Anmerkung 1. Das Wort „deutsch" kommt von dem got. Subst. thiuda, das Volk, ahd. diot, mhd. diet. Davon ist das got. Adjektiv thiudisks gebildet

Einleitung.

7

(ahd. diutisc oder diotisc, mhd. diutisch oder diutsch, nhd. deutsch). Deutsch ist demnach soviel als volkstümlich, jum Volke gehörig, heimatlich; diese Bedeutung klingt z. B. noch an in unsrer Redensart „mit einem deutsch reden". Anmerkung 2. Für Deutschlands Kultur und Litteratur ist die hochdeutsche Mundart von größtem Belang; sowohl die Mönchs- und Klosterlitteratur der frühesten Zeit, als auch die Erzeugnisse der mittelalterlichen Minnesänger und Epiker sind in dieser Mundart abgefaßt.

§. 10. Dir hochdeutsche Sprache. Die hochdeutsche Sprache entwickelte sich in drei aufeinander folgen­ den Perioden. Diese sind: 1. Die althochdeutsche (ahd.) Periode: sie reicht bis 1100 n. Chr. Die Sprache dieser Periode ist noch immer reich an mannigfachen, streng geschiedenen Flexionsformen, und was sie an Formenreichtum gegen das Gotische eingcbüßt, das hat sie an Geschmeidigkeit nnd Wohlklang ge­ wonnen. Ebenso steht sie in Bezug auf Freiheit und Mannigfaltigkeit im Satzbau nur wenig hinter der gotischen Sprache zurück. 2. Tie mittelhochdeutsche (mhd.) Periode (1100—1500). Wäh­ rend in der ahd. Periode jeder Schriftsteller sich seines heimatlichen Dialektes bediente, hat die mhd. Periode nach ziemlich allgemeiner An­ nahme die schwäbische Mundart zur allgemeinen Schriftsprache erhoben. Diese mhd. Sprache ist namentlich durch die Abschwächung der Po­ kale in den Abllitungs- und Bicgungssilben, die zum Teil schon im Ahd. begonnen hatte, gekennzeichnet. Tie Endungen enthalten statt der früheren volltönenden Vokale nur mehr stumme und tonlose e. Diese Einbuße an formalen Vorzügen wird wiederum ausgeglichen durch er­ höhten Wohllaut und Tonreichtum, sowie die größere Gewandtheit im Satzbaue. 3. Die neuhochdeutsche (nhd.) Periode (von 1500 bis jetzt). In dieser Periode entwickelte sich allmählich die in ganz Deutschland in Wort und Schrift zur Geltung gelangende nhd. Schriftsprache. Begründet wurde diese durch die offizielle Reichssprache, die sich aus den seit dem Ende der Hohenstaufenzeit in deutscher Sprache abgefaßten Reichs­ oder kaiserlichen Erlassen, aus dem offiziellen Verkehr der Reichsfürsten und ihrer Kanzleien untereinander, aber auch aus dem mündlichen Ge­ brauche auf den Reichstagen gebildet hatte. Diese Geschäftssprache fand auch in den wichtigsten Druckerstätten des 15. Jahrhunderts, in Augs­ burg und Nürnberg, Aufnahme, das meiste aber that für deren feste Gestaltung und weitere Verbreitung die Bibelübersetzung Luthers. Die nhd. Schriftsprache ist somit nicht ein zur alleinigen Herrschaft ge-

Einleitung.

8

kommener Dialekt eines Stammes, wie das bei der mhd. Schriftsprache der Fall ist, sondern eine in vielen Stücken durch den Einfluß des mensch­

lichen Willens absichtlich gebildete und aus verschiedenen Mundarten zu­

sammengewürfelte Sprachgestaltung. Gegenüber der mhd. Sprache hat auch die nhd. Sprache eine Schwä­ chung der ehemaligen Kraft, eine Vergröberung ihres Lautstandes er­

fahren.

Einige konsonantische und mehrere diphthongische Laute sind

untergegangen; alle im Mhd. noch vorhandenen kurzen und doch betonten

Stammsilben sind lang geworden (aus sägen ist sägen, aus böte Böte geworden); der Gestalt- und Formenwechsel in Deklination und Kon­ jugation hat wesentlich abgenommen; um so mehr gewann die nhd.

Sprache dagegen an logischer Schärfe, an Kürze und Beweglichkeit.

Ihr wesentlichster Vorzug aber, der alle Mängel und Verluste tausendfach aufwiegt, ist, daß sie ein gemeinsames Band für alle deutschen Stämme geworden ist.

E r ft e r

Jet l.

Lautlehre. Erstes Kapitel. Die Vokale. Die Vokale werden dadurch erzeugt,

I. Erzeugung der Vokale.

daß ein aus der'Lunge ausgestoßener Luftstrom die im Kehlkopf liegen­

den Stimmbänder in Schwingungen versetzt und dann durch die Mund­ öffnung entweicht, ohne einer schallerzeugenden Verengung oder einem

Verschlüsse der Teile der Mundröhre zu begegnen.

II. Verschiedenheit der Vokale. Die verschiedene Tonfärbung oder der verschiedene Klang einzelner Vokale wird durch die ver­ schiedenen Gestaltungen der Mundröhre bewirkt, welche den im Kehlkopf erzeugten Ton modifizieren. — Die Höhe oder Tiefe der

Töne ist von der größeren oder kleineren Zahl der in einem bestimm­

ten Zeitraum eintretenden Schwingungen der Stimmbänder abhängig.

III. Die Grund- oder Urvokale. Die drei Grundpfeiler des Vokalsystems sind kurzes a, kurzes i und kurzes u. Aus diesen sind die anderen Vokale teils durch Steigerung (Gewichtsvermehrung), teils

durch Schwächung (Gewichtsverminderung) hervorgegangen. Die germanische Grundsprache kennt bereits folgende Steige­

rungen und Schwächungen der drei Grundvokale: II. Schwächung, u

I. Schwächung.

e1

Grundvokal.

I. Steigerung.

II. Steigerung.

a

ä

0

i

ei

ai

u

in

au

1 So bezeichnet man gewöhnlich den aus a durch Schwächung und den aus i durch Brechung (S. 11.) hervorgegangenen e-Laut, dagegen den aus a durch Umlaut entstandenen 6-Laut durch e.

10

Erster Teil:

Lautlehre.

IV. Veränderungen der Vokale. Die Veränderungen der Vo­ kale beruhen teils auf durchgreifenden Gesetzen, teils sind sie mehr zu­ fälliger Art und lassen sich unter keine bestimmte Regel bringen. Die ersteren, auf Gesetzen beruhenden nennt man auch, weil sie aus dem Lebensprozeß der Sprache hervorgegangen, organische, die letzteren un­ organische Veränderungen. A. Die wichtigsten organischen Ver­ änderungen sind: der Umlaut, der E-Wechsel oder die Umbeu­ gung, die Brechung, der Ablaut, die Vokalschwächung, die nhd. Dehnung, dieVokalausstoßung unddieVokalzusammenziehung. 1. Der Umlaut, a. Begriff und Entstehung des Umlautes. Der Umlaut ist eine Trübung der reinen Vokale a, o, u und des Diph­ thonges au zu ä, ö, ü und äu. — Er tritt stets ein, wenn auf die Stammsilbe eines Wortes eine den Vokal i enthaltende Ableitungs- oder Biegungssilbe folgt; z. B. Kunst, künstlich, Trost, tröstlich, Kraft, kräftig, blau, bläulich. — Die Umlautung erfolgt auch dann noch, wenn die Nebensilbe ein e enthält, das aus ursprünglichem i hervorgegangen oder wenn i abgefallen ist; z. B. Kraft, Kräfte (ahd. krefti), schön (ahd. sconi). Der Grund des Umlautes kann daher in vielen Fällen jetzt nur mehr dadurch erkannt werden, daß man auf die älteren Formen zurückgeht. b. Rückumlaut. Zuweilen hört mit dem Wegfall des i oder des daraus hervorgegangenen e der Umlaut auf, und der reine Vokal tritt wieder hervor; man nennt diese Wiederherstellung des ursprünglichen Vokals den Nückumlaut; z. B. in der Form ich brannte ist das ursprüngliche a aus der umgelauteten Form brennen (für brännen) wiederhergestellt. c. Alter des Umlauts. Dem Gotischen ist der Umlaut noch völlig fremd; er tritt erst im Ahd. auf, wo jedoch nur die Umlautung des L in ö allgemeine Verbreitung fand; erst im Mhd. gewann der Umlaut annähernd die noch jetzt ihm zukommende Ausdehnung. d. Grund des Umlautes. Der Umlaut hat seinen Grund in dem Bestreben, die Aussprache der Wörter zu erleichtern; diese Erleich­ terung geschieht nun dadurch, daß der Wurzelvokal dem Ableitungs­ oder Flexionsvokal angenähert oder doch ähnlicher gemacht wird. e. Unorganischer Umlaut. Da im Mhd. das i der Endung sich in den meisten Fällen zu e abschwächte, so verschwand allmählich das Bewußtsein des Grundes des Umlautes; man fing daher an, in dem Umlaut ein bequemes Mittel der Flexion und der Wortbildung zu er­ blicken, das um so erwünschter war, als die Unterscheidung der Ablei­ tungs- und Biegungsformen durch die verschiedenen Vokale der Endun­ gen mehr und mehr unmöglich geworden. Häufig tritt deshalb int Nhd. der Umlaut auch da ein, wo die eigentlichen Bedingungen seines Ein-

Erstes finpitei:

Die Vokale.

11

tritts nicht gegeben sind; man nennt diese Art des Umlautes unorga­ nischen Umlaut.

gewaltet.

Im übrigen hat die Sprache schon im Ahd. regellos

Es sind umgelautete Formen neben nicht umgelauteten üblick,

und einzelne Worte haben trotz des Gesetzes den Umlaut nicht.

2. Der E-Wechsel oder die Umbeugung, a. Begriff. Man versteht darunter den Übergang des grundgermanischen, aus dem Urvokal a hervorgegangenen e in i. b. Entstehung der Umbeugung?

Der Vokal e der Stammsilbe

wird zu i,

«. immer, wenn m oder n nebst einem anderen Konsonanten dar­ auf folgt, z. B. binden (Wurzel band), singen, schwimmen. ß. vor anderen Konsonanten nur dann, wenn die folgende Silbe

(Nebensilbe) ein i oder j enthielt.

Die Wirkung ist auch dann geblieben,

wenn diese Laute sich in e abschwächten oder ganz wegfielen, z. B. hel­

fen, du hilfst, er hilft, wir helfen (ahd. helfan, du hilfis, er hilfit, wir helfamSs), Recht, richten, Gericht (ahd. reht mit Stamm rehta, riht(j)an,

girihti), Berg, Gebirge (ahd. berg mit Stamm berga, gibirgi). — Aus den angeführten Beispielen erhellt, daß man, um den Grund der

Umbrugung zu erkennen, stets auf die älteren Formen zurückgehen muß.

c. Auftreten der Umbeugung.

Sie erscheint insbesondere in

der Flexion starker Verba und in der Wortbildung. d. Unorganische Umbeugung. Die Umbeugung trat öfters auch in solchen Fällen ein, in denen sie nach den über die Umbeugung be­

stehenden Gesetzen nicht berechtigt war; es ist dies die unorganische Im Ahd. z. B. haben die 1. Pers. Sing, des Indik.

Umbeugung.

Präs., sowie der Sing, des Imperativs starker Verba durch Ausgleichung mit der zweiten und dritten Person gleichfalls i für e angenommen, z. B. ih hilfu, nimu, hilf, nim. — In der nhd. Schriftsprache ist im Indik, durch nochmalige Ausgleichung mit dem Inf. oder dem Plural

des Präs, statt des i ein e eingetreten, z. B. ich helfe, nehme; der Im­ perativ hat das i behalten, z. B. hilf, nimm.

3. Die Brechung, a. Begriff. Man bezeichnet als Brechung den Übergang der kurzen Vokale i und u der Stammsilben in e, bezie­

hungsweise o. b. Entstehung der Brechung.

Die Brechung tritt regelmäßig

ein, wenn der Vokal der auf die Stammsilbe folgenden Ableitungs- oder Flexionssilbe a ist. So ist das kurze i zu e gebrochen in dem ahd. wehsal (Wechsel), das kurze u zu o in den ahd. Formen kaholfan,

ganoman (geholfen, genommen). — Die Einwirkung dieses a dauert

auch dann noch fort, wenn im Laufe der sprachlichen Entwicklung das 1 Dieser Terminus wurde zuerst von Blatz gebraucht.

12

Erster Teil:

Lautlehre.

a ju e sich abschwächte oder ganz abgestoßen wurde, daher Formen wie leben, Steg, genommen, geholfen, Wolf.

Der Grund der vokalischen

Veränderung kann daher auch hier nur durch ein Heranziehen der älteren Sprachformen verdeutlicht werden.

Gehindert ist die Brechung des u zu o, wenn auf u ein Nasen­

laut (m oder n) mit einem Konsonanten folgt, z. B. getrunken, gebunden, In den letzteren Formen ist erst nhd. durch

gewunnen, geswummen.

niederdeutschen Einfluß n zu 0 geworden; im Dialekte dagegen haben sich die Bildungen gewunnen, geswummen, u. s. w. noch erhalten.

c. Alter der Brechung.

Die Brechung der Vokale tritt bereits

im Ahd. auf und dauert im Mhd. und Nhd. fort. d. Grund der Brechung. Die Ursache der Brechung ist die gleiche

wie die des Umlautes.

In beiden Fällen hat man es mit Assimilatio­

nen oder Anähnlichungen an den folgenden Vokal zu thun.

4. Der Ablaut, a. Begriff. Der Ablaut besteht in dem zum Zwecke der Wortbildung und Konjugation innerhalb fester Gren­

zen stattfindenden Wechsel der Wurzelvokale, z. B. sinke, sank, gesunken, Daraus geht schon hervor, daß der Wurzel­

Stichel, Stachel, Stock.

vokal nicht in jeden beliebigen andern Vokal übergehen kann, sondern

nur in die ihm verwandten Vokale. b. Wesen des Ablautes. Das Wesen desselben beruht auf regel­ mäßiger Steigerung und Schwächung des Wurzelvokals. Schon in der indogermanischen Ursprache war die Lautsteigerung eine zweifache:

eine einfache und eine doppelte.

Die einfache (von den indischen

Grammatikern „Guna" genannt) bestand darin, daß jedem der drei kurzen Vokale ein a vorgeschlagen wurde; so entstand aus a aa = ä,

aus i ai, aus u au;

die doppelte (von den indischen Grammatikern

„Vriddhi" genannt) geschah durch Vorsetzung von ä; so ergaben sich äa = ä, äi, Lu.

In der germanischen Grundsprache treten auch

schon Schwächungen auf, wenigstens bezüglich des Grundvokals a

(siehe oben). c. Ablautreihen.

Entsprechend den drei Grundvokalen a, i und

u, aus welchen alle übrigen Vokale unserer Sprache heroorgegangen sind, unterscheidet man drei solcher Ablautreihen: eine A-Reihe, eine J-Reihe und eine U-Reihe.

A-Reihe. II. Schwächung. I. Schwächung. Grundvokal. I. Steigerung. II. Steigerung.

Ahd.

u

e

a

ä

uo

Mhd.

u

e

a

ä

uo

Nhd.

u

e

a

ä

ü

Erstes Kapitel: Die Vokale.

Abd. Mhd. Nhd.

Grundvokal. i i i

J-Reihe. I. Steigerung. i i ei

Abd. Mhd. Nhd.

Grnndvokal. ii u u

U-Reihe. I. Steigerung. iu, ü iu, ü eu, au

13

II. Steigerung. ei ei, e ei, e, i.

' '

II. Steigerung. ou, ö ou, ö au, o.

Demnach kann der Wurzelvokal a (ich hals) übergehen in e (der Helfer, helfen), in u (wir hülfen — wir halfen); ein Übergang in ei, au

oder eu ist dagegen unmöglich.

verwandeln in ei (ich reite,

Der Wurzelvokal i (ich ritt) kann sich

Reiter), nicht aber in a, o, u oder au.

Der Wurzelvokal u (Guß) kann werden zu o (goß), zu ie (gieße), zu eu (es geußt), aber nicht zu a, e, ei.

Es versteht sich, daß der obige Vokalbestand noch bedeutend ver­

mehrt wird durch die Erscheinungen des Umlautes, der Umbeugung, der

Brechung und die im Nhd. eintretende Verschiebung der Quantitäten. —

Ebenso ist zu beachten, daß nicht immer sämtliche Ablautsvokalc einer Reihe wirklich auch vorkommen; einzelne Glieder derselben können auch fehlen.

d. Alter des Ablautes. Der Ablaut ist eine Pokaldifferenzierung, die, wie erwähnt, schon in der indogermanischen Ursprache eingetreten ist. Er wird in der delltschen Sprache schon in der frühesten Zeit zum Zwecke des Beziehungsausdruckes, also zur Wortbildung und Konjugation

verwendet. e. Grund des Ablautes.

Das Problem des im Ablaut er­

scheinenden Vokalwechsels ist noch immer nicht gelöst. Sehr wahrschein­ lich hängt der Ablaut

mit

früheren Accentverhältnissen

unserer

Sprache zusammen.

5. Vokalschwächung,

a. Begriff. Die Vokalschwächung ist jene

Veränderung der Vokale, wonach die ursprünglich volltönenden Vokale der Nebensilben in ein gleichförmiges dumpfes e übergingen.

An unse­

rem Worte „Gabe" z. B. unterscheiden wir im Singular gar keine Kasus

mehr

und

können

dieselben nur

kenntlich

machen mit Hilfe

des Artikels, und selbst mit diesem haben wir nur zwei Formen: „die Gabe" für den Nominativ und Accusativ und „der Gabe" für

den Genitiv und Dativ. einzelnen Kasus

Im Ahd. haben wir zur Unterscheidung der

folgende Formen:

Sing. Nom.

kep-a, Gen. kep-ä,

14

Erster Teil:

Lautlehre.

Dativ kep-u, Accus. kep-a; Plural Nom. kep-ä, Gen. kep-öuö, Dat. kep-öm, Accus. kep-ä. —Ähnlich steht es in der Konjugation.

So kann für uns „nehmen" die 1. Person Plural des präsentischen Indikativs oder Konjunktivs sein;

das Ahd. hat hiefür vokalisch ver­

schiedene Formen: nemames und nemfemes; so ist uns ferner „salb­ ten" Indikativ

oder Konjunktiv Jmperfekli 1. Pers. Plur., die ent­

sprechenden ahd. Formen lauten wieder: salpötumes und salpotimes.

b. Alter der Dokalschivächung.

Sic tritt erst im Mhd. mit

Macht auf, erreicht aber hier nahezu schon die gleiche Ausdehnung wie

im Nhd.

c. Grund der Dokalschwächung. Grund der Schwächung der Vokale in den Flexions- und Ableitungssilben sind hauptsächlich die Ac­ centverhältnisse der deutschen Sprache.

Die deutsche Sprache hat näm­

lich die Eigentümlichkeit, den Hauptaccent des Wortes auf die erste

oder die Wurzelsilbe und in Zusammensetzungen auf den ersten Be­

standteil zu legen.

Sie betont im Gegensatze zu anderen Sprachen nach

logischen Prinzipien, d. h. die den Gedanken darbietende oder wesentlich

modifizierende Silbe erhält den Ton.

Die naturgemäße Folge war,

daß die Endungen oder Suffixe in der Flexion und Ableitung fast überall ihre vollen Vokale verloren und alle gleichmäßig mit e gesprochen wurden.

6. Die nhd. Dehnung,

a. Wesen derselben.

Danach sind

alle betonten Silben mit einfachem Schlußkonsonanten lang.

der älteren Sprache war das nicht so.

In

Noch im Mhd. sind sehr viele

Stämme mit einfachem Schlußkonsonanten kurz; z. B. geben, legen,

wagen u. s. w.

Alle diese Kürzen werden mit wenigen Ausnahmen

im Nhd. gedehnt gesprochen und teilweise auch mit den bekannten, der nhd. Schrift eigentümlichen Dehnungszeichen geschrieben. b. Grund der nhd. Dehnung. Der Grund dieses Wechsels in

den Quantitätsverhältnissen der Vokale ist gleichfalls in der deutschen

Betonungsweise zu suchen.

Weil nämlich fast alle Wurzelsilben be­

tont wurden, so hat man, Ton und Länge verwechselnd, den betonten Silben auch lange Vokale gegeben.

c. Folgen der nhd. Dehnung.

Infolge dieses Gesetzes ist die

reiche Mannigfaltigkeit der mhd. Tonverhältnisse im Nhd. verschwunden, und unzählige Unterscheidungen sind verloren

gegangen; z. B. mhd.

namen --- Namen und nämen — nahmen, wägen — wagen und wagen --- Wagen, rost = Rost am Metalle und röst — Bratrost, tor = das

Thor und töre — der Thor. Anmerkung.

In einigen wenigen Fällen ist nhd. eine Verkürzung der Vokale

eingetreten, z. B. wäfen, Waffen, er bäte, hatte u. s. w.

Zweites Kapitel:

Die Konsonanten.

15

7. Die Pokalausstoßung, a. Begriff. Sie ist der Wegfall eines Vokals zwischen zwei Konsonanten innerhalb des Wortes. Sehr häufig werden die tonlosen Vokale der Vorsilben, der Bildungs- und Flexionssilben ausgestoßen; z. B.:

Gnade (mhd. genade), hoffte (für

Hoffete), größerm (für größerem). b. Ursache der Vokalausstoßung.

Verursacht ist dieselbe wie­

derum durch die Accentverhältnisse der deutschen Sprache.

8. Die Vokalzusammenziehung; sie besteht darin, daß Kon­ sonanten zwischen zwei Vokalen ausfallen, und die infolge davon zu­ sammentretenden Vokale zu einem Diphthongen zusammengezogen oder

kontrahiert werden; z. B. Maid aus maget (mhd. kontrahiert meit),

Reinhard aus reginhart, Hain aus hagen, Getreide für getregede rc. Mhd. war die Kontraktion üblicher als heutzutage; so waren Formen

wie geseit für gesaget, treit für treget rc. sehr gebräuchlich.

B. Unorganische Veränderungen. Beispiele unorganischer Veränderungen sind: a entsteht aus o oder au: Bräutigam, mhd. briutegome, Nachbar,

ällernhd. Nachbaur.

ä, das als Stellvertreter von mhd. e nur den Umlaut von a bezeichnen sollte, tritt auch für das gebrochene e ein: Bär (mhd. ber), dämmern (mhd. temeren); langes e oder ee steht statt ä: schwer (mhd. swaere),

leer i i o

(mhd. laere); entsteht aus a: Wichse von Wachs, Gitter von Gatter; entsteht aus ü: Findling, spitzfindig statt Fündling, spitzfündig; entsteht aus a: Argwohn (mhd. arcwän), Brombeere (mhd. brämber);

ö entsteht aus e: ergötzen (mhd. ergötzen), Löwe (mhd. lewe);

ü entsteht aus ie: trügen (mhd. triegen), lügen (mhd. liegen);

ei aus äu: ereignen für eräugnen

oder ereugnen

(mhd. erougen,

eröugen).

Zweites Kapitel. Die Konsonanten. I. Erzeugung der Konsonanten.

Sie unterscheidet sich von

der der Vokale dadurch, daß bei ihrer Hervorbringung der hervorge­ stoßene Luftstrom an dem einen oder andern Teile der Mundröhre einem

größeren Widerstand begegnet, als das bei der Vokalbildung der Fall

Zweites Kapitel:

Die Konsonanten.

15

7. Die Pokalausstoßung, a. Begriff. Sie ist der Wegfall eines Vokals zwischen zwei Konsonanten innerhalb des Wortes. Sehr häufig werden die tonlosen Vokale der Vorsilben, der Bildungs- und Flexionssilben ausgestoßen; z. B.:

Gnade (mhd. genade), hoffte (für

Hoffete), größerm (für größerem). b. Ursache der Vokalausstoßung.

Verursacht ist dieselbe wie­

derum durch die Accentverhältnisse der deutschen Sprache.

8. Die Vokalzusammenziehung; sie besteht darin, daß Kon­ sonanten zwischen zwei Vokalen ausfallen, und die infolge davon zu­ sammentretenden Vokale zu einem Diphthongen zusammengezogen oder

kontrahiert werden; z. B. Maid aus maget (mhd. kontrahiert meit),

Reinhard aus reginhart, Hain aus hagen, Getreide für getregede rc. Mhd. war die Kontraktion üblicher als heutzutage; so waren Formen

wie geseit für gesaget, treit für treget rc. sehr gebräuchlich.

B. Unorganische Veränderungen. Beispiele unorganischer Veränderungen sind: a entsteht aus o oder au: Bräutigam, mhd. briutegome, Nachbar,

ällernhd. Nachbaur.

ä, das als Stellvertreter von mhd. e nur den Umlaut von a bezeichnen sollte, tritt auch für das gebrochene e ein: Bär (mhd. ber), dämmern (mhd. temeren); langes e oder ee steht statt ä: schwer (mhd. swaere),

leer i i o

(mhd. laere); entsteht aus a: Wichse von Wachs, Gitter von Gatter; entsteht aus ü: Findling, spitzfindig statt Fündling, spitzfündig; entsteht aus a: Argwohn (mhd. arcwän), Brombeere (mhd. brämber);

ö entsteht aus e: ergötzen (mhd. ergötzen), Löwe (mhd. lewe);

ü entsteht aus ie: trügen (mhd. triegen), lügen (mhd. liegen);

ei aus äu: ereignen für eräugnen

oder ereugnen

(mhd. erougen,

eröugen).

Zweites Kapitel. Die Konsonanten. I. Erzeugung der Konsonanten.

Sie unterscheidet sich von

der der Vokale dadurch, daß bei ihrer Hervorbringung der hervorge­ stoßene Luftstrom an dem einen oder andern Teile der Mundröhre einem

größeren Widerstand begegnet, als das bei der Vokalbildung der Fall

Erster Teil:

16 ist.

Lautlehre.

Die Stimmbänder sind bei der Konsonantenbildung entweder

gar nicht beteiligt, oder sie werden gleichzeitig in leichte mitschwingmde

Bewegung versetzt. H. Einteilung der Konsonanten.

Erzeugung.

A.

Nach der Art der

Mit Rücksicht hierauf sind drei Arten von Konsonanten

zu unterscheiden:

I. An irgend einer Stelle der Mundröhre wird ein vollständiger

Verschluß hergestellt; der Laut wird nur hörbar, wenn der Verschluß aufgehoben wird.

Dies geschieht durch den aus der Lunge ausgestoßenen

Luftstrom, welcher ein Schwingen der anliegenden Teile der Mundröhre

und dadurch ein Geräusch verursacht.

Da die auf diese Weise erzeugten

Laute bei ihrem Hervortreten nach vorgängigem Verschluß gewissermaßen explodieren, so nennt man sie Explosivlaute.

Außerdem heißen sie

noch, da sie keine Andauer ihres Schalles besitzen, nur einen Moment hörbar sind, momentane Laute, und mit Rücksicht auf das physio­

logische Moment Verschlußlaute.

Weniger bezeichnend ist der bis­

herige Name „mutae“ stumme Laute; denn hörbar sind sie, wenn auch nur einen Moment.

Die auf diese Weise gebildeten Laute sind: b, p, d, t, g, k.

Sie

gliedern sich wieder in harte (tenues): p, t und k, und in weiche

(mediae): b, d und g. — Physiologisch besteht der Unterschied zwischen

beiden Arten darin, daß bei der Erzeugung der harten die Stimmbänder ganz unbeteiligt sind, bei der Erzeugung der weichen dieselben schwingen

und tönen.

2. Die Mundhöhle wird an verschiedenen Stellen so verengt, daß die Reibung des Atems, während dieser durch die Öffnung gepreßt wird, den Hauptfaktor der Lauterzeugung bildet.

Die auf solche Weise gebil­

deten Laute heißen Reibelaute (fricativae) oder Spiranten (spirantes). — Je nach der Beteiligung der Stimmbänder bei deren Erzeugung unterscheidet man auch hier harte Spiranten: f, s (hart), scb, ch und

weiche Spiranten: w, s (weich), j. Geringe Artikulation hat der Hauchlaut h.

3. Es wird weder ein vollständiger Verschluß in der Mundröhre

gebildet, noch sind auch die Verengungen in derselben so stark, daß beim

Durchströmen der Luftsäule ein Geräusch gebildet werden muß. entstehenden Laute heißen Schmelzlaute (liquidae).

Die so

Sie nähern sich

in der Art ihrer Erzeugung den Vokalen; denn der Laut wird wie bei den Vokalen durch Schwingen und Tönen der Stimmbänder hervor­ gebracht, und die Mundröhre ist an der Tonbildung nicht beteiligt.

Zweites Kapitel: Die Konsonanten.

17

Die Schmelzlaute heißen daher auch Halbvokale (semivocales). Von den Vokalen selber sind sie aber dadurch unterschieden, daß bei ihrer Erzeugung immerhin eine stärkere Verengung der Mundröhre eintritt als bei der Vokalbildung. Diese Laute sind: I, r, w, n und ng. Den drei letzteren ist eigentümlich, daß die ausgestoßene Luftsäule in die Nase eintritt und auch durch die Nase entweicht, sie führen daher den Namen Nasenlaute (nasales). Gewöhnlich werden nun die Reibe- und Schmelzlaute, da deren Schall so lange ausgehalten werden kann, als der Atem es gestattet, unter dem Namen „Dauerkonsonanten" (contfnuae) zusammengefaßt. Danach ergeben sich bezüglich der Art der Erzeugung nur zwei Hauptgruppen von Konsonanten:

I.

Momentane Konsonanten (mutae), 1. harte (tenues): p, t, k, 2. weiche (mediae): b, ä, g.

II.

Dauerkonsonanten (continuae),

1. Reibelaute (fricativae oder spirantes), a. harte: f, s (hart) sch und ch, b. weiche: w, s (weich), j, c. der Hauchlaut h.

2. Schmelzlaute (liquidae),

a. eigentliche Liquidä: 1, r, b. die Nasalen: m, n, ng. B. Nach dem Orte der Erzeugung. Der Stellen oder Thore in der Mundröhre, an denen ein Verschluß oder eine Verengerung statt­ finden kann, sind es drei: das Lippen- das Zungen- und das Gau­ menthor. Die Flügel des Lippenthores bilden die Ober- und die Unterlippe. Das Zungenthor wird gebildet durch die Zungenspitze und den vorderen Teil des harten Gaumens; das Gaumenthor be­ steht aus der Zungenwurzel einerseits und dem weichen Gaumen oder der Kehle anderseits. An jedem dieser drei Thore kann der Luststrom eine ganze Reihe von Lauten hervorbringen; je nach ihrem Ent­ stehungsorte sind sie dann Lippenlaute (labiales): b, p, f, w, m, oder Zungenlaute (linguales): t, d, s (hart), s (weich), sch, 1, r, n oder Gaumenlaute (gutturales): k, g, ch, h, j, ng. Geistbeck, Elemente der wissensch. Gramm.

2

18

Erster Teil:

Lautlehre.

In folgender, Blatz entnommener Tabelle sind beide Eintetlungsarten verbunden.

Lippen­ laute (labiales)

I. Momentane Konsonanten mutae

1. harte (tenues)

p

t (th)

k (c, q)

2. weiche (mediae)

b

d

g

1. Reibe­ a. harte laute (spirantes) b. weiche

n. DauerKonsonanten continuae

Zungen­ Gaumen­ laute laute (linguales) (gutturales)

2.Schmelz- a. eigentliche Liquida laute b. Nasale (liquidae) Liquida i

f (v, pH) s(t)art)sch w

8 (weich)

ch

j, h

1, r

m

n

ng

Anmerkung. Aspiraten (aspiratae) wie im Griechischen cp (ph), y_ (ch), S (tb , die zu den momentanen Lauten gehören, also wie aspirierte Muten ausgesprochen werden, gibt es im Hochdeutschen nicht; ihre Stelle vertreten die scharfen Spi­ ranten, zu denen auch der zusammengesetzte Laut z ts) gehört. Wohl Hai man früher die deutschen Lautzeichen pH, th und ch Aspiraten genannt, da sie wie die griechischen Aspiraten aus der Verbindung der drei tenues p, t und k mit dem Hauch­ laute h bestehen. Es besteht aber nunmehr kein Zweifel darüber, daß das hoch­ deutsche PH der einfache F-Laut, das th der einfache T-Laut und das ch ein scharfer Spirant ist.

in. Veränderungen der Konsonanten. Wie bei den Vokalen, so sind auch bei den Konsonanten gesetzmäßige oder organische und regellose (vereinzelte) oder unorganische Veränderungen zu unterscheiden. Die bedeutendsten organischen Veränderungen sind: die Lautverschiebung, der Anlautwechsel, der Auslautwechsel, die Assimilation und der sog. grammatische Wechsel.

A.

Organische Veränderungen.

1. Die Lautverschiebung, a. Begriff. Die Lautverschiebung ist der regelmäßige Übergang der Mutä in andere Mutä desselben

Organes. b. Gesetz. Das einfache Gesetz dieses von dem Dänen Rast geahnten, von Jakob Grimm entdeckten Vorganges ist: die Media wird zur Tennis, die Tennis zur Aspirata, die Aspirata zur Media; oder

Ziveites Kapitel:

mit Tenuis angefangen:

19

Die Konsonanten.

die Tennis wird Aspirata, die Aspirata wird

Media, die Media wird Tenuis; oder drittens: die Aspirata wird Media, die Media Tenuis, die Tenuis Aspirata.

c. Wirksamkeit dieses Gesetzes in der deutschen Sprache. Bei der deutschen Zunge ist dieses Gesetz in einem zweimaligen Ansatz durchgedrungen; gegenüber dem Sanskrit, Griechischen, Lateinischen und

Slavischen rc ist das Gotische, Nordische und Niederdeutsche auf eine

Stufe vorgerückt, im Vergleich mit diesen Sprachen ebenso das Ahd. auf eine zweite, auf der im ganzen auch das Mhd. und Nhd. steht.

Hiezu ist noch zu bemerken, daß, mit Ausnahme der got. und niederd. Aspirata th, den germanischen Sprachen wie auch dem Lateini­

schen eigentliche Aspiratä fehlen.

Vom Hochdeutschen wurde das schon

Diese fehlenden Aspiraten werden vertreten durch die scharfen Spiranten: ph = f, ch = got. h, ahd. spirans ch, th wird hochdeutsch erwährrt.

zu z, das bald einen härteren (z), bald einen weicheren Laut (5) hat.

Beispiele:

1. med.,

ten., aspirata (spirans) Gotisch. Ahd. laufan hlaupan labi reiks richi regnum tamjan zeman damän domäre aspirata (spirans), media. 2. len., thanjan denjan teinein töndere ubar ufar super hyper hörn haurn cornu köras med., tenuis. 3. aspirata (spirans), brothar phrater frater pruodar — kans gans eben — situ sidus ethos Griechisch, Lateinisch.

Nhd.

laufen Reich zähmen

dehnen über

Horn

Bruder

Gans Sitte.

Anmerkung 1. Das h in haurn bleibt durch alle germanischen Sprachen, weil mit dem Übertritte zu h, das ja nicht die Aspirata zu k, sondern die scharfe Spirans ist, die einzuschlagende Bahn verlassen wird. Anmerkung 2. Das Gesetz der Lautverschiebung findet im allgemeinen auf die Konsonanten des An-, In- und Auslautes Anwendung. Am reinlichsten prägt es sich bei den Anlauten aus, weniger durchgreifend bei den Inlauten und in noch beschränkterer Weise bei den Auslauten.

d. Zeil des Eintrittes der germanischen Lautverschiebung.

Hierüber ist folgendes zu bemerken:

£ie erste Lautverschiebung tritt

schon im Urdeutschen auf; ja es ist wahrscheinlich, daß die germanische Konsonantenverschiebung einen wesentlichen Akt der Trennung des Ger2*

Erster Teil: Lautlehre.

20

manischen vom Slavischen darstellt und mit dieser Trennung ihren Ab­ schluß gefunden hat.

Die zweite oder hochdeutsche Lautverschiebung

fällt in die merowingische Periode und ging von den Alemannen aus.

Die Niederfranken wurden von der Bewegung nicht mehr erreicht, ebenso­ wenig Friesen und Sachsen, kurz Niederdeutschland.

Mit dem 10. Jahr­

hundert hat die ganze Bewegung ihr Ende erreicht. e. Grund der hochdeutschen Lautverschiebung. Dieser wird von dem Germanisten Scherer in der Vernachlässigung der Konsonanten

gegenüber den Vokalen gesucht.

Und in der That scheint es, daß man

in früherer Zeit vor allem den Vokalklang verlangte, sich daran ergötzte,

während alles andere gleichgültig war; denn die ältere deutsche Sprache

legt auf die Reinheit der Vokale das größte Gewicht; wie reine Vokale bietet z. B. noch das Ahd.! — Wo diese Reinheit der Vokale aufgegeben

wird, da hört auch die Lautverschiebung im großen und ganzen in ihrer

Konsequenz auf.

2. Der Anlautwechsel.

Die Konsonantenverbindungen sl, sn,

sm und sw des Anlautes gehen nhd. über in: schl, schn, schm und schw;

z. B. slagen wird schlagen, sniden wird schneiden, smelzen schmelzen, swimmen schwimmen.

Nur sp und st bleiben erhalten, werden aber

wie schp und scht im Anlaut gesprochen. 3. Der Auslautwechsel.

Bezüglich

des

regelmäßigen

Kon­

sonantenwechsels des Auslautes gelten folgende zwei Gesetze:

a. Am Ende der Silbe wird jeder P-Laut mit folgendem T-Laut in ft, jeder T-Laut mit folgendem T-Laut in st und jeder K-Laut mit

folgendem T-Laut in cht verwandelt; z. B. Trift (statt Tribt von treiben),

Gift (geben), Last (statt Ladt von laden), Tracht (statt Tragt von tragen),

Wucht (wiegen). b. Der Deutsche vermag im Auslaut keine Media auszusprechen; es geht deshalb die Media des Inlautes, wenn sie in den Aus­ laut zu stehen kommt, in die verwandte Tennis über; doch wird dieser

Lautwechsel in der nhd. Schreibung nicht angezeigt; z. B. Weib (ge­

sprochen Weip), Lied (gespr. Liet), Tag (gespr. Tak). Die mhd. Schreib­ weise entspricht hierin vollständig der Aussprache; z. B. tac—tages,

wip—wibes, liet—liedes. 4. Assimilation,

a. Begriff.

Die Angleichung oder As­

similation der Konsonanten besteht darin, daß zwei aufeinanderfolgende Konsonanten

einander

gleich

oder

doch

ähnlich

gemacht

werden;

a. beide Konsonanten werden einander gleich gemacht: Hoffart, mhd. hochvart, Lamm, mhd. lamb, krumm, mhd. crump; — ß. beide Konsonanten werden einander angenähert: Imbiß, mhd. inbij, empor, mhd. enbor.

Zweites Kapitel:

Tie Konsonanten.

21

b. Ursache der konsonantischen Assimilation. Sie ist die­ selbe wie die der vokalischen, nämlich das Streben nach Erleichterung

der Aussprache. 5. Der grammatische Wechsel. Man versteht darunter den Wechsel zwischen h und g, zwischen d und t, zwischen f und b und zwischen s und r in der Flexion und Wortbildung von demselben Stamme; z. B. ich ziehe — gezogen; sieden — gesotten; frieren — Frost; Hof — hübsch. Anmerkung.

Man nennt diese Lautändcrung nach ihrem Entdecker Berner

den Bevncrschcn grammatischen Wechsel.

B. Unorganische Veränderungen. Beispiele unorganischer Konsonantenveränderungen sind: а. Konsonanten wechseln und gehen in einander über:

I. Schmelzlaute (liquidae). 1. l wechselt mit r: Marmel für Marmor, Tölpel (dörper — Dorf­ bewohner), Pflaume, lat. prunum. 2. l entsteht aus u: Orgel aus urganon, Esel aus äsinus. 3. n entsteht aus l: Knoblauch (— Kloblauch vom mhd. klieben = spalten). 4. n entsteht aus m: Besen, mhd. beseme, Heinrich für Heimrich, Zunft, mhd. zürnst. 5. r iteht für s: frieren, mhd. vriesen, verlieren, mhd. Verliesen.

II. Lippenlaute (labiales). 1. b steht für ro: gelb, mhd. gel, Gen. gelwes, albern, mhd. alwaere. 2. b wechselt mit f: Haber und Hafer, schnauben und schnaufen. 3. b aus p, in Fremdwörtern, inlautend: Probst, lat. propösitus = der Vorgesetzte, Pöbel vom lat. populus — das Volk. 4. p für b: Pracht (breche), empor, mhd. bern — tragen. 5. pp Nebenform von b nach kurzen Vokalen: Knappe (Knabe), Rappe (Rabe), Treppe (traben). б. pf steht als verstärktes f: schlüpfen, mhd. sliefen, Schöpfer (schaffe,). 7. f und v wechseln: füllen, voll.

III. Zungenlaute (linguales). 1. d steht für t: dauern, mhd. tauern. 2. t steht für d: Ton, mhd. den.

Erster Teil:

22

Lautlehre.

3. sch steht für s oder z: Kirsche, mhd. kirse, falsch, mhd. vals,

Hirsch, mhd. hirz.

4. s für ß: das statt daß, bitteres statt bittereß. 5. z steht für t: Geiz, mhd. git, oder für ß: reizen (reißen).

IV. Gaumenlaute (gutturales). 1. g steht für ch: Werg, mhd. werich; für j: Ferge, ahd. feijan

--- fahren, Scherge, ahd. scarjo. 2. h steht für w, g, j:

Ehe, ahd. ewa, Geweih, mhd. gewige,

mähen, mhd. maejen. 3. ch steht für f und h: Nichte, mhd. niftel, Gerücht, mhd. genieste, Macht, mhd. mäht, Wachs, mhd. wahs. 4. ch wechselt mit ck: wach — wacker — wecken; Loch — Lücke —

locker.

5. j steht für i: je, mhd. ie, jemand, mhd. ieman, oder wechselt

mit g: jäten — gäten, jähe — gähe. b. Konsonanten fallen weg: König, ahd. chuninc, Ekel, mhd.

erkel, Köder, mhd. kerder — Regenwurm. c. Laute werden umgestellt: Ähre für Äher, befehlen, mhd. bevelhen, Knospe für Knopfe, Born für Bronn, Brunnen, Bernstein

für Brennstein.

d. Konsonanten werden hinzugefügt: am Anfang des Wortes

in heischen, mhd. eischen; in der Mitte in Leinwand, mhd. linwät, An­ kunft, entzwei, ordentlich, meinethalben; am Ende des Wortes in Obst,

mhd. obej, niemand, jemand, mhd. nieman, ieman, albern, mhd. alber; auch mundartlich: anderst für anders, Leicht für Leiche u. s. w.

IV. Ausgleichung der Laute, a. Wesen der lautlichen Aus­ gleichung. Dieses besteht darin, daß zwischen Formen, welche einander durch Flexion oder Wortbildung nahe stehen, eine lautliche Überein­

stimmung, d. h. Ausgleichung erzeugt wird; z. B. ich sah ist gebildet nach wir sähen aus ich sach, golden ist gebildet nach Gold

aus

güldin. b. Grund der Ausgleichung.

Als solcher ist die Analogie

zu bezeichnen, deren Wirken darin sich äußert, daß Sprachformen mit ihnen nahe liegenden andern Sprachformen in unbewußte Verbindung

gebracht und von diesen letzteren lautlich umgestaltet werden.

Man

nennt daher die auf diesem Wege gebildeten Sprachformen auch Ana­

logiebildungen. c. Arten der lautlichen Ausgleichung.

Es gibt eine voka­

lische und eine konsonantische Lautausgleichung.

Beispiele vokali­

scher Ausgleichung sind: ich sang, wir sangen (mhd. ich sanc, wir

Zweites Kapitel: Anhang.

23

sungen); der Plural ist hier dem Singular nachgebildet; Kühnheit (mhd. kuonheit) hat sich nach kühn (küene) geändert; ich wärmte ist durch

Einwirkung von wärmen aus ich wärmte entstanden. — Beispiele konsonantischer Ausgleichung: der sog. grammatische Wechsel ist aus­

geglichen, z. B. ich war (mhd. was) nach dem Plural wir waren (wären) ; ich gedeihe (dihe), gediehen (gedigen); ich schlage (slahe), geschlagen,

(geslagen).

Der

alte Wechsel von h in ch wird häufig zu gunsten

von h ausgeglichen, z. B. rauh (rüch, rüher) u. s. w. Anmerkung 1. Die hier in Betracht gezogene Ausgleichung vollzieht sich zwischen verschiedenen Formen eines und desselben Wortes oder zwischen verschiede­ nen, aus der gleichen Wurzel oder dem gleichen Stamm abgeleiteten Wörtern. Man nennt diese Art der Ausgleichung auch die stoffliche Ausgleichung. — Eine an­ dere Art von Ausgleichung ist jene, die zwischen den entsprechenden Formen verschie­ dener Wörter oder zwischen den entsprechenden Bildungen aus verschiedenen Wurzeln oder Stämmen sich vollzieht. Sie heißt die formale Ausgleichung. Manche Verba z. B., die früher stark beugten, gehen jetzt schwach, so bellen, mahlen. Eine formale Ausgleichung zwischen masculin-neutraler und femininer Deklination liegt vor in den Zusammensetzungen Liebesgram und Geburtstag. Von diesen beiden Arten der Ausgleichung wird später wiederholt die Rede sein. Anmerkung 2. Einzelne Formen haben sich der Wirkung der Analogie ent­ zogen: sie haben deshalb keine Ausgleichung erfahren, sondern ihren alten Laut­ bestand bewahrt: solche Formen nennt man isolierte Formen, z. B. das Adjektiv erhaben blieb erhalten, während das Partizip erhaben zu erhoben geworden ist; so sagt man noch Rauch werk und Sicht, obwohl der alte Wechsel von h in ch meist zu gunsten von h ausgeglichen wurde.

Anhang. A. Die Schrift. 1. Begriff der Schrift.

Die Gesamtheit der in einer Schrift­

sprache verwendeten Zeichen heißt die Schrift derselben.

2. Zweck der Schrift.

Derselbe besteht darin, gedachte oder ge­

sprochene Worte zu fixieren.

3. Schriftarten.

Bei fast allen Naturvölkern ist bereits irgend

eine Form der Mitteilung vorhanden, welche für den Anfang der Schrift

angesprochen werden kann.

Wir begegnen da den Knotenschnüren, Kerb­

hölzern, Botschaftsstäben, sowie sinnbildlichen Mitteilungen verschiedener Art. — Die hier in Betracht kommenden Schriftarten sind folgende:

a. Die Begriffsbilderschrift; sie setzt als Zeichen des Begriffes das Bild des Gegenstandes.

Erster Teil:

24

Lautlehre.

b. Die Wortbilderschrift; sie hat für ein Wort in seinen ver­ schiedenen Bedeutungen immer ein und dasselbe Bild, fügt jedoch ein die spezielle Bedeutung bezeichnendes Hilfsbild bei.

c. Die Silbenschrift; sie gebraucht für jede Silbe ein bestimm­ tes Zeichen.

In den einsilbigen Sprachen, z. B. im Chinesischen, wo

Silbe und Wort sich decken, fällt sie mit der Wortbilderschrift zusammen. Auch hier werden zur Unterscheidung der verschiedenen Bedeutungen der­

selben Silbe Hilfszeichen gesetzt.

Silbenschrift im Gebrauche.

Bei den Chinesen ist noch heute diese

Um die gewöhnlich vorkommenden Wörter

lesen zu können, ist etwa die Kenntnis von 3000 solcher Zeichen nötig.

d. Die Buchstabenschrift; sie ist die vollkommenste aller Schrift­

arten; denn mittels weniger Zeichen können sämtliche Wörter dargestellt werden. Ihre Heimat ist Ägypten; hier lernten sie die Phönizier kennen, und diese haben sie sowohl in den Mittelmeerländern wie in Asten ver­ breitet.

Es ist deshalb das phönizische Alphabet die Grundlage der

vielen Alphabete alter und neuer Zeit. Freilich hat dasselbe im Laufe der Zeit die mannigfachsten Änderungen erfahren. Anmerkung. Der Name „Buchstab", ahd. puoh-stap kommt von ahd. puocha (= Buche) und stap (- Stab) und verdankt seinen Ursprung folgendem Verfahren der alten Germanen: Sie schnitten Stäbe von Baumzweigcn, vornehmlich von Buchcnzwcigen, in kleine Stückchen, ritzten in jedes derselben ein Schriftzeichen, deren jedes eine bestimmte Bedeutung hatte, streuten sie auf den Boden und legten sie dann, so wie'cs der Zufall ergeben hatte, wieder zusammen, um daraus den Willen der Götter zu ersehen.

4. Die deutsche Schrift,

a. Die älteste Schrift der Germanen

war bereits eine Buchstabenschrift und bestand aus den sog. Runen. Anmerkung 1. Der Name „Rune" bedeutet Geheimnis; doch war die Runenschrift kein Geheimnis, sondern ein Gemeingut der Priester, der Volksedeln und vieler Frauen. Geheimnisvoll war nur ihre Verwendung; sie diente nämlich zu Zauber und Weissagung. Anmerkung 2. Das zum Schreiben verwandte Material waren Holz, Steine und andere feste Körper; auf solches Material konnte manSchriftzcichen nicht schreiben, sondern nur reißen (got. vrcitan). Der Ausdruck „schreiben" (von lat. scribere) wurde erst seit Einführung der lateinischen Schrift üblich. Die englische Sprache hat in write (gespr. reit) den altgermanischcn Ausdruck für schreiben erhalten.

b. Die aus dem Heidentum stammende und mit vielem heidnischen Aberglauben verflochtene Runenschrift schien dem gotischen Bischof 111« philas (t 381 n. Chr.) zur Übersetzung der Bibel nicht geeignet; er schuf

daher unter Anlehnung an die griechische Schrift ein neues Alphabet:

das gotische.

Mit dem Untergange der gotischen Sprache verschwand

auch die gotische Schrift.

Zweites Kapitel: Anhang.

25

c. Bei den Franken kam mit der Einführung des römischen Chri­ stentums auch die römische oder lateinische Schrift in Aufnahme;

sic hat die alten Runen verdrängt und wurde bei sämtlichen deutschen Stämmen üblich.

d. Die runden lateinischen Schriftzüge wurden seit dem 13. Jahr­ hundert gleichsam „gebrochen," und cs entstand allmählich die sog. Frak­ turschrift.

Derselben bedienten sich übrigens nicht bloß die Deutschen,

sondern alle Völker, bei welchen die lateinische Schrift verwendet wurde.

Auch in der Buchdruckcrkunst war dieselbe in den ersten Zeiten allge­ Seit den letzten Dezennien des 16. Jahrhunderts

mein gebräuchlich.

ist sie jedoch bei den meisten Nationen Europas den runden lateinischen

Buchstaben wieder gewichen, nur in Deutschland blieb sie als Druck­ schrift, die sich dann im Schreiben zur Kurrentschrift vereinfachte,

bestehen.

Diese Frakturschrift nennen wir die deutsche Schrift.

B.

Geschichte der Orthographie?

Zustände der Orthographie bis zum 16. Jahrhundert.

1.

In der ahd. Sprachperiode verlaufen Schrift und Wort in

gleichem Flusse, indem jeder Schriftsteller seinen Dialekt nach Maßgabe

der vorhandenen Mittel und der eigenen Fähigkeit durch die Schrift

möglichst genau wiederzugeben suchte. 2. In der mhd. Zeit gelangte der schwäbische Dialekt über die

anderen zur Herrschaft.

Von ihm bietet uns die Schrift in den mhd.

Denkmälern ein ziemlich treues Abbild; die Schreibweise entspricht der

Aussprache. 3. Im 14. Jahrhundert zerfiel bekanntlich die schwäbische Mundart

mit der Litteratur; die Dialekte fluteten wild durcheinander, und die

Sprache verwilderte.

Die Folge davon war, daß eine gleiche Verwilde­

rung auch in die Schreibweise einriß.

Der Schreibende war nur mehr

dafür ängstlich besorgt, durch Zusammenjochung möglichst vieler Kon­ sonanten die einzelnen Wörter mit schwerem Ballaste zu versehen und

die ff, ss, tt, dt recht zierlich zu schnörkcln.

Ihren Höhepunkt erreicht

diese mit dem 14. Jahrhundert einbrechende Verwilderung im 15. Jahr-

1 Dieser Abschnitt ist größtenteils ein Auszug aus Linnigs Bildern zur Ge­ schichte der deutschen Sprache (Paderborn, Schöningh, 1881) und Michelcrs Ab­ handlung „die wichtigsten Grundsätze und Bestrebungen auf dem Gebiete der neu­ hochdeutschen Orthographie" in den Blättern für das Bayerische Gymnasial- u. Real­ schulwesen, 16. Bd. (München 1880, Lindaucrschc Buchhandlung).

Erster Teil: Lamlehre.

26

hundert, wie man an folgendem, noch keineswegs schlimmsten Pröbchen

aus Sebastian Brants Narrenschiff von 1495 ersehen mag: „Der ist jnn narrhcit gantz erblyndt, der nit mag acht Han, das sin kindt mit züchten werten underwyßt und er sich sunders dar uff flhßt das er sie laß jrr gan on straff."

Das 16. Jahrhundert.

1. Mit der Reformation brach sich eine besondere Schriftsprache

Bahn, die einen Dialekt um den anderen aus der Litteratur verdrängte.

Mit der Orthographie wurde es aber trotzdem nicht besser.

Vielmehr

wurden von den Schöpfern und Verbreitern der neuen Schriftsprache

alle bestehenden Schreibmißbräuche mit ausgenommen und der neuen Sprache als Geburtsmale ausgeprägt, die Jahrhunderte nicht zu ver­

wischen imstande waren.

Luther selbst fühlte die Mangelhaftigkeit seiner

Schreibweise sehr wohl und war auf Besserung bedacht; aber auch bei

ihm finden wir oft ein und dasselbe Wort kurz hintereinander auf drei verschiedene Weisen geschrieben, z. B. vil, viel, vihl, ebenso Formen wie dorfften, opffern, yhn, nodt, gutt u. s. w.

In der Anwendung großer

Buchstaben herrscht noch die größte Regellosigkeit; er schreibt:

„Sie

werden deine Söhne und Töchter fressen, Sie werden deine schafe und

rinder verschlingen" u. s. w. 2. Dieser chaotische Zustand der Orthographie rief endlich die ersten

Versuche einer Verbesserung derselben ins Leben. Den Ruhm, der erste

zu sein, welcher in hochdeutscher Sprache die deutsche Orthographie auf

systematische Weise behandelte, hat Johannes Kolroß in Basel, dessen „Enchiridion" schon 1529 gedruckt erschien.

1531 folgte Val. Jckel-

samers Grammatik, die aber weit weniger eine Grammatik als eine Anleitung zum Lesenlernen und zur deutschen Orthographie ist. In dem

gleichen Jahre gab

Fabian

Frangk in seinem

Werke

„Teutscher

Sprach Art und Eigenschafft" der Meinung Ausdruck, daß die Schwierig­

keiten der Orthographie nur dann zu lösen seien, wenn die nhd. Schrift­ sprache wieder Sprechsprache geworden sei, b. h. der Grundsatz: „schreibe,

wie du sprichst" wieder anwendbar sei.

Um zu diesem Resultate zu ge­

langen, gibt er den Rat, überall herum zu horchen, vor allem aber an

gute Schriftwerke und Drucke sich zu halten, dann werde man recht­ förmig deutsch reden und schreiben lernen.

Aber all diese Bestrebungen,

die orthographischen Zustände zu bessern, waren ebenso erfolglos wie die Bemühungen eines Heinrich Wolf (de orthographia germanica 1556) und eines Sebastian Helber (Deutsches Syllabierbüchlein 1593).

Zweites Kapitel: Anhang.

27

Das 17. Jahrhundert.

1. Unter den Männern, die im 17. Jahrhundert sich der Verbesserung der Orthographie annahmen, sind zu erwähnen I. G. Schottel und Kaspar Stieler. — Nach Schottel soll „so wol ein jeder Buchstab nach seiner eigentlichen Deutung, und am recht-gehörigen Orte geschrieben,

als auch sonst ein jedes Wort mit seinen eigentlichen Buchstaben, und

mit derselben keinem zu wenig oder zu viel verfasst werden." Er ver­ kennt jedoch die Schwierigkeit nicht, welche die verschiedene Aussprache seiner Regel bereitet. Er schränkt sie daher ein mit den Worten: „weil

aber unsere Teutsche Muttersprache auf so mancherley Art ausgesprochen wird und in so viele Mundarte geteihlet ist, daß nach der gantz unge­ wissen Ausrede keine rechte durchgehende Rechtschreibung wird können

aufgebracht werden, also muß der gut angenommene Gebrauch, und die

Grundrichtigkeit der Sprache den besten Einraht geben."

An den Be­

stand einer über den Dialekten stehenden Gesamtaussprache der Gebil­

Im ganzen hat Schottel in seiner Schreibung schon eine ziemliche Ordnung. Besonders befremdlich er­

deten glaubte er demnach nicht.

scheint uns seine Verwendung des dehnenden „h", welches nach ihm

hinter

den Selbstlaut

gesetzt werden

muß;

er schreibt daher Roht,

Muht u. s. w.

1. Kaspar Stieler trat 1691 in seinem deutschen Sprachschatz gegen die noch immer bestehende Regellosigkeit auf. Dieser „fladernde" Wankel­

mut müsse, sagt er, von der Schrift entfernt werden, wofern wir Hoch­

deutsche nicht das allerelendeste unter allen Völkern der Welt sein und von den Ausländern für „tumme", unbeholfene Klötze wollen verrufen werden. Demnach war man auch gegen Ende des 17. Jahrhunderts nicht

sehr viel weiter gekommen als im 16. Jahrhundert.

Das 18. Jahrhundert.

1. Am Anfänge des 18. Jahrhunderts (1728) erschien von Hiero­ nymus Freyer in Halle eine „Anleitung zur teutschen Orthographie". Diese Arbeit ist so recht aus einem praktischen Bedürfnis hervorgegangen. Freyer hatte nämlich vom Direktor der Halleschen Schulanstalten, Francke,

den Auftrag erhallen, „etwas aufzusetzen, worauf die Jugend von ihren sämtlichen Vorgesetzten gewiesen werden könne."

Im übrigen fällt an

dessen Orthographie außer der öfteren Verwendung der KonsonantenGemination (auch nach langen Vokalen, Diphthongen und Konsonanten,

wie in rusfe, Täuffcr, wircken, Hertz) nicht viel auf.

28

Erster Teil:

Lautlehre.

2. Als der eigentliche Begründer der im wesentlichen bis auf unsere

Zeit geltenden deutschen Orthographie ist Gottsched anzusehen.

Mit

dem Erscheinen seiner Deutschen Sprachkunst (1. Ausl. 1748) tritt ein Wendepunkt in der Geschichte der Orthographie ein, und es ist ein

nicht hoch genug zu schätzendes Verdienst des oft verkannten Mannes,

daß er die besten Schreibweisen seiner Zeit sammelte, dieselben auf be­

stimmte Regeln stützte und zu einem Systeme vereinigte, dem er ver­ möge seines allgewaltigen Einflusses und durch die Entschiedenheit, mit der er seine Gesetze aufstellte, allgemeine Verbreitung und Anerkennung

zu verschaffen wußte. — Von seinen Grundsätzen, über welchen das bis heute fortbestehende Schreibgebäude errichtet ist, war das Funda­

mentalprinzip:

„Schreib, wie du sprichst", oder wie Gottsched es aus­

drückt: „Schreib jede Silbe mit solchen Buchstaben, die du in der guten

Aussprache deutlich hörest." Indes erwies sich dieser Grundsatz bei der großen Verschiedenheit, die selbst bezüglich der Aussprache des schriftgemäßen Hochdeutsch in den verschiedenen Teilen Deutschlands bestand, als nicht ausreichend.

Der

nächste Notanker, nach dem man griff, war die Etymologie; auf sie baut denn auch Gottsched die zweite seiner acht Hauptregeln: „Alle Stamm­

buchstaben, die den Wurzelwörtern eigen sind, müssen in allen abge­ leiteten beibehalten werden."

Ein wie gefährliches Feld aber die Ety­

mologie für unsere alten Sprachkünstler war, wird man aus den Bei­ spielen erkennen, die Gottsched seiner Regel beigibt: „Weil also Fessel

von fassen, das Heucheln von hauchen, das Schmeicheln von schmauchen, der Knebelbart vom Knabenbarte, das Spritzen vom Sprühen herkommt, so kann und soll man Fässel, häucheln, schmäucheln, Knäbelbart, sprützen rc

schreiben."

Weitere Regeln verlangen Berücksichtigung des seit undenk­

lichen Zeiten eingeführten allgemeinen Gebrauchs und Berücksichtigung

der Analogie.

Allein trotz der von Gottsched aufgestellten Grundsätze

blieb für den einzelnen Fall die Möglichkeit bestehen, daß keine der Vor­ schriften zur Entscheidung ausreichte, während anderseits der Schreibende

ebenso häufig im Zweifel sein konnte, welcher von den aufgestellten Grund­

sätzen jedesmal maßgebend sei. Gottscheds großes Verdienst besteht darin, daß er den bis auf den heutigen Tag von fast niemanden angefochtenen Vorschriften Geltung

verschaffte, nach langem Vokal und nach einem Konsonanten den folgen­ den Konsonanten nur einfach, nach kurzem Vokal den folgenden Mitlaut doppelt zu schreiben. Dagegen leistete er der Orthographie einen schlech­ ten Dienst, indem er dem schon früher vertretenen Grundsatz, verschiedene

Begriffe, wenn sie auch gleich lauten, verschieden zu schreiben, zu großem Ansehen verhalf.

Zweites jtapitel: Anhang.

29

3. Seinen vollständigen inneren Ausbau und äußeren Verputz hat Gottscheds orthographisches Lehrgebäude durch Adelung (t 1808) er­ halten ; nicht aber ist dieser, wie oft behauptet worden, der Begründer

der bis jetzt geltenden Orthographie. — Adelung ließ das Prinzip der Analogie ganz fallen, das der Etymologie und des allgemeinen Ge­ brauchs beschränkte er, suchte dagegen den Hauptsatz: Schreib, wie du sprichst,

näher zu bestimmen, damit er in allen Fällen sicher leiten könne. Dieser Hauptsatz lautet nach ihm vollständig also:

„Man schreibe das Deutsche

mit den eingeführten Schriftzcichen, so wie man spricht, der allgemeinen besten Aussprache gemäß, mit Beobachtung der erweislichen nächsten

Abstammung und des

allgemeinen Gebrauchs."

Mit dieser näheren

Bestimmung des phonetischen Hauptsatzes hat Adelung das Fundamental­

gesetz für die Schreibung des Nhd. festgestellt und, indem er demselben als Stütze beifügte:

„mit Beobachtung der erweislichen nächsten Ab­

stammung und des allgemeinen Gebrauchs", in konsequenter und um­

sichtiger Anwendung dieser Grundsätze endlich den bisherigen Schwan­ kungen Halt und Stillstand geboten.

Von Adelungs Schreibung gingen auch, um das gleich hier zu er­ wähnen, die zwei späteren, sehr einflußreichen Grammatiker, Heyse und Becker, nicht ab. Nur in einem Punkte betrat Heyse einen von Ade­ lung abweichenden Weg,

S-Laute.

nämlich in Bezug auf die Schreibung der

Adelung befolgte den schon von Gottsched angenommenen

Grundsatz, daß der harte S-Laut nach langen Silben, vor Konsonanten

und als Auslaut durch ß, im Inlaut nach kurzen Silben zwischen zwei Vokalen durch ff ausgedrückt werde (beißen, häßlich, Fluß, fassen). Da aber diese Schreibung gegen den sonst durchgeführten Grundsatz verstieß, nach kurzem Vokal Verdoppelung des Konsonanten eintreten zu lassen,

so nahm Heyse den schon von anderen dnrchgcführten Grundsatz an, daß nach kurzem Vokal die Verdoppelung des S-Lautes auch vor Kon­ sonanten und im Auslaute einzutreten habe; doch sei in diesem Falle

fä’ff (Fluss, aber Fuß, heißt, aber hasst oder hasst). 4. Diese naturgemäße Entwicklung der deutschen Rechtschreibung

wollte Klopstock mit Gewalt durchbrechen.

Ihm ist der Zweck der

Rechtschreibung, das Gehörte der guten Aussprache nach den Regeln der Sparsamkeit zu schreiben; dabei dürfe kein Laut mehr als ein Zeichen und kein Zeichen mehr als einen Laut haben,

x, z und allenfalls q

will er als Schreibverkürzungen für zwei Laute noch gelten lassen. Klopstock sieht wohl ein, daß seine Regel verlangt, „fliz" (flieht's),

„Lichz" (Licht's), „Glüx" (Glück's) zu schreiben; zunächst aber sieht er von dieser Änderung ab, die er allerdings später ausdrücklich für zu­

lässig erklärte.

Zwischen f und v soll der Schreiber wählen und auch

Erster Teil:

30

Lautlehre.

die auslautende Media soll hingehen dürfen u. s. ro.

Das deutsche Volk

wollte freilich von diesen Neuerungen ebenso wenig wissen, wie von Chr. H. Wolkes Reformversuchen. Das 19. Jahrhundert.

1. Die folgenden orthographischen Streitigkeiten stehen tn Zusammen­

hang mit den Forschungen Jakob Grimms, des Schöpfers der histo­ rischen Grammatik.

Ohne es zu wollen und zu beabsichtigen, deckte die

historische Grammatik an dem bisherigen Schreibsysteme eine große Zahl von Mängeln und Gebrechen auf.

Hiedurch wurde der

alte Damm

der Autorität eingerissen, der Glaube an die Vollkommenheit des Usus erschüttert, und je länger, je mehr verbreitete sich die Überzeugung, daß

die Aufrechthaltung der alten Schreibweise auf die Dauer eine Un­ möglichkeit

sei.

Grimm selbst

hat die Konsequenzen

seiner

Lehren

für die deutsche Orthographie nicht gezogen, obwohl er mit der bestehen­ den Orthographie unzufrieden war.

Er wollte wohl Neuerungen und

Vereinfachungen, aber er sah ein, daß „verjährte Mißgriffe" sich nicht

so leicht entfernen lassen.

Für

wünschenswert und

ausführbar hielt

Grimm folgende Reformen: Verbannung der dehnenden „h" und „ie;" Beibehaltung der organischen; Verwerfung der Vokalgemination; Bei­ behaltung der die Kürze des Vokals anzeigenden Konsonantengemination.

Allein seine orthographischen Neuerungen, so auch die Verwendung latei­ nischer Lettern und kleiner Anfangsbuchstaben (der sog. Minuskeln) bei

solchen Substantiven, die nicht Eigennamen sind, wurden bei den meisten seiner Zeitgenossen sehr kühl ausgenommen. Nicht nur der große Haufe wollte von solchen Änderungen nichts wissen, selbst Gelehrte verhielten

sich ablehnend. Anmerkung. Im Mhd. wurden große Anfangsbuchstaben nur da verwendet, wo dem Schreiber eine zierliche Majuskel, ein kunstvolles Miniaturbild eine Zierde zu sein schien, und dies war gemeinhin am Anfang der Strophen oder größerer Absätze und bei den Eigennamen der Fall. In der Zeit der allgemeinen Schreib­

verwirrung des 15. und 16. Jahrhunderts fing man an, außer Eigennamen und Redeanfängen auch solche Wörter groß zu schreiben, die man mit besonderer Achtung aussprach, z. B. den Namen Gottes, Standes- und Würdenamen rc. Luther verfuhr noch ohne bestimmtes Prinzip. Der Gebrauch, alle Substantiva und substantivisch gebrauchten Wörter groß zu schreiben, kam erst gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Schwung, wurde dann durch die Grammatiker des 17. Jahrhunderts mehr und mehr ausgebildet und verbreitet und endlich durch Gottsched und Adelung zum unumstößlichen Gesetze erhoben.

2. 1848 erschien das Programm des Nassauischen Realgymnasiums von PH. Wackernagel.

Die Schrift ist mit deutschen Lettern gedruckt,

obwohl er zum Aufgeben derselben bereit wäre.

Für ß setzt er z, und

Zweites Kapitel: Anhang.

31

für z benützt er das „von guter Hand aufgekommene tz", selbst im An­ laut.

Bezüglich der Vokale schreibt er so, wie dieselben Ende des 15.

oder anfangs des 16. Jahrh, in Eßlingen oder Augsburg hätten ge­

schrieben werden können. er freilich selbst nicht.

An einen baldigen Sieg seiner Sache glaubte

„Ez wird mir niemand die absicht tzutrauen,"

sagt er, „diese orthographie

tzur Nachahmung empfehlen tzu wollen;

wie thöricht wäre ez von jedem, der aine enderung des bestehenden wünscht, ainen so unwirksamen Angriff auf dasselbe zu machen." 3. Noch stärker als Wackernagcls Arbeit rüttelte an dem ganzen

Bau der deutschen Orthographie die 1852 erschienene Schrift Karl

Weinholds.

Keiner vor ihm hat so deutlich ausgesprochen, was die

historische Schule anstrebt.

Die Forderung der Beseitigung der Vokal­

gemination und der dehnenden „h" und „ie" wiederholt er; er verlangt ferner Beseitigung des ä in Wörtern, deren e-Laut durch Brechung

aus i entstanden ist, Beseitigung des ü, welches durch den Einfluß einstellte (Wirde, giltig), Beseitigung des ö,

einer Liquida statt i sich

das statt des richtigen e eingedrungen (Helle, b er rett); Beseitigung des ai neben ei.

Im Auslaut verlangt er die Tenuis, das th soll dem

t Platz machen; die Majuskel will er beschränkt wissen u. s. w.

Diese Aufstellungen brachten eine ungeheure Aufregung hervor, namentlich C. Möller trat 1853 für die historische Schreibung mit großer Ent­ schiedenheit in die Schranken.

4. 1855 mischt sich Rudolf v. Raumer in die Bewegung, der,

obwohl selbst der historischen Schule angehörig, dennoch die Bestrebungen der Historiker auf dem Gebiete der Rechtschreibung bekämpfte. Er weist die Weinholdschen Aufstellungen prinzipiell als unhaltbar zurück, weil

sie nicht eine Verbesserung der deutschen Rechtschreibung, sondern eine fundamentale Umgestaltung unserer seit mehr als hundert Jahren fest­ gesetzten deutschen Schriftsprache bedeuten. Ferner deckt Raumer die vielfach bis auf den heutigen Tag fortdauernde Begriffsverwirrung über

historische Schreibung auf und zeigt, daß historische Schreibung der Engländer nnd Franzosen etwas ganz anderes sei, als die historische Schule beabsichtige.

Die Engländer schreiben in dem Sinne historisch,

als sie den Lautstand bei veränderter Aussprache gelassen haben.

Eine

solche Schreibung einzuführen, wäre geradezu ein Ding der Unmöglich­ Unsere Historiker dagegen wollen den Lautstand in der Weise ändern, daß er den Lautwandlungsgesetzen entspricht, und diesem ver­ keit.

änderten Laute hätte sich dann die veränderte Aussprache anzuschließen.

Mit dieser Forderung, sagt Raumer, sei es aber nichts; denn die Sprache durchbreche zu oft ihre Gesetze; kein Mensch hätte, wenn er auch mit Grimms

Sprachkenntnissen und Aristoteles' Scharfsinn ausgestattet gewesen wäre,

Erster Teil:

32

aus der Sprache eines Wolfram

Lautlehre.

von Eschenbach

die Luthers oder

Lessings konstruieren können; wir müssen uns an die Beobachtung der wirklichen Entwicklung halten.

Bei R. v. Raumer gelten die

alten

Grundsätze aller früheren deutschen Grammatiker wieder; es sei an das

Bestehende anzuknüpfen und nur, wo zwiespältige Laute vorhanden seien,

habe die Sprachgeschichte oder Analogie zu entscheiden; v. Raumer wollte

demnach keine konsequente Durchführung der phonetisch eil Schreibweise, d. h. jener Schreibweise, die ausschließlich der Aussprache folgt, sondern

nur ein Fortbauen auf dem Boden des Gegebenen; er hieß deshalb sein Prinzip das historisch-phonetische.

5.

Die v. Raumerschen Grundsätze

wirkten besonders

auf die

Lehrerkorporationen mächtig, welche einsahen, daß etwas geschehen müsse,

um der Verwirrung und Unsicherheit in der Schule Einhalt zu thun. Mehr und mehr verloren seit v. Räumers Auftreten die Historiker an Boden, und durch die Maßregeln, die von der bayerischen Regierung

ausgingen und von den übrigen deutschen Regierungen nachgeahmt wurden, ist die orthographische Frage den v. Raumerschen Grundsätzen gemäß vorrest zum Abschluß gebracht.

Zweiter Teil.

Worlteßre. Erster Abschnitt. Wortformen teHve. Wortarten. Tie Entwickelung der Sprache aus den nackten Wurzelelementen zu höher organisierten Formen ist schon in der indo­ germanischen Ursprache erfolgt.

Adverbien, Präpositionen rc.

Sie kennt bereits

Nomina, Verba,

Die bedeutsamste und wohl auch früheste

That in dieser Beziehung war die Scheidung zwischen Verbum und Nomen. — In unserer Sprache unterscheidet man jetzt bekanntlich zehn

Wortarten.

Dem Urbestande der deutschen Sprache entspricht diese

Einteilung freilich nicht; denn der Artikel war ursprünglich nicht vor­

handen. Wir folgen in der Betrachtung der einzelnen Wortarten der in den Grammatiken üblichen Anordnung.

Erstes Kapitel. Der Artikel. I. Ursprung des Artikels. Der bestimmte Artikel ist seinem Ursprünge nach das in seiner Bedeutung abgeschwächte hinweisende Für­ wort der, die, das; der unbestimmte Artikel ist das abgeschwächte Zahlwort ein, eine, ein.

n. Alter des Artikels.

Geschlecht des Substantivs

Solange die einzelnen Kasus und das

an den Endungen erkannt werden konnten

— und das war in den frühesten Perioden unserer Sprache der Fall —, Geistbeck, Elemente der wissensch. Gramm.

3

Zweiter Teil: Wortlehre.

34

wurde das Bedürfnis des Artikels weniger empfunden.

Als jedoch in

den späteren Phasen der Sprache das Geschlecht und die Beziehungen des Substantivs durch besondere Formen nicht mehr darstellbar waren, wurde

der Artikel ein notwendiges und aushelfendes Formwort.

Das Got.

kennt bereits den bestimmten Artikel, doch fehlt er noch vielfach, wo

er heutzutage stehen muß.

Der unbestimmte Artikel ist noch gar nicht

vorhanden; wo dieser in der jetzigen Sprache gesetzt wird, steht das Substantiv einfach ohne Artikel. Im Ahd. sind bereits beide Artikel üblich, wenn auch in weit geringerer Ausdehnung, als das nunmehr der

Fall ist.

Zweites Lapitel. Das Substantiv. 1.

Das Geschlecht des Substantivs.

1.

Arten des Ge­

schlechtes. Das Geschlecht ist ein natürliches und ein grammatisch es.

Das Geschlecht ist natürlich, wenn ein wirklicher Geschlechtsunterschied

vorhanden ist.

Das grammatische Geschlecht ist eine Schöpfung der

Phantasie; es entsteht, indem die Phantasie den Geschlechtsunterschied

auf alle ihr vorkommenden Wesen überträgt. — Das natürliche Geschlecht

ist ein zweifaches: ein männliches und ein weibliches, das grammatische Geschlecht ist ein dreifaches: ein männliches, ein weibliches und ein

sächliches. 2. Bestimmung des grammatischen Geschlechtes, a. All­ gemeines. Welche Grundsätze hiebei maßgebend gewesen, läßt sich heutzutage nur mehr ganz im allgemeinen angeben. Das Maskulinum scheint das Frühere, Größere, Festere, das Thätige, das Bewegende; das Femininum das Spätere, das Kleinere, Weichere, Stillere, Leidende; das

Neutrum das Erzeugte, Gewirkte, Stoffartige, Unentwickelte, das Allge­ meine, Kollektive zu bezeichnen. — Man vergleiche: der Adler, der Berg,

der Fels, der Wind, der Donner, der Blitz — die Maus, die Lerche,

die Hand, die Feder, die Wolle — das Obst, das Eisen, das Kind, das

Ei, das Holz, das Dutzend rc.

b. Bestimmung

des

Geschlechtes

durch

die Wortform.

Im Verlaufe der Sprachentwickelung wurde das Geschlecht häufig auch durch die Form des Wortes bestimmt.

Je mehr nämlich im Fortgänge

Zweiter Teil: Wortlehre.

34

wurde das Bedürfnis des Artikels weniger empfunden.

Als jedoch in

den späteren Phasen der Sprache das Geschlecht und die Beziehungen des Substantivs durch besondere Formen nicht mehr darstellbar waren, wurde

der Artikel ein notwendiges und aushelfendes Formwort.

Das Got.

kennt bereits den bestimmten Artikel, doch fehlt er noch vielfach, wo

er heutzutage stehen muß.

Der unbestimmte Artikel ist noch gar nicht

vorhanden; wo dieser in der jetzigen Sprache gesetzt wird, steht das Substantiv einfach ohne Artikel. Im Ahd. sind bereits beide Artikel üblich, wenn auch in weit geringerer Ausdehnung, als das nunmehr der

Fall ist.

Zweites Lapitel. Das Substantiv. 1.

Das Geschlecht des Substantivs.

1.

Arten des Ge­

schlechtes. Das Geschlecht ist ein natürliches und ein grammatisch es.

Das Geschlecht ist natürlich, wenn ein wirklicher Geschlechtsunterschied

vorhanden ist.

Das grammatische Geschlecht ist eine Schöpfung der

Phantasie; es entsteht, indem die Phantasie den Geschlechtsunterschied

auf alle ihr vorkommenden Wesen überträgt. — Das natürliche Geschlecht

ist ein zweifaches: ein männliches und ein weibliches, das grammatische Geschlecht ist ein dreifaches: ein männliches, ein weibliches und ein

sächliches. 2. Bestimmung des grammatischen Geschlechtes, a. All­ gemeines. Welche Grundsätze hiebei maßgebend gewesen, läßt sich heutzutage nur mehr ganz im allgemeinen angeben. Das Maskulinum scheint das Frühere, Größere, Festere, das Thätige, das Bewegende; das Femininum das Spätere, das Kleinere, Weichere, Stillere, Leidende; das

Neutrum das Erzeugte, Gewirkte, Stoffartige, Unentwickelte, das Allge­ meine, Kollektive zu bezeichnen. — Man vergleiche: der Adler, der Berg,

der Fels, der Wind, der Donner, der Blitz — die Maus, die Lerche,

die Hand, die Feder, die Wolle — das Obst, das Eisen, das Kind, das

Ei, das Holz, das Dutzend rc.

b. Bestimmung

des

Geschlechtes

durch

die Wortform.

Im Verlaufe der Sprachentwickelung wurde das Geschlecht häufig auch durch die Form des Wortes bestimmt.

Je mehr nämlich im Fortgänge

Zweites Kapitel: Das Substantiv.

35

des Sprachlebens die Lebendigkeit der sinnlichen Anschauung sich

ab­

stumpfte, je mehr die Einbildungskraft dem Verstände wich, desto weniger

wurde das Geschlecht als ein Element der Vorstellung selbst erfaßt; es erschien vielfach nur mehr als eine dem Worte angehörende formelle

Bestimmung.

Besonders in den Ableitungen zeigt sich, wie für die

Bestimmung des Geschlechtes viel mehr die Form als die Bedeutung maßgebend wurde; so sind z. B. die Wörter auf ing, ling männlichen, die auf ei, ung weiblichen Geschlechtes.

c.

Einfluß

mythologischer Vorstellungen

stimmung des Geschlechtes.

auf die Be­

Oft sind auch alte mythologische Vor­

stellungen auf die Bestimmung des Geschlechtes von Einfluß.

So ist

uns der Mond männlich und die Sonne weiblich, weil sich unser Volk den Mond als Mann und die Sonne als Weib dachte.

Nach der Edda

ist die Erde eine Tochter der Nacht, daher das weibliche Geschlecht; die Hel war den alten Germanen die Göttin des Todes und der Unterwelt;

daher ist das davon abstammende Hölle weiblich. Des gleichen Ge­ schlechts ist Welle, da dem Mythus die Wellen als weißvcrschleierte Jungfrauen galten, als Töchter der Rün und des Ägir. 3. Bedeutung des grammatischen Geschlechtes für die Sprache. Die Übertragung des natürlichen Geschlechtes auf die ver­ schiedenen

Begriffe der sinnlichen und geistigen Welt ist von großer

Wirkung; die Sprache wird dadurch belebt, und eine Menge von Aus­

drücken, die sonst tote und abgezogene Begriffe sind, erhalten hiedurch gleichsam Leben und Empfindung. 4.

Wechsel des

Geschlechtes.

Im allgemeinen ist das Ge­

schlecht der Substantiva im Verlaufe der Sprachentwicklung sich gleich geblieben; einzelne Substantiva haben jedoch ihr Genus geändert. sind die Wörter Schlange,

Schnecke,

So Blindschleiche, Bremse,

Kohle, Traube, Blume u. s. w. im Mhd. männlichen Geschlechts; die Wörter Teil und Stern waren im Gotischen weiblich. — Oftmals ist diese Änderung des Geschlechtes eine Folge der Änderung der Form

des Substantivs. 5. Erkennbarkeit des Geschlechtes.

In der älteren Sprache

war das Sprachgeschlecht schon an der Gestalt und Biegungsweise des Substantivs erkennbar; in unserer heutigen Sprache haben sich diese

Geschlechtskennzeichen größtenteils abgeschliffen oder verwischt.

Man ver­

gleiche z. B. got. thaurn-us und haurn = der Dorn und das Horn, fugl-s und nethl-a = der Vogel und die Nadel, stüd-a und ent-i =

die Staude und das Ende, hag-al und scuzz-ila — der Hagel und die

Schüssel.

Zweiter Teil: Wortlehre.

36

II. Numerus des Substantivs.

Bezüglich der Numeri ist zu

bemerken, daß die deutsche Grundsprache wie das Sanskrit und das Griechische außer dem Singular und Plural noch einen Dual be­ Aber schon im Gotischen ist derselbe in der Deklination der Substantiva nicht mehr vorhanden. Dagegen hat er sich im Gotischen noch

saß.

in der Deklination der persönlichen Fürwörter, sowie in der Konjugation erhalten.

Im Ahd. ist der Dual bereits erloschen.

III. Kasus.

1. Zahl der Kasus. Sie ist in den verschiedenen

indogermanischen Sprachen eine verschiedene. Ursprünglich hat es nach der

Ansicht der Sprachkenner nur einen Kasus gegeben, den Lokativ, der

das Befinden an einem Orte (locus) bezeichnete. Dieser ursprüngliche Lo­

kativ war aber ganz allgemeiner Natur; die Entstehung der übrigen Kasus ist deshalb wohl dem Bedürfnisse, die Beziehungen des Nomens

scharfer zu bezeichnen, entsprungen, ist somit ein Produkt fortschreitender Geistes- und Sprachentwickelung.

Die jetzige deutsche Sprache kennt nur vier Fälle; das Ahd. hat fünf Kasus: außer den vier noch jetzt vorhandenen auch den Instru­ mentalis, von dem Trümmer selbst noch im Mhd. erhalten sind. Der Vokativ fällt im Ahd. bereits mit dem Nominativ zusammen. Die deutsche Grundsprache weist sechs Fälle auf: Nominativ, Genitiv, Dativ, Accusativ, Vokativ und Instrumentalis. Im Sanskrit kommen noch hinzu Ablativ uud Lokativ; letzteres verfügt somit über acht

Kasus. 2. Kasusendungen.

Ursprünglich sind in allen arischen Sprachen

die am häufigsten vorkommenden grammatischen Beziehungen des Sub­ stantivs durch selbständige, dem Nomen nachgesetzte Wörter ausgedrückt worden, durch Präpositionen und Suffixe. Im Laufe der Zeit schmolzen

aber diese nachgesetzten Elemente immer fester an den Stamm an, indem sie ihren besonderen Wortton verloren und sich zugleich in ihren laut­

lichen Formen abschwächten. So verwandelten sich die erst selbständigen Wörter in Kasusendungen.

a. Endungen des Singulars. Der Nominativ ist nicht regiert; er bedarf also eines Beziehungssuffixes nicht; doch wurde nicht

der Substantivstamm selbst als Nominativ gebraucht, sondern es wurde demselben meist das demonstrative Pronomen sa (der) als Artikel zur Nominativbezeichnung

angehängt.

So

entstanden

die

ursprünglichen

Nominativformen daga-sa, daraus dagas, got. dags, nhd. Tag, tungänsa, daraus tungäns, got. tungo, nhd. Zunge. — Manche Sprachforscher

erklären dieses Suffix sa allerdings auf andere Weise.

37

Zweites Kapitel: Das Substantiv.

Der Genitiv setzt as oder s an, also daga-as, got. dagis; man

Suffix die Richtung auf die Frage woher?

nimmt an, daß dieses

anzeigt. Der Dativ erhält das Suffix ai, das als eine Verkürzung von

abhi ---- herbei, hinzu angesehen wird; z. B. daga-ai, got. daga.

Der Accusativ wird bei Maskulinen und Femininen durch das

Suffix ana bezeichnet; es gibt die Richtung auf die Frage wohin? an.

Diese Endung ging in an über oder gewöhnlicher in n oder fällt ganz ab, wie im Gotischen; aus daga-ana wurde dagan, got. daga.

b. Endungen des Plurals. Der Plural hat die gleichen Kasus­

suffixe wie der Singular, setzt aber außerdem noch das Pluralsuffixum sa faltindisch sam = mit, zusammen) an die Singularform: z. B. Nom.

Sing, fiska-sa, Plural fiska-sa-sa; hieraus wurde durch Abkürzung fiska-(s)a, fiska-(s)-as, got. fiskös (die Fische). Anmerkung. Im einzelnen vermag die Sprachforschung über die Bedeutung und den Ursprung der Kasuselcmente noch keinen genauen und sichern Aufschluß zu geben; nur das ist als sicher zu erkennen, daß die Kasusendungen auf dem vorbe­ zeichneten Wege entstanden sein müssen.

IV. Deklination.

1. Arten der Deklination.

Die Kasus­

elemente sind, wie aus dem Obigen hervorgeht, bei allen Nominibus

dieselben; es hat daher ursprünglich in allen indogermanischen Sprachen Die spätere Verschiedenheit der

nur eine Deklination gegeben.

Deklination hat ihren Grund in der verschiedenen Form der Sub­ stantivstämme. Letztere gingen nämlich auf verschiedene Laute aus, auf

Konsonanten und Vokale.

Indem nun die Kasussuffixe, welche an

diese Stämme antraten, mit den verschiedenen Auslauten verschiedene

Verbindungen

eingingen,

entstanden

verschiedene

Deklinations­

weisen. Die ältere deutsche Sprache unterschied, je nachdem die Sub­ stantivstämme auf einen Vokal oder Konsonanten endigten, eine vo­

kalische und eine konsonantische Deklination.

Die vokalische

oder starke Deklination schied sich wieder und zwar je nach dem Aus­ laute des Nominalstammes in eine A», I- und II-Klasse. Die kon­

sonantische oder schwache Deklination zerfiel, da die hieher ge­ hörigen Stämme meist auf n, zum Teil auch auf r endigten, in eine N« und eine L,-Klasse.

2. Verfall der Deklination.

Indem im Laufe der Zeit infolge

des deutschen Accentgesetzes die Endungen immer mehr zusammenschrumpf­ ten, fielen die Unterschiede fort, so daß jetzt nur noch zwei Dekli­ nationen übrig sind.

einige Paradigmen.

Diesen Verfall der Endungen zeigen am besten

38

Zweiter Teil: Wortlehre.

Vokalische Deklination.

I. ^.-Klasse. Germanische Grundsprache

Sing. Nom. Gen. Dat. Acc. Pl. Nom. Gen. Dat. Acc.

daga-s daga-as daga-ai daga-n daga-sa-s daga-säm daga-m-s daga-n-s

Gol.

Ahd.

Mhd.

Nhd.

dags dagis daga dag dagös dage dagam dagans

tac takes taka tac taka takö takum taka

tac tages tage tac tage tage tagen tage

Tag Tages Tage Tag Tage Tage Tagen Tage

balg-s balgi-s balg-a balg balgei-s balge balgi-m balgi-ns

palk palke-s palk-a palk pelki pelkj-ö pelki-m pelki

balc balges balge balc beige beige beigen beige

Balg Balges Balge Balg Bälge Bälge Bälgen Bälge

sunu-s sunäu-B sunäu sunu sunju-s suniv-e sunu-m sunu-ns

sunu sune-s sunju sunu suni sunjö suni-m suni

sun sune-s sune sun süne süne sünen süne

Sohn Sohnes Sohne

II. I-Klasse.

Sing. Nom. Gen. Dat. Acc. Pl. Nom. Gen. Dat. Acc.

balgi-s balgi-as balg(i)-ai balgi-n balgi-as balgi-(s)äm balgi-ms balgi-ns

HI. v-Klasse. Sing. Nom. Gen. Dat. Acc. Pl. Nom. Gen. Dat. Acc.

sunav-as sunav-i sunu-n suniu-s suniv-äm sunu-ms sunu-ns

Sing. Nom. Gen. Dat. Acc. Pl. Nom. Gen. Dat. Acc.

hanan-s hanan-as hanan-i hanan-an hanan-as hanan-äm hanan-ams hanan-ans

sunu-s

Sohn Söhne Söhne Söhnen Söhne.

Konsonantische Deklination.

hana hanin-s hanin hanun hanan-s hanan-e hana-m hanan-s

hano hanin hanin hanun hanun hanön-ö hanö-m hanun

hane hanen bauen hanen hanen hanen hanen hanen

Hase Hasen Hasen Hasen Hasen Hasen Hasen Hasen.

Zweites Kapitel: Das Substantiv.

39

3. Wirkungen des Verfalls der Deklination, a. Durch die Verminderung der Deklinationsformen wurden die bedeutungsvollen Unterscheidungen der Numeri und Kasus verwischt. In den beiden noch erhaltenen Deklinationen sind im ganzen nur noch drei En­ dungen übrig: e, (ess, (e)n. Die Feminina bleiben im Sing, ganz unflektiert, im Plural fallen die Kasus aller schwachen und mancher starken Substantiva zusammen. b. Fülle dungen jetzt ist

Durch das Schwinden der Endungen hat auch die lautliche und Schönheit der Sprache gelitten; früher zeigten die En­ der Substantiva eine große Mannigfaltigkeit in den Vokalen, an ihre Stelle überall ein klangloses, eintöniges e getreten.

4. Ersatzmittel für den Verlust von Deklinationsformen. Wenn auch die Sprache von ihrem einstigen Reichtum an Deklinations­ formen bedeutend verloren hat, so geschah das nicht ohne die entsprechende Fürsorge für andere und im ganzen gleichwertige Mittel des Ausdruckes. Solche Mittel sind: a. In vielen Fällen wird nunmehr der Artikel gebraucht zum Zwecke der Kasusbezeichnung; b. besonders häufig wer­ den Beziehungsverhältnisse, die früher durch die Flexion bezeichnet wur­ den, durch Präpositionen zum Ausdrucke gebracht; der letztere Fall ist namentlich von hohem Interesse; denn er zeigt uns den Kreislauf, den die indogermanische Sprache bezüglich des Ausdruckes der grammati­ schen Beziehungen des Substantivs im Satze zurückgelegt hat. Aus Präpositionen in Verbindung mit Substantiven bildeten sich, wie oben angedeutet worden, in frühester Zeit die Kasus, und jetzt sind wir, wenig­ stens zum Teil, auf derselben Stufe wieder angekommen. 5. Wirkungen der Analogie in der Deklination. Die Wirkungen der Analogie zeigen sich in der Deklination unter anderem in folgenden Punkten: a. im Gebiete des Umlautes. Der Umlaut- ist, wie früher er­ örtert wurde, immer die Wirkung eines i oder eines daraus hervor­ gegangenen e in der Ableitungs- oder Flexionssilbe; er konnte deshalb in der Deklination eigentlich nur in den I-Stämmen eintreten; denn nur bei diesen wurde durch die Verschmelzung des Stammauslautes i mit den Suffixen im Ahd. in einzelnen Kasus eine den Vokal i ent­ haltende Endung bewirkt. Da man sich aber daran gewöhnt hatte, den Umlaut als ein Zeichen des Plurals anzusehen, so haben auch viele A-Stämme den Umlaut angenommen; daher nunmehr die Formen Wölfe, Vögel, Äcker, Nägel von den ursprünglichen A= «Stämmen wolfa-, akra-,

nagla-, vogla; nagele;

noch mhd. hieß es ohne Umlaut z. B. die vögele,

Zweiter Teil: Wortlehre.

40 b. in den

Übergängen

zwischen

schwacher

und

starker

Deklination. In dieser Beziehung findet in den neueren Phasen des Germanischen ebenfalls mannigfache Ausgleichung statt. Die

Entscheidung im Kampfe zwischen beiden Bildungsweisen pflegt noch immerfort verschieden auszufallen.

Wir deklinieren heute der Hahn,

des Hahns gegenüber älterer und noch heute nicht ausgestorbener Weise der Hahn, des Hahnen.

Ebenso siegt noch in vielen anderen Fällen die

starke Deklination über die schwache, z. B. auch bei Schwan, Mond, Stern, Herzog, Auge, deren alte Singulargenitive schwanen, monden u. s. w. den Neubildungen Schwanes u. s. w. gewichen sind. — Umgekehrt ge­

winnt aber die schwache Deklination der starken einen Teil ihres Ter­ rains ab; so sagen wir jetzt des Hirten, des Raben statt der früheren

Formen: hirtes, rabens.

c. in der Anwendung der Endung er zur Bildung des

Plurals.

Die Endung -er (früher ir, daher immer Umlaut erzeugend)

hatte in der Pluralbildung der älteren Sprache nicht die gleiche Aus­

dehnung wie heute; sie trat im Mhd. nur an Neutra an; allmählich

aber verbreitete sie sich immer weiter, und so wurde im Nhd. auch die Ansetzung an Maskulina üblich, z. B. Geist, Leib, Wurm u. s. w. —

Die Endung -er ist übrigens keine Flexionsendung, sondern eine Bil­ dungssilbe, nach welcher im Laufe der Zeit die eigentlichen Deklinations­

endungen abfielen; so würde z. B. die ursprüngliche Deklination des Plurals von Wald lauten: die Wäld-er-e, der Wäld-er-e, den Wäld-er-en, die Wäld-er-e.

Anhang. A.

Die Personennamen.

I. Bildung der Personennamen.

Die bei der Bildung von

Personennamen am häufigsten verwendeten Wortstämme sind nach Blatz folgende:

1. Aar (ahd. aro, Adler): Arnold (ahd. waltan, walten, herrschen) — Beherrscher der Adler; Adal (ahd. adal Geschlecht, dann edles Ge­

schlecht): Adalbert, Albrecht, Albert (prehhan — brechen, hervorbrechen, leuchten) = der durch Adel Glänzende, Geschlechtsleuchte; Adelheid (ahd. beit, Person, Stand) = die von edlem Stande; Adelgunde (ahd. guntja,

Kampf), edle Kämpferin; Adelmar (ahd. märi, Märe, Sage, als Ad­ jektiv berühmt, glänzend) — von berühmtem Geschlechte; Alf (Alf-Elfe):

Zweites Kapitel: Anhang.

41

Alfred (ahd. rätan — raten) — ein Elfe an Rat; Ans (ahd. der ans, angelsächs. der 6s — Gott): Anshelm, Anselm — Gotteshelm, d. i. Gottes­ streiter; Ansgar, Oskar (ahd. ker, ger, = Speer) — göttlicher Speer, d. i. göttlicher Streiter. 2. Bald, balt (ahd. pald, bald = kühn): Balduin (wine = Freund) — kühner Freund, Willibald — von kühnem Willen, Diebold (ahd. diot = Volk), ebenso Liutpold, Luitpold, Leopold (ahd. liut, luit — Volk, Leute) — der Volkeskühne; Bär (der deutsche König der Tiere): Bern­ hard (hart — stark, kühn) — der Bärenkühne, Berengar — Bärenjäger; Brand (ahd. prant, braut, brennendes Scheit, Schwert): Hildebrand (ahd. hilta, Kampf) — Kampfschwert, Hadubrant (hadu = Krieg) — Kriegsschwert, Luitbrand — Volksschwert; brecht, bert (ahd. prehhan — glänzen): Berta — die Glänzende, Bertram (ahd. hram = Rabe) — glän­ zend wie ein Rabe, Dagobert (Tag) — wie der Tag glänzend; Engel­ bert—wie ein Engel glänzend, Guntbert, Gumprecht (ahd. guntja Krieg) = glänzend im Kampfe; Lambrecht, Lambert = der an Land Glänzende; Ruprecht, Rupert, Robert (ahd. hruoft Ruf, Ruhm) — ruhmstrahlend; Brun (ahd. prunja, mhd. brünne von brinnen, brennen — glänzender Harnisch): Bruno — der Geharnischte; Brunhilde (ahd. hilta Kampf) — die Kampfgeharnischte; Burg (ahd. purg Burg): Burg­ hart — starker Schutz. 3. Diot (ahd. diot Volk): Dietrich (rieh) = Dolksfürst; Drud (eine Walküre): Gertrud (ger) = Speerjungfrau; Trutwin (Trautwein) — Freund der Walküre. 4. Eber (ahd. epur Eber, ein heiliges Tier): Eberhard (hart— stark) — eberstark; Ecke (ahd. ekka Ecke, Schneide einer Waffe): Ecke­ hart, Eckart (hart — kühn) — der Schwertkühne; Ehe (ahd. ewa, mhd. e Gesetz): Ewald — der über das Gesetz Waltende; Erich — Gesetzes­ gebieter; Eisen (ahd. isan): Jsengrimm (ahd. grimmi) = eisengrimmig; Jsenhart, Eisenhart — eisenkühn. 5. Fried (ahd. fridu, Friede, Schutz): Friedrich = Friedensfürst, Manfred (Mann) — Mannesschutz; Winfried = Friedensfreund; Fredegunde (guntja Kampf) = Schätzerin im Kampfe. 6. Gart (garto Haus und Hof, got. gairdan, gürten) — umgebend, schützend: Hildegard — den Kampf beschirmend; Luitgard — Volk schirmend; Ger (ahd. ger Wurfspieß): Geribald = der Speerkühne; Gerhard = stark im Speer; Gerbert — speerglänzend; Gertrud (trüt, traut, lieb) — speerliebend; Gott: Gottfried (ahd. fridu, Friede, Schutz) = von Gott geschützt; Gotthart — gotteskühn; Gottschalk (seale Knecht) — Gottesknecht; Gottlieb (leip der Nachkomme) — der Gottgeborene; Gunt (ahd. guntja Krieg): Gunther, Günther —

42

Zweiter Teil: Wortlehre.

Krieger; Gustaf (ahd. stap --- Stab) --- Kriegsstab, d. i. Held; Gudrun (ahd. runa Geheimnis) = Kriegsberaterin; Hildegunde — die im Krieg Kämpfende. 7. Hadu (ahd. hadu — Krieg): Hedwig (wie Kampf) — Kriegs­ kämpferin; Hadubrant; Hart (ahd. hart --- stark, kühn): Hartmann ---- kühner Mann; Heer (hari, heri — Heer, Kämpfer): Ferdinand, alt herinand (got. nanthjan — wagen) — heerkühn, spanisch umgebildet zu Ferdinand; Hermann --- Kämpfer; Harold, Herold (walten) = Heerwalter; Heribert — der als Kämpfer Glänzende; Diether — Volkskämpfer; Werinher, Werner (ahd. warjan, mhd. wem wehren) — der abwehrende Kämpfer; Walther — der im Heere Waltende. Heim: Heinerich, Heinrich = Gebieter des Heims; Helm: Wilhelm --- der den Helm will --- erkoren hat. Hild (ahd. hiltja Kampf): Hilderich = Kampfgebieter; Hilda --- die Kämpferin; Krimhild (grima --- Helm) = Helmkämpferin; Hlot, Hlut (ahd. blut, laut, hlftta — Laut, Ruhm): Chlodowig, Ludwig — Freund des Ruhms; Lothar — ruhmvoller Kämpfer; Chlothilde --- rühmliche Kämpin; Hruod, hrod (ahd. hruoft, hröft Ruf, Ruhm): Ruotbrecht, Ruprecht, Ro­ bert — glänzend durch Ruhm; Roderich — der Ruhmreiche; Hugu (hugjan got. denken): Hugo — Denker, Hugbert, Hubert --- glänzen­ der Denker; Hünen (— Riesen): Hunold (walten) — Riesenwalter; Humbold — riesenstark; Humbert — Hünenglanz. 8. Kühn (ahd. cuoni): Kuno — der Kühne, Kuonrat, Konrad, Kurt — kühn im Rate; Kuni (ahd. cunni Geschlecht): Kunibert = Geschlechtsglanz; Kunigunde = Geschlechtskämpferin. 9. Land: Lamprecht, Lambert. 10. Macht (vom ahd. magan können, vermögen): Machthilde, Mathilde ---- gewaltige Kämpferin; Maginhard, Meinhard — der durch Kühnheit Ausgezeichnete; Meinrad (rätan raten) — der mächtige Rater; Mar (ahd. märi Märe, Sage, berühmt): Waldemar (walten) — durch Walten berühmt; Dietmar — im Volke berühmt; Munt (ahd. munt Schutz, Vormundschaft): Reinmund (got. ragin Rat) — Ratschützer. 11. Od (ahd. ot Besitz, Gut, Stammgut): Uobalrich, Ulrich = Stammgutgebieter; Otto, Odo, Odilo — Gutsherr; Ottmar --- mit berühmtem Gute; Otfried, Otmund, Edmund — Beschützer des Gutes, Edward (ahd. warten) — Wärter des Guts; Ort (ahd. ort Spitze des Speeres, Speer): Ortleib, Ortlieb (leip Nachkomme) — der Speeressohn; Ortwin — Freund des Speeres. 12. Ragin (got. ragin, Rat): Reinhard — der im Rat Starke, Reginwald, Reinold — der im Rat Waltende, Reginher, Rainer — der im Heere

Zweites Kapitel: Anhang.

43

Ratende; Rat (ahd. rätan = raten): Tankred, Tankrat — der denkend (klug) Ratende, Radegunde (guntja — Krieg) — die im Krieg Ratende. 13. Schalk (ahd scalc, Knecht): Gottschalk - Gottesknecht; Sieg (ahd. sigu, Sieg): Siegfried — der durch den Sieg Friedenbringende, Sigismund, Sigmund — der Sieg Schützende. 14. Thurs, Thus (ahd. duris, durs, Riese): Thusnelda (hiltja) — die Riesin im Kampfe. 15. Wal (ahd. wale, wal, Schlachtfeld, Walstatt): Walburg = Beschützerin der in der Schlacht Gefallenen; Walten (ahd. waltan — walten): Walther --- der über das Heer Waltende, Waldemar --- der durch sein Walten Berühmte, Bertold (prehhan) — der glänzend Wal­ tende, Herold — der im Heere Waltende; Wig (ahd. wie, Kampf): Wigand, Weigand = Kämpfer, Herwig --- Heereskämpe; Wille (ahd. willjo, Wille): Wilhelm --- der den Helm Wollende, Willibald — kühn von Willen; Win (ahd. wine, Freund): Balduin, Albuin, Alwin — Elfen­ freund; Wolf: Wulfila = Wölflein, Wolfram -- Wolfrab, d. i., da Begegnung eines Naben siegverkündend war, stegesgewisser Held, Rudolf (hruoft) — Ruhmeswolf, d. i. Ruhmbegieriger, Arnulf — Adlerwolf. II. Die deutschen Personennamen — ein Spiegel des Volksgeistes. Vor allem ist, wie aus diesen Namenbildungen hervor­ geht, den Personennamen unseres germanischen Altertums ein helden­ haftes, kriegerisches Gepräge eigen. Kampf und Sieg tönt uns aus ihnen mit hellem Waffenklange entgegen. Andere Namen zeigen, welchen Wert die Germanen auf einsichtsvollen Rat und ruhmvolles Walten gelegt haben. Im vollen Einklang damit werden auch in den aus der Tierwelt entlehnten Benennungen starke, kampflustige, herrschende Tiere entschieden bevorzugt. Ebenso tritt die ungeheuchelte Ehrfurcht vor dem Heiligen, den sieg- und segenspendenden Göttern gleichfalls in zahlreichen Namen zu Tage. .

B.

Die Familiennamen.

1. Bildung der Familiennamen. 1. Ein Teil derselben ist aus alten germanischen Personennamen entstanden, z. B. Reinhart, Ortlieb, Walther, Berthold, Herold, Wigand, Gottschalk, Trautwein, Arnold, Eckart, Dietrich, Burkard, Engelbert, Ruprecht, Friedrich, Lampert, Oswald, Erhärt, Eisenhart, Gotthart rc. 2. Andere gehen zurück auf alte Kosenamen, z. B. Lutz auf Luzzo --- Ludwig, Friedel auf Fridilo --- Gottfried, Reindl auf Rimilo --- Reimar, Reichel auf Richilo — Theodorich, Riedel auf Hruodilo — Hruotbrecht, Sergel auf Sigilo --- Siegfried, Weigel auf Wigilo —

44

Zweiter Teil: Wortlehre.

Heriwik, Herz auf Herzo = Heribert, Götz auf Gozzo — Gottfried, Huß auf Huzzo = Hugimar, Seitz auf Sizzo = Sigfried, Dietz auf Theozzo — Theodorich, Utz auf Uzzo — Udalrich, Betz auf Bezzo = Bernhard. 3. Wieder andere Famliennamen sind hergenommen von der Lage des Stammhauses, z. B. Amthor, Overbeck (über dem Bach), Herrvegh, Moser, Blumauer, Tobler (Tobel), Diepenbrok (Tiefenbach), Dahl­ mann, Gerstäcker, Weizäcker, Winterhalter (— der, welcher auf der Winterhalde wohnt; balde — Abhang), Sondermann (— Südermann), d. i. der, welcher südlich wohnt, Thalhammer (Thalheimer), Forchhammer (Forchheimer), Eder (v. Öd, d. i. ein in Waldeinsamkeit gegründeter

Hof), Auber (Aubauer), Steber (Stegbauer), Stemmer (--- Stegmaier — Maier am Steg), Limmer (Lindenmaicr); oder von Ortschaften, z. B. Lindau, Auerbach, Kalisch, Bleichröder, Rothschild; oder von der Heimat, z. B. Böhme, Frank, Fries, Döring (Thüringer), Ungar, Sachs, Schweizer. 4. Manche sind aus Amt und Würde entsprungen, z. B. Drost — Truchseß, Schulze — Schultheiß, Viztum — Vicedominus; oder aus Gewerbe und Geschäft, z. B. Binder, Schmid, Müller, Bötticher, Bädecker, Schneider oder ndd. Schröder und Schrader, Dunker — Tüncher, Kistenmacher, Aschenbrenner, Kiefer — Küfer, oder aus kör­ perlichen Eigenschaften, z. B. Benecke — Beinchen, Strobel — der, dessen Haare wirr emporstehen, Schönemann, Schnell, Rasch. 5. Daß menschliche Gliedmaßen Familiennamen lieferten, ist gleichfalls nicht selten. Beispiele sind: Haupt, Kopf, ndd. Köpke, Schedel, Zahn, Faust, Schenkel, Maul. 6. Der Tierwelt sind wieder entnommen: Löw, Bär, Wolf, Fuchs, Hase, Hirsch, Strauß, Hahn oder Hänel, Hummel, Hecht; auch in vielen Zusammensetzungen mit Herz ist Hirsch gemeint, z. B. Herzberg. Namen wie Schellhorn, Schellkopf sind von schelch — Riesenhirsch gebildet. 7. Das Pflanzenreich bietet uns Namen wie Linde, Blum, Birn­ baum, Rose, Halm, Nessel, Dorn, Hagedorn, Holzapfel, Apfelbaum, Nußbaum, Buxbaum. 8. Auch Kleidungsstücken sind Namen entlehnt wie Kapp, Keppel, Handschuh, verkleinert Hendschel, Kittel, Langenmantel, Tasch, Bendel. 9. Selbst die Himmelskörper und Naturerscheinungen benutzt man zur Namensbildung, so in den Namen Himmel, Stern, Morgen­ stern, Morgenrot, Nebel, Schön, Ungewitter, Stubenrauch, Brand. 10. Von Speisen und Getränken sind benannt Einbrod, ver­ kürzt aus Eigenbrod, Susemihl (—süßeMilch), Schlehmihlund Schlömilch; die beiden letzteren Namen leiten zurück auf Schlegelmilch (-- Buttermilch).

Zweites Kapitel:

Anhang.

45

11. Manche Namen drücken einen Befehl, eine Aufforderung aus: Griepenkerl (greis den Kerl), Suchenwirt (such' den Wirt), Regen­ fuß (reg' den Fuß), Schlichtegroll (schlichte das Haar; groll beruht nämlich auf Entstellung aus icruU — Locke), Kiesewetter (—erspähe das Wetter), Bleibtreu, Schlagintweit, Hassenteufel, Fahrnholz rc. 12. Endlich ist auch eine Reihe von Heiligennamen zu Familien­ namen geworden; Mathes ist entstanden aus Matthias, Enders aus Andreas, Ambros aus Ambrosius, Nickel aus Nikolaus. II. Alter der deutschen Familiennamen. Die deutschen Fa­ miliennamen sind als solche verhältnismäßig jung; erst im Ausgange des Mittelalters, im 13. —14. Jahrhundert haben diese vom Vater auf den Sohn vererbenden Bezeichnungen sich allmählich festgesetzt. Bei den ein­ fachen Verhältnissen der früheren Jahrhunderte, wo das Leben auf engere Kreise beschränkt war, hatte eben ein Name zur Bezeichnung einer Person genügt.

C. Die Ortsnamen. Bildung der Ortsnamen. 1. Viele Orte sind nach dem fließenden Elemente benannt; z. B. Wasserburg —Rottach (ahd. aha — Wasser), Weißach, Schwarzach — Lauterbach, Schwarzenbach, Schön­ bach — Kaltenbrunn (ahd. pruno = Quelle), Heilbronn, Reinhardsbrunn — Gmund (ahd. gamundi — Mündung), Travemünde, Ückermünde — — Frankfurt (ahd. furt — seichte Stelle im Gewässer), Schweinfurt — Regensburg (Regen), Rheineck (Rhein), Paderborn (Pader) — Tegernsee, Seehausen, Seefels — Donauwörth (ahd. warid — Insel in einem Strome), Werthheim, Königswcrth. 2. Andere Orte haben ihren Namen von der Form oder Be­ schaffenheit des Festlandes; z. B. Königsberg, Kirchberg — Steindorf, Steinheim, Stendal (= Steinthal) — Staufen (Stauf-Fels), Hohen­ staufen, Donaustauf — Thalheim, Thalhausen, Frankenthal — Georgs­ walde, Walddorf, Harthausen (hart — Wald), Lindhart — Westerholz, Holzhausen, Holzkirchen — Wiesbaden (ahd. wisa = die Wiese), Wiesheim, Wiesbruch — Feuchtwang (ahd. wanc = Feld), Lengenwang, Wangenbach — Friedewald (umfriedigter, eingezäunter Wald), Friede­ berg, Landfried — Hof (= eingehegter Raum), Nonnenhof, Hüttenhof; in Süddeutschland ist häufig die Endung Hofen: Pfaffenhofen, Sunthofen (Sunt — Süd), Vilshofen, Osterhofen; eine Umfriedigung be­ zeichnet ferner das Wort „Garten"; hieher gehören Ortsnamen wie Baumgart, Weingart, Stuttgart u. s. w. Auf Ausrodungen beziehen sich die Namen Reut, Ried, Rode: Hohenried, Sachsenried, Bernried,. Tirschenreut, Friedrichsroda, Abtsrode.

Zweiter Teil: Wortlehre.

46

3. Vielfach sind zu Ortsnamen solche Wörter verwendet, deren Be­ deutung ist Haus und Hof.

An der Spitze dieser Wörter stehen die

Ortsnamen auf — haus und hausen: Neuhaus- Heimhausen, Peters­

hausen, Pfaffenhausen; soviel wie Haus bedeutet auch Lar: Goslar (Wohnung an der Gose),

Wetzlar (von dem Personennamen Wetzilo,

Wetzel), Fritzlar (von einem Personennamen Frido); eine andere Bezeich­

nung von Wohnung erscheint in der Form von—beuern, —bellten (ahd. bur): Benediktbeuren, Ottobeuren; Halle begegnet uns in Frie­

drichshall, Heinrichshall u. s. w. hütten, Glashütte u. s. w.

Die Hütte findet sich in Engels­

Ein altes Wort für Haus und Gemach

zugleich war Gadem, Gaden, das wir zwar in unserer Sprache ver­

festgehalten ist:

loren haben, das aber in einigen Ortsnamen noch

Berchtesgaden (von Berchtold), Ernsgaden, Steingaden.

Für die Woh­

nungen der Edlen findet sich als einer der ältesten Namen Burg:

Regensburg, Neuenburg, Salzburg; seltener und erst später entstehen Ortsnamen auf Schloß. 4. Ortsnamen aus gewerblichen Anlagen Mühldorf, Mühlhausen, Schmidhausen, Schmidberg.

sind:

Mühlbach,

5. Von den verschiedenen Arten von Wegen leiten ihre Namen ab: Wiesensteig, Buchweg, Straßburg, Oberstraß.

6. Unsere Brücke finden wir in Osnabrück, Bruck, Zweibrücken, Brück.

7. Oft bildet der ganze bewohnte Ort den Ortsnamen.

Sehr

häufig ist in dieser Beziehung „Heim" zu finden: Mannheim, Mindel­ heim, Hildesheim (Personenname Hildo); ebenfalls sehr häufig ist die

Stadt in Ortsnamen vertreten: Darmstadt, Eichstädt, Altstätten,Stettin, Stöttwang. Noch zahlreicher sind die Namen auf Dorf: Lampersdorf

(— Lamprechtsdorf), Kunnersdorf (Konrad), Wolfersdorf (Wolfhart). 8. Eine Ansiedelung bezeichnen: Neusiedel, Einstedeln, das erstere

eine neue, das letztere eine einzeln liegende.

Wunsiedel ist wohl eine

Ansiedelung in einer „Wunne", d. h. in einem Wiesenlande. 9. Die Farbe bestimmt den Namen näher in Weißenburg, Grüne­

berg, Schwarzenthal. 10. Ausdrücke der Größe begegnen uns in Breitenbrunn, Lützel­

burg (lützel mhd. — klein), Schmalfeld (ahd. smal — klein), Michel­ bach (michel — groß), Mecklenburg (— große Burg), Lengenfeld, Len­

genwang. 11. Zahlreich sind in Ortsnamen die Begriffe Höhe und Tiefe zu finden: Hohenberg, Hohenbrück, Hochheim, Tiefenbach, Tiefenthal;

Zweites Kapitel: Anhang.

47

mit hoch und tief berühren sich ferner die Begriffe von auf, ober, unter, nieder: Oberdorf, Niederdorf, Oberzell, Unterzell.

12. Die Form eines Ortes gelangt zum Ausdruck in Namen wie Krumau, Plattenburg, Kurzdorf u. s. ro. 13. Auch das Alte und Neue findet in Ortsnamen Berücksich­ tigung, wie: Altdorf, Altenburg, Oldenburg, Neuenburg, Neustadt.

14. Ebenso wurde die Tierwelt beigezogen: Roßbach, Schwein­ furt, Hirschau, Ellwangen (Elehenwangen — Ebene der Elentiere), Bern­ bach (ahd. bero — der Bär), Ebersberg (ahd. ebar — der Eber), Ebernbach, Ochsenfurt, Kuhbach, Wiesensteig (ahd. wisent — der Wisent, Büffel), Habsburg (= Habichts Burg), Krähwinkel. 15. Keine unbedeutende Rolle spielen ferner in den Ortsnamen auch Pflanzen: Eich, Altenaich, Dürrenaich, Buch, Rothenbuch, Thann, Hohenthann, Feicht (— Fichte), Schönsichten, Apfeltrang, Apfeltrach, Birnbaum, Kirchhasel, Haselbach. 16. Auf Metall beziehen sich Namen wie Silberberg, Kupferberg, Goldach. 17. Häufig treten in den Ortsnamen die Weltgegenden auf: Nordhausen, Osterhofen, Westmünster, Westheim, Südheim, woneben Sundheim und Sondheim.

18. In einigen Ortsnamen sind die Namen der Gründer und ersten Ansiedler verewigt: Rudolstadt (Rudolf), Merxleben (Margisleiba = Erbe, Erbschaft des Margis), Dietersdorf (Dietrich), Bamberg (früher Babinberg — Berg des Babo).

19. Auch der Stand des Menschen fand Eingang in den Orts­ namen: Kaiserwert, Herzogenbusch, Bischofshofen, Königsberg, Abtsrode. 20. Ganze Völker geben Ortschaften den Namen: Sachsenried, Frankfurt, Bayersried, Schwabhausen, Türkheim (— Thüringsheim — Heim der Thüringer).

21. Selbst der Himmel und seine Heiligen fehlen Himmelreich, Himmelpforte, Joachimsthal, Weihenstephan.

nicht:

22. Eigentümliche Namen sind dadurch entstanden, daß man das Grundwort (Stadt, Dorf, Heim u. s. ro.) fallen und den damit ver­ bundenen Personennamen im Genitiv stehen ließ: Reinerz (Reinhards-), Engelharz (Engelhards-), Jrnfritz (Jrnfrieds-), Albrechts (Albrechts-). 23. Höchst sonderbar sind jene Ortsnamen, die Imperativformen sind; Luginsfeld, Duckunder, Passaus, Grüßgott u. s. ro. 24. Endlich haben auch Fremdwörter in unsere Ortsnamen sich eingeschmuggelt; so steckt in Kemnath das lat. caminata, das ein heiz-

48

Zweiter Teil: Wortlehrc.

bares (vgl. unser Kamin) Gemach bedeutet. Hieher gehören ferner alle mit Kirche gebildeten Ortsnamen: Kirchheim, Thalkirchen; das lat. capella, unser Kapelle, steckt in Kappeln, Waldkappel u. s. w.; das lat. monasterium — Kloster in Münster, Frauenmünster, Pfaffenmünster, Ilmmünster, das lat. fauces in Füssen u. s. n>.

D. Die Fremdwörter. Die Fremdwörter sind teils Lehnwörter, teils eigentliche Fremd­ wörter. 1. Lehnwörter; es sind dies solche Fremdwörter, die völlig in unsere Sprache ausgenommen wurden, und denen der fremde Ursprung in den meisten Fällen gar nicht mehr angesehen wird. Diese Wörter stellen eine vollwertige Vermehrung des Sprachschatzes dar und finden sich in allen gebildeten Sprachen. Solche Lehnwörter sind: Almosen aus dem gr. eleemosyne ---- Barmherzigkeit, Brief von lat. breve — kurzes Schreiben, Brille von lat. beryllus — ein durchsichtiger Edel­ stein, Dom von lat. domus, das Haus rc. Gottes, Dutzend von lat. duodecim, zwölf, Fenster von lat. fenSstra, Flegel von lat. flagellum — die Peitsche, Föhn von lat. favonius = Westwind, Gant von lat. in quantum auf wie viel oder wie teuer, Kartaune von lat. quartana — Viertelsbüchse, d. i. eine Kanone, welche 25 Pfd. schoß, Kiste von lat. cista, Klause von lat. clausa, dem Plural von clusum = Verschluß, Kobold von gr. kobalos, Possenreißer, Küster von custos, Laie von gr. laös, Volk, ein Mann aus dem Volke gegenüber dem Geist­ lichen, Lärm aus ital. all’anne --- zu den Waffen, Laune von luna, der Mond, Marketender von ital. mercatänte, Kaufmann, Meile von milia pässuum — tausend Schritte oder eine römische Meile, Meister von tat. magister, Messe von lat. missa (sc. est concio ----- die Ver­ sammlung ist entlassen), Mette von lat. matutfna sc. hora — Früh­ stunde, Mohr von lat. Maurus, Most von lat. mustum, dem im Ge­ danken an vlnum = Wein substantivisch stehenden Neutrum des lat. Adjekt. mustus — jung, ungegoren, Neger von lat. niger, schwarz, Pfalz von lat. palatium, Pferd von lat. paraveredus von gr. para — neben und veredus — leichtes Pferd, also eigentlich Nebenpferd, Pfingsten von gr. pentekoste, der 50. Tag nach Ostern, Pfründe von lat. praebenda = der darzureichende Unterhalt, das Einkommen, Pfülben von lat. pulvinar das Kiffen, Pilger von lat. peregrinus — der Fremde, Probst von lat. praepositus — der Vorgesetzte, Priester von gr. presby'teros, der Gemeinde-Älteste, Ries, Landschaft aus lat. Rhaetia, Segen von lat. signum, Zeichen, nämlich des Kreuzes,

Zweites Kapitel: Anhang.

49

Semmel von lat. simila = Weizenmehl, Stiefel von lat. aestivale, aus leichtem Leder bestehende Sommerbekleidung des Fußes, Straße von lat. strata sc. via = gepflasterte Heerstraße, Tafel von lat. tabula, Teufel von gr. diäbolos = der Verleumder, Tinte von lat. tincta sc. aqua — gefärbte Flüssigkeit, Tisch von gr. diskos — Wurf-, Eßscheibe, Uhr von lat. hora, die Stunde, Vogt von mittellat. der vocätus statt des lat. der advocätus, Rechtsverständiger, von advocäre herzurufen, besonders zur Rechtshilfe, Weiher von lat. vivarium — Tierbehältnis, Winzer von dem lat. aus vlnum = der Wein abgeleiteten vinitor, Ziegel von lat. tögula, Zins von lat. census = Abschätzung, Kopf-, Vermögenssteuer, Auflage.

Ganz besonders zählen hieher auch jene Wörter, die durch irgend eine Änderung den Anschein heimatlichen Ursprungs

und Begriffsausdruckes erhalten; z. B. Abenteuer aus lat. adVentura = Ereignis, Armbrust aus lat. arcubalista — Bogenwurf­ maschine, Blankscheit von franz, plancbette = Brettchen, Fein Gret­ chen von lat. foenum graecum — griechisches Heu, Felleisen von franz, valise — Reisesack, Fiedel von lat. vitula = Streichinstrument zur Begleitung des Gesanges und Tanzes, Finstermünz von lat. venustus mons — schöner Berg, Flitzentasche, der Name eines Berg­ werks in Westfalen von lat. felicitas — Glück, Hängematte von hamaca, einem Worte aus der Sprache der Urbevölkerung Haitis, Kar­ funkel von lat. carbunculus, dem Deminutiv von carbo — Kohle, Klagenfurt von Claudii forum = Stadt des Claudius, Mailand von lot.Mediolanum, Maulbeere von lat. maurus = maurisch, schwarz, Maultier von lat. mulus — der Maulesel, Mehltau von gr. miltos — Rötel, Rost, Murmeltier von lat. mus montana — Bergmaus, Liebstöckel von lat. lubisticum statt ligusticum, d. i. ursprünglich aus Ligurien stammende Pflanze, Osterluzei aus lat. aristolöchia, Pump­ hosen von lat. pompa = Gepränge, Scharmützel von ital. scaramuccio — kleines Gefecht, spitze Lenore von lat. species lignorum — Holzthee, umgewendter Napoleon aus unguentum Neapolitanum — neapoli­ tanische Salbe, umgewendter Schabrian von lat. unguentum contra scabiem --- Salbe gegen die Krätze, Vielfraß von schweb. Fiällfras, wahrscheinlich --- Bergbär, Felsenfretchen, Winterthur von lat. Vitudurum, Wirsing von ital. verza — grüner Kohl. 2. Eigentliche Fremdwörter; sie sind den verschiedensten Sprachen entlehnt. Es stammen z. B.: a. aus dem Romanischen: Alarm von ital. all’arme — zu den Waffen, Budget, eigentlich Reisetasche, Bureau, ursprünglich das grobe, Geistdeck. Elemente der wiffensch. Gramm. 4

50

Zweiter Teil: Wortlehre.

meistens grüne Tuch, womit der Schreibtisch überzogen war, Gardi­ nen von ital. cortina, der Vorhang, Kanone von ital. canna, das Rohr, Patois (patoL) — landschaftlicher Dialekt, von der Stadt Pa­ dua, deren Bewohner schon den Römern wegen ihrer Mundart Stoff zum Humor gaben, Schafott von franz, öchafaud (eschafö), Teller aus ital. tagliero (taliöro) = Küchenhackbrett von tagliare (taliäre) — schneiden, Toilette (toalött) aus dem Französischen, eigentlich ein kleines Läppchen Leinwand auf dem Putztisch der Damen zum Waschen und Schminken rc rc. — Ebenso haben zahlreiche Termini in der Musik (solo, soprano, basso etc.) und in der Kaufmannssprache (valüta, saldo, strazza, conto etc.) aus dem Italienischen sich eingebürgert.

b. Aus dem Slavischen (besonders viele Wörter, die sich auf das Fuhrwerk beziehen): Droschke von russ. droski — Kutsche, Kalesche von poln. kolaska — Räderfuhrwerk, Kummet von poln. chomat — Joch, Peitsche von poln. bic = schlagen; ferner Dolmetsch von poln. tlumacz (tlumatsch) — Übersetzer, Eleutier von russ. eljen, Gurke von poln. ogörek, Halunke von böhm. holomek — Bettler, Tauge­ nichts.

c. Aus dem Hebräischen: Ebenholz von obni = steinern, Gauner, Nebenform Jauner — Betrüger von hebr. jana = betrügen, Schacher von sachar — Erwerb, Samstag aus Sabbatstag. d. Aus dem Dänischen: Ballast aus baglast — hinter der ge­ wöhnlichen Ladung.

e. Aus dem Arabischen: Admiral von emir al-bachr — Fürst des Meeres, Algebra von al-dschebr — Wiedervereinigung gebrochener Teile, Alkoran von al gobbe = die Wölbung, Almanach von al manca — das Neujahrsgeschenk, Arsenal von dhür-azzana — Haus der Betriebsamkeit, Bergamotte von bergamudi — Königin der Birnen, Elixir von el iksir = Stein der Weisen, bei uns ein Getränk, Kaffee, Kaliber von calab = Form zum Erzgießen, Karaffe von garafa = schöpfen, Schach von schab (— König), welches Wort aber eigentlich aus dem Persischen stammt, Tarif, arab. t’arif — Kundmachung von arafa — erklären, Tasse von tassa — eintauchen, Zenith, Zucker. f. Aus dem Malayischen: Guttapercha von gutta — verhär­ teter Pflanzensaft und percha, der Baum, von dem er herrührt.

g. Aus der Peruanersprache: Chinarinde, eine Entstellung des Wortes quina quina = Rinde der Rinden, d. h. edelste Rinde.

Zweites Kapitel: Anhang.

51

Eine sehr große Zahl von Fremdwörtern ist namentlich auch da­ durch in unsere Sprache übergegangen, daß geographische Eigen­ namen zu Gemeinnamen oder Appellativen wurden. Beispiele hiefür bieten a. Namen von Pflanzen: Apfelsine, d. i. der aus China (franz. Sine) kommende Apfel, Kastanie von den Städten Kästana in der Landschaft Pontus und in Thessalien, Korinthen von Korinth, Lambertsnuß, d. i. lombardische Nuß, Pfirsich von p6rsicum sc. malum, Apfel von Persien, Quitte von der kretischen Stadt Kydon, Rhabarber von Rha bärbarum. d. h. die an den Ufern des Rha (der Wolga) wachsende und mit diesem Flusse gleichnamige Wurzel, die für die Griechen und Römer eine ausländische (lat. bärbarus — aus­ ländisch) war, Schalotte von Askalon.

b. Namen von Mineralien: Achat von dem Flusse Achatas in Sizilien, Alabaster von der' oberägyptischen Stadt Alabaster, wo diese Gipsart häufig gebrochen wird, Labrador von der gleichnamigen Halb­ insel, Ocker von der Stadt Sinope am Pontus.

c. Namen von Tieren: Fasan von dem Flusse Phasis in Klein­ asien, Sardinen und Sardellen von Sardinien, Tarantel von Tarent. d. Namen von Geweben: Baresch von Bareges (barösch) an den Pyrenäen, Damast von Damaskus, Gingang von der Stadt Guingamp (gäUggaNg) in Frankreich, Muslin von Mosul, Plüsch wohl von Perugia (perudscha), Tüll von Tülle (tüll) in Frankreich.

e. Namen von Geräten, Werkzeugen u. s. w.: Bougie (buschr) von der Stadt Bougie (buschr) in Nordafrika, Fayence (fajängß) von Faenza in Italien, Karyatiden von der Stadt Käryä in Lakonie», Kvrduan von der spanischen Stadt Cordova, Majolica (maschölika) von Majorka, Maroquin (marokäng) von der Stadt Marokko.

Zweiter Teil: Wortlehre.

52

Drittes Kapitel. Das Adjektiv. I. Deklinationsarten. Die Deklination der Adjektivs ist in früherer Zeit wie die der Substantivs zunächst eine vokalische und eine konsonantische; sie unterscheidet sich aber wesentlich von der Deklination der Substantiva dadurch, daß jedes Adjektiv vokalisch und zugleich auch konsonantisch deklinieren kann, während die Substan­ tiva nur einer Flexionsform angehören. Für jedes Adjektiv sind eben in der Grundsprache zwei Stämme vorhanden, ein vokalischer und ein konsonantischer, letzterer auf n ausgehend. In der vokalischen Deklination gibt es wieder wie bei den Sub­ stantiven eine A=, eine I- und eine II-Deklination; doch sind diese ver­ schiedenen Arten schon sehr frühe in der A-Deklination zusammen­ gefallen, und auch diese A-Deklination verkümmerte schon sehr frühe so vollständig, daß nur die flexionslosen Formen derselben übrig blieben; dagegen blieb die konsonantische oder ^-Deklination als schwache unversehrt erhalten. Eine dritte Deklination des Adjektivs ist dadurch entstanden, daß die Flexionsformen der Pronominal - Adjektivs (= des Artikels) auf sämtliche Adjektiv» übertragen wurden. Dies ist die starke AdjektivDeklination. Nach ihrem Ursprung unterscheiden wir demnach drei AdjektivDeklinationen: 1. Die nominale A-Deklination (die flexionslosen Formen); 2. die pronominale Deklination (die starke) und 3. die nominale H-Deklination (die schwache). n. Allmähliche Abschwächung der Endungen der AdjektivDeklination. Diese ist aus folgenden Paradigmen ersichtlich: Pronominale Deklination.

Ahd. Mask.

S. N. G. D. A. Pl. N. G. D. A.

plinte-r plinte-s plinte-mu plinta-n plinte plinte-rö plinte-m plinte

Fem.

plinti-u plinte-rä plinte-ru plinta plintö plinte-rö plinte-m plinte

Mhd. Neutr. plinta-z plinte-s plinte-mu plinta-z plintu plinte-rö plinte-m plintu

Mask.

blinde-r blinde-s blinde-me blinde-n blinde blinde-re blinde-n blinde

Fem.

blindiu blinde-r blinde-r blinde blinde blinde-r blinde-n blinde

Neutr.

blinde-j blinde-s blinde-me blinde-j blind-iu blinde-r blinde-n blindiu.

Drittes Kapitel: Das Adjektiv.

53

Nhd.

S. N. G. D. A.

Mask,

Fem.

Neutr.

blinder blindes blindem blinden

blinde blinder blinder blinde

blindes blindes blindem blindes

Pl. N. G. D. A.

blinde blinder blinden blinde. Schwache Deklination.

Ahd.

Mhd.

Mask.

Fem.

Neutr.

Mask.

S. N. G. D. A.

plinto plintin plintin plintun

plintä plintun plintun plintun

plintä plintin plintin plintä

blinde blinden blinden blinden

Pl. N. G. D. A.

plintun plintun plintön-ö plintön-ö plintö-m plintö-m plintün plintun

plintun plintön-ö plintö-m plintun

Fem.

Neutr.

blinde blinde blinden blinden blinden blinden blinden blinden blinden blinden blinden blinden.

Nhd. S. N. G. D. A.

Pl. N. G. T. A.

Mask.

Fem.

Neutr.

blinde blinden blinden blinden

blinde blinden blinden blinde

blinde blinden blinden blinde

blinden blinden blinden blinden.

III. Komparation. 1. Regelmäßige Komparation. Eine Eigentümlichkeit der regelmäßigen Komparation ist, daß das eine Ad­ jektiv im Komparativ und Superlativ den Umlaut annimmt, das andere nicht, z. B. schlank, schlanker, schlankst; alt, älter, ältest. Diese Ver­ schiedenheit wird nur aus den älteren Formen verständlich. Die En­ dungen für die regelmäßige Steigerung lauteten nämlich im Komparativ

54

Zweiter Teil: Wortlehre.

und Superlativ got. — iza und öza, — isto und östo, ahd. ir und ör, ist und ost. Diejenigen Adjektivs nun, welche früher ihre Steigerungs­ formen mit ir und ist bildeten, erhielten, wofern der Stammvokal um­ lautsfähig war, den Umlaut, während jene Adjektiv«, deren Steigerungs­ formen auf ör und ost endigten, nicht umlauteten. Doch ist dabei zu bemerken, daß man aus der nhd. Sprache nicht sicher auf den ursprüng­ lichen Vokal der Endung schließen kann, weil wiederholt Übergänge

stattgefunden haben. Schon die mhd. Sprache hat den Umlaut auch auf ö-Formen übertragen. 2. Unregelmäßige Komparation. Die Anomalie besteht darin, daß die Komparativ- und Superlativformen einem anderen Stamme angchören als der Positiv. Solche unregelmäßige Komparation haben namentlich Wörter des häufigsten Gebrauchs und zwar deshalb, weil die regelmäßige Formation bei unablässiger Wiederholung dieser Wörter eine sehr empfindliche Einförmigkeit in der Sprache zur Folge gehabt hätte. a. Der Stamm gut kann nicht gesteigert werden. Der Komparativ lautete schon ahd. pej-ir, Superl. pej-ist, nhd. besser, best. Als Adverb steht im Komp. mhd. baz, ahd. paz. Dieses Ad­ verb wurde im Anfänge der nhd. Periode noch gebraucht, aber auch schon als Positiv genommen; in neuerer Zeit trat da; ganz zurück und räumte dem nun auch adverbialisch gebrauchten besser den Platz. Wo baß noch vorkommt, besonders in der Poesie (z. B. die Jagdlust mag euch baß erfreuen), hat es die Positivbedeutung von (sehr) tüchtig. — Der Stamm zu diesen Formen ist bat, indogermanisch bhad — gut­ heißen, fördern. b. Der Stamm ubil, übel, nhd. übel hatte ursprünglich auch keine Steigerungsformen. Der alte Komparativ lautet ahd. wirsiro, mhd. wirser, der Superlativ ahd. wirsist, mhd. wirsest. Nhd. wird übel gesteigert. c. Für den Begriff groß wurde got. mikils gebraucht. Hiezu gehören die Sleigerungsformen maiza, maist. Diesen Formen entspricht ahd. mihhil, Komp, wer, Superl. meist, mhd. michel, mer, meist. Ursprünglich bedeuten somit diese Komparative und Superlative größer, größt; aber schon im Ahd. sind sie in den Begriff viel übergetreten. d. Der Begriff klein wurde ursprünglich ausgedrückt im Positiv durch got. leitils, ahd. luzil, mhd. lützel. Neuhochdeutsches lützel ist ausgestorben und dafür eingetreten klein, das früher die Bedeutung zierlich, niedlich hatte. — Der Komparativ des Adjektivs lützel hieß ahd. minniro, mhd. minner, nhd. minder; der Superlativ ahd. minnist, mhd. minnest, nhd. mindest. — Im Nhd. steigern wir klein, kleiner,

Drittes Kapitel:

Das Adjektiv.

55

kleinst. Die Formen minder, mindest werden gewöhnlich zu dem Positiv wenig gesetzt. e. Begriff viel. Vermutlich ist viel ursprünglich substantivisches Neutrum, weshalb es den Genitiv zu regieren vermochte, z. B. hie was Schimpfes vil; daneben wurde es adverbiell, selten anfangs adjektivisch und dann stets flexionslos gebraucht. Häufig wird der Begriff viel, wenn er flektiert und gesteigert werden soll, in der alten Sprache ver­ treten durch manac, mancher, Komparativ manaköro, Superlativ manaköst. Später wird der Stamm viel selbst flektiert, und manch er­ hält den unbestimmten Pronominalsinn — einige. f. Begriff wenig. Das alte Stammwort hiefür ist got. favs, ahd. föh-er; dieses Wort erlischt schon ahd. und wird ersetzt durch hizil, mhd. lützel. Ta nl)b. auch lützel veraltet, tritt wenig an dessen Stelle. Für den Komparativ und Superlativ wurden ahd. wahrscheinlich minniro, minnist, mhd. minner, minnest verwandt. 3. Mangelhafte Komparation, a. Den Adjektiven mit mangel­ hafter Komparation fehlt teils der Positiv, teils der Positiv und Super­ lativ, teils der Positiv und Komparativ. Hieher gehören: Positiv

Komparativ

Superlativ

außer — äußerst inner — innerst ober oberst — unter — unterst vorder — vorderst hinter­ — hinterst — mittler mittelst nieder — niederst — — ander — — erst — letzt — b. Diese mangelhaften Komparationen sind außer letzt nicht von Adjektiven, sondern von Partikeln gebildet; z. B. außer von aus, inner von in, ander von an (got. ana) u. s. w. — Zur Bildung von Komparationen der Partikeln dienten got. die Endungen tra, tuma, z. B. af (got. = von, weg), Komp, aftra, weiterweg, Super!, aftuma, der hinterste, letzte. Diese Steigerungsendungen haben sich nun wohl in den Komparativen vorder (ahd. fordar), hinter (ahd. hindar) u. s. w. erhalten, dagegen sind die ursprünglichen Superlative außer Gebrauch gekommen. Es wurden nämlich schon im Ahd. diese Komparative nicht mehr als solche gefühlt, sondern wie Positive angesehen und deshalb geschah die Superlatiobildung von dem als Positiv angenommenen Kom-

56

Zweiter Teil: Wortlehre.

parativ aus in regelmäßiger Weise; z. B. vom Komp, hintar entstand der Superl. hintaröst, ebenso wurde gebildet fordarost, nidaröst, untaröst u. s. ro., aus welchen Formen die heutigen Superlative hervor­ gegangen sind. c. Der Superlativ erst kommt von der ahd. Partikel er = frühe, Komp, erir, Superl. erist, mhd. e, erer, erest. Aus e wurde nhd. ehe, das regelmäßig steigert. Aus erest entstand das Zahlwort erste, und aus dem Superlativ erste, der bald nicht mehr als Superlativ gefühlt wurde, ging der Komparativ ersterer hervor. d. Letzt hat seinen Positiv und Komparativ verloren; es ist der Superlativ von mhd. laj, lässig, träge, Komp, lezzer, Superl. lejjest und lejt. — Aus dem Superl. wird analog wie von erst und aus dem gleichen Grunde ein neuer Komp, gebildet: letzter, der letztere.

Viertes Kapitel. Das Numerale. 1. Ursprünglicher Sprachschatz der Germanen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß unsere Vorfahren aus ihrer Heimat in Asten an Zahlwörtern nur die Grund- und Ordnungszahlen mitgenommen. Ein Hauptbeweis hiefür ist besonders die große Verschiedenheit im Aus­ drucke der übrigen Zahlenverhältnisse bei den verschiedenen Teilen des indogermanischen Sprachstammes. Ihren Grund hat diese Thatsache darin, daß erst eine höhere Kultur eine weitere Ausbildung der Zahl­ begriffe notwendig machte. II. Bildung und Bedeutung der Zahlwörter. 1. Der Zahlenkreis von 1 — 10. Die Grundzahlen von 1—10 sind nach den Resultaten der Sprachwissenschaft zum Teil aus Zusammen­ setzung hervorgegangen, oder es bildet die Grundlage des Zahlaus­ drucks eine sinnliche Anschauung. So soll vier gleich sein „zwei Zweier". Das Zahlwort fünf wird zurückgeführt auf die sinnliche Vor­ stellung der Hand. 2. Der Zahlenkreis von 10—100 (1000). a. Die Zahlen elf und zwölf sind gebildet mit lif: elf aus ein-lif und zwölf aus zwe-lif; dieses „lif“ ist als die Wurzel des jetzigen Verbs „bleiben" (— ahd. bilipan, mhd. bellten) zu betrachten und bedeutet — über, drüber sein, also einlif — eins über, zwelif = zwei über 10, welche Zahl als über­ flüssig verschwiegen ist. — Übrigens ist es auffallend, daß unsere Vor-

56

Zweiter Teil: Wortlehre.

parativ aus in regelmäßiger Weise; z. B. vom Komp, hintar entstand der Superl. hintaröst, ebenso wurde gebildet fordarost, nidaröst, untaröst u. s. ro., aus welchen Formen die heutigen Superlative hervor­ gegangen sind. c. Der Superlativ erst kommt von der ahd. Partikel er = frühe, Komp, erir, Superl. erist, mhd. e, erer, erest. Aus e wurde nhd. ehe, das regelmäßig steigert. Aus erest entstand das Zahlwort erste, und aus dem Superlativ erste, der bald nicht mehr als Superlativ gefühlt wurde, ging der Komparativ ersterer hervor. d. Letzt hat seinen Positiv und Komparativ verloren; es ist der Superlativ von mhd. laj, lässig, träge, Komp, lezzer, Superl. lejjest und lejt. — Aus dem Superl. wird analog wie von erst und aus dem gleichen Grunde ein neuer Komp, gebildet: letzter, der letztere.

Viertes Kapitel. Das Numerale. 1. Ursprünglicher Sprachschatz der Germanen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß unsere Vorfahren aus ihrer Heimat in Asten an Zahlwörtern nur die Grund- und Ordnungszahlen mitgenommen. Ein Hauptbeweis hiefür ist besonders die große Verschiedenheit im Aus­ drucke der übrigen Zahlenverhältnisse bei den verschiedenen Teilen des indogermanischen Sprachstammes. Ihren Grund hat diese Thatsache darin, daß erst eine höhere Kultur eine weitere Ausbildung der Zahl­ begriffe notwendig machte. II. Bildung und Bedeutung der Zahlwörter. 1. Der Zahlenkreis von 1 — 10. Die Grundzahlen von 1—10 sind nach den Resultaten der Sprachwissenschaft zum Teil aus Zusammen­ setzung hervorgegangen, oder es bildet die Grundlage des Zahlaus­ drucks eine sinnliche Anschauung. So soll vier gleich sein „zwei Zweier". Das Zahlwort fünf wird zurückgeführt auf die sinnliche Vor­ stellung der Hand. 2. Der Zahlenkreis von 10—100 (1000). a. Die Zahlen elf und zwölf sind gebildet mit lif: elf aus ein-lif und zwölf aus zwe-lif; dieses „lif“ ist als die Wurzel des jetzigen Verbs „bleiben" (— ahd. bilipan, mhd. bellten) zu betrachten und bedeutet — über, drüber sein, also einlif — eins über, zwelif = zwei über 10, welche Zahl als über­ flüssig verschwiegen ist. — Übrigens ist es auffallend, daß unsere Vor-

Viertes Kapitel:

Das Numerale.

57

fahren nicht wie die Bruderstämme, z. B. die Römer und Griechen,

einzehn, zweizehn bildeten. selbständige Zahlen bis

Es spricht dies dafür, daß unsere Ahnen

zwölf bildeten und damit zur Grundlage

eines Duodezimalsystems kamen. b.

Von 13—19 bestehen die Wörter aus den Einern und der

Zehnzahl. c. Die Dekaden

werden gebildet

fachen Zahlnamen mit „zig".

aus Verbindungen

der ein­

Dieses „zig" lautete mhd. zec, aljb. zuc,

zug, zoc, got. tigus und erweist sich desselben Stammes wie zehn; das got. tigus, Plural tigjus, ist ein Substantiv mit der Bedeutung — Einheit von 10 Einern. — Don 70 an benutzten die Goten das tigjus nicht

mehr, sondern tehund oder taihund, das nur ein anderer Ausdruck der Zehneinheit ist und dem entsprechend sich ahd. zö (j. B. sibunzö, ahtozö)

findet.

Auch dieser Wechsel im Zahlausdruck (von 60 an) deutet

darauf hin, daß die Germanen das Dezimalsystem in ein freilich unvoll­ kommenes Duodezimalsystem verwandelt haben.

d. Hundert und tausend sind gleichfalls keine ursprünglich ein­ fachen Zahlwörter.

Hundert ist nichts anderes als die Kürzung des

im Gotischen vorkommenden vollständigen taihun-taihund oder taihuntehund — zehn Zehner.

Es ist nicht unwahrscheinlich, daß auch in

tausend die Bezeichnung von 10x100 enthalten ist.

Das Wort tausend ist spezielles Eigentum der Germanoslaven;

die übrigen indogermanischen Völker haben für denselben Zahlbegriff andere Ausdrücke; es ist dies ein Beweis dafür, daß unsere indoger­

manischen Vorfahren vereint noch nicht bis zu diesem Zahlbegriffe vorgeschritten waren. Anmerkung. Von den Grundzahlen oder Kardinalia (= Angelzahlen, [lat. cardo = Angel), da sich um sie die gesamte Zahlenbildung dreht, wie die Thüre um die Angeln), stammen die Ordnungszahlen. Ferner werden mit den Grund­ zahlen mehrfache Zusammensetzungen gebildet; besonders gehören hieher die mit je, mal, fach, sättig (alt falt) und lei gebildeten Zahlwörter. — Je hat die Be­ deutung immer; mal ist ein altes Substantiv von der Bedeutung: Zeit, Zeitpunkt; fach und falt sind gleichfalls ursprüngliche Substantiva (das Fach und die Falte); lei stammt entweder aus dem Romanischen: lat. lex = romanisch ley, loi (loä) — Gesetz, oder es ist deutsch, mhd. leie = Art.

III.

Verlust und Neubildung

von Zahlwörtern.

Manche

Zahlwörter der älteren Sprache sind jetzt nicht mehr vorhanden, so das got. fruma — erst, das ahd. zehanzö — hundert, die ahd. Verviel­ fältigungszahlen eines,

zwiro, drior; nur in gewissen Verbindungm

steht noch das früher ganz allgemein übliche „ander" für zweit. —

Diese Verluste sind aber durch Neubildungen wieder ersetzt worden, so

Zweiter Teil: Wortlehre.

58

fruma durch erst, zehanzo durch hundert, eines, zwiro etc. durch ein-,

zweimal rc; für zweifach ist seit dem 16. Jahrhundert auch das Fremd­ wort doppelt (franz, double) eingedrungen. Erst um das 17. Jahr­ hundert sind ferner die Anführungszahlen auf „ens" entstanden,

z. B. erstens, zweitens rc. IV.

Der Zahlenkreis

dem anderer Sprachen. ist tausend.

der

deutschen

Sprache

gegenüber

Die höchste Zahleinheit der deutschen Sprache

Alle höheren Zahleinheiten wie Million, Billion rc

sind angenommene Fremdwörter.

In dieser Beziehung

Sprachen der deutschen weit überlegen.

sind

andere

Die griechische Sprache hat

einen Ausdruck für zehntausend (myrioi), die indische für hunderttausend

(Lak), für zehn Millionen (kror), ja selbst für Zahlen mit 51 Stellen;

dagegen gibt es freilich wieder Dolksstämme, deren Zahlen nicht über

zwanzig hinausgehen.

Die Zaparos z. B in Ecuador können nur bis

drei zählen und drücken höhere Mehrheiten durch Aufheben der Finger aus; das nämliche wird von den Botokuden versichert. Anmerkung. Das Wort Million begegnet uns zuerst 1494, die Wörter Billion und Trillion treten anfangs des 17. Jahrhunderts auf, und das Wort Milliarde ist erst in unserm Jahrhundert in Umlauf gesetzt worden.

Fünftes Kapitel. Das Pronomen. 1.

Das persönliche Fürwort.

und 2. Person.

1. Das Pronomen der 1.

Zu den Genitiven mein und dein sind verlängerte

Formen auf -er (meiner, deiner) gebildet worden; sie sind erst der Neu­

zeit angehörig. 2. Das Pronomen der 3. Person,

a. Das Pronomen „er,

sie, es" war ursprünglich durchweg, also auch im Plural geschlechtig; das Pronomen reflexivum dagegen vollständig un geschlechtig. b. Bemerkenswert sind

besonders die in diesem Pronomen vor­

kommenden Formübertragungen,

a. Der Genitiv des geschlechtigen

Pronomens er, sie, es lautete im Maskulinum und Neutrum „es";

diese Form ist erloschen und wird jetzt durch den Genitiv des Reflexivs „sein" (seiner) oder durch den Genitiv des Pronomen demonstrativum

„dessen" ersetzt; z. B. ich bedarf seiner nicht; ich bin mir dessen be­

wußt.

Der alte Genitiv

„sein"

hat somit außer der reflexiven auch

Zweiter Teil: Wortlehre.

58

fruma durch erst, zehanzo durch hundert, eines, zwiro etc. durch ein-,

zweimal rc; für zweifach ist seit dem 16. Jahrhundert auch das Fremd­ wort doppelt (franz, double) eingedrungen. Erst um das 17. Jahr­ hundert sind ferner die Anführungszahlen auf „ens" entstanden,

z. B. erstens, zweitens rc. IV.

Der Zahlenkreis

dem anderer Sprachen. ist tausend.

der

deutschen

Sprache

gegenüber

Die höchste Zahleinheit der deutschen Sprache

Alle höheren Zahleinheiten wie Million, Billion rc

sind angenommene Fremdwörter.

In dieser Beziehung

Sprachen der deutschen weit überlegen.

sind

andere

Die griechische Sprache hat

einen Ausdruck für zehntausend (myrioi), die indische für hunderttausend

(Lak), für zehn Millionen (kror), ja selbst für Zahlen mit 51 Stellen;

dagegen gibt es freilich wieder Dolksstämme, deren Zahlen nicht über

zwanzig hinausgehen.

Die Zaparos z. B in Ecuador können nur bis

drei zählen und drücken höhere Mehrheiten durch Aufheben der Finger aus; das nämliche wird von den Botokuden versichert. Anmerkung. Das Wort Million begegnet uns zuerst 1494, die Wörter Billion und Trillion treten anfangs des 17. Jahrhunderts auf, und das Wort Milliarde ist erst in unserm Jahrhundert in Umlauf gesetzt worden.

Fünftes Kapitel. Das Pronomen. 1.

Das persönliche Fürwort.

und 2. Person.

1. Das Pronomen der 1.

Zu den Genitiven mein und dein sind verlängerte

Formen auf -er (meiner, deiner) gebildet worden; sie sind erst der Neu­

zeit angehörig. 2. Das Pronomen der 3. Person,

a. Das Pronomen „er,

sie, es" war ursprünglich durchweg, also auch im Plural geschlechtig; das Pronomen reflexivum dagegen vollständig un geschlechtig. b. Bemerkenswert sind

besonders die in diesem Pronomen vor­

kommenden Formübertragungen,

a. Der Genitiv des geschlechtigen

Pronomens er, sie, es lautete im Maskulinum und Neutrum „es";

diese Form ist erloschen und wird jetzt durch den Genitiv des Reflexivs „sein" (seiner) oder durch den Genitiv des Pronomen demonstrativum

„dessen" ersetzt; z. B. ich bedarf seiner nicht; ich bin mir dessen be­

wußt.

Der alte Genitiv

„sein"

hat somit außer der reflexiven auch

Fünftes Kapitel:

Das Pronomen.

59

noch demonstrative Bedeutung erhalten. — Der alte Genitiv „es" lebt

noch in einigen Redensarten fort; z. B. ich bin's zufrieden; sie haben

es not; er weiß es mir Dank.

ß. Der Genitiv Singularis des ursprünglich ungeschlechtigen Reflexivs sin (sein, seiner) galt später nur mehr für das Maskulinum

und Neutrum; der Genitiv des Femininums ihrer (mhd. ir) ist aus dem geschlechtigen Pronomen er, sie, es entlehnt worden.

Es hat also

eine Form des geschlechtlichen Pronomens reflexive Anwendung gefunden.

/. Der Genitiv Pluralis des Reflexivs, der im Gotischen seina lautete, aber schon im Ahd. untergegangen ist, wird ebenfalls durch den

Genitiv des geschlechtigen Pronomens (ihrer, mhd. ir) ersetzt.

S.

des

Sehr früh, schon im Ahd. ist der deutschen Sprache der Dativ

Pron.

reflex.

abhanden gekommen;

auch

er

wurde

Kasus des geschlechtigen Pronomens ersetzt (ihm, ihr, ihnen).

Luthers Bibel heißt es:

durch

die

Noch in

Gottes Name ist zwar an ihm selbst heilig.

Martha machte ihr viel zu schaffen.

Jetzt dient die Form des Accusativs

sich auch für den Dativ Singularis und Pluralis. 3. Geschichtliche Entwickelung der Anrede,

a. Die Völker

des Altertums redeten eine jede Person, wes Alters oder Standes sie auch sein mochte, mit du an; einige Volksstämme huldigen dieser Sitte noch jetzt, z. B. die Tiroler, die Altbayern u. s. w.

b. In spätlateinischer Zeit wurde es üblich, gekrönte Häupter mit Diesem Umstande sowie dem regen Verkehre

dem Plural anzureden.

Deutschlands mit Rom ist es wohl zuzuschreiben, daß diese Sitte, höher

gestellte Personen als Mehrheiten zu betrachten und mit „Ihr" anzu­ reden, schon seit dem 9. Jahrhundert auch in Deutschland sich einschlich. c. Neben dem Ihr bediente man sich in der Anrede an Könige, Fürsten und

andere hohe Würdenträger auch ihrer Titel:

fürstliche Gnaden u. s. w.

Majestät,

Dadurch drang die dritte Person in die

Anrede und zwar sowohl die 3. Person Singularis als Pluralis, je nachdem der Titel eine Singular- oder Pluralform hatte: Euer kaiser­ liche Majestät hat befohlen, Euer fürstliche Gnaden sind der Meinung. d. Üblich wurde die dritte Person Sing, in der Anrede erst seit dem 17. Jahrh.

Um diese Zeit sank nämlich auch die Benennung Herr

und Frau zu einem bloßen Höflichkeitszeichen herab, und man fing an, sie gleich den Titeln höherer Personen in der Anrede zu brauchen. Indem

man dann die Rede mit dem Pronomen der dritten Person, mit er und

sie, fortsetzte, gewann die dritte Person allmählich die Herrschaft und galt für höflicher als das ältere Ihr.

Ein Schüler aus damaliger

Zeit schreibt: „der Rektor und seine Frau nannten uns nicht mehr „Ihr", sondern „Er"; dieses machte uns doppelt stolz."

Zweiter Teil: Wortlehre.

60

e. Noch später wurde die dritte Person Pluralis in der Anrede gebräuchlich.

Spuren davon finden sich schon gegen Schluß des 17. Jahr­

hunderts; festgesetzt hat sich aber diese Form der Anrede erst im Laufe

des vorigen Jahrhunderts.

Friedrich der Große hat sich übrigens dieser

Neuerung nie angeschlossen, er redete seine höchsten Beamten noch mit „Er" an.

f. Die neueste Steigerung der Höflichkeit besteht darin, daß das

Zeitwort im Plural auf die dritte Person der Einzahl angewandt

wird, sobald man von einer anwesenden Person spricht; z. B. der Herr-

Präsident haben zum Vortrage befohlen u. s. w.

Die unter e. und f. besprochenen Formen der Anrede sind bare Versündigungen

wider Sinn

und Geschmack,

deren sich

außer uns

Deutschen nur noch die Dänen schuldig gemacht haben.

II. Das besitzanzeigende Fürwort.

1. Bildung der Pro­

nomina Possessiva. Ihrer Bildung nach sind sie adjektivische Weiter­

bildungen aus den Genitiven der entsprechenden persönlichen Fürwörter. Die alten Formen zeigen das deutlich; so ist mein, meine, mein got. mein-s, mein-a, mein-ata, ahd. min-er, min-u, min-aj; im Laufe der Zeiten wurden aber die Bildungssilben wieder abgeschliffen, wodurch

dann gleiche Formen für den Genitiv des persönlichen Pronomens und das besitzanzeigende Fürwort entstanden.

2. Neubildung von Possessivpronomen,

a. Das Possessiv­

pronomen ihr als Femininum und als Plural ist im Ahd. noch nicht

üblich; auch im Mhd. kommt es nur sehr selten vor, erst mit dem 14. Jahrhundert wird es allgemein gebräuchlich. Früher wurde dafür der

Genitiv des Personalpronomens (ir) verwendet. b. Die Verlängerung der Possessiva mit -ig mein, meinig, dein, deinig u. s. w. kommt erst im 17. Jahrhundert vor. III. Das hinweisende Fürwort. Die Demonstrativa sind:

1. der, die, das; dieses Demonstrativ hat einen großen Teil seiner

hinweisenden Kraft eingebüßt; darum sank es zum Artikel herab, und deshalb nahm es auch verstärkende Bildungssilben an, z. B. dessen,

deren, Formen, die

bei Luther noch nicht üblich sind.

Die frühere

Sprache kannte keinen Unterschied der Form zwischen dem Demonstrativ und dem Artikel;

2. dieser, diese, dieses; das Pronomen dieser war in der goti­ schen Sprache noch nicht vorhanden; um so mehr greift es jetzt um sich

und verdrängt das mattere der; 3. jener, jene, jenes ist alt und hat sich teilweise schon abge­ nützt; das geht schon daraus hervor, daß es bereits den Artikel vor

sich nimmt;

Fünftes Kapitel:

Das Pronomen.

61

4. selber, selbst; letztere Form entstand aus dem schon mhd. ad­ verbial gebrauchten Genitiv selbes, zu dem ein unorganisches t trat; 5. derselbe und derjenige; die früher im Nhd., besonders bei Luther sehr übliche verlängerte Form derselbige ist jetzt fast ganz ver­ drängt; dagegen hat sich statt des früher gebräuchlichen derjene die verlängerte Form derjenige festgesetzt. 6. solch, got. sva-leiks, ahd. solih; es ist durch Zusammenziehung von sva — so und leik — Gestalt, Leib, gebildet; seine Grundbedeutung ist also „so beschaffen, so gestaltet." IV. Das fragende Fürwort. 1. Formen desselben, a. wer, was; zu diesem Pronomen besaß das Gotische besondere Formen für das Femininum und den Plural; b. welcher, welche, welches, ist hervorgegangen aus dem got. hve- leiks (ahd. hwelih, mhd. weih oder welch) — wie beschaffen von hve — wie und leik — Leib, Gestalt; c. was für ein ist eine nhd. Zusammensetzung. 2. Verloren gegangene Interrogativa. Das Gotische brauchte noch folgende Interrogativa: hvarjis, hvarja, hvarjata — wer von mehreren; hvathar — wer von zweien und hvelauds: wie groß; das erste kennt schon das Ahd. nicht mehr; vom zweiten hat unsere Sprache nur noch die Partikel weder, und vom letzten hat sich hochdeutsch gleich­ falls keine Form erhalten. V. Das bezügliche Fürwort. 1. Entstehnng des bezüg­ lichen Fürworts. Die deutsche Sprache kennt ein wirkliches Re­ lativpronomen nicht. Sie verschaffte sich aber solche dadurch, daß sie die fragenden Fürwörter (wer, was und welcher, welche, welches) und das Pronomen demonstrativum (der, die, das) als Relativa verwendete. Das Gotische schuf jegliches Pronomen, vor allem aber das Demonstrativ zum Relativ um durch Anhängung von -ei; z. B. sa, so, thata --- der, die, das — demonstrativ, sa-ei, so-ei, that-ei, welcher, welche, welches. Im Ahd. diente gleichfalls das Demonstrativ der als Relativ. Außer­ dem wurden die Fragepronomina durch Voransetzung des Demonstrativ­ adverbs so in Relativa von allgemeinerer Bedeutung umgewandelt, z. B. ahd. hwer und hwelih = wer? und welcher? so hwer und so hwelih = wer immer, welcher immer. Im Mhd. ist das Demonstrativ der, die, daj noch das meist übliche Relativ. Auch die Demonstrativ­ partikel so wurde allein als Relativ verwendet, wie zuweilen noch heute, aber altertümlich (betet für die, so euch verfolgen). Noch im Nhd. überwiegt anfänglich der Gebrauch von der, die, das; erst nach und nach verlor welch seine allgemeinere Bedeutung und wurde in gleicher Weise gebraucht wie der, die, das. Wer und was haben die frühere allgemeine Bedeutung bewahrt.

Zweiter Teil: Wortlehre.

62

Dem Volke ist der Gebrauch des Relativs noch jetzt nicht sehr geläufig; es wendet hiefür, soweit möglich, Demonstrativa an oder die

Partikel wo; z. B. der Mann, wo (—der) gestern begraben wurde. 2. Auslassung des Relativpronomens.

In sämtlichen älte­

ren germanischen Sprachen kommt es vor, daß das Relativpronomen zuweilen ausgelassen wird.

Das Relativum deutet nämlich das zu er­

weiternde Wesen nur an, es ist deshalb etwas Nebensächliches, der eigent­

liche Bestimmungsbegriff des Nebensatzes ruht im Prädikat.

Noch heute

wird eine solch andeutende Verknüpfung durch das Relativ in der eng­ lischen Sprache für so überflüssig erachtet, daß die Auslassung dieses

Pronomens geradezu Regel ist. 3.

Vorkommen

des

Relativpronomens.

Das

bezügliche

Fürwort ist vielseitiger Natur; es deutet nicht bloß an, sondern es ver­

knüpft auch Sätze, vereinigt daher mit der Eigenschaft eines Pronomens

zugleich die eines Bindewortes; daraus ergibt sich, daß dasselbe erst in In der That fehlt

einer höher entwickelten Sprache auftreten konnte.

denn auch dieses Pronomen weniger gebildeteil Sprachen gänzlich.

VI. Das unbestimmte Fürwort.

1. Mann ist im Got. nur

Substantiv und gelangt erst im Ahd. zu pronominaler Bedeutung. Die

orthographische Unterscheidung man und Mann ist nhd.

Mit man verbindet sich die ahd. Partikel eo (jemals, immer) zu

eoman, ioman, mhd. ieman, nhd. jemand. Durch Vorschiebung der Negation ni wird daraus neoman, nioman, mhd. nieman, nhd. nie­

mand. — Jedermann ist nhd. Zusammensetzung. 2. Etwas tritt zuerst im Ahd. auf; das et hat die ursprüngliche

Bedeutung von: oder, sonst. 3. Nichts hat sein s erst im Nhd. erhalten; bis dahin lautete es nicht; da diese Form aber unsere Negation geworden, bildete man

des Unterschiedes halber nichts. Nicht ist dreifach zusammengesetzt: ui — eo — wiht; ni ist Negation, eo die ahd. Form für je und wiht ist ein altes Substantiv, das wir noch als Wicht kennen und in Böse­

wicht u. s. w. erhalten haben. Es bedeutete ursprünglich: Wesen, Ding, Geschöpf. Die Bedeutung von nicht ist demnach: nicht je ein Ding. 4. Keiner hat an sich keinen negativen Sinn; denn das mhd.

dekein bedeutet irgend einer, und in dem mhd. nekein = nicht einer drückt ne die Verneinung aus; doch wurde später kein vorherrschend als aus nekein abgekürzt betrachtet, und so erhielt die negative Bedeutung das Übergewicht.

5. Einer ist das als unbestimmtes Fürwort gebrauchte Zahlwort. — Das irgend in irgendeiner ist aus ahd. eo (je, immer) hwergin — iowergin irgendwo entstanden.

und

63

Sechstes Kapitel: Das Verbum.

6. Jeder ist durch Zusammenziehung aus dem mhd. ieweder ge­ bildet; dieses ist wieder aus dem ahd. eo und dem Fragepronomen hwedar — welcher von zweien, zusammengesetzt; jeder hat somit, da das vorgesetzte eo dem Fragepronomen die Bedeutung des

Indefinitums

verleiht, eigentlich den Sinn von: irgendeiner von zweien; bald nimmt

es aber auch die Bedeutungen jeder von beiden und jeder von allen an. — Jedweder ist entstanden aus der mhd. Partikel ie (ahd. eo) und

dem unbestimmten Pronomen deweder — irgendeiner von beiden und erhielt wie jeder nhd. allgemeinere Bedeutung. —

Jeglicher ist zu­

sammengesetzt aus ie und gelicli (got. galeiks), gleich, bedeutet

also:

immer der gleiche — jeder. 7. Etlich kommt entweder von et, das auch in etwas vorhanden ist, und lieh (got. leist) oder von et und welich — irgend wie be­

schaffen.

Sechstes Lapitel. Das Verbum. I. Die durch die Konjugation ausgedrückten Beziehungen. Durch die Konjugation können an dem Verbalstamm folgende Beziehun­

gen zum Ausdruck gebracht werden: 1. Die Person. Die zur Bezeichnung der Person dienenden Flexions­

endungen sind ursprünglich nichts anderes als die an das Verbum an­ geschmolzenen Personalpronomina, die in der Urzeit der Sprache ohne Zweifel als selbständige Worte dem Verbum folgten, dann ihren eigenen Wortton verloren, sich verkürzten und mit dem vorangehenden Verb zu einem Worte verschmolzen.

Der Stamm des Pronomens der ersten Person ist ma (noch lebend in mi-ch); in der Endung des Verbs hat sich ma in mi ab­ geschwächt (bharämi altindisch ich trage), das dann in m überging.

Dieses m hat sich schon im Ahd. nur in denjenigen Verben erhalten,

welche die Endung unmittelbar an den Wurzelauslaut fügen, z. B. stä-m

ich stehe, gä-m ich gehe, tuo-m ich thue; im Mhd. ist dieses m zu n geworden, daher die Formen stä-u, tuo-n, gä-n. In der nhd. Schrift­ sprache ist das n in bin, ahd. bi-m das einzige Überbleibsel des ur­

sprünglichen Pronomens. Die Endung der zweiten Person ist aus tva hervorgegangen;

hieraus wurde teils ta, t (erhalten in solt du sollst, wüt du willst,

63

Sechstes Kapitel: Das Verbum.

6. Jeder ist durch Zusammenziehung aus dem mhd. ieweder ge­ bildet; dieses ist wieder aus dem ahd. eo und dem Fragepronomen hwedar — welcher von zweien, zusammengesetzt; jeder hat somit, da das vorgesetzte eo dem Fragepronomen die Bedeutung des

Indefinitums

verleiht, eigentlich den Sinn von: irgendeiner von zweien; bald nimmt

es aber auch die Bedeutungen jeder von beiden und jeder von allen an. — Jedweder ist entstanden aus der mhd. Partikel ie (ahd. eo) und

dem unbestimmten Pronomen deweder — irgendeiner von beiden und erhielt wie jeder nhd. allgemeinere Bedeutung. —

Jeglicher ist zu­

sammengesetzt aus ie und gelicli (got. galeiks), gleich, bedeutet

also:

immer der gleiche — jeder. 7. Etlich kommt entweder von et, das auch in etwas vorhanden ist, und lieh (got. leist) oder von et und welich — irgend wie be­

schaffen.

Sechstes Lapitel. Das Verbum. I. Die durch die Konjugation ausgedrückten Beziehungen. Durch die Konjugation können an dem Verbalstamm folgende Beziehun­

gen zum Ausdruck gebracht werden: 1. Die Person. Die zur Bezeichnung der Person dienenden Flexions­

endungen sind ursprünglich nichts anderes als die an das Verbum an­ geschmolzenen Personalpronomina, die in der Urzeit der Sprache ohne Zweifel als selbständige Worte dem Verbum folgten, dann ihren eigenen Wortton verloren, sich verkürzten und mit dem vorangehenden Verb zu einem Worte verschmolzen.

Der Stamm des Pronomens der ersten Person ist ma (noch lebend in mi-ch); in der Endung des Verbs hat sich ma in mi ab­ geschwächt (bharämi altindisch ich trage), das dann in m überging.

Dieses m hat sich schon im Ahd. nur in denjenigen Verben erhalten,

welche die Endung unmittelbar an den Wurzelauslaut fügen, z. B. stä-m

ich stehe, gä-m ich gehe, tuo-m ich thue; im Mhd. ist dieses m zu n geworden, daher die Formen stä-u, tuo-n, gä-n. In der nhd. Schrift­ sprache ist das n in bin, ahd. bi-m das einzige Überbleibsel des ur­

sprünglichen Pronomens. Die Endung der zweiten Person ist aus tva hervorgegangen;

hieraus wurde teils ta, t (erhalten in solt du sollst, wüt du willst,

Zweiter Teil: Wortlehre.

64

scalt du sollst), teils ti und si (altindisch bharasi du trägst), abgekürzt s. Dieses s findet sich noch im Ahd. (nimis du nimmst), vereinzelt selbst noch im Mhd.; sonst aber ist bereits für die letztere Sprachperiode Regel,

daß dem 8 ein t nachtritt, so daß mhd. und nhd. st als Endung der

zweiten Person Sing. gilt. Die Endung der dritten Person ist ti (altindisch bharati er

trägt), abgekürzt t (ahd. nimi-t, nhd. nimmt).

Wurzel dieser Endung

ist das Demonstrativ ta, er, der. Die Endung der ersten Person Pluralis heißt im ältesten In­ disch masi, das eine Verbindung ist von ma ich und si du, also den Sinn

hat — ich und du, d. i wir.

Im Ahd. war hievon nur mes übrig

(nema-mes wir nehmen), das im Mhd. und Nhd. zu n geworden. Für die zweite Person ergibt sich als älteste Endung tasi, die

aus dem zweimal gesetzten Pronomen der zweiten Person Singularis entstanden ist (ta = du und ti — du); tasi bedeutet demnach du und

du, d. i. ihr; hievon ist nur noch t geblieben; ahd. nema-t, ihr nehmt,

mhd. und nhd. neme-t, nehm-t. Die Endung der dritten Person Pluralis ist anti oder nti.

Diese Endung besteht wohl aus dem Stamme ana — er und der Sin­ gularendung ti --- er.

anti ist somit — er und er, d. i. sie; mit Ver­

flüchtigung des Endvokals wurde nti zu nt: ahd. nema-nt, mhd. neme-nt,

nhd. aber nehmen ohne t. Aus diesem Ursprung der Personalendungen erklärt sich auch, warum in den älteren Sprachen die Vorsetzung des Personalpronomens vor das

Derb unterbleibt; es ist ja schon in der Endung des Verbs enthalten; so heißt lat. bibit er trinkt. Später verschwand das Bewußtsein von der Bedeutung der Personalendungen, weshalb das Pronomen noch vor

das Zeitwort trat.

2. Der Numerus.

Der Numerus oder die Zahl ist wie beider

Deklination zweifach: Einzahl oder Singularis, Mehrzahl oder

Pluralis.

Das Gotische kennt auch noch Formen des Duals oder

der Zweizahl; doch find diese bereits im Ahd. nicht mehr erhalten.

3. Das Tempus.

Das deutsche Verbum hat ursprünglich nur

zwei Zeiten: das Präsens und das Präteritum, die Gegenwart und die Vergangenheit (letztere unser Imperfektum). Das Präsens genügte

zur Bezeichnung der Zukunft, indem das Zeitverhältnis als selbstver­

ständlich nicht genauer hervorgehoben oder aber durch irgend einen Zu­ satz angedeutet wurde. Diese Vertretung des Futurs durch das Präsens ist noch im Mhd. sehr häufig.

Doch veranlaßte das Bedürfnis, die

Zukunftsbedeutung genauer zu bezeichnen, bereits im Ahd. die Um­

schreibung mit sollen (sculan) und wollen (wellan) und dem Infinitiv.

Sechstes Kapitel: Tas Verbum.

65

Diese Umschreibung mit sollen und wollen dauert noch im Mhd. fort;

dazu kommt noch die durch müezen. Sehr üblich wird allmählich die Umschreibung durch werden mit dem Partizip der Gegenwart, z. B. ja wirt ir da dienende vil manic waetlicher man (gewiß wird ihr da dienen mancher weidliche Mann); werden mit dem Infinitiv

wird erst in der nhd. Zeit allgemein gebräuchlich. — Böllig fremd ist

noch dem Mhd. die nhd. Bildung des Futurums II.

Das Imperfektum diente im allgemeinen zur Bezeichnung jeder Vergangenheit; die Art der Vergangenheit wurde nicht durch besondere

Formen bezeichnet.

Umschriebenes Perfekt nnd Plusquamperfekt war

daher in der ältesten deutschen Sprache gar nicht vorhanden; erst im 10. Jahrhundert treten die mit hapen (haben) und sin (sein) umschrie­ benen Perfekte und Plusquamperfekte auf.

4. Der Modus.

Die deutsche Sprache hatte ursprünglich wie

zwei Tempora (Zeiten) des Indikativs auch nur zwei Formen des Konjunktivs, den des Präsens und den des Imperfekts.

Die um­

schriebenen Konjunktivformen sind erst im Verlaufe der weiteren Sprach­

entwicklung allmählich hinzugekommen. 5. Das Genus oder Geschlecht des Verbs ist jetzt zweifach: das thätige Geschlecht oder Aktivum und das leidende Geschlecht oder Passivum. Tas Gotische hat auch noch Spuren eines dritten

Genus', des Mediums, erhalten; es drückt die Zurückbeziehung der Thätigkeit auf das Subjekt aus; schon im Ahd. aber wurde es regel­ mäßig durch das Aktivum in Verbindung mit dem reflexiven Personal­ pronomen ersetzt, z. B. der Knabe freut sich. Das Passiv wird jetzt durch Verbindung des Partizips der Ver­

gangenheit mit dem Hilfszeitwort werden gebildet. In der germani­ schen Grundsprache gab es jedenfalls ein einfaches, nicht umschriebe­ nes Passiv, denn Spuren davon finden sich noch im Gotischen. Aber schon im Ahd. wird zur Bildung des Passivs stets Umschreibung angewendet, erst mit sm (sein), dann mit werdan (werden) mit dem Partizip des

Präteritums. Diese beiden Bildungsweisen bestanden im Mhd. fort; allmählich aber gewann „werden" die Herrschaft, und die ursprüngliche Beziehung auf die Zukunft verschwand im Sprachbewußtsein.

Die üb­ lichen Formen lauteten dann: ich werde, ich ward gelobt für Präsens und Imperfektum, ich bin gelobt, ich war gelobt für Perfekt und Plus­

quamperfekt.

Die durch worden verstärkten Formen kamen erst im

14. Jahrhundert in Aufnahme. — Mhd. noch nicht gebräuchlich waren

das Futurum I und das Futurum II des Passivs.

II. Die Nominalformeu des Verbs (Infinitiv und Par­ tizip).

Die deutsche Sprache hat nur einen einfachen Infinitiv, den

Geistbeck, Elemente der wissensch. Gramm.

5

66

Zweiter Teil: Wortlehre.

sog. Infinitiv Präsentis Aktiv!.

Diese Form des Infinitivs ist

auch die einzige, welche unsere Vorfahren in frühester Zeit kannten. Die zusammengesetzten Formen hat erst ein späteres Bedürfnis geschaffen.

Im Gegensatze zu den meisten anderen Sprachen scheint der deutsche Infinitiv sogar ein bestimmtes Genus des Verbs ursprünglich nicht zu

besitzen; er wurde in früherer Zeit fast stets, wie noch jetzt bei uns häufig,

nicht bloß aktivisch, sondern auch passivisch angewendet.

Namentlich gilt

dies von Ulphilas, der nur selten umschreibt; derselbe Gebrauch herrscht auch

im Ahd. Die passive Bedeutung des Infinitivs fühlt man noch heute in Sätzen wie: das ist nicht auszuhalten, die Sache ist schwer zu begreifen. — Der Infinitiv war ohne Artikel im Mhd. noch der

Deklination fähig, z. B. binden (binden), Genitiv bindemies, Dativ bindenne.

Partizipia kommen in der deutschen Sprache zwei vor:

das

Partizip des Präsens und das des Perfekts. — Als zusammengesetztes Partizip kommt noch das sog. Partizipium Futuri Passioi oder

das Gerundivum hinzu, z. B. das zu lesende Buch. Diese Form des Partizips ist hervorgegangen aus dem früheren Dativ des Zn-

finitios mit der Präposition zu: re lesenne. Das zweite n wurde nämlich im Laufe der Zeit aus euphonischen oder aus Bequemlichkeitsrücksichten zu d. Dadurch rückte diese Bildung formell dem Partizipium Präsens ganz nahe und wurde dann auch mehr und mehr als Partizipium ver­ wendet. LU. Arten der Konjugation. Nach der Bildung der Stamm­ formen (Präsens, Präteritum, II. Partizip) unterscheidet man bekannt­

Außerdem giebt es

lich die starke und die schwache Konjugation.

noch eine unregelmäßige oder anomale Konjugation.

A. Die starke Konjugation. 1. Klassen der starken Konjugation.

Stammformen bei der

starken Konjugation

Da die Bildung der

durch

Ablautung

des

Wurzelvokals erfolgt, so ist selbstverständlich die Veränderung, die der

Wurzelvokal der starken oder ablautenden Verba eingeht, von den S. 12. u. 13. erörterten Ablautreihen bedingt. Auf Grund der verschiedenen Arten der Ablautung, d. h. gemäß

dem in den Stammformen auftretenden Vokalwechsel hat man die starken

Verba in sechs Klassen geordnet. Dazu kommt noch eine siebente Klasse starker Verba; der Vokal­ wechsel dieser Klasse gründet sich aber nicht auf die Ablautreihen; man

nennt die hieher gehörigen Verba die unecht ablautenden oder die reduplizierenden. Von dieser Klasse wird im besondern die Rede sein.

Got.

praes.

Ahd.

impf.

part. perf.

praes.

2>chd.

impf.

siggva saggv sg. (suggvan-s sinku (lesen,fingen) suggvum pl.'/

part. perf.

praes.

impf.

part. perf.

sank sunkan-er sunkurmes [

singe

sanc sungen

gesungen

warf* worfan-er wurfümes 1

wirse

warf würfen

\ geworfen

stil

stal stalen

\ gestoln 1

gibe

gab gäben

geben

1.

vairj)a

4. fara

5. skeina

tr> *6. biuga

stal steluni

1

{vaürpan-s

wirfu werf am es

stulan-s

stilu stelames

\ giban-s

gab gebum

1

kipu kepames

for förum

\ faran-s

varu

'(

skain skinum

skinan-s

bang bugum

bugan-s

scinu

piuku piokames

stal \ stolan-er 1 stal um es 1

'1

kap käpumes

\ kepan-er (

vuor ) varan-er vuorumes 1

var

scein scinumes

scliine

vuor vuoren



schein schinen

( pouk pokaner ( pukumes 1

biuge \ bouc wir biegen X bugen

scinan-er

1

(

1 varn (

) geschinen

1 s gebogen 1

Kapitel: Das Verbum.

3. giba

"1

Sechstes

2. istila

varp vaürpum

68

Zweiter Teil:

Wortlehre.

Erläuterungen zu den Klassen der starken Verba, a. Der Wurzel­ vokal der 1. Klasse ist a. Das Imperfekt hat im Singular den Wurzelvokal a, im Plural die 2. Schwächung desselben zu u. Das Präsens zeigt die erste Schwächung des a zu ö und die Umbeugung i (vgl. hiezu S. 11). Das 2. Partizip hat den Vokal u, die 2. Schwächung des Wurzelvokals a, der aber schon frühe in manchen Verben zu o gebrochen ist (vgl. hiezu S. 11). Im Nhd. erscheint der Wurzelvokal a im ganzen Imperfekt. Ursache dieses Überganges des singulären Vokals a in den Plural ist das Streben nach Ausgleichung

der Formen. — Bei einigen Verba dieser Klasse ist das wurzelhafte a in o, sehr selten in u übergegangen, z. B. schwoll, schund. — Das a des Indikativs des Im­ perfekts ist vielfach auch in den Konjunktiv eingedrungen, während im Mhd. der Kon­ junktiv Imperfekt: vom Plural des Indikativs gebildet wurde und deshalb ü hatte, z. B. wir hülfen, Konj. wir hülfen; einige Verba haben diesen alten Laut noch jetzt bewahrt, z. B. ich verdürbe, ich stürbe. Manche Zeitwörter nehmen nhd. den Mittellaut ö an, z. B. ich gölte, rönne. — Die in den früheren Sprachperioden in der 1. Person des Indikativs des Präsens und im Singular des Imperativs infolge lautlicher Ausgleichung eingetretene Umbeugung des e in i ist nhd. durch erneute Ausgleichung vielfach wieder beseitigt, z. B. ich berge (mhd. ich birge), ich werfe (mhd. wirse). b. In der 2. Klasse ist wiederum der Wurzelvokal a; dieser ist im Singular des Imperfekts rein vorhanden, im Plural aber erscheint die erste Steigerung des a zu ä, got. e. Im Präsens ist gleichfalls die erste Schwächung des a zu e vorhanden, sowie die Umbeugung i. — Das 2. Partizip hat den Vokal u, die 2. Schwächung des Wurzelvokals a; er wird aber schon im Ahd. zu o gebrochen. Im Nhd. findet sich das wurzelhafte a gleichfalls im ganzen Imperfekt, aber meist verlängert, z. B. stahl; bei einigen Verbis ist a in o übergegangen, z. B. hob, flocht. — Die frühere Umbeugung des e in i ist ganz wie in der 1. Klasse in der 1. Person des Indikativs des Präsens und im Imperativ meist wieder beseitigt, z. B. ich stehle (ahd. ih stilu). Statt des Präsensvokals i und e stehen nhd. in unechter Weise auch ä, ö, o, z. B. ich räche (mhd. riebe), erlösche (mhd. lieche), komme (ahd. quimu). c. Der Wurzelvokal der 3. Klasse ist ebenfalls a. Diese Klasse stimmt fast ganz mit der zweiten überein; nur das 2. Partizip hat die 1. Schwächung des Wurzel­ vokals a zu 6; die got. Form zeigt die Umbeugung des e zu i. Im Nhd. tritt das wurzelhafte a ebenfalls im ganzen Imperfekt auf, aber in verlängerter Gestalt. Mit der Umbeugung verhält es sich ähnlich wie bei den zwei vorhergehenden Klassen. Bei einigen Verben nur bleibt die Umbeugung, z. B. in bitte, sitze; ganz selten ist dieses i zu ie verlängert, z. B. liege (mhd. liege). d. Auch der Wurzelvokal der 4. Klasse ist a; er zeigt sich rein im Präsens; doch kommt schon ahd. in der 2. und 3. Person des Indikativs des Präsens der Um­ laut vor, z. B. du crebis (du gräbst). Das Imperfekt hat die 2. Steigerung des Wurzelvokals a: uo, got. ö. Das 2. Partizip enthält wieder den kurzen Wurzel­ vokal a. Auch im Nhd. ist der Wurzelvokal im Präsens und im 2. Partizip vorhanden, aber häufig verlängert; nur das hieher gehörige stehen hat ein e erhalten; der Vokal des Imperfekts ist ein langes u. e. Der Wurzelvokal der 5. Klasse ist i. Das wurzelhafte i erscheint im Plural des Imperfekts und im 2. Partizip, der Singular des Imperfekts zeigt die 2. Steige­ rung des Wurzelvokals i: ei, got. ai. Das Präsens hat die 1. Steigerung des Wurzelvokals i: i, got. ei.

Sechstes Kapitel: Das Verbum.

69

Im N h d. ist das wurzelhafte kurze i nur mehr bei einem Teile der hieher gehörigen Verba im Imperfekt und im 2. Partizip erhalten (z. B. schnitt, geschnitten) ; andere Verba haben dasselbe in beiden Stammformen zu ie gedehnt, z. B. schied, geschieden. Das Präsens weist jetzt durchweg den aus mhd. i entstandenen Vokal

ei aus. f. Der Wurzelvokal der 6. Klasse ist u. Dieser findet sich im Plural des Im­ perfekts, der Singular des Imperfekts enthält bald ou, bald 6, got. au, alles Steige­ rungen des Wurzelvokals u. Das Präsens hat meist den Vokal iu, einzelne Verba haben auch ü, z. B. süfe, saufe; beide Vokale sind die 1. Steigerung des Wurzel­ vokals u. Das iu des Präsens wurde im Ahd., wenn die Nebensilbe ein a enthielt, meist zu io gebrochen, wofür mhd. ie eintritt. — Im 2. Partizip ist der Wurzel­ vokal schon ahd. zu o gebrochen.

Im N h d. ist der mhd. Diphthong iu, der sonst regelmäßig nhd. in eu über­ geht, bei den Verben dieser Klasse durch Lautausgleichung mit dem gebrochenen Plural (wir biegen) durch ie ersetzt. In der volkstümlichen Sprache und bei Dich­ tern hat sich aber der unausgeglichene (isolierte) Diphthong eu in der 2. und 3. Per­ son Singularis des Indikativs des Präsens und im Jmperattv erhalten, z. B. das ist seine Beute, was da kreucht und fleugt. Zeuch nicht in den finstern Wald! — Zwei Verba dieser Klasse haben statt ie ein unorganisches ü: lügen und trügen; aus ü wurde nhd. au, z, B. süfe, saufe. Das Imperfekt hat zum Teil langes, zum Teil verkürztes o, z. B. gebogen, gesotten. Das 2. Partizip enthält nhd. die Brechung des Wurzelvokals u zu o, das indes häufig verlängert ist, z. B. gebogen.

2.

Bildung des

Präteritums mit Reduplikation.

Eine

ansehnliche Zahl von Verben, die jetzt der ablautenden Konjugation

zugezählt werden, haben den im Präteritum auftretenden Vokalwandel

keinem der sprachlichen Vorgänge, die man unter Ablautung zusammen­ faßt, zu verdanken, sondern der Reduplikation.

Ursprünglich besteht

diese in der Verdopplung der ganzen Wurzelsilbe; diese Form der Reduplikation ist jedoch für die deutsche Sprache nicht nachweisbar.

Die gotische Jmperfektreduplikation hat sich in der Art festgesetzt, daß man den Ansangskonsonanten des Stammes mit nachfolgendem äi dem Präsensstamm voransetzte; z. B. halda (ich halte), Jmperf. häibald, stauta (ich stoße), Jmperf. stäistaut, hläupa (ich laufe), Jmperf. hlai-

läup.

Die reduplizierende Form schliff sich dann allmählich ab, und

man erhielt ahd. die scheinbaren Ablaute ia, io, iu; z. B. aus hai-

hald wurde ahd. hialt, aus stäistaut stioz, aus hläiläup hliuf.

Aus

diesen ahd. Imperfekten gingen schließlich durch einfache Verwandlung

des ia, io und iu in ie die mhd. und nhd. Formen hervor: ich hielt, hielt, ich stiez.

stieß,

ich lief,

lief.

Aus dieser Entwicklung

hellt, daß das ie dieser Verba keine Dehnung von i, wesentlich ist.

sondern

er­ ganz

Die Verdunklung des Ursprungs dieses ie ist aber schon

soweit gegangen, daß zwei dieser Präterita, weil der Vokal jetzt kurz gesprochen wird, mit bloßem i geschrieben werden; es sind das die Verba

Zweiter Teil:

70

Wortlehre.

fing und hing. — Solche reduplizierende Verba sind außer den ge­ nannten: hange, blase, brate, rate, haue, rufe, heiße, scheide, lasse. Anmerkung. Es ist unter den Sprachforschern viel darüber gestritten worden, ob Reduplikation oder Ablaut das ältere Bildungsmittel des Präteritums sei und ob, wie einige behaupten, der Ablaut aus der Reduplikation überhaupt erst, wie bei den reduplizierenden Verben, entstanden. Es spricht indes weder innerhalb der ger­ manischen Sprachen noch außerhalb derselben ein stichhaltiger Grund für die An­ nahme, daß der Ablaut aus der Reduplikation entstanden sei; vielmehr wird durch die Thatsache, daß z. B. im Griechischen Reduplikation und Ablaut neben einander und unabhängig von einander Vorkommen, sogar in demselben Verbum, klar dargetban, daß beide Arten der Formbildung zum Ausdruck des Präteritums benutzt worden sind. Indes ist die weit größere Herrschaft, die der Ablaut vor der Redupli­ kation voraus hat, ein Beweis für sein höheres Alter und seine Priorität; nur wo Vokalwechsel für die Darstellung des Präteritalbegriffs ungenügend erschien, oder wo er nicht eintreten konnte, weil der Wurzelvokal eine Steigerung nicht mehr zuließ, griff man zur Reduplikatton. Warum aber der Ablaut, der Vokalwechsel, zur Bezeichnung der Vergangenheit gewählt wurde, ist schwer zu entscheiden.

3. Endungen der starken Konjugation, a. Die Personal­ endungen treten in der deutschen Sprache nicht unmittelbar an die Verbalwurzel, sondern an den Verbalstamm. Unter diesem versteht man die Verbindung der in ihrem Vokal innerhalb der entsprechenden Ablautreihe veränderlichen Wurzel mit dem Verbalsuffix. Das Verbalsuffix der meisten starken Verba besteht aus a, nur bei wenigen (z. B. bitten, got. bitjan) aus ja, sehr selten fehlt das Verbalsuffix, z. B. gehn, stehn, thun. Das Verbalsuffix heißt auch Klassen- oder Bindevokal. Dieser ist jedoch schon im Got. vielfach geschwächt, noch mehr im Mhd. und Nhd., und in einigen Formen fällt er ganz ab; z. B. Wurzel band, got. Präsensstamm binda:

Präs. Indik, binda (ich binde) bindi-s bindi-th

binda-m (wir bindi-th binda-nd.

binden)

Die weiteren Veränderungen sind: Sing.

Plur.

Ahd. pintu (ich binde) pinti-s pinti-t pinta-mes pinta-t pinta-nt

Mhd. binde binde-st binde-t binde-n binde-t binde-nt

Nhd. binde binde-st binde-t binde-n binde-n binde-n

71

Sechstes Kapilcl: Das Verbum. Got.

Jmpert. Indik,

band bans-t band bund-u-m bund-u-tli bund-u-n

Nhd.

band

band-e-st band

band-e-n band-e-t

band-e-n.

Der Klassenvokal fehlt hienach im Got. im ganzen Sing, des Jm-

perf. Indik.; anch ist die Personalendung der 1. und 3. Person Sing,

bereits abgeworfen. Im Plural ist der Klassenvokal zu u geschwächt. Die got. zweite Pers. Sing, ist aus band-t entstanden; das d wurde

vor t (tva, ta, du) aus euphonischem Grunde zu s. b. Im Konjunktiv treten vor die Personenendungen noch besondere

Moduselemente.

So ist der Modusvokal des Präs. Konj. i; er

erscheint im Got. mit Ausnahme der ersten Person des Sing., wo er

sich verändert, in allen Personen; im Ahd., Mhd. und Nhd. dagegen wird er mit dem Klassenvokal zu e verbunden.

Got. binda-u binda-i-s binda-i binda-i-ma bindu-i-th binda-i-na

Präs. Konj.

Nhd. binde

bind-e-st binde bind-e-n

bind-e-t bind-e-n.

Der Konjunktiv des Imperfekts wirft schon im Got. in allen

Personen den Klassenvokal aus. Als Moduszeichen tritt im Got. ja, ei und i auf, woraus mhd. e wurde, das nhd. geblieben ist. Got.

Jmperf. Konj.

B.

bund-ja-u bund-ei-s bund-i bund-ei-ma bund-ei-th bund-ei-na

Nhd. bänd-e bänd-e-st

bänd-e bänd-e-n bänd-e-t

bänd-e-n.

Die schwache Konjugation.

1. Arten der schwachen Konjugation.

Im Got. und Ahd.

werden die Endungen des schwachen Präteritums vermittels eines Binde­

vokales angefügt. Je nach dem Bindevokal nun unterscheidet man noch

im Ahd. drei verschiedene Klassen schwacher Verba:

Zweiter Teil: Wortlehre.

72

1. solche mit dem Bindevokal i, z. B. legjan, legen, legita;

2. solche mit dem Bindevokal e, z. B. dagen, schweigen, dageta: 3. solche mit dem Bindevokal 6, z. B. salben, salben, salböta. Übrigens ist der Bindevokal nicht nur dem Präteritum, sondern auch den übrigen Teilen des Verbums, wie schon aus obigen Formen

des Infinitivs erhellt, zuständig. Im Mhd. find diese Bindevokale bis auf wenige Überreste zu e geworden oder ganz abgefallen: es gibt deshalb schon im Mhd., wie noch jetzt im Nhd. nur noch eine Klasse der schwachen Verba, die mit

dem Ableitungsvokal e. 2. Modussuffix und Personalendung.

Das Modussuffix des

Konj. Präs, und die Personalendungen sind die gleichen wie in der

starken Konjugation.

3. Die Bildung des schwachen Präteritums.

Die schwachen

Verba bilden bekanntlich ihr Präteritum durch Anfügung von -ete oder -te an den Stamm; z. B. ich bild-e, ich bild-ete; ich lob-e, ich lob-te. Dieses -te, das wir nur als Zeichen der vergangenen Zeit empfinden,

ist ursprünglich das Imperfekt des Zeitworts „thun"; das Imperfekt

„nährte" heißt also wörtlich: „nähren that ich."

Daß dem so ist, das

geht besonders aus einem Vergleiche der Endungen des schwachen got. Imperfekts mit dem ahd. Imperfekt von tuon (thun) hervor.

Endungen d. got. schwachen Jmperf. Sing. Plur.

-da -das -da

-deduni -deduth -dedun

Jmperf. des ahd. tuon. Sing. Plur.

teta tetös teta

tätumes tätut tätun.

Im Althochdeutschen ist bereits eine starke Verkürzung der got. Endungen eingetreten, die sich daraus erklärt, daß das Zeitwort thun

je länger je mehr als bloße Endung empfunden wurde.

Noch mehr

erblassen die Formen dieses Verbs im Mhd. und Nhd. Zur leichteren Übersicht über diesen Sprachvorgang mögen folgende

Paradigmen des Verbs „nähren" dienen. Got. Jmperf.

Sing.

Plur.

nas-i-da nas-i-das nas-i-das

nas-i-dedum nas-i-deduth nas-i-dedun

Ahd. Jmperf. Sing.

Plur.

ner-i-ta ner-i-tös ner-i-ta

ner-i-tumes ner-i-tut ner-i-tun

73

Sechstes Kapitel: Das Verbum,

Mhd. Jmperf. Sing, j.

ner-te

ner-test ner-te

Plur.

ner-ten ner-tet ner-ten

Anmerkung 1. Noch heute greift das Volk gerne zu dieser Umschreibung des Präteritums mit „thun" und folgt hierin unbewußt einem uralten Sprachtriebe. Auch Rückert und Uhland bedienen sich nicht selten derselben (das Tier. . „Und that so gar entsetzlich schnaufen .... Rückert; der tapfere Schwabe .... Und that nur spöttlich um sich blicken; Uhland.). Ebenso ist diese Umschreibung der ver­ wandten englischen Sprache noch jetzt geläufig (i [ei] did love [foö] = ich that lieben). Anmerkung 2. Die Bezeichnung „starke und schwache Konjugation" stammt von Jakob Grimm. Sie ist für die Konjugation sehr zutreffend: denn stark heißen mit Recht jene Verba, die aus sich selbst heraus durch eigene Kraft ver­ mittels der innern Flexion ihr Präteritum bilden; schwach dagegen jene, die zu diesem Zwecke die Unterstützung einer Endung bedürfen. Bis zum Jahre 1819, in dem Grimms Grammatik erschien, nannte mein seltsamer Weise die starke Konjuga­ tion, die jedenfalls die ältere ist und die Hauptkraft der deutschen Sprache enthält, die „unregelmäßige" oder wie Gottsched meinte, die „unrichtige", die schwache hingegen die „regelmäßige" oder die „richtige".

4. Die rückumlautenden Verba.

Es gibt in unserer jetzigen

Sprache sechs Verba mit dem Wurzelvokal e, welche diesen im Jmperf.

und im 2. Partizip in a verwandeln, nämlich: kennen, nennen, rennen, brennen, senden und wenden. Diese Verwandlung von e in a hat aber

nichts mit dem Ablaut des starken Verbs gemein, vielmehr sind diese Verba rein schwach. Ihr Wurzelvokal nämlich war ehemals a; sie lauteten kanjan, nanjan, brandjan u. s. w. dieses a wurde zu e durch

das i oder j der folgenden Silbe, also durch Umlaut; so entstanden die Formen: kenjan, kennan, kennen u. s. w. Da nun im Jmperf. und

und im 2. Partizip der aus i oder j entstandene Ableitungsvokal (Binde­ vokal) e ausgeworfen wird, so wird auch seine Wirkung, der Umlaut, wieder aufgehoben und der alte Wurzelvokal a wieder hergestellt. Diese Aufhebung des Umlauts nennt man Rückumlaut.

In älterer Zeit

fand der Rückumlaut allgemeiner statt als jetzt; man sagte z. B. auch satzte, stallte, horte.

In neuerer Zeit aber drang der Umlaut nach

Analogie des Präsens auch in die Imperfekte und 2. Partizipien früher

rückumlautender Verba; daher die Formen setzte, stellte, hörte. C.

Anomale Konjugation.

1. Das Zeitwort sein.

Dieses Verbum bildet seine Formen aus

drei verschiedenen Stämmen: aus Wurzel bhü = werden, wachsen, aus

Wurzel as = atmen oder sitzen und aus Wurzel vas = wohnen, bleiben.

Zweiter Teil: Wortlehre.

74

Von bhü ist gebildet: bin, bist, bis; letztere Form ist der Impe­ rativ; so noch bei Bürger (bis wohlgemut) und im Dialekt, wo er häufig bloß bi heißt. Don as stammen: ist, ferner die mit s anlautenden Formen: sind, sei, seid, sein; im Mhd. wurde von dieser Wurzel auch ein 2. Partizip

gebildet: gesln; es ist aber jetzt den Dialekten verfallen. Von vas kommt: war, wäre, gewesen. Früher gab es hievon noch

einen Infinitiv wesen, der uns noch im Subst. Wesen und in dem Derb verwesen erhalten ist, ein Partizip wesend, noch in abwesend

und anwesend vorhanden, und einen Imperativ wis. Die Thatsache, daß dieses Verb seine Formen aus verschiedenen

Wurzeln bildet, erklärt sich wohl daraus, daß die Sprache bei einem Worte, das als Kopula und als Hilfszeitwort fast in jedem Satze zur

Anwendung kam, die Eintönigkeit der Formen gleichen Stammes nicht ertrug; sie nahm daher zur Abwechslung verschiedene Verbalstämme in Dienst und beschränkte jeden auf eine gewisse Anzahl von Formen.

In

verwandten Sprachen, so im Latein und im Griechischen ist dasselbe der Fall.

2. Präterito-Präsentia.

Man versteht unter den Präterito-

Präscntia jene Verba, welche ihr ursprüngliches Präteritum als Präsens

benutzen und sich eine schwache Vergangenheit dazu bilden.

Diese Verba

sind: können, dürfen, sollen, mögen, müssen, wissen und wollen.

Daß das Präsens dieser Verba wirklich ein ursprünglich starkes Imperfekt ist, geht daraus hervor, daß 1. die erste und dritte Person

Singular keine Endungen haben, und die zweite kein e zuläßt; 2. der Plural einen andern Vokal enthält als der Singular (außer bei sollen); 3. der Konjunktiv (außer bei sollen) den Umlaut annimmt.

Die eigentliche Präsensform unserer Präterito-Präsentia ist schon in uralter Zeit verloren gegangen; es ist deshalb die wirkliche Bedeu­ tung dieser Präteritalformen

schwer

festzustellen.

Die Wurzel von

können ist gan — erzeugen, erkennen; daher ich kann — ich habe er­

kannt, ich verstehe; sollen geht wohl zurück auf die Sanskritform skhal — wanken, fehlen; daher ich soll- ich habe gefehlt und bin nun

schuldig gut zu machen; die Wurzel von wissen ist vid — sehen; daher ich weiß — ich habe gesehen u. s. w. Ähnliche Verba mit Präteritalform

und präsentischer Bedeutung

finden sich auch in anderen Sprachen (z. B. lat. odi — ich hasse, me-

mini = ich erinnere mich, novi ---- ich kenne, griech. oida — ich weiß); nur hatten diese Sprachen nicht die Macht, ein neues Präteritum dazu zu lilden, wie die deutsche.

75

Sechstes Kapitel: Das Verbum.

3. Die Verba mit ausfallendem Präsensnasal.

Die drei

Verba bringen, denken und dünken bilden ihre Präsensformen von dem den Nasenlaut n enthaltenden Stamme.

Im Jmperf. und 2. Par­

tizip dagegen verwandeln sie, da die Endungen te und t ohne Zwischen­

vokal angefügt werden,

nach

dem

Gesetze über

(vgl. S. 20) ihren Gaumenlaut in ch.

den

Auslautwechsel

Vor ch wird aber der Nasal n

stets ausgeworfen, und so ergeben sich folgende Formen: bringe

brachte

gebracht

denke

dachte

gedacht

dünke

deuchte

gedeucht.

IV. Wirkungen des Verfalls der Konjugation.

Wie in der

Deklination, so hat auch in der Konjugation die im Laufe der Zeit ein­ getretene Abschwächung der Endungen a. der sinnlichen Schönheit der Sprache Abbruch gethan und b. manche bedeutungsvolle Unterschiede schwinden lassen. Verschiedene Personen, verschiedene Numeri, verschiedene

Modi, ja zuweilen auch verschiedene Tempora, für die es früher laut­

lich gesonderte Formen gab, sind allmählich zusammengefallen. Die Form lösche z. B. kann bezeichnen die 1. Pers. Sing. Jnd. Präs., die 1. und 3. Pers. Sing. Konj. Präs., die 1. und 3. Pers. Sing. Konj. Prät. Welche Form damit gemeint ist, muß der Zu­

und den Imperativ.

sammenhang ergeben. V. Ersatzmittel für den Verlust von Konjugationsformen.

Zur Bezeichnung der früher durch die Endungen ausgedrückten Unter­

schiede hat die Sprache neue Mittel erworben,

a. Person und Numerus

werden durch die Anwendung der Pronomina personalia vollständig aus­ einander gehalten; in der 3. Pers. Sing, unterscheiden diese auch die Geschlechter; b. zum genaueren Ausdrucke des Zeitunterschiedes hat die Sprache mehrere zusammengesetzte Tempora gebildet; c. zur Unter­

scheidung der Modi dienen jetzt zahlreiche Adverbia, z. B. gewiß, wahr­ scheinlich, möglicher Weise, vielleicht u. s. w., sowie Hilfsverba. VI. Wirkungen der Analogie in der Konjugation. Wie die

Deklination, so ist auch die Konjugation reich an Wirkungen der Ana­ logie.

Die Ausgleichung der Formen in der Konjugation tritt unter

anderem in folgenden Fällen hervor:

1. in den Übergängen zwischen der schwachen und starken

Konjugation.

Einige Verba sind aus der schwachen in die starke

Konjugation übergetreten; doch sind es deren nur wenige. Ursprünglich schwach wurden z. B. abgcwandelt preisen, weisen, fragen. Viel zahl­ reicher aber sind die Übergänge aus der starken in die schwache Kon-

76

Zweiter Teil: Wortlehre.

jugation. Stark gingen z. B. hinke, winke, schmiegen, kauen, schrauben, falten, spalten; 2. in der Jmperativbildung; den starken Verben kamen von Hause aus die Formen ohne schließendes e zu, den schwachen dagegen die mit e; man sagte daher früher nur: bleib und fahr, aber folge und lerne; jetzt sagt man sowohl bleibe und fahre, als auch folge und lerne. Unsere Sprache sucht demnach auch bei der Jmperativbildung mehr und mehr eine formale Ausgleichung zwischen den beiden großen Kategorien der starken und schwachen Verba herzustellen; allerdings kennt die Schrift­ sprache noch nicht Imperative wie: eß, geb, werf, aber im Volksmunde trifft man sie schon häufiger an. 3. Andere Wirkungen der Analogie sind in den „Erläuterungen zu den Klassen der starken Verba" besprochen, so die Beseitigung der Umbeugung des e in i (ich werfe, gebe, mhd. wirse, gibe), die Än­

derung der Ablautsookale (ich warf, wir warfen, mhd. warf, wür­ fen, ich schien, wir schienen, mhd. schein, schinen), die Ausdehnung der Brechung (ich biege, du biegst, er biegt, wir biegen, mhd. hinge, hingest, hinget, wir biegen). 4. Hieher gehört auch das Eindringen des Umlautes in die Imperfekte und 2. Partizipien früher rückumlautender Verba (stehe oben S. 73).

Siebentes Lapitel. Adverbien. I. Einteilung. Der Abstammung nach zerfallen die Ad­ verbien in Nominaladverbien und Pronominaladverbien. Die Nominaladverbien stammen von Substantiven, Ad­ jektiven, Partizipien und Numeralien, die Pronominaladver­ bien sind von Pronominalstämmen gebildet. A. Die Nominaladverbien. Diese werden gebildet 1. von Substantiven und zwar a. mit dem Genitiv: abends, morgens, flugs, teils, allerdings (mhd. allerdinge), nachts (mit unregelmäßigem Genitiv) u.s.w.; b. mit dem Dativ: traun (alt triuwen — en triuwen, bei meiner Treue), heim (mhd. heime = zu Hause, daheim); aus der ältern Sprache leben ferner fort: weilen (mhd. wilen, Dat. Plur. von wlle — Weile) in zuweilen, bisweilen, halben (mhd. halben), Dat. Plur. von halbe —

76

Zweiter Teil: Wortlehre.

jugation. Stark gingen z. B. hinke, winke, schmiegen, kauen, schrauben, falten, spalten; 2. in der Jmperativbildung; den starken Verben kamen von Hause aus die Formen ohne schließendes e zu, den schwachen dagegen die mit e; man sagte daher früher nur: bleib und fahr, aber folge und lerne; jetzt sagt man sowohl bleibe und fahre, als auch folge und lerne. Unsere Sprache sucht demnach auch bei der Jmperativbildung mehr und mehr eine formale Ausgleichung zwischen den beiden großen Kategorien der starken und schwachen Verba herzustellen; allerdings kennt die Schrift­ sprache noch nicht Imperative wie: eß, geb, werf, aber im Volksmunde trifft man sie schon häufiger an. 3. Andere Wirkungen der Analogie sind in den „Erläuterungen zu den Klassen der starken Verba" besprochen, so die Beseitigung der Umbeugung des e in i (ich werfe, gebe, mhd. wirse, gibe), die Än­

derung der Ablautsookale (ich warf, wir warfen, mhd. warf, wür­ fen, ich schien, wir schienen, mhd. schein, schinen), die Ausdehnung der Brechung (ich biege, du biegst, er biegt, wir biegen, mhd. hinge, hingest, hinget, wir biegen). 4. Hieher gehört auch das Eindringen des Umlautes in die Imperfekte und 2. Partizipien früher rückumlautender Verba (stehe oben S. 73).

Siebentes Lapitel. Adverbien. I. Einteilung. Der Abstammung nach zerfallen die Ad­ verbien in Nominaladverbien und Pronominaladverbien. Die Nominaladverbien stammen von Substantiven, Ad­ jektiven, Partizipien und Numeralien, die Pronominaladver­ bien sind von Pronominalstämmen gebildet. A. Die Nominaladverbien. Diese werden gebildet 1. von Substantiven und zwar a. mit dem Genitiv: abends, morgens, flugs, teils, allerdings (mhd. allerdinge), nachts (mit unregelmäßigem Genitiv) u.s.w.; b. mit dem Dativ: traun (alt triuwen — en triuwen, bei meiner Treue), heim (mhd. heime = zu Hause, daheim); aus der ältern Sprache leben ferner fort: weilen (mhd. wilen, Dat. Plur. von wlle — Weile) in zuweilen, bisweilen, halben (mhd. halben), Dat. Plur. von halbe —

Siebentes Kapitel:

Adverbien.

77

Seite, Richtung) in allenthalben, meinethalben u. s. ro.; c. mit dem Accusativ: weg, allezeit, beispielsweise, diesmal, heint (mundartlich, ahd. Innaht aus hia naht — diese Nacht); substantivische Accusative sind auch je (got. äiv von äivs — Zeit, ahd. io, mhd. ie), nie (got. niäiv — nicht eine Zeit, nicht je, ahd. nio, mhd. nie) und nicht (be­ stehend aus der Negation ni, der Partikel eo oder io je und dem Sub­ stantiv wiht, Wesen — nicht je ein Ding); d. mit dem alten Instru­ mentalis: Heuer (ahd. hiürü aus hin jarü — in diesem Jahre), heute (ahd. Iiintü aus hiü tagü — an diesem Tage); e. mit Präpositionen: abseits, beileibe, überhaupt, selbem, himmelan u. s.w.; f. mit den Silben lich, .ings und wärts: rücklings, gerichtlich, ostwärts u. s. w.

2. Don Adjektiven und Partizipien und zwar a. mit der Stammform: neu, kühn, schnell u.s.w. — hinreichend, verstohlenu.s.w.; b. mi! dem Genitiv: rechts, links — zusehends, eilends u. s. ro.; be­ sonders gehören hieher die Superlativformen auf ens, z. B. höchstens, längstens u. s. ro.; c. mit dem Dativ: einzeln (Dat. Plur. von mhd. einzel); d. mit dem Accusativ: lang, breit, viel u. s. ro.; e. mit Präposit open: am längsten, überlaut, insgemein, gradaus, rundum u.f.ro.; f. mit den Silben lings, lich und e: blindlings, kürzlich, hoffentlich, flehentlich (das nt ist die ahd. Endung des Partizips), lange, ferne u. s. ro. — Von Adjektiven stammen ferner die Adverbien fast (mhd. vaste vom Adj. veste, fest), schon (vom Adj. schoene, schön), bald (mhd. balde vom Adj. halt, kühn, eifrig), gern (mhd. gerne vom Adj. gern — be­ gierig, kaum (mhd. küme vom Adj. küm, schwach), sehr (mhd. sere vom Adj. oder

);

3. dem Fragezeichen, welches an das Ende des Satzes oder Verses ge­

stellt wurde (

cJ*) und in longobardischen Handschriften als ein

über das erste Wort der Frage gestelltes

oder am Schluß als /X/

erscheint. — Natürlich bürgerten sich diese Zeichen nicht sofort und nicht allerwärts ein. — Sehr alt, aber nur vereinzelt im Gebrauch, sind auch

die Anführungszeichen,

die bereits in vorkarolingischer Zeit sich

finden. Ihre Form ist verschieden. — Abbrechung der Worte am Ende der Zeile wird lange Zeit in der Regel durch kein besonderes Zeichen

angedeutet; Striche am Ende der Zeile werden erst vom 12. Jahrhundert an häufiger, Doppelstriche vom 14. und noch mehr vom 15. an.

2.

Noch im 11. Jahrhundert ist das Streben nach sorgfältiger

Interpunktion ausdrücklich bezeugt.

regelnde und ein fehlte, so gelangte herrschaft, aber streng beobachtete

Da aber eine diese Neubildungen festes System durchführende Hand in der Folgezeit gar bald der alte einfache Punkt wieder zur Ober­ ohne daß man die frühere dreifache Höhenstellung und die Bedeutung der Pausen unterschied; man setzte

den Punkt gewöhnlich an den Fuß des Schlußbuchstabens, ans Ende eines Satzganzen ebenso, wie zwischen Satzglieder. Die Satzzeichnung wird von nun an überhaupt immer nachlässiger; sie bedient sich nur des Punktes und der Virgula oder des Striches (/)

oder fehlt ganz. So steht es mit den besten Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts, und es ist nicht zu verwundern, daß auch die ältesten Produkte der Buchdruckerkunst dieselbe Nachlässigkeit zur Schau tragen.

3. Die zu immer weiterer Verbreitung gelangende Buchdruckerkunst verhalf indes auch der Interpunktion wieder zu einiger Anerkennung. Die erste in deutscher Sprache abgefaßte Anleitung zur Zeichensetzung

stammt von Niclas von Wyle 1462, zuerst 1477 gedruckt.

Sein

System der „virgel, punkten und unterschaide" ist in aufsteigender Reihen­ folge /:. d.h. ebenfalls ein dreistufiges mit Benutzung der vorhandenen, aber bisher gleichwertig verwendeten Zeichen; dazu fügt er das Frage-

und Parenthesezeichen.

Niclas von Wyle führt demnach nicht neue

Dritter Teil: Syntaktisches.

110

Zeichen ein, sondern will nur die in Gebrauch befindlichen in fester

Regelmäßigkeit verwendet wissen.

Nebenher erwähnt er das ; als ein

Zeichen, das von etlichen unter dem Namen „Peryodus" statt des „schlech­ ten Punktes" (.) gesetzt werde. — 1473 erschien eine neue Unterweisung

von Steinhöwel; es fehlt ihr aber die Entschiedenheit, welche der Niclasschen eigen ist. Überhaupt blieben die orthographischen Bemühun­ gen dieser beiden Männer fast ganz ohne Erfolg.

Man druckt nach

wie vor nur mit Punkten oder Strichen, die unter sich in der Bedeutung gar nicht verschieden sind, teils läßt man die Satzzeichen ganz fehlen,

oder ein großer Buchstabe muß als Grenzbestimmung im Texte dienen. II. Neuzeit.

1. 1529 gab Kolroß in Basel eine ausführliche Interpunktions­ lehre heraus in seinem „Enchiridion". Dieselbe unterscheidet vier Punkte, nämlich Comma und Colon (/ deutsch, : lateinisch) als gleichbedeutend,

ferner Periodus (.) und Jnterrogativus (?).

Auch wird hinter jedem

Periodus ein großer Buchstabe verlangt, und von der Bedeutung der

„Ring oder Cirkellin" () wird ausführlich gesprochen.

Im wesentlichen

ist dies eine Wiederholung des Niclasschen Systems.

2.

1566 erschien in Venedig die wichtige „Orthographiae ratio1-

des erst 14jährigen jüngeren Aldus Manutius.

Sie enthält eine

„lnterpungendi ratio“, die auch für Deutschland grundlegend wurde. Wir finden nämlich darin, zunächst allerdings zum Gebrauch lateinischer Texte, unsere noch heut übliche Stufenleiter der Interpunktionszeichen mit scharfer Scheidung dargestellt; doch sind die Namen der Zeichen noch fast durchweg schwankend und unbestimmt. — In den Drucken des 16. Jahrhunderts herrscht bezüglich der Anwendung der vorhandenen Satzzeichen noch wirres Durcheinander. — Erwähnt sei noch, daß das 16. Jahrhundert die deutsche Satzzeichnung um das Ausrufungszeichen (!)

bereicherte. 3. Im

17. Jahrhundert gelangt,

in Deutschland,

die

Interpunktion

zu

trotz der gewaltigen Wirren

immer größerer

Konsequenz.

Fördernd wirkten namentlich die zahllosen, immer mehr vervoll­ kommneten Auflagen der Lutherschen Bibelübersetzung und außerdem die humanistischen Bestrebungen der deutschen gelehrten Gesellschaften.

Harsdörffers „Poetischer Trichter" (Nürnberg 1650) ist bereits nicht ohne Erfolg bemüht, für den praktischen Gebrauch die Fälle bestimmt zu

präzisieren, in denen jedes der gebräuchlichen Zeichen allein zu verwenden

sei. Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts bereichert uns auch um zwei wichtige Jnterpunktionslehren. Die eine ist enthalten in Schottels „Ausführliche Arbeit Von der Teutschen Haubt-Sprache" (1663) und stellt

Fünftes Kapitel:

Geschichte der deutschen Interpunktion.

111

folgendes System auf: Beystrichlein oder Comma (,), Strichpünktlein

oder Semicolon (;), Doppelpunkt oder Colon (:), Punkt (.), Mittelstrich oder Lincola(—=), Fragezeichen oder Signum Interrogationis(?), Ver­ wunderungszeichen oder Signum admirationis (!), Einschluß oder Parenthesis () und endlich das Teilzeichen oder Signum vocis divisae (-) zum

Abbrechen der Wörter bei Zeilenschluß.

Fast genau daran angelehnt

ist das System Bödikers in dessen „Grundsätzen der Deutschen Sprache

im Reden und Schreiben" (1690); nur heißt das ! wie noch heute Sig­ num Exclamationis oder „ Ausruffungs-Zeichen", und hinzugenommen

ist der seit diesem Jahrhundert übliche „Apostrophus oder Hinter-Strich", der nach Wackernagels Literaturgeschichte zuerst in Scheidts Grobianus 1551 auftritt.

4. Die 1723 zu Berlin erschienene neue Bearbeitung von Bödikers Grundsätzen durch Frisch steht im wesentlichen noch auf dem gleichen Standpunkte; doch ist das lange Komma (/) durchweg in das bequemere

kurze (,) verwandelt, und neben den runden Klaminern erscheinen auch noch die eckigen [].

5. Von viel größerer Bedeutung als alle vorher genannten Schriften ist für die deutsche Interpunktion Hieronymi Freyers „Anweisung

zur Teutschen Orthographie" (Halle 1722). Freyer geht vom Punkte aus als dem grundlegenden Zeichen; derselbe stehe „am Ende eines jeglichen

Periodi". Dann folgt das Kolon zur Unterscheidung der „Hauptstücke eines Periodi", und das Semikolon, sobald diese Hauptstücke wieder mehrfach geteilt sind. Das Komma „wird gebrauchet, wenn entweder bloße Wörter oder schlechte constructiones von einander zu unterscheiden

sind." Parenthesis und unci [] werden gleichfalls auseinandergehalten. Besondere Bemerkung verdienen noch das Signum attentionis („ein Unterstrich, wenn geschrieben wird, oder Schwabacher Schrift, wenn ge-

drucket wird") und das Signum citationis („" „wenn eines andern

auctoris Worte anzuführen und von der übrigen Rede zu unterscheiden sind"). Im übrigen denkt derselbe Freyer doch wieder recht gering vom Jnterpungieren, wenn er sagt: „Es ist ohne dem eine Kleinigkeit, wobey

an der gar zu großen und ängstlichen Accuratesse nicht eben so gar viel gelegen." 6. Auch Gottsched hat der Interpunktion eingehende Aufmerksam­ keit geschenkt.

Den Doppelpunkt nimmt er zuerst für die direkte Rede

namentlich in Anspruch, will ihn aber vor und hinter dieselbe gesetzt

wissen.

Im ganzen steht er durchweg auf dem Standpunkte Freyers.

Dritter Teil: Syntaktisches.

112

III.

Der gegenwärtige Zustand der deutschen Interpunktion.

Mit der klassischen Periode erfuhr die deutsche Sprache eine immer feinere Durchbildung, besonders bezüglich

des

Satzbaues.

Hand in

Hand damit ging auch eine immer größere Konsequenz des Jnterpun-

gierens. Es lassen sich von nun an gewisse, bestimmt unterschiedene Verhältnisse der Sätze namhaft machen, in denen so und nicht anders

interpungiert wird; geht man aber darüber hinaus, so zeigt stch, selbst Hat doch Goethe selbst

bei klassischen Schriftstellern, großes Schwanken.

die Interpunktion eine Kunst genannt, die er nie habe lernen können,

und von ihm wie von Schiller wissen wir, daß sie sich in zweifelhaften

Fällen bei kundigen Freunden Rats erholt haben. Zum Abschluß in allen wesentlichen Punkten kam die Interpunktion

durch die deutschen Grammatiker am Ende des vorigen und am Anfänge dieses Jahrhunderts. Unter ihnen sind zu nennen Heynatz, bei dem

uns zuerst eine ausdrückliche Erwähnung des Gedankenstrichs unter dem Namen „Pause" begegnet, dann Moritz, vor allem aber Joh. Christoph

Adelung, dessen Sprachlehre (1. Aust. 1781) auch die Interpunktion eingehend behandelt.

Die Klarheit, die Adelung dabei entwickelt, erobert

auch seiner Jnterpunktionslehre einen bahnbrechenden Einfluß auf die

Schulen.

Er unterscheidet zuerst scharf die Satzteil- von den Ton­

zeichen. Zu den letzteren rechnet er das Fragezeichen und das Aus­ rufungszeichen. Der Schlußpunkt, heißt es, steht „da, wo man in der Rede frischen Athem schöpfet". Der Gebrauch des Kolons wird auf drei Fälle beschränkt: dasselbe stehe vor dem Nachsatze, aber nur wenn der Vordersatz lang sei (sonst Semikolon), ferner vor Anführungen und

endlich

vor Aufzählungen.

Das

Semikolon

trenne Satzglieder von

einiger Länge, und das Komma stehe in allen übrigen Fällen.

Zuletzt

folgen die Anführungs-, Teilungs- und Bindezeichen, die Parenthese, die Zeichen einer abgebrochenen Rede („ „) und „der so oft gemißbrauchte Gedankenstrich". Diese klaren und bestimmten Grundregeln über Bedeutung und An­

wendung der Interpunktionszeichen wurden für die Folgezeit maßgebend.

Adelung kann also mit Recht für den Begründer der modernen deutschen gelten. Wohl sind diese Fundamente von späteren Grammatikern mit mehr oder weniger Glück nach dem herrschenden Gebrauch ausgebaut worden, aber ihre Lehrgebäude stehen alle auf dem­

Interpunktion

selben Adelungschen Boden.

Geschichte der deutschen Grammatik? Zu einer eigentlich deutschen Grammatik bringt es erst das Neuhochdeutsche. Bei deren Entstehung ist aber nicht außer acht zu lassen, daß die grammatischen Kate­ gorien nicht erst von den deutschen Grammatikern entdeckt worden sind; vielmehr sind sie ihnen von den Römern überliefert, und diese haben sie wieder von den eigentlichen Entdeckern, den Griechen, erhalten. So hängt die Entstehung der deutschen Grammatik auf das Engste mit den Überlieferungen des klassischen Altertums

zusammen. Das 16. Jahrhundert.

1. Zuerst wurde die Fertigung einer deutschen Grammatik von dem Humanisten Hans Krachenberger versucht. Da er aber im 2. Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts dahinstarb, ohne sein Werk (opus grammaticale de lingua germanica certis adstricta legibus) zu vollenden, so gebührt der Ruhm, die erste deutsche Grammatik geliefert zu haben, Valentin Jckelsamer, einem Zeitgenossen Luthers. 1531 oder bald danach schrieb er seine „Teutsche Grammatica, darauß ainer von jm selbs mag lesen lernen, mit allem dem, so zum Teutschen unnd desselben Orthographian mangel und Überfluß, auch anderm vil mehr, zu wissen gehört. Auch ettwas von der rechten art und Etymologia der teutschen Sprach und Wörter, unnd wie man die Teutschen Wörter in jhre silben taylen, unnd zusammen Buochstaben soll". Trotz dieses vielversprechen­ den Titels bietet Jckelsamer aber doch nicht mehr als eine Anleitung zum Lesenlernen und zur deutschen Orthographie. 2. Bedeutsamer ist die ganz gleichzeitige, 1531 zu Wittenberg erschienene Schrift des Magisters Fabian Frangk: „Teutscher Sprach Art und Eygenschafft. Orthographia, Gerecht Buochstaebig Teutsch zu schreiben. New Cantzlei, ietz braeuchiger, gerechter Practick, Förmliche Missiuen ^Briefe, Sendschreibens und Schriften an iede Personen rechtmessig zustellen, auffs kürtzst begriffen". Eine deutsche Grammatik ist auch dies Buch nicht, vielmehr eine Art von Brieffteller im weitesten Umfang; gleich­

wohl ist es von sprachgeschichtlicher Bedeutung; denn hier zum erstenmale wird der Begriff Schriftsprache dem der Mundarten scharf und konsequent gegenüber­ gestellt. Auch wird Luther hier zuerst von der Theorie als das anerkannt, was er in der Praxis längst gewesen. 1 Dieser Abschnitt ist bearbeitet nach Raumer, Geschichte der germanischen Philologie, (München, Oldenbourg, 1870), Rückert, Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprüche, 2 Bde. (Leipzig, Weigel, 1876), Engelien, Geschichte des deutsch-sprachlichen Unterrichts in Kehrs Geschichte der Methodik des deutschen Bolksschulunterrickts, 3. Bd. (Gotha, E. F. Thienemann, 1881), und Laas, der deutsche Unterricht auf

höheren Lehranstalten (Berlin, Weidmann, 1872). Geistbeck, Elemente der wissensch. Gramm.

114

Anhang.

3. 40 Jahre nach Jckelsamer (1573) kommt es zur Herausgabe einer wirklichen deutschen Grammaük, und merkwürdiger Weise treten nun Plötzlich fast zu gleicher Zeit zwei deutsche Grammatiken in die Öffentlichkeit. Die eine davon ist von Albert Oelinger in Straßburg, die andere von dem Ostfranken Laurentius Albertus in Würzburg; letzterer hat indes Mitteilungen aus der Handschrift Oelingers in un­ redlicher Weise benutzt, so daß wir Oelinger als den ersten bezeichnen dürfen, von dem wir eine eigentliche deutsche Grammatik besitzen. Sein Buch behandelt die deutsche Grammatik in lateinischer Sprache ganz nach dem Muster der antiken, bespricht zuerst die Buchstaben und deren Aussprache, dann die einzelnen Redeteile, gibt hierauf eine kurze Syntax und eine noch kürzere Prosodie. Von einem tieferen Eindringen in den Bau der deutschen Sprache ist keine Rede. — Albertus hat trotz seines Plagiats doch auch manches Selbständige. In anerkennenswerter Weise richtet er z. B. sein Augenmerk auf die Ableitung der Wörter. Aber wie sehr die deutsche Grammatik hier noch in den allerersten Anfängen steht, dafür genügt es anzuführen, daß unter den von ihm aufgezählten Endsilben auch odt erscheint, so in gebodt,

mandatum. 4. Ein größeres und länger behauptetes Ansehen hat sich der Magister Johannes Clajus erworben, dessen Werk 1578 unter dem Titel „Grammatica Germanicae linguae“ erschien. Ihm ist Luthers Sprache die Richtschnur für die deutsche Schriftsprache, wie auch schon der Zusatz auf dem Titel anzeigt: Ex bibliis Lutheri Germanicis et aliis ejus libris collecta. Wie schlimm es übrigens auch bei Clajus mit der Grammatik stand, erhellt z. B. daraus, daß er ganz roh die Wörter nach ihren Endbuchstaben durchnimmt und danach ihr Geschlecht bestimmen will. Ebenso hat er den sonderbaren Einfall, die Verben nach alphabetischer Ordnung ihrer Endsilben (reines en, ben, den, ffen, gen rc.) zussmmenzustellen und so das Zu­ sammengehörige fast durchweg auseinanderzureißen und das Fremdartigste zu vereinen.

Das 17. Jahrhundert. Zwischen den Grammatikern des 16. und 17. Jahrhunderts liegen einige Vor­ gänge, welche mehr oder minder auch auf die Entwicklung der deutschen Sprachwissen­ schaft von Einfluß waren. Mit Opitz (f 1629) beginnt ein neuer Abschnitt in der Geschichte der deutschen Dichtung, durch Wolfgang Ratke (f 1635) und seine Ge­ nossen wird der deutschen Sprache im Unterrichtswesen eine bedeutende Stelle ein­ geräumt, und um diese Zeit erfolgte auch die Gründung der deutschen Sprach­ gesellschaften, die trotz aller Wunderlichkeiten und Geschmacklosigkeiten nicht wenig dazu beitrugen, in einer jammervollen Zeit die Liebe zur deutschen Sprache wach zu erhalten. — Unter den deutschen Grammatikern des 17. Jahrhunderts erwähnen wir folgende: 1. M. Joh. Kromayer (t 1643); von ihm stammt die „Deutsche Gram­ matica, Zum netten Methodo, der Jugend zum besten, zugerichtet für die Weymarifche Schuel, Auff sonderbaren Fürstl. Gn. Befehl. Gedruckt zu Weymar. — Im Jahre 1618." — Das Buch ist in doppelter Beziehung merkwürdig, erstens, weil es die erste in deutscher Sprache geschriebene deutsche Grammaük ist und zweitens, weil es trotz der Wunderlichkeiten der Ratichschen Methode doch einen bemerkenswerten An­ fang zur Herstellung einer wirklichen deutschen Elementargrammaük bildet. 2. Christian Gueintz; er verfaßte 1641 eine Grammaük mit dem Titel „Deutscher Sprachlehre Entwurf". Sein Bemühen ging besonders dahin, alle Kunstwörter zu verdeutschen; denn wie die ganze Richtung, der er angehörte, deutsch schrieb, so glaubte er selbst ebenfalls ganz deutsch sein zu müssen. Es wurde

Geschichte der deutschen Grammatik.

115

daher von ihm eine ganz eigene Terminologie eingeführt, die freilich zugleich eine Warnung ist gegen alle willkürliche Neuerung; oder wer versteht jetzt noch folgenden Satz: „Der sonderbare Zufall ist die völligkeit" oder den Ausdruck: „von der einfächtigen Endannehmung des Mittelwortes"? 3. Joh. Girbert; sein Werk: „Die deutsche Grammatica oder Sprach­ kunst" erschien 1653; er bringt die ganze deutsche Grammatik in 78 ausführliche Tabellen; manches darin ist gar nicht übel, anderes freilich wunderlich genug. Schon damals war eben nicht bloß bisweilen Methode im Unsinn, sondern auch öfters Un­ sinn in der Methode. 4. Justus Georg Schottelius (1612—1676). Er war einer der trefflichen Männer, die während der traurigsten Zeit innerer Zerrissenheit und ausländischer Einmischung nicht an der Zukunft unseres deutschen Vaterlandes verzweifelten und nach Kräften an dessen Aufrichtung und innerer Stärkung arbeiteten. Seine Be­ mühungen um die deutsche Sprache sind durchzogen von der tiefsten Trauer über den politischen Zustand Deutschlands und von der festesten Zuversicht auf dessen künf­ tige Größe. Als Mitglied der fruchtbringenden Gesellschaft begnügte er sich nicht mit den wohlgemeinten Äußerlichkeiten, sondern er strebte, der Gesellschaft und dem Vater­ lande durch rastlose Bearbeitung der deutschen Sprache Ehre und Vorteil zu bringen. — Das Hauptwerk dieses bedeutendsten deutschen Grammatikers des 17. Jahr­ hunderts führt folgenden Titel: „Ausführliche Arbeit Von der Teutschen Haubt Sprache, Worin enthalten Gemelter dieser Haubt Sprache Uhrankunft, Uhraltertuhm, Peinlichkeit, Eigenschaft, Vermögen, Unvergleichlichkeit, Grundrichtigkeit, zumahl die Sprach Kunst und Vers Kunst Teutsch und guten theils Lateinisch völlig mit eingebracht, wie nicht weniger die Verdoppelung, Ableitung, die Einleitung, Nahmwörter, Authores vom Teutschen Wesen nnd Teutscher Sprache, von der verteutschung, Item die Stammwörter der Teutschen Sprache samt der Erklärung und derogleichen viel merkwürdige Sachen." Schottel hat in diesem Werke manche richtige Blicke ge­ than und seine Ansichten mit großem Fleiße ausgeführt. So ist z. B. aller An­ erkennung wert, was er über die deutsche Wortbildung sagt; aber wie weit auch er noch von der richtigen Erkenntnis der deutschen Sprache entfernt war, dafür sollen nur zwei Belege angeführt werden. Was das Geschlecht der Wörter betrifft, so be­ schränkt er sich darauf, einige wenige Regeln vorauszuschicken, und dann führt er die Wörter nach ihren Endbuchstaben auf. Die deutschen Verba aber verteilt er unter zwei Konjugationen: „die gleichfliessende (Regularis) und ungleichfliessende (Irregularis) oder die ordentliche und unordentliche". Von den „ungleichfliessenden", d. h. starken Zeitwörtern sagt er, daß man ihre „Formirung nicht leichtlich in etzliche Lehrsätze fassen könne", und begnügt sich dann, sie in alphabetischer Reihenfolge aufzuzählen. — In Bezug auf die geschichtliche Erforschung der deutschen Sprache ist es schon sehr ehrenwert, daß Schottel sich mit nicht geringem Fleiß auf eine Geschichte der deutschen Sprache einläßt. Freilich entwickelt er auch nach dieser Seite manche irrige Ansicht, so wenn er z. B. die deutsche und keltische Sprache als identisch betrachtet. Ferner nimmt er allen Ernstes an, daß die verkümmerten nhd. Formen der Deklinations­ und Konjugationsendungen die uralten, regelrechten seien, von denen man sich aus Ungeschick, aus Unachtsamkeit und Geschmacklosigkeit, zum Teil auch aus Nachahmung des Lateinischen entfernt habe. Immerhin ist Schottels Werk die ausführlichste, über­ sichtlichste und im ganzen richtigste Zusammenstellung des gebildeten Sprachdurch­ schnittes, die bis dahin gegeben worden war. 5. Daniel Georg Morhof (t 1691); er ist in wissenschaftlicher Erfassung der Sprache Schottel überlegen; sein diesbezügliches Werk führt den Titel „Unterricht

116

Anhang.

von der Teutschen Sprache und Poesie" und ist namentlich von Bedeutung durch die treffenden Äußerungen über die richtige Behandlung der deutschen Etymologie. Fast wie eine Prophezeihung auf Jakob Grimm klingt folgende Bemerkung: „Die Consonantes werden in einander verwandelt, nachdem sie ihnen unter einander verwandt, oder von einem organo gebildet werden". „Hie kann nun gar wol eine gewisse Richtigkeit getroffen und feste Regulen auß inständiger Observation gezogen werden." Im übrigen ist auch bei Morhof das Richtige mit sehr viel Unrichtigem und Ver­ kehrtem vermischt, und von einer vergleichenden Grammatik, die sich auf die Ver­ wandtschaft und Umwandlung der Flexionen gründet, hat er noch gar keine Ahnung. Die Errungenschaften des 17. Jahrhunderts bestehen darin, daß die Sprache, welche das 16. Jahrhundert überliefert hatte, bis ins einzelnste als Schriftsprache festgesetzt und auch in den Gebrauch des höheren Unterrichtes eingeführt wurde. 1687 kündigte der Leipziger Professor Christian Thomasius die erste deutsche Uni­

versitätsvorlesung an. Das 18. Jahrhundert. Um die Wende des 18. Jahrhunderts beginnt unter dem Einflüsse der Philo­ sophen Leibniz, Thomasius und Christian Wolff mehr und mehr eine ver­ standesmäßige Auffassung der Dinge das deutsche Geistesleben zu beherrschen. Und dies zeigt sich auch alsbald auf dem Gebiete der Grammatik. 1. Noch 1690 erschien von Joh. Bödiker (f 1695) zu Berlin eine Schulgrammatik unter dem Titel: „Grund-Sätze Der Deutschen Sprache Im Reden und Schreiben." Als Lehrbuch übertrifft diese Grammatik entschieden die vorausgegangenen. In kurzen und bündigen Sätzen wägt der Verfasser seine Regeln vor, und in mehr als einer Beziehung hat er die Festsetzung der deutschen Schriftsprache gefördert. Viel weniger­ glücklich ist er dagegen in seinen Versuchen, die deutsche Sprache gelehrt zu erforschen. So ist ihm z. B. die deutsche Sprache die älteste Tochter der hebräischen und die Mutter der griechischen, lateinischen und aller anderen europäischen Sprachen. Dem ent­ sprechend leitet er die deutschen Wörter unmittelbar aus dem Hebräischen ab und zwar in haarsträubender Weise. Ein regelrechtes Mittel der Etymologie sieht er z. B. in der „Rücklesung." Durch solche Umdrehung soll das hebräische nahag das deutsche gehen, das hebr. naschak das deutsche küssen sein u. s. w. 2. Das kleine Buch des Breslauer Arztes Christoph Ernst Steinbach (11741) „Kurtze und gründliche Anweisung zur Deutschen Sprache" ist dadurch merkwürdig, daß der Verfasser die Annahme, als seien unsere starken Verba irregularia, verwirft. Er teilt vielmehr unsere Verba in zwei Konjugationen, und reiht in die erste die verba primitive, die „das Supinum auf en bilden." 3. Zu den bedeutendsten Männern, die ihre Gaben der Erforschung der deutschen Sprache gewidmet haben, gehört Joh. Leonh. Frisch, geb. zu Sulzbach in der Oberpfalz 1666 und gestorben als Rektor des Berliner Gymnasiums zum grauen Kloster 1743. Von seinen vielen Arbeiten auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft ist hier nur dessen neue Ausgabe des Bödikerschen Buches zu erwähnen. Die bündigen, meist ganz guten „Grund-Sätze" selbst hat er gewöhnlich beibehalten, da­ gegen Bödikers schwache und oft sehr verkehrte Erläuterungen teils beseitigt, teils

berichtigt. 4. Johann Christoph Gottsched, Professor der Philosophie und Dichtkunst in Leipzig (geb. 1700, gest. 1766) erblickte seine eigentliche Aufgabe in der gramma­ tischen Regelung und Festsetzung der deutschen Schriftsprache zum praktischen littera­ rischen Gebrauch. In der That nimmt Gottsched unter den Männern, denen die

Geschichte der deutschen Grammatik.

117

neuere deutsche Schriftsprache ihre grammatische Festsetzung verdankt, keine unbedeu­ tende Stelle ein. Bon den früheren Grammatikern, welche sich auf Luthers Sprache stützen, unterscheidet er sich dadurch, daß er „die besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts" als Muster bezeichnet. Das wichtigste Buch Gottscheds über die deutsche Sprache ist dessen (so lautet der Titel der 5. Auflage) „Vollständigere und Neuerläuterte Deutsche Sprachkunst." Den großen Einfluß auf grammatischem Gebiete, den sich Gottsched erwarb, verdankte er teils seinem wirklich rühmenswerten Eifer für die deutsche Sprache und der nüchtern überlegten Auffassung seines Gegen­ standes, teils dem Geschick, womit er sich zum Mittelpunkt wie aller litterarischen, so aller grammatischen Bestrebungen zu machen wußte. Nachdem er übrigens durch Klopstock und Lessing auf dem Gebiete der Litteratur in den Staub geworfen war, war es auch mit dessen Ansehen als Grammatiker vorbei. 5. Der eigentliche Erbe von Gottscheds tonangebender Stellung, der indes den Ruhm seines Vorgängers auf dem Gebiete der deutschen Grammatik bei weitem

übertraf, war Johann Christoph Adelung, geb. 1732, gest. 1806 als Hofrat und Oberbibliothekar in Dresden. Verständlichkeit und Klarheit sind nach ihm die Haupttugenden, durch die eine Sprache sich auszeichnet. Die neueren Sprachen sind deswegen vollkommener als das Griechische und Lateinische. Mit Gottsched teilt er die Abneigung gegen provinzielle Wörter und veraltete Ausdrücke. Die Sprache der altdeutschen Dichter zum Nachteil unserer heutigen empfehlen, heißt ihm wieder zu den Trebern zurückkehren, von welchen man gekommen sei. Die alten Deutschen hatten grobe und ungeschlachte Sprachwerkzeuge und konnten daher die wenigen Begriffe, die sie hatten, nicht anders als durch rauhe und ungeschlachte Töne ausdrücken. Auch Luther ist nach Adelung noch roh und grob, örtlich maßgebend

ist ihm wie Gottsched die Sprachwcise der oberen Klassen Obersachsens, die durch das Obersächsische gemilderte und durch Geschmack und Wissenschaft ausgebildete oberdeutsche Mundart; das südliche Obersachsen ist Deutschlands Attica und Toscana. — Die Frage, ob es besser ist, seine Muttersprache grammatisch, d. i. mit Bewußtsein der Sprachregeln oder aus bloßer Übung zu erlernen, ist für ihn sehr leicht zu entscheiden, sobald man nur über den Vorzug der klaren und deutlichen Erkenntnis vor der dunkeln und verworrenen einig ist. — Seine grammatischen Arbeiten begann Adelung mit seiner „Deutschen Sprachlehre". Zum Gebrauche der Schulen in den König­ lich Preußischen Landen," 1781. Im folgenden Jahre ergänzte er diese Schulgram­ matik durch sein „Umständliches Lehrgebäude Der Deutschen Sprache zur Erläuterung der deutschen Sprachlehre für Schulen, 1782." In ihm hat er nieder­ gelegt, was ihm sein philosophisches und historisches Studium der deutschen Sprache ergeben hat. Die Lehre von der Bildung, der Biegung und der Zusammensetzung der Wörter ist nicht ohne richttge Bemerkungen, aber im ganzen gehört sie zu jenen Leistungen Adelungs, die am weitesten hinter dem zurückbleiben, was wir jetzt in dieser Beziehung verlangen; dagegen bezeichnet der Abschnitt „von dem Syntaxe oder Redesatze" einen entschiedenen Fortschritt, der selbst bis in die neueste Zeit hinein auf die Bearbeiter der deutschen Syntax bewußt oder unbewußt einen unverkennbaren Einfluß ausgeübt hat. — Bei seinen Zeitgenossen erfreute sich Adelung eines fast unbegrenzten Ansehens, ja noch heute ist sein Einfluß vielfach nicht gebrochen. Denn in gar vielen gegenwärtig gebrauchten Grund- und Abrissen der deutschen Grammatik ist neben dem Richtigen seiner Werke auch das sämtliche Falsche derselben noch auf­ zufinden.

118

Anhang.

Das 19. Jahrhundert.

Unter den Grammatikern des 19. Jahrhunderts, deren Arbeiten auch für die Wissenschaft nicht ohne Frucht waren, kommen besonders in betracht Joh. Christian August Heyse (t 1829) unb dessen Sohn Karl (t 1855), ferner Karl Ferdinand Becker (f 1849). Karl Heyses hervorragendste Leistung ist die „fünfte, völlig um­ gearbeitete" Ausgabe der von seinem Vater verfaßten „Theoretisch-Praktischen deutschen Grammatik," die noch jetzt im großen und ganzen als Musterbuch anzusehen ist; Beckers Verdienste liegen auf dem Gebiete der Syntax. Die bedeutendste Frucht des 19. Jahrhunderts auf grammatischem Gebiete ist jedoch Jakob Grimms Deutsche Grammatik. Schon in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts waren von Lessing und Herder mannigfache Anregungen für das altdeutsche Studium ausgegangen; aber noch ohne Erfolg, und als in den Jahren 1782—85 die Meisterwerke der altdeutschen Dichtung erschienen, gingen auch sie an dem größten Teile unserer gebildeten Landslertte spurlos vorüber. Ein Umschwung auf diesem Gebiete vollzieht sich erst unter den Einflüssen der romantischen Dichterschule. Ihr besonders gebührt das Verdienst, das Interesse für die altdeutsche Litteratur in den Gemütern neuerdings entzündet zu haben. So erschien von Ti eck eine Übersetzung der Minnelieder, A. W. Schlegel hielt in Berlin Vorlesungen über die Geschichte der deutschen Poesie, in Friedr. Schlegels Museum begegnen wir einer Abhandlung über das Nibelungenlied, und Achim v. Arnim erschloß mit Brentano in „des Knaben Wunderhorn" den Born des altdeutschen Volkliedes. Um dieselbe Zeit, zum Teil sogar im Schoße derselben romantischen Schule, keimten auch die Anfänge der modernen Sprachwissenschaft. So hatte damals Friedr. Schlegel uns die Kenntnis der indogermanischen Sprachen erschlossen und Franz Bopp sie grammatisch begründet. In das Getriebe dieser teils litterarischen, teils linguistischen Studien greifen nun nach Beendigung ihrer juristischen Studien auch die Brüder Jakob und Wilhelm Grimm ein. 1785 und 86 in Hanau geboren, fielen sie mit den Jahren, wo die wissenschaftlichen Neigungen für das Leben anzusetzen Pflegen, gerade in die Zeit der durch die Romantiker von neuem erweckten Begeisterung für die altdeutschen Studien. Diese sagten so recht ihrer Natur zu, und sie waren für dieselben auch wie gemacht. Denn sie besaßen hauptsächlich solche Eigenschaften, die für das, was auf diesem Gebiete gefordert ward, die beste Vorbedingung und Unterlage waren: Ehr­ furcht vor der Geschichte, reiche Empfänglichkeit für poetische Schönheit, lebendigen Sinn für alles echt Volkstümliche, demütige Bewunderung der unbewußt in Sprache, Sitte und Sage waltenden Vernunft und dazu einen Forschungstrieb, der als eine unüberwindliche Neigung das Leben beherrschte, der mit aller Energie sich auch die Mittel anzueignen wußte, die dem vorschwebenden Ziele irgend zu dienen fähig waren. Der rüstigere der Brüder war Jakob. Mit dem Erscheinen seiner Grammattk treten die Deutschen Plötzlich an die Spitze der grammatischen Forschung. Der erste Band dieses Werkes erschien 1819 und enthielt eine vergleichende Darstellung der Deklination und Konjugatton folgender Sprachen: Gotisch, Althochdeutsch, Alt­ niederdeutsch (und zwar a. Altsächsisch, b. Angelsächsisch), Altfriesisch, Altnordisch, Mittelhochdeutsch, Mittelniederdeutsch (und zwar a. Mittelsächsisch, b. Mittelenglisch, c. Mittelniederländisch), Neunordisch (nämlich a. Schwedisch, b. Dänisch), Neuhoch­ deutsch, Neuniederländisch, Neuenglisch. Schon 1822 erschien von diesem Bande eine

zweite Ausgabe, die indes fast den Eindruck eines ganz neuen Buches macht. Dem „Zweiten Buch: Von den Wortbiegungen" wurde jetzt ein „Erstes Buch: Von den

Geschichte der deutschen Grammatik.

119

Buchstaben" vorausgeschickt. Im Jahre 1826 erschien der zweite, 1831 der dritte Teil; beide Teile füllt das „dritte Buch: Von der Wortbildung". 1837 folgte der vierte Teil, welcher das „Vierte Buch: die Syntax" beginnt; er behandelt auf 964 Seiten nur den einfachen Satz. Ein fünfter Band sollte noch vom mehrfachen Satz, von der verbindenden Konjunktion und von der Wortfolge handeln. Aber Jakob Grimm ist darüber hinweggestorben, und so steht nun das gewaltige Werk unvollendet da, wie unsere herrlichen alten Miinster. Von einer umfassenderen Würdigung der Verdienste Grimms, der durch dieses Opus der Begründer der historischen Grammatik geworden für unsere Mutter­ sprache, muß hier abgesehen werden. Die auffallendsten Partien, in denen seine Ver­ dienste namentlich hervortreten, sind: die Unterscheidung starker und schwacher Deklination, die Lehre vom Ablaut und Umlaut, die Entdeckung der Bedeutung der gotischen Re­ duplikation in scheinbar ablaulenden Verben und das Gesetz der Lautverschiebung. — Auch auf dem Gebiete der Syntax bricht er eine neue Bahn, indem er sich nicht da­ mit ^begnügt, die Syntax irgend eines bestimmten Zeitraumes als etwas fertig Gegebenes darzustellen, sondern die geschichtliche Entwicklung der syntaktischen Ver­ hältnisse vom Gotischen herab durch die älteren und mittleren germanischen Sprachen bis auf die neuesten vor Augen legt. In Grimms Werk finden nun auch die ausgezeichneten Forscher, die sich selb­ ständig neben ihm herangebildet haben, eine sichere Grundlage für ihre Bestrebungen. Vor allen ist es Lach mann, der Grimm freudig die Hand bietet, und neben ihm Benecke, Schmeller und Uhland. Im Anschluß an diese bahnbrechenden Forscher tritt ferner bald eine Schar reichbegabter jüngerer Mitarbeiter hervor, so Hoffmann, Haupt, Wackernagel, Pfeiffer, Holtzmann, Kelle, Westphal, Foerstemann, Heyne re. Diese Liebe für das Studium unserer Muttersprache ist seither nicht mehr erloschen, vielmehr wird dasselbe allenthalben mit großer Liebe betrieben. Fast jede Hochschule Deutschlands ziert bereits ein Lehrstuhl für deutsche Sprache, und so ist denn auch unsere Wissenschaft, die noch im Stadium der Kindheit stand, als das Morgenrot dieses Jahrhunderts anbrach, in wenigen Dezennien zu männlicher Reife gediehen.

Senühte Litteratur. Andresen, Über deutsche Volksetymologie, 3. Ausl., Heilbronn, Henninger, 1878,

M. 5. (Das Buch ist vorzüglich geeignet, das Interesse auch weiterer Kreise für die deutsche Sprachwissenschaft zu erwecken.) Andresen, Sprachgebrauch und Sprachrichügkeit im Deutschen, Heilbronn, Henninger, 1880, M. 5. (Es gilt dasselbe von diesem Buche, wie von Andresens Volks­ etymologie.) Bauer, Grundzüge der nhd. Grammaük für höhere Bildungsanstalten, 18. Aufl., bearbeitet von Duden, Nördlingen, Beck, 1881, M. 2. (Ein längst bewährtes Büchlein.) Becker, Handbuch der deutschen Sprache, 9. Ausl., Prag, Tempsky, 1870, M. 5,40. (Das Werk betont namentlich die logischen Verhältnisse der Sprache, berücksichtigt aber auch die historische Entwickelung derselben.) Becker, Ausführliche deutsche Grammaük als Kommentar der Schulgrammatik, 2 Bde., 2. Aufl., Prag, Tempsky, 1870, M. 12. (Das höchste Lob verdient nach W. Scherer die Energie, mit welcher Becker seiner deutschen Syntax eine komparative Grundlage zu geben suchte.) Blatz, Neuhochdeutsche Grammaük mit Berücksichtigung der historischen Entwicklung der deutschen Sprache für angehende und wirkliche Lehrer, Tauberbischofsheim, 1881, I. Lang, 2. Aufl., M. 12. (Außerordentliche Klarheit und weises Maßhalten sind wohl die Hauptvorzüge dieses Buches. Für Lehrer, die sich für ihre Mutter­ sprache und deren Entwicklung interessieren, ist es unter allen ähnlichen Werken wohl das empfehlenswerteste.) — Ein trefflicher Auszug hievon ist die nhd. Schulgrammatik, ebenda, 1881, 1,60 M. Engelien, Grammatik der nhd. Sprache, 2. Aufl., Berlin, Schultze, 1878, M. 6,60. (Der Verfasser, längst bekannt als einer der trefflichsten Methodiker der deutschen Sprache, hat sich durch dieses Werk auch als gediegener Kenner der Wissenschaft erwiesen. Durchaus auf sprachgeschichtlicher Basis ruhend, zählt es entschieden mit zu den besten derartigen Arbeiten.) Frauer, Neuhochdeutsche Grammatik, mit besonderer Rücksicht aus den Unterricht an höheren Schulen, zugleich als Leitfaden für akademische Vorträge, Heidelberg, Winter, 1881, M. 6. (Das Buch verfolgt vorzugsweise eine praküsche Richtung, vergißt aber nicht, auch die historische Seite der deutschen Grammaük entsprechend zu betonen.) Gelbe, Deutsche Sprachlehre für höhere Lehranstalten, 2 Teile, Dresden, Bleyl und Kämmerer, 1877 u. 78, M. 7,60. (Durch die zahlreichen Diskussionen und Er­ örterungen über streitige Punkte der deutschen Sprachwissenschaft höchst anregend und fesselnd.) Grimm, Deutsche Grammaük, Göttingen, Dieterich, 1822—37, 4 Bde. Hahn, Mittelhochdeutsche Grammaük, 2. Aufl., Frankfurt a. M., Winter, 1871, M. 3.

Benützte Litteratur.

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Hahn, Althochdeutsche Grammatik, 4. Ausl., Prag, Tempsky, 1875, M. 2,70. Heintze, Die deutschen Familiennamen, geschichtlich, geographisch und sprachlich, Halle, Waisenhausbuchhdlg., 1882, M. 4,50. Hruschka, Uber deutsche Ortsnamen (Sammlung gemeinnütziger Vorträge, Nr. 56, herausgegeben vom deutschen Vereine zur Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse

in Prag). Hruschka, Die deutschen Personen- und Familiennamen (Nr. 50 der gleichen Sammlung). Zütting, Zur Veranschaulichung abstrakter Begriffe in Kehrs Pädagogischen Blättern, 3. Jahrgang. Koch, Deutsche Grammatik, 6. Ausl, von Wilhelm, Jena, Dufft, 1875, M. 2,80. (Zur Einführung in die histor. Grammatik sehr geeignet.) Laas, Der deutsche Unterricht auf höheren Schulen, Berlin, Weidmann, 1872, M. 5. Sinnig, Bilder zur Geschichte der deutschen Sprache, Paderborn, Schöningh, 1881, M. 6. (Der Verfasser hat es verstanden, die Resultate der Grimmschen Forschung in der durch die Weiterbildung unserer deutschen Philologie bedingten Gestalt in ausgezeichneter Weise zu popularisieren. Die 1. Abteilung behandelt die deutsche Sprache in den verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung, die 2. Abteilung wirft Blicke in die Geschichte der Sprachformen, die 3. gibt Kulturgeschichte in Wort­ bildern. Jeder Leser dieses Buches wird sich gewiß mit erhöhter Liebe und Be­ geisterung dem Studium seiner Muttersprache zuwenden.) Osthoff, Das physiologische und psychologische Moment in der sprachlichen Formen­ bildung, Berlin, Habel, 1879, M. 1. (Eine äußerst lehrreiche Broschüre.) Paul, Prinzipien der Sprachwissenschaft, Halle, Niemeyer, 1880, M. 6. (Wohl für jeden, der sich nach dieser Seite hin orientieren will, unentbehrlich.) Raumer, Geschichte der germanischen Philologie, München, Oldenbourg, 1870, M. 9,60. (Die einzige und zugleich bahnbrechende Arbeit in dieser Richtung.) Rückert, Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache, 2 Bde., Leipzig, Weigel, 1875, M. 14. (Gleichfalls sehr bedeutend.) Scherer, Zur Geschichte der Deutschen Sprache, 2. Aust., Berlin, Weidmann, 1878, M. 10. (Ein sehr bedeutsames, aber sehr ausgedehnte Sprachkenntnisse voraus­

setzendes Werk.) Schleicher, Die Deutsche Sprache, 3. Aust., 1874, Stuttgart, Cotta, M. 7. (Dieses Buch hat wohl zuerst das Interesse für die deutsche Sprache in weitere Kreise getragen; es ist noch heute ein höchst anziehendes Werk.) Weigand, Deutsches Wörterbuch, 2 Bde., 2. Ausl., Gießen, Ricker, 1876, M. 32. Wilmanns, Deutsche Grammatik für untere und mittlere Klassen höherer Lehr­ anstalten, 3. Aust., 1880, Berlin, Wiegandt, Hempel und Parey, M. 2. (Das Büchlein verrät ebenso den tüchtigen Praktiker wie den gediegenen Gelehrten.) Whitney, Leben und Wachstum der Sprache, übersetzt von Leskien, Leipzig, Brockhaus, 1876, M. 6. Whitney, Die Sprachwissenschaft. Bearbeitet und erweitert von Jolly, München, Theodor Ackermann, 1874, M. 10. (Beide Werke, allgemein-sprachwissenschaftlichen

Inhalts, sind ungemein lehrreich und anregend.)