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German Pages 347 [348] Year 2011
de Gruyter Studienbuch
Wolf Schmid
Elemente der Narratologie 2., verbesserte Auflage
W G_ DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Die 1. Auflage erschien 2005 in der Reihe
Narratologia.
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020264-9 Bibliografische Information der Deutschen
Nationalhibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Gemany Umschlaggestaltung: deblik, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Vorwort Das vorliegende Buch geht auf meine in russischer Sprache erschienene Narratologija (Moskau 2003, 2. Aufl. 2008) zurück. Aber es handelt sich nicht lediglich um eine Übersetzung, sondern um eine am deutschen Leser orientierte Version, die nach den Reaktionen auf die russische Ausgabe überarbeitet und erweitert wurde. Dass das Buch zunächst auf Russisch und in Russland erschien, war damit begründet, dass die Kategorien der modernen Narratologie sich wesentlichen Anregungen russischer Theoretiker und Schulen verdanken. Zu erwähnen sind hier insbesondere die Vertreter des russischen Formalismus (Viktor Sklovskij, Boris Tomasevskij, Jurij Tynjanov, Roman Jakobson), Theoretiker wie Vladimir Propp, Michail Bachtin, Valentin Volosinov und die Mitglieder der so genannten Moskau-Tartu-Schule wie Jurij Lotman und Boris Uspenskij. Die Narratologija sollte die russischen Leser mit rezenten Entwicklungen jener Theorie bekannt machen, die letztlich russische Ursprünge hat, und sie sollte das im heimischen Bereich noch nicht hinreichend entfaltete theoretische Potential des russischen Beitrags erkennbar machen. Die Entscheidung, die russische Narratologija auch dem Westen zugänglich zu machen, beruht auf der Überlegung, dass der erzähltheoretische Beitrag Russlands (und anderer slavischer Länder), so sehr ihm in den sechziger und siebziger Jahren die Aufmerksamkeit der sich formierenden Narratologie gegolten hatte1, noch umfassenderer Würdigung bedarf2. Das vorliegende Buch verfolgt - auch in seiner deutschen Version - jedoch weniger ein theoriegeschichtliches als ein systema1
2
Man vgl. Todorov 1966,1971a, 1971b. Wege und Resultate dieses Einflusses slavischer Schulen sind Gegenstand des vom Verfasser geleiteten Teilprojekts „Der Beitrag des slavischen Funktionalismus zur internationalen Narratologie" im Rahmen der Hamburger Forschergruppe Narratologie und des Interdisziplinären Centrums für Narratologie (vgl. www.NarrPort.uni-hamburg.de und www.icn.uni-hamburg.de).
VI
Vorwort
tisches Interesse. Historische Abrisse zu einzelnen Schlüsselbegriffen dienen in erster Linie der Beschreibung der entsprechenden Phänomene. Anders als der russische Titel Narratologija, der im Mutterland von Formalismus und Strukturalismus einen dort noch nicht etablierten Begriff einführen und damit eine Disziplin präsentieren sollte, signalisiert der für den Westen und seinen elaborierten narratologischen Kontext gewählte Titel Elemente der Narratologie zugleich Fundamentalität und Partialität des Zugangs. Nach einer Exposition der Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk konzentriert sich das Buch auf Elemente einerseits aus dem Bereich der .Perspektivologie' (Kommunikationsstruktur und Instanzen des Erzählwerks, Erzählperspektive, Beziehung zwischen Erzählertext und Figurentext) und anderseits der .Sujetologie' (Narrativität und Ereignishaftigkeit, narrative Transformationen eines Geschehens). Nicht oder allenfalls nur am Rande werden in diesem Buch Fragen nach den anthropologischen Bedingungen und der Pragmatik des Erzählens gestellt. Auch der Wissenschaftscharakter der Narratologie, die Relevanz ihrer Werkzeuge für benachbarte Disziplinen und die Frage der so genannten „new narratologies" bleiben ausgespart3. Im Mittelpunkt der Elemente der Narratologie stehen konstitutive Strukturen fiktionaler Erzähltexte. Insofern kann man das Buch als eine Theorie des Erzählwerks betrachten, die in besonderer Weise am slavischen Ursprung der Erzählforschung orientiert ist. *
In der zweiten Auflage, die der Walter de Gruyter Verlag dankenswerterweise in seiner Reihe der Studienbücher erscheinen lässt, ist vor allem die Theorie des Ereignisses und der Ereignishaftigkeit er-
Für den ersten Problembereich vgl. den Sammelband des ersten Kolloquiums der Hamburger Forschergruppe What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory (Kindt/Müller [Hgg.] 2004); auf die Frage nach der Narratologie jenseits der Literaturwissenschaft sucht der Sammelband des zweiten Kolloquiums Narratology beyond Literary Criticism (Meister [Hg.] 2005) eine Antwort; zur Frage der multiplen Narratologien und der „new narratologies" vgl. den Sammelband von David Herman (Hg. 1999) und Ansgar Nünnings Beitrag zum ersten Kolloquium (Nünning 2003).
Vorwort
VII
weitert worden. Zum Ausgleich für die dadurch entstandene Vergrößerung des Umfangs wurden einige Beispiele aus der russischen Literatur herausgenommen. Für die Hilfe beim Korrekturlesen danke ich Tatjana Hahn, Eugenia Michahelles, MA, und Marie Spengler.
Siglen der Primärliteratur Die Zitate aus literarischen Werken beziehen sich auf folgende Ausgaben. Im Text sind jeweils nur Autorname, ggf. Band und Seitenzahl angegeben. Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir. Astafev, Viktor: Sobranie socinenij ν 4 t., Bd. 1, Moskva 1979. Cechov, Anton P.: Polnoe sobranie socinenij i pisem ν 30 t. Socinenija ν 18 /., Moskva 1974-1982. Coetzee, John Μ.: The Master of Petersburg, London 1999. Dostoevskij, Fedor M.: Polnoe sobranie socinenij ν 30 t., Leningrad 19721990. Feuchtwanger, Lion: Gesammelte Werke in Einzelbänden, Berlin 1998. Flaubert, Gustave: Madame Bovary, Paris 1972. Gogol', Nikolaj V.: Polnoe sobranie socinenij ν 14 t., Moskva 1937-1952. Joyce, Joyce: Ulysses, 7 t h impr., London 1955. Karamzin I = Karamzin, Nikolaj M.: Socinenija ν 2 t., Leningrad 1984. Karamzin II = Karamzin, Nikolaj M.: Izbrannye proizvedenija, Moskva 1966. Kracht, Christian: Faserland. Roman, Taschenbuchausgabe im Goldmann Verlag, 1997 Nabokov, Vladimir V.: hbrannaja proza, Moskva 1996. Povolockaja, Irina: Raznovrazie, Sankt-Peterburg 1998. Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Frankfurt a. M. und Leipzig 1996. Solzenicyn, Aleksandr I.: Maloe sobranie socinenij, Moskva 1991. Tolstoj, Lev Ν.: Polnoe sobranie socinenij ν 91t., Moskva 1936-1964. Turgenev, Ivan S.: Sobranie socinenij ν 10 t., M. 1961-1962. Mann, Thomas: Gesammelte Werke in 13 Bänden, Frankfurt a. M. 1990. Zoscenko, Michail: Izbrannye proizvedenija ν 2 /., Leningrad 1968. Woolf, Virginia: To the Lighthouse, 9 t h impr., London 1951.
Inhaltsverzeichnis I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk 1. Narrativität und Ereignishaftigkeit a) Der klassische und der strukturalistische Narrativitätsbegriff b) Narration und Deskription c) Erzählende und mimetische narrative Texte d) Ereignis und Ereignishaftigkeit e) Ereignishaftigkeit, Interpretation und Kontext f) Zeitliche und unzeitliche Verknüpfung
1 1 7 9 11 18 22
2. Fiktionalität a) Fiktion und Mimesis b) Die Kontroverse um die Fiktionalität c) Signale der Fiktion d) Darstellung fremder Innenwelt e) Die fiktive Welt
26 26 29 31 34 37
II. Die Instanzen des Erzählwerks 1. Modell der Kommunikationsebenen
43
2. Der abstrakte Autor a) Konkrete und abstrakte Instanzen b) Vorgeschichte des abstrakten Autors c) Kritik des Autors d) Für und wider den implizierten Autor e) Zwei Versuche einer Aufspaltung des abstrakten Autors f) Skizze einer systematischen Definition
45 45 46 51 53 56 59
3. Der abstrakte Leser a) Der abstrakte Leser als Attribut des abstrakten Autors.. b) Vorgeschichte des abstrakten Lesers c) Definition des abstrakten Lesers d) Unterstellter Adressat und idealer Rezipient e) Kritik des idealen Rezipienten
64 64 65 67 68 70
χ
Inhaltsverzeichnis 4. Der fiktive Erzähler a) Explizite und implizite Darstellung des Erzählers b) Individualität und Anthropomorphismus des Erzählers c) Die Markiertheit des Erzählers d) Abstrakter Autor oder Erzähler? e) Typologien des Erzählers f) Primärer, sekundärer und tertiärer Erzähler g) Diegetischer und nichtdiegetischer Erzähler h) Typen des diegetischen Erzählers i) Erzählendes und erzähltes Ich 5. Der fiktive Leser a) Fiktiver Adressat und fiktiver Rezipient b) Fiktiver und abstrakter Leser c) Explizite und implizite Darstellung des fiktiven Lesers d) Erzählen mit dem Seitenblick auf den fiktiven Leser („Der Jüngling") e) Der dialogische Erzählmonolog
72 72 75 78 82 83 85 86 95 97 100 101 102 105 108 112
III. Die Erzählperspektive 1. Theorien des „point of view", der Fokalisierung und der Perspektive a) F. K. Stanzel b) G. Genette und M. Bai c) B. A. Uspenskij, J. Lintvelt und Sh. Rimmon 2. Modell der Erzählperspektive a) Geschehen als Objekt der Perspektive b) Erfassen und Darstellen c) Parameter der Perspektive d) Narratoriale und figurale Perspektive e) Perspektivierung in der diegetischen Erzählung („Der Schuss") f) Narratoriale und figurale Gestaltung in den fünf Parametern der Perspektive g) Kompakte und distributive Perspektive h) Zur Methodik der Analyse: drei Leitfragen
115 116 118 123 128 129 129 130 137 140 142 151 153
Inhaltsverzeichnis
XI
IV. Erzählertext und Figurentext 1. Die beiden Komponenten des Erzähltextes a) Erzählerrede und Figurenreden b) Die Figurenreden im Erzähltext c) Erzählerrede und Erzählertext, Figurenreden und Figurentext
154 154 155
2. Ornamentale Prosa und Skaz a) Ornamentale Prosa b) Der Skaz: Definitionen c) Der Skaz: Forschungsgeschichte (B. Ejchenbaum, Ju. Tynjanov, V. Vinogradov, Μ. Bachtin) d) Charakterisierender und ornamentaler Skaz e) Merkmale des charakterisierenden Skaz f) Charakterisierender Skaz in russischer und deutscher Literatur g) Der ornamentale Skaz
159 160 168
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext a) Die Struktur der Textinterferenz b) Die Opposition der Texte und ihre Merkmale c) Die reinen Texte und die Neutralisierung der Opposition d) Textinterferenz als Transformation des Figurentextes e) Direkte Rede und direkter innerer Monolog f) Die direkte figurale Benennung g) Die indirekte Darstellung von Reden, Gedanken und Wahrnehmungen h) Die freie indirekte Rede i) Die erlebte Rede: Definition j) Typen der erlebten Rede im Deutschen und Russischen k) Die erlebte Wahrnehmung 1) Der erlebte innere Monolog m) Die erlebte Rede im diegetischen Erzählen n) Das uneigentliche Erzählen o) Funktionen der Textinterferenz p) Uneindeutigkeit und Bitextualität
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170 173 175 176 179 181 181 184 189 191 196 201 202 205 207 208 214 215 217 219 222 225
XII
Inhaltsverzeichnis
V. Die narrativen Transformationen: Geschehen Geschichte - Erzählung - Präsentation der Erzählung 1. „Fabel" und „Sujet" im russischen Formalismus a) Modelle der narrativen Konstitution b) V . Sklovskij
c) M. Petrovskij d) L. Vygotskij c) B. Tomasevskij
230 230 231
236 238 242
2. Die Überwindung des formalistischen Reduktionismus a) „Histoire" und „discours" im französischen Strukturalismus b) Drei-Ebenen-Modelle
245 245 248
3. Die vier narrativen Ebenen a) Das idealgenetische Modell b) Der Ort der Perspektive c) Vom Geschehen zur Geschichte d) Auswahl und Perspektive e) Raffung und Dehnung f) Das Nicht-Gewählte g) Von der Geschichte zur Erzählung h) Die Komposition der Erzählung und die Perspektive... i) Von der Erzählung zu ihrer Präsentation j) Ein idealgenetisches Modell der Perspektive k) Erzählgeschehen und Erzählgeschichte 1) Das semiotische Modell m) Die Korrelation der Ebenen in der Wortkunst
251 253 255 256 260 262 268 271 274 276 278 280 281 283
Zusammenfassung
285
Literaturverzeichnis
293
Glossar und Index narratologischer Begriffe
319
Index der Namen und Werke
327
I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk 1. Narrativität und Ereignishaftigkeit a) Der klassische und der strukturalistische Narrativitätsbegriff Zum Narrativen gibt es in der Literaturwissenschaft zwei verschiedene Konzeptionen. Die erste von ihnen hat sich in der klassischen Erzähltheorie besonders deutscher Provenienz gebildet, die sich noch nicht Narratologie nannte1. In dieser Tradition galten als erzählend Texte, die bestimmte Merkmale der Kommunikation enthielten. Erzählen, das der unmittelbaren dramatischen Präsentation entgegengesetzt wurde, war an die Gegenwart einer vermittelnden Instanz, des „Erzählers", gebunden. Die Präsenz eines solchen Mittlers zwischen dem Autor und der erzählten Welt war für die klassische Erzähltheorie das Spezifikum des Narrativen. In der Brechung der erzählten Wirklichkeit durch das Prisma des Erzählers erblickte man das Wesen des Erzählens. So stellte Käte Friedemann, die Schülerin Oskar Walzels und Begründerin der klassischen deutschen Erzähltheorie, in ihrem Buch Die Rolle des Erzählers in der Epik (1910), der unmittelbaren dramatischen Wirklichkeitspräsentation die mittelbare erzählerische gegenüber: „Wirklich" im dramatischen Sinne ist ein Vorgang, der eben jetzt geschieht, von dem wir Zeuge sind und dessen Entwicklung in die Zukunft wir mitmachen. „Wirklich" im epischen Sinne aber ist zunächst überhaupt nicht der erzählte Vorgang, sondern das Erzählen selbst. (Friedemann 1910, 25)
Damit widersprach Friedemann der Auffassung Friedrich Spielhagens (1883,1898), der um der anzustrebenden „Objektivität" willen den völligen Verzicht des epischen Autors auf die Einschaltung ei1
Der Begriff Narratologie ist von Tzvetan Todorov (1969, 10) geprägt worden: „Cet ouvrage releve d'une science qui n'existe pas encore, disons la narratologie, la science du recit".
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I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
ner subjektiven Erzählinstanz, d. h. aber - nach der Konjektur Käte Friedemanns - nichts anderes als „dramatische Illusion" gefordert hatte: [Der Erzähler] symbolisiert die uns seit Kant geläufige erkenntnistheoretische Auffassung, dass wir die Welt nicht ergreifen, wie sie an sich ist, sondern wie sie durch das Medium eines betrachtenden Geistes hindurchgegangen. (Friedemann 1910, 26)
Noch in jüngerer Zeit wird die Spezifik des Erzählens hinsichtlich des Vermittlungsvorgangs definiert. So eröffnet Franz K. Stanzel seine Theorie des Erzählens (1979), in der er seine älteren Arbeiten (1955, 1964) resümiert und an die jüngere theoretische Diskussion anschließt, mit der Erneuerung der „Mittelbarkeit" als des bestimmenden Merkmals erzählender Texte, mit der Wiederaufnahme eines Merkmals also, das schon in der Einleitung der Typischen Erzählsituationen (Stanzel 1955, 4) als fundamentales Kriterium des Erzählens figurierte2. Ein zweites Konzept der Narrativität hat sich in der strukturalistischen Narratologie herausgebildet. Konstitutiv für das Erzählen ist nach diesem Konzept nicht ein Merkmal des Diskurses oder der Kommunikation, sondern des Erzählten selbst. Der Begriff des Narrativen, der mit dem des Deskriptiven konkurriert, impliziert nicht mehr die Präsenz einer vermittelnden Darstellungsinstanz, sondern vielmehr einen bestimmten Aufbau des darzustellenden Materials. Texte, die im strukturalistischen Sinne narrativ genannt werden, präsentieren, im Gegensatz zu deskriptiven Texten, eine temporale Struktur und stellen Veränderungen dar. Die klassische Konzeption beschränkt die Narrativität auf Verbalität, erfasst nur solche Werke, die eine vermittelnde Erzählinstanz enthalten, darunter auch rein beschreibende Reiseberichte und Skizzen, und schließt alle lyrischen, dramatischen und filmischen Texte aus dem Bereich des Narrativen aus. Die strukturalistische Konzeption schließt Repräsentationen jeglichen Mediums ein, sofern sie Veränderungen darstellen, schließt aber alle Darstellungen aus, deren Referent keine temporale Struktur besitzt und 2
In Anlehnung an Stanzel wird noch in der neuesten russischen Einführung in die Literaturwissenschaft (Cernec u. a. 1999) als ausschlaggebendes Merkmal des Erzählens die „Mittelbarkeit" genannt (Tamarcenko 1999b, 280).
1. Narrativität und Ereignishaftigkeit
3
deshalb keine Veränderung enthält. Narrativ sind demnach auch das Drama und die Lyrik, sofern in ihnen Veränderungen dargestellt sind3. Beide Konzeptionen erweisen sich im Umgang mit Texten allerdings als unbefriedigend: Die traditionelle ist zu restriktiv, und die strukturalistische zu wenig diskriminatorisch4. In der Praxis der Literaturanalyse hat sich auch längst eine Mischkonzeption durchgesetzt, die hier systematisiert werden soll. Narrativ im -weiteren Sinne sollen entsprechend der strukturalistischen Konzeption Repräsentationen genannt werden, die die Veränderung eines Zustande oder einer Situation darstellen. Narrativität im engeren Sinne verbindet die Merkmale der strukturalistischen und der klassischen Definition: Die Zustandsveränderung wird von einer Vermittlungsinstanz präsentiert. Wenden wir uns nun aber zunächst dem Begriff der Zustandsveränderung zu, der ja für beide Sinne von „narrativ" relevant ist. Ein Zustand (oder eine Situation) soll verstanden werden als eine Menge von Eigenschaften, die sich auf eine Figur oder die Welt in einer bestimmten Zeit der erzählten Geschichte beziehen. Je nachdem, ob sich die dargestellten Eigenschaften auf das Innere der Figur beziehen oder auf Teile der Welt, haben wir es mit einem inneren oder äußeren Zustand zu tun. (Ein Zustand kann natürlich zugleich sowohl durch innere Eigenschaften der Figur als auch durch Eigenschaften der Welt definiert sein.) Wenn die Zustandsveränderung durch einen Agenten herbeigeführt wird, sprechen wir von einer Handlung. Wenn sie einem Patienten zugefügt wird, handelt es sich um ein Vorkommnis (Chatman 1978, 32; Prince 1987, 39).
3
Zur Gemeinsamkeit der „Proto-Gattungen" Drama und Erzählung als „geschehensdarstellender" vgl. jetzt Korthals 2003, 75-182. 4 Bezeichnenderweise folgte Gerald Prince, der Narrativität zunächst im Sinne des strukturalistischen Modells definiert und Repräsentationsformen wie das Drama und den Film als genuin narrativ betrachtet hatte (1982, 81), in seinem Dictionary of Narratology (Prince 1987, 58) der klassischen Konzeption und schloss folglich alle nicht durch eine Erzählinstanz vermittelten Ereignisse, also auch das Drama und den Film, aus dem Bereich des Nairativen aus. Zu Motiven dieses Meinungsumschwungs vgl. Jahn 1995, 32.
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I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
Die Minimalbedingung der Narrativität ist, dass mindestens eine Veränderung eines Zustande in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird. Die Veränderung des Zustande und ihre Bedingungen brauchen nicht explizit dargestellt zu werden. Für die Narrativität ist hinreichend, wenn die Veränderung impliziert wird, etwa durch die Darstellung von zwei miteinander kontrastierenden Zuständen. Die Zustandsveränderung, die für Narrativität konstitutiv ist, hat drei Bedingungen: 1. Eine temporale Struktur mit mindestens zwei Zuständen, einem Ausgangs- und einem Endzustand. 2. Eine Äquivalenz von Ausgangs- und Endzustand, d. h. Similarität und Kontrast der Zustände, genauer: Identität und Differenz ihrer Eigenschaften. Volle Identität der Eigenschaften ergibt keine Zustandsveränderung. Aber auch die absolute Differenz konstituiert sie nicht, denn Anfangs- und Endzustand müssen vergleichbar sein, etwas Gemeinsames haben. 3. Die beiden Zustände und die sich zwischen ihnen ereignende Veränderung müssen sich auf ein und dasselbe Subjekt des Handelns oder Erleidens oder auf ein und dasselbe Element des „setting" beziehen 5 . Manche Theoretiker postulieren als Bedingung für Narrativität noch eine andere Beziehung zwischen den Zuständen als die des temporalen Nacheinanders, nämlich eine in irgendeiner zusätzlichen Weise motivierte Beziehung. Einer der frühesten dieser Theoretiker ist der den russischen Formalisten nahe stehende Boris Tomasevskij, der in seiner Theorie der Literatur (1925, 136; dt. 1985, 215) für narrative Werke, die er „Werke mit einer Fabel" nennt und die er den „deskriptiven" Werken entgegensetzt, nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine kausale Verknüpfung fordert. 5
Für das Minimalschema einer narrativen Folge eruiert Wolf-Dieter Stempel (1973) folgende Reihe von Bedingungen: Das Subjekt, an dem sich die Veränderung vollzieht, muss identisch sein; die Inhalte der narrativen Aussage müssen kompatibel sein; die Prädikate müssen einen Kontrast bilden; die Fakten müssen in chronologischer Ordnung stehen. Einen noch differenzierteren Katalog der Bedingungen für Narrativität stellt Prince (1973b) auf, umformuliert bei Titzmann (1992; 2003).
1. Narrativität und Ereignishaftigkeit
5
Die Forderung einer zusätzlichen (d. h. mehr als nur temporalen) Beziehung zwischen den Zuständen als Bedingung der Narrativität ist in der einen oder anderen Form immer wieder erhoben worden6. Gleichwohl sollte und kann eine Minimaldefinition der Narrativität ohne das Postulat einer zusätzlichen (z. B. kausalen) Verbindung zwischen den Zuständen auskommen. In literarischen Texten ist die Kausalität ja nur in seltenen Fällen explizit und zuverlässig ausgedrückt. Meistens ist die Ursache der Zustandsveränderung offen gelassen und muss vom Leser erschlossen werden. Selbst wenn der Leser dafür eindeutige Symptome in den explizierten Passagen der Geschichte findet, ist die Konkretisation der Ursache-Folge-Verhältnisse die Leistung seiner Interpretation. In vielen Werken aber werden für die Zustandsveränderungen sehr unterschiedliche Erklärungen möglich sein7. Martinez/Scheffel (1999, 111-118), die drei Arten der „Motivieg rung" erörtern - die kausale, die finale (in Texten mit mythischem Weltverständnis) und schließlich (nach Tomasevskij 1925) die nicht in der dargestellten Welt angesiedelte kompositorische oder ästhetische Motivierung - , kommen zu dem Schluss: Auch wenn im Text die kausalen Verknüpfungen nicht expliziert werden, sind sie in der erzählten Welt gleichwohl vorhanden und werden vom Leser
6
Im westlichen Kontext hat als erster den Unterschied zwischen einer rein zeitlichen und einer zusätzlich motivierten Folge E. M. Förster (1927) mit den Begriffen story und plot bezeichnet: Der Satz „The king died and then the queen died" enthält nach Forster eine story. „The king died, and then the queen died of grief" ist für ihn dagegen, insofern eine Kausalität („of grief") involviert ist, ein plot. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Dietrich Webers (1998, 1 1 - 2 3 ) Generaldefinition des Erzählens als „serieller Rede von zeitlich bestimmten Sachverhalten" und seine Typologie von vier Modellen des so verstandenen Erzählens, die sich aus unterschiedlichen Anforderungen an die Verknüpfung zwischen den Elementen des Erzählten ergeben. Einen Überblick über verschiedene Ansätze, die Minimalbedingungen für das Vorliegen einer „Handlung" oder „Geschichte" in „geschehensdarstellender" Literatur definieren, gibt Korthals 2003, 8 6 - 9 8 .
7
Die Unbestimmtheit der Handlungsmotivation und der Kausalität der Ereignisse ist nicht etwa ein Spezifikum postrealistischer Poetik. Schon in Aleksandr Puskins vorrealistischer Prosa, vor allem in den Erzählungen Belkins (1830), bilden die Beweggründe für das Handeln der Helden ein nicht eindeutig lösbares Änigma (vgl. Schmid 1991).
8
Vgl. schon Martinez 1 9 9 6 , 1 3 - 3 6 .
6
I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
konkretisiert. Eine solche im Text „vorhandene" und vom Leser nur noch mehr oder weniger adäquat aufzulösende Motivierung sollte man jedoch nicht als Regelfall ansetzen. In der Frage, ob dargestellte Zustände in einer Kausalbeziehung stehen, hält die Literatur den Leser nicht selten in unaufhebbarer Ungewissheit. Martinez/Scheffel (1999, 113 f.) selbst geben in ihren Ausführungen zu Thomas Manns Tod in Venedig für die „Unbestimmtheit motivationaler Zusammenhänge" ein schlagendes Beispiel: In der Novelle werde bis zum Schluss nicht zwischen einer empirischen Erklärung der Ereignisse, d. h. einer kausalen Motivierung, und einer numinosen Erklärung, einer finalen Motivierung, entschieden. Wir tendieren als Leser dazu, Geschehensmomente, die aufeinander folgen, auch in eine ursächliche Verbindung zu bringen 9 . Das heißt aber noch nicht, dass Verbindungen, die wir inferieren, im Text tatsächlich enthalten sind. In eine Minimaldefinition von Narrativität brauchen die Kausalität und andere Formen der Motivierung jedenfalls nicht einzugehen. Narrativ ist ein Text schon dann, wenn er nur temporale Verbindungen enthält10. Narrative Texte in dem oben beschriebenen weiteren Sinne erzählen, darin stimmen viele strukturalistische Definitionen überein, eine Geschichte1. „Geschichte", ein in unterschiedlichen Bedeutungen gebrauchter Begriff, für den das Dictionary of Narratology von
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Holger Korthals (2003, 91 f.) verweist auf Beobachtungen von Roland Barthes und Tzvetan Todorov, die besagen, dass der Leser gewöhnlich das, was aufeinander folgt, auch als auseinander folgend wahrnimmt. Zur Logik des post hoc ergo propter hoc vgl. jetzt Pier 2007.
10 In der Hamburger Forschergruppe Narratologie wurde die Frage diskutiert: Ist für die Definition von Narrativität die Kategorie der Perspektive heranzuziehen? Ich glaube, dass das nicht der Fall ist. Perspektivität ist nicht spezifisch für die Narration, sondern die Eigenschaft aller Repräsentationen. Jegliche Darstellung von Wirklichkeit setzt die Auswahl, Benennung und Bewertung von Geschehensmomenten voraus und impliziert damit unausweichlich Perspektive, d. h. einen bestimmten perzeptiven, räumlichen, zeitlichen, axiologischen, sprachlichen Standpunkt (vgl. dazu unten, III.2). 11 Vgl. etwa Gerard Genette (1972, 74): „le recit, le discours narratif ne peut etre tel qu'en tant qu'il raconte une histoire, faute de quoi il ne serait narratif". Das klassische Merkmal des Erzählens, „qu'il est profere par quelqu'un", bezieht Genette (1972, 74) nur auf den Diskurs: „Comme narratif, il vit de son rapport ä l'histoire qu'il raconte; comme discours, il vit de son rapport ä la narration qui le profere".
1. Narrativität und Ereignishaftigkeit
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G. Prince (1987, 91) fünf Intensionen unterscheidet, soll hier den Inhalt einer Erzählung im Gegensatz zu dem sie darstellenden Diskurs bezeichnen. Wie ist das Verhältnis zwischen Geschichte und Zustandsveränderung zu denken? Wie viele Zustandsveränderungen erfordert eine Geschichte? Die Differenz zwischen der Zustandsveränderung und der Geschichte ist kein quantitativer. Eine Geschichte kann aus einer einzigen Veränderung bestehen12. Der Unterschied besteht in der Extension. Die Zustandsveränderungen bilden eine Teilmenge der Geschichte. Neben den dargestellten Zustandsveränderungen, die dynamische Elemente sind, gehen in die Geschichte auch statische Elemente ein, nämlich die Zustände oder Situationen selbst und das „setting". Eine Geschichte vereinigt also dynamische und statische Komponenten, ihre Präsentation umfasst narrative und deskriptive Textmodi.
b) Narration und Deskription Den narrativen Texten im weiteren Sinne stehen die deskriptiven gegenüber. Deskriptive Texte repräsentieren statische Situationen, beschreiben Zustände, zeichnen Bilder oder Porträts, stellen soziale Milieus dar oder typologisieren natürliche wie soziale Phänomene. Um Deskription handelt es sich allerdings auch dann, wenn mehrere Zustände dargestellt werden und diese nicht zugleich Similarität und Kontrast enthalten oder nicht auf ein und denselben Agenten oder auf ein und dasselbe Element des „setting" bezogen sind. Obwohl die Textmodi narrativ und deskriptiv eine klare Opposition bilden, sind die Grenzen zwischen narrativen und deskriptiven Texten fließend und ist die Zuordnung von Texten zu den beiden Kategorien oft eine Frage der Interpretation. Jede Narration
12 Vgl. dazu Genette (1983,14): „Pour moi, des qu'il y a acte ou evenement, füt-il unique, il y a histoire, car il y a transformation, passage d'un etat anterieur ä un etat ulterieur et resultant". Genette unterbietet damit noch Forsters (1927) Minimalgeschichte, die lautete „The king died and then the queen died": „Mon recit minimal est sans doute encore plus pauvre, mais pauvrete n'est pas vice, que l'histoire selon Forster. Tout juste ,The king died'" (Genette 1983, 15). Forsters Definition der Minimalgeschichte und Genettes Unterbietung werden aus kognitivistischcr Perspektive diskutiert von Meister 2003, 23-26.
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I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
enthält, wie bereits erwähnt wurde, notwendigerweise deskriptive Elemente. Schon die Darstellung einer Ausgangs- oder Endsituation kommt nicht ohne ein Minimum von Beschreibung aus. Und umgekehrt kann eine Deskription durchaus narrative Momente benutzen, um eine Situation zu veranschaulichen, um die es letztlich geht. Ausschlaggebend für den deskriptiven oder narrativen Charakter des Textes ist nicht die Menge statischer oder dynamischer Segmente, sondern ihre Gesamtfunktion im Zusammenhang des Werks. Und diese Funktionalität kann durchaus hybrid sein. Bei den meisten Texten wird man bestenfalls von einer Dominanz eines der beiden Modi sprechen können. Die Zuweisung dieser Dominanz ist natürlich interpretationsabhängig. Wenn ein Text etwa nur die Beschreibung zweier Situationen enthält, kann man ihn genau so gut als deskriptiv wie als narrativ interpretieren. (Letzteres setzt natürlich voraus, dass zwischen den Situationen eine Äquivalenz besteht.) Wer diesen Text als Narration liest, wird das Unterschiedliche im Gemeinsamen fokussieren und dafür eine Veränderung konjizieren. Wer den Text hingegen als Deskription versteht, wird die Differenz der Situationen eher als Differenz von repräsentativen Facetten ein und desselben zu beschreibenden Phänomens betrachten und sich auf das Gemeinsame im Verschiedenen konzentrieren. Tomasevskij, der, wie wir gesehen haben, für die „Fabel" nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine kausale Verknüpfung der Elemente fordert, rechnet zu den deskriptiven Texten auch die Reisebeschreibung, „wenn sie nur vom Gesehenen erzählt und nicht von den persönlichen Abenteuern des Reisenden" (Tomasevskij 1925, 136). Aber auch ohne explizite Thematisierung der inneren Zustände des Reisenden kann die Veränderung einer Situation dargestellt werden, kann also die Reisebeschreibung narrativ werden, dann nämlich, wenn sich allein in der Auswahl des Gesehenen eine innere Veränderung des Sehenden andeutet. Natürlich handelt es sich in solchen Fällen um eine implizite narrative Struktur, in der die unterschiedlichen Zustände und die für die Differenz zu konjizierende Veränderung des sehenden Subjekts allein durch die Indizes oder Symptome des Beschreibens angezeigt sind. Generell wird man annehmen dürfen, dass deskriptive Texte in dem Maße, wie sich in ihnen eine Deskriptionsinstanz kundgibt,
1. Narrativität und Ereignishaftigkeit
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eine Tendenz zur Narrativität entwickeln. Das ist freilich eine Narrativität, die nicht auf das Beschriebene, sondern auf den Beschreibenden und seine Deskriptionshandlung bezogen ist. Die Veränderungen, von denen hier erzählt wird, beziehen sich nicht auf die beschriebene Welt, sondern auf den Diskurs. Es handelt sich um Veränderungen im Bewusstsein der beschreibenden Instanz, die eine nicht auf der Ebene der Geschichte, sondern auf der Ebene des Diskurses lokalisierte Geschichte, eine Diskurs- oder Erzählgeschichte (Schmid 1982) konstituieren. c) Erzählende und mimetische narrative Texte Narrativ im engeren Sinne, so mein Vorschlag, sollen Texte genannt werden, die eine Geschichte denotieren und eine die Geschichte vermittelnde Instanz (einen „Erzähler") entweder explizit oder implizit mit darstellen. Aus der Menge der im weiteren Sinne narrativen Texte wird dabei die Untermenge „mimetische Texte" ausgeschieden, also Texte, die die Veränderung ohne „Vermittlung" durch einen „Erzähler" darstellen: das Drama, der Film, der Comic, das narrative Ballett, die Pantomime, das erzählende Bild etc. (Neben deskriptiven Texten gibt es natürlich noch weitere Texttypen, die nicht-narrativ sind, so z. B. argumentative Texte, erbauende Texte usw.) Für die terminologische Differenzierung sei ein möglichst unkomplizierter Vorschlag gemacht: „narrativ im weiteren Sinne" soll einfach „narrativ" heißen, für „narrativ im engeren Sinne" bietet sich der mit dem Erzählerbegriff korrespondierende Terminus „erzählend" an. Die in diesem Buch vorgelegte Theorie bezieht sich auf erzählende narrative Werke, also jene Schnittmenge, in der der klassische Begriff der Narrativität mit dem strukturalistischen zusammenfällt. Gegenstand werden also verbale Texte sein, die eine Geschichte präsentieren und dabei mehr oder weniger explizit die vermittelnde Instanz eines Erzählers darstellen. Die Typologie der Texte soll in folgendem Schema illustriert werden (die Menge der erzählenden narrativen Texte, auf die sich die Theorie des vorliegenden Buches konzentriert, ist durch eine
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doppelte Rahmung hervorgehoben, die „übrigen" Texttypen sind nicht weiter differenziert):
Dieses Schema ist eine Modifikation des bekannten Modells von Seymour Chatman (1990, 115), in dem narrative Texte unterteilt werden in „diegetic texts, recounting an event with the mediation of a narrator", und „mimetic texts, enacting the event without a mediation".13
13 „Diegetic" und „mimetic" werden von Chatman im Sinne Piatons gebraucht, der im Staat (Res publica, III, 392d) „Diegesis" (= „reine Erzählung des Dichters") und „Mimesis" (= „Nachahmung der Rede der Personen") unterscheidet (vgl. dazu unten, IV.1). Die Dichotomie von Erzählung und Mimesis erscheint in der englischsprachigen Narratologie in der Nachfolge von Henry James und Percy Lubbock (1921) als Gegensatz von telling und showing.
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d) Ereignis und Ereignishaftigkeit Mit der bloßen Registrierung von Zustandsveränderungen wird sich eine literaturwissenschaftliche Analyse von Texten nicht begnügen. Schon in der kleinsten Erzählung wird eine Unmenge von Veränderungen dargestellt, ganz zu schweigen von Romanen wie Lev Tolstojs Krieg und Frieden. Auch mit der Unterscheidung von Typen der Veränderung, also etwa von natürlichen, aktionalen, interaktionalen und mentalen Veränderungen (um eine Differenzierung Lubomir Dolezels 1978 aufzugreifen) ist es nicht getan. Es werden Kategorien erforderlich, mit deren Hilfe die zahllosen natürlichen, aktionalen und mentalen Veränderungen in einer erzählten Welt (vom Umschlag des Wetters über den Gewinn einer Schlacht bis zur inneren Umkehr eines Helden) hinsichtlich ihrer Aktionalität, Relevanz und Tragweite unterschieden werden können. Es wird hier deshalb auf den in der Literaturwissenschaft weithin gebrauchten Begriff des Ereignisses (englisch: event, russisch: sobytie) zurückgegriffen (vgl. Schmid 2003b; Hühn 2008). Im Sprachgebrauch aller drei Sprachen ist ein Ereignis ein besonderer, nicht alltäglicher Vorfall. Der Begriff des Ereignisses soll hier in einem emphatischen Sinne verwendet werden, im Sinne der „ereigneten unerhörten Begebenheit", mit der Goethe den Inhalt der Novelle definiert14, im Sinne der Lotmanschen „Versetzung einer Person über die Grenze eines semantischen Feldes", der „bedeutsamen Abweichung von der Norm" 1 5 oder des ebenfalls Lotmanschen „Überschreitens einer Verbotsgrenze" 16 . Diese Grenze kann eine topographische sein, aber auch eine pragmatische, ethische, psychologische oder kognitive. Das Ereignis besteht demnach in der Abweichung von dem in einer gegebenen narrativen Welt Gesetzmäßigen, Normativen, dessen Vollzug die Ordnung dieser Welt aufrechterhält17. 14 Zu Eckermann 25.1.1827. 15 Vgl. Lotman 1970, 282 f.; dt. 1972b, 332 f.; dt. 1973b, 350 f. 16 Vgl. Lotman 1973a, 86; dt. 1981a, 206 17 Den „Sujettexten", in denen sich eine Grenzüberschreitung ereignet, stellt Lotman die „sujetlosen" oder „mythologischen" Texte gegenüber, die nicht von Neuigkeiten einer sich wandelnden Welt erzählen, sondern die zyklischen Iterationen und die Isomorphien eines geschlossenen Kosmos darstellen, dessen Ordnungen grundsätzlich affirmiert werden. Der moderne Sujettext ist nach Lotman
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Jedes Ereignis impliziert eine Zustandsveränderung, aber nicht jede Zustandsveränderung bildet ein Ereignis. Das Ereignis soll definiert werden als eine Zustandsveränderung, die besondere Bedingungen erfüllt18. Die erste Grundbedingung für ein Ereignis ist die Faktizität oder Realität der Veränderung (Faktizität und Realität natürlich im Rahmen der fiktiven Welt). Gewünschte, imaginierte oder geträumte Veränderungen bilden nach dieser Prämisse kein Ereignis. Allenfalls der reale Akt des Wünschens, der Imagination oder des Träumens selbst kann ein Ereignis sein. Mit der Realität hängt eine zweite Bedingung zusammen: die Resultativität. Veränderungen, die ein Ereignis bilden, sind nicht inchoativ, d. h. werden nicht nur begonnen, sind nicht konativ, werden nicht nur versucht, sind auch nicht durativ, befinden sich nicht nur im Zustand des Vollzugs, sondern sind resultativ, d. h. gelangen in der jeweiligen narrativen Welt des Textes zu einem Abschluss19. Realität und Resultativität sollen notwendige Bedingungen des Ereignisses im emphatischen Sinne sein; sie sind aber offensichtlich nicht ausreichend, um eine Zustandsveränderung zu einem Ereignis zu machen. Denn auch Veränderungen, die in einer narrativen Welt als ganz trivial und selbstverständlich, also eben nicht als Erdas Ergebnis der Wechselwirkung und Interferenz der beiden typologisch primären Texttypen (Lotman 1973c; dt. 1974; Lotman 1981b). Lotmans Ereignis- und Sujetkategorien werden aufgegriffen und im Sinne einer Formalisierung weiterentwickelt von Renner 1983 und Titzmann 2003. Kritisch zu Lotmans hermeneutischem Modell und Renners Versuch seiner induktiven Anwendung: Meister 2003, 91-95. 18 Für einen radikal konstruktivistischen Versuch der Modellierung von Zustandsveränderungen, der konsequenterweise auf die Einbeziehung von hermeneutisch erfassbaren Ereignissen verzichten muss, vgl. Meister 2002. 19 In einer brieflichen Mitteilung weist mich Vyacheslav Yevseyev (Astana, Kasachstan) darauf hin, dass unter linguistischen Gesichtspunkten zwischen inchoativen und konativen Vorgängen einerseits und resultativen anderseits kein prinzipieller Unterschied bestehe. Auch inchoative und konative Vorgänge setzten eine Zustandsveränderung voraus. Dem sei vorbehaltlos zugestimmt. Es geht in unserm Zusammenhang freilich nicht darum, ob der Beginn oder der Versuch einer Zustandsveränderung selbst eine Zustandsveränderung impliziert oder nicht, sondern darum, ob die angestrebte Veränderung nur begonnen bzw. versucht oder tatsächlich vollzogen wird.
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eignisse empfunden werden, können diese beiden Bedingungen erfüllen. Im Folgenden seien fünf Merkmale vorgeschlagen, die in einer Zustandsveränderung realisiert sein müssen, damit diese ein Ereignis genannt werden kann. Diese Merkmale befinden sich in einer hierarchischen Ordnung, d. h. sie sind unterschiedlich wichtig, und sie sind gradationsfähig, d. h. sie können in unterschiedlichem Maße realisiert sein und deshalb ein Ereignis mehr oder weniger ereignishaft machen. Damit eine Zustandsveränderung ein Ereignis genannt werden kann, müssen die beiden in der Hierarchie höchsten Merkmale zumindest in einem bestimmten Grad realisiert sein. Die Antwort auf die Frage, bei wie viel Ereignishaftigkeit eine Zustandsveränderung zu einem Ereignis wird oder - umgekehrt - wie wenig Ereignishaftigkeit ein Ereignis toleriert, kann nicht allgemein gegeben werden, sondern ist erstens durch das Ereignismodell einer Epoche, einer literarischen Strömung und einer Gattung beeinflusst, zweitens durch das jeweilige Werk mehr oder weniger deutlich vorgegeben und unterliegt drittens dem Urteil des Rezipienten. Es wird hier also mit drei Kategorien operiert: 1. der Zustandsveränderung, 2. dem Ereignis, d. h. einer Zustandsveränderung, die Realität und Resultativität voraussetzt und weitere Bedingungen erfüllen muss, und 3. der Ereignishaftigkeit, die eine skalierbare, gradationsfähige Eigenschaft von Ereignissen ist. Die fünf Merkmale, die über den Grad der Ereignishaftigkeit entscheiden, sind nicht aus der Vollform des Ereignisses abgeleitet, wie sie etwa bei Dostoevskij und Tolstoj vorliegt, sondern aus der Reduktionsstufe, die für die postrealistische Narration charakteristisch ist. Im Einzelnen orientiere ich mich hier an der Poetik Anton Cechovs, in der die starke Ereignishaftigkeit Dostoevskijs und Tolstojs problematisiert wird. Während die Romane der beiden Realisten den Menschen als zur tiefen Veränderung, zum Überschreiten seiner moralischen und charakterologischen Grenzen fähig zeigen, stellt die postrealistische Narration Cechovs die Ereignisfähigkeit der Welt und die Veränderbarkeit des Menschen kategorial in Fra-
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ge. Cechov problematisiert die Ereignishaftigkeit, indem er an vermeintlichen Ereignissen je unterschiedliche Defizite erkennen lässt. Von unterschiedlichen Typen der Negation ausgehend, wollen wir also Merkmale für Ereignishaftigkeit gewinnen. 1. Das erste Kriterium ist die Relevanz der Veränderung. Die Ereignishaftigkeit steigt in dem Maße, wie die Zustandsveränderung in der jeweiligen narrativen Welt als wesentlich empfunden wird. Triviale Veränderungen - trivial nach der werkimmanenten Axiologie - zeitigen keine Ereignishaftigkeit, es handelt sich bei ihnen nicht um ein Ereignis. Natürlich ist der Relevanzbegriff äußerst relativ, wie Cechov an einem markanten Beispiel zeigt. In seiner Erzählung, die den narratologisch verheißungsvollen Titel Ein Ereignis (Sobytie) trägt, geht es „nur" darum, dass eine Katze Junge wirft und der riesige Hofhund Nero alle Kätzchen mit einem Mal auffrisst. Cechov zeigt, wie subjektabhängig die Relevanzzuschreibung ist. Für die kleinen Kinder Vanja und Nina ist schon die Geburt der Katzenjungen ein Vorgang größter Bedeutung. Während die Erwachsenen dann ruhig hinnehmen, dass Nero die Jungen frisst, und sich nur über seinen unermesslichen Appetit wundern, bricht für die Kinder die Welt zusammen. Allgemein tendiert techov in seinen „ereignislosen", ereigniskritischen Erzählungen dazu, die scheinbar selbstverständlichen Relevanzkriterien des Realismus zu erschüttern, indem er die Abhängigkeit der Relevanzzuschreibungen vom Subjekt und seinem jeweiligen physischen und psychischen Zustand demonstriert. 2. Das zweite Kriterium ist die Imprädiktabilität. Die Ereignishaftigkeit steigt mit dem Maß der Abweichung von der narrativen „Doxa", dem in der jeweiligen narrativen Welt allgemein Erwarteten. Ein Ereignis beruht nicht notwendig auf der Verletzung einer Norm, auf der Überschreitung einer Grenze, wie Lotman postulierte, sondern kann auch im Bruch einer Erwartung bestehen. Eine ereignishafte Veränderung ist im wörtlichen Sinne paradoxal, d. h. gegen die Erwartung20. Dabei bezieht sich die Doxa auf die nar20 Aristoteles bestimmt das Paradoxon unter anderem als das, was der allgemeinen Erwartung widerspricht (De arte rhetorica, 1412a 27).
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rative Welt und ihre Protagonisten, nicht auf die Handlungserwartung, den script des an bestimmten Mustern orientierten Lesers21. Eine in der narrativen Welt gesetzmäßige, vorhersagbare Veränderung ist wenig ereignishaft, mag sie für den einzelnen Protagonisten auch wesentlich sein. Wenn eine Braut heiratet, ist das in der Regel kein Ereignis; es kann aber für alle Beteiligten, die Braut eingeschlossen, eine Überraschung und damit ein Ereignis sein, wenn die Braut - wie in Cechovs gleichnamiger Erzählung (Nevesta) ihrem Bräutigam kurz vor der Hochzeit, als alles schon besprochen und vorbereitet ist, den Laufpass gibt. Die Annullierung der Imprädiktabilität demonstriert eine andere Heiratsgeschichte Cechovs, Oer Literaturlehrer (Ucitel' slovesnosti). Der scheinbar unerreichbaren Masa Selestova seine Liebe zu erklären, erfordert von Nikitin, dem Titelhelden, einen schier heroischen Entschluss, das Aufbieten seines ganzen Mutes, und das geliebte Mädchen einmal vor den Traualtar führen zu können, erscheint ihm als ganz unwahrscheinliches Glück. Der Leser freilich kann aus Masas Verhalten unschwer erkennen, dass sie der Werbung keine allzu großen Widerstände entgegensetzen wird. Und als der Held dann den entscheidenden Schritt getan hat, muss auch er erkennen, dass seine vermeintliche Grenzüberschreitung eine 22 durchaus gesetzmäßige, von allen erwartete Handlungsweise war . Relevanz und Imprädiktabilität sind die Hauptkriterien der gradationsfähigen Ereignishaftigkeit. Beide müssen in einem Mindest21 Eine in der narrativen Welt eines Werks für alle Protagonisten überraschende Zustandsveränderung kann für den geschulten Leser ein durchaus prädiktables Merkmal der Gattung sein. Es sind also auseinanderzuhalten das script des Lesers bezüglich des Verlaufs eines Werks und die Erwartungen der Protagonisten an den Verlauf des Lebens. 22 Eine in der narratologischen Diskussion aktuelle Kategorie ist tellability. Dieser von William Labov (1972) eingeführte Terminus bezeichnet nicht die Er zählbar keit (wie die englische Wortbildung vermuten lassen könnte), sondern die Erzählwürdigkeit. Er bezieht sich auf die raison d'etre einer Geschichte, ihr Worumwillen. In Erzählungen mit hoher Ereignishaftigkeit wird diese in der Regel mit der Erzählwürdigkeit zusammenfallen. In Erzählungen mit niedriger Ereignishaftigkeit kann die Erzählwürdigkeit auf dem Fehlen eines Ereignisses beruhen, das der Leser erwartet haben wird. Obwohl die Imprädiktabilität einer Zustandsveränderung eine wichtige Bedingung für Ereignishaftigkeit darstellt, bildet die Nicht-Erfüllung einer Erwartung an sich noch kein Ereignis.
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maß erfüllt sein, wenn eine Zustandsveränderung als Ereignis wahrgenommen werden soll. Als weitere, nachgeordnete Merkmale sind zu nennen: 3. Konsekutivität: Die Ereignishaftigkeit einer Zustandsveränderung steigt in dem Maße, wie die Veränderung im Rahmen der erzählten Welt Folgen für das Denken und Handeln des betroffenen Subjekts hat. In besonderem Maße ereignishaft sind Zustandsveränderungen, die nicht nur die persönliche Befindlichkeit des Subjekts, sondern die Doxa und die Normen der jeweiligen erzählten Welt verändern 23 . Einen Mangel an Konsekutivität zeigt Cechov in der soeben erwähnten Erzählung Der Literaturlebrer. Nachdem sich für Nikitin der Traum einer Verbindung mit der geliebten Masa Selestova ganz gegen seine Erwartung erfüllt hat und er nun das behagliche Leben eines Spießers führt, muss er erfahren, dass seine erfolgreiche Werbung überhaupt nicht das überraschende Ereignis war, für das er es bisher gehalten hat, sondern eine für alle übrigen Beteiligten selbstverständliche Konsequenz seiner regelmäßigen Besuche im Haus der Selestovs. Diese ernüchternde Einsicht löst in ihm den Wunsch aus, die kleine Welt seines stillen Eheglücks zu verlassen und in eine andere Welt auszubrechen, „um selbst irgendwo in einer Fabrik oder in einer großen Werkstatt zu arbeiten, auf einem Katheder zu stehen, Schriften zu verfassen, zu publizieren, Aufsehen zu erregen, sich ganz auszugeben, zu leiden..." (Cechov 8, 330). Wenn er dann aber am Schluss der Geschichte seinem Tagebuch die Klage über die ihn umgebende Trivialität anvertraut und die Aufforderung an sich selbst einträgt „Nur fliehen von hier, heute noch fliehen, sonst werde ich verrückt!" (8, 332), so scheint sich seine ganze mentale Veränderung in dieser Tagebucheintragung zu erschöpfen. Es bleibt - wie in vielen Aufbruchsgeschichten Cechovs - ein erheblicher Zweifel an der Konsekutivität sowohl der Einsicht als auch des Plans.
23 Michael Titzmann (2003, 3081), nennt solche Ereignisse, in denen sich nicht nur der Zustand des Agenten, sondern auch der der Welt ändert, „Metaereignisse". Dass ein Ereignis solche weitreichende Folgen hat, ist ihm allerdings zunächst in der Regel nicht anzusehen (und vom Agenten auch keineswegs immer intendiert).
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Die mangelnde Konsekutivität wird bei Cechov häufig dadurch verschleiert, dass das Erzählen abbricht, bevor der Held seine Ziele erreicht hat. Die nicht wenigen Interpreten, die aus dem Potentialis des offenen Endes einen Realis machen, geben der Zustandsveränderung eine Resultativität und Konsekutivität, die die Geschichte selbst nicht gestaltet. 4. Irreversibilität. Die Ereignishaftigkeit nimmt zu mit der Irreversibilität des aus der Veränderung resultierenden neuen Zustande, d. h. mit der Unwahrscheinlichkeit, dass der erreichte Zustand rückgängig gemacht wird. Im Fall des Umdenkens, also jenes mentalen Ereignisses, dem das besondere Interesse der russischen Realisten galt, muss eine Einsicht erlangt sein, die jeden Rückfall in frühere Denkweisen ausschließt. Ein Beispiel für irreversible Ereignisse ist der Domino-Effekt der Konversionen, der Dostoevskijs Brüder Karamazov durchzieht. Bei keiner der konvertierten Personen ist eine Rückkehr zur gottlosen Ausgangsposition wahrscheinlich. Cechovs Erzählen weckt allenthalben Zweifel an der Irreversibilität einmal erreichter Sinnpositionen und Handlungsentscheidungen. In keinem Werk wird die Ungewissheit über die Endgültigkeit der Grenzüberschreitung prekärer als in der Braut. Dass Aleksandr, der die Braut vom Heiraten abbringt und zum Studieren überredet, als der die Frauen ewig zum Aufbruch Mahnende nicht weniger unter einem Wiederholungszwang steht als der verschmähte Andrej Andreic, der ewig Geige spielende Bräutigam, der, wie sein Name sagt, nichts anderes ist als der Sohn seines Vaters, wirft einen Schatten auf die Endgültigkeit des Aufbruchs der Braut. Kann sie tatsächlich den Bannkreis ihrer alten Existenz verlassen, oder wird sie doch von jenem Wiederholungszwang eingeholt, der die von ihr verlassene Welt beherrscht? Das ist eine Frage, die in aller Virulenz mit dem berühmten Schluss-Satz aufbricht, dessen Sinn techov in der letzten Textvariante durch einen Einschub, die bloße Markierung subjektiver Meinung („wie sie annahm"), fatal unentscheidbar gemacht hat: „Sie ging zu sich nach oben, um sich reisefertig zu machen, und am nächsten Morgen verabschiedete sie sich von den Ihren, und voller Lebensfreude verließ sie die Stadt - wie sie annahm - für immer" (Cechov 10, 220).
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5. Non-Iterativität. Veränderungen, die sich wiederholen, konstituieren, selbst wenn sie relevant und imprädiktabel sind, bestenfalls nur geringe Ereignishaftigkeit. Das demonstriert Cechov an den Eheschließungen und den mit ihnen jeweils verbundenen radikalen Zustandsveränderungen von Olja Plemjannikova, Heldin der Erzählung Seelchen (Dusecka). Was bei der ersten Eheschließung noch als Ereignis erschien, die vollständige Umstellung der Lebenswerte auf die Welt des Ehemanns, erweist sich in der Wiederholung als die unveränderliche Leere einer Vampirexistenz. In der Braut wird die Ereignishaftigkeit dadurch unterminiert, dass der Aufbruch der Titelheldin in einem Kontext schlechter Iterationen geschieht, denen sowohl der Bräutigam als auch der Mentor, aber nicht weniger die weiblichen Figuren, die Mutter und die Großmutter, unterworfen sind. Der Weg der Nicht-mehr-Braut nach Petersburg, die Rückkehr nach Hause und der - wie es ihr jetzt scheint - endgültige Aufbruch, „für immer", beschreibt vielleicht nur den Anfang eines neuen Zirkels24.
e) Ereignishaftigkeit, Interpretation und Kontext Gegen diesen Katalog der Merkmale für gradationsfähige Ereignishaftigkeit ist in den Diskussionen der Hamburger Forschergruppe Narratologie der Einwand erhoben worden, die für Ereignishaftigkeit ins Feld geführten Merkmale seien stark interpretationsabhängig und hätten in der Narratologie, die, wie auch die Metrik, nur objektiv beschreibe und nicht interpretiere, nichts verloren. Dagegen sei zunächst eingewandt, dass die Gegenüberstellung von objektiver Beschreibung und subjektiver Interpretation, die dieser Kritik zugrunde liegt, kaum Bestand haben kann und dass es auch mit der Objektivität der Metrik nicht so weit her ist, wie die Kritiker vorgeben. Die Entscheidung z. B., ob man einen Vers noch als syllabotonischen oder schon als rein tonischen beschreibt, ist weitgehend eine Frage der Interpretation. Die Narratologie kann sich nicht darin erschöpfen, analytische Instrumente für eine scheinbar „voraus24 Die Darstellung der Iteration nähert die Narration der Deskription. Deskriptive Texte haben nicht zufällig eine Affinität zu iterativen Vorgängen und Handlungen.
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setzungsfreie", interpretationsunabhängige Deskription narrativer Texte bereitzustellen. Schon mit dieser bescheidenen Aufgabe käme sie übrigens nicht weit. Bereits die Konstruktion des „Erzählers", sofern sie auf die Semantisierung von Textsymptomen angewiesen bleibt, ist, um nur ein Beispiel zu nennen, stark interpretationsabhängig. Auch die seit den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts währende Kontroverse um die erlebte Rede zeigt, wie „voraussetzungsreich" die erstellten Beschreibungsmodelle jeweils sind. Stark interpretationsabhängig ist oft schon die Feststellung einer Veränderung der Situation, entweder weil die explizierten Eigenschaften von Ausgangs- und Endzustand nicht äquivalent sind und der Konjektur bedürfen oder aber weil die Differenz der Zustände in einem relevanten Merkmal durchaus in Frage steht. In Cechovs später Erzählung Die Dame mit dem Hündchen (Dama s sobackoj) ist zwischen den Deutungslagern höchst umstritten, ob die vom Helden selbst und mit ihm vom Erzähler diagnostizierte Veränderung, nämlich seine Wandlung vom Zyniker zum aufrichtig liebenden Mann, überhaupt stattgefunden hat. Interpretationsabhängig sind insbesondere die ersten beiden Merkmale, Relevanz und Imprädiktabilität, die wesentlich über den Grad der Ereignishaftigkeit entscheiden. Die Interpretationsabhängigkeit hat zwei Facetten: den Instanzenbezug und die Kontextsensitivität. Betrachten wir zunächst die erste Facette: Nicht nur die Figuren einer erzählten Welt können die Relevanz und Imprädiktabilität einer Zustandsveränderung unterschiedlich beurteilen, wie an Cechovs Erzählung Ein Ereignis demonstriert wurde, auch der Erzähler und die implizierten Instanzen wie der abstrakte Autor und der abstrakte Leser (zu diesen siehe unten, II.2 und II.3) müssen als Träger unterschiedlicher Einschätzungen der Merkmale Relevanz und Imprädiktabilität gedacht werden. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass reale Leser, vor allem auch solche späterer Zeiten, individuelle Einschätzungen von Relevanz und Imprädiktabilität haben können, die weder mit denen der fiktiven Figuren noch mit denen der implizierten Instanzen zu harmonieren brauchen. Die Bewertung der Merkmale Relevanz und Imprädiktabilität ist - zweitens - stark kontextgebunden. Aber was heißt hier ,Κοη-
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text'? Zumindest vier Formen des Kontexts sind für die Bewertung der Ereignishaftigkeit in Erwägung zu ziehen. Erstens bedeutet .Kontext' das System der sozialen Normen und Werte der Entstehungszeit eines Werks oder der in ihm dargestellten Handlungszeit. Oft bestehen Ereignisse aus Überschreitungen der in der Gesellschaft einer Zeit gezogenen Grenzen, aus Verletzungen sozialer Normen. Ohne Kenntnis dieser Normen kann man die Ereignishaftigkeit eines Werks in seiner Zeit und Gesellschaft nicht beurteilen. Die Sozialphilologie der 1970er Jahre tendierte freilich dazu, die Bedeutung der Rekonstruktion des sozialen Kontextes der Zeit des Autors oder der dargestellten Epoche zu überschätzen. Um die Ereignishaftigeit von Madame Bovary zu verstehen, bedarf es keiner besonderen Kenntnisse der Gesellschaftsordnung in Flauberts Zeit, keiner Studien zur Erziehung in französischen Mädchenlyzeen oder zum damaligen Stand der Medizin. Es wird auch so deutlich, dass Emmas Glückserwartungen von der Lektüre zu vieler schlechter Liebesromane herrühren und dass Bovary ein bescheidener Feldscher ist. Glücklicherweise liefern literarische Werke Informationen über die Normen und Werte ihrer narrativen Welten mehr oder weniger explizit mit. Das ist auch der Grund, warum wir die Ereignisse in Wolframs Parzival verstehen können, ohne die Sozialordnung im ersten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts studiert zu haben. Einen .Kontext' für die Ereignishaftigkeit bilden insbesondere die individuellen Werte, Normen und Ideologien, die den erzählten, erzählenden und impliziten Sender- und Empfängerinstanzen zugeschrieben werden. Die Überschneidung der Kontexte und die Konkurrenz ihrer Werte bedeutet für den realen Leser eine Herausforderung. Er kann nicht einfach in die erzählte Welt eintauchen und die Position einer der Figuren einnehmen, sondern ist aufgerufen, die Relevanz und Imprädiktabilität einer Zustandsveränderung im Horizont der verschiedenen Wertungskontexte durchzuspielen. Einen dritten Sinn von .Kontext' bildet das Ereigniskonzept in den Gattungen und literarischen Richtungen einer Epoche. Gattungen und Richtungen implizieren ja bestimmte charakteristische Vorstellungen von dem, was als ereignishaft gelten soll. In der russischen Literatur der 1830er Jahre zum Beispiel entwickelte die
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Versepik Ereigniskonzepte, die sich von denen der zeitgenössischen Prosaerzählung deutlich unterschieden, und die späte Romantik sah Grenzüberschreitungen vor, die im zeitgleichen frühen Realismus nicht mehr als ereignishaft galten. Die Ereignishaftigkeit konkreter Werke wird im Kontext ihrer Zeit besser verstehen, wer den Ereignis-Kode der entsprechenden Gattung und Richtung kennt. Von großer, oft unterschätzter Bedeutung ist der intertextuelle Kontext. Es wurde schon betont, dass eine Zustandsveränderung, die für eine Figur überraschend eintritt, für Leser, die die Prätexte kennen, durchaus erwartbar sein kann. Anderseits kann die Ereignishaftigkeit erst vor dem Hintergrund der Prätexte aufscheinen. Ein Beispiel dafür ist Aleksandr Puskins Novelle Der Stationsaufseher (Stancionnyj smotritel'), deren Titelheld sich zu Tode trinkt, aus Kummer über den vermuteten Untergang der Tochter, die, wie er gegen alle Evidenz glaubt oder glauben möchte, von einem jungen Husaren von der Station nach Petersburg entführt wurde. Nach dem Tode des Vaters erscheint die Tochter mit allen Anzeichen des Wohlstands auf der Station. Die Zustandsveränderungen von Vater und Tochter, die an sich nicht besonders überraschend sind, erhalten ein ereignishaftes Profil, wenn man sie vor dem Hintergrund der Prätexte wahrnimmt. Das offensichtliche Glück der Tochter widerspricht dem traurigen Ende all der armen Lizas, Marfas und Masas, der bäuerlichen Heldinnen des Sentimentalismus, die, von einem jungen Adeligen verführt, ihr Leben im Dorfteich beenden. Und das Verhalten des Vaters widerspricht der Großzügigkeit des Vaters im Gleichnis vom verlorenen Sohn, dessen vier Illustrationen die Stationsstube schmücken. Anstatt geduldig auf die Rückkehr der vermeintlich verlorenen Tochter zu warten, wünscht ihr der Vater angesichts der Schande das Grab und trinkt sich zu Tode (Details in Schmid 1991,103-170). Welchen Erkenntniswert hat der Katalog der Kriterien für die Ereignishaftigkeit? Er soll die Heuresis fördern, insofern er zentrale Phänomene des Narrativen zu erkennen und zu unterscheiden hilft. Und damit unterstützt er die Artikulation von Werkinterpretationen. Ereignishaftigkeit ist ein kulturell spezifisches und historisch veränderliches Phänomen narrativer Repräsentationen. Von
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besonderer Bedeutung ist der Katalog deshalb für kulturtypologische und literatur- wie mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen. Denn er impliziert Leitfragen, die die historisch veränderlichen Möglichkeiten und Grenzen von Ereignisfähigkeit und Entwicklungen in den zeitgebundenen Konzepten von Ereignishaftigkeit zu explorieren helfen 25 .
f) Zeitliche und unzeitliche Verknüpfung Neben der zeitlichen Verknüpfung der Geschehensmomente, die der Narrativität zugrunde liegt, gibt es eine ganz anders geartete, die unzeitliche Verknüpfung. Eine ihrer wesentlichen Formen ist die Äquivalenz. Äquivalenz heißt Gleichwertigkeit, d. h. Gleichheit von Elementen in Bezug auf einen bestimmten Wert. Dieser Wert, das tertium comparationis, ist ein im Werk enthaltenes Merkmal, eine Eigenschaft, die zwei oder mehr Geschehensmomente oder Textsegmente auf nicht-zeitliche Weise miteinander verbindet. Die Äquivalenz umfasst zwei Relationstypen: Similarität und Opposition. Sie haben gemein, dass die durch sie verknüpften Elemente mindestens in einem Merkmal identisch und in einem anderen Merkmal nicht-identisch sind. Die Similarität zweier Elemente Α und Β impliziert neben ihrer Identität in einem Merkmal λ die Nicht-Identität in einem Merkmal y. Und die Opposition von A und Β setzt die Vergleichbarkeit dieser Elemente voraus. Diese kann dadurch gegeben sein, dass Α und Β, die in einem Merkmal c nicht-identisch sind, durch ein gemeinsames Merkmal d verbunden werden. Die Vergleichbarkeit oppositioneller Elemente gründet aber auch immer in einer Identität auf tieferer Ebene, insofern nämlich die Opposition (etwa von Mann vs. Frau oder Geburt vs. Tod) in einem abstrakteren, tiefer liegenden Gattungsmerkmal (hier: Mensch bzw. Grenze des Lebens) neutralisiert ist. Similarität und Opposition lassen sich also darstellen als Bündel von Identitäten und Nicht-Identitäten bezüglich jener Merkmale, die die Geschichte aktualisiert. 25 Der Ereignishaftigkeit in der englischen und russischen Literatur aus kulturhistorischer Perspektive ist ein von Peter Hühn und mir geleitetes Teilprojekt der Forschergruppe Narratologie gewidmet.
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Ob eine Äquivalenz als Similarität oder Opposition erscheint, entscheidet nicht die Menge der Identitäten und Nicht-Identitäten, sondern allein der Ort, den die entsprechenden Merkmale in der Hierarchie der Geschichte einnehmen. Die Hierarchisierung, die die Merkmale in der Geschichte erfahren, kann sehr dynamisch sein. Wenn die Geschichte ein Merkmal χ hervorhebt, in dem zwei Elemente Α und Β identisch sind, erscheint die Äquivalenz von A und Β als Similarität. In einer anderen Phase der Geschichte kann ein Merkmal y fokussiert sein. Wenn die Elemente Α und Β in y nicht-identisch sind, erscheint die Äquivalenz als Opposition, gleichgültig in wie viel anderen, nicht aktualisierten Merkmalen A und Β zusammenfallen. Natürlich ist die Fokussierung bestimmter Merkmale und die Zuweisung von Äquivalenzen eine Sache der Interpretation. Die Äquivalenzen geben einander zwar Profil und determinieren sich wechselseitig, aber ihre Identifikation und Integration in eine Sinnlinie bleibt eine Leistung, die der Leser zu erbringen hat. Die Aktualisierung der im Werk enthaltenen Äquivalenzpotentiale wird immer nur partiell bleiben. Die Partialität beruht nicht nur auf der Menge der Äquivalenzen, sondern auch auf ihrer multiplen Relationierbarkeit, die in unterschiedlichen Sinnperspektivierungen einen jeweils neuen Gehalt bereithält. Der Leser wird aus den angebotenen Äquivalenzen und Äquivalenzbeziehungen immer nur jene auswählen, die das Raster seiner Sinnerwartung erfasst. Die Rezeption reduziert die Komplexität des Werks, indem sie jene Relationen auswählt, die in ihrem jeweiligen Horizont als sinntragend identifizierbar werden. Im Lesen und Deuten legen wir also eine rezeptive Sinnlinie durch die thematischen und formalen Äquivalenzen und die in ihnen aktualisierbaren thematischen Merkmale und lassen notwendig eine Fülle von Äquivalenzen und Merkmalen außer Acht. Die Äquivalenz ist ein Prinzip, das nach seinem ersten Beschreiber, dem russischen Formalisten und Linguisten Roman Jakobson (1960), konstitutiv für die Poesie ist, aber durchaus auch in der erzählenden Prosa vorkommt; allerdings dort nicht so sehr in den Bereichen der Prosodie, Metrik, Grammatik und Lexik, sondern in den größeren thematischen Strukturen: In der erzählenden Prosa „zeigt sich der Parallelismus der durch Ähnlichkeit, Kontrast
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oder Kontiguität verknüpften Einheiten aktiv im Sujetbau, in der Charakterisierung der Subjekte und Objekte der Handlung sowie in der Folge der Motive des Erzählens" Qakobson/Pomorska 1980, 523). In der Erzählprosa lassen sich nach den fundierenden Merkmalen zwei Grundtypen der Äquivalenz unterscheiden. Der erste Typus wird durch ein aktualisiertes thematisches Merkmal begründet, eine Eigenschaft oder Handlungsfunktion, die Elemente der Geschichte (Situationen, Figuren und Handlungen) verknüpft. Diese thematische Verklammerung ist in der Prosa die primäre Form der Äquivalenz. Sie stellt die Grundrelation im Bedeutungsaufbau dar, die Kristallisationsachse, an der sich alle weiteren, nicht-thematischen Äquivalenzen semantisch niederschlagen. Der zweite, in der Prosa sekundäre Typus ist die formale Äquivalenz. Sie wird nicht durch ein thematisches Merkmal begründet, sondern beruht auf der Identität bzw. Nicht-Identität zweier Textsegmente hinsichtlich eines der Verfahren, die das Erzählen konstituieren. In den Entwicklungsphasen einer Literatur, in der der poetische Pol dominiert, tendiert die Erzählprosa zu einer Ausweitung des Äquivalenzprinzips über ihre Domäne, die semantischen Einheiten, hinaus auf die euphonischen, rhythmischen, syntaktischen Strukturen des Textes. In solcher Prosa ist die unzeitliche Verknüpfung nicht nur begleitend, sondern konstitutiv. Das ist zum Beispiel bei der in den Literaturen der postrealistischen Moderne weit verbreiteten „lyrischen", „poetischen" oder „rhythmisierten" Prosa der Fall. In Russland hat diese Prosa, die dort die „ornamentale" genannt wird, zwischen 1890 und 1930 große Bedeutung erlangt und in dieser Zeit die gesamte Erzählliteratur dominiert (siehe dazu unten, IV.2.a). Der Ornamentalismus der russischen Moderne ist indes nicht lediglich ein Stil-, sondern ein Strukturphänomen, das sich gleichermaßen im Erzähltext wie in der erzählten Geschichte manifestiert. Die Äquivalenzen überlagern sowohl das sprachliche Syntagma des Erzähltextes, wo sie zu Rhythmisierung und Klangwiederholung führen, als auch die thematische Sukzession der Geschichte, auf deren temporale Folge sie ein Netz unzeitlicher Verklammerungen legen. In extremen Fällen ornamentaler Prosa ist die Narrativität so geschwächt, dass überhaupt keine Ge-
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schichte mehr erzählt wird. Die zeitlichen Verknüpfungen sind dann bestenfalls auf Ansätze reduziert, die die Geschehensmomente nicht mehr zu einer kontinuierlichen Linie mit Geschichtencharakter zusammenschließen. Die Einheit des Werks wird stattdessen durch die gleichsam simultan gegebene oder (im Sinne von Joseph Franks [1945] spatial form) .räumliche' Gestalt der Äquivalenzen gestiftet. Wie aber sieht die Koexistenz zeidicher und unzeitlicher Verknüpfungen in traditioneller oder nur leicht ornamentalisierter narrativer Prosa aus? Die Äquivalenz stellt gegen die Sukzessivität der Geschichte eine Simultaneität von Elementen her, die nicht nur auf der syntagmatischen Achse des Textes, sondern auch auf der Zeitachse der Geschichte oft weit voneinander entfernt sind. Insofern konkurriert die Äquivalenz mit den zeidichen Verknüpfungen wie Sukzession und Kausalität. Diese lassen sich nicht in Äquivalenz auflösen. Vorher- oder Nachher-Sein, Ursache- oder Folge-Sein sind ontologische Bestimmungen ganz anderer Art als ÄquivalentSein. Die kategoriale Differenz zwischen der zeitlichen und unzeitlichen Verknüpfung ist unaufhebbar. In welchem hierarchischen Verhältnis befinden sich nun aber die beiden grundlegenden Formen der Verknüpfung? Der Leser wird sich bei jeder Geschichte zunächst auf die zeitlichen Verknüpfungen und ihre Logik einstellen. Sinngebung in der Lektüre narrativer Texte zielt darauf ab, die Veränderungen des Ausgangszustands und die ihnen zugrunde liegende Logik zu identifizieren. Nicht nur die sie bedingenden Ursachen, sondern sogar die Veränderungen selbst sind freilich nur selten explizit und zuverlässig beschrieben und müssen deshalb meist rekonstruiert werden. Bei ihrer Rekonstruktion wird der Leser auf Äquivalenzen rekurrieren. Denn die unzeitliche Verklammerung bringt die zeitliche Veränderung und ihre Logik in vielen Fällen allererst zur Erscheinung. So wird das Ereignis in vielen Geschichten nicht in seinen einzelnen Schritten explizit entfaltet, sondern nur durch den Kontrast von Ausgangs- und Endzustand suggeriert. Dann können sich die zeitlichen Verknüpfungen über das Durchspielen der unzeitlichen Verknüpfungen identifizieren lassen. Ein Beispiel dafür sind jene späten Erzählungen Cechovs, die die Lebensgeschichte ihrer Titelhelden als Kette äquivalenter Episoden modellieren: Springinsfeld.
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(Poprygun'ja), Ionyc, Seelchen, Die Dame mit dem Hündchen, Die Braut. Ob es hier ein vollwertiges Ereignis gibt, etwa eine tief greifende Veränderung der Lebenssituation, oder ob sich nur Gleiches wiederholt, lässt sich erst entscheiden, wenn man die verborgenen Similaritäten und Oppositionen zwischen den Episoden registriert. Die zeitlichen Verknüpfungen bleiben im Erzählwerk also grundsätzlich dominant. Sie sind das Ziel der rekonstruierenden Sinngebung, erhalten nicht selten aber erst durch die unzeitlichen Verknüpfungen eine Gestalt, die der Rekonstruktion zugänglich ist. 2. Fiktionalität a) Fiktion und Mimesis Wodurch unterscheidet sich das Erzählen im Kunstwerk vom lebensweltlichen Erzählen, zum Beispiel von der Alltagserzählung, den Nachrichten in Zeitung, Funk und Fernsehen, vom Polizeiprotokoll oder dem Bericht eines Sportreporters? Eines der Grundmerkmale des künstlerischen Erzähltextes ist seine Fiktionalität, d. h. der Umstand, dass die in ihm dargestellte Welt fiktiv ist. Zur Begriffsverwendung sei ausgeführt: Der Begriff des Fiktionalen charakterisiert den Text, der Begriff des Fiktiven bezeichnet dagegen den Status des im fiktionalen Text Dargestellter,ί26. Ein Roman ist fiktional, seine dargestellte Welt fiktiv27. Fiktionale Texte sind in der Regel nicht fiktiv, sondern real (es sei denn, sie figurieren in der fiktiven Welt eines andern fiktionalen Werks). Während dem Fiktiven das Reale gegenübersteht, ist der Gegenbegriff des Fiktionalen das Faktuale (vgl. Genette 1990) 28 . Der Begriff des Fiktiven, abgeleitet von lat. fingere (u. a. .bilden', .formen', .gestalten', .künstlerisch darstellen', .sich vorstellen', 26 Zu dieser Begriffsverwendung vgl. etwa Gabriel 1991, 136; Rühling 1996, 29; Zipfel 2001,19. 27 Dieser Unterschied wird nicht in allen Sprachen gemacht. Im Englischen z. B. dient fictional der Bezeichnung sowohl des darstellenden Textes als auch der dargestellten Welt. Die durchaus existierenden Begriffe fictive und fictitious sind im Englischen wenig gebräuchlich. 28 Bereits Egon Werlich (1975, 20) nannte die nicht-fiktionalen Texte „faktisch".
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.ersinnen', .erdichten', .fälschlich vorgeben') bezeichnet Gegenstände, die ausgedacht sind, aber als wirklich vorgegeben werden. Damit enthält der Begriff der Fiktivität ein Moment des Trügerischen, Betrügerischen, das im alltäglichen Wortgebrauch in Wendungen wie fiktive Ehe oder fiktive Rechnung anklingt und auch in Wörtern wie fingiert (ein „fingierter Unfall") und Finte (über ital. la finta aus lat. fingere) aufscheint. Die literarische Fiktion ist jedoch eine Simulation ohne negativen Charakter, ein Vorgeben, in dem das Moment der Lüge und des Trugs oder Betrugs getilgt ist. Deshalb sollte man das Fiktive nicht so sehr mit dem Begriff des Scheins verknüpfen, wozu Theoretiker tendieren, die die Fiktion mit einer 29
„Als-ob-Struktur" erklären . Die Fiktion wäre vielmehr zu verstehen als die Darstellung einer eigenen, autonomen, innerliterarischen Wirklichkeit. Eine solche Konzeption steht der Theorie der Mimesis nahe, wie sie Aristoteles in seiner Poetik, freilich nicht ganz explizit, ausgeführt hat. Man sollte den Aristotelischen Mimesis-Begriff nicht auf imitatio von etwas schon Existierendem reduzieren, wozu Renaissance, Klassizismus und Realismus tendierten. Neben dem semantischen Moment der Nachahmung von etwas bereits Bestehendem, das sich ohne Zweifel noch in Aristoteles' Verwendung des von Piaton übernommenen Begriffs findet (vgl. Sörbom 1966,176), ist die Poetik insgesamt vom Geist einer Mimesis durchdrungen, die nicht Reproduktion bedeutet, sondern Darstellen, Darstellen von etwas nicht Vorgegebenem, das allererst in der Mimesis konstituiert wird30. In Aristoteles' Abhandlung wird die „Darstellung der Hand2 9 Fiktion als „Als-ob-Struktur" geht auf Hans Vaihingcrs Philosophie des „Als Ob" (1911) zurück und begegnet noch in rezenten Erklärungen der Fiktion wie z. B. John Searles Sprechakt-Theorie (1975), wo die Kategorie des „Tuns als ob" {pretending) eine zentrale Rolle spielt (s. u.). 30 Zur Aristotelischen Mimesis als Begriff, der nicht nur und nicht in erster Linie Nachahmung bezeichnet, wie Piatons Mimesis im 10. Kapitel des Staats, sondern auch und vor allem Darstellung, vgl. Koller 1954; Hamburger 1957, 6 - 1 0 ; Weidle 1963; Kohl 1977, 2 8 - 3 9 . Einen Überblick über die semantischen Aspekte und pragmatischen Implikationen des in der Poetik nicht explizierten Verbs μιμεΐσθαι im vorplatonischen. Platonischen und Aristotelischen Gebrauch gibt Neschke 1980, 7 6 - 8 9 . Auf die Äquivalenz zwischen Aristoteles' Mimesis und dem heutigen Fiktionsbegriff verweisen Hamburger 1957; Genette 1991,16-18; Gebauer & Wulf 1992, 81-84. Dupont-Roc & Lailot 1980 übersetzen Mimesis mit representa-
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lung" (μιμησις πράξεως) mit dem „Mythos" (μΰθος) gleichgesetzt, einem Begriff, der, am besten mit (erzählter) „Geschichte" wiederzugeben, von Aristoteles definiert wird als die „Zusammenfügung der Geschehnisse" (σύνθησις — oder σύστασις — των πραγ μάτων; 1450a, 5, 15)31. Aristoteles' Ausführungen lassen erkennen, dass er den Wert der Mimesis nicht in der Ähnlichkeit mit einer außerliterarischen Wirklichkeit sieht, sondern in einer solchen „Zusammenfügung der Geschehnisse", die geeignet ist, beim Rezipienten die gewünschte Wirkung hervorzurufen. Im Fall der Tragödie, der würdigsten Form von Mimesis, besteht diese darin, „über das Mitleid und die Furcht zu einer Reinigung von derartigen Affekten zu gelangen" (1449b, 27-28). Aristoteles, der die Platonische Lehre von der Drittrangigkeit der künstlerischen Darstellung als Nachahmung einer Nachahmung überwindet32, erkennt der Mimesis, die er als „Machen" (πόιησις) begreift (vgl. Hamburger 1957, 7 f.) oder als Konstruktion (Zuckerkandl 1958, 233), nicht nur Primarität (vgl. Else 1957, 322) zu, sondern begründet auch ihre Erkenntnisfunktion (vgl. Boyd 1968, 24) und damit ihren Wert. Im Gegensatz zum Historiker, der erzählt, was geschehen ist, was zum Beispiel Alkibiades gesagt und getan hat, ist es die Aufgabe des Dichters zu berichten, „was geschehen könnte und was nach Angemessenheit oder Notwendigkeit möglich wäre" (1451a, 36-38). Gegenstand des Dichters ist also nicht das wirklich Geschehene (τά γενόμενα), sondern das Möglition. Paul Ricoeur (1983, 55-84), der Mimesis, der Doppelbedeutung des Begriffs entsprechend, immer mit imitation ou representation wiedergibt, unterstreicht, dass die representation nicht den Charakter einer Kopie, einer Verdoppelung der presence habe, sondern als activite mimetique zu verstehen sei. Die Korrelation der Aristotelischen Begriffe mit denen der modernen Semiotik erörtert Garcia Landa (1998, 22-32). 31 Manfred Fuhrmann (1992, 25-26) erklärt Mythos als „Fabel", „Sujet", „Plot", „Handlung" und die Pragmata als „Geschehnisse" oder „Ereignisse" (vgl. auch die historische Erklärung des Aristotelischen Mythos-Begriffs als „organisierte Handlungsstruktur" bei Kannicht 1976). Ricoeur (1983) übersetzt Mythos und Pragmata als intrigue (nach dem Vorbild von engl, plot) bzw. faits. 32 Nach Piaton ist das Kunstwerk, insofern es Gegenstände der sichtbaren Welt nachahmt, die ihrerseits Nachahmungen der höheren Welt der Ideen sind, nur „an der dritten Stelle von der Wahrheit" (τρίτον τι άπο της αλήθειας; Res publica, Χ 597e).
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che (τά δυνατά). Deshalb ist die Dichtung „philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung" (1451b, 5-6). Die Fiktion, im Aristotelischen Sinne als Mimesis verstanden, ist eine künstlerische Konstruktion einer möglichen Wirklichkeit. Insofern sie nicht nur bestimmte existierende oder frühere Handlungen, Handelnde und Welten darstellt, sondern auch mögliche, hat diese Konstruktion den Charakter eines Denkmodells. b) Die Kontroverse um die Fiktionalität In den vergangenen Jahrzehnten war die Theorie der Fiktionalität Gegenstand heftiger Diskussionen zwischen Ontologie, Semantik, Aussagetheorie, Sprachhandlungstheorie, Sprechakttheorie, Pragmatik und anderen Disziplinen33. Ein Dissens bestand und besteht vor allem in der Frage, ob der spezifische Status der Literatur hinsichtlich der Ontologie der dargestellten Gegenstände oder der Pragmatik des darstellenden Diskurses zu bestimmen sei. Dieser Alternative entsprechen in der heutigen Diskussion zwei Argumentationsrichtungen (vgl. Rühling 1996). In der Literaturwissenschaft und der philosophischen Ästhetik wird die Spezifik der Literatur zumeist als ontologisches Problem der Fiktivität der dargestellten Gegenstände behandelt. Unter dem Vorzeichen der „linguistischen Wende" in den Geisteswissenschaften und unter der Vorherrschaft der analytischen Philosophie verbreitet sich ein Ansatz, der anstelle des Seinscharakters der Gegenstände die Eigenart des Diskurses in den Mittelpunkt rückt und nach der Semantik und Pragmatik der
33 Vgl. die Übersichten von der Warte der Sprachhandlungstheorie bei Zipfel 2001, aus der Perspektive der Pragmatik bei Hoops 1979 und vom antimimetistischen Standpunkt der Theorie möglicher Welten bei Dolezel 1998, 1-28. Nicht ganz verständlich ist allerdings, warum Dolezel die gesamte „mimetic doctrine" seit Sokrates, Plato und Aristoteles auf die Imitation von „actual prototypes" reduziert (1998, 6-10). Aristoteles, dem Urvater der Richtung, der, wie wir gesehen haben, nicht die imitative, sondern die konstruktive Komponente der Mimesis, nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche des Darzustellenden betonte (vgl. dazu auch Dolezel 1990, 34), war der Reduktionismus des „one-world-frame" völlig fremd. In Wirklichkeit ist Dolezels Theorie der Fiktionalität im Rahmen der MöglicheWelten-Konzeption nicht allzu weit von Aristoteles entfernt.
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fiktionalen Rede fragt34. Eine gewisse Zeit lang genoss die Theorie der „Sprechakte" {speech acts) des amerikanischen Philosophen John Searle (1975) besonderes Ansehen. Danach trifft der Autor eines fiktionalen Textes Feststellungen, die nur die Form von Feststellungen haben, in Wirklichkeit aber, da sie die Bedingungen von Feststellungen nicht erfüllen, nur „vorgegebene" {pretended) Feststellungen sind. Das Erwecken des Anscheins von „illokutionären" 35
Sprechakten , die der Autor „ernsthaft" gar nicht vollzieht, dieser Widerspruch ist nach Searle der Kern der Fiktionalität. Gegen Searles pretense-Thcone sind bald nach ihrer Formulierung gravierende Einwände erhoben worden 36 . Einer von ihnen betrifft die in Searles Theorie unterstellte Absicht des Autors, etwas vorzugeben, was nicht ernst gemeint ist. Gewiss, Searle macht deutlich, dass er von den beiden Bedeutungen, die to pretend haben könne, nicht die mit einem Betrug, sondern die mit einem Verhalten as if verbundene meine, dass in dem pretending des Autors nicht die geringste Absicht eines Betruges vorliege. Aber es ist wiederholt bezweifelt worden, ob mit der Als-ob-Figur, die zwangsläufig etwas Unauthentisches suggeriere, die mimetische Tätigkeit des Autors angemessen beschrieben sei. So fragt Dorrit Cohn (1989, 5 f.) in der Polemik mit Barbara Herrnstein Smith (1978, 30), ob Tolstoj in der Erzählung Der Tod des Ivan Wie (Smert' Ivana Il'ica) wirklich vorgebe, eine Biographie zu schreiben („is pretending to be writing a biography"). In Wirklichkeit gebe Tolstoj überhaupt nichts vor, sondern vollziehe tatsächlich einen ernsthaft gemeinten Akt, übermittle nämlich seinem Leser eine fiktionale Erzählung über den 37 Tod einer fiktiven Person .
34 Einen Überblick über die Diskussion zur Fiktionalität der Literatur aus der Sicht der analytischen Philosophie geben Lamarque & Olsen 1994; Thürnau 1994. 35 Die „Illokution" ist in John Austins (1962) Sprechakttheorie die vom Sprecher mit Hilfe von Äußerungen in einem bestimmten Kontext vollzogene Handlung, z. B. des Versprechens, Verurteilens usw. Während der Gehalt des Sprechakts wahr oder falsch sein kann, ist die Illokution, abhängig von den außersprachlichen Umständen, erfolgreich oder erfolglos. 36 Vgl. Zipfel 2001,185-195. 37 Vgl. schon die Kritik Felix Martinez Bonatis (1981, 157-159) an der ähnlichen Theorie Richard Ohmanns (1971) von Dichtung als „Quasi-Sprechakten" und
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Eine andere Kritik der Theorie vorgegebener illokutiver Akte des Autors richtet sich dagegen, dass, wie Searle behauptet, über die Fiktionalität eines Werks keine andere Instanz entscheide als der Autor 38 : „what makes [a text] a work of fiction is, so to speak, the illocutionary stance that the author takes toward it, and that stance is a matter of the complex illocutionary intentions that the author has when he writes" (Searle 1975, 325). Worauf Genette (1989, 63) erwidert, indem er Searles eigene Worte gegen ihn wendet: „[...] Car il arrive, fort heureusement, et contrairement aux regies de l'illocution, que ce soit ,aux lecteurs de decider si [un texte] est ou non de la litterature'". Die Polemik zeigt, dass in der Diskussion um den Status der Literatur auch die Instanz umstritten ist, die für die Fiktionalität den Ausschlag gibt. Nach Käte Hamburger (1957, 21-72; 1968, 5 6 111) entscheidet über die Fiktionalität der Text. Fiktionalität ist für sie eine objektive Eigenschaft, die sich in einzelnen „Symptomen" des Textes manifestiert. Nach Searle entscheidet, wie wir gesehen haben, ausschließlich die Absicht des Autors. Für eine dritte Gruppe von Theoretikern ist die Fiktionalität eine relative und pragmatische Kategorie. Ob ein Text als fiktional gelesen wird, ist nach ihrer Auffassung das Ergebnis einer faktischen Funktionszuweisung durch die Rezipienten, einer Zuweisung, die vom historischen und sozialen Kontext der Leser und von den in diesem Kontext herrschenden Vorstellungen über das Wirkliche abhängt. c) Signale der Fiktion Einen Dissens gibt es nicht zuletzt in der Frage, ob sich fiktionale Texte durch bestimmte distinktive Merkmale auszeichnen. Eröffnet hat die Diskussion Käte Hamburger, die seit den fünfziger Jahren in einer Reihe von Arbeiten (1951; 1953; 1955; 1957) die Eigenart der „fiktionalen oder mimetischen Gattung" behauptete, zu der sie das Erzählen in der dritten Person, das Drama, den Film rechnete von der Tätigkeit des Autors als „pretending". Kritische Überblicke über die neueren pretense theories geben Crittenden 1991, 4 5 - 5 2 ; Zipfel 2001,187-195. 38 Ein häufig gegen Searle vorgebrachtes Monitum ist die fehlende Differenzierung von Autor und Erzähler; vgl. etwa Martinez Bonati 1980; Hempfer 1990.
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und aus der sie nicht nur die Lyrik, sondern auch das Erzählen in der ersten Person ausschloss. Die fiktionale Gattung sollte sich vom zweiten Grundtypus der Literatur, der „lyrischen oder existentiellen" Gattung39, durch eine Reihe objektiver „Symptome" unterscheiden. Genannt wurden: 1. Der Verlust der Vergangenheitsbedeutung des epischen Präteritums, der sich in der Möglichkeit der Verknüpfung des Vergangenheitstempus des Verbs mit einem deiktischem Zukunftsadverb (vom Typ Morgen war Weihnachten) zeigt, und in Verbindung damit die Detemporalisierung der grammatischen Zeiten überhaupt. 2. Der Bezug des Erzählten nicht auf eine reale „Ich-Origo"40, d. h. ein reales Aussagesubjekt, sondern auf eine der fiktiven Origines, d. h. auf eine oder mehrere der dargestellten Figuren. 3. Die Verwendung von Verben der inneren Bewegung für dritte Personen (vom Typ Napoleon dachte...) ohne Bezug auf eine Informationsquelle. Die Thesen Käte Hamburgers stießen sogleich auf vielfältige Kritik. Die Diskussion kreiste vor allem um die Frage des epischen Präteritums41. Der Haupteinwand war, dass man die genannten Sym39 Diese zweite Hauptgattung und damit der ganze Binarismus des Gattungssystems entfiel in der zweiten Auflage (Hamburger 1968), wo die „Ich-Erzählung" nur noch als „Sonderform" figuriert. 40 Der in Hamburgers Theorie zentrale Begriff der Ich-Origo oder - genauer - der Origo des Jetzt-hier-Ich-Systems, der auf einen von Karl Brugmann (1904) und Karl Bühler (1934) aus der Geometrie abgeleiteten Terminus zurückgeht, bezeichnet „den durch das Ich (das Erlebnis- oder Aussage-Ich) besetzten Nullpunkt, die Origo des raumzeitlichen Koordinatensystems, der zusammenfällt oder identisch ist mit Jetzt und Hier" (Hamburger 1968, 62). 41 Die wichtigsten Positionen der Kontroverse sind: Seidler 1952/53; Koziol 1956; Stanzel 1959; Rasch 1961; Busch 1962; Lockemann 1965; Horälek 1970; Bronzwaer 1970, 42-46; Zimmermann 1971; Anderegg 1973, 48-52; Weimar 1974; Petersen 1977. Besondere Beachtung verdient Genette, der schon in seinem Discours du recit (1972, 232) Hamburgers These von der Zeitlosigkeit des epischen Präteritums („cette position extreme et fort contestee") eine gewisse „verite hyperbolique" zuerkennt. In seiner Gegenüberstellung von Searle und Hamburger zollt Genette (1990, 92 f.) letzterer, die er später (1991, 18) als „brillanteste Vertreterin der neoaristotelischen Schule heute" würdigt, bei aller Kritik an ihren
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ptome und alle Anzeichen für die Detemporalisierung des epischen Präteritums und die Zeitlosigkeit der Fiktion auf die spezifische grammatische Struktur der deutschen erlebten Rede zurückführen könne, in der die Perspektiven des Erzählers und der erzählten Person kontaminiert seien. So ist in Morgen war Weibnachten die Verwendung des Präteritums war auf den Standpunkt des Erzählers bezogen, der etwas Vergangenes erzählt, das deiktische Zeitadverb morgen dagegen auf den Standpunkt der Person, für die zu diesem Punkt der Handlung Weihnachten am nächsten Tag sein wird. Nicht von ungefähr enthalten alle Beispiele, die Hamburger anführt, die Struktur der erlebten Rede. Jedoch ist diese Schablone einer narratorialen Wiedergabe der inneren Rede der Person keineswegs auf das Erzählen in der dritten Person beschränkt, wie Hamburger noch in der zweiten, wesentlich veränderten Auflage ihrer Logik der Dichtung (1968) postuliert, sondern begegnet regelmäßig auch in der so genannten „Ich-Erzählung" (siehe dazu unten, IV.3.m). Mit der Widerlegung des Hauptarguments stürzte für viele Theoretiker das ganze Gebäude textueller Fiktionssymptome zusammen. Für Searle z. B. gilt: „there is no textual property that will identify a stretch of discourse as a work of fiction" (1975, 327). Theoretiker, die die Fiktionalität für eine grundsätzlich relative, pragmatische Kategorie halten, verweisen allerdings auf die Existenz bestimmter, nicht unbedingt kategorialer „Orientierungssignale" (Weinrich 1975, 525) oder „metakommunikativer" wie „kontextueller Signale" der Fiktion (Martinez/Scheffel 1999,15). Zu ersteren zählt Weinrich das bewusste Vorenthalten bestimmter Umstände des Handlungsorts oder der Zeit und die negative Einleitung, wie sie z. B. im „desorientierenden" ersten Satz von Max Frischs Stiller begegnet: „Ich bin nicht Stiller". Als metakommunikative Signale fungieren „Paratexte" (Genette 1987; vgl. auch Moenninghof 1996) wie Titel und Untertitel, Vorwörter, Widmungen u. ä., die mehr oder weniger explizit die Fiktionalität des Werks anzeigen. Ein kontextuelles Signal ist etwa die Veröffentlichung des Werks in einem bestimmten Verlag oder in einer beEinseitigkeiten nicht nur Respekt, sondern betrachtet auch ihre Extremismen und Fehler mit unverhohlener Sympathie.
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stimmten Reihe. Schließlich sind metafiktionale Signale in Betracht zu ziehen, wie sie Texte enthalten, die ihre Entstehung, ihren Status (evtl. auch ihre Fiktionalität), die gewünschte Rezeption und Ähnliches thematisieren (Martinez/Scheffel 1999,16 f.). Eine umfassende Aufstellung von „signs pointing to the fictionality of fiction" hat Michel Riffaterre (1990, 29 f.) unternommen. Der ein wenig unsystematische und in manchen Punkten angreifbare Versuch wird von Frank Zipfel in seinen Ausführungen über Fiktionssignale auf der Ebene der Geschichte und der Erzählung (2001, 232-247) diskutiert, korrigiert und systematisiert. Von allen bei Zipfel aufgeführten direkten und indirekten Fiktivitäts- und Fiktionalitätssignalen, die an unterschiedliche Bedingungen gebunden sind und unterschiedlich eindeutige Signalwirkung haben, scheint das relevanteste, am wenigsten an bestimmte Bedingungen gebundene und eindeutigste jenes zu sein, das bei Käte Hamburger im Vordergrund stand. Obwohl ihr Versuch, die Fiktionalität auf den festen Boden objektiver textueller Symptome zu stellen, heute generell als gescheitert gilt42, bleibt die Logik der Dichtung eine scharfsinnige Einführung in die Fiktion als Gestaltung fremder Subjektivität. d) Darstellung fremder Innenwelt Käte Hamburger ist in jedem Fall darin Recht zu geben, dass sich die Fiktion von allen andern Textsorten dadurch auszeichnet, dass sie uns unmittelbaren Zugang zu einer fremden Innenwelt ge42 Es gibt jcdoch Ausnahmen. Gegen Searle und mit Hamburger behauptet Dorrit Cohn (1990; 1995) eine „absolute Differenz zwischen historischem und fiktionalem Erzählen" und die Existenz „objektiver Kriterien", „narratologischer Kennzeichen" für Fiktionalität: 1. in der Fiktion gehe „Story" und „Diskurs" kein historisches Geschehen, keine „Referenzstufe" voraus, auf der der Historiker seine „Story" aufbaue, 2. der allwissende oder frei erfindende Romanautor könne die Welt mit den Augen einer Person darstellen, die in dieser Welt lebt, ohne selbst zu erzählen, 3. in Romanwerken ist eine „Stimmspaltung [seil, zwischen Autor und Erzähler] erkennbar, durch die die Bedeutung des Gesagten verunsichert wird". - Die Möglichkeit einer Differenzierung von fiktionalen und faktualen Texten auf der Grundlage narratologischer Kriterien erörtern Genette 1990 und Löschnigg 1999.
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währt: „Die epische Fiktion ist der einzige erkenntnistheoretische Ort, wo die Ich-Originität (oder Subjektivität) einer dritten Person als einer dritten dargestellt werden kann" (Hamburger 1968, 73). Wenn dieses „Symptom" gelegentlich auch in nicht-fiktionalen Texten vorkommt, wie gegen Hamburger immer wieder vorgebracht wurde, so ist es doch für fiktionale Texte viel charakteristischer als für faktuale. Die unkommentierte, begründungslose Verwendung von Verben der inneren Bewegung (Napoleon dachte...') ist in faktualen Texten nur dann möglich, wenn eine bloße Vermutung von Seiten des Autors signalisiert ist oder eine Quelle dieses Wissens vorausgesetzt werden kann. Aber im faktualen Kontext ist sie viel seltener, weit weniger natürlich, nicht so selbstverständlich und naiv wie z. B. in Tolstojs Krieg und Frieden. Betrachten wir nur ein paar Absätze, in denen der allwissende Erzähler dieses Romans ohne jede Erklärung oder gar Begründung die geheimsten Seelenregungen Napoleons während der Schlacht bei Borodino in der Form des erlebten inneren Monologs darstellt: Napoleon war schwer zumute, ihn belastete ein Gefühl, wie es ein bisher immer erfolgreicher Spieler empfindet, der sein Geld stets sinnlos gewagt und immer gewonnen hat und der nun, da er alle Eventualitäten des Spiels berechnet hat, mit einem Mal fühlt, dass er um so sicherer verliert, je gründlicher er sein Vorgehen bedacht hat. [...] In seinen früheren Schlachten hatte er nur die Eventualitäten des Erfolgs bedacht, jetzt aber tauchte in seiner Vorstellung eine unendliche Menge unglücklicher Eventualitäten auf, und er erwartete sie alle. Ja, es war wie im Traum, wenn dem Menschen ein ihn angreifender Mörder erscheint und der Mensch im Traum ausgeholt hat, um seinen Mörder mit schrecklicher Gewalt zu treffen, die ihn, wie er weiß, vernichten muss, und er fühlt, dass seine Hand krafdos und schlapp wie ein Lappen herabfällt, und das Entsetzen vor dem unentrinnbaren Verderben den hilflosen Menschen erfasst. (Tolstoj 11, 2 4 4 - 2 4 6 ) .
In einem faktualen, historiographischen Text wäre eine solche Inszenierung des Innenlebens eines Staatsmannes undenkbar und nicht zulässig. Es sind nicht einmal Quellen vorstellbar, die dem Historiker erlaubten, entsprechende Mutmaßungen anzustellen. Die Allwissenheit des Autors ist ein Privileg und Anzeichen der Fiktion, denn sie ist ja in Wirklichkeit kein Wissen, sondern freies
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Erfinden (Cohn 1995, 109) In der Fiktion können wir andere Menschen in ihrem Innenleben kennen lernen, uns ein zuverlässiges Bild von ihren geheimsten Seelenregungen machen, was uns im Leben, wo wir auf Anzeichen und ihre unsichere Deutung angewiesen sind, sogar bei Freunden und Lebenspartnern letztlich verwehrt bleibt. Vgl. dazu E. M. Forsters (1927, 46 f., 61) klassische Ausführungen zur Introspektion in die Figuren eines Romans: [...] people in a novel can be understood completely [...]. And this is why they often seem more definite than characters in history, or even our own friends; we have been told all about them that can be told; even if they are imperfect or unreal they do not contain any secrets, whereas our friends do and must, mutual secrecy being one of the conditions of life upon this globe. [...] We cannot understand each other, except in a rough and ready way; we cannot reveal ourselves even when we want to; what we call intimacy is only a makeshift; perfect knowledge is an illusion. But in the novel we can know people perfectly, and, apart from the general pleasure of reading, we can find here a compensation for their dimness in life. In this direction fiction is truer than history, because it goes beyond the evidence, and each of us knows from his own experience that there is something beyond the evidence, and even if the novelist has not got it correctly, well—he has tried.
Die natürliche Inszenierung fremder Innenwelt ist gewiss einer der Gründe für die anthropologische und kulturelle Bedeutung der Fiktion. Der Leser kann aus sich heraustreten, nicht nur ein fremdes Leben führen, sondern auch in eine fremde Subjektivität schlüpfen, fremde Weltwahrnehmungen und Lebensentwürfe tentativ durchspielen. Kein Gespräch und kein psychologisches Dokument kann soviel Alterität gewähren. Erst das Eintauchen in die Innenwelt des fiktiven Andern gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich eine Vorstellung von seiner eigenen Identität zu machen. 43 Schon Genettc hat in seiner Gegenüberstellung von fiktionaler und faktualer Erzählung auf diesen Umstand hingewiesen: „on ne devine ä coup sür que ce que l'on invente" (Genette 1990, 76). Neben dem direkten Zugang zur Subjektivität der Personen reklamiert Genette als Merkmal fiktionaler Texte auch die entgegengesetzte Haltung, die er „focalisation externe" nennt und die im forciert objektiven Erzählen, im Fehlen jeglichen Übergriffs auf die Subjektivität der Personen besteht.
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Erkauft wird das Durchspielen fremder Subjektivität damit, dass alles ausgedacht ist und auf den fingierenden Autor, seine Weltkenntnis und Imaginationskraft, sein Fiktionsspiel bezogen bleibt44. Käte Hamburgers Nachdruck auf der Darstellung der Innenwelt der Helden als eines objektiven Symptoms der Fiktionalität entspricht durchaus der Aristotelischen Konzeption der Mimesis als des „Machens" (πόιησις) handelnder Menschen. e) Die fiktive Welt Aus den erwähnten Diskussionen ist noch keine allgemein akzeptierte Theorie der Fiktion hervorgegangen, aber bei aller Divergenz der theoretischen Ansätze und Modelle zeichnet sich gleichwohl ein gewisser praktischer Konsens über die Grundzüge der literarischen Fiktionalität und Fiktivität ab. Im Folgenden sei ein Grundmodell skizziert, das das Gemeinsame vieler verschiedener Positionen enthält und weitgehend konsensfähig sein dürfte. Fiktiv sein heißt: nur dargestellt sein. Die literarische Fiktion ist die Darstellung einer Welt, die keine direkte Beziehung des Dargestellten zu einer realen außerliterarischen Welt impliziert. Die Fiktion besteht im Machen, in der Konstruktion einer ausgedachten, möglichen Welt45. Für die Mimesis kann der Schöpfer der dargestellten Welt Elemente aus unterschiedlichen Welten nehmen und zusammenfügen. Die thematischen Einheiten, die als Elemente in die fiktive Welt eingehen, können aus der realen Welt bekannt sein, in unterschiedlichen Diskursen der jeweiligen Kultur figurieren, älteren oder fremden Kulturen entstammen oder nur in der Imagination existieren. Unabhängig von ihrer Herkunft werden alle thematischen Einheiten beim Eingang in das fiktionale Werk zu fiktiven Elementen.
44 Zum kathartischen Effekt der Identifizierung des Lesers mit der fremden Innerlichkeit vgl. auch die Ausführungen von Aage Hansen-Löve (1987, 11) über den .„Fiktionsmenschen', der sich ,in fremden Kleidern' von dem Totalitätsanspruch des eigenen Bewußtseins .erholt'". 45 Zur Überschneidung der Theorie der Fiktionalität und der Theorie möglicher Welten vgl. Pavel 1986; Dolezel 1998,1-28.
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I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
Die referentiellen Signifikanten des fiktionalen Textes verweisen nicht auf bestimmte außertextliche Referenten, sondern beziehen sich nur auf innertextliche Denotate der jeweiligen dargestellten Welt. Mit anderen Worten, die „Hinausversetzung" (Ingarden 1931) der innertextlichen Referenten über die Grenzen des Textes, die für faktuale Texte charakteristisch ist, findet in der fiktionalen Literatur nicht statt46. So ergibt sich die „paradoxe Funktion einer Pseudo-Referenz oder einer Denotation ohne Denotat" (Genette 1991, 36). Allerdings bedeutet die Unterbrechung einer direkten Beziehung zwischen Text und außertextlicher Welt keineswegs, dass die fiktive Welt für den Leser irrelevant oder auch nur weniger relevant wäre als die reale. Im Gegenteil, die fiktive Welt kann für den Leser höchste Bedeutsamkeit erlangen. Mit den innertextlichen Referenten, z. B. den Figuren und ihren Handlungen, kann der Leser wie mit realen, individuellen, konkreten Gegebenheiten umgehen47, auch wenn er sich ihrer Fiktivität bewusst ist. Welcher Leser nähme nicht Anteil am unglücklichen Ende Anna Kareninas und verfolgte nicht mit größtem Interesse Konstantin Levins Suche nach dem Sinn des Lebens? 48 46 Nach der phänomenologisch beeinflußten ontologischen Theorie des polnischen Philosophen Roman Ingarden (1931) unterscheidet sich die Literatur von der Nicht-Literatur durch einen besonderen Typus von Aussagen, den Ingarden „Quasi-Urteile" nennt. Die Differenz zu echten Urteilen besteht darin, dass ihre Gegenstände nur als „rein intentionale" existieren und nicht in die Sphäre realen Seins „hinausversetzt" werden. 47 Zur Individualität fiktiver literarischer Figuren vgl. Martinez Bonati 1981, 24. 48 Um das künstlerische Erzählen zu charakterisieren, ist es erforderlich, aber nicht ausreichend, auf das Merkmal der Fiktionalität zu rekurrieren. Fiktional sein und künstlerisch sein ist nicht dasselbe. Es gibt fiktionale Erzähltexte, die nicht zum Bereich der Literatur im engeren Sinne der schönen Literatur gehören, z. B. Geschichten, die als Beispiele in einer wissenschaftlichen oder didaktischen Arbeit dienen, Textaufgaben im Mathematikbuch, Reklamespots usw. Das künsderische Erzählen zeichnet sich noch durch ein zweites Merkmal aus, die Asthetizität, genauer: die ästhetische Funktion jenes Werks, in dem das Erzählen als Komponente der dargestellten Welt figuriert. Welche Relevanz hat die Asthetizität für die narrative Struktur und die Narratologie? Damit die ästhetische Funktion, für die die Kunst prädestiniert ist, tatsächlich wirksam werden kann, muss das Erzählen Qualitäten entwickeln, die beim Rezipienten die ästhetische Einstellung auslösen. Das heißt natürlich nicht, dass der Erzähler „schön" erzählen muss. Träger der ästhetischen Intention ist ja nicht der Erzähler, sondern der ihn und sein Er-
2. Fiktionalität
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Was ist nun fiktiv im fiktionalen Werk? Die Antwort lautet: die ganze dargestellte Welt und alle ihre Teile: Situationen, Personen, Handlungen. Fiktive Gegenstände unterscheiden sich von realen nicht durch irgendwelche thematischen oder formalen Merkmale, sondern nur durch die an ihnen selbst nicht beobachtbare Eigenschaft, in der realen Welt nicht zu existieren49. Die Nicht-Existenz in der realen Welt wird nicht fraglich sein, solange es sich um offen ausgedachte Personen handelt, wie Natasa Rostova und Pierre Bezuchov in Krieg und Frieden. Aber wie steht es mit den historischen Persönlichkeiten, die in dem Roman auftreten, etwa mit Napoleon oder Kutuzov? Es handelt sich bei ihnen nur um quasi-historische Figuren. Tolstojs Napoleon ist keine Abbildung der realen historischen Persönlichkeit, sondern eine Darstellung, eine Mimesis Napoleons, d. h. die Konstruktion eines möglichen Napoleon. Vieles, was über diesen Napoleon im Roman erzählt wird - man denke nur an die oben zitierten Überlegungen des Helden angesichts der drohenden Niederlage bei Borodino - , kann ja durch keine Quelle belegt werden, wird in keinem Geschichtsbuch zu finden sein. In Krieg und Frieden sind Napoleon und Kutuzov nicht weniger fiktiv als Natasa Rostova und Pierre Bezuchov (für Fiktivität gibt es keine Gradation). Der fiktive Status der Personen ist evident, wenn sie mit Eigenschaften ausgestattet sind, die erfunden sein müssen und von keiner historischen Quelle bezeugt werden können. Aber selbst wenn sich der Autor eines historischen Romans streng an die belegten zählen darstellende Autor oder - wenn man will - der Text. Das Erzählen muss vielmehr so beschaffen sein, dass es nicht nur eine thematische Information trägt, sondern in seiner Form inhaltlich wird. Fiktionalität und Ästhetizität sind zwei selbständige, voneinander unabhängige Merkmale der Erzählkunst. Aber sie beeinflussen die Rezeption auf ähnliche Weise. Die Ästhetizität bedingt wie die Fiktionalität eine Isolierung des Werks, die Aufhebung der äußeren Referenz, die Schwächung der unmittelbaren Beziehung zur außerliterarischen Wirklichkeit. Zum Ausgleich für den Verlust an äußerer Referenz lenken beide Qualitäten die Aufmerksamkeit auf das Werk selbst, seine Struktur, seine innere Referenz. Mit dem weiteren Merkmal gelangen wir freilich in den Bereich der allgemeinen Ästhetik, der für die Narration nicht spezifisch ist. 49 Diese Feststellung widerspricht keineswegs der oben ausgeführten Existenz bestimmter textueller, kontextueller, metatextueller usw. Anzeichen der Fiktionalität.
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I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk
historischen Fakten hielte (was jegliche Darstellung psychischer Motive ausschlösse), wären alle seine Helden, wie sehr sie auch historischen Figuren ähnelten, unausweichlich fiktive Figuren. Allein die Tatsache, dass die quasi-historischen Figuren in derselben Welt wie die offen ausgedachten leben, macht sie fiktiv. Jener Napoleon und jener Kutuzov, die mit Natasa Rostova und Pierre Bezuchov hätten zusammentreffen können, haben in der realen Welt nicht existiert. Die Fiktivität der Personen macht auch die Situationen fiktiv, in denen sie sich befinden, und die Handlungen, an denen sie teilhaben. Fiktiv ist auch der Raum des fiktionalen Werks. Das ist offensichtlich im Falle von Skotoprigonevsk, dem auf keiner Karte Russlands verzeichneten Handlungsort der Brüder Karamazov. Aber fiktiv sind auch die Orte, die in der Realität ein konkretes Äquivalent haben. Das Moskau, in dem die Helden von Krieg und Frieden leben, das Borodino, bei dem Andrej Bolkonskij verwundet wird, kann man auf keiner historischen Karte Russlands finden. Weder Moskau noch Borodino noch irgendein anderer Handlungsort des Romans bezeichnet einen Punkt auf der räumlichen Achse des realen raum-zeitlichen Koordinatensystems. Auf der realen Raumachse finden wir nur das Moskau und das Borodino, in denen niemals eine Natasa Rostova oder ein Andrej Bolkonskij existiert haben. Fiktiv sind schließlich auch die dargestellten Handlungszeiten der Fiktion. Evident ist das in utopischen oder antiutopischen Werken. Als Beispiel konnte lange George Orwells Nineteen Eighty-four dienen. Als aber das im Titel bezeichnete Jahr in der Realität anbrach, reichte es nicht mehr aus, zum einfachen Beweis der Fiktivität der Handlungszeit auf die reale Zeit zu verweisen. Obwohl die Fiktivität der Zeit weniger offensichtlich wurde, bestand sie natürlich weiterhin. Im fiktionalen Werk sind also alle thematischen Elemente der erzählten Welt fiktiv: Personen, Räume, Zeiten, Handlungen, Reden, Gedanken, Konflikte usw. Gegen die in der Fiktionalitätstheorie verbreitete Auffassung, in der Fiktion könnten neben fiktiven Objekten auch reale Gegenständlichkeiten (reale Personen, Orte oder Zeiten) erscheinen (mixed-bag conception), soll hier davon ausgegangen werden, dass die fiktive Welt des Erzählwerks eine ho-
2. Fiktionalität
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mogene Ontologie hat, dass alle in ihr dargestellten Gegenständlichkeiten, gleichgültig wie eng sie mit real existierenden Objekten assoziiert werden können, grundsätzlich fiktiv sind50. Die erzählte Welt ist jene Welt, die vom Erzähler entworfen wird. Die vom Autor dargestellte Welt erschöpft sich freilich nicht in der erzählten Welt. In die dargestellte Welt gehen auch der Erzähler, sein Adressat und das Erzählen selbst ein. Der Erzähler, der von ihm vorausgesetzte Hörer oder Leser und der Erzählakt sind im fiktionalen Werk dargestellte und folglich fiktive Einheiten. Somit wird im Erzählwerk nicht einfach erzählt, sondern ein Erzählakt dargestellt. Die Erzählkunst ist strukturell durch die Doppelung des Kommunikationssystems charakterisiert: Die Erzählkommunikation, in der die erzählte Welt entworfen wird, ist Teil der fiktiven dargestellten Welt, die das Objekt der realen Autorkommunikation ist 5 .
50 Ähnliche Positionen vertreten Rudolf Haller (1986) und Lubomir Dolezel (1989, 230 f.). Dass sie die Einheidichkeit der Beschreibung zu teuer, nämlich um den Preis kontra-intuitiver Einebnung textanalytisch signifikanter Differenzen erkauften, führt Zipfel (2001, 95) ins Feld. Zipfel selbst unterscheidet für die vermeintlich realen Gegenständlichkeiten in der Fiktion zwischen „realen Objekten" {immigrant objects bei Parsons 1980, 51) und „pseudo-realen Objekten" {surrogate objects bei Pavel 1986, 29): Erstere wichen weniger „signifikant" von ihren Entsprechungen in der Realität ab und bildeten „Anbindungspunkte der fiktiven Geschichte an die reale Welt" (Zipfel 2001, 100). Der Vorteil und die Notwendigkeit dieser Differenzierung ist nicht zu erkennen. Weder ist die „Abweichung" etwa einer Figur von einem historischen Protoptyp ohne weiteres festzustellen, noch ist sie für das Leseerlebnis des Durchschnittslesers von Belang. Soll man Studien in russischer und französischer Geschichte betreiben, bevor man Krieg und Frieden liest? Zipfel weckt den Verdacht, er wolle insgeheim eine Gradation des Fiktiven einführen, die er an anderer Stelle in seinem Buch zu Recht als problematisch bezeichnet (Zipfel 2001, 294). 51 Die Formel der „kommunizierten Kommunikation", mit der Janik (1973, 12) das Erzählwerk charakterisiert, verkürzt den eigentlichen Sachverhalt ein wenig: Kommuniziert wird nicht unmittelbar die Erzählkommunikation, sondern die dargestellte Welt, in der diese enthalten ist (vgl. Schmid 1974a).
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I. Merkmale des Erzählens im fiktionalen Werk Schema der Doppelstruktur der Kommunikation im literarischen Erzählwerk
Autorkommunikation Autor
Darstellen
Dargestellte Welt
t
Adressat
II. Die Instanzen des Erzählwerks 1. Modell der Kommunikationsebenen Das Erzählwerk, das, wie wir festgestellt haben, nicht selbst erzählt, sondern ein Erzählen darstellt, umfasst zumindest zwei Ebenen der Kommunikation: Autorkommunikation und Erzählkommunikation. Zu diesen beiden für das Erzählwerk konstitutiven Ebenen kann eine dritte, fakultative hinzutreten, die Figurenkommunikation. Das ist dann der Fall, wenn eine der erzählten Figuren ihrerseits als Sprech- oder Erzählinstanz auftritt. Auf jeder dieser drei Ebenen unterscheiden wir eine Senderund Empfängerseite. Für den Begriff des Empfängers ist allerdings eine nicht unwesentliche Zwiespältigkeit zu beachten, die von den einschlägigen Kommunikationsmodellen oft vernachlässigt wird. Der Empfänger zerfällt nämlich in zwei Instanzen, die funktional oder intensional zu scheiden sind, auch wenn sie material oder extensional zusammenfallen: in den Adressaten und den Rezipienten. Der Adressat ist der vom Sender unterstellte oder intendierte Empfänger, derjenige, an den der Sender seine Nachricht schickt, den er beim Verfassen als vorausgesetzte oder gewünschte Instanz im Auge hatte, der Rezipient ist der faktische Empfänger, von dem der Sender möglicherweise - und im Fall der Literatur: in der Regel nur eine allgemeine Vorstellung hat. Die Notwendigkeit einer solchen Unterscheidung liegt auf der Hand: Wenn ein Brief nicht von der Person gelesen wird, die als Adressat intendiert war, sondern von der, in deren Hände er zufällig gerät, können Unannehmlichkeiten entstehen. Die Kommunikationsebenen und die Instanzen des Erzählwerks sind seit Anfang der siebziger Jahre in unterschiedlichen Modellen skizziert worden. Ich greife hier mein eigenes Modell auf (Schmid 1973, 20-30; 1974a), das in der Folge zahlreichen Textanalysen zugrunde gelegt und in theoretischen Arbeiten besprochen,
44
II. Die Instanzen des Erzählwerks
modifiziert und ausgebaut wurde1. Zeitgleich mit meinem Modell erschien das Modell von Janik (1973), das ich damals nicht berücksichtigen konnte2. Mir waren auch wichtige Arbeiten polnischer Erzähltheoretiker noch nicht zugänglich, insbesondere Okopieri-Slawmska 1971 und Bartoszynski 19713. Ich präsentiere mein Modell natürlich in modifizierter Form, in der die veröffentlichte Kritik berücksichtigt wird (vgl. Schmid 1986). Zunächst wird das Schema der Kommunikationsebenen vorgestellt, darauf folgt eine Erörterung der einzelnen ebenenspezifischen Instanzen. Modell der Kommunikationsebenen Literarisches Werk Dargestellte Welt Erzählte Welt kA:
aA(:)
fE:
Fi:
Ϊ Zitierte Welt j
"uA j -*F2
— kL
- » fL iR
Legende: kA
=
aA fE
= =
konkreter Autor schafft abstrakter Autor fiktiver Erzähler gerichtet an
Fi, F2 fL uA iR kL
= = = = =
Figuren fiktiver Leser (Narrataire) unterstellter Adressat idealer Rezipient konkreter Leser
1
Z. B. Unk 1976, 25; Kahrmann/Reiß/Schluchter 1977, 40; Hoek 1981, 257; Lintvelt 1979; 1981; Diaz Arenas 1986, 25, 44; Weststeijn 1991; Paschen 1991,14-22.
2
Vgl. dann aber die Rezension Schmid 1974a und die Replik Janiks 1985, 7 0 - 7 3 .
3
Vgl. die Systematisierung und Weiterentwicklung der polnischen Modelle bei Rolf Fieguth (1973,186; 1975,16; 1996, 59).
2. Der abstrakte Autor
45
2. D e r abstrakte Autor a) Konkrete und abstrakte Instanzen Beginnen wir mit jener Ebene und jenen Instanzen, die für das Erzählwerk zwar konstitutiv, aber nicht spezifisch sind, der Autorkommunikation zwischen Autor und Leser. In jeder sprachlichen Mitteilung treten die beiden Instanzen in zwei Modi auf, als konkrete und als abstrakte Entitäten. Der konkrete Autor, die reale historische Persönlichkeit, der Urheber des Werks, gehört nicht zu diesem, sondern existiert unabhängig von ihm. Lev Tolstoj hätte existiert, auch wenn er keine Zeile geschrieben hätte. Der konkrete Leser existiert ebenfalls außerhalb und unabhängig vom Werk. Genau genommen ist das nicht ein Leser, sondern die unendliche Menge aller Menschen, die an irgendeinem Ort zu irgendeiner Zeit Rezipienten des jeweiligen Werks gewesen sind oder noch werden (vgl. das Modell der äußeren Kommunikation in Schmid 1973, 22). Obwohl Autor und Leser in ihrem konkreten Modus nicht zum Bestand des Werks gehören, sind sie in ihm dennoch auf eine bestimmte Weise präsent. Jede beliebige sprachliche Äußerung enthält ein implizites Bild ihres Urhebers und auch ihres Adressaten. Machen wir dazu ein kleines Gedankenexperiment. Wir stellen uns vor, wir säßen in einem Hörsaal der Universität und hörten vor der Tür einen uns unbekannten Menschen zu jemandem sprechen. Ohne dass wir Sprecher und Hörer sehen, werden wir uns auf der Grundlage des Gehörten unwillkürlich eine Vorstellung vom Sprechenden machen, von seinem Geschlecht, seinem Alter, seiner Stimmung, seiner Funktion in der Universität, vielleicht auch, wenn die Rede lang genug ist und entsprechende Themen berührt, von seiner Denkweise. Und auch von seinem Gegenüber werden wir uns eine Vorstellung machen, selbst wenn es während der gesamten Rede stumm bleibt, genau genommen — nicht vom Gegenüber selbst, sondern von dem Bild, das sich der Sprecher von ihm macht, d. h. vom unterstellten Adressaten. Aus der Rede des Sprechers versuchen wir herauszuhören, wen er vor sich hat oder zu haben glaubt, einen Mann oder eine Frau, einen Studenten oder einen Lehrenden, einen Bekannten oder Unbekannten, welches Wissen er
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
bei ihm oder ihr voraussetzt, welche persönliche Beziehung er zu ihm oder ihr hat oder aufzunehmen beabsichtigt. Das Bild des Senders, das in jeder Mitteilung enthalten ist, gründet auf jener Sprachfunktion, die Karl Bühler in seinem „Organonmodeir der Sprache zunächst (1918/20) Kundgabe, später (1934) Ausdruck genannt hat4. Damit ist der unwillkürliche, nicht-intendierte Selbstausdruck des Sprechenden gemeint, der in jedem Sprechakt stattfindet. Das Wort als Zeichen fungiert hier nicht als „Symbol", das die „Darstellung" von Gegenständen und Sachverhalten vermittelt, sondern als „Symptom, Anzeichen, Indicium" (Bühler 1934, 28). Im Weiteren werden wir den Terminus „indiziales Zeichen" benutzen oder den auf Charles S. Peirce (1931-1958) zurückgehenden Begriff des „Index", um diesen indirekten Modus des Selbstausdrucks mit unwillkürlichen, nicht beabsichtigten, nicht-arbiträren, natürlichen Zeichen zu benennen. Was für jede beliebige sprachliche Äußerung gilt, kann auch auf das literarische Werk als Ganzes bezogen werden. In ihm drückt sich mit Hilfe von Symptomen, indizialen Zeichen der Autor aus. Das Ergebnis dieses semiotischen Aktes ist allerdings nicht der konkrete Autor, sondern das Bild des Urhebers, wie er sich in seinen schöpferischen Akten zeigt. Dieses Bild, das eine zweifache, objektive und subjektive Grundlage hat, d. h. im Werk enthalten ist und durch den Leser rekonstruiert wird, nenne ich den abstrakten Autor (zuletzt Schmid 2008a). b) Vorgeschichte des abstrakten Autors Bevor wir diese Instanz näher bestimmen, wollen wir einen kurzen Blick auf die Vorgeschichte des Konzepts werfen. Als erster hat den entsprechenden Begriff des „Autorbilds" (obraz avtora) systematisch Viktor Vinogradov in seinem Buch zur künstlerischen Prosa (1930) entwickelt5. Im Jahr 1927, als er den Begriff „Autorbild", zunächst
4
5
Darstellung und Modifizierung der Theorie Bühlers bei Kainz 1941. Überblick über verschiedene Ansätze zur Theorie der Sprachfunktionen in Schmid 1974b, 384-386. Zur Entstehung der Theorie des Autors im Westen und in Russland vgl. Rymar'/Skobelev 1994, 11-59. Über die Herausbildung des Begriffs „Autorbild" bei
2. Der abstrakte Autor
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unter der Bezeichnung „Bild des Schriftstellers" (obraz pisatelja), konzipierte, schrieb Vinogradov an seine Frau: Ich bin in meinen Gedanken ganz vom Bild des Schriftstellers eingenommen. Er scheint im Kunstwerk immer durch. Im Gewebe der Wörter, in den Verfahren der Darstellung spürt man seine Gestalt. Das ist nicht die Person des „realen", lebensweltlichen Tolstoj, Dostoevskij, Gogol'. Das ist eine eigentümliche Schauspielergestalt des Schriftstellers. In jeder markanten Individualität nimmt das Bild des Schriftstellers individuelle Züge an, und dennoch bestimmt sich seine Struktur nicht nach der psychologischen Eigenart des Schriftstellers, sondern nach seinen ästhetisch-metaphysischen Anschauungen. Sie können durchaus unbewusst bleiben, wenn der Schriftsteller keine große intellektuelle und künstlerische Kultur hat, aber sie müssen unbedingt sein [...] Die ganze Frage besteht darin, wie man dieses Bild des Schriftstellers auf der Grundlage seiner Werke rekonstruieren soll. Die Hilfe aller biographischen Informationen schlage ich entschieden aus. (Zit. nach tudakov 1992, 239) In einer späten Arbeit, die erst postum erschien, definierte Vinogradov (1971,118) das Autorbild auf folgende Weise: Das Autorbild ist nicht das einfache Subjekt der Rede. Meistens ist es in der Struktur des Kunstwerks gar nicht genannt. Es ist die konzentrierte Verkörperung des Wesens des Werks, die das ganze System der sprachlichen Strukturen der Figuren in ihrer Korrelation mit dem Erzähler oder den Erzählern vereinigt und durch sie das ideell-stilistische Zentrum, der Fokus des Ganzen ist. Wenn Vinogradov dann hinzufügt, dass in den Formen des Skaz, der in der russischen Literatur weit verbreiteten, stark symptomhaltigen Erzählweise einer vom Autor deutlich dissoziierten Instanz (vgl. dazu unten, IV.2), das „Autorbild gewöhnlich mit dem [persönlichen] Erzähler nicht zusammenfällt", räumt er allerdings indirekt ein, dass mit einem neutralen Erzähler das Autorbild durchaus zusammenfallen könne. Die mangelnde Konsequenz in der Unterscheidung von abstraktem Autor und Erzähler ist charakteristisch für das gesamte Werk Vinogradovs.
Vinogradov: tudakov 1992, 237-243. Über die verschiedenen Inhalte, die Vinogradov dem Begriff gibt: Lichacev 1971; Ivancikova 1985. Zu den russischen Autorkonzepten vgl. jetzt auch Gölz 2008.
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
Als sich am Ende der fünfziger Jahre die Literaturwissenschaft in Russland vom Druck marxistischer Forderungen zu befreien begann, wurde die Idee des textimmanenten Autors in den Arbeiten Boris Kormans aufgegriffen und weiterentwickelt (vgl. Rymar'/ Skobelev 1994, 60-102). Im Rekurs auf Vinogradovs Konzept des „Autorbilds" und gestützt auf Bachtins Theorie der dialogischen Kollision unterschiedlicher „Sinnpositionen" im Werk, entwickelte Korman eine von ihm „systemhaft-subjektbezogen" genannte Methode, in deren Mittelpunkt die Erforschung des Autors als des „Bewusstseins des Werks" (soznanie proizvedenija) stand. Von der Theorie seiner Vorgänger unterscheidet sich dieser Ansatz in zwei wesentlichen Aspekten. Anders als Vinogradov, in dessen Arbeiten das „Autorbild" vor allem stilistisch spezifiziert wird und als Ergebnis der Korrelation der im Werk ins Spiel gebrachten Stile erscheint, interessiert sich Korman in erster Linie für das Wechselverhältnis der unterschiedlichen Bewusstseinszentren im Werk. Während Bachtin, dessen Präferenzen hier ihre Spuren hinterlassen, sich für das Problem des Autorbilds hauptsächlich in philosophischästhetischer Hinsicht interessierte, dominiert bei Korman der Aspekt der Poetik (Rymar'/Skobelev 1994, 62 f., 72 f.). Für Korman realisiert sich der werkimmanente Autor, den er „konzipierten Autor" nennt, „in der Korrelation aller das jeweilige Werk konstituierenden Textteile mit den Subjekten der Rede, d. h. jenen Subjekten, denen der Text zugeschrieben wird, und den Subjekten des Bewusstseins, d. h. jenen Subjekten, deren Bewusstsein im Text ausgedrückt ist" (Korman 1977,120). In Kormans Experimentellem Wörterbuch finden wir dann folgende Definition des „Autors als Bewusstseinssubjekt" {avtor-sub"ekt soznanija): Der Autor ist das Subjekt (der Träger) des Bewusstseins, dessen Ausdruck das ganze Werk ist. Der so verstandene Autor ist vor allem gegen den biographischen Autor abzugrenzen, den Menschen, der real existiert oder existiert hat. Die Korrelation des biographischen Autors und des Autors als Bewusstseinssubjekt, dessen Ausdruck das Werk ist, ist im Prinzip dieselbe wie die Korrelation des Lebensmaterials und des Kunstwerks im Allgemeinen: Von einer bestimmten Wirklichkeitsauffassung geleitet und von bestimmten normativen und kognitiven Einstellungen ausgehend, schafft der reale, biographische Autor (der Schriftsteller) mit Hilfe der Imagination, Auswahl und Bearbeitung
2. Der abstrakte Autor
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von Lebensmaterial den künstlerischen (konzipierten) Autor. Der Alterität dieses Autors, seiner Vermittlung verdankt sich das ganze künsderische Phänomen, das ganze literarische Werk. (Korman 1981, 174)
Wichtige Ideen zur Theorie des werkimmanenten Autors trug der tschechische Strukturalismus bei. Jan Mukarovsky (1937) sprach von einem „abstrakten Subjekt, das, in der Struktur des Werks enthalten, nur ein Punkt ist, von dem aus man das ganze Werk mit einem Blick überschauen kann". In jedem beliebigen Werk, fügt Mukarovsky hinzu, ließen sich Anzeichen finden, die auf die Präsenz dieses Subjekts hinwiesen, das niemals mit einer konkreten Person identifiziert werden dürfe, weder mit dem Autor noch mit dem Rezipienten: „In seiner Abstraktheit stellt [das Werksubjekt] nur die Möglichkeit für die Projektion dieser Persönlichkeiten in die innere Werkstruktur zur Verfügung". Von der Konzeption seines Lehrers ausgehend, erklärt Miroslav tervenka (1969, 169-171), der tschechische Strukturalist der zweiten Generation, die „Persönlichkeit" oder das „Werksubjekt", d. h. jene Instanz, die Mukarovsky „abstraktes Subjekt" genannt hatte, zum „Signifie", zum „ästhetischen Objekt" des im Sinne Peirces als Index aufgefassten literarischen Werks. Die so verstandene „Persönlichkeit" verkörpert für Cervenka das Prinzip der dynamischen Vereinigung aller semantischen Ebenen des Werks, ohne seinen inneren Reichtum und die auf den konkreten Autor verweisende persönliche Färbung zu unterdrücken6. Am Anfang der polnischen Forschung zum Werksubjekt stehen die Arbeiten Janusz Slawmskis (1966, 1967), in denen die Konzeptionen sowohl Vinogradovs als auch Mukarovskys vermittelt werden. Slawmski selbst nennt Vinogradovs „Autorbild" das „Subjekt der Schaffensakte" oder den „Urheber der Sprechregeln". Edward Balcerzan (1968) gebraucht für diese Instanz den Terminus „innerer Autor". Eine besondere Bedeutung hat der Aufsatz Alexandra Okopieii-Slawmskas zu den „persönlichen Relationen" (1971), der über die Vermittlung Rolf Fieguths (1975) einen nicht geringen Einfluss auf westliche Modelle der Erzählkommunikation hatte. In dem fünf Ebenen umfassenden Schema der Rollen in der literarischen Kom6
Vgl. dazu Stempel 1978, XLIX-LIII.
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
munikation figurieren bei Okopien-Slawinska zwei außertextliche Senderinstanzen: 1. der „Autor" (in der ergänzenden Definition Fieguths [1975, 16]: „der Autor in allen seinen Lebensrollen"), 2. „der Sender des Werks (der Disponent der Regeln, das Subjekt der schöpferischen Akte)" (bei Fieguth: „Disponent der literarischen Regeln, aus denen die Regeln dieses Einzelwerks ausgewählt und kombiniert werden; der Autor in der Rolle des Produzenten von Literatur")7. Diesen beiden außertextlichen Hypostasen des Autors steht eine werkimmanente Instanz gegenüber, die OkopieiiSlawmska „Subjekt des Werks" nennt und die Fieguth definiert als „Subjekt der Regeln des Sprechens im Werkganzen; Subjekt der Verwendung literarischer Regeln für dieses Werk". Die Unterscheidung zweier außertextlicher Kommunikationsebenen ist jedoch unter systematischem Aspekt problematisch, insofern sich Komplikationen bei der Zuordnung der Rollen des konkreten Autors zu den Instanzen der Rezeptionsseite ergeben. Außerdem ist sie unter pragmatischem Aspekt wenig hilfreich bei der Textanalyse. In der westlichen Narratologie ist das Konzept des implied, author weit verbreitet8, wie es der amerikanische Literaturwissenschaftler und Mitglied der Chicago School Wayne C. Booth (1961) im Zusammenhang mit der Konzeptualisierung des unreliable narrator, d. h. einer manifesten axiologischen Dissoziierung des Erzählers vom Wertehorizont des Werks entwickelt hat9. Entgegen den seit Flaubert vorgetragenen Forderungen an den Autor, er solle objektiv sein, d. h. neutral, leidenschaftslos und impassible, unterstreicht Booth die unausweichliche Subjektivität des Autors: A s h e writes, [the real author] creates not simply an ideal, impersonal „man in general", but an implied version of „himself" that is different from the implied authors we meet in other men's works. [...] the picture the reader gets o f his presence is o n e o f the author's most impor-
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8 9
In einer späteren Arbeit unterscheidet Fieguth (1996, 59) am Beispiel des Romans sogar drei werktranszendente Manifestationen des Senders: 1. den Autor als historische Person, 2. den Autor als Romancier, 3. den Autor als Verfasser eines konkreten Romans. In der deutschen Theorie ist das englische implied in der Regel zu „implizit" vereinfacht worden, was den rezeptionsbezogenen Begriff ontologisiert. Zur Intention und zum Kontext des Begriffs vgl. Kindt/Müller 1999; 2006a; 2006b.
2. Der abstrakte Autor
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tant effects. However impersonal he may try to be, his reader will inevitably construct a picture of the [author] who writes in this manner [...] (Booth 1961, 70 f.) 10
In der Folgezeit ist Booths Ansatz häufig aufgegriffen und differenziert worden (vgl. bes. Iser 1972; Chatman 1978,147-149; RimmonKenan 1983, 86 f.). In unterschiedlicher Abhängigkeit von Booth hat man auch äquivalente Begriffe eingeführt: so spricht Eco (1979) von dem „Modellautor" als einer Interpretationshypothese des empirischen Lesers, und Antony Easthope (1983, 30-72) führt im Rückgriff auf den Linguisten Emile Benveniste den Terminus „subject of enunciation" ein. c) Kritik des Autors In der westlichen Theoriediskussion sind die Begriffe „abstrakter" oder „implizierter" bzw. „impliziter" Autor, obwohl sie in der Analysepraxis weithin verwendet werden, nicht nur auf Zustimmung gestoßen. Die Ablehnung der Konzeption einer im Werk enthaltenen Autorinstanz entwickelte sich unter dem Vorzeichen eines generellen Misstrauens gegenüber dem Autor, das sich in der westlichen Literaturwissenschaft seit den vierziger Jahren beobachten lässt11. Ein einflussreicher Faktor dieser Entwicklung war die Kritik der so genannten intentional fallacy, die von den New Critics William Wimsatt und Monroe Beardsley (1946) formuliert wurde12. Der „Trugschluss" besteht nach Ansicht der Kritiker im Glauben an die 10 Diese Worte sind im Sinne eines vom Autor intentional geschaffenen „Selbstbilds" gedeutet worden, und man hat zwischen dieser Definition und der bei Booth zu findenden Auffassung vom implied author als einer Inferenz des Lesers einen nicht zu überbrückenden Widerspruch gesehen (Kindt/Müller 2006b, 167 f.). Die intentionale Schaffung eines Selbstbilds des Autors ist in Booths wenig präziser Formulierung jedoch wohl nicht gemeint. Booth zielt eher auf die unwillkürliche und unvermeidbare indiziale Mit-Darstellung jeglichen Urhebers in seinem Produkt. Damit entfällt der Vorwurf einer Inkonsistenz. 11 Vgl. die Übersicht über die „Angriffe" auf den Autor bei Jannidis u. a. 1999, 1115. 12 Einen Überblick über die Diskussionen zur intentional fallacy geben Danneberg/Müller 1983; vgl. auch Danneberg 1999.
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
Relevanz von Absichtserklärungen des Autors und biographischen Informationen für die Interpretation. Nicht die Autorintention solle Gegenstand der Interpretation sein, sondern der literarische Text, der sich schon in seiner Entstehung vom Autor verselbständigt habe und ihm nicht mehr gehöre. Deshalb seien für die Interpretation keinerlei außertextliche Fakten relevant; es gelte ausschließlich das Prinzip der internal evidence. Booth, der damals offensichtlich die Kritik der intentional fallacy im Grunde teilte, suchte mit Hilfe des Konzepts des implied author den rigiden Immanentismus und die autonomistische Doktrin des New Criticism zu überwinden, der wie Booth (1968,112 f.) klagte - unter dem Vorzeichen des Kampfes gegen allerlei Trugschlüsse und Häresien nicht nur den Autor (intentional fallacy), sondern auch das Publikum ( a f f e c t i v e fallacy), die „Welt der Ideen und Überzeugungen" (didactic heresy), ja das „narrative Interesse" ( h e r e s y of plot) überhaupt ausgeschaltet habe. Der vermittelnde Begriff der werkimmanenten Autorschaft bot die Möglichkeit, über den Sinn und die Absicht eines Werks zu sprechen, 13
ohne dem Verdacht der berüchtigten Häresien anheimzufallen . Eine noch heute einflussreiche Kritik des Autors als Gegenstand der Literaturwissenschaft ist unter der Losung „Tod des Autors" im französischen Poststrukturalismus formuliert worden14. Julia Kristeva (1967), die auf Michail Bachtins Begriff der „Dialogizität" rekurrierte, den sie als „Intertextualität" interpretierte (womit sie den Begriff in die Literaturwissenschaft einführte), ersetzte den Autor als generierendes Prinzip des Werks durch die Vorstellung eines aktiven Textes, der sich in der Reaktion auf fremde Texte, die er absorbiert und transformiert, selbst hervorbringt. Ein Jahr später verkündete Roland Barthes (1968) „La mort de l'auteur". Während der Autor bei Kristeva nur noch als das enchainement der Diskurse figuriert, reduziert Barthes seine Funktion auf die Mischung der 13 Gerade dieser Kompromisscharakter des implied author-YLonzcpts, das den strengen Autonomismus des New Criticism mit der Akzeptanz einer auktorialen Gegenwart im Werk verband, wurde in der Folge zum Gegenstand der Kritik; vgl. Juhl 1980, 203; Lanser 1981, 50; Polletta 1984, 111; Nünning 1993, 16 f.; Kindt/ Müller 1999, 279 f. 14 Zur Kritik an der Ablehnung autorbezogener Kategorien vgl. die Sammelbände Autor und Text (Markovic/Smid [Hgg.] 1996) - darin bes. Evdokimova 1996 und Freise 1996 - und Rückkehr des Autors (Jannidis u. a. [Hgg.] 1999).
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Diskurse: „le texte est un tissu de citations, issues des mille foyers de la culture. [...] l'ecrivain ne peut qu'imiter un geste toujours anterieur, jamais originel; son seul pouvoir est de meler les ecritures" (Barthes 1968, 494). Nach Barthes spricht im Kunstwerk nicht der Autor, sondern die Sprache, der Text, der nach den Regeln der kulturellen Kodes einer Zeit organisiert ist. Die Idee der Autorschaft wurde schließlich in Michel Foucaults Aufsatz Qu'est-ce qu'un auteur? (1969) diskreditiert. Der Autor, so postuliert Foucault, ist ein historisches, in der Moderne überlebtes Konzept, das lediglich der Regulierung und Disziplinierung des Umgangs mit der Literatur gedient hat. Die „Anti-Autor-Philippiken" (Il'in 1996b) der Poststrukturalisten fanden in Russland nur begrenzten Widerhall. Das mag damit zusammenhängen, dass in der klassischen russischen Literatur, die immer noch die kulturelle Mentalität prägt, ein praktischer Ethizismus dominierte, der der Persönlichkeit und der Autorschaft höchsten Wert beimaß. Diese ethische Tendenz zeigt sich auch im ästhetischen Denken Michail Bachtins. Nicht von ungefähr setzte der junge Philosoph in seiner ersten Veröffentlichung, einer verborgenen Polemik mit dem Formalismus, der Opojaz-Losung Kunst als Verfahren seine eigene Formel Kunst und Verantwortung entgegen (Bachtin 1919)15. d) Für und wider den implizierten Autor Um das Konzept des implizierten Autors und seine Äquivalente ist eine heftige Kontroverse entbrannt. Ein kategorisches und globales Verdikt über die Konzepte des „impliziten" Autors und Lesers spricht Hempfer (1977, 10) aus: Die beiden Entitäten „scheinen nicht nur theoretisch unnütz, sie vermischen auch die eigentlich fundamentale Unterscheidung, nämlich die von textinterner und textexterner Sprechsituation". Zu einer ähnlichen Pauschalverurteilung gelangt noch Zipfel (2001, 120), der das Konzept des implied author als „erzähltheoretisch überflüssig", „hoffnungslos vage" und „terminologisch unpräzise" verwirft. Insbesondere gegen die Ein15 Vgl. Todorov 1997. Zu Bachtins Konzeption von Autorschaft und Verantwortung vgl. Freise 1 9 9 3 , 1 7 7 - 2 2 0 .
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
gliederung des implizierten Autors in ein Modell der Kommunikationsebenen ist eine Reihe von Argumenten vorgebracht worden: 1. Im Gegensatz zum Erzähler ist der implizierte Autor keine pragmatische Instanz des Erzählwerks, sondern eine semantische Größe des Textes (Nünning 1989, 33; 1993, 9). 2. Der implizierte Autor ist nichts anderes als ein vom Leser gebildetes Konstrukt (Rimmon-Kenan 1983, 86; Toolan 1988, 78), das nicht personifiziert werden sollte (Nünning 1989, 31 f.). 3. Der implizierte Autor ist nicht Teilnehmer einer Kommunikation (Rimmon-Kenan 1983, 88), als den ihn, trotz aller Warnungen vor einem zu anthropomorphen Verständnis, Seymour Chatman (1978, 151) modelliert (Nünning 1993, 7 f.). 4. Insofern er kein strukturelles, sondern ein semantisches Phänomen bezeichnet, gehört der Begriff des implizierten Autors nicht zur Poetik der Narration, sondern zur Poetik der Interpretation (Diengott 1993,189). 5. Auch die Methodologie der Rekonstruktion steht infrage. Booth und die späteren Verwender des Konzepts haben nicht aufgezeigt, wie man von einem Text zu seinem implizierten Autor gelangt (Kindt/Müller 2006b, 167 f.). Die genannten Argumente sind durchaus stichhaltig, liefern indes keine hinreichende Begründung für den Ausschluss des implizierten Autors aus der Narratologie. Nicht von ungefähr bedienen sich viele Kritiker dieses Konzepts trotz aller Einwände. Offensichtlich deshalb, weil kein Begriff gefunden werden kann, der die Präsenz des inferierten Autorelements im Werk besser ausdrückte. Einerseits bezeichnet der Begriff das semantische Zentrum des Werks, das unabhängig von allen Deklarationen des Autors existiert, jenen Punkt, in dem alle schöpferischen Linien des Werks zusammenlaufen. Anderseits weist der Begriff hinter dem abstrakten Prinzip der semantischen Vereinigung aller Elemente auf eine kreative Instanz, deren - bewusste oder unbewusste - Intention sich im Werk verwirklicht. Bezeichnend ist auch, dass jene Kritiker, die für einen Verzicht auf die Kategorie des implizierten Autors plädieren, bislang nur wenig überzeugende Alternativen angeboten haben. So schlägt
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Nünning vor, den „terminologisch unpräzisen", „theoretisch inadäquaten" und in der Praxis unbrauchbaren Begriff durch das „Gesamt aller formalen und strukturalen Relationen eines Textes" zu ersetzen (Nünning 1989, 36). Chatman (1990, 74-89) argumentiert (obwohl er fünf Schlüsseldefinitionen Booths aus der Warte des Anti-Intentionalismus kritisiert) entsprechend seiner Kapitelüberschrift In Defense of the Implied Autbor und schlägt Lesern, die sich bei dem Begriff implied author unwohl fühlen, eine Reihe von Surrogaten zur Auswahl vor: „text implication", „text instance", „text design" oder einfach „text intent". Und Kindt/Müller (1999, 285 f.) kommen zu dem Schluss, dass es sinnvoll sei, den Begriff „impliziter Autor" einfach durch den Begriff „Autor" zu ersetzen, was allerdings die bekannten Einwände der Anti-Intentionalisten hervorrufe, oder, wenn an einer nicht-intentionalistischen Bedeutungskonzeption festgehalten werden solle, von „Textintention" zu sprechen (wobei eine metonymische Verschiebung vom Urheber zum Produkt in Kauf genommen wird, denn ein Text hat keine Intentionen). Die zwiespältige Haltung vieler Theoretiker zum Konzept des implizierten Autor beleuchtet das Beispiel Gerard Genettes. Der Theoretiker, der im Discours du recit (1972) ganz ohne den implizierten Autor auszukommen glaubte, was berechtigte Kritik hervorrief16, widmet der übergangenen Instanz im Nouveau discours du recit ein ganzes Kapitel (1983, 93-107). Die aufwendige Argumentation gegen das tableau „complet" der Instanzen17 führt zu einem für den implizierten Autor gar nicht ungünstigen Befund. Genette konstatiert zunächst, dass der auteur implique, da nicht spezifisch für den recit, keinen Gegenstand der Narratologie bilde. Die Frage aber „l'auteur implique est-il une instance necessaire et (done) valide entre le narrateur et l'auteur reel?" (96), beantwortet er immerhin ambivalent: Als instance effective sei der implizierte Autor offensichtlich nicht eine notwendige Instanz zwischen Erzähler und realem Autor, als instance ideale sei er aber denkbar. Genette akzeptiert den abstrakten Autor durchaus als die idee de l'auteur, welchen Ausdruck
16 Vgl. z. B. Rimmon (1976, 58) und Bronzwacr (1978, 3). 17 Genette bezieht sich hier auf Chatman (1978,151), Bronzwaer (1978,10), Schmid (1973, 20-30), Hock (1981. 257 f.) und Lintvelt (1981,13-33).
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er für angemessener hält als l'image de l'auteur. „L'auteur implique, c'est tout ce que le texte nous donne a connaitre de l'auteur" (102). Aber man sollte nicht, so die finale Warnung Genettes, aus der Vorstellung vom Autor eine instance narrative machen. Damit ist Genette gar nicht so weit von den Vertretern des „tableau complet" entfernt, von denen keiner beabsichtigte, den abstrakten Autor in eine narrative Instanz zu verwandeln.
e) Zwei Versuche einer Aufspaltung des abstrakten Autors Als erbitterte Gegnerin von Booths implied author und meines abstrakten Autors ist die niederländische Narratologin Mieke Bai aufgetreten. Diese „überflüssigen" Begriffe (Bai 1981a, 208 f.) seien nicht nur für die weit verbreitete „verschwommen psychologisierende" Behandlung des Perspektivproblems verantwortlich („De grote schuldige is volgens mij het concept ,abstracte auteur'", Bai 1978, 123), sondern auch für die falsche Isolierung des Autors von der Ideologie seines Werks: Der trügerische Begriff habe es möglich machen sollen (aber nicht können), einen Text zu verurteilen, ohne seinen Autor zu verdammen, und umgekehrt - „a very attractive proposition to the autonomists of the '60s" (Bal 1981b, 42). Angesichts dieser Schelte muss es verwundern, dass Bai in der niederländischen Fassung ihrer Narratologie (1978, 125) sogar eine Aufspaltung dieser Instanz vorschlägt. Sie unterscheidet hier zwischen impliciete auteur und abstracte auteur und separiert sie schematisch auf folgende Weise: impliciete auteur => TEKST =s> abstracte auteur
Während die erste Hypostase des Autors - gemäß dem angeblich weiteren Begriff Bronzwaers 1978 - als die „technische, überwölbende Instanz" verstanden wird, „die alle anderen Instanzen ins Leben ruft und für den Aufbau des gesamten narrativen Textes verantwortlich ist", wird die zweite Autorinstanz entsprechend den Definitionen Booths und Schmids als Verkörperung der „totalen Bedeutungsstruktur" des Textes begriffen, allerdings nicht als „Produzent der Bedeutungen", sondern als „Resultat der semantischen
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Textanalyse" (Bai 1978,124 f.). Beide Figuren bleiben für Bai außerhalb des Terrains der Narratologie. Einer Aufspaltung unserer abstrakten Instanz redet auch der Amsterdamer Slavist Willem Weststeijn (1984) das Wort. Nur geschieht das bei ihm etwas anders als bei Bai. Er unterscheidet zwischen implied author und author in the text. Ersterer wird als das den Text „regierende Bewusstsein" {governing consciousness) begriffen, als „something .complete' (a set of implicit norms, the technical instance responsible for the entire structure of the text)". Letzterer ist etwas „Fragmentarisches", das nur in einzelnen lexikalischen Merkmalen oder in den von Figuren ausgesprochenen Ideen aufscheint. Während der „implizierte Autor" sich von Text zu Text ändert, bleibt der „Autor im Text" mehr oder weniger konstant (Weststeijn 1984, 562). Keine der beiden Aufspaltungen scheint sinnvoll zu sein. Die beiden Autorfiguren, die Bai unterscheidet, erweisen sich bei näherem Hinsehen nur als zwei Seiten ein und derselben Instanz. Die Begriffsintensionen „Produzent" und „Resultat" definieren diese Instanz, die extensional identisch bleibt, lediglich aus unterschiedlicher Perspektive. Als „Produzent" der Textbedeutungen (es müsste eigentlich heißen: als textimmanentes Bild des „Produzenten") erscheint der abstrakte Autor in produktionsästhetischer Sicht, „Resultat" eben dieser Textbedeutungen ist er dagegen in rezeptionsästhetischer Perspektive. Mit anderen Worten: Der abstrakte Autor ist das Bild, das sich der konkrete Leser bei der Vereinigung aller Bedeutungen des Werks vom Autor macht. Das Bild selbst ist „Resultat" der semantischen Tätigkeit des Lesers, sein Inhalt aber, das, was es darstellt, ist der „Produzent" sowohl im „technischen" als auch im „ideologischen" Sinne Bals. Das Diagramm der Kritikerin, das dem Text den impliciete auteur als „Produzenten" vorschaltet und den abstracte auteur als „Resultat" nachordnet, modelliert also nicht zwei unterschiedliche Instanzen, sondern lediglich einen Wechsel der Perspektive. Weststeijns Dichotomie gibt insofern Probleme auf, als sein implied author nichts anderes ist als der - wohlverstandene - Autor im Text, d. h. der Autor im ganzen Text und nicht lediglich die an einzelnen Stellen, in einzelnen Sentenzen durchklingende Autor-
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
stimme. Was Weststeijn dagegen author in the text nennt, ist ein Konstrukt biographischer Spekulation. Zweifellos können literarische Werke .Stellen' enthalten, in denen wir unmittelbar die Stimme des Autors zu hören vermeinen. Aber solche Zuschreibungen hängen wesentlich vom individuellen Stereotyp des Autors ab und von der jeweiligen Lektüre des Textes. Außerdem ist zu bedenken, dass die Worte, Ideen und Figuren, die den Autor zu repräsentieren scheinen, kraft ihrer Fiktivität, ihres Dargestelltseins unausweichlich einer Objektivierung und Relativierung ausgesetzt sind. Man denke nur an den Sprecher in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (Zapiski iz podpol'ja) oder an Pozdnysev, den erzählenden Helden in Tolstojs Kreutzersonate (Krejcerova sonata) - zweifellos Sprachrohre ihres Autors, die ihre eigene Ideologie und die ihres Autors durch ihre Geschichten kompromittieren. Das sind gewiss zwei extreme Fälle, aber sie illustrieren das Prinzip: Der fragmentarische author in the text, wie ihn Weststeijn versteht, ist nichts anderes als eine fiktive mit Zügen des Autors ausgestattete Figur, die der Konkurrenz mit anderen Figuren und ihren Sinnpositionen ausgesetzt wird18. In solchen Fällen gestaltet der Autor sich selbst oder - wohl eher - einen Teil seiner Persönlichkeit, seines Denkens in einer fiktiven Figur und macht aus seinen ideologischen, charakterologischen oder psychischen Spannungen und Konflikten ein narratives Sujet. Die Objektivierung des Autors in den fiktiven Figuren seines Werks ist kein seltenes Phänomen. Lermontovs Pecorin aus Ein 18 Etwas anders verhält es sich, wenn der konkrete Autor in der erzählten Welt auftritt, wie das bei Vladimir Nabokov vorkommt, zum ersten Mal im Roman König, Dame, Bube (Korol\ dama, valet; Kap. 12 und 13): Der Held Franz beobachtet ein ausländisches Paar, das in einer ihm unbekannten Sprache spricht, über ihn spricht, wie ihm scheint, und sogar seinen Namen nennt. Bei Franz stellt sich das Gefühl ein, dass „dieser verfluchte glückliche Ausländer, der mit seiner braungebrannten, hübschen Begleiterin zum Strand eilt, über ihn entschieden alles weiß, ihn vielleicht spöttisch bedauert, etwa mit den Worten, da hat diesen Jüngling eine alternde Frau bezirzt, an sich gebunden, wohl eine schöne Frau, aber trotzdem irgendwie einer großen weißen Kröte ähnlich" (V. Nabokov, Collected Russian Language Works in 5 Volumes, Bd. 2, Sankt-Peterburg 1999, S. 294). Diese Überschreitung der Grenzen zwischen der fiktiven und der realen Welt ist jenes klassische narrative Paradox, das Genette (1972, 244) „metalepse" nennt.
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Held unserer Zeit (Geroj nasego vremeni), dessen autobiographischer Zuschnitt so auf der Hand liegt, dass der fiktive Autor des Vorworts zum Roman es für erforderlich hält, sich von ihm ironisch zu distanzieren, ist das offensichdiche Beispiel einer Selbstobjektivierung des Autors. Die Verwicklung des zum Helden gewordenen Autors in ein Sujet, das, nach seiner eigenen strengen Logik ablaufend, den Helden objektiviert, ist natürlich nicht frei von lebensweltlicher Rückbezüglichkeit. Man denke etwa an Tolstojs späte Erzählungen Oer Teufel (D'javol) oder Vater Sergius (Otec Sergij), deren Helden offensichtlich mit den Schwächen des Autors kämpfen. Autoren stellen zuweilen Experimente mit sich selbst an, indem sie eine fiktive Figur mit ihren eigenen Zügen ausstatten. In der russischen Literatur gibt es eine Reihe von Helden, die ihren Autoren als Werkzeug der Selbsterkenntnis und auch als Mittel im Kampf mit sich selbst dienen. Alle diese Feststellungen bleiben natürlich im Rahmen biographischer Spekulation. Aber warum sollte diese untersagt sein, kann der Leser doch durchaus Interesse entwickeln am Kampf mancher Autoren mit sich selbst und in dieser Auseinandersetzung Anregungen für die Verständigung mit der eigenen Person finden? Ein Gegenstand der Narratologie ist der Kampf des Autors mit sich selbst natürlich nicht. f) Skizze einer systematischen Definition Unternehmen wir nun den Versuch einer systematischen Definition unseres abstrakten Autors. Konsensfähig dürfte die Definition des abstrakten Autors als des Korrelats aller auf den Autor verweisenden indizialen Zeichen des Textes sein. Diese Zeichen entwerfen sowohl eine weltanschauliche Position als auch eine ästhetische Konzeption. „Abstrakt" heißt nicht „fiktiv". Der abstrakte Autor ist keine dargestellte Instanz, keine intendierte Schöpfung des konkreten Autors19, und insofern unterscheidet er sich kategorial vom Er19 Deshalb muss man die kritische Frage, die Bachtin (1992, 296) an Vinogradovs Konzept des „Autorbilds" stellt - „Wann und in welchem Maße gehört es zur Intention des Autors [...], ein Autorbild zu schaffen?" - als Versuch interpretieren, diesen Begriff, zu dem Bachtin ein gespaltenes Verhältnis hatte, ad absurdum zu führen. Die grundsätzliche Annahme einer textimmanenten Autorinstanz durch Bachtin wird allerdings in folgender Definition bezeugt: Jede Äußerung [...] hat
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
zähler, der immer eine - entweder explizit oder nur implizit - dargestellte Instanz ist. Der abstrakte Autor ist auf einer andern Ebene des Werks als der Erzähler angesiedelt, er repräsentiert das Prinzip des Fingierens eines Erzählers und der gesamten dargestellten Welt. Er hat keine eigene Stimme, keinen Text 20 . Sein Wort ist der ganze Text mit allen Ebenen, das ganze Werk in seiner Gemachtheit und Komposition21. Seine Position umfasst ideologische wie ästhetische Normen. Der abstrakte Autor ist nur die anthropomorphe Hypostase aller schöpferischen Akte, die personifizierte Werkintention. Der abstrakte Autor ist real, aber nicht konkret. Er existiert im Werk nur virtuell, angezeigt durch die Spuren, die die schöpferischen Akte im Werk hinterlassen haben, und bedarf der Konkretisation durch den Leser. Deshalb hat er eine zweifache Existenz: Einerseits ist er im Text objektiv gegeben, als virtuelles Schema der Symptome, anderseits hängt er in seiner Ausstattung von den ihn aktualisierenden subjektiven Akten des Lesens, Verstehens und Deutens ab. Mit anderen Worten: Der abstrakte Autor ist ein Konstrukt des Lesers auf der Grundlage seiner Lektüre des Werks. Die Betonung ist nicht allein auf „Konstrukt" zu legen, wozu die Verihren Autor, den wir in der Äußerung selbst als ihren Urheber hören. Über den realen Autor, wie er außerhalb der Äußerung existiert, brauchen wir absolut nichts zu wissen" (Bachtin 1963, 314). 20 Michail Bachtin scheint mein Konzept des abstrakten Autors nicht in diesem Sinne verstanden zu haben. In seinem im Wesentlichen in deutscher Sprache gehaltenen Exzerpt meiner Rezension zu B. A. Uspenskijs (1970) Poetika kompozicii (Schmid 1971), das, 1971 angefertigt, jetzt veröffentlicht wurde (Bachtin 2002a), stellt er zu den unterschiedlichen Benennungen Dmitrij Karamazovs im Roman Dostocvskijs („Dmitrij Karamazov", „Dmitrij Fedorovic", „Mitja", „Miten'ka", „Bruder Dmitrij") die Frage: „Wie wird denn der Name in der Sprache des .abstrakten Autors' lauten (vielleicht ganz offiziell wie in der Geburtsurkunde .Dmitrij Fedorovic Karamazov'?). Hat der .abstrakte Autor' eine eigene Sprache (einen Code)?" (Bachtin 2002a, 418). Die Kommentatorin der Bachtinschen Arbeitshefte Ljudmila Gogotisvili (2002, 661) weist darauf hin, dass Bachtin, auch wenn er hier die Existenz eines eigenen Worts des Autors „weich" problematisiere, in den weiteren Fragmenten der Arbeitshefte prinzipiell die These vertrete, dass der Autor kein eigenes Wort habe. Genau das war aber schon in der Uspenskij-Rezension meine Position. 21 Vgl. in diesem Zusammenhang Peter Hühns [1995, 5 ff] Begriff des „Kompositionssubjekts", der auf Easthopes [1983] „subject of enunciation" zurückgeht.
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treter des Konstruktivismus tendieren. Das Konstruieren muss sich ja, soll es sich nicht im bloßen Erfüllen von Sinnwünschen erschöpfen, auf die im Text enthaltenen Symptome richten, deren Objektivität die Freiheit des Interpreten grundsätzlich begrenzt. Deshalb sollte man statt von „Konstrukt" lieber von „Rekonstrukt" sprechen. Der abstrakte Autor ist unablösbar an das Werk gebunden, dessen indiziales Signifikat er bildet. Jedes Werk hat seinen eigenen abstrakten Autor. Insofern Konkretisationen bei verschiedenen Lesern unterschiedlich ausfallen und sogar bei ein und demselben Leser von einer Lektüre zur anderen variieren können, entspricht nicht nur jedem Werk und jedem Leser, sondern sogar jedem Leseakt ein eigener abstrakter Autor. Natürlich fallen die abstrakten Autoren unterschiedlicher Werke eines konkreten Autors in bestimmten Zügen zusammen und bilden so etwas wie einen abstrakten (Euvre-Autor, ein Stereotyp, z. B. den „typischen Tolstoj", jenes Konstrukt, das Jurij Tynjanov (1927b, 279) „literarische Persönlichkeit" nannte 22 und Booth (1979, 270) career author23. Es gibt auch allgemeinere Autor-Stereotypen, die sich nicht auf ein einzelnes Werk oder ein CEuvre beziehen, sondern auf literarische Schulen, Stilrichtungen, Epochen, Gattungen. Den abstrakten Autor kann man von zwei Seiten her bestimmen, vom Werk her und unter dem Aspekt des werktranszendenten konkreten Autors. In der ersten Perspektive ist der abstrakte Autor die Hypostase des das Werk prägenden Konstruktionsprinzips. In der zweiten Sichtweise ist er die Spur des konkreten Autors im Werk, sein werkimmanenter Repräsentant. Das Verhältnis von abstraktem und konkretem Autor sollte man allerdings nicht in Kategorien der Spiegelung oder Abbildung denken, wozu der Terminus „Autorbild" verführt. Den werkimmanenten Repräsentanten kann man auch nicht als „Sprachrohr" des konkreten Autors modellieren, was der Terminus „impliziter Autor" nahe legt. Wie wir gesehen haben, führen Autoren in ihren Werken nicht selten Experimente mit ihren Weltanschauungen durch und stellen ihre Überzeugungen auf die Probe. So verwirklicht mancher Autor 22 Vgl. dazu Rymar'/Skobelev 1994, 39-42. 23 Vgl. Chatman 1990, 87-89.
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
im Werk Möglichkeiten, die im Lebenskontext unrealisiert bleiben müssen, und nimmt zu bestimmten Erscheinungen eine Position ein, die er im Leben aus verschiedenen Gründen nicht vertreten wollte oder könnte. Dann kann der abstrakte Autor in ideologischer Hinsicht radikaler und einseitiger sein, als es der konkrete Autor in der Wirklichkeit je war oder - vorsichtiger formuliert - als wir uns ihn nach den zur Verfügung stehenden historischen Zeugnissen vorstellen. Eine solche Radikalisierung des abstrakten Autors ist typisch für das Spätwerk Tolstojs. Wie uns aus der Biographie bekannt ist, war der späte Tolstoj von manchen seiner Ideen viel weniger überzeugt, als es seine abstrakten Autoren waren, die nur eine Dimension des Tolstojschen Denkens verkörperten und sie ins Extrem trieben. Auch das umgekehrte Verhältnis kommt vor: Der abstrakte Autor kann in seinem geistigen Horizont den ideologisch mehr oder weniger begrenzten konkreten Autor deutlich übersteigen. Ein Beispiel dafür ist Dostoevskij, der in seinen späten Romanen ein erstaunliches Verständnis für Ideologien entwickelt, die er als Publizist auf das schärfste bekämpfte. Dostoevskijs letzter Roman zeigt noch ein anderes Phänomen, die Spaltung des abstrakten Autors. Auf der ideologischen Ebene verfolgt der abstrakte Autor der Brüder FLaramazov das Ziel der Theodizee. Zur gleichen Zeit verwirklicht sich im Roman ein Gegensinn, der in der Theodizee eine Selbstvergewaltigung des mit aller Gewalt glauben wollenden Autors aufdeckt (vgl. Schmid 1996). So spielt sich ein Kampf zwischen zwei ideologischen Positionen ab, ein Schwanken zwischen Pro und Contra. Der abstrakte Autor erscheint in doppelter Gestalt: als affirmierender (Dostoevskij I) und als zweifelnder (Dostoevskij II). Es stellt sich nun freilich die Frage, warum man eine semantische Entität, die weder eine pragmatische Instanz noch ein spezifisches Moment des Erzählwerks ist, überhaupt in ein Modell der Kommunikationsebenen aufnehmen soll. Sollte man sich nicht tatsächlich mit Autor und Erzähler begnügen, wozu, wie bereits erwähnt, einige Narratologen raten? Rimmon-Kenan (1976, 58) stellt dazu fest: „Without the implied author it is difficult to analyze the .norms' of the text, espe-
2. Der abstrakte Autor
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daily when they differ from those of the narrator". Ähnlich konstatiert Bronzwaer (1978, 3): We need an instance that calls the extradiegetic narrator into existence, which is responsible for him in the same way as he is responsible for the diegesis [...] The scope of narrative theory excludes the writer but includes the implied author. [...] It is therefore at the implied author that a theory of narrative can, and must, begin.
Einen andern Vorteil des Konzepts erwähnt Chatman (1990, 76): „positing an implied author inhibits the overhasty assumption that the reader has direct access through the fictional text to the real author's intentions and ideology". Das Konzept des abstrakten Autors ist besonders für die Textinterpretation hilfreich, insofern es die Stufung in der Bedeutungsgenerierung nachzeichnen hilft. Die Existenz des abstrakten Autors, der nicht zur dargestellten Welt, aber zum Werk gehört, wirft einen Objektschatten auf den Erzähler, der oft als Herr der Lage auftritt und frei über den semantischen Haushalt des Werks zu verfügen scheint. Die Präsenz des abstrakten Autors im Kommunikationsmodell verdeutlicht das Dargestelltsein des Erzählers, seines Textes und der in ihm ausgedrückten Bedeutungen. Diese Bedeutungen erhalten ihre für das Werk finale Sinnintention erst auf dem Niveau des abstrakten Autors, dessen Präsenz im Werk über der figuralen und der narratorialen Bedeutungsebene eine eigene das ganze Werk überwölbende Ebene, die auktoriale, etabliert. Die Bedeutungsverleihung durch den Autor entspricht den im Schema der Kommunikationsebenen angedeuteten hierarchischen Fundierungsverhältnissen: In der Hervorbringung der Figurenreden durch den Erzähler gehen die figuralen Zeichen und Bedeutungen in die komplexeren Zeichen des übergeordneten Erzählerkontextes als Signifikanten ein und helfen der Bedeutungsintention des Erzählers sich zu verwirklichen. Ein vergleichbares Verhältnis herrscht zwischen Erzähler und Autor. Die Zeichen, die sich im Erzählen - unter anderm auch durch die Integration der figuralen Zeichen - aufbauen, werden wiederum vom Autor zum Ausdruck seiner Bedeutungsintention benutzt. Alle Artikulationen der Figuren und des Erzählers drücken figuren- bzw. erzählerbezogene Inhalte aus und tragen dadurch dazu bei, die Bedeutungsintentionen des Autors auszudrücken. Das der Schachtelstruktur der epischen
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
Kommunikation analoge Verhältnis der bedeutungsschaffenden Aktivitäten von Figuren, Erzähler und Autor könnte man folgendermaßen schematisch darstellen: F: Ε: A:
SaF
Se F Sp G Sa E ο
Se E
S E Ε Sa A ο
Se A
Das Schema ist wie folgt zu lesen: Die Zeichen (S, signes), die in der Interdependenz () der Signifikanten (Sa, signifiants) und Signifikate (Se, signifies) auf der Ebene der Figuren (F) gebildet werden (Sp), gehören (E) zur Menge der Signifikanten auf der Ebene des Erzählers (SaE), die ihrerseits in einer Interdependenz () mit den Signifikaten dieser Ebene (SeE) stehen. Entsprechendes gilt für die Beziehung zwischen der Ebene des Erzählers und der Ebene des Autors (A). Die Zeichen, die sich auf der Ebene des Erzählers konstituieren (SE), unter anderm durch die Integration der Zeichen auf der Ebene der Figuren, gehen in die Menge der Signifikanten (SaA) ein, die die Autorbedeutungen (SeA) ausdrücken.
3. D e r abstrakte Leser a) Der abstrakte Leser als Attribut des abstrakten Autors Auf der Empfängerseite unseres Schemas der epischen Kommunikation ist gegenüber dem abstrakten Autor der abstrakte Leser eingezeichnet. Es gibt natürlich keinerlei Kontakt zwischen diesen abstrakten Größen, die ja nicht pragmatische Kommunikationsinstanzen, sondern semantische Rekonstrukte sind. Es liegt hier eine verführerische Symmetrie nahe: Wenn der abstrakte Autor (aA) ein vom konkreten Leser (kL) gebildetes Rekonstrukt des konkreten Autors (kA) ist, dann ist, so könnte man versucht sein zu schließen, der abstrakte Leser (aL) das vom konkreten Autor (kA) vorgestellte Bild des konkreten Lesers. Diese Konstellation könnte man in folgendem Schema darstellen, in dem die Pfeile die Rekonstruktionsakte und die Ovale die Rekonstrukte symbolisieren:
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3. Der abstrakte Leser
•
kA
CD
kL
Das Verhältnis der Bilder ist in Wirklichkeit freilich komplizierter. Nicht der konkrete Autor, über dessen Intentionen wir wenig wissen, sondern das von ihm geschaffene Werk oder sein abstrakter Autor ist der Träger der Projektion des Leserbilds. Die Vorstellung vom Gegenüber ist eine der Eigenschaften, die der rekonstruierende konkrete Leser dem abstrakten Autor zuschreibt. Folglich hängt der abstrakte Leser von der individuellen Explikation, d. h. von der Lektüre und dem Verständnis des Textes durch den konkreten Leser nicht weniger ab als der abstrakte Autor. Deshalb müssen wir das Schema auf folgende Weise korrigieren:
• kL
b) Vorgeschichte des abstrakten Lesers Zum abstrakten Leser gibt es eine Reihe älterer Konzeptionen. Schon bei Booth (1961) figurierte als Pendant des implied author der implied reader. Im slavischen Bereich, der zur Kommunikation im literarischen Werk wesentliche, im Westen jedoch kaum zur Kenntnis genommene Beiträge geliefert hat, wurde der Textadressat systematisch zuerst vom polnischen Literaturwissenschaftler Michal Glowmski (1967) beschrieben, und zwar unter der Bezeichnung des
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
.virtuellen Rezipienten'. Es handelte sich bei dieser Entität nicht um eine pragmatische Instanz, sondern um eine vom Text vorbereitete Rolle. Die leitende Frage war für Glowmski deshalb, „wie die Struktur des poetischen Werks die Rolle des Adressaten festlegt". Glowmski traf bereits die Unterscheidung zwischen dem Adressaten des Autors (bzw. des Werks) und dem Adressaten des lyrischen Ich bzw. des Erzählers und unterschied für den ersteren zwei Grundtypen, deren Differenzierung er mit verschiedenartigen Darbietungen des Werksinns begründete: den „passiven Leser", der den im Werk offensichtlichen Sinn lediglich aufzunehmen braucht, und den „aktiven Leser", der den in bestimmten Verfahren verschlüsselten Sinn rekonstruieren muss24. Miroslav Cervenka (1969,138 f.) charakterisiert die „Persönlichkeit des Adressaten", womit der abstrakte Leser gemeint ist, auf folgende Weise: Wenn das Subjekt des Werks das Korrelat der Gesamtheit der Akte der schöpferischen Wahl war, so ist die Bedeutungstotalität des Angesprochenen die Gesamtheit der geforderten Verstehensfähigkeiten: der Fähigkeiten, dieselben Kodes zu benutzen und ihren Bestand analog zum Schaffen des Sprechenden zu entwickeln, der Fähigkeit, die Potentialität des Werks in ein ästhetisches Objekt zu verwandeln.
In Russland stellte Boris Korman (1977,127) dem .Autor als Träger der Werkkonzeption" die entsprechende Instanz des „Lesers als postulierter Adressat, ideales Rezeptionsprinzip" gegenüber: Die Andersheit [des Autors als Träger der Werkkonzeption] ist das gesamte künstlerische Phänomen, das einen idealen, konzipierten Leser voraussetzt. Der Rezeptionsvorgang ist der Prozess der Verwandlung des realen Lesers in den konzipierten Leser.
In der Nachfolge Kormans, der das Werksubjekt „konzipierten Autor" genannt hatte, sprachen Nikolaj Rymar' und Vladislav Skobelev (1994,119-121) dann vom „konzipierten Leser". Eine literarhistorische Vertiefung und Konkretisierung erfuhr die Erforschung der Leserrollen in den Arbeiten Wolfgang Isers (1972; 1976). Mit dem in seiner Extension nicht ganz eindeutig definierten, zwischen dem Adressaten des Werks und dem Adressaten Ausführlicher und zu weiteren Positionen der polnischen Vorgeschichte des Konzepts: Schmid 2007,172 f.
3. Der abstrakte Leser
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der Narration schwankenden Begriff des „impliziten Lesers" zielte Iser auf eine „den Texten eingezeichnete Struktur", „ein transzendentales Modell, durch das sich allgemeine Wirkungsstrukturen fiktionaler Texte" beschreiben lassen: [...] der implizite Leser [besitzt] keine reale Existenz; denn er verkörpert die Gesamtheit der Vororientierungen, die ein fiktionaler Text seinen möglichen Lesern als Rezeptionsbedingungen anbietet. Folglich ist der implizite Leser nicht in einem empirischen Substrat verankert, sondern in der Struktur der Texte selbst fundiert. (Iser 1976, 60)
Eine deutliche Differenzierung des Textadressaten führte Gunter Grimm (1977, 38 f.) ein, der neben Wolffs (1971) und Links (1976) „intendierten" Leser (die „Ziel-Vorstellung" des Autors) einen „imaginierten" Leser („die Vorstellung, die der Autor von seiner tatsächlichen Leserschaft hat") und einen „konzipierten" Leser („die auf den Text bezogene Lesergestaltung") stellte. c) Definition des abstrakten Lesers Obwohl sich die genannten Begriffe auf das im Text enthaltene Bild des Lesers beziehen, aktiviert ihre praktische Anwendung durchaus unterschiedliche Facetten und Funktionen des abstrakten Lesers. In vielen Fällen bleibt der ontologische und strukturelle Status der bezeichneten Instanz ziemlich unklar. Nicht selten schwankt der Begriff zwischen der Bezeichnung des Adressaten des Autors bzw. des Werks und des Adressaten des Erzählers. Deshalb scheint es sinnvoll, den Inhalt des Begriffs und seinen Verwendungsbereich zu präzisieren. Zunächst ist zu betonen, dass der abstrakte Leser grundsätzlich niemals mit dem fiktiven Leser, dem narrataire, d. h. dem Adressaten des Erzählers, zusammenfällt. Ein solcher Zusammenfall wird von Genette (1972, 266) und Rimmon (1976, 55, 58) angenommen, die den narrataire extradiegetique, d. h. den Adressaten, an den sich ein unpersönlicher allwissender und ubiquitärer Erzähler wendet, mit dem lecteur virtuel oder implique identifizieren. Genette begrüßt diese Koinzidenz im Nouveau discours du recit (1983, 95) als eine kleine Einsparungsmaßnahme, über die sich Ockham gefreut hätte. Aber die Ökonomie ist nur auf der Grundlage des Genette-Systems möglich, wo der narrateur extradiegetique nicht als fiktive Instanz
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II. D i e Instanzen des Erzählwerks
figuriert und den Ort des fehlenden abstrakten Autors einnimmt. Genette (1983, 92) formuliert ja: „[...] le narrateur extradiegetique se confond totalement avec Fauteur - je ne dirai pas, comme on le fait trop, .implicite', mais bei et bien explicite et proclame". Natürlich, je näher der fiktive Erzähler dem abstrakten Autor steht, desto schwieriger wird es, die ideologischen Positionen von fiktivem und abstraktem Leser deutlich zu scheiden. Gleichwohl bleibt ihre Differenz grundsätzlich in Kraft. Die Grenze zwischen der fiktiven Welt, zu der jeder Erzähler gehört, wie neutral, objektiv oder „olympisch" er auch konstituiert sein mag, und der Wirklichkeit, zu der bei all seiner Virtualität der abstrakte Leser gehört, lässt sich nicht überschreiten - es sei denn in einer narrativen Paradoxic. Unter dem abstrakten Leser soll hier der Inhalt jenes Bildes vom Empfänger verstanden werden, das der Autor beim Schreiben vor sich hatte oder - genauer - der Inhalt jener Vorstellung des Autors vom Empfänger, die im Text durch bestimmte indiziale Zeichen fixiert ist. Ein im Text nicht fixierter „intendierter Leser" - nach der Terminologie Links (1976, 28) oder Grimms (1977, 38 f.) - , der lediglich in der Vorstellung des konkreten Autors existiert und den man ausschließlich nach den Aussagen des letzteren oder nach außertextlichen Informationen rekonstruieren kann, ist nicht Teil des Werks. Ein solcher Leser gehört ausschließlich zur Sphäre des konkreten Autors, in dessen Intention er existiert.
d) Unterstellter Adressat und idealer Rezipient Nach den Funktionen, in denen der abstrakte Autor entworfen sein kann, muss man zwei Hypostasen unterscheiden 25 . Zum einen erscheint der abstrakte Leser als unterstellter, postulierter Adressat, an den das Werk gerichtet ist und dessen sprachliche Kodes, ideologische Normen und ästhetische Vorstellungen so berücksichtigt werden, dass das Werk verstehbar wird. In dieser Funktion ist der abstrakte Leser Träger der beim Publikum vermuteten Kodes und
25 Vgl. schon Schmid (1974a, 407) und danach Lintvelt (1981,18); Il'in (1996c).
3. Der abstrakte Leser
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Normen. Um ein Beispiel zu geben: Der Adressat der späten Romane Dostoevskijs wird als ein Leser entworfen, der nicht nur Russisch kann und einen Roman zu lesen versteht, sondern auch alle Stilebenen der Sprache beherrscht, ein ausgeprägtes Sensorium für die stilistische Kundgabe von Sinnpositionen besitzt, über eine gute Kenntnis der russischen Literatur verfügt, eine hohe intertextuelle Kompetenz hat, die prägenden philosophischen Positionen seines Jahrhunderts kennt, die europäische Ideengeschichte überblickt und mit den gesellschaftlichen Diskursen seiner Zeit vertraut ist. Ein Autor kann sich natürlich über die beim Publikum vorausgesetzten Normen und Kompetenzen täuschen. So kann er sich etwa in der weltanschaulichen Mehrheitsposition seiner Zeitgenossen irren, er kann die Kompetenz seiner Leser zur Entschlüsselung von uneigentlichem Sprechen überschätzen oder ein zu hohes Verständnis für ästhetische Innovation voraussetzen. Es kommt nicht selten vor, dass ein Autor im Adressieren des von ihm intendierten Publikums keinen Erfolg hat, da er sich entweder über die Sprache, die Werte und Normen seines Publikums täuscht oder nicht imstande ist, seine Nachricht entsprechend zu kodieren. Zum andern fungiert der abstrakte Leser als Bild des idealen Rezipienten, der das Werk auf eine der Faktur optimal entsprechende Weise versteht und jene Rezeptionshaltung und Sinnposition einnimmt, die das Werk ihm nahe legt. Das Verhalten des idealen Lesers, sein Verhältnis zu den Normen und Werten der fiktiven Instanzen ist also völlig durch das Werk vorgegeben, wohlgemerkt nicht durch die Intentionsakte des konkreten Autors, sondern durch die im Werk objektivierten Schaffensakte. Wenn in einem Werk einander widerstreitende Sinnpositionen sich in einer Hierarchie befinden, so identifiziert sich der ideale Rezipient mit jener Instanz, die in dieser Hierarchie die höchste Stelle einnimmt. Wenn die Position der die Hierarchie anführenden Instanz relativiert wird, identifiziert sich der ideale Leser mit ihr nur insoweit, wie das vom Gesamtsinn des Werks zugelassen wird. Die Position des idealen Rezipienten ist also durch das Werk völlig prädeterminiert; der Grad der ideologischen Konkretheit dieser Prädetermination variiert aber von Autor zu Autor. Während Werke mit einer Botschaft eine ganz bestimmte Sinnantwort fordern, wird bei experimentierenden und fragenden Autoren die Bandbreite der vom Werk zuge-
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
lassenen Lektüren eher groß sein. Bei Lev Tolstoj ist das Spektrum der vom Werk zugelassenen Positionen zweifellos enger als z. B. bei Anton Cechov. Der Unterschied zwischen den beiden Funktionsrollen, dem unterstellten Adressaten und dem idealen Rezipienten, ist um so relevanter, je spezifischer die Ideologie des Werks ist, je mehr es zu einem Denken auffordert, das nicht der Doxa entspricht. Im Spätwerk Tolstojs ist der ideale Leser ganz offensichtlich weit vom vorausgesetzten Adressaten entfernt. Während Letzterer nur mit ganz allgemeinen Zügen entworfen wird - wie der Beherrschung der russischen Sprache, der Kenntnis der gesellschaftlichen Normen des späten 19. Jahrhunderts und der Fähigkeit, ein literarisches Werk zu lesen -, so zeichnet sich Ersterer durch eine Reihe von spezifischen Idiosynkrasien und die Sinnpositionen des Tolstojanertums aus. e) Kritik des idealen Rezipienten Die hier dargelegte Konzeption des abstrakten Lesers (wie sie in Schmid 1973; 1974a vorgetragen wurde) ist in der Forschung auf Einwände gestoßen. Kritik hat jedoch nicht die Aufspaltung der Instanz in unterstellten Adressaten und idealen Rezipienten hervorgerufen, sondern die vermeintliche Verpflichtung des konkreten Lesers auf die im idealen Leser - als dem Vollstrecker der intendierten Rezeption - vorgezeichnete Lektüre. So hält mir Jaap Lintvelt (1981, 18) vor, meine Definitionen entmündigten den konkreten Leser: Ces definitions de Schmid impliquent qu'un „texte est cense programmer sa propre lecture". Dans une telle conception, la lecture se limiterait a „une operation (subjective) d'enregistrement d'une organisation de sens qui preexiste a la lecture elle-meme [...]" Schmid neglige done de signaler que le lecteur concret [...] peut pratiquer aussi d'autres lectures qui ne correspondent pas forcement avec la reception, suppose ideale, par le lecteur abstrait.
Auch Jan van der Eng (1984, 126 f.) plädiert dafür, dem konkreten Leser mehr Freiheit und schöpferische Teilhabe an der Bedeutungsbildung zuzugestehen, als es mein Konzept des abstrakten Lesers vorsehe. Der einzelne Rezipient habe - so argumentiert mein Kritiker - nicht nur die Freiheit, die sinnlichen, emotionalen und kog-
3. Der abstrakte Leser
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nitiven Inhalte des Werks auf je eigene Weise zu konkretisieren und zu vertiefen, er bringe durch die Projektion dieser Inhalte auf jeweils neue Wirklichkeiten, auf philosophische, religiöse und psychologische Ansichten auch Bedeutungsaspekte ans Licht, die im Werk weder manifest noch intendiert waren. In seinen Arbeitsheften der sechziger und siebziger Jahre hat sich schon Michail Bachtin kritisch zu dem in der Literaturwissenschaft dieser Zeit geprägten Konzept des idealen Rezipienten geäußert: Das ist natürlich nicht der empirische Zuhörer und nicht die psychologische Vorstellung, das Bild des Zuhörers in der Seele des Autors. Das ist vielmehr eine abstrakte ideale Bildung. Ihr steht der genauso abstrakte ideale Autor gegenüber. Bei einem solchen Verständnis ist der ideale Zuhörer eine spiegelbildliche Entsprechung des Autors, die diesen verdoppelt. (Bachtin 2002b, 427)
In diesen Worten vermutet die Kommentatorin der Arbeitshefte Bachtins Ljudmila Gogotisvili (2002, 674) eine kritische Allusion auf meine Rezension zu B. A. Uspenkijs (1970) Poetik der Komposition (Schmid 1971), die Bachtin kurz nach ihrem Erscheinen exzerpiert hat (Bachtin 2002a). In der Rezension war davon die Rede gewesen, dass der abstrakte Leser als idealer Rezipient eine Dynamik der Autorposition durchaus mit vollziehe und nicht, wie Uspenskij für den Leser generell postuliert hatte, in einer Inertia verharre (Schmid 1971, 132). Bachtin führt gegen das Konzept ins Feld, dass der so konzipierte ideale Rezipient nichts Eigenes, nichts Neues in das ideal verstandene Werk einführe und dass es ihm an der „Alterität" ( Exegesis
diegetisch
Ich => Exegesis + Diegesis
Im nichtdiegetischen Erzählen40 können Formen der ersten Person durchaus fehlen. Das heißt nicht, dass der Erzähler völlig abwesend wäre. Er kann das Erzählte bewerten, kommentieren usw., ohne sich selbst zu bezeichnen. Auch im diegetischen Erzählen kann die 40
Die Dichotomic diegetisch vs. nichtdiegetiscb wendet.
wird hier auch auf das Erzählen ange-
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
erste Person fehlen. Der diegetische Erzähler kann über sich selbst als eine dritte Person berichten und sich bei seinem Namen nennen, wie das Caesar im Bellum gallicum tut. In der russischen Literatur finden wir eine Reihe von Beispielen für die „ichlose" diegetische Erzählung, die, wie im Falle von Ivan Bunins Erzählung Am Ausgang der Tage (U istoka dnej), damit motiviert ist, dass der Erzähler sein früheres Ich wie eine fremde Person betrachtet. In der autobiographischen Trilogie Chlynovsk. Meine Erzählung (Chlynovsk. Moja povest') von Kuz'ma Petrov-Vodkin beschreibt der Erzähler sogar die eigene Geburt (zu beiden Fällen vgl. N. Kozevnikova 1994, 18). In Viktor Astafevs Ode auf den russischen Gemüsegarten (Oda russkomu ogorodu) wird das erzählende Ich mit der ersten Person, das erzählte aber mit „der Junge" bezeichnet: Mein Gedächtnis, wirk noch einmal das Wunder, nimm mir von der Seele die Unruhe, die stumpfe Last der Müdigkeit, die die mürrische Stimmung und die giftige Süße der Einsamkeit erweckt hat. Und lass wiedererstehen - hörst du? - lass in mir den Jungen wiedererstehen, lass mich neben ihm zur Ruhe kommen und rein werden. [...] ... in meine große Hand nehme ich das Händchen des Jungen und quälend lange schaue ich auf ihn, den kurz geschorenen, sommersprossigen. War er wirklich ich und ich er? (Astafev 442 f.)
Hier beginnt dann die autobiographische Erzählung des diegetischen Erzählers, die in der „Er-Form" gehalten ist: „Das Haus des Jungen stand mit dem Gesicht zum Fluss [...]" (ebd.). Ein besonderer Fall liegt vor, wenn der Erzähler, der anfangs nichtdiegetisch zu sein schien, sich mit einem Mal als ein diegetischer erweist. In Vladimir Nabokovs Erzählung Schwerer Rauch (Tjazelyj dym), die zunächst von einem nichtdiegetischen Erzähler präsentiert zu werden scheint, verraten einzelne unmotivierte, wie zufällig vorkommende Formen der ersten Person, dass der beschriebene Jüngling mit dem Kneifer" niemand anderes ist als der Erzähler selbst: Als er aus dem Esszimmer trat, bemerkte er noch, wie sich der Vater mit dem ganzen Körper auf dem Stuhl der Wanduhr zuwandte mit einem Ausdruck, als hätte sie etwas gesagt, und wie er sich dann zurückzuwenden begann, aber hier schloss sich die Tür, und ich konnte es nicht zu Ende beobachten. (Nabokov, 346)
4. Der fiktive Erzähler
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Die umgekehrte Erscheinung kann man in Nabokovs Roman Das Auge (Sogljadataj) beobachten: Nach seinem „Selbstmord" bezeichnet der Erzähler mit der ersten Person ausschließlich das erzählende Ich, während das erzählte Ich, das überlebt hat, im weiteren nur noch als „Smurov" figuriert, dessen Identität mit dem Erzähler der Leser nicht sogleich erraten wird. Den Extremfall eines diegetischen Erzählers, auf den es weder in der Diegesis noch in der Exegesis direkte Verweise gibt, bildet die Erzählinstanz in Alain Robbe-Grillets La Jalousie. Trotz radikaler Aussparung des erzählten Ich und vollständiger Abwesenheit jeglicher Selbstthematisierung des erzählenden Ich entsteht der Eindruck, dass in diesem nouveau roman ein Eifersüchtiger von der möglichen Untreue seiner Ehefrau, ihrer Verbindung mit dem gemeinsamen Freund der Eheleute berichtet. Die Präsenz des erzählten Ich in der Diegesis wird lediglich durch die Konstellation der beobachteten Gegenstände angedeutet: Um den Tisch stehen drei Stühle, auf dem Tisch liegen drei Gedecke usw. Das erzählte Ich figuriert hier lediglich als derjenige, der den dritten Platz am Tisch einnehmen kann. Und das erzählende Ich ist ausschließlich indiziert in dem extrem objektiven, technischen Blick auf die Gegenstände, deren übertrieben und unfunktional genaue Erfassung vom unterdrückten Affekt des Beobachtenden zeugt. Ein solcher Erzähler, der seine Identität mit der erzählten Figur kaschiert, begegnet manchmal in Detektiverzählungen, in denen das erzählende Ich der Detektiv und das erzählte Ich der gesuchte Täter ist. In der Postmoderne dient die verschleierte diegetische Erzählung nicht selten dazu, die allgemeine Frage nach der Identität des Menschen aufzuwerfen. Eines der Muster ist Jorge Luis Borges' Erzählung La forma de la espada, deren Erzähler eingesteht, dass er in Wirklichkeit selbst jener widerliche Denunziant ist, über den er sich bisher nur in der dritten Person und mit Verachtung geäußert hat (Genette 1972, 255). Wenn die Personalformen als Kriterium für eine Typologie des Erzählers ausfallen, wohin gehört dann die Erzählung in der zweiten Person41, die in vielen Typologien als Variante der „Ich-Er41 Unterschiedliche Varianten der Erzählung in der zweiten Person mustern Körte 1987 und Fludernik 1993b; 1994.
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
zählung" erscheint (z. B. Füger 1972, 271)? J e nachdem, ob der Erzähler nur in der Exegesis erscheint oder auch in der Diegesis, ist er ein nichtdiegetischer oder ein diegetischer. Betrachten wir ein bekanntes Beispiel der Du-Erzählung, Lev Tolstojs Skizze Sevastopol' im Dezember (Sevastopol' ν dekabre mesjace): Sie treten in den großen Saal der Versammlung. Kaum haben Sie die Tür geöffnet, betäubt Sie der Anblick und der Geruch von vierzig oder fünfzig Amputierten und Schwerstverwundeten, von denen die einen in Kojen, die meisten aber auf dem Boden liegen. Glauben Sie nicht dem Gefühl, das Sie auf der Schwelle des Saals aufhält, es ist ein schlechtes Gefühl, gehen Sie weiter, schämen Sie sich nicht, näher heranzutreten und mit ihnen zu sprechen. (Tolstoj 4, 75)
Diesen Erzähler kann man sowohl als diegetisch als auch als nichtdiegetisch auffassen. Wenn man das gegenwärtige „Sie" des fiktiven Lesers mit dem früheren Ich des Erzählers identifiziert, der unter der Maske der zweiten Person seine eigenen Eindrücke wiedergibt, wird man von einem diegetischen Erzähler ausgehen. Wenn man solche Identifizierung nicht vornimmt, wird man den Erzähler als nichtdiegetisch auffassen. Die Opposition diegetisch vs. nichtdiegetisch fällt nicht mit drei Dichotomien zusammen, die ähnlich erscheinen und nicht selten mit ihr vermengt werden: 1. Die Opposition diegetisch vs. nichtdiegetisch unterscheidet sich kategorial von der Dichotomie explizit vs. implizit. Den nichtdiegetischen Erzähler sollte man nicht mit dem impliziten identifizieren, wie das Paduceva (1996, 203) tut, die davon ausgeht, dass der nichtdiegetische (in ihrer Terminologie: „exegetische") Erzähler „ein Erzähler ist, der sich nicht selbst nennt". Der nichtdiegetische Erzähler kann ausschließlich implizit dargestellt sein, und das ist sehr oft der Fall, aber er kann auch explizit figurieren, das heißt sich selbst als das erzählende Ich nennen und beschreiben. Zu Beginn des neuzeitlichen Erzählens dominierte in der westeuropäischen wie in der russischen Literatur der Typus des expliziten nichtdiegetischen Erzählers, der ausführlich über sich selbst sprach und sich an seine „verehrten" Leser wandte. Zu diesem Typ gehören fast alle Erzähler des Sentimentalisten Nikolaj Karamzin. Auf folgende Weise be-
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ginnt die Erzählung Natal'ja, die Bojarentochter (Natal'ja, bojarskaja doc'): Wer von uns liebt nicht jene Zeiten, als die Russen noch Russen waren, als sie sich in ihr eigenes Gewand kleideten, ihren eigenen Gang gingen, nach ihrem eigenen Brauch lebten, ihre eigene Sprache und nach ihrem Herzen sprachen, das heißt: sprachen, wie sie dachten? Zumindest ich liebe diese Zeiten [...] (Karamzin II, 55)
Der diegetische Erzähler ist anderseits nicht notwendigerweise explizit, wie die oben angeführten Fälle diegetischer Erzählung in dritter Person belegen. 2. Die Dichotomie diegetiscb vs. nicbtdiegetisch fällt nicht mit der Opposition persönlich vs. unpersönlich zusammen. Letztere wurde in die Diskussion von Jürgen Petersen (1977, 176) eingebracht, der davon ausgeht, dass der „Er-Erzähler" sich vom „Ich-Erzähler" durch das prinzipielle Fehlen von „Personalität" unterscheidet. Ähnlich schreibt Stanzel (1979, 119-124) sowohl dem erzählenden als auch dem erzählten Ich im „Ich-Roman" eine besondere „Leiblichkeit" zu. Zweifellos tendiert die nichtdiegetische Erzählung seit dem Realismus zur Minimalisierung der Personalität des Erzählers, zu seiner Reduktion auf eine bloße Bewertungsposition, die sich nur durch wertende Akzente kundtut. Im vorrealistischen Erzählen dagegen ist der nichtdiegetische Erzähler in der Regel mit persönlichen Zügen ausgestattet. Beispiele dafür finden wir wieder in den Erzählungen Karamzins. Betrachten wir den Beginn der Armen Liza (Bednaja Liza), wo ein Erzähler auftritt, der sich als empfindsamen Wanderer und Naturliebhaber charakterisiert: Vielleicht kennt keiner der Bewohner Moskaus die Umgebung dieser Stadt so gut wie ich, weil niemand häufiger als ich auf den Feldern weilt, niemand mehr als ich zu Fuß wandelt, ohne Plan, ohne Ziel, wohin die Augen schauen, über die Auen und Haine, über die Hügel und Fluren. Jeden Sommer finde ich neue und angenehme Orte oder in alten neue Schönheiten. [...] Aber am angenehmsten ist für mich jener Ort, auf dem sich die düsteren gotischen Türme des S...-Klosters erheben. (Karamzin 1,1, 506)
Auf der anderen Seite ist der diegetische Erzähler als erzählendes Ich nicht notwendig persönlicher, subjektiver als der nichtdiegetische. Auch der diegetische Erzähler kann auf eine unpersönliche
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
Stimme reduziert sein, wenn der Schwerpunkt auf dem erzählten Ich liegt. 3. Die vorgeschlagenen Differenzierungen berühren nicht das Problem der Perspektive. Die Vermengung zweier Kategorien, der Teilhabe des Erzählers an der Diegesis und der Perspektive, ist ein in den geläufigen Typologien häufig begegnender Fehler. Das bekannteste Beispiel ist Stanzeis (1964; 1979) „Typenkreis der Erzählsituationen", in dem der „auktorialen" und „personalen" „Erzählsituation" als dritte die „Ich-Erzählsituation" beigesellt wird. Während sich die beiden ersten Erzählsituationen durch die Perspektive unterscheiden, ist die dritte ausschließlich durch die Präsenz des Erzählers in der erzählten Geschichte definiert. Ungeachtet der zahlreichen Einwände gegen seine Systematik (z. B. Leibfried 1970, 246; Schmid 1973, 28; Cohn 1981; Petersen 1981; Breuer 1998) hat Stanzel nie das Argument akzeptiert, dass er zwei Kriterien vermische und dass auch für die „Ich-Erzählsituation" zwei Perspektiven zu unterscheiden seien, eine „auktoriale" und eine „personale". Während Käte Hamburger die Opposition diegetiscb vs. nichtdiegetiscb zur Grundlage ihrer eigenwilligen Gattungstypologie („fiktionale oder mimetische" vs. „lyrische oder existentielle" Gattung) macht, zweifeln manche Narratologen an ihrer Relevanz. Wayne Booth (1961, 150) etwa hält diese Dichotomie für überstrapaziert. Dem widerspricht allerdings die literarische Praxis. Stanzel (1979, 114-116) führt Beispiele an, in denen Autoren aufgrund bestimmter künstlerischer Überlegungen einen schon begonnenen Roman von der einen Form in die andere umschrieben, von der nichtdiegetischen in die diegetische (Gottfried Kellers Grüner Heinrich) und umgekehrt, von der diegetischen in die nichtdiegetische (Franz Kafkas Schloss). In diesem Zusammenhang sind die Notizbücher Dostoevski) s zum Jüngling aufschlussreich. Nach langem Schwanken zwischen den beiden Darbietungsformen, das in den Notizbüchern dokumentiert ist (vgl. Schmid 2005, 92-94), entschied sich Dostoevskij für den diegetischen Erzähler. Ausschlaggebend war, dass das Erzählen in der „ersten Person" „origineller" sei und „mehr Liebe, mehr Kunst" erfordere. Den Nachteil dieser Form sah der Autor
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4. Der fiktive Erzähler
darin, dass „die Hauptideen des Romans" durch einen zwanzigjährigen Erzähler nicht „natürlich und vollständig" zum Ausdruck gebracht werden könnten. h) Typen des diegetischen Erzählers Das erzählte Ich kann in der Diegesis in unterschiedlichem Maße präsent sein und an der Geschichte in unterschiedlicher Funktion teilhaben. Genette (1972, 253 f.) unterscheidet zwei Stufen der Präsenz, wobei er voraussetzt, dass der „Erzähler" (eigentlich: das erzählte Ich) nicht ein gewöhnlicher Statist sein könne. Die Figur der erzählten Welt ist nach Genette entweder Hauptheld (dann handelt es sich um einen „autodiegetischen" Erzähler, Beispiel ist Gil Blas von Lesage) oder Beobachter und Zeuge (Doctor Watson bei Conan-Doyle). Susan Lanser (1981, 160), die Genettes Terminologie folgt, hat ein detaillierteres Schema vorgelegt, das fünf Stufen der Partizipation an der Diegesis und der Entfernung vom „heterodiegetischen" (d. h. nichtdiegetischen) Erzähler vorsieht. Dieses Schema ist nicht nur theoretisch akzeptabel, sondern erweist seine Tauglichkeit auch in der Analysepraxis. Bei Übersetzung der Genetteschen Termini erhalten wir folgendes Schema: nichtdiegetischer Erzähler
1:
Erzähler, der nicht an der erzählten Geschichte teilhat 2: An der Geschichte unbeteiligter Beobachter 3: Beobachter, der an der Geschichte teilhat
diegetischer Erzähler
Nebenfigur Eine der Hauptfiguren Hauptfigur
Typ 2: Ein Beispiel für den unbeteiligten Beobachter ist der persönliche Erzähler der Brüder Karamazov. Der anonyme Chronist, der von Ereignissen berichtet, die sich vor dreizehn Jahren in „unserm" Landkreis zugetragen haben, besitzt, obwohl er damals in der er-
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
zählten Weit präsent war, keinerlei diegetische Bedeutung. Wenn der Autor direkte Introspektion in das Bewusstsein der Figuren benötigt - man denke nur an Ivan Karamazovs Halluzinationen - so ersetzt er den in seinem Horizont begrenzten Chronisten durch einen allwissenden und ubiquitären nichtdiegetischen Erzähler (siehe oben, II.4.a). Typ 3: Ein Beispiel ist der Erzähler der Dämonen (Besy), der Chronist Anton Lavrent'evic G-v, der sich anschickt, „die merkwürdigen Ereignisse zu beschreiben, die sich unlängst in unserer bislang durch nichts aufgefallenen Stadt zugetragen haben". Dieses Vorhaben setzt die Rekonstruktion der eigenen Wahrnehmungen und die Sammlung all jener „harten" Fakten voraus, die er allgemein verbreiteten Gerüchten und den widersprüchlichen Aussagen von Augenzeugen entnimmt. Dabei liegt der Akzent eher auf dem erzählenden als auf dem erzählten Ich. Die diegetische Existenz dieses Chronisten dient in erster Linie der Motivierung der schwierigen Rekonstruktion des Vorgefallenen. Typ 4: Ein diegetischer Erzähler, dessen erzähltes Ich als Nebenfig u r auftritt, ist im Kapitel Bela des R o m a n s Ein Held unserer Zeit
von Michail Lermontov auf zweifache Weise realisiert. Sowohl in der primären Erzählung des anonymen Reisenden als auch in der sekundären Erzählung Maksim Maksimycs steht im Mittelpunkt nicht das jeweilige erzählte Ich, sondern der rätselhafte Pecorin, der in diesem ersten Kapitel des Romans durch ein zweifaches Prisma (Maksim Maksimyc und den Reisenden) wahrgenommen wird. Typ 5: Ein erzähltes Ich als eine der Hauptfiguren begegnet in Puskins Erzählung Der Stationsaufseher. Der erzählende Reisende spielt als erzähltes Ich im Leben der beiden Helden eine etwas zweifelhafte Rolle, insofern er zweimal der „erste" ist. Aus seiner Hand empfängt Samson Vyrin, der sich später zu Tode trinken wird, das erste Glas Punsch (das erste Glas - versteht sich - im Rahmen der Geschichte), und das erzählte Ich tritt in der Geschichte als erster Mann auf, der Dunja einen Kuss gibt. Typ 6: Das erzählte Ich als Hauptfigur liegt in Dostoevskijs Jüngling vor, wo Arkadij Dolgorukij die zentrale Figur der Diegesis ist.
5. Der fiktive Leser
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Diese Typologie kann natürlich nicht alle denkbaren und belegbaren Realisierungen eines erzählten Ich erfassen. Welchem Typ soll man etwa Karamzins Arme Liza zuordnen? Lizas Geschichte wird erzählt von einem stark markierten, subjektiven, persönlichen, aber dabei allwissenden, in die geheimsten Gedanken und Gefühle seiner Helden eindringenden Narrator, der in der Diegesis, die sich vor dreißig Jahren abgespielt hat, nicht präsent gewesen ist. Am Ende seiner Erzählung aber, wenn er die Nachgeschichte nach dem Tode Lizas präsentiert, teilt er mit, dass ihm Erast ein Jahr vor seinem Tode „diese Geschichte" erzählt habe. Der Erzähler geht also in die Diegesis an ihrer äußersten Peripherie, nur im Rahmen der Nachgeschichte ein. Allein die späte Begegnung mit Erast, die lediglich das Wissen des Erzählers motivieren soll (was sie schwerlich leisten kann), macht den Erzähler allerdings noch nicht zu einem diegetischen in Bezug auf Lizas Geschichte.
i) Erzählendes und erzähltes Ich Von allen Typen des erzählten Ich begegnet der Typ 6 wohl am häufigsten. Das klassische fiktionale autobiographische Erzählen gestaltet einen großen zeitlichen Abstand zwischen erzählendem und erzähltem Ich. Dabei sind diese Instanzen als Stationen einer psychophysisch identischen Figur fingiert. Die Muster des autobiographischen Romans, die Confessiones des Augustinus, der Simplicissimus Grimmelshausens und, aus der neueren Literatur, Thomas Manns Bekenntntsse des Hochstaplers Felix Krull setzen nicht nur eine zeitliche, sondern auch eine ethische und psychologische Distanz zwischen einem irrenden, sündigen jungen Menschen und einem stark veränderten, reumütigen Erzähler voraus, der seine Jugendsünden als frommer Mensch, weltflüchtiger Einsiedler oder Gefängnisinsasse beschreibt. „Recordari volo transactas foeditates meas et carnales corruptiones animae meae, non quod eas amem, sed ut amem te, deus meus"42, mit diesen Worten eröffnet Augustinus seine Konfessionen. 42 „Ins Gedächtnis will ich mir rufen meine abstoßenden Taten und die fleischliche Verderbnis meiner Seele, nicht weil ich sie liebte, sondern um Dich zu lieben, mein Gott."
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
Eine bemerkenswerte Variante des quasi-autobiographischen Romans liegt in Dostoevskijs Jüngling vor. Der zwanzigjährige Arkadij Dolgorukij berichtet im Mai eines nicht genannten Jahres von den Abenteuern, die er vom 19. September bis Mitte Dezember des vorhergehenden Jahres erlebt hat. Die vielen Jahre, die gewöhnlich das erzählende vom erzählten Ich trennen, sind hier auf wenige Monate reduziert, in denen sich das Ich entwickelt. Der Erzähler unterscheidet sich in vielem von seinem früheren Ich, jedoch übertreibt er ein wenig die Reifung, die stattgefunden hat, offensichtlich in dem Wunsch, mit den Naivitäten des vergangenen Jahres nicht mehr identifiziert zu werden. Sowohl das neunzehnjährige erzählte als auch das zwanzigjährige erzählende Ich machen eine unverkennbare Entwicklung durch: Nach dem 19. September gibt der Jüngling den Plan, ein Rothschild zu werden, allmählich auf (Entwicklung in der Diegesis), und der zu Anfang des Romans gereizte Ton des Erzählers weicht einer gelasseneren Erzählweise; nach anfänglicher Polemik mit dem Leser versöhnt sich Arkadij mit ihm (Entwicklung in der Exegesis). Solche Dynamisierung des Ich auf der Ebene der Diegesis (vom 19. September bis Mitte Dezember), der Exegesis (Mitte Mai) und in der Zwischenzeit (Dezember bis Mai) ist dadurch motiviert, dass der Autor ein Alter gewählt hat, in dem der Mensch gewöhnlich seine Ansichten schnell ändert. Bezeichnenderweise verwarf Dostoevskij den ursprünglichen Plan, zwischen Erleben und Erzählen einen Abstand von vier Jahren zu legen. Das autobiographische Erzählen zeichnet sich durch die Tendenz zu einer gewissen Stilisierung des „früheren" Ich aus. Solche Stilisierung äußert sich nicht nur in einer Beschönigung des früheren Verhaltens, sondern auch in einer verschlimmernden Präsentation. Die psychologische Logik der pejorativen Selbststilisierung hat Dostoevskij bloßgelegt. Am Ende des ersten Kapitels der Aufzeichnungen aus dem Kellerloch gesteht der Erzähler seinem Gegenüber: [...] jetzt will ich gerade ausprobieren, ob man wenigstens sich selbst gegenüber ganz aufrichtig sein kann, ohne vor der vollen Wahrheit zurückzuschrecken. A propos: Heine behauptet, dass wahrheitsgetreue Autobiographien fast unmöglich seien, weil der Mensch über sich selbst die Unwahrheit sagen werde. Nach seiner Auffassung hat Rousseau, zum Beispiel, in seiner Beichte unbedingt über sich gelogen, be-
5. Der fiktive Leser
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wusst gelogen, aus Eitelkeit. Ich bin davon überzeugt, dass Heine Recht hat; ich verstehe sehr gut, wie man sich manchmal einzig und allein aus Eitelkeit ganzer Verbrechen anschwärzen kann, und ich begreife auch sehr gut, welcher Art diese Eitelkeit sein kann. (Dostoevskij 5 , 1 2 2 )
Obwohl wir als Leser im (quasi-)autobiographischen Erzählwerk natürlich ständig die Einheit eines erzählenden Ich mit seinem „früheren" Selbst konstruieren, wird die psychophysische Identität von erzählendem und erzähltem Ich manchmal durchaus problematisch. So konstatiert Wolfgang Kayser (1956, 233; 1958, 209): „Der IchErzähler eines Romans ist nicht die geradlinige Fortsetzung der erzählten Figur". Anlässlich von Thomas Manns Schelmenroman warnt er den Leser vor einer vorbehaltlosen Identifizierung des jungen Krull mit dem alten Erzähler. An Herman Melvilles Moby Dick demonstriert er die unüberwindbare Kluft zwischen dem einfachen Matrosen, als der das erzählte Ich figuriert, und dem gebildeten erzählenden Ich, das im Übrigen die geheimen Gespräche und Gedanken dritter Personen wiedergibt, die dem Matrosen absolut unzugänglich waren. Kayser bezweifelt zu Recht die Selbstverständlichkeit, mit der die psychophysische Einheit von erzählendem und erzähltem Ich postuliert wird. Mit der Veränderung der Sicht auf die Welt setzt sich das als kompakt und einheitlich fingierte Ich einer gewissen Diffusion aus. Das erzählende Ich kann sich dann zum erzählten Ich wie zu einem fremden Menschen verhalten43. Die psychophysische Einheit von erzähltem und erzählendem Ich kann durch die Kompetenz des letzteren in Frage gestellt werden. Bei manchen diegetischen Erzählern beobachten wir, dass das erzählende Ich über den Horizont und die Kompetenz des erzählten Ich weit hinausgeht, ja manchmal sogar über die Grenzen des43 Gegen Kaysers Bemerkung hat übrigens seine ganze Karriere hindurch Stanzel polemisiert (zuletzt 1979,111 f.). Er spricht sich vehement für die Einheit des Ich aus, mit gutem Grund, denn sonst müßte er auch die „Ich-Erzählsituation" in „auktoriaT und „personal" aufspalten, womit er um seinen triadischen .Rosenkranz' gebracht wäre. In derselben Publikation aber verweist er an anderer Stelle (1979, 271) selbst auf die „Entfremdung" zwischen den Instanzen. So konstatiert er, dass in Moll Flanders der Eindruck entstehe, als hätte Daniel Defoe „das erlebende Ich der Moll Flanders zusammen mit den Reflexionen eines fremden auktorialen Ich in das Joch einer einzigen Person gespannt".
II. Die Instanzen des Erzählwerks
100
sen überschreitet, was einem Menschen zu wissen überhaupt möglich ist. Eine extreme Überstrapazierung der Motivierung mutet uns der Roman des tschechischen Prosaautors Bohumil Hrabal Scharf bewachte Züge (Ostre sledovane vlaky) zu. Der diegetische Erzähler berichtet hier von Ereignissen, in deren Verlauf er selbst, d. h. sein früheres erzähltes Ich, umgekommen ist. Solche Grenzüberschreitungen zeigen die allgemeine Tendenz diegetischer Erzähler, gewisse Lizenzen der nichtdiegetischen Erzählung zu übernehmen. Die Narratologie sollte sich dem Problem des diegetischen Erzählers unter funktionalem Aspekt nähern. Erzählendes und erzähltes Ich sollten als zwei funktional zu unterscheidende Instanzen betrachtet werden, als Narrator (Träger der Narratio) und Aktor (d. h. Träger der Actio), zwischen denen eine mehr oder weniger konventionelle psychophysische Verbindung fingiert ist. Unter funktionalem Aspekt verhält sich das erzählende Ich zum erzählten so wie im nichtdiegetischen Werk der Erzähler zur Figur. Diese Korrelation wird in folgendem Schema illustriert: nichtdiegetische
Erzäh-
diegetische
Erzählung
lung Erzählinstanz
=
Narrator
handelnde Instanz = Aktor
Erzähler
erzählendes Ich
Figur
erzähltes Ich
5. Der fiktive Leser Der fiktive Leser (narrataire, narratee, narratator'') ist der Adressat des fiktiven Erzählers, jene Instanz, an die er seine Erzählung richtet. Der Terminus fiktiver Leser ist nicht ganz zutreffend, da nur das Bild des unterstellten Adressaten gemeint ist. Richtiger wäre es deshalb, vom fiktiven Adressaten zu sprechen.
44 Zum englischen Begriff des narratee vgl. Prince 1971; 1985; zum französischen narrataire Genette (1972, 226) und Prince 1973a. Zum erstenmal hat die Dichotomie narrateur - narrataire (in Analogie zu destinateur - destinataire) Roland Barthes (1966,10) gebraucht. Im Russischen ist für diese Instanz der Begriff narratator geprägt worden (Il'in 1996d).
5. Der fiktive Leser
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a) Fiktiver Adressat und fiktiver Rezipient Der fiktive Leser als Adressat einer sekundären Erzählung (d. h. einer Binnengeschichte) fällt, wie es scheint, mit einer der Figuren der primären Erzählung (der Rahmengeschichte) zusammen. So scheint in Puskins Stationsaufseber der sentimentale Reisende, dem der verlassene Titelheld die Geschichte seiner entführten Dunja erzählt und der somit als sekundärer fiktiver Adressat fungiert, mit dem erzählten Ich, also mit dem Aktor der primären Erzählung zusammenzufallen. Aber die Gleichung fiktiver Adressat der sekundären Erzählung = Figur in der primären Erzählung, eine Gleichung, die vielen Abhandlungen zu dieser Instanz zugrunde liegt (vgl. Genette 1972; 1983), vereinfacht den Sachverhalt auf unzulässige Weise. Der fiktive Adressat ist nichts anderes als das Schema der Erwartungen und Vorannahmen des Erzählers und kann deshalb funktional nicht mit jener Figur zusammenfallen, die in der primären Geschichte als Rezipient der sekundären Geschichte figuriert und durch den primären Erzähler in bestimmten Merkmalen konkretisiert wird. Der Adressat, an den sich der die Geschichte seiner Tochter erzählende Samson Vyrin wendet, fällt nicht mit dem empfindsamen Reisenden zusammen, der als erzähltes Ich die Geschichte hört und viele Jahre später, als erzählendes Ich, berichten wird. Der Adressat ist ein bloße Vorstellung des Stationsaufsehers, und dieser kann von der Neigung seines Zuhörers zu sentimentalen Schablonen nichts wissen, von der Literatur des Sentimentalismus wird er nicht einmal eine Ahnung haben, und wenn er das traurige Los seiner „armen Dunja" beweint, so erscheint die Allusion auf Karamzins Arme Liza lediglich im Horizont des sentimentalen Reisenden. Der fiktive Adressat ist als solcher immer nur eine Projektion des jeweiligen Erzählers45. Von einem fiktiven Rezipienten zu sprechen, ist nur dann sinnvoll, wenn ein sekundärer Erzähler sich an einen Rezipienten wendet, der als lesende oder hörende Figur in einer primären Geschichte vorkommt. Mit diesem fiktiven Rezipienten (der Figur in der primären Geschichte) fällt der sekundäre fiktive Adressat nur material, nicht jedoch funktional zusammen,
45 Deshalb kann ich auch nicht der von Alice Jedlickovä (1993) getroffenen Unterscheidung zwischen „fiktivem" und „projiziertem" Adressaten zustimmen.
102
II. Die Instanzen des Erzählwerks
weil Adressat-Sein und Rezipient-Sein unterschiedliche Funktionen sind. Diese Verhältnisse seien am Beispiel des Stationsaufsehers in folgendem Schema dargestellt: Ebene primäre Erzählung
Narrator Reisender als erzählendes Ich
sekundäre Vyrin als Erzäherzählendes Ich lung
Aktor
Adressat
Rezipient
1. Reisender als erzähltes Ich 2. Vyrin 3. Dunja u.a.
Adressat des erzählenden Reisenden
0
1. Vyrin als erzähltes Ich 2. Dunja u.a.
Reisender in der Vorstellung Vyrins
Reisender als erzähltes Ich der primären Erzählung
Wenn ein Erzähler einen Dialog mit seinem Gegenüber führt, ist es wichtig zu unterscheiden, ob der Gesprächspartner lediglich imaginiert ist oder als unabhängige, autonome Figur in einer übergeordneten Geschichte existiert. Nur im zweiten Fall, wenn das Gegenüber über Autonomie und Alterität verfügt, handelt es sich um einen echten Dialog. Im ersten Fall haben wir es dagegen mit einem inszenierten dialogischen Monolog zu tun (siehe dazu unten, II.5.e). b) Fiktiver und abstrakter Leser Der fiktive Leser ist vor dem französischen Strukturalismus schon in der polnischen Narratologie beschrieben worden. So hat Maria Jasmska (1965, 215-251) zwischen „realem" und „epischem" Leser unterschieden, wobei die zweite Instanz dem fiktiven Leser entspricht. Die Unterscheidung zwischen abstraktem und fiktivem Leser ist von Micha! Glowmski (1967) vorweggenommen worden, wenn er einem „Rezipienten im weiteren Sinne" einen „Rezipienten im engeren Sinne" gegenüberstellt. In ihrem Fünf-EbenenModell der Rollen in der literarischen Kommunikation ordnet Ale-
5. Der fiktive Leser
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xandra Okopieii-Slawmska (1971,125) dem „Autor" den „konkreten Leser" zu, dem „Sender des Werks" den mit dem „idealen Leser" identifizierten „Rezipienten des Werks" und dem Erzähler den „Adressaten der Erzählung". Selbst in theoretischen Arbeiten beobachten wir nicht nur eine Vermischung des fiktiven und des abstrakten Lesers, sondern auch den programmatischen Verzicht auf diese Unterscheidung. Wie schon oben (S. 67) angemerkt, identifizieren Genette (1972, 267) und mit ihm auch Rimmon (1976, 55, 58) den narrataire extradiegetique mit dem lecteur virtuel oder implique, was Genette sogar für eine willkommene Sparmaßnahme hält. Bai (1977a, 17) nennt die Unterscheidung zwischen abstraktem und fiktivem Leser gar „semiotisch insignifikant", und unter Berufung auf Toolan (1988), erklärt Paduceva (1996, 216), dass es an solcher Doppelung keinen Bedarf gebe: „Der Adressat des Erzählers ist in der kommunikativen Situation der Erzählung nicht ein Stellvertreter des Lesers, sondern der Leser selbst". Das ist gewiss eine unzulässige und auch wenig hilfreiche Vereinfachung. Natürlich, je näher der fiktive Erzähler dem abstrakten Autor in axiologischer Hinsicht steht, desto schwieriger wird es, die ideologischen Positionen von fiktivem und abstraktem Leser deutlich zu scheiden. Gleichwohl bleibt die Differenz zwischen dem abstrakten Leser als dem unterstellten Adressaten (oder dem idealem Rezipienten) des Autors und dem fiktiven Leser als dem Adressaten des Erzählers grundsätzlich in Kraft. Die Grenze zwischen der fiktiven Welt, zu der der fiktive Leser gehört, und der Wirklichkeit, zu der bei all seiner Virtualität der abstrakte Leser gehört, lässt sich nicht überschreiten - es sei denn in einer narrativen Paradoxic. Es ist noch ein wesentlicher Unterschied zwischen dem fiktiven Leser und dem abstrakten Leser als idealem Rezipienten zu beachten. Werke mit einer überwiegend ästhetischen Funktionsdisposition fordern eine Lektüre, die diese Disposition auch realisiert, d. h. sie entwerfen einen idealen Rezipienten, der eine ästhetische Einstellung einnimmt. In dieser Einstellung wird der Leser nicht nur lebensweltlich auf das Werk reagieren, sondern es auch auf seine Faktur hin betrachten und sich - ganz abgesehen von seiner ethischen oder ideologischen Reaktion auf die Geschichte, die ihm erzählt wird - am Zusammenspiel der Faktoren erfreuen, wenn das
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
Werk einen hohen ästhetischen Wert hat. Eine ästhetische Einstellung kann natürlich auch dem fiktiven Leser nahe gelegt werden, etwa wenn sich der Erzähler als Künstler versteht und seinem Erzählen ästhetischen Wert beimisst. In dem Maße aber, wie der Erzähler in dieser Hinsicht vom Autor dissoziiert ist, wird sein fiktiver Adressat sich in der Einstellung auf die Erzählung vom idealen Rezipienten des Autors unterscheiden. Der abstrakte Leser wird oft mit einer „Rolle" verglichen, in die der konkrete Leser schlüpfen könne oder solle. Aber der abstrakte Leser ist als unterstellter Adressat oder gewünschter Rezipient in den meisten Fällen nicht als Schauspieler entworfen, sondern als Zuschauer oder Hörer der zwischen den fiktiven Instanzen Erzähler und Adressat (bzw. Rezipient) ablaufenden Kommunikation. Betrachten wir z. B. die Worte, mit denen sich Rudyj Pan'ko, der Erzähler der Vorwörter zu Nikolaj Gogol's Abenden auf dem Vorwerk bei Dikan'ka (Vecera na chutore bliz Dikan'ki), von seinem fiktiven Leser verabschiedet: Ich habe Ihnen, erinnere ich mich, versprochen, dass in diesem Büchlein auch mein Märchen sein wird. Und ich wollte das auch wirklich machen, dann sah ich aber, dass für mein Märchen mindestens drei solche Büchlein nötig sind. Ich wollte es zuerst gesondert drucken, habe es mir dann aber anders überlegt. Ich kenne Sie doch: Sie werden über den Alten lachen. Nein, ich will nicht! Leben Sie wohl! Wir werden uns lange nicht mehr sehen, vielleicht überhaupt nicht mehr. Und was macht das aus? Ihnen ist es doch sowieso gleichgültig, selbst wenn es mich auf der Welt gar nicht gäbe. Es vergeht ein Jahr, ein zweites, und von Ihnen wird sich niemand mehr an den alten Rudyj Pan'ko erinnern und ihm nachtrauern. (Gogol' 1,108)
Die Rolle dieses hochnäsigen, gefühllosen Menschen, der über den alten Erzähler lacht und ohne Bedauern von ihm scheidet, wird der konkrete Leser nicht übernehmen wollen, und sie ist auch für den abstrakten Leser weder unterstellt noch vorgesehen. Wie man weiß, schrieb Gogol' für ein Publikum, das auf den „kleinrussischen" Geschmack gekommen war und Volkserzählungen wie die mit ihnen verbundene Skaz-Manier höchst goutierte 46 . 46 Problematisch ist die sprachhandlungstheoretische Beschreibung, die Frank Zipfel (2001, 277) dem für die Fiktion als konstitutiv angenommenen „make-believeSpiel" gibt: „Der empirische Leser versetzt sich in die Position des fiktiven Adres-
5. D e r fiktive Leser
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c) Explizite u n d implizite Darstellung des fiktiven Lesers D e r fiktive L e s e r k a n n , w i e a u c h d e r fiktive E r z ä h l e r , a u f z w e i W e i s e n d a r g e s t e l l t sein, e x p l i z i t u n d i m p l i z i t . Die
Darstellung
explizite
geschieht
mit
Hilfe der
Pronomina
und grammatischen F o r m e n der zweiten Person oder der bekannten A n r e d e f o r m e l n wie „der geneigte L e s e r " usw.47 D a s auf diese W e i s e geschaffene Leserbild kann mit m e h r oder weniger
konkre-
t e n Z ü g e n ausgestattet sein. B e t r a c h t e n wir d a z u Puskins
Versro-
m a n Evgenij
Onegin.
W e n n der Erzähler, der unterschiedliche Identi-
t ä t e n a n n i m m t , als A u t o r auftritt, w i r d s e i n A d r e s s a t z u m
Kenner
der zeitgenössischen russischen Literatur u n d z u m A n h ä n g e r
Pus-
kins: Ihr F r e u n d e von Ruslans Geschichten K ö n n t auf Prologe wohl verzichten; Gestattet, dass ich euch schon hier Mit m e i n e m Helden konfrontier (I, 2 ) Held, E r z ä h l e r u n d fiktiver L e s e r sind d u r c h d e n T o p o s P e t e r s b u r g verbunden: Mein F r e u n d Onegin war geboren A n den Gestaden der Neva, Mein Leser stammt wohl auch v o n da O d e r erwarb sich dort die Sporen; Dort hab auch ich geliebt, gezecht: D o c h mir bekommt der N o r d e n schlecht. (I, 2 )
säten und nimmt den Erzähl-Text innerhalb der fiktiven internen Sprachhandlungssituation sozusagen als faktualen Text auf." Zipfel konzediert zwar, dass der „empirische Leser" sich der Positionsverschiebung bewusst sein könne und dass die „Spannung zwischen Mitspielen und Beobachten des Spiels" „integraler Bestandteil der Fiktions-Rezeption und Teil des fiktionsspezifischen Vergnügens an der Rezeption fiktionaler Texte" sei (278), vernachlässigt aber das Dargestelltsein des fiktiven Lesers, der nicht mehr als die übrigen Instanzen lediglich ein Identifikationsangebot verkörpert und den es genauso wie diese in erster Linie zu beobachten gilt. 47 Verschiedene Varianten des so angesprochenen Lesers erörtert Paul Goetsch (1983). 48 Angebenen sind Kapitel und Strophe. Zitiert wird nach der Übersetzung von Rolf-Dietrich Keil: Alexander Puschkin, Jewgenij Onegin, Gießen 1980.
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II. D i e Instanzen des Erzählwerks
Die Gegenwart des fiktiven Lesers wird durch antizipierte Fragen aktiviert: N a u n d Onegin? Ja, natürlich! Nur, Brüder, habt G e d u l d mit mir: Sogleich beschreib ich euch ausführlich D e n Ablauf seines Tages hier. (IV, 3 6 f.)
Die implizite Darstellung des fiktiven Lesers operiert mit denselben indizialen Zeichen wie die Darstellung des Erzählers und stützt sich ebenfalls auf die Kundgabefunktion. Überhaupt baut die Darstellung des fiktiven Lesers auf der Darstellung des Erzählers auf, insofern der erstere ein Attribut des letzteren ist (ähnlich wie das Bild des abstrakten Lesers zu den Eigenschaften des abstrakten Autors gehört; vgl. dazu oben, S. 65)49. Die Markiertheit des fiktiven Lesers hängt in entscheidendem Maße von der Markiertheit des Erzählers ab: Je stärker der Erzähler markiert ist, desto eher wird er eine bestimmte Vorstellung von dem von ihm angesprochen Gegenüber evozieren. Jedoch impliziert die Präsenz eines markierten Erzählers noch nicht automatisch die Gegenwart eines Adressaten, der in demselben Grad manifest ist wie er selbst. Im Prinzip entwirft jede Erzählung einen fiktiven Leser (wie jeder Text einen abstrakten Leser als unterstellten Adressaten oder idealen Rezipienten entwirft), da die indizialen Zeichen, die auf seine Existenz verweisen, wie schwach sie auch sein mögen, niemals ganz verschwinden können50. Zu den vom Text reflektierten Eigenschaften des Erzählers gehört, wie schon angedeutet, auch seine Beziehung zum Adressaten. Für die Darstellung des fiktiven Lesers sind zwei Operationen relevant, die diese Beziehung charakterisieren, Appell und Orientierung. 49 In seiner einflussreichen Arbeit erörtert Gerald Prince (1973a) die „signaux du narrataire", insofern sie über den „degre zero du narrataire" hinausgehen. Dieser Nullstatus war Gegenstand so starker Kritik (vgl. Prince 1985), dass Prince 1982 auf ihn schließlich verzichtete. Ein anderes berechtigtes Argument, dass die vermeindichen „signaux du narrataire" genau so gut auch als „characteristics of the narrator" (Pratt 1982, 212) angesehen werden können, tut Prince (1985, 300) dagegen als „trivial" ab. 50 Damit korrigiere ich meine frühere These (Schmid 1973, 29; 1986, 308), die besagte, dass im Erzähltext ein fiktiver Leser auch völlig fehlen könne, eine These, die auf Kritik gestoßen ist, z. B. bei Roland Harweg (1979,113).
5. Der fiktive Leser
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Der Appell ist die meistens implizit ausgedrückte Aufforderung an den Adressaten, eine bestimmte Position zum Erzähler, zu seiner Erzählung, zur erzählten Welt oder zu einzelnen ihrer Figuren einzunehmen. Der Appell ist schon an sich ein Modus, die Präsenz eines Adressaten auszudrücken. Aus seinem Inhalt geht hervor, welche Haltungen und Positionen der Erzähler beim Adressaten voraussetzt und welche er für möglich hält. Die Appellfunktion wird im Prinzip niemals gleich null sein; sie ist auch in Aussagen mit überwiegend referentieller Funktion gegenwärtig, und sei es in der Minimalform „Wisse, dass..." oder „Ich will, dass du weißt, dass..." Einer der Typen des Appells ist die Impression. Mit ihrer Hilfe versucht der Erzähler sein Gegenüber zu beeindrucken, eine Reaktion zu bewirken, die entweder eine positive Form annehmen kann, als Bewunderung, oder eine negative, als Verachtung. (Die Absicht der negativen Impression ist charakteristisch für Dostoevskijs paradoxe Monologisten.) Unter Orientierung wird die Ausrichtung des Erzählers am Adressaten verstanden, ohne die keine verständliche Mitteilung auskommen kann. Die Orientierung am Adressaten lässt sich natürlich nur in dem Maße rekonstruieren, wie sie die Darstellungsweise beeinflusst. Die Orientierung bezieht sich erstens auf die beim Adressaten vermuteten Kodes und Normen, die sprachlicher, epistemischer, ethischer und sozialer Art sein können. Die dem Adressaten unterstellten Normen braucht der Erzähler nicht zu teilen, aber er kann nicht umhin, eine für den Adressaten verständliche Sprache zu verwenden und den vermuteten Umfang seines Wissens zu berücksichtigen. Insofern enthält jede Erzählung eine implizite Information darüber, welche Vorstellung der Erzähler von der Kompetenz und den Normen seines Adressaten hat. Zweitens kann die Orientierung in der Antizipation des Verhaltens des vorgestellten Adressaten bestehen. Der Erzähler kann sich den Adressaten als passiven Hörer und gehorsamen Vollstrecker seiner Appelle vorstellen, aber auch als aktiven Gesprächspartner, der das Erzählte selbständig bewertet, Fragen stellt, Zweifel äußert und Einwände erhebt.
108
II. Die Instanzen des Erzählwerks
Bei keinem zweiten Autor der russischen Literatur (und vielleicht der Weltliteratur) spielt der fiktive Leser eine solch aktive Rolle wie bei Dostoevskij. In den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch und der Sanften (Krotkaja) spricht der Erzähler buchstäblich jedes Wort mit dem „Seitenblick auf ein fremdes Wort" (Bachtin 1929, 96), d. h. mit der Ausrichtung auf den fiktiven Hörer. Der Erzähler, der von seinem Hörer Anerkennung zu gewinnen sucht, hinterlässt im Text unübersehbare Spuren des Appells (insbesondere der Impression) und der Orientierung: Er möchte auf den Leser oder Hörer einen positiven oder negativen Eindruck machen (Impression), achtet auf die Reaktionen des Gegenübers (Orientierung), errät seine kritischen Repliken (Orientierung), nimmt sie vorweg (Impression), versucht sie zu widerlegen (Impression) und erkennt deutlich (Orientierung), dass ihm das nicht gelingt. Ein solches Erzählen, dessen Adressat als aktiver Interlokutor vorgestellt wird, rechnet Bachtin in seiner „metalinguistischen" Typologie des Prosaworts zum „aktiven Typus" des „zweistimmigen Worts" (oder des „Worts mit der Ausrichtung auf ein fremdes Wort"), d. h. eines Worts, in dem zugleich zwei widerstreitende Sinnpositionen spürbar sind, die des Sprechenden und die vorweggenommene Sinnposition des Adressaten. Im Gegensatz zum „passiven" Typus des „zweistimmigen Worts", in dem das fremde Wort wehrloses Objekt in den Händen des mit ihm operierenden Erzählers bleibt, wirkt das fremde Wort im aktiven Typus auf die Rede des Erzählers ein und „zwingt sie, sich unter seinem Einfluss und seiner Einwirkung entsprechend zu ändern" (Bachtin 1929, 94; dt. 1971, 220; Übersetzung revidiert). d) Erzählen mit dem Seitenblick auf den fiktiven Leser („Der Jüngling") Für den starken Einfluss eines fiktiven Lesers auf das Erzählen ist Dostoevskijs Jüngling ein Beispiel. Der zwanzigjährige Arkadij Dolgorukij, der von seinen Abenteuern des vergangenen Jahres berichtet, wendet sich an einen Leser, der weder als individuelle Person noch als Träger einer Ideologie entworfen ist. Das Merkmal dieser imaginierten Instanz, die für den jugendlichen Erzähler zum Repräsentanten der Welt der Erwachsenen wird, ist Spott über die unreifen Ansichten des jungen Mannes. Die Ausrichtung auf diesen Le-
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ser zeigt sich in der impressiven Funktion, die vor allem dort bemerkbar wird, wo Arkadij von sich selbst schreibt, von seinen Ideen und Handlungen. Merkmal der Impression ist der Übergang von der neutralen, auf ihr Objekt gerichteten Darstellung zu einer mehr oder weniger erregten Autothematisierung, die begleitet wird von einer gewissen Affektiertheit der Lexik und der Syntax sowie von rhetorischen Gesten. Arkadij will Eindruck machen, anerkannt werden. In der impressiven Funktion drückt sich der Appell an den erwachsenen Leser aus, ihn, den Jüngling, ernst zu nehmen. Der Appell zur Anerkennung manifestiert sich sowohl in verbalen Gesten, die die Wirklichkeit beschönigen, als auch in solchen, die die wahren Umstände zum Schlechteren stilisieren. In der Pejorisierung entdecken wir neben dem Wunsch, durch den Mut zur negativen Selbststilisierung Eindruck zu machen, auch das diametral entgegengesetzte Bestreben, das jener Struktur zugrunde liegt, die Bachtin das „Wort mit einem Schlupfloch" genannt hat: Die Beichte mit einem Schlupfloch [...] ist ihrem Sinn nach letztes Wort über sich selbst, endgültige Selbstbestimmung, aber in Wirklichkeit rechnet sie innerlich auf eine entgegengesetzte Bewertung ihrer selbst durch den andern. Der Beichtende und sich Verurteilende möchte in Wirklichkeit nur das Lob und die Annahme durch den andern provozieren. (Bachtin 1929, 133; dt. 1971, 262; Übersetzung revidiert)
Das Bestreben, auf den Leser einzuwirken, stößt in der Vorstellung des Erzählers beim Angesprochenen auf eine Gegenreaktion. Denn der Erzähler stellt sich sein Gegenüber als jemanden vor, der seine Selbststilisierung nicht akzeptiert und auf seine Bekenntnisse mit spöttischen, nüchternen Einwänden reagiert. Deshalb ist in dieser Narration neben der Appellfunktion die ständige Orientierung an der Reaktion des Gegenübers wirksam. Nach der Weise, wie die vorgestellten kritischen Repliken des Lesers in Arkadij s Erzählen Niederschlag finden, können wir verschiedene Ausprägungen der Orientierung unterscheiden. Die Orientierung gibt sich schon ganz allgemein in den Metamorphosen des Stils und der Erzählweise kund. Wo Arkadij pubertärer schreibt, als es von einem intelligenten, gebildeten und im Schreiben nicht ganz ungeübten Zwanzigjährigen zu erwarten wäre, wo er in den schnoddrig-jargonhaften Ton des Halbwüchsigen mit ste-
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
reotypen, oft hyperbolischen Ausdrücken fällt oder wo er mit trotzig apodiktischen Behauptungen auftrumpft, hat er sich gleichsam nach seinem Leser umgesehen und sucht mit vorgetäuschter Selbstsicherheit alle möglichen Einwände im Keime zu ersticken. Solcher Art Orientierung macht sich etwa in den einleitenden Bemerkungen Arkadijs zu seinem Erzählen geltend: Da ich es nicht mehr aushalten konnte, habe ich mich hingesetzt, um diese Geschichte meiner ersten Schritte auf dem Schauplatz des Lebens aufzuschreiben, obwohl ich auch ohne das auskäme. Eins weiß ich ganz sicher: nie wieder setze ich mich hin, um meine Autobiographie zu schreiben, selbst wenn ich hundert Jahre alt werde. Man muss schon zu schlimm in sich verliebt sein, um ohne Scham über sich selbst schreiben zu können. Ich entschuldige mich nur damit, dass ich nicht dafür schreibe, wofür alle schreiben, nämlich um vom Leser gelobt zu werden. [...] Ich bin kein Literat, ein Literat will ich auch gar nicht sein, und das Innere meiner Seele und eine schöne Beschreibung meiner Gefühle auf ihren literarischen Markt zu zerren, hielte ich für eine Unanständigkeit und Gemeinheit. (Dostoevskij 13, 5)
Die Orientierung am Leser prägt die Argumentation, die Sprechhaltung, den Stil. Daneben stehen Fälle, in denen Arkadij sein imaginäres Gegenüber direkt anspricht. Das Aufbegehren gegen die eigene Unreife schlägt oft um in den gereizten Angriff auf den imaginären Leser, den sich Arkadij als unnachsichtigen Spötter vorstellt: Meine Idee besteht darin, ein Rothschild zu werden. Ich fordere den Leser auf, Ruhe und Ernst zu bewahren. (Dostoevskij 13, 66)
Sich der endgültigen Darlegung dieser „Idee" nähernd, deren Angreifbarkeit er nur zu gut selbst erkennt, „blickt sich" Arkadij zum Leser um, und ruft gereizt aus: Meine Herrschaften, sollte Ihnen denn schon die geringste Selbständigkeit im Denken so schwer fallen? (Dostoevskij 13, 77)
Bei der Darlegung seiner „Idee" nimmt Arkadij die beim Leser erwarteten Erklärungen für ihr Entstehen vorweg, um sie entschieden zu widerlegen. Vor dem verständnisvollen und für ihn erniedrigenden Lächeln des Lesers über seine pubertären Pläne glaubt er sich mit düsterer Selbststilisierung zu schützen, die er allerdings unter dem Einfluss möglicher Einwände wiederum abzumildern gezwungen ist:
5. Der fiktive Leser
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Nein, nicht meine uneheliche Geburt [...], nicht die traurigen Jahre der Kindheit, nicht Rache und Recht auf Protest waren der Grund für meine „Idee"; schuld an allem ist einzig mein Charakter. Schon mit zwölf Jahren, so glaube ich, das heißt mit dem Erwachen eines eigentlichen Bewusstseins, begann ich, die Menschen nicht zu lieben. Nicht gerade, nicht zu lieben, aber irgendwie habe ich sie schwer ertragen. Es tat mir manchmal selbst sehr weh, [...] dass ich misstrauisch bin, finster und verschlossen. [...] Ja, ich bin ein düsterer Mensch, ich verschließe mich ständig. Oft möchte ich die menschliche Gesellschaft ganz verlassen. (Dostoevskij 13, 72) J e expliziter der Jüngling die erwarteten Reaktionen des Lesers formuliert, desto mehr nähert sich das Erzählen einem offenen, angespannten Dialog: Ich habe mir gerade vorgestellt, dass, wenn ich auch nur einen einzigen Leser hätte, dieser sich sicherlich über mich totlachen würde wie über den lächerlichsten Halbwüchsigen, der sich seine dumme Unschuld bewahrt hat und sich unterfängt, über Dinge zu urteilen und zu entscheiden, von denen er keine Ahnung hat. Ja, ich habe wirklich noch keine Ahnung, doch gebe ich das durchaus nicht aus Stolz zu, denn ich weiß, wie dumm eine solche Unerfahrenheit an einem zwanzigjährigen Tölpel ist; nur will ich diesem Herrn sagen, dass er selbst keine Ahnung hat, und das werde ich ihm beweisen. (Dostoevskij 13, 10) An einigen Stellen setzen sich die vorweggenommenen Repliken des Lesers in selbständiger direkter Rede durch (deren Urheber natürlich Arkadij bleibt). Dann zerfällt der Erzählmonolog gleichsam in autonome Reden, die aufeinander dialogisch reagieren: „Haben wir alles schon gehört", wird man mir sagen, „das ist nichts Neues. Jeder Vater in Deutschland predigt das seinen Kindern, aber Ihr Rothschild [...] war nur ein Einzelner, und deutsche Väter gibt es Millionen." Ich würde darauf antworten: „Sie beteuern, Sie hätten das schon gehört, aber in Wirklichkeit haben Sie gar nichts gehört". (Dostoevskij 13, 66) Ist Arkadij bei schamhaften Eingeständnissen an einem Punkt angelangt, der ihm keinen ehrenvollen Rückzug vor den entblößenden Erwiderungen des Gegners mehr offen lässt, so greift er zu einem bei Dostoevskijs beichtenden Erzählern beliebten Kunstgriff, zur paradoxen Leugnung der Existenz jenes Lesers, an den diese Leugnung gerichtet ist:
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
Ich will hier eine Vorbemerkung machen: der Leser wird über die Aufrichtigkeit meiner Beichte vielleicht entsetzt sein und sich naiv fragen: Wie kann der Verfasser das alles schreiben, ohne zu erröten? Darauf möchte ich antworten: Ich schreibe nicht für eine Veröffentlichung; einen Leser werde ich wahrscheinlich erst nach zehn Jahren haben, wenn alles mit der Zeit so offenkundig geworden und geklärt sein wird, dass es keinen Grund mehr zum Erröten geben wird. Wenn ich mich in meinen Aufzeichnungen dennoch manchmal an einen Leser wende, so ist das ein bloßer Kunstgriff. Mein Leser ist eine Phantasiegestalt. (Dostoevskij 13, 72)
e) Der dialogische Erzählmonolog In den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch und der Sanften hat Dostoevskij eine mündliche Variante des dialogisierten Erzählens geschaffen, das Sprechen mit dem Seitenblick auf den Hörer. Im ersten, philosophischen Teil der Aufzeichnungen nimmt dieser Erzähltypus eine Form an, die der polnische Literaturwissenschaftler Michal Glowmski (1963) „Erzählung als gesprochener Monolog" nennt. Diese Form hat sich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in der europäischen Prosa unter dem Vorzeichen des Existentialismus und der Philosophie des Absurden entwickelt. In Westeuropa bildete das Muster dieser Erzählkonstruktion (ideologisch gefärbte Auseinandersetzung eines sich selbst und die Welt anklagenden Sprechers mit einem die Weltordnung verteidigenden Hörer) Albert Camus' La Chute. Dieses Werk, das stark auf die polnische Nachkriegsliteratur gewirkt hat, ist selbst wiederum Dostoevskijs Aufzeichnungen verpflichtet und spielt auch unüberhörbar auf sein Vorbild an. Der „gesprochene Monolog" ist nach Glowmskis Definition ein mündlicher Erzählmonolog, der sich vom klassischen Typus des Erzählens durch folgende Merkmale unterscheidet: 1) dialogische Sprechsituation, in der das angesprochene Gegenüber auf das Erzählen zurückwirkt; 2) Verbindung von Skaz-Elementen mit Rhetorik; 3) Verlagerung des thematischen Schwerpunkts vom Erzählten zum Erzählvorgang. Vom Skaz-Erzählen unterscheidet sich dieser Typus durch 1) die weltanschauliche Thematik, 2) die Intel-
5. Der fiktive Leser
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lektualität der Argumentation, 3) das Eindringen von rhetorischen Elementen. Die Sanfte und der zweite Teil der Aufzeichnungen entsprechen diesem Typus nicht ganz, da ihnen die weltanschauliche Thematik und die intellektuelle Argumentation fehlt. Ausgehend von den beiden Werken Dostoevskijs wollen wir hier einen weniger thematisch als strukturell definierten Erzähltypus vorstellen, der dialogischer Erzählmonolog genannt werden soll. Der Typus ist durch die drei Merkmale definiert, die in seiner Bezeichnung verbunden sind: 1. Dialogisch: Der Erzähler wendet sich an einen Hörer, den er sich als aktiv reagierend vorstellt. Das Erzählen entfaltet sich in einer Spannung zwischen den entgegengesetzten Sinnpositionen des Erzählers und des Adressaten, die gelegentlich die Form eines offenen Dialogs annimmt. 2. Monolog: Die Dialogizität ist nur inszeniert und geht nicht über die Grenzen des Erzählerbewusstseins hinaus. Es gibt hier keinen realen Gesprächspartner, der sich mit unvorsehbaren Repliken einschalten könnte. Dem imaginierten Gegenüber, das ja aus dem eigenen Ich genommen ist, fehlen Autonomie und Alterität. Deshalb handelt es sich lediglich um einen Quasi-Dialog, eine dialogisch inszenierte Variante des Monologs. 3. Narrativität: Dieser dialogisierte Monolog hat eine narrative Funktion. Wie sehr der sich umsehende Erzähler auch mit der Verteidigung oder der Anklage seiner selbst und den Ausfällen gegen den Hörer beschäftigt sein mag, er erzählt gleichwohl eine Geschichte und verfolgt ungeachtet aller dialogischer Digressionen ein narratives Ziel. In der Sanften und in den Aufzeichnungen werden Geschichten des Scheiterns erzählt. Aber das offene und letztlich wahrheitsgemäße Erzählen ist hier wiederum mit den dialogischen Funktionen verbunden, und zwar mit dem Appell und besonders mit der Impression. Die Logik ist folgende: Wenn der Erzähler sich schon nicht durch edle Taten hervortun konnte, so bemüht er sich doch, zumindest mit der Aufrichtigkeit und Gnadenlosigkeit seiner Selbstanalyse, mit der furchtlosen Antizipation des entlarvenden fremden Wortes Eindruck zu machen.
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II. Die Instanzen des Erzählwerks
Dostoevskijs dialogische Monologe sind voller Paradoxien. Einen Hörer gibt es nicht, aber der ganze Monolog ist an ihn gerichtet. Der imaginierte Gesprächspartner ist nicht ein anderer Mensch, gleichwohl streitet der Sprecher mit ihm und legt ihm die vernichtendsten Einwände in den Mund, worauf er seine Präsenz gleichzeitig leugnet und bestätigt: Selbstverständlich habe ich alle diese Worte von Ihnen jetzt selbst erdichtet. Das ist auch aus dem Kellerloch. Ich habe dort vierzig Jahre auf diese Worte von Ihnen durch eine kleine Spalte gelauscht. Ich habe sie selbst ausgedacht, das ist doch das Einzige, was beim Ausdenken zustande gekommen ist. Kein Wunder, dass ich sie auswendig kann und dass sie eine literarische Form angenommen haben... Aber sollten Sie, sollten Sie denn tatsächlich so leichtgläubig sein, sich einzubilden, dass ich das alles drucken lassen und Ihnen dann noch zu lesen geben werde? (Dostoevskij 5,122)
In den dialogischen Erzählmonologen Dostoevskijs gibt es noch einen weiteren paradoxen Zug: Die fehlende Alterität des Angesprochenen, der eine Projektion des Sprechers bleibt, wird gleichsam durch die Alterität des erzählenden Ich sich selbst gegenüber ersetzt. Das Paradox besteht in der Alterität der Identität, in der Fremdheit des Subjekts sich selbst gegenüber. Das Ich ist sich so fremd, dass es vor den eigenen Möglichkeiten und Abgründen tiefer erschrecken kann, als es je vor Fremdem erschrecken würde. Die solipsistische Dimension der Dialogizität, die Verlegung der Alterität von außen nach innen ist eine wesentliche Eigenart der Dostoevskijschen Dialog- und Subjektkonzeption. Die Alterität des Subjekts, die Fremdheit des Ich für sich selbst verleiht den Erzählmonologen Dostoevskijs jene echte Dialogizität, die ihnen der nur imaginierte Status des angesprochenen Gegenübers vorenthält.
III. Die Erzählperspektive 1. Theorien des „point of view", der Fokalisierung und der Perspektive Eine zentrale Kategorie der Narratologie ist die Perspektive oder in der englischsprachigen Theorie - der point of view (franz. point de vue·, russ. tocka zrenija). Der englische Begriff, der von Henry James im Essay The Art of Fiction (1884) eingeführt, in seinen Vorwörtern zu den Romanen (James 1907/09) präzisiert und von Percy Lubbock systematisiert wurde, bezeichnet „die Beziehung des Erzählers zur erzählten Geschichte" (Lubbock 1921). In der deutschsprachigen Theorie wurden zwar auch die entsprechenden Termini Standpunkt oder Blickpunkt verwendet, aber es hat sich eindeutig der Begriff der Perspektive oder Erzählperspektive durchgesetzt. Seit den 1980er Jahren hat in der internationalen Narratologie der von Gerard Genette (1972) geprägte Begriff der Fokalisierung weite Verbreitung gefunden. Die Vielfalt der in der Literaturwissenschaft existierenden Konzepte von Perspektive 1 beruht nicht so sehr auf einer Differenz in der Terminologie oder auf unterschiedlichen Prinzipien der Typologie, sondern vor allem auf der Divergenz der Inhalte, die mit dem Begriff verbunden werden. Ein Hauptunterschied besteht in der Dimensionierung des Phänomens, in der Frage, welche Relationen des Werks betroffen sind und wie tief die Modellierung reichen soll. Während in weiten Teilen der Literaturwissenschaft der Eindruck vermittelt wird, die Erscheinungen der Perspektive seien hinreichend erforscht und bei den bestehenden Differenzen zwischen den Modellierungen gehe es weitgehend nur um einen Streit um Namen, ist das Phänomen in Wirklichkeit nicht hinreichend ge-
1
Vgl. die Übersichten: Lintvelt 1981,111-176; Markus 1985,17-39; Bonheim 1990; Nünning 1990; Jahn 1995, 38-48; Tolmadev 1996; Tamaidenko 1999a.
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III. Die Erzählperspektive
klärt 2 . Bevor eine Definition der Perspektive und eine Analyse ihrer Struktur versucht wird, sollen die einflussreichsten Modellierungen betrachtet werden.
a) F. K. Stanzel Eine wichtige Modellierung der Perspektive enthält die Typologie der „Erzählsituationen", die der Grazer Anglist Franz K. Stanzel seit annähernd fünfzig Jahren vertritt. Stanzeis Trias der „auktorialen", „figuralen" und „Ich-Erzählsituation" genießt bis heute j»roße Popularität, und das nicht nur in deutschsprachigen Ländern . Die Typologie wurde zur Grundlage zahlloser Werkanalysen, und wer immer eine neue Theorie der Perspektive entwarf, setzte sich in der Regel mit Stanzeis „Typenkreis" auseinander 4 . Die Systematik von Stanzeis Typologie geriet freilich (wie bereits in Abschnitt II.4 erwähnt) schon früh in die Kritik 5 . Der problematischste Teil dieser Theorie ist durch alle ihre Formulierungen hindurch der zentrale Begriff der „Erzählsituation" 6 . In dieser Kategorie sind unterschiedliche Dichotomien zusammengebracht. In der Variante von 1979, der jüngsten Version, modelliert Stanzel die Kategorie der Erzählsituation auf der Grundlage von drei Oppositionen: 1. Opposition der Person: „Identität - Nichtidentität der Seinsbereiche der Charaktere und des Erzählers",
2
N o c h heute gilt Susan Lansers (1981,13) Urteil, dass die Implikationen des point of view entgegen dem allgemeinen Eindruck „underestimated" und „underexplored" seien.
3
Vgl. die in Russland 1999 erschienene Einleitung in die Literaturwissenschaft, deren Artikel Erzählen (Tamarcenko 1999b) Stanzeis Ansatz besonders hervorhebt.
4
Vgl. ausführlich auch Genette 1983, 7 7 - 8 9 .
5
Vgl. als einen der schärfsten Kritiker Petersen 1981, dem Stanzel 2002 nicht ganz zu Unrecht „kritischen Vampirismus" vorwirft.
6
Von der Einbettung in den Kontext aktueller Diskurse und von der Totalisierung des triadischen Aufbaus, wie sie Stanzel in der Variante von 1979 vorgenommen hat, konnte seine Theorie letztlich nicht profitieren. Die vermeintliche Modernisierung und Systematisierung hat den zugrunde liegenden Ansatz nur verunklart. Die weite Verbreitung der Stanzeischen Begriffe verdankt sich den frühen Varianten der Theorie (1955; 1964).
2. Modell der Erzählperspektive
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2. Opposition der Perspektive·. „Innenperspektive - Außenperspektive", 3. Opposition des Modus·. „Erzähler - Reflektor". Die drei „Erzählsituationen" definiert Stanzel (in der Version von 1979) mit der Dominanz jeweils eines Gliedes der drei Oppositionen: In der Ich-Erzählsituation dominiert die „Identität der Seinsbereiche", die auktoriale Erzählsituation zeichnet sich durch die „Außenperspektive" aus, und in der figuralen Erzählsituation dominiert der Modus des Reflektors. Die drei Oppositionen haben also an der Trias der Erzählsituationen nur je einmal und nur mit je einem ihrer beiden Glieder teil. Die Kombination von drei binären Oppositionen müsste indes sechs Typen ergeben. Hier ist anzumerken, dass Stanzel (1979, 189) die Kategorien „Perspektive" und „Modus" nicht hinreichend voneinander abgrenzt. So konstatiert er, dass zwischen der „Außenperspektive" und dem „durch eine Erzählerfigur dominierten Darstellungsmodus" eine „enge Korrespondenz" bestehe. Gleichwohl hält er beharrlich, offensichtlich im Bann der Idee vom triadischen Aufbau der narrativen und narratologischen Welt, an der Dreizahl der Oppositionen und Erzählsituationen fest, die er seinem labyrinthischen „Typenkreis", einer „mirifique rosace" (Genette 1983, 79), zugrunde legt. Es war offensichtlich die schwache Begründung der Trias, die Cohn (1981, 176) und Genette (1983, 78 f.) dazu veranlasste, Stanzeis Differenzierung von „Perspektive" und „Modus" als überflüssig zu verwerfen, wobei Cohn auf die erstere, die Perspektive, und Genette auf den letzteren, den Modus verzichten wollte (welcher Begriff bei Stanzel eine andere Kategorie als im System Genettes bezeichnet). Fallen „Perspektive" und „Modus" zusammen, so reduziert sich das ganze System auf jene zwei Oppositionen, die schon Stanzeis Arbeiten von 1955 und 1964 zugrunde lagen: „Identität - Nichtidentität der Seinsbereiche" und „Auktorialität - Figuralität". Wenn man eine Typologie aber auf zwei binären Oppositionen aufbaut, erhält man nicht drei vergleichbare „Erzählsituationen", sondern vier deutlich definierte Typen 7 . Dann zerfällt das „Ich-Erzählen", genau wie das Erzählen in der dritten Person, in zwei Varianten, die „auktoriale"
7
Vgl. Schrnid 1973, 27 f.; Cohn 1981,179; Genette 1983, 81.
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III. Die Erzählperspektive
und die „personale", wobei die Opposition von „auktorial" und „personal" nicht irgendwelche komplexen „Erzählsituationen" beschreibt, sondern die beiden Möglichkeiten der Perspektive. In diesem Sinne werden die Stanzeischen Begriffe „auktorial" und „personal" seit langem in der Erzähltextanalyse gebraucht.
b) G. Genette und M. Bai Genette zufolge (1972, 203-211) liegt der Typologie Stanzeis, wie fast allen Arbeiten zur Erzählperspektive, der Fehler zugrunde, dass nicht zwischen mode (der „regulation de l'information narrative"; 1972, 184) und voix unterschieden wird, d. h. es werden die Fragen vermengt: „Wer sieht?" (genauer: „Quel est le personnage dont le point de vue Oriente la perspective narrative?") und „Wer spricht?" („Qui est le narrateur)?" Unter mode unterscheidet Genette als die beiden wesentlichen Faktoren der Regulierung der Information 1) distance (worunter die platonische Opposition von Diegesis und Mimesis und ihr modernes Äquivalent telling vs. showing abgehandelt wird) und 2) perspective. Die Perspektive ist für Genette jene Regulierung der Information, die aus der Wahl (oder Nicht-Wahl) eines einschränkenden point de vue hervorgeht (1972, 203). Mit diesem reduktionistischen Verständnis von Perspektive geht Genette zurück auf die Typologie der visions, die Jean Pouillon (1946) aufgestellt hat und die dann von Tzvetan Todorov (1966,141 f.) unter dem Terminus aspects du recit erneuert wurde. Um die visuellen Konnotationen zu vermeiden, die den Termini vision, champ und point de vue anhaften, zieht Genette für das von Pouillon und Todorov beschriebene Phänomen die Bezeichnung focalisation vor8. Für diesen Begriff (der nicht geringere visuelle Assoziationen weckt als die verworfenen Termini) beruft er sich auf die von Brooks und Warren (1943) eingeführte Kategorie focus of narration. Focalisation wird von ihm (1983, 49) mit einem von Georges Blin (1954) übernommenen Begriff als „Einschränkung des Gesichtsfelds" {restriction de champ) definiert, wobei als Vergleichsmaßstab die „Allwissenheit" des Autors, d. h. die „information complete" dienen soll. Den triadi8
Zur Fokalisierung vgl. die Übersichten: Rimmon 1976; Bai 1977b; Angelet und Herman 1987,183-193; Kablitz 1988; Il'in 1996e.
2. Modell der Erzählperspektive
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sehen Typologien seiner Vorgänger folgend, unterscheidet Genette (1972, 206-211) drei Stufen der Fokalisierung 9 : Pouillon
Todorov
Genette
vision par derriere
narrateur > personnage
focalisation zero·. „der Erzähler weiß mehr als die Person, oder, genauer, er sagt mehr, als irgendeine der Personen weiß"; „was die angelsächsische Kritik die Erzählung eines allwissenden Erzählers nennt"
vision avec
narrateur = personnage
focalisation interne·. „der Erzähler sagt nur das, was die betreffende Person weiß"; „nach Lubbock das Erzählen von einem bestimmten point of view"
vision du dehors
narrateur < personnage
focalisation externe·. „der Erzähler sagt weniger, als die Person weiß"; „objektive oder behavioristische Erzählung"
Bei allem Streben Genettes nach Klarheit der Definitionen vermischen sich in seiner Trias drei Merkmale des Erzählers: 1) sein „Wissen", 2) seine Fähigkeit zur Introspektion, 3) seine Perspektive. Hinsichtlich des dritten Merkmals, das uns hier interessiert, entsprechen den drei Stufen der Fokalisierung folgende Formen der Perspektive:
9 Der Rekurs auf traditionelle Typologien, die lediglich umformuliert werden, bedingt, dass Genettes Theorie im Bereich der Perspektivik wenig Innovatives zu bieten hat. Gleichwohl ist sie, vielleicht im Sog der produktiveren Teile des Discours du redt, außerordentlich populär geworden und hat heute die Geltung eines Standardmodells.
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III. Die Erzählperspektive
1. „Nullfokalisierung": Es herrscht die Perspektive eines allwissenden Erzählers vor. 2. „Interne Fokalisierung": Das Erzählen orientiert sich an der Perspektive einer erzählten Figur. 3. „Externe Fokalisierung": Im Erzählen dominiert die Perspektive eines Erzählers, der keine Introspektion besitzt (oder diese nicht vermittelt). Genettes Triade der Fokalisierungen ist bereits mehrfach kritisiert worden. Neben der Vermengung unterschiedlicher Qualifikationen des Erzählers erweisen sich folgende Aspekte als problematisch: 1. Genette reduziert das komplexe, sich in unterschiedlichen Facetten manifestierende Phänomen der Perspektive auf ein einziges Merkmal, die bloße Einschränkung des Wissens. Der vermeintliche Gewinn an Eindeutigkeit des Begriffs wird mit einer wenig hilfreichen Verengung seiner Extension erkauft. 2. Es bleibt unklar, was unter „Wissen" verstanden wird, das allgemeine Weltwissen, das Wissen um die Handlung, ihre Umstände und Vorgeschichte oder das Wissen um das, was in einem gegebenen Moment der Geschichte im Helden vorgeht. 3. Die Perspektivierung ist mit Hilfe des wie auch immer definierten „Wissens" allein nicht zu beschreiben, denn von diesem führt kein direkter Weg zur Wahrnehmung, die ja die Voraussetzung von Perspektive bildet (Kablitz 1988, 243; vgl. schon Jost 1983, 196). Oder ist mit „Wissen" nichts anderes als das „Sehen" gemeint? Bedeutet mehr oder weniger „Wissen" lediglich geringere oder stärkere „Einschränkung des Gesichtsfelds"? Wenn das zuträfe, wäre der Begriff „Wissen" zumindest missverständlich. Aber auch mit Hilfe des „Sehens" lässt sich Perspektive noch nicht hinreichend beschreiben. 4. Genettes Begriff der „Nullfokalisierung" lässt die Möglichkeit eines Erzählens ohne Perspektive zu. Ein solches Konstrukt erscheint weni^ sinnvoll, ist Perspektive doch in jeglichem Erzählen impliziert . Auch ein allwissender Erzähler, dessen „Gesichtsfeld" im 10 Marjet Berendsen (1984, 141) bemerkt zu Recht, dass der Begriff der „Nullfokalisierung" innerlich widersprüchlich sei und dass man auf ihn verzichten müsse.
2. Modell der Erzählperspektive
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Sinne Genettes nicht im geringsten eingeschränkt ist, erzählt mit einer bestimmten Perspektive. 5. Mieke Bai (1977a, 28) merkt zu Recht an, dass die Trias nur insofern homogen sei, als in der Folge der drei Typen das Wissen des Erzählers abnehme11. Der Begriff der Fokalisierung werde aber in unterschiedlichem Sinn gebraucht, und Genettes mangelnde oder inexplizite Definition dieses Begriffs sorge für Verwirrung. Die „externe Fokalisierung" unterscheide sich von den beiden übrigen nicht durch die Perspektive, sondern durch eine Umkehrung der Funktionen. In Typus 2 sei die Person Subjekt der Fokalisierung, und Objekt sei das, was die Person wahrnehme, in Typ 3 dagegen sei die wahrnehmende Person selbst Objekt der Fokalisierung, welcher Begriff hier seine ursprüngliche Bedeutung verliere: „Dans le deuxieme type, le personnage .focalise' voit, dans le troisieme il ne voit pas, il est vu. Ce n'est pas cette fois une difference entre les instances ,voyantes' mais entre les objets de la vision"12. Eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung von Genettes Theorie spielte Mieke Bai selbst, die sie in niederländischer, französischer und englischer Sprache darlegte, kritisierte und modifizierte. Aus der Modifikation wurde im Grunde eine neue Theorie, die die Genettesche Terminologie - nicht selten mit veränderten Inhalten weiterentwickelte und zu der sich Genette (1983) insgesamt ablehnend verhielt. Bai (1985,104) definiert „focalization" (welchen Begriff sie ganz pragmatisch beibehält, wegen der sprachlichen Ableitungen, die er 11 Zur Kritik an der Inkonsistenz von Genettes Trias der Fokalisierungen vgl. auch Nünning 1990, 257 f. 12 Die hier aufscheinende Differenz von Subjekt- und Objektstatus der Figur hat Pierre Vitoux (1982) einer Typologie zugrunde gelegt, in der der Unterschied zwischen einer „objektiven" und einer „subjektiven" Fokalisierung gemacht wird (vgl. auch Angelet und Herman 1987,182-193). - Auf Bals berechtigten Vorwurf der Doppeldeutigkeit seines Fokalisierungsbegriffs, der einerseits die Konzentration auf eine Figur, anderseits das Erzählen aus ihrer Perspektive bedeute, reagiert Genette im Nouveau redt du discours (1983, 48-52) mit einem Gegenangriff: Die von Bai verwendeten Ableitungen wie z. B. personnage focalise seien nicht mit seiner Auffassung der Sache zu vereinbaren. Obwohl Genettes Kritik an Bals Begriffen Recht zu geben ist (s. dazu auch unten), endastet ihn der Gegenangriff keineswegs von den von Bai angemerkten Inkonsistenzen seiner Theorie.
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III. Die Erzählperspektive
erlaubt, wie z. B. focalizer, to focalize) als „the relationship between the .vision', the agent that sees, and that which is seen". Zur großen Unzufriedenheit Genettes (1983, 46-52) postuliert Bai (1977a) für die Fokalisierung ein eigenes Subjekt, den Fokalisator, den sie zwischen dem Erzähler und der Person platziert und dem sie eine eigene Aktivität zuschreibt: Chaque instance [le narrateur, le focalisateur et l'acteur] realise le passage d'un plan ä un autre: l'acteur, utilisant Taction comme materiau, en fait l'histoire; le focalisateur, qui selectionne les actions et choisit Tangle sous lequel il les presente, en fait le recit, tandis que le narrateur met le recit en parole: il en fait le texte narratif. (Bai 1977a, 32 f.) Dem Fokalisator stellt Bai sogar einen Adressaten gegenüber, den „spectateur" implicite (1977a, 33; 1977b, 116), ja sie setzt für die beiden Instanzen eine eigene Kommunikationsebene an. Neben dem Subjekt und dem Adressaten der Fokalisierung führt sie auch ein eigenes Objekt ein, le focalise (1977a, 33), als das eine erzählte Person oder die sie umgebende Welt fungieren können. Gegen eine solche „Emanzipation" des „Fokalisators" und die Ausstattung der Fokalisierung mit einer kommunikativen Funktion hat sich überzeugend W . J. M. Bronzwaer (1981) gewandt. Nach Genette (1983, 48) kann „fokalisiert" nur eine Erzählung sein, und „fokalisieren" kann nur der Erzähler. Die Verselbständigung der Fokalisierung zu einem eigenen kommunikativen Akt mit einem Subjekt, einem Objekt und einem Adressaten ist gewiss eine problematische Seite in Mieke Bals früher, in französischer Sprache publizierter Theorie. Die Idee einer besonderen Aktivität des „Fokalisators" ist, ebenso wie die eines eigenen Adressaten der Fokalisierung, glücklicherweise in Narratology (Bai 1985) aufgegeben. Hier begegnet der Begriff des focalizer zwar immer noch, aber er wird wesentlich vorsichtiger und als „the point from which the elements are viewed" (1985, 104) nicht instanzen- oder kommunikationsbezogen definiert. Dieser Punkt befindet sich entweder in einer der handelnden Figuren (internal focalization) oder in einem „anonymous agent, situated outside the fabula" (external focalization). Die Fokalisierung bezeichnet damit eine Dichotomie von Perspektivmöglichkeiten, die sich nicht mehr wesentlich von der traditionellen Dichotomie Innensicht - Außensicht unterscheidet.
2. Modell der Erzählperspektive
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c) B. A. Uspenskij, J. Lintvelt und Sh. Rimmon Einen entscheidenden Beitrag zur Modellierung der Perspektive hat der russische Philologe und Semiotiker Boris Uspenskij in seinem Buch Poetik der Komposition (1970) geleistet. Bald ins Französische (1972), Englische (1973) und Deutsche (1975) übersetzt und vielfach besprochen, sowohl in Russland 13 als auch im Westen 14 , hatte das Buch eine starke Wirkung auf die internationale Narratologie 15 . Beeinflusst vom Russischen Formalismus und gestützt auf die Arbeiten Viktor Vinogradovs, Grigorij Gukovskijs, aber auch Michail Bachtins und Valentin Volosinovs, förderte Uspenskij die Erforschung der Perspektive durch ein Modell, das neben der Literatur auch andere darstellende Künste, z. B. die Malerei und den Film, erschließt. Damit schloss Uspenskij nicht nur eine Lücke in der russischen Erzählforschung, in der Probleme des Stand- oder Blickpunkts auffallend wenig beachtet worden waren, sondern gab auch der westlichen Theorie, die seit jeher den Phänomenen der Perspektivierung besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, einen entscheidenden Impuls. Die Innovation der Poetik der Komposition besteht vor allem darin, dass für die Perspektive ein Stratifikationsmodell entworfen wird, d. h. ein Modell, das für die Perspektive mehrere Ebenen der Manifestation vorsieht. Im Gegensatz zur traditionellen Modellierung, die die Perspektive in der Regel nur auf einer Ebene betrachtet, unterscheidet Uspenskij vier Ebenen, auf denen sich Perspektive manifestiert 16 :
13 Die offizielle Aufnahme dieses ersten Bandes der Reihe Semiotiscbe Untersuchungen zur Theorie der Kunst war in der Sowjetunion erwartungsgemäß recht kühl (man muss sich wundern, dass er überhaupt erscheinen konnte). Lesenwert sind allerdings die Besprechungen von: Segal 1970; Gurvic 1971; Chanpira 1971. 14 Vgl. bes.: Drozda 1971; Schmid 1971; Zötkiewski 1971; 1972; de Valk 1972; Mathauserova 1972; Todorov 1972; Foster 1972; Shukman 1972; Steiner 1976; Lintvelt 1981,167-176. 15 Vgl. etwa die Arbeiten von Lintvelt 1981; Rimmon 1983. 16 Uspenskij (1970, 12) beruft sich hierbei auf das am Ende der vierziger Jahre geschriebene Buch G. Gukovskijs Der Realismus Gogol's (1959, 200), wo sich ein „Hinweis auf die Möglichkeit einer Differenzierung von psychologischer, ideologischer und geographischer Perspektive" finde.
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III. Die Erzählperspektive
1. Die Ebene der „Wertung" oder der „Ideologie", auf der der „Wertungsstandpunkt" oder die „ideologische Perspektive" figuriert. 2. Die Ebene der „Phraseologie". 3. Die Ebene der „raum-zeitlichen Charakteristik". 4. Die Ebene der „Psychologie". Auf jeder dieser Ebenen kann, so Uspenskij, der „Autor" die Geschehnisse von zwei verschiedenen „Standpunkten" aus darbieten17, von seinem eigenen, den Geschehnissen gegenüber „äußeren" Standpunkt oder von einem „inneren" Standpunkt, d. h. aus der Position einer oder mehrerer der dargestellten Figuren. Die Differenzierung der beiden Standpunkte bildet eine fundamentale Opposition, die Uspenskij auf allen vier Ebenen der Perspektive ansetzt. Bei der Anwendung der Opposition Innen vs. Außen auf die vier Ebenen gelangt Uspenskij allerdings zu einigen bestreitbaren Befunden, da er die Inhalte der beiden Begriffe verschiebt. So betrachtet er auf der Ebene der Phraseologie eine „naturalistische Reproduktion ausländischer oder inkorrekter Rede" als Einnahme eines „gegenüber der beschriebenen Person bewusst äußeren Standpunkts", und eine „Annäherung an den inneren Standpunkt" sieht er dort, wo „sich der Schriftsteller nicht auf die äußerlichen Besonderheiten der Rede konzentriert, sondern auf ihren Inhalt [...], indem er [...] spezifische Phänomene der Rede auf die Ebene einer neutralen Phraseologie überführt" (1970, 71; dt. 1975, 6318). Hier findet eine Verschiebung der Intensionen von Innen und Außen statt oder ein Austausch der Opposition der Standpunkte durch die Opposition von Fremd- oder Außenwahrnehmung und Selbst- oder Innenwahrnehmung. Auf der Ebene der Phraseologie ist die genaue Reproduktion der Rede der Figur sinnvollerweise nicht dem Außenstandpunkt, sondern dem Innenstandpunkt zuzuordnen.
17 Unter „Autor" versteht Uspenskij meistens den Erzähler. Wie allgemein im russischen Kontext üblich, spricht Uspenskij von „Erzähler" nur im Fall einer als Person deutlich profilierten Erzählinstanz. Wo im Weiteren mit „Autor" der Erzähler gemeint ist, wird stillschweigend korrigiert. 18 Auch dort, wo auf die deutsche Ausgabe verwiesen wird, ist der Text von mir neu übersetzt worden.
2. Modell der Erzählperspektive
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Auf der psychologischen Ebene tritt das auch aus anderen Typologien bekannte Problem der Ambivalenz der Außen-Innen-Opposition auf. In Uspenskijs Definitionen und Beispielen hat der Ausdruck „Innenstandpunkt auf der Ebene der Psychologie" zwei unterschiedliche (aber nicht explizierte) Bedeutungen: 1) die Darstellung der Welt mit den Augen oder durch das Prisma einer oder mehrerer der dargestellten Figuren (das Bewusstsein ist hier Subjekt der Wahrnehmung), 2) die Darstellung des Bewusstseins einer Figur vom Standpunkt eines Erzählers, der die Fähigkeit zur Introspektion besitzt (das Bewusstsein ist hier Objekt der Wahrnehmung). Die Stratifikation des Standpunkts wird, wie Uspenskij ausdrücklich anmerkt, dadurch erschwert, dass die Ebenen nicht völlig unabhängig voneinander existieren, sondern sich manchmal überschneiden. So kann die Wertung durch phraseologische Mittel, aber auch durch die zeitliche Position des Erzählers ausgedrückt werden, ähnlich wie durch die Phraseologie auch der psychologische Standpunkt realisiert werden kann. Besonders interessant sind Uspenskijs Beobachtungen zu den „Wechselbeziehungen" zwischen den Standpunkten auf unterschiedlichen Ebenen. Die Standpunkte fallen auf den unterschiedenen Ebenen in der Regel zusammen, d. h. auf den vier Ebenen orientiert sich das Erzählen entweder nur am äußeren oder nur am inneren Standpunkt. Aber ein solcher Zusammenfall ist nicht notwendig. Der Standpunkt kann durchaus auf bestimmten Ebenen ein äußerer und auf den anderen ein innerer sein. Es ist gerade diese Inkongruenz, die eine Stratifizierung der Manifestationsebenen des Standpunkts rechtfertigt, ja erforderlich macht. Die an Werken der russischen Klassiker vorgenommene Demonstration der Inkongruenzen der ideologischen und raum-zeitlichen Ebene einerseits und der psychologischen und phraseologischen anderseits ist das Herzstück in Uspenskijs Buch, und viele Rezensenten sehen in dieser Analyse sein größtes Verdienst. Jedoch lässt die mangelnde intensionale Klärung und inkonsequente Behandlung der Außen-Innen-Dichotomie manche Schlussfolgerung fragwürdig werden. So handelt es sich zum Beispiel bei der ironischen Zitierung einer Figurenrede durch den Erzähler nicht einfach um eine Inkongruenz von innerem phraseologischem Standpunkt
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III. Die Erzählperspektive
und äußerem ideologischem Standpunkt, wie Uspenskij (1970, 137; dt. 1975, 118 ff.) postuliert. Insofern sich in der zitierten Rede die Position der Figur kundtut, ist die wörtliche Wiedergabe mit einer Orientierung am inneren Standpunkt auf der Ebene der Ideologie verbunden. Insofern aber diese Rede auf einer höheren Kommunikationsebene, d. h. im Text des Erzählers, zusätzliche, für die sprechende Figur fremde Akzente enthält, kann man von einer äußeren ideologischen Position sprechen. Auf diese Weise erhalten wir einen doppelten Wertungsstandpunkt, einen primären inneren und einen sekundären äußeren, der auf dem primären als seinem Substrat aufbaut. Der Erzähler nimmt, indem er die Rede der Figur nicht paraphrasiert, sondern wörtlich, mit allen Eigentümlichkeiten wiedergibt, zu ihr einen inneren Standpunkt ein, und zugleich signalisiert er durch den Kontext, dass er selbst, der Erzähler, die reproduzierte Rede anders bewertet als die sprechende Figur, d. h. einen gegensätzlichen ideologischen Standpunkt einnimmt. Somit beruht die Ironie nicht einfach auf einem äußeren Standpunkt auf der Ebene der Wertung, sondern auf der gleichzeitigen Präsenz und Interferenz zweier Wertungspositionen, einer inneren und einer äußeren. Uspenskijs Analyse der Beispiele für die Inkongruenz von ideologischem und psychologischem oder von raum-zeitlichem und psychologischem Standpunkt leidet unter der oben beschriebenen Ambivalenz des Begriffs „psychologischer Innenstandpunkt". Wenn der Erzähler der Brüder Karamazov den alten Fedor Karamazov „von innen" beschreibt, nimmt er nicht notwendigerweise einen inneren psychologischen Standpunkt ein. Der Erzähler kann durchaus volle Introspektion in den inneren Zustand eines Helden haben und ihn gleichwohl von einem äußeren Standpunkt aus beschreiben. Auch hier verwechselt Uspenskij Introspektion und Perspektive. Eine Innensicht im Sinne der Perspektive setzte voraus, dass die Welt mit den Augen Fedor Karamazovs wahrgenommen würde. Von einer Innenperspektive bei der Darstellung des inneren Zustande eines Helden könnte also nur dann die Rede sein, wenn der Erzähler die Selbstwahrnehmung dieser Figur, also die Wahrnehmung der innersten Seelenregungen durch den Helden selbst gestaltete. Gerade dieses Verfahren aber wird auf Fedor Karamazov, der nie Reflektor wird, nicht angewandt.
2. Modell der Erzählperspektive
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Eine tatsächliche Inkongruenz der Standpunkte begegnet allerdings dort, wo der Erzähler die Welt vom räum-zeitlichen Standpunkt der Figur (innerer Standpunkt) beschreibt, nicht aber ihre Wahrnehmung inszeniert, sondern auf der Ebene der Psychologie einen äußeren Standpunkt einnimmt. Als Beispiel dafür führt Uspenskij (1970, 142 f.; dt. 1975, 123 f.) die Beschreibung des Zimmers des Hauptmanns Lebjadkin in Dostoevskijs Dämonen an. Das Zimmer wird, wie Uspenskij konstatiert, vom räumlichen Standpunkt Stavrogins beschrieben, dem der Erzähler schon vorher gefolgt ist, aber es wird nicht „mit den Augen" Stavrogins gesehen (d. h. mit seiner Selektion der Momente des „setting" dargeboten), sondern so, wie es ein aufmerksamer Beobachter aus dem raumzeitlichen Standpunkt Stavrogins wahrgenommen hätte. Ungeachtet einiger Inkonsistenzen und problematischer Interpretationen, vor allem der Opposition von Außen und Innen19, bedeutete Uspenskijs Modell einen entscheidenden Fortschritt, insofern es die Perspektive als ein Phänomen mehrerer Ebenen darstellte. Seine Theorie gab den Anstoß zur Ausarbeitung weiterer Mehrschichtenmodelle. Der niederländische Romanist Jaap Lintvelt (1981, 39) hat ein Modell vorgeschlagen, das ebenfalls vier Ebenen umfasst, diese aber etwas anders als Uspenskij definiert. Lintvelt unterscheidet: 1) eine „perzeptiv-psychische" Ebene {plan perceptif-psycbique), 2) eine „zeitliche" Ebene {plan tempore/), 3) eine „räumliche" Ebene {plan spatial·) und 4) eine „verbale" Ebene (plan verbal). Das Phänomen der 19 Höchst problematisch ist ζ. B. die Illustration der erlebten Rede (die - etwas reduktionistisch - als „Verschmelzung unterschiedlicher Standpunkte auf der Ebene der Phraseologie" definiert wird) durch den bekannten Ausspruch des Dieners Osip in Nikolaj Gogol's Komödie Der Revisor (Revizor): „Der Wirt sagte, dass ich euch nichts zu essen gebe, bis ihr das Frühere bezahlt" (TpaKTwpmMK CKa3aji, HTO HeflaMBaM ecn., noxa He 3arijiaTMTe 3a npexcHee). Das ist keineswegs ein „klassisches Beispiel" für erlebte Rede, sondern eine - im Deutschen nicht zulässige Kontamination von direkter und indirekter Rede, die man als eine Form der freien indirekten Rede auffassen kann (siehe dazu unten, IV3.h). In erlebter Rede (in der die Einleitungsworte fehlen) lautete der Satz: „Der Wirt gab ihnen nichts zu essen, bis sie für das Frühere bezahlten" (TpaxTiipmMK HeflacTMM ecn., noxa He 3armaTHT 3a npeatHee . Wörtliche Übersetzung der russischen erlebten Rede, die das Tempus der Figur benutzt: „Der Wirt wird ihnen nichts zu essen geben, bis sie für das Frühere bezahlen").
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III. Die Erzählperspektive
Erzählperspektive (perspective narrative) verortet Lintvelt allerdings nur in der ersten, der „perzeptiv-psychischen" Ebene. Die drei anderen Ebenen sind für ihn nicht mehr solche der Perspektive, sondern allgemeiner categories narratives. Insofern modifiziert er Uspenskijs Stratifikationsmodell. Wie schon Genette, der von mode und voix nur die erste Kategorie als Phänomen der Perspektive anerkennt, scheidet Lintvelt die Ebene der sprachlichen Realisierung des Diskurses aus den perspektivischen Fakten aus. Und wo bleibt bei ihm Uspenskijs „Wertung" oder „Ideologie"? Sie scheint ihm, wie er ausführt, nicht isolierbar zu sein, sondern aus den genannten vier Ebenen zu resultieren. Shlomit Rimmon-Kenan (1983, 77-85) unterscheidet drei „Facetten der Fokalisierung": 1) die „perzeptive" Facette [perceptual facet), die durch die Koordinaten Raum und Zeit definiert ist, 2) die „psychologische" Facette (psychological facet), für die die „kognitive und emotionale Einstellung des Fokalisators zum Fokalisierten" maßgebend ist, 3) die „ideologische" Facette (ideological facet). Uspenskij folgend, betrachtet Rimmon-Kenan die „Wechselbeziehungen zwischen den unterschiedenen Facetten" und konzediert die Möglichkeit, dass die Facetten unterschiedlichen Fokalisatoren 20
zugeordnet sind . Wo aber bleibt bei ihr Uspenskijs „Ebene der Phraseologie"? Offensichtlich in der Absicht, nicht mit Genettes Unterscheidung von „Stimme" („Wer spricht?") und „Modus" („Wer sieht?") in Konflikt zu geraten, klammert Rimmon-Kenan die Sprache aus dem Bereich der Perspektive aus und gesteht ihr nicht den Status einer eigenen Facette zu, sondern nur den eines begleitenden „verbal indicator of focalization" (1983, 82). 2. Modell der Erzählperspektive Was könnte und sollte „Erzählperspektive" im narratologischen Sinne bedeuten? Perspektive sei hier definiert als der von inneren und 2 0 Bei der Illustration der Inkongruenz zwischen der psychologischen und ideologischen Facette am Beispiel Fedor Karamazovs, der psychologisch „von innen" gezeigt werde, aber als unsympathische Figur dargestellt sei (also „von außen" bewertet werde), unterläuft Rimmon-Kenan dieselbe Verwechslung von subjektivem und objektivem Aspekt der Psychologie wie Uspenskij.
2. Modell der Erzählperspektive
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äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen eines Geschehens. Diese Definition wird im Folgenden in drei Schritten erläutert. a) Geschehen als Objekt der Perspektive Beginnen wir mit dem letzten Begriff der Definition, dem Geschehen. Im Gegensatz zu den meisten Modellen narrativer Operationen, die die Existenz einer Geschichte ohne Perspektive vorsehen, wird hier davon ausgegangen, dass die Perspektive nicht auf eine schon konstituierte Geschichte angewendet wird, sondern auf das ihr zugrunde liegende Geschehen. Ohne Perspektive gibt es keine Geschichte. Eine Geschichte konstituiert sich überhaupt erst dadurch, dass das amorphe, kontinuierliche Geschehen einer selektierenden und hierarchisierenden Hinsicht unterworfen wird21. Wie schon oben (1.1) ausgeführt, ist eine der Prämissen der vorliegenden Arbeit, dass jegliche Darstellung von Wirklichkeit in den Akten der Auswahl, Benennung und Bewertung der Geschehensmomente Perspektive impliziert. Die für eine Geschichte konstitutive Rolle der Perspektive gilt auch für faktuales Erzählen. Man kann nicht von einer realen Begebenheit erzählen, ohne aus der prinzipiell unendlichen Menge von Momenten und Eigenschaften, die der Begebenheit zugesprochen werden können, eine begrenzte Anzahl auszuwählen. Die Auswahl aber ist immer von einer Perspektive geleitet. Der Unterschied zwischen faktualem und fiktionalem Erzählen besteht darin, dass das Geschehen im ersteren real ist und im zweiten nur als Implikat der fiktiven Geschichte existiert.
b) Erfassen und Darstellen In der oben vorgeschlagenen Definition der Perspektive werden zwei Akte unterschieden: das Erfassen und das Darstellen von Geschehen. Diese Unterscheidung ist deshalb erforderlich, weil ein Er21 Zur Opposition von Geschehen und Geschichte und zum Ort der Perspektive im Modell der narrativen Transformationen siehe unten, Kap. V.
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III. Die Erzählperspektive
zählcr ein Geschehen anders darstellen kann, als er es erfasst oder erfasst hat. Wo eine solche Inkongruenz von Erfassen und Darstellen vorliegt, gibt der Erzähler nicht wieder, was und wie er selbst wahrgenommen hat, sondern reproduziert die subjektive Wahrnehmung einer oder mehrerer der erzählten Figuren. Solche Inkongruenz von Erfassen und Darstellen, die charakteristisch ist für fiktionales Erzählen und die im faktualen Erzählen nur ausnahmsweise begegnet, wird zum Merkmal der figuralen Narration, die in der europäischen Literatur seit der Empfindsamkeit zu einem Hauptmodus der Wirklichkeitsdarstellung geworden ist. Erfassen und Darstellen sind unterschiedliche Akte des Erzählens. In den verbreiteten Modellen der Perspektive wird diese Unterscheidung in der Regel nicht gemacht oder nicht gebührend berücksichtigt . Die von Genette eingeführte Unterscheidung von mode oder vision (Wer sieht?) und voix (Wer spricht?) hat Berührungspunkte mit der Dichotomie von Erfassen und Darstellen, ist jedoch mit ihr nicht identisch und wird im Übrigen bei Genette nicht konsequent durchgeführt. Daran hindert Genette schon die Identifizierung des „extradiegetischen" Erzählers mit dem Autor (s. o.), was für einen solchen Erzähler die Möglichkeit eines eigenen Erfassens (in der fiktiven, dargestellten Welt) von vornherein ausschließt. Vision ist bei Genette das Privileg der Figur. Deshalb kann er auch die Existenz von etwas derartigem wie einer „Nullfokalisierung" postulieren.
c) Parameter der Perspektive Oben wurde unterstellt, dass Erfassen und Darstellen durch äußere und innere Faktoren bedingt sind. Diese Faktoren sind unterschiedlichen Parametern, Aspekten oder Facetten zugeordnet, in denen sich das Phänomen der Perspektive auf je eigene Weise manifestieren kann. Um die Parameter der Perspektive zu differenzieren, in 22 Allerdings hat schon Kristin Morrison (1961) darauf aufmerksam gemacht, dass bei H. James und P. Lubbock die Perspektive auf zwei unterschiedliche Instanzen bezogen ist, einerseits auf den Erzähler („speaker of the narrative words"), anderseits auf die wahrnehmenden Figur, den Reflektor („knower of the narrative story") (vgl. dazu Stanzel 1979, 22; Martinez/Scheffel 1999, 63).
2. Modell der Erzählperspektive
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denen eigene Faktoren des Erfassens und Darstellens auftreten können, führen wir ein Gedankenexperiment durch. Stellen wir uns Zeugen eines Autounfalls vor, die vor Gericht Aussagen über das von ihnen erfasste Geschehen machen sollen. Jeder der Zeugen wird möglicherweise eine eigene Version des Geschehenen vortragen, d. h. eine eigene Geschichte des Unfalls erzählen. Selbst bei äußerstem Streben der Zeugen nach Objektivität können ihre Aussagen einander widersprechen, und zwar nicht nur deshalb, weil die Zeugen das Geschehene unterschiedlich deutlich erinnern. Die Abweichung der Aussagen gründet bereits in der je spezifischen Wahrnehmung des Geschehens, d. h. in einer unterschiedlichen Auswahl der Fakten und in einer eigenen Gewichtung der Umstände. 1. Räumliche Perspektive Wenn die Zeugen das Geschehen unterschiedlich wahrgenommen haben, kann das zunächst durch ihren räumlichen Standpunkt bedingt gewesen sein. Je nach der räumlichen Position zum Unfallgeschehen und abhängig vom Blickwinkel werden die Zeugen unterschiedliche Momente der Wirklichkeit wahrgenommen und zu Momenten ihrer Geschichte gemacht haben. Ein Zeuge mag gesehen haben, dass ein Beteiligter vor dem Unfall ein Blinksignal gegeben hat, was einem anderen aufgrund seines Standorts entgehen musste. Die räumliche Perspektive wird konstituiert durch den Ort, von dem aus das Geschehen wahrgenommen wird, mit den Restriktionen des Gesichtsfelds, die sich aus diesem Standpunkt ergeben. Der Begriff der räumlichen Perspektive erfüllt als einziger der Termini, die einen Bezug des Erfassens und Darstellens auf ein Subjekt ausdrücken, die Intension von Perspektive oder point of view im eigentlichen, ursprünglichen Sinne des Wortes. Alle anderen Verwendungen des Perspektivbegriffs sind mehr oder weniger metaphorisch. 2. Ideologische
Perspektive
Die Wahrnehmungen der Zeugen können auch dann divergieren, wenn diese ein und denselben räumlichen Standpunkt einnehmen und ein und dasselbe Gesichtsfeld haben. Der Unterschied im Erfassen des Geschehens kann nämlich auf unterschiedliche ideologi-
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III. Die Erzählperspektive
sehe Perspektiven zurückgehen. Die ideologische Perspektive umfasst verschiedene Faktoren, die das subjektive Verhältnis des Beobachters zu einer Erscheinung bestimmen: das Wissen, die Denkwei23
se, die Wertungshaltung, den geistigen Horizont . Abhängig von diesen Faktoren werden Beobachter je andere Momente des Geschehens fokussieren und infolgedessen unterschiedliche Geschichten bilden. So ist das Erfassen geprägt vom Wissen. Ein junger Mann, der sich mit Automobilen und Verkehrsregeln bestens auskennt, wird in einem Verkehrsunfall andere Details und Umstände erfassen als eine ältere Dame, die nie ein Automobil gelenkt hat. Das Erfassen ist natürlich auch von der Wertungshaltung beeinflusst. Zwei junge Leute, die gleiches Wissen um Automobile und Verkehrsregeln haben, aber unterschiedlicher verkehrspolitischer Ansichten sind, werden aufgrund ihrer unterschiedlichen Wertungshaltungen unterschiedliche Facetten desselben Unfallgeschehens erfassen und die Beteiligung von Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern am Unfallgeschehen unterschiedlich wahrnehmen. Die unterschiedliche Wahrnehmung eines und desselben Geschehens durch verschiedene Zeugen aufgrund der Differenz ihrer Wertungshaltung und Lebensinteressen wird anschaulich in Karel Capeks Erzählung Der Dichter (Bäsnik) aus dem Zyklus Erzählungen aus der einen Tasche (Povidky ζ jedne kapsy) illustriert. Ein Autofahrer überfährt im nächtlichen Prag eine Straßenpassantin und begeht Fahrerflucht. Bei der Befragung der Zeugen ergibt sich, dass sie am Unfallgeschehen durchaus Unterschiedliches wahrgenommen haben, dass aber keiner von ihnen das Kennzeichen des Fahrzeugs angeben kann. Der Polizist, der der Verletzten zu Hilfe geeilt ist, hat nicht auf das Automobil geachtet. Der Student der Ingenieurwissenschaften hat, ganz auf das Motorgeräusch konzentriert, sogleich bemerkt, dass es sich um einen Viertakter Verbrennungsmotor handelte, hat aber das Kennzeichen nicht angesehen und kann nicht einmal Angaben zu Farbe und Form des Wagens ma23 In den internetgestützten Diskussionen der Forschergruppe Narratologie hat Fotis Jannidis (2004) angemerkt, meine „ideologische" Perspektive umfasse zu viele Aspekte, die differenziert werden müssten in „Wissen, Denkweise, Wertungshaltung, geistigen Horizont". Das ist bei Bedarf, d. h. wenn ein Werk solche Differenzierung tatsächlich erfordert, durchaus möglich. Ich sehe aber keine Notwendigkeit, diese Differenzierung generell vorzunehmen.
2. Modell der Erzählperspektive
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chen. Mit Automarken kennt er sich im Übrigen auch nicht aus. Und sein Freund, der Poet, der ebenfalls Zeuge war, kann nur Aussagen über die „Stimmung" der nächtlichen Straße mit dem auf dem Asphalt liegenden Unfallopfer machen. Aus den Bildern des von ihm unmittelbar nach dem Unfall verfassten Gedichts, „Schwanenhals, weibliche Brust, Trommel mit Schellen", gelingt es ihm jedoch, das unbewusst registrierte Autokennzeichen zu rekonstruieren: Es enthält die Ziffern 235. Die Ausgliederung einer eigenen ideologischen Perspektive könnte auf Einwände stoßen. Nicht dass die Ideologie perspektivisch irrelevant wäre, nein, Probleme bereitet die Tatsache, dass sie auch an anderen Facetten der Perspektive teilhat. Deshalb hat Lintvelt (1981, 168) gegen Uspenskij zu bedenken gegeben, dass seine Ebene der „Wertung" von den übrigen nicht zu isolieren sei. In seinem eigenen Modell versucht er, ohne die ideologische Ebene auszukommen, da sie, wie er argumentiert, in den übrigen Ebenen teilweise schon enthalten sei. Tatsächlich kann in den anderen Aspekten der Perspektive Wertung oder Ideologie impliziert sein. Aber sie kann auch unabhängig von anderen Facetten auftreten, in der Form direkter, expliziter Wertung. Deshalb erscheint die Ausgliederung einer selbständigen ideologischen Perspektive sinnvoll und notwendig. 3. Zeitliche Perspektive Wenn die Zeugen in unserem Gedankenexperiment ihre Aussagen zu unterschiedlichen Zeitpunkten machen, kommt die zeitliche Perspektive ins Spiel. Die zeitliche Perspektive bezeichnet den Abstand zwischen dem ursprünglichen Erfassen und späteren Erfassens- und Darstellungsakten. Unter „Erfassen" wird hier nicht nur der erste Eindruck verstanden, sondern auch seine spätere Verarbeitung und Interpretation24. Welche Folgen hat eine Verschiebung des Standpunkts auf der Zeitachse? Während eine räumliche Verschiebung mit der Veränderung des Wahrnehmungsfeldes verbunden sein kann, tritt mit der
24 Für die zeitliche Perspektive ist also nicht nur die Distanz zwischen (erstem) Erfassen und Darstellen relevant, sondern auch der Abstand zwischen den unterschiedlichen Phasen der Verarbeitung.
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III. Die Erzählperspektive
zeitlichen Verschiebung möglicherweise eine Veränderung im Wissen und Bewerten ein. Mit zeitlichem Abstand vom Geschehen kann das Wissen um die Gründe und Folgen zunehmen, und das kann zu einer veränderten Bewertung des Geschehens führen. Ein Zeuge, der bei seiner ersten Aussage mit Automobilen und Verkehrsregeln nicht vertraut war, aber inzwischen seine Kenntnis erweitert hat, kann frühere Eindrücke revidieren und bestimmten Details des Geschehens, die er zwar wahrgenommen hat, aber nicht richtig deuten konnte, eine neue Bedeutung geben. Mit wachsender zeitlicher Distanz zwischen dem ersten Erfassen (oder einer späteren Interpretation des ersten Eindrucks) und der Wiedergabe kann sich das Wissen des Zeugen indes auch vermindern, wenn der Zeuge im Laufe der Zeit einzelne Fakten vergisst (wie das in der Regel mit jenen Momenten geschieht, die in die wahrgenommene Geschichte nicht fest integriert sind). Auch für die zeitliche Perspektive stellt sich die Frage, wie sehr die Ausgliederung eines eigenen Parameters gerechtfertigt ist. Denn für die Perspektive ist nicht die Zeit als solche relevant, sondern nur als Träger von Veränderungen im Wissen und Bewerten. Gerade aber hinsichtlich dieser Rolle kann man die Frage, ob die zeitliche Distanz ein Faktor ist, der das Erfassen und Darstellen beeinflusst, nur positiv beantworten. 4. Sprachliche
Perspektive
Ein Zeuge kann in seinen Aussagen unterschiedliche sprachliche Register verwenden. Er kann bei seiner Wiedergabe des von ihm Erfassten Ausdrücke und Intonationen gebrauchen, die seinem damaligen Wissen und Bewerten, seinem inneren Zustand während des Geschehens entsprechen, oder aber Ausdrucksformen, in denen sich ein veränderter innerer Zustand oder ein verändertes Wissen und Bewerten kundtun. In dieser Wahl manifestiert sich die sprachliche Perspektive. Der Terminus sprachliche Perspektive ist natürlich hochmetaphorisch. Hier erreicht die in den Perspektivtheorien waltende Tendenz zu übertragener Wortverwendung ihren Höhepunkt. Das ist gleichwohl kein Grund, die Sprache aus den perspektivischen Fakten auszuscheiden, wie das in mancher Theorie geschieht (explizit z. B. bei Rimmon-Kenan 1983, 82). Perspektivisch relevant sind in der Sprache vor allem die Teilbereiche Lexik,
2. Modell der Erzählperspektive
135
Syntax und Sprachfunktion, weniger die Morphologie (wenn man von dem Fall falscher Grammatik als eines bewusst eingesetzten Merkmals zur Charakterisierung von Erzähler- oder Figurenrede absieht). Eine besondere Bedeutung erlangt die sprachliche Perspektive bei nichtdiegetischen Erzählern. Sie stehen vor der Wahl, ein Geschehen in ihrer eigenen Sprache wiederzugeben oder in der Sprache einer der erzählten Figuren (oder eines Milieus). Der Unterschied zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen spielt hier keine wesentliche Rolle. In jeder alltäglichen nichtdiegetischen Erzählsituation muss der Erzähler entscheiden, ob er in eigener Sprache erzählt oder in den Begriffen und im Duktus betroffener dritter Personen. Die Abgrenzung der sprachlichen Perspektive von der ideologischen ist manchmal problematisch. Die unterschiedlichen Benennungen Napoleons in Krieg und Frieden („Buonaparte" - „Bonaparte" - „Napoleon" - „l'empereur Napoleon"), die Uspenskij (1970, 40-46; dt. 1975, 37-41) als Beispiel für den „Standpunkt auf der Ebene der Phraseologie" anführt, differieren nicht nur sprachlich, sondern auch in der Bewertung. Es gibt jedoch auch lexikalische und syntaktische Mittel, in denen die Wertungsposition weit weniger stark ausgedrückt wird, als das oft bei Benennungen der Fall ist. Schon das ist ein Grund dafür, die ideologische und die sprachliche Perspektive zu unterscheiden. In unserm Gedankenexperiment haben wir die sprachliche Perspektive nicht auf das Erfassen eines Geschehens bezogen, sondern auf die Darstellung (die Aussage vor Gericht). Der Parameter der Sprache hat jedoch auch für die Wahrnehmungen Relevanz, denn wir nehmen die Wirklichkeit in Kategorien und Begriffen aus dem semantischen System einer bestimmten Sprache wahr. Die fiktionale Literatur geht zumindest davon aus, dass der Held, der ein Geschehen wahrnimmt, seinen Eindruck in einer Rede artikuliert, und sei es auch nur in einer inneren. Darauf gründet die Wiedergabe der Wahrnehmung einer Figur in direkter innerer Rede. Die Sprache wird durch den die Wahrnehmung wiedergebenden Erzähler nicht hinzugefügt, sondern existiert schon im Wahrnehmungsakt selbst, vor seiner Wiedergabe. Insofern ist die sprachliche Perspektive auch für das Erfassen eines Geschehens relevant.
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III. Die Erzählperspektive
5. Perzeptive Perspektive Der wichtigste Faktor, der die Wahrnehmung des Geschehens bestimmt und oft mit der Erzählperspektive überhaupt identifiziert wird, ist das Prisma, durch das das Geschehen wahrgenommen wird. Auf die perzeptive Perspektive zielen Fragen wie „Mit wessen Augen blickt der Erzähler auf die Welt?" oder „Wer ist für die Auswahl dieser und nicht anderer Momente des Geschehens für die Geschichte verantwortlich?" In faktualen Texten wird der Erzähler lediglich seine eigene Wahrnehmung wiedergeben, wobei er allerdings zwischen dem Erfassen seines früheren erzählten Ich und dem seines jetzigen erzählenden Ich wählen kann. Im Unterschied dazu kann der Erzähler eines fiktionalen Textes eine fremde perzeptive Perspektive übernehmen, d. h. die Welt durch das Prisma einer Figur darstellen. Die Darstellung der Welt, wie sie von einer Figur wahrgenommen wird, setzt die Introspektion des Erzählers in das Bewusstsein der Figur voraus. Die Umkehrung ist freilich nicht zulässig: Die Introspektion in das Bewusstsein der Figur ist durchaus auch dort möglich, wo der Erzähler nicht durch das Prisma der Figur erzählt. Der Erzähler kann das Bewusstsein einer Figur beschreiben, ohne ihre perzeptive Perspektive zu übernehmen. Fedor Karamazov wird, wie wir gesehen haben, „innerlich" beschrieben, aber keineswegs durch das Prisma seiner eigenen Wahrnehmung. Introspektion in das Innere einer Figur und die Übernahme der perzeptiven Perspektive der Figur sind, wie oft sie in Perspektivtheorien auch vermengt werden mögen (worauf oben mehrfach hingewiesen wurde), zwei durchaus verschiedene Dinge. Im ersten Fall ist die Figur, genauer ihr Bewusstsein, das Objekt der Wahrnehmung des Erzählers, im zweiten Fall ist sie das Subjekt oder das Prisma der Wahrnehmung, durch die der Erzähler die erzählte Welt entwirft. Die perzeptive Perspektive fällt häufig mit der räumlichen zusammen, aber das ist nicht zwangsläufig. Der Erzähler kann die räumliche Position einer Figur einnehmen, ohne die Welt mit den Augen dieser Figur wahrzunehmen. Als Beispiel dafür kann noch einmal die Beschreibung des Zimmers des Hauptmanns Lebjadkin in Dostoevskijs Dämonen dienen, auf das Uspenskij (1970,142 f.; dt. 1975, 123 f.; vgl. oben, S. 127) verweist. Es wird hier beschrieben, was Stavrogin hätte wahrnehmen können, aber es wird nicht durch
2. Modell der Erzählperspektive
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sein Prisma beschrieben. Die Auswahl der Details entspricht nicht seiner Perzeption. Die Beschreibung aus der perzeptiven Perspektive einer Figur ist häufig durch die Wertung und den Stil dieser Figur markiert. Aber auch diese Koinzidenz ist nicht obligatorisch: In den Parametern der Perzeption, der Wertung und der Sprache braucht die Perspektive nicht auf ein und dieselbe Instanz bezogen zu sein. Das Gedankenexperiment mit den Aussagen von Zeugen zu einem Verkehrsunfall hat fünf Parameter der Perspektive ergeben. Wenn man diese Parameter in eine Reihenfolge nicht nach ihrer Bedeutung für das Experiment, sondern nach ihrer Relevanz für die Konstitution der Perspektive im literarischen Werk bringt, so ergibt sich folgende Reihung: 1) Perzeption, 2) Ideologie, 3) Raum, 4) Zeit, 5) Sprache. d) Narratoriale und figurale Perspektive Der Erzähler hat grundsätzlich zwei Möglichkeiten, ein Geschehen darzustellen: Er kann aus seiner eigenen, der narratorialen Perspektive erzählen oder einen figuralen Standpunkt übernehmen, d. h. aus der Perspektive einer oder mehrerer der erzählten Figuren er25
zählen . So ergibt sich eine einfache binäre Opposition der Perspektiven. Die Binarität resultiert daraus, dass das Erzählwerk in ein und demselben Textsegment zwei wahrnehmende, wertende, sprechende und handelnde Instanzen darstellen kann, zwei bedeutungserzeugende Zentren: den Erzähler und die Figur. Tertium non datur. Deshalb ist in dem hier vorgestellten Modell kein Platz für eine „neutrale" Perspektive, die in einer Reihe von Theorien 25 Dorrit Cohn (1978, 145-161; 1981, 179 f.) nennt die beiden Perspektiven, sofern sie in der „Er-Erzählung" vorkommen, nach Stanzel authorial und ftgural, für die „Ich-Erzählung", für die Stanzel bis zuletzt (1979, 270-272) die Existenz zweier Perspektivmöglichkeiten nicht anerkennt, dagegen dissonant und consonant. Der Begriff auktorial bezieht sich in diesem Buch nicht auf den Erzähler, sondern auf den Autor. Es wir hier also, der Differenzierung der Instanzen entsprechend, zwischen auktorial, narratorial und figural unterschieden (wenn man bei Funktionsbezeichnungen bleiben wollte, müsste man mit Lintvelt 1981, 38 die figurale Perspektive actorial nennen, wogegen allerdings die geringe sprachliche Differenz der Termini spricht).
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III. Die Erzählperspektive
(Stanzet 1955 26 ; Petersen 1977, 187-192; Lintvelt 1981, 38 f.27; 28
Broich 1983 ) vorgesehen ist, ebenso wenig für eine „Nullfokalisierung", deren Existenz Genette postuliert (siehe oben, S. 120) 29 . In der Opposition narratoriale vs. figurale Perspektive ist das zweite Glied markiert. Das heißt: Wenn die Perspektive nicht figural ist (und die Opposition der Perspektiven nicht völlig neutralisiert ist), wird sie als narratorial betrachtet. Narratorial ist die Perspektive also nicht nur dann, wenn das Erzählen deutliche Spuren des Erfassens und Darstellens durch einen individuellen Erzähler trägt, sondern auch dann, wenn das Erzählen „objektiv" zu sein scheint oder nur geringe Spuren einer Brechung der Wirklichkeit durch ein irgendwie geartetes Prisma enthält. Denn der Erzähler ist im Erzählwerk als Bedeutungsgeber immer präsent, und sei es nur durch die Auswahl der Geschehensmomente. Von der Mehrzahl der Point-of-view-Typologien unterscheidet sich das hier vorgeschlagene Modell dadurch, dass die Präsenz des Erzählers in der Geschichte (wie auch seine Kompetenz, Introspektion, Markiertheit und Subjektivität) nicht als Phänomene der Perspektive, sondern der Typologie des Erzählers betrachtet werden. Die narratoriale und figurale Perspektive treten sowohl im nichtdiegetischen als auch im diegetischen Erzählen auf. Wenn man die beiden binären Oppositionen narratorial vs. figural und nichtdiegetisch vs. diegetisch miteinander koppelt, ergeben sich vier Typen, die in der Wirklichkeit der Texte auch tatsächlich vorkommen: 26 In späteren Arbeiten hat Stanzel (1964; 1979) auf den Begriff der „neutralen Erzählsituation" verzichtet. 27 Lintvelt akzeptiert einen type narratif neutre allerdings nur für die „heterodiegetische" Erzählung. 28 Um die Notwendigkeit eines dritten, „neutralen" Perspektivtypus zu erhärten, beruft sich Ulrich Broich (1983, 136) auf Texte in erlebter Rede, „die gleichzeitig sowohl durch einen Erzähler als auch durch einen Reflektor vermittelt werden". Aber die Perspektive ist hier nicht „neutral", sondern hybrid, gemischt, zugleich narratorial und figural. Mit der Struktur der erlebten Rede lässt sich die Notwendigkeit oder Zulässigkeit einer Kategorie der neutralen Perspektive deshalb nicht begründen. 2 9 Die Opposition von narratorialer und figuraler Perspektive kann in bestimmten Segmenten eines Textes hinsichtlich bestimmter Merkmale neutralisiert sein. Die Neutralisierung der Opposition schafft jedoch keinen dritten, „neutralen" Typus der Perspektive.
2. Modell der Erzählperspektive
Typ des Erzählers
139
nichtdiegetisch
diegetisch
narratorial
1
2
figural
3
4
Perspektive
1) Ein nichtdiegetischer Erzähler erzählt aus seiner eigenen Perspektive. Ein Beispiel dafür ist Anna Karenina, wo der Erzähler, der nicht in der erzählten Geschichte figuriert, die Geschehnisse mit Ausnahme weniger Stellen narratorial darbietet. 2) Ein Erzähler, der als erzähltes Ich in der Geschichte auftritt, erzählt aus der Perspektive des „jetzigen", d. h. des erzählenden Ich. Ein solcher Typus liegt etwa in Dostoevskijs Erzählung Die Sanfte vor, wo auf die Vergangenheitserforschung des Pfandleihers das unbestreitbare Faktum einwirkt, dass auf dem Zimmertisch der Leichnam seiner Frau liegt, die sich vor wenigen Minuten aus dem Fenster gestürzt hat. 3) Ein nichtdiegetischer Erzähler nimmt den Standpunkt einer Figur ein, die als Reflektor fungiert. Ein Beispiel dafür ist Dostoevskijs Ewiger Ehemann (siehe oben, II.4.c)30. 4) Ein diegetischer Erzähler berichtet von seinen Erlebnissen aus der Perspektive des „früheren", erzählten Ich. Das ist die Perspektive, die in Dostoevskijs Jüngling dominiert. Arkadij Dolgorukij beschreibt sein Leben des vergangenen Jahres „mit der damaligen Charakteristik"; er teilt nur mit, was ihm als erzähltem Ich im jeweiligen Moment der Geschichte bekannt war und bewertet Menschen wie Ereignisse nach dem Standpunkt seines früheren Ich. 30 Die Perspektive ist ein sehr veränderliches Phänomen. Von einem „personalen Roman" zu sprechen, wie das Stanzet tut, ist nur unter dem Vorbehalt möglich, dass das Vorkommen oder die Dominanz der figuralen Perspektive in bestimmten Segmenten nicht das Auftreten der narratorialen Perspektive in anderen Segmenten ausschließt.
140
III. Die Erzählperspektive
e) Perspektivierung in der diegetischen Erzählung („Der Schuss") Wenn der Erzähler in den Worten, die die Wertung der Figur ausdrücken, seine eigenen Akzente setzt, wird die Aussage „zweistimmig". Für den nichtdiegetischen Erzähler wurde die zweistimmige Wiedergabe figuraler Wertung bereits am Beispiel des Ewigen Ehemanns demonstriert (II.4.c). In diesem Abschnitt sei die Zweistimmigkeit des figuralen Erzählens in der diegetischen Variante betrachtet, und zwar am Beispiel von Puskins Erzählung Der Schuss (Vystrel). Dieses Beispiel wird ein weiteres Mal belegen, dass es sinnvoll und erforderlich ist, auch für das diegetische Erzählen zwischen narratorialer und figuraler Perspektive zu unterscheiden. Der primäre Erzähler des Schusses berichtet von zwei Begegnungen mit je einem der Duellanten und gibt dabei die Erzählung Sil'vios vom ersten Teil des Duells und die Erzählung des Grafen vom zweiten Teil wieder. Die Geschichte der beiden Begegnungen wird zweistimmig erzählt, sowohl mit der figuralen Wertung des erzählten Ich als auch mit narratorialen Akzenten des erzählenden Ich. Die simultane Wirksamkeit von figuraler und narratorialer Perspektive gewinnt noch dadurch an Komplexität, dass das die beiden Instanzen umfassende Ich als dynamische Figur dargestellt ist. Im Gegensatz zu Sil'vio, dem statischen romantischen Helden, entwickelt sich der Erzähler. Der junge Mann quittiert den Militärdienst und tauscht das geräuschvolle, sorglose Leben in der Garnison gegen das einsame Leben des Besitzers eines heruntergekommenen Landguts. Die Veränderung der Lebensumstände wird von der Ernüchterung und Reifung des jungen Mannes begleitet. Während er sich im ersten Kapitel unter dem Eindruck des romantischen Sil'vio befand, äußert er sich im zweiten Kapitel, dessen Handlung fünf Jahre später spielt, über diesen romantischen Helden wesentlich kühler. Bezeichnenderweise kommt ihm Sil'vio erst im Salongespräch mit dem Grafen in den Sinn und lediglich als prosaisches Beispiel eines übungsfleißigen Schützen. Die romantische Aura, mit der der junge Offizier Sil'vio im ersten Kapitel umgeben hat, ist für den Gutsbesitzer verflogen. Das erzählte Ich des zweiten Kapitels hat die Romantik überwunden, die ihn im ersten Kapitel fasziniert hat.
2. Modell der Erzählperspektive
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Uns interessiert in diesem Zusammenhang, wie die Perspektivierung und die Korrelation des erzählten und des erzählenden Ich im ersten Teil der Erzählung gestaltet sind. Es dominiert hier die Perspektive des erzählten Ich, d. h. der Leser nimmt Sil'vio und sein seltsames Verhalten entsprechend der Sichtweise und Bewertung des jugendlichen Erzählers wahr, der von Sil'vio zunächst fasziniert, dann enttäuscht und schließlich durch das Vertrauen des älteren Freundes geehrt ist. Aber im Text sind Akzente spürbar, die den nüchternen Standpunkt des erzählenden Ich zur Geltung bringen. So interferieren hier zwei Stimmen, zwei Wertungshaltungen. Die Sichtweise und Wertung des naiven Jünglings, der der Faszination romantischer Stereotypen erliegt, werden konterdeterminiert durch die Sicht des gereiften Erzählers. Dabei werden die Akzente des erzählenden Ich lediglich durch Zeichen eines gewissen Vorbehalts, einer Relativierung, einer Distanzierung markiert. Es seien ein paar Beispiele dafür angeführt, wie die Wertung des romantisch gestimmten erzählten Ich (markiert durch einfache Unterstreichung) durch Signale relativiert wird, die das erzählende Ich setzt (punktierte Unterstreichung): Von. .Natur, mit. einer. romanhaften. Phantasie. begabt,, war .ich. vorher _s_tä_rker _ al.s. alle. anderen diesem Mann verbunden gewesen, dessen Leben ein Rätsel war und der mir wie der Held irgendeiner geheimnisvollen Erzählung erschien. (Puskin 8, 67)
Das erzählte Ich hätte kaum über seine „romanhafte Phantasie" gesprochen, hätte die „geheimnisvolle Erzählung" nicht mit dem etwas herabsetzenden Indefinitpronomen „irgendein" verbunden und auf keinen Fall das Verb „(er)scheinen" gebraucht, das die Subjektivität der damaligen Wahrnehmung unterstreicht. Es kam. uns .übrigens, überhaupt, nicht, in .den .Sinn, bei ihm etwas wie Furchtsamkeit zu vermuten. Es gibt Menschen, deren Äußeres allein einen solchen Verdacht ausschließt. (Puskin 8, 66)
Diese Bemerkung gibt zu verstehen, dass der Gedanke, der dem Erzähler damals nicht in den Sinn gekommen war, ihm nun durchaus nicht fern liegt. Und das Wort vom „Äußeren", das jeden Verdacht der Furchtsamkeit ausschließt, kann nun verstanden werden als Hinweis auf Sil'vios romantischen Habitus.
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III. Die Erzählperspektive
Die Beschreibung des romantischen Dämonismus Sil'vios enthält ein modales Signal, das einen Zweifel an der Sichtweise und Bewertung des jungen erzählten Ich weckt: Die düstere Blässe, die funkelnden Augen und der dichte Rauch, der seinem .Munde. entströmte!. gaben, .ihm. das. Aussehen, .eines.. wahren Teufels. (Puskin 8, 68)
Das erzählende Ich setzt den Akzent auf das „Aussehen". Das „Aussehen" korrespondiert mit dem „Äußeren", das den Verdacht auf Furchtsamkeit ausschließt. Es war hier zu zeigen, dass auch in der diegetischen Erzählung zwischen narratorialer und figuraler Perspektive unterschieden werden muss. An Puskins Schuss wurde darüber hinaus untersucht, wie die vorwaltende figurale Perspektive, d. h. die Wertung des erzählten Ich, durch die Akzente des erzählenden Ich überlagert wird. f) Narratoriale und figurale Gestaltung in den fünf Parametern der Perspektive Wie manifestieren sich narratoriale und figurale Gestaltung in den fünf Parametern, die wir für die Perspektive unterschieden haben? 1. Perzeptive Perspektive Wenn die erzählte Welt nach den Symptomen des Textes mit den Augen einer Figur wahrgenommen wird, liegt figurale perzeptive Perspektive vor. Wenn sich aber keine Anzeichen für eine Brechung der Welt durch das Prisma einer oder mehrerer Figuren finden, ist die perzeptive Perspektive narratorial, gleichgültig, wie markiert und subjektiv der Erzähler ist. Ein Beispiel für eine manifest figurale Perspektive im Parameter der Perzeption ist in Krieg und Frieden die Darbietung des unerwarteten Wiedersehens von Pierre Bezuchov mit Natasa Rostova in Moskau bei Fürstin Mar'ja Bolkonskaja nach dem Ende der Besetzung der Stadt durch Napoleon: In dem niedrigen, nur von einer Kerze erleuchteten Zimmerchen saß die Fürstin und bei ihr noch jemand, in einem schwarzen Kleid. Pierre erinnerte sich, dass die Fürstin immer Gesellschafterinnen bei sich hatte. Aber wer sie und wie sie waren, diese Gesellschafterinnen, das
2. Modell der Erzählperspektive
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wusste er nicht, und er erinnerte sich auch nicht. „Das ist eine der Gesellschafterinnen", dachte er, als er die Dame in dem schwarzen Kleid erblickte. (Tolstoj 12, 214)
Die Auswahl der thematischen Einheiten verweist auf die Perspektive Pierres. In seiner Wahrnehmung gibt es drei Einheiten: 1) „das niedrige, nur von einer Kerze erleuchtete Zimmerchen", 2) „die Fürstin", 3) „jemand in einem schwarzen Kleid". Da Pierre diese Dame nicht erkennt, wird sie mit einer einzigen Eigenschaft eingeführt: „in einem schwarzen Kleid". Erst bei einem zweiten, genaueren Blick auf die noch nicht erkannte Natasa nimmt Pierre eine weitere Eigenschaft wahr, ihre aufmerksamen und freundlichen Augen. Die figurale Perspektive in der Perzeption wird in der Regel von der Figuralität in den anderen Parametern begleitet, vor allem in der Wertung und der Sprache. Das heißt: Die figurale Wahrnehmung ist meistens auch ideologisch und sprachlich auf den Standpunkt der Figur bezogen. So wird in Dostoevskijs Doppelgänger (Dvojnik) die Erzählung von den üblen Taten des raffinierten „Zwillings" (der nur in der Wahrnehmung des Helden existiert) fast durchweg im Stil der Reden Goljadkins und mit den für ihn typischen Wertungen präsentiert: Kaum hatte der Freund von Herrn Goljadkin-senior bemerkt, dass sein Gegner [...] sich zu einem förmlichen Überfall entschließen konnte, als er ihm seinerseits auf allerunverschämteste Weise zuvorkam. Goljadkin-junior klopfte Herrn Goljadkin-senior noch zweimal auf die Wange, kitzelte ihn noch zweimal, trieb noch ein paar Sekunden sein Spiel mit ihm, der unbeweglich dastand, sprachlos vor Wut, alles zum nicht geringen Ergötzen der um sie herumstehenden Jugend, und gab ihm schließlich mit einer die Seele empörenden Schamlosigkeit einen Klaps auf das gewölbte Bäuchlein [...]. (Dostoevskij 1,166 f.)
Die figurale Wahrnehmung braucht jedoch nicht unbedingt mit figuraler Sprache und Wertung einherzugehen. Je weniger die figurale Perzeption von figuraler Sprache und Wertung begleitet wird, desto schwerer wird sie für den Leser identifizierbar. Die Frage, ob die perzeptive Perspektive auf den Erzähler oder auf eine der Figuren zu beziehen ist, kann dann zu einem Rätsel werden. Betrachten wir dazu eine zentrale Szene aus Anna Karenina, in der nicht ohne weiteres erkennbar ist, wer hier als sehende, denkende, fühlende
144
III. Die Erzählperspektive
Instanz figuriert. Es geht um die Situation nach der Erfüllung dessen, was Vronskij glühend gewünscht hatte und was Anna wie ein nicht zu verwirklichender Glückstraum erschienen war. Sie fühlte sich so verbrecherisch und schuldig, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich zu demütigen und um Verzeihung zu bitten; und in ihrem Leben gab es jetzt außer ihm niemanden, so dass sie auch an ihn ihre Bitte um Verzeihung richtete. Während sie ihn anschaute, empfand sie ihre Erniedrigung geradezu körperlich und konnte nichts mehr sagen. Er aber empfand das, was ein Mörder empfinden muss, wenn er den Körper siebt, den er um das Leben gebracht hat. Dieser Körper, den er um das heben gebracht hat, war ihre Liebe, die erste Phase ihrer Liebe. Es lag etwas Entsetzliches und Abstoßendes in der Erinnerung daran, was zu diesem schrecklichen Preis der Scham erkauft worden war. Die Scham über ihre seelische Nacktheit erdrückte sie und teilte sich ihm mit. Aber ungeachtet des ganzen Entsetzens, das der Mörder vor dem Körper des Ermordeten empfindet, muss er diesen Körper auch noch in Stücke schneiden, verbergen, muss der Mörder das nutzen, was er mit dem Mord gewonnen hat. Und mit Erbitterung wie mit Leidenschaft wirft sich der Mörder auf diesen Körper und zieht und zerschneidet ihn; so bedeckte auch er ihr Gesicht und ihre Schultern mit Küssen. Sie hielt seine Hand und rührte sich nicht. (Tolstoj 18,177 f. Kursiv von mir, W. Sch.)
Wer vergleicht hier den Liebhaber mit einem Mörder? Zunächst könnte es scheinen, dass Vronskij so empfindet. Es heißt ja ausdrücklich: „Er aber empfand das, was ein Mörder empfinden muss". Aber sollte der Rittmeister die Erfüllung dessen, was „fast ein ganzes Jahr lang der einzige Wunsch seines Lebens gewesen war" (ebd.), als Mord empfinden? Auch die narratoriale Wiedergabe der Gefühle Vronskijs ist hier wenig wahrscheinlich. Vronskij muss anderes empfinden. In Betracht käme natürlich ein Vergleich, den der Erzähler im eigenen Namen, sozusagen hinter dem Rücken der Figuren, anstellt, also eine rein narratoriale Bemerkung oder gar eine auktoriale, auf den Autor zurückgehende. Bei Tolstoj begegnen solche narratorialen - und letztlich auktorialen - Kommentare nicht selten. Gleichwohl legt die Perspektivgestaltung dieser Passage eine andere Leseweise nahe. Wenn man bedenkt, dass um die kursiv gesetzten Segmente herum die Empfindungen und die innere Rede Annas wiedergegeben werden, kann man durchaus den Schluss ziehen, dass den Vergleich des wütenden Liebhabers mit dem Mör-
2. Modell der Erzählperspektive
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der niemand anders als Anna selbst zieht. In ihrem Bewusstsein ist eine solche Vorstellung höchst motiviert, sowohl psychologisch als auch kompositionell. Denn das Bild des zerschnittenen Körpers lässt sich deuten als ein Reflex des „entsetzlichen Tods", den der Eisenbahnwärter bei ihrer ersten Begegnung mit Vronskij erlitten hat. Die Worte, die sie damals von zwei Vorübergehenden gehört hat, müssen sich tief in ihr Bewusstsein eingegraben haben: „Das ist ein entsetzlicher Tod! [...] Er soll in zwei Stücke zerschnitten sein" - „Ich meine, im Gegenteil, das ist der leichteste, der schnellste Tod". (Tolstoj 18,178) Anna ist erschüttert und deutet das Unglück als „schlechtes Vorzeichen" (ebd.). Die Heldin wird von diesem Moment an zur Trägerin des fatalen Bildes vom zerschnittenen Körper, das sie mit Vronskij assoziiert, sie unterlegt dieses Bild ihrer Liebesbegegnung mit Vronskij, und sie wird es in sich tragen, bis sich ihr Schicksal unter den sie zerschneidenden Rädern der Eisenbahn erfüllt hat. Kurz vor ihrem Selbstmord erinnert sie sich an den überfahrenen Bahnwärter, und sie weiß, was sie zu tun hat. Bei solcher Verkettung der Motive erscheint ihr Tod unter den Rädern des Zuges als Erfüllung des Schemas ihrer fatalen Erwartungen, das sich bereits in der ersten Begegnung mit Vronskij gebildet hat. Insofern die betrachtete Schlüsselszene nach dem Liebesakt in figuraler, auf Anna bezogener Perspektive dargeboten wird, verweist uns der Autor auf die Heldin als Konstrukteurin ihres Schicksals. 2. Ideologische Perspektive Der Erzähltext kann in der Ideologie oder Wertung die Sinnposition entweder des Erzählers oder der Figur gestalten. Als Beispiel für figurale ideologische Perspektive betrachten wir den Anfang von Cechovs Erzählung Der Student. Die ersten Sätze, in denen der Erzähler „sieht" und spricht, sind gleichwohl mit deutlich figuralen Wertungen durchsetzt (hier durch Kursive hervorgehoben): Das Wetter war anfangs schön, ruhig. Es riefen die Drosseln, und in der Nähe, in den Sümpfen tönte etwas Lebendiges klagend, als ob man in eine leere Flasche bliese. Es flog eine Waldschnepfe vorbei, und der Schuss auf sie ertönte in der Frühlingsluft fröhlich schallend. Aber als es im Wald dunkelte, blies ungelegenerweise vom Osten ein kalter, durchdringender Wind, und alles verstummte. Auf den Pfützen bildeten
III. Die Erzählperspektive
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sich lang gezogene Eisnadeln, und im Wald wurde es dumpf und abweisend. Es roch nach Winter. (Cechov 8, 306)
ungemütlich,
Bevor er den Helden einführt, beschreibt der Erzähler die Welt bereits aus seiner ideologischen Perspektive, ohne allerdings lexikalische oder syntaktische Merkmale zu verwenden, die auf ihn verwiesen. Dagegen sei der Anfang aus Thomas Manns Roman Königliche Hoheit gestellt, in dem ebenfalls das Wetter thematisiert wird, aber mit einer Wertung, die sich im weiteren Kontext als narratorial erweist (hier kursiv gesetzt): Es ist auf der Albrechtstraße, jener Verkehrsader der Residenz, die den Albrechtplatz und das Alte Schloss mit der Kaserne der Garde-Füsiliere verbindet, - um Mittag, wochentags, zu einer gleichgültigen Jahreszeit. Das Wetter ist mäßig gut, indifferent. Es regnet nicht, aber der Himmel ist auch nicht klar; er ist gleichmäßig weißgrau, gewöhnlich, un-
festlich, und die Straße liegt in einer stumpfen und nüchternen Beleuchtung, die alles Geheimnisvolle, jede Absonderlichkeit der Stimmung ausschließt. (Mann 2, 9)
3. Räumliche
Perspektive
Die figurale Perspektive im Parameter des Raums ist durch den Bezug des Erzählens auf eine bestimmte von einer Figur eingenommene räumliche Position gekennzeichnet. Diese Position definiert das Gesichtsfeld der Figur und erlaubt ihr nur bestimmte Aspekte des Geschehens wahrzunehmen. Deutlichstes Signal für die figurale räumliche Perspektive ist der Gebrauch der auf das Hier der Figur bezogenen deiktischen Ortsadverbien wie hier, dort, rechts, links usw. Zur Veranschaulichung sei aus Lion Feuchtwangers Roman Der jüdische Krieg zitiert. Josef Ben Matthias (der später Flavius Josephus heißen wird) ist zum ersten Mal in Rom, kann sich aber schon grob orientieren: So viel weiß er: hier vor ihm ist der Rindermarkt, und rechts dort ist die Große Rennbahn, und dort irgendwo, auf dem Palatin und dahinter, wo die vielen kribbelnden Menschen sind, baut der Kaiser sein neues Haus, und links hier durch die Tuskerstraße geht es zum Forum, und Palatin und Forum sind das Herz der Welt. (Feuchtwanger 2, 7)
Die narratoriale räumliche Perspektive ist, je nach der räumlichen Kompetenz der Erzählinstanz, entweder mit einer eng definierten
2. Modell der Erzählperspektive
147
Position eines Menschen oder mit olympischer Allgegenwärtigkeit verbunden. Wenn die räumliche Position nicht markiert und der Blick auf die Räume des Geschehens nicht eingeschränkt ist, liegt in jedem Fall narratoriale räumliche Perspektive vor. 4. Zeitliche
Perspektive
Im Parameter der Zeit manifestiert sich die figurale Perspektive in der Bindung des Erzählens an das Jetzt einer der Personen. Der Bezug auf die zeitliche Position der Figur zeigt sich am deutlichsten in deiktischen Zeitadverbien wie jetzt, heute, gestern, morgen usw., die eine Referenz nur durch den Bezug auf einen bestimmten zeitlichen Nullpunkt, das Jetzt der Figur, erhalten. Die deiktischen Adverbien der Gegenwart und Zukunft können durchaus mit Verben in einem Vergangenheitstempus verbunden werden. In der westlichen, vor allem deutschen Diskussion über das „epische Präteritum" und die Aufhebung seines Zeitwerts (siehe dazu oben, 1.2.c) spielen Zitate eine große Rolle, in denen deiktische Adverbien der Gegenwart oder Zukunft (in den folgenden Beispielen punktiert unterstrichen) mit Verben im Präteritum (doppelt unterstrichen) verbunden sind. 1) Adverbien der Zukunft: Aber am.Vormjttag hatte sie den Baum zu putzen. Morgen aar Weihnachten. 31 (Alice Berend: Die Bräutigame der Babette Bomberling) ...and of course he was coming to her party _to-_night. (Virginia Woolf: Mrs. Dalloway)
2) Adverbien der Gegenwart: Unter ihren Lidern sah sie noch heute die Miene vor sich... (Thomas Mann: Lotte in Weimar)
Solche Verbindungen sind durchaus auch im Russischen üblich: ...bis..morgen gar es noch weit... (rq. aaBTpa 6mm eme flajiexo ; Dostoevskij: Der Jüngling, 13, 241) Die Pistole, der Dolch und der Bauernkittel lagen bereit. Napoleon zog morgen ein. (Bi»ea>Kaji 3 a B T p a ; Tolstoj: Krieg und Frieden, 11, 372) 31 Die deutschen und englischen Beispiele werden hier nach Hamburger (1957, 33) zitiert.
148
III. Die Erzählperspektive
Die narratoriale Perspektive im Parameter der Zeit ist mit dem zeitlichen Stand des Erzählaktes korreliert. Zur Bezeichnung eines Zeitpunkts der Geschichte werden in narratorialer Angabe anstatt deiktischer Adverbien anaphorische gebraucht, d. h. Wendungen wie in diesem Moment, an diesem Tage, am vorausgegangenen Tage usw., die sich auf einen im Text bereits fixierten Zeitpunkt beziehen und nicht die Definition des Jetzt einer Figur voraussetzen. Einen ideologisch aufschlussreichen Wechsel figuraler und narratorialer zeitlicher Perspektivierung inszeniert der Sprecher in Dostoevskijs Erzählung Die Sanfte. Es sind hier deiktische und anaphorische Verwendung umgekehrt mit narratorialer bzw. figuraler Perspektivierung verbunden: Das war gestern Abend, und am nächsten Morgen... Am nächsten Morgen?! Wahnsinniger, dieser nächste Morgen war ja heute, noch vor kurzem, gerade vorhin! Hören Sie und versuchen Sie zu verstehen [...] (Dostoevskij 24, 32)
Anfangs berichtet der diegetische Sprecher aus narratorialer Perspektive, d. h. vom zeitlichen Standpunkt des Erzählakts (das deiktische gestern Abend bezieht sich auf das Jetzt des Erzählens). Innerhalb desselben Satzes zum Bericht über den folgenden Tag übergehend, versetzt sich der Sprecher in die zeitliche Position des erzählten Ich, benutzt aber nicht eine deiktische, sondern eine anaphorische Angabe: am nächsten Morgen. Warum nimmt der Sprecher diesen Perspektivwechsel vor? Warum sieht er sein Heute als den nächsten Morgen des erzählten Ich? Er scheut offensichtlich die Besinnung auf die entsetzliche Gegenwart, in der die Ehefrau aufgebahrt auf dem Tisch liegt, und zieht es vor, in der Vergangenheit vor der Katastrophe zu verweilen. Die Einnahme der figuralen Position soll eine Einsicht verdrängen, die unausweichlich wird, wenn die Vergangenheit in die Gegenwart mündet, das erzählte mit dem erzählenden Ich verschmilzt. Die Identität des erzählten Moments {am nächsten Morgen) mit dem Moment des Erzählens begreifend und seine Gegenwartsvergessenheit verurteilend (Wahnsinniger), kommt der Sprecher jedoch noch nicht zum Schuldbekenntnis, sondern sucht den Hörer, den imaginären Richter, in seine Apologie hineinzuziehen (Hören Sie und versuchen Sie zu verstehen). Ein und dasselbe Ereignis kann von einer Figur in unterschiedlichen Momenten der erzählten Geschichte erfasst werden, z. B.
2. Modell der Erzählperspektive
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wenn die Figur das von ihr Erlebte erinnert und zu begreifen sucht. Der Erzähler kann ein und dasselbe Ereignis in unterschiedlichen Momenten des Erzählakts erwähnen. In beiden Fällen wird die Verschiebung auf der Zeitachse der Geschichte oder des Erzählens mit einer Veränderung des Erfassens verbunden sein, die bedingt ist durch eine Veränderung im Wissen und - als ihre Folge - in den jeweils akzeptierten Normen. Figurale zeitliche Perspektive manifestiert sich, wie oben ausgeführt wurde, in der engen Bindung des Erzählens an das Jetzt der Figur. Charakteristisch ist aber auch die Koppelung des Erzählens an die Wahrnehmung und das Erleben dieser Figur. Diese letztere Verbindung äußert sich etwa in einer starken Detaillierung des Erzählten (d. h. in der Dominanz der „Dehnung" über die „Raffung", die eher für die narratoriale Gestaltung spezifisch ist) und in der chronologischen Darbietung der Ereignisse. Eine konsequent figurale Perspektive bedeutet die vollständige Abbildung der Ereignisse oder, genauer, ihrer Wahrnehmung durch die Figur in der jeweiligen von der Geschichte vorgegebenen Chronologie. Permutationen der Geschehensmomente gegen die chronologische Folge (nach Genette 1972, 71 „Anachronien") sind in figuraler Perspektive im Grunde nur möglich, insofern sie durch Bewusstseinsakte der Figur (die Erinnerung an Vergangenes oder die Vorwegnahme von Zukünftigem) motiviert sind. Eine authentische und nicht nur hypothetische Antizipation späterer Geschehensmomente (eine „Prolepsis" nach Genette 1972, 100) ist figural nicht begründbar. Dagegen erlaubt die narratoriale zeitliche Perspektive einen freien Umgang mit der Zeit. Der Erzähler kann beliebig die Zeitebenen wechseln und auch spätere Entwicklungen vorwegnehmen, ohne in Konflikt mit realistischen Motivierungsregeln zu geraten. 5. Sprachliche Perspektive Der Erzähler kann die Ereignisse sowohl in seiner eigenen Sprache als auch in der Sprache einer der erzählten Figuren wiedergeben. Diese Alternative gilt auch für diegetische Erzähler. Sie haben die Wahl zwischen ihrer damaligen und jetzigen Sprache. Der Unterschied zwischen den beiden Sprachen eines Ich in verschiedenen zeitlichen Situationen (und natürlich auch Funktionen) kann durchaus beträchtlich sein, und zwar sowohl in der Lexik als auch
150
III. Die Erzählperspektive
in der Syntax und Sprachfunktion. Dostoevskijs Jüngling, in dem die Distanz zwischen Erleben und Erzählen nur wenige Monate beträgt, zeigt gleichwohl deutliche Differenzen zwischen der Benennungsweise, der Syntax und der Expressivität von erzähltem und erzählendem Ich. An Dostoevskijs Doppelgänger sei die figurale sprachliche Perspektive demonstriert. Der Erzähler übernimmt in diesem Werk fast durchgängig die Sprache seines Helden, des Herrn Goljadkin, auch dort, wo die perzeptive Perspektive gar nicht die der Figur ist, wie im folgenden Zitat. Der Erzähler reproduziert dann die Sprache seines Helden, nicht nur in der Lexik, in den feierlichen, pathetischen, manchmal archaischen Benennungen, sondern auch in der Syntax, die einerseits durchsetzt ist mit kanzleisprachlichen Wendungen, geschraubten Phrasen und pseudopoetischen Figuren, anderseits aber Sprachnot zeigt, die stereotype Wiederholung von Ausdrücken und einen umgangssprachlich-defekten Satzbau, der sich in seinen Ellipsen und Aposiopesen der Aphasie nähert. In dem Zitat beschreibt der Erzähler, der zunächst in hochpathetischer und von rhetorischen Figuren durchsetzter Rede den Ball bei Staatsrat Berendeev gepriesen hat, die Situation Herrn Goljadkins: Wenden wir uns lieber Herrn Goljadkin zu, dem einzigen und wahren Helden unserer durchaus wahrheitsgetreuen Erzählung. Die Sache ist die, dass er sich jetzt in einer sehr seltsamen Lage, um nicht mehr zu sagen, befindet. Er ist, meine Herrschaften, auch hier, das heißt: nicht direkt auf dem Ball, aber doch so gut wie auf dem Ball; er ist, meine Herrschaften, ganz in Ordnung; er befindet sich, wenngleich er ein Mensch für sich ist, in dieser Minute auf einem nicht ganz geraden Weg; er steht jetzt - es ist sogar seltsam, das zu sagen - , er steht jetzt im Flur, auf der Hintertreppe zur Wohnung Olsufij Ivanovics. Das macht nichts, dass er hier steht; er ist ein Mensch für sich. Er steht, meine Herrschaften, in einem Winkel, hat sich an einem Plätzchen verkrochen, das zwar nicht wärmer ist, dafür aber dunkler, steht, teilweise verdeckt durch einen riesigen Schrank und alte Wandschirme, zwischen allerlei Gerümpel, Plunder und Kram, verbirgt sich vorläufig und beobachtet vorerst den Verlauf des Ganzen in der Eigenschaft eines außenstehenden Zuschauers. Er beobachtet, meine Herrschaften, jetzt nur; er kann, meine Herrschaften, auch eintreten... warum auch nicht? Er braucht nur einen Schritt zu tun, und er tritt ein, tritt höchst geschickt ein. (Dostoevskij 1,131)
2. Modell der Erzählperspektive
151
g) Kompakte und distributive Perspektive Die Entscheidung des Erzählers für die narratoriale oder figurale Perspektive fällt häufig hinsichtlich aller Parameter gleich aus, d. h. ist einheitlich narratorial oder figural. Eine Perspektive, die in allen Parametern auf der gleichen Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten beruht, sei kompakte Perspektive genannt. Den Zusammenfall der Entscheidungen hinsichtlich der fünf Parameter zu einer kompakten Perspektive stellen folgende Schemata dar: Kompakte narratoriale Perspektive
Narratorial
Perception
Ideologie
Raum
Zeit
Sprache
X
χ
χ
χ
χ
Figural
Kompakte figurale Perspektive Perception
Ideologie
Raum
Zeit
Sprache
χ
χ
χ
χ
χ
Narratorial Figural
Durchaus häufig aber ist die Perspektive distributiv. Das ist dann der Fall, wenn die Entscheidungen für die Perspektive hinsichtlich der Parameter unterschiedlich ausfallen. In oben angeführten Beispielen war bereits eine Distribution der Perspektive auf die beiden Instanzen zu beobachten. In dem Ausschnitt aus dem Studenten (S. 146) bezog sich lediglich die ideologische Perspektive auf die Figur. In den übrigen Parametern war die Perspektive dagegen narratorial. Diese Distribution der Perspektiventscheidungen wird in folgendem Schema illustriert:
152
III. Die Erzählperspektive
Distributive Perspektive (am Beispiel des Ausschnitts aus dem Studenten) Perzeption Narratorial
Ideologie
X
Raum
Zeit
Sprache
X
X
X
X
Figural
Dieses Bild kann Modifikationen erfordern, wenn die Opposition von narratorialer und figuraler Gestaltung in einem Parameter (oder in mehreren zugleich) neutralisiert ist, entweder weil Merkmale völlig fehlen oder weil sie auf beide Instanzen beziehbar sind. Wenn in einem Werk etwa die Opposition der Sprachen neutralisiert ist, ergibt sich folgendes Schema (in dem die übrigen Parameter unbezeichnet bleiben): Neutralisierung der Opposition der Sprachen Perzeption
Ideologie
Raum
Zeit
Sprache
Narratorial
X
Figural
X
Solche Neutralisierung der Oppositionen kann sich auch auf die übrigen Parameter beziehen, im Extremfall sogar auf alle Parameter zugleich. In diesem letzteren Fall sieht das Schema wie folgt aus: Völlige Neutralisierung der Opposition von Erzählertext und Figurentext Perzeption
Ideologie
Raum
Zeit
Sprache
Narratorial
X
X
X
X
X
Figural
X
X
X
X
X
2. Modell der Erzählperspektive
153
h) Zur Methodik der Analyse: drei Leitfragen In der Textanalyse ist der Durchgang durch alle fünf Parameter der Perspektive aufwendig und nicht immer ergiebig, weil nicht selten Merkmale fehlen (also Parameter gar nicht vertreten sind) oder eine Neutralisierung der Opposition vorliegt. In kurzen Textabschnitten gibt es oft keine Hinweise auf die räumliche und zeitliche Position. Für die Analyse kleinerer Texteinheiten empfiehlt sich deshalb ein vereinfachtes Verfahren, das im Bedarfsfall erweitert werden kann. Diese Methode sieht drei Leitfragen vor, die die fundamentalen Akte des Erzählens betreffen: 1) die Auswahl, 2) die Bewertung, 3) die Benennung der Geschehensmomente. Das sind die Akte, die den Parametern 1) Perzeption, 2) Ideologie und 3) Sprache entsprechen: 1. Wer ist in dem jeweiligen Textabschnitt für die Auswahl der Geschehensmomente verantwortlich? Welcher Instanz überantwortet der Autor den Akt der Auswahl der in der erzählten Geschichte enthaltenen Geschehensmomente, dem Erzähler oder der Figur? Wenn die Auswahl der narrativen Einheiten dem Horizont der Figur entspricht, ist die Frage zu stellen, ob diese Einheiten aktueller Inhalt des Bewusstseins der Figur sind oder ob der Erzähler sie nach der figuralen Erfassens- und Denkweise lediglich reproduziert. 2. Wer ist in dem jeweiligen Abschnitt die bewertende Instanz? 3. Wessen Sprache (Lexik, Syntax, Sprachfunktion) prägt den Ausschnitt?
IV. Erzählertext und Figurentext 1. D i e b e i d e n K o m p o n e n t e n des Erzähltextes a) Erzählerrede und Figurenreden Schon Piaton hat darauf hingewiesen, dass sich der Text des erzählenden literarischen Werks aus zwei Komponenten zusammensetzt. Im Staat (392-394) bezeichnet er das Epos als „Mischgattung", die sowohl das eigentliche „Erzählen" (Diegesis) als auch die „Nachahmung" (Mimesis) der Figurenreden umfasst1. Während der Dichter in den Dithyramben „in einfacher Erzählung" und im Drama durch die „Nachahmung der Reden der Figuren" spreche, so mische er im Epos die beiden Darbietungsweisen: Wenn er die Reden der Helden wiedergebe, spreche er wie im Drama, und „zwischen den Reden" spreche er wie in den Dithyramben, d. h. in eigener Person 2 . Wir gehen davon aus, dass sich der Erzähltext aus zwei Komponenten zusammensetzt, der Erzählerrede und den Reden der Figuren. Während sich die Erzählerrede erst im Erzählakt herstellt, werden die Reden der Figuren fingiert als vor dem Erzählakt existierend und in dessen Verlauf lediglich wiedergegeben. 1
Wie schon oben (I.2.a) angemerkt wurde, bedeutet der Platonische Begriff der Mimesis (im Gegensatz zum Aristotelischen) ,Nachahmung'. Bs sei auch darauf hingewiesen, dass Diegesis bei Piaton nicht die dargestellte Welt bezeichnet, wie in der gegenwärtigen Narratologie, sondern das „einfache" Erzählen.
2
Im Mittelalter wurde die Unterscheidung der Gattungen nach dem Anteil der sprechenden Instanzen in der Typologie der poematos genera aufgenommen, die der einflussreiche lateinische Grammatiker Diomedes (4. Jh. n. Chr.) vorlegte. In seiner Ars grammatica unterscheidet Diomedes 1) eine mimetische Gattung {genus activum νel imitativum [dramaticon vel mimeticon]), in der nur die dramatischen Figuren „ohne Einmischung des Dichters" (sine poetae interlocutione) sprechen, 2) eine erzählende Gattung (genus enarrativum [exegeticon vel apangelticon]), in der allein der Dichter spricht, und 3) eine Mischgattung (genus commune [koinon vel mikton]), in der sowohl der Dichter als auch die Figuren sprechen (zitiert nach Curtius 1948, 437 f.).
1. Die beiden Komponenten des Erzähltextes
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b) Die Figurenreden im Erzähltext Zum Erzähltext werden Erzählerrede und Figurenrede durch den Erzähler vereinigt. Die Reden der Figuren sind Zitat in der Rede des sie auswählenden Erzählers. Auf die grundsätzliche Unterordnung der Figurenrede wies schon Piaton: In der Ilias mache Homer bei der Wiedergabe der Reden der Helden keinen Versuch, uns vorzutäuschen, dass ein anderer und nicht er selbst spräche (Res publica, 393a). Die Selbständigkeit der Figurenreden ist nach Piaton nur scheinbar, in Wirklichkeit bleibt in der Rede der Figur die sprechende Instanz der Dichter (wir würden sagen: der Erzähler). Die Inklusion der Figurenrede in den Erzähltext bedingt, dass sie nicht unbedingt authentisch wiedergegeben ist. Der Erzähler, der Urheber des Erzähltextes, kann die Figurenrede auf eine bestimmte Weise modifizieren, was dann offensichtlich wird, wenn er, wie das gelegentlich in Dostoevskijs Werken zu beobachten ist, ein und dieselbe Rede zweimal wiedergibt, aber in unterschiedlichen Ausdrücken oder mit differierenden Akzenten der Figur. Die Figurenreden können in einer perspektivisch streng durchgehaltenen Erzählung eines subjektiven und sprachlich profilierten Erzählers eine stilistische Umfärbung erfahren, die sie an seinen Sprachhorizont annähern. Solche Assimilation ist charakteristisch für jene Erzählweise, die im Russischen als Skaz bezeichnet wird (mit einem Begriff, der über die Schriften der Russischen Formalisten auch in die Literaturwissenschaft westlicher Länder Einzug gehalten hat, siehe unten, IV.2.b-d). Im Skaz ist die Kompetenz des unprofessionellen Erzählers zur authentischen Wiedergabe fremder Rede, insbesondere einer Rede aus einer anderen sozialen Welt, deutlich unzureichend. Das äußert sich etwa in inadäquater Wiedergabe elaborierter oder offizieller Rede, wenn der unbeholfene Erzähler versucht, die für ihn fremde Sprache zu imitieren (worauf die Komik vieler Skaz-Werke beruht). Auch wenn ein zu authentischer Wiedergabe fremder Rede befähigter Erzähler die Figurenreden inhaltlich zuverlässig wiedergibt und nach strenger „Imitation" sowohl der axiologischen als auch der sprachfunktionalen und stilistischen Merkmale der Rede strebt, wird allein schon die Auswahl einzelner Abschnitte aus dem Kontinuum der Reden und Gedanken der Figur und die Nicht-
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IV. Erzählertext und Figurentext
Auswahl anderer der Wiedergabe eine gewisse Narratorialität verleihen. Auf jeden Fall erfahren die Segmente einer Figurenrede im Erzähltext eine funktionale Überdeterminierung, insofern sie einerseits figurale Inhalte ausdrücken, anderseits aber die doppelte Aufgabe erfüllen, die Figur zu charakterisieren und zugleich die Narration zu befördern. Das heißt: Worte, die von der sprechenden Figur als Mitteilung intendiert sind, dienen in der Wiedergabe durch den Erzähler zusätzlich als Mittel sowohl der Charakterisierung der Figur als auch der Darstellung der Geschichte. Generell kann man sagen, dass der Erzähler, indem er Worte (oder Gedanken) der Figur zitiert, den „fremden" Text für seine eigenen narrativen Zwecke nutzt. Die Figurenrede übernimmt damit eine narrative Rolle und ersetzt die Erzählerrede. In Abschnitt II.2.f wurde dargelegt, dass der Erzähler, wenn er Figurenreden wiedergibt, die figuralen Zeichen und Signifikate und ihre Interdependenz als Signifikanten benutzt, die zusammen mit anderen Signifikanten seine narratorialen Signifikate ausdrücken. Deshalb sind alle Versuche verfehlt, die „direkten" Reden und Dialoge aus dem Erzähltext und aus dem Objektfeld der Narratologie auszuschließen. Auf Piatons Unterscheidung von „Diegesis" als Erzählung und „Mimesis" als Nachahmung der Figurenrede können sich die Anhänger dieser Auffassung nicht berufen, stellt Piaton doch die rhetorische Frage: „Sind denn die Reden, die [Homer] jeweils anführt, und das, was zwischen den Reden steht, nicht gleichermaßen Erzählung [Diegesis] (Res publica 393c)?".
c) Erzählerrede und Erzählertext, Figurenreden und Figurentext Seit Beginn des modernen Erzählens im 18. Jahrhundert beobachten wir, dass die Erzählerrede nicht dem reinen, unvermischten Text des Erzählers entspricht, sondern mit Merkmalen durchsetzt ist, die für die Reden der Figuren charakteristisch sind. Wir müssen deshalb eine weitere Differenzierung einführen, nämlich die zwischen den beiden Komponenten, die sich in der Erzählerrede moderner Prosa auf eine oft kaum entwirrbare Weise vermischen. Wir nennen die beiden Komponenten in ihrer unvermischten Reinform Erzäh-
1. Die beiden Komponenten des Erzähltextes
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lertext und Figurentext. Der Figurentext ist in der Regel fingiert als in den Figurenreden vollmimetisch repräsentiert. Zumindest die Regeln der Fiktion wollen, dass der Leser die Reden der Figur als authentische Wiedergabe des unvermischten Figurentextes auffasst. Wir haben indes gesehen, dass die Figurenrede den Figurentext keineswegs vollmimetisch wiederzugeben braucht. Der Erzähler kann dem reinen Figurentext eine narratoriale Beimischung geben, entweder unbewusst, aus mangelnder Kompetenz zur authentischen Wiedergabe fremder Rede, oder bewusst, mit bestimmten Intentionen. In den Notizbüchern zum Jüngling hat sich Dostoevskij wiederholt in dem Sinne geäußert, dass der jugendliche Erzähler die konkrete Gestalt der Reden der Erwachsenen nicht in allen Zügen authentisch wiedergeben könne. Und der Erzähler selbst bekennt dann auch mehrfach, dass er fremde Reden nur soweit wiedergebe, wie er sie verstanden habe und wie er sich an sie erinnere. Die Differenz zwischen Erzählerrede und Erzählertext ist seit dem Beginn der modernen Prosa tendenziell größer als die zwischen Figurenrede und Figurentext. Die Erzählerrede resultiert in moderner Prosa aus einer komplexen Mischung der Merkmale für Erzählertext und Figurentext3. Mit zunehmender Figuralisierung des Erzählens, d. h. zunehmender Orientierung des Erzählens an der Perspektive der Figur, treten die Anteile des Erzählertextes zurück. In der Extremform der Figuralisierung ist der Erzählertext in der Erzählerrede nur noch in bestimmten grammatischen Merkmalen präsent, während in allen anderen Zügen von der Auswahl der Themen bis zur sprachlichen Gestaltung der Figurentext realisiert wird. Man könnte hier fragen, warum die beiden Elemente des Erzähltextes als Texte bezeichnet und von den Reden unterschieden werden. In unserer Begriffsverwendung unterscheidet sich Text von Rede dadurch, dass er die Subjektsphäre der jeweiligen Instanz, ihre perzeptive, ideologische und sprachliche Perspektive in reiner, unvermischter Form enthält. Diese reine genotypische Form, in der der Erzählertext und der Figurentext gedacht werden müssen, ist natürlich eine Abstraktion von der phänotypischen Gestalt, in der 3
Zu dieser für die moderne Prosa charakteristischen Mischung vgl. grundlegend die Arbeiten Lubomir Dolezels 1958; 1960; 1973a; 1993.
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IV. Erzählertext und Figurentext
die der direkten Beobachtung zugängliche Rede vorliegt. Eine zweite Differenz betrifft die Extension des Begriffs Text in den beiden Komposita. Unter Text wird hier der Komplex aller äußeren und inneren Reden, Gedanken und Wahrnehmungen der beiden Instanzen, des Erzählers oder der Figur, verstanden. Die Interferenz der beiden Texte, um die es in diesem Kapitel im Wesentlichen gehen wird, beschränkt sich nicht auf Worte oder Aussagen, sondern betrifft die gesamten Komplexe der Wahrnehmungs- und Sinngebungstätigkeiten der beiden Instanzen mit den ihnen eigenen Ideologien oder Wertungshaltungen. Deshalb umfasst der hier verwendete Begriff des Textes neben den schon sprachlich manifestierten Reden, äußeren wie inneren, auch die Tätigkeiten, die im Status von Gedanken, Wahrnehmungen oder nur der Wertung verbleiben4. Die Beziehungen zwischen den hier eingeführten Begriffen seien in folgendem Schema verdeutlicht: Erzähltext
Erzählertext + Figurentext
[Erzählertext +] Figurentext
Erläuterung der Abbildung·. Der Erzähltext konstituiert sich (symbolisiert durch durchgehende Linien) aus der Erzählerrede und der Figurenrede. In der Erzählerrede manifestieren sich (gestrichelte Linie) in moderner Prosa in unterschiedlichem Mischungsverhältnis Erzählertext und Figurentext. Die Figurenrede ist als unvermischte Manifestation des Figurentextes fin4
In der Präferenz des Begriffs Text folge ich Dolezel (1958), der zwischen dem „Text des Erzählers" und dem „Text der Figuren" unterscheidet. Hinter der mit Dolezel 1958 gemeinsamen Bezeichnung der beiden Elemente verbirgt sich allerdings ein wesentlicher Unterschied bei der Bestimmung der Texte; siehe dazu unten.
1. Die beiden Komponenten des Erzähltextes
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giert, kann aber durchaus Merkmale des Erzählertextes enthalten. (Dem vergleichsweise selteneren Auftreten narratorialer Überarbeitung der Figurenrede wird durch die Einklammerung von Erzäblertext Rechnung getragen).
2. Ornamentale Prosa und Skaz Bevor wir die Interferenz von Erzählertext und Figurentext näher betrachten, seien zwei spezifische Stilisierungen des Erzähltextes behandelt, die in der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, besonders aber in der experimentierfreudigen Prosa der russischen Moderne und Avantgarde zwischen 1890 und 1930 kultiviert wurden: die ornamentale Prosa und der Skaz. Auch in anderen Literaturen, slavischen wie westlichen, finden sich im Ansatz vergleichbare Erscheinungen, aber in keiner anderen europäischen Literatur scheinen sie eine so große Rolle zu spielen wie in der russischen. Mit Natal'ja Kozevnikova (1971,115-117) kann man davon sprechen, dass sich die russische Erzählkunst zwischen 1890 und 1930 durch die Dominanz zweier in entgegengesetzte Richtungen strebender „Hypertrophien" auszeichnet, einer „Hypertrophie des Literarischen", die sich in der ornamentalen Prosa manifestiert, und einer „Hypertrophie der Charakterisierung", auf der der Skaz beruht 5 . Während die erste „Hypertrophie" auf die Poetisierung des Erzähltextes (in seinen beiden Elementen, in Erzählerrede und Figurenrede) hinausläuft und mit einer Schwächung der Kundgabefunktion sowohl der Erzählerrede als auch der Figurenrede verbunden ist, äußert sich die zweite Hypertrophie in einer Stilisierung des Erzähltextes nach den unliterarischen Formen umgangssprachlicher Rede, in der Inszenierung der Mündlichkeit und in der Stärkung der Expressivität des Erzähltextes, der einen unprofessionellen Erzähler kundgibt, dessen Denken, Werten und Sprechen wichtiger werden kann als die Geschichte, die er im Begriff ist zu erzählen.
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Der von Kozevnikova gebrauchte russische Begriff charakternost' bedeutet in diesem Kontext die Bezogenheit des Erzähltextes auf das Erzählsubjekt, also jene Funktion, die Karl Bühler Kundgabe (1918/20) oder Ausdruck (1934) nannte.
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IV. Erzählertext und Figurentext a) Ornamentale Prosa
Der problematische, aber konventionell gewordene und nun allgemein akzeptierte Terminus ornamentale Prosa bezeichnet das Ergebnis einer Überdeterminierung des Erzähltextes durch das „Sprachdenken" der Poesie 7 und durch spezifisch poetische Verfahren wie Paradigmatisierung, Rhythmisierung, Bildung thematischer und formaler Äquivalenz, d. h. durch die Dominanz der unzeitlichen Verknüpfungen über die zeitlichen (vgl. oben, I.l.e). Der Realismus und sein von den empirischen Wissenschaften geprägtes Weltbild finden ihren Ausdruck in der Hegemonie des Fiktional-Narrativen, der „Erzählkunst". Die postrealistische Moderne tendiert dagegen zur Generalisierung des für die Versdichtung konstitutiven Prinzips, des Imaginativ-Poetischen, das sich in der „Wortkunst" realisiert. Und wie sich im Realismus die Gesetze 6
Alternative adäquatere Termini haben sich nicht durchsetzen können. Hier wären etwa zu nennen: „poetische Prosa" oder „rein ästhetische Prosa" (Zirmunskij 1921), „poetisierte Prosa" (Tynjanov 1922,132), „lyrische Prosa" (N. Kozevnikova 1971, 97), „dynamische Prosa" (Struve 1951; Oulanoff 1966, 53) oder „nichtklassische Prosa" (N. Kozevnikova 1976). - Zur systematischen und historischen Beschreibung der ornamentalen Prosa vgl.: Sklovskij 1924, Oulanoff 1966, 53-71; Carden 1976; Browning 1979; Levin 1981. Die überzeugendsten Beschreibungen geben: N. Kozevnikova 1971; 1976; Jensen 1984; Szilärd 1986. Zum ornamentalen Erzählen, einer narrativierten Variante ornamentaler Prosa, vgl. Schmid 1992.
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Zum symbolistischen (Veselovskij, Potebnja, Belyj) und formalistischen (Sklovskij) Konzept des „Sprachdenkens" vgl. Hansen-Löve 1978, 45-49, 169 f. Den symbolistischen Theoretikern galt das poetische Sprachdenken als ein Residuum archaischer, ursprünglicher und eigentlicher Welterfassung, die - so dachte zumindest Andrej Belyj - auch in der neuzeidichen Gegenwart durch eine Remythisierung der Dichtung zu restituieren war (vgl. auch dazu Hansen-Löve 1978, 45-47). Dem symbolistischen und dann formalistischen Begriff der „Wortkunst" setzt Hansen-Löve (1982, bes. 231 f., Anm. 24; 1983, bes. 302; 1984, bes. 16-19) das aus dem Denken der Formalisten rekonstruierte Antonym „Erzählkunst" entgegen, und er entwickelt so eine fruchtbare Dichotomie, die als fundamentale Opposition zutreffender als die traditionellen Oberflächenpaare wie Vers vs. Prosa oder Lyrik vs. Epik die beiden Hemisphären der literarischen Welt bezeichnet (vgl. Schmid 2008c). Die Wortkunst ist keineswegs an den Vers oder gar an die Lyrik gebunden, sondern tritt durchaus auch in Prosagattungen auf, wie sich umgekehrt die Erzählkunst auch in verssprachlichen Gattungen realisieren kann. Insofern ist die Dichotomie Wortkunst vs. Enählkunst nicht nur vom Inhalt, son-
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2. Ornamentale Prosa und Skaz
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narrativer Prosa auf die Poesie und auch auf ihre nicht-narrativen Gattungen ausbreiten, so expandieren in der Moderne die konstruktiven Verfahren der Poesie auf das Feld der narrativen Prosa. An sich in allen Zeiten vorfindbar, verdichten sich die Spuren der ornamentalen Prosa in Epochen, in deren Gattungssystem das Poetische und das ihm zugrunde liegende (neo-)mythische Denken dominieren. Während sich die Prosa des russischen Realismus am Ideal der Erzählkunst orientiert, realisiert die Prosa des Postrealismus den Typus der Wortkunst. Auch in der deutschen Literatur fällt die hohe Zeit jener Prosa, die man in der Germanistik die „lyrische", „poetische" oder „rhythmische" nennt, mit der Epoche des Symbolismus zusammen, in der das Gattungssystem vom poetischen Pol dominiert wird. Ornamentale Spuren tragen vor allem die Prosadichtungen der Lyriker wie Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Rainer Maria Rilke. Ein Mustertext deutscher ornamentaler Prosa ist Rilkes Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke·. Ein Tag durch den Tross. Flüche, Farben, Lachen - : davon blendet das Land. Kommen bunte Buben gelaufen. Raufen und Rufen. Kommen Dirnen mit purpurnen Hüten im flutenden Haar. Winken. Kommen Knechte, schwarzeisern wie wandernde Nacht. Packen die Dirnen heiß, dass ihnen die Kleider zerreißen. Drücken sie an den Trommelrand. Und von der wilderen Gegenwehr hastiger Hände werden die Trommeln wach, wie im Traum poltern sie, poltern -. [...] Rast! Gast sein einmal. Nicht immer selbst seine Wünsche bewirten mit kärglicher Kost. Nicht immer feindlich nach allem fassen; einmal sich alles geschehen lassen und wissen: was geschieht, ist gut. (Rilke 1,144-147)
Dieser Text in „vers-infizierter Prosa", wie Rilke sie später abschätzig nannte, ist mit seiner dichten Klanginstrumentierung, an der dem auch vom Umfang der Begriffe her nicht deckungsgleich mit Poesie vs. Prosa. Mit Wortkunst haben wir überall dort zu tun, wo - gemäß Roman Jakobsons berühmter Definition der „poetischen Funktion" (1960) - das Prinzip des Paradigmas, nämlich die Äquivalenz, sich auch im Syntagma geltend macht und dessen kausal-temporale Sukzessivität überlagert. Während sich in der aperspektivischen Wortkunst die archaische, mythisch-unbewusste Imagination entfaltet, ist dem perspektivierten und stilistisch aufgefächerten Diskurs der Erzählkunst die neuzeitliche Fiktion zugeordnet, die das bewusste Denken eines reflektierenden Ich voraussetzt.
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IV. Erzählertext und Figurentext
Rhythmisierung, Allitcrationen, Klangwiederholungen, Paronomasien besonderen Anteil haben, im Deutschen ein Extremfall poetischer Stilisierung des Erzähltextes, ein Fall, der als an der Grenze zum Preziösen, zum stilistisch Bedenklichen liegend wahrgenommen wird. Solch intensiver Ornamentalismus prägt jedoch in der russischen Prosa, die sich durch größere Sprachsinnlichkeit auszeichnet, einen breiten Strom von Texten zwischen 1890 und 1930. Auch viele der späteren „sozialistischen Realisten" haben in ihrem Frühwerk der zwanziger Jahre dem Ornamentalismus gehuldigt. An Rilkes Text kann man auch den Aperspektivismus ornamentaler Prosa und die Schwächung der Kundgabefunktion beobachten. Obwohl der Erzähltext in großen Teilen die Form des bewusstseinsunmittelbaren erlebten Monologs hat, in der die Erzählerrede die Wahrnehmungen und Wertungen des figuralen Reflektors wiedergibt, ist die perspektivische Zuordnung der Segmente zum narratorialen oder figuralen Pol von geringer Relevanz. Denn die Opposition von Erzählertext und Figurentext ist, wenn überhaupt vorhanden, nur schwach ausgeprägt, da in beiden Texten die überdeterminierende Ornamentalisierung die Funktion ideologischer und sprachlicher Kundgabe von Erzähl- und Sprechsubjekten weitgehend ausschaltet. Der Erzähltext lenkt die Aufmerksamkeit ganz auf die poetische Faktur, die seine beiden Komponenten gleichermaßen organisiert. Und diese Faktur ist nicht Ausdruck des realistischen Sachdenkens, sondern realisiert das poetische Sprachdenken. Sie verleiht dem Text jene Suggestivität, die für das mythischen Sprechen charakteristisch ist. Kraft ihrer Poetizität ist die ornamentale Faktur ein künstlerisches Ikon des Mythos, wobei eine Isomorphic von poetischem und mythischem Denken unterstellt sei. Grundlegendes Merkmal, das die ornamentale Prosa mit dem mythischen Denken homolog macht, ist die Tendenz zum Abbau der für den Realismus gültigen Nicht-Motiviertheit des Zeichens. Das Wort, das in der realistischen Sprachauffassung ein nur durch Konvention festgelegtes, grundsätzlich arbiträres Symbol war, wird im Ornamentalismus wie im mythischen Denken tendenziell zum Ikon, zum Abbild seiner Bedeutung. Die Ikonizität, die die Poesie der von ihr transformierten Prosa vermittelt, korrespondiert mit dem Gesetz des magischen Sprechens im Mythos. Dort tritt zwischen Namen und Ding keinerlei vermitteln-
2. Ornamentale Prosa und Skaz
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de Konvention, im Grunde nicht einmal ein Verweisungs- oder Repräsentationsverhältnis. Der Name bedeutet das Ding nicht, er ist das Ding. Die „Trennung des Ideellen vom Reellen", die „Scheidung zwischen einer Welt des unmittelbaren Seins und einer Welt der mittelbaren Bedeutung", der „Gegensatz von ,Bild' und .Sache'" ist dem mythischen Denken - wie Ernst Cassirer (1925, 51) ausführt zutiefst fremd: „Wo wir ein Verhältnis der bloßen .Repräsentation' sehen, da besteht für den Mythos [...] vielmehr ein Verhältnis realer Identität'. Die präsemiotische Sprachauffassung des Mythos und die mythische Identifizierung von Wort und Ding werden von der ornamentalen Prosa sowohl in der tendenziellen Ikonizität des Erzähltextes abgebildet als auch in der Neigung zum Realisieren von tropischen Ausdrücken, zum Wörtlichnehmen der Bilder und zur Entfaltung der buchstäblich verstandenen Sachbedeutungen9. Die für die ornamentale Prosa charakteristische Ikonizität besteht in einer tendenziellen Kookkurrenz oder Isotopie zwischen den Ordnungen von Diskurs und Geschichte. Für die ornamentale Prosa gilt deshalb die Annahme einer thematischen Relevanz sämtlicher formaler Beziehungen. Das heißt: Jede Äquivalenz der signantia suggeriert eine analoge oder kontrastierende Äquivalenz der signata. Jeder formalen Ordnung auf der Ebene des Diskurses ist der Tendenz nach eine thematische Ordnung in der Geschichte zugeordnet. Zur Grundfigur wird die Paronomasie, eine Klangwiederholung, die eine okkasionelle Bedeutungsbeziehung zwischen Wörtern herstellt, die an sich weder eine genetische, etymologische noch eine semantische Verbindung haben. In der Paronomasie kommt das von Cassirer (1925, 87) formulierte Gesetz des mythischen Denkens zur Geltung, demzufolge jede „wahrnehmbare Ähnlichkeit" der „unmittelbare Ausdruck einer Identität des Wesens" ist. Die Tendenz zur Ikonizität, ja zur Verdinglichung aller Zeichen führt letztlich zur Lockerung der in der Erzählkunst streng gezogenen Grenze zwischen Wörtern und Sachen, zwischen Diskurs und Geschichte. Zwischen den beiden Ebenen, deren Oppositionen
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Grundlegend zum wortkünstlerischen Verfahren der Realisierung und Entfaltung von Tropen, semantischen Figuren und Parömien zu Texten vgl. HansenLöve 1982. Charakteristisch ist dieses Verfahren schon für Puskins wortkünstlerische Belkin-Erzählungen (vgl. Schmid 1991, 9 6 - 9 9 et passim).
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IV. Erzählertext und Figurentext
(Ausdruck und Inhalt, Äußerliches und Innerliches, Arbiträres und Wesentliches) aufgehoben werden und die als gleich relevant erscheinen, bildet die ornamentale Prosa Übergänge: Metamorphosen von reinen Lautgebilden zu Figuren und Gegenständen (die besten Beispiele hierfür bietet die Sujetprosa Andrej Belyjs, insbesondere der Roman Petersburg) und die narrative Realisierung verbaler Figuren zu Sujetmotiven (dafür enthalten die Erzählungen Belkins von Puskin reiches Anschauungsmaterial). Der Iterativität des mythischen Weltbildes entspricht in der ornamentalen Prosa die Wiederholung sowohl klanglicher als auch thematischer Motive. Als Iteration ganzer Motive zeitigt sie Leitmotivik, als Wiederholung einzelner Merkmale Äquivalenz3. Leitmotivik und Äquivalenz überlagern sowohl das sprachliche Syntagma des Diskurses, wo sie zu Rhythmisierung und Klangwiederholung führen, als auch die thematische Sukzession der Geschichte, auf deren temporale Folge sie ein Netz unzeitlicher Verklammerungen legen. Wo keine Geschichte mehr erzählt wird, wie im Typus der rein ornamentalen Prosa (z. B. Andrej Belyjs Symphonien), bleiben die Iterationsverfahren die einzigen Garanten der Textkohäsion, die entscheidenden Träger des thematischen Zusammenhangs und die ausschlaggebenden semantischen Operatoren11. Die Poetisierung, Ornamentalisierung der Prosa führt unausweichlich zu einer Schwächung ihrer Narrativität. Diese Schwächung kann so weit gehen, dass sich - wie etwa in Belyjs Symphonien - eine ereignishafte Geschichte gar nicht mehr bildet und der Text lediglich Fragmente einer Handlung denotiert, deren Zusammenhang nicht mehr narrativ-syntagmatisch, sondern nur noch poe-
10 Zur Rolle der thematischen und formalen Äquivalenz in der Erzählprosa und zum Zusammenwirken von zeitlicher und unzeitlicher Verknüpfung siehe oben, I.l.e. Ausführlicher dazu: Schmid 1992, 29-71. Zur semantischen Funktion der Äquivalenz auch Schmid 1977. 11 Vgl. N. Kozevnikova (1976, 57): „Bei hinreichend ausgearbeitetem Sujet existieren die Leitmotive gleichsam parallel zum Sujet, bei geschwächtem Sujet ersetzt die Leitmotivik das Sujet, kompensiert sie sein Fehlen". Dem ist freilich hinzuzufügen, dass die Iterationsverfahren (zu denen neben der Leitmotivik auch die formale und thematische Äquivalenz gehört), nicht nur „parallel" zum entfalteten Sujet existieren, sondern die zeitlichen Verknüpfungen fokussieren, profilieren und modulieren können.
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tisch-paradigmatisch, nach den Prinzipien von Assoziation, Ähnlichkeit und Kontrast hergestellt wird. Größte semantische Komplexität erreicht die poetische Prosa freilich nicht in der völligen Auflösung ihres narrativen Substrats, sondern dort, wo die Paradigmatisierung auf den erfolgreichen Widerstand eines Ereigniszusammenhangs stößt. Die Interferenz von Wortkunst und Erzählkunst führt zu einer Potenzierung des Sinns. Wenn poetische Verfahren die Narration konstruktiv überformen, dann reichern sich die Bedeutungsmöglichkeiten der beiden Texttypen an ihrer wechselseitigen Determinierung und Relativierung an. Einerseits machen die poetischen Verknüpfungen, die das narrative Substrat gleichsam mit einem Netz überziehen, an den erzählten Situationen, Figuren und Handlungen neue Aspekte und Beziehungen sichtbar, anderseits wird das archaische, imaginative Denken der Wortkunst, wo es sich einem fiktional-narrativen Zusammenhang integriert, einer perspektivischen Brechung und psychologischen Motivierung unterworfen. Beispiele für die hochkomplexe Interferenz poetischer und narrativer Zusammenhangbildung sind in der russischen Literatur vor der Schwelle zur modernistischen Hypertrophie der Poetisierung die Erzählungen Cechovs, nach Überschreiten dieser Schwelle die 12
Werke Isaak Babel's und Evgenij Zamjatins . Cechovs ornamentalisierendes Erzählen erweckt gelegentlich sogar den Eindruck, als sei der Zusammenhang der thematischen Einheiten nicht allein durch das zu erzählende Geschehen bestimmt, sondern auch von phonischen Ordnungen des Diskurses gesteuert. Dieses spezifisch wortkünstlerische Verfahren sei an einer Stelle aus Rothschilds Geige (Skripka Rotsil'da) betrachtet, die ausnahmsweise auch auf Russisch (und für den Nachvollzug der phonischen Verbindungen in Transliteration) angeführt sei. Der russische Sargmacher Jakov Ivanov, genannt Bronze, ein grober Mensch, dessen Gedanken ausschließlich um die Verluste seines Gewerbes kreisen (weil in seinem „miesen" Städtchen fast nur alte Leute leben, die „so selten" sterben, dass es richtig „ärgerlich" ist), 12 Vgl. meine Analysen von Erzählungen techovs, von Babel's Übergang über den Zbruc (Perechod cerez Zbruc) und Zamjatins Überschwemmung (Navodnenie): Schmid 1992,135-177.
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IV. Erzählertext und Figurentext
anderseits ein exzellenter Geigenspieler, den nur sein Hass auf die Juden davon abhält, seine Einnahmen durch das Spiel im jüdischen Orchester aufzubessern, sitzt, sterbend, auf der Türschwelle seiner Hütte und spielt in Gedanken an das „verlorene, verlustreiche" Leben auf seiner Geige eine ganz neue, „klagende und rührende" Weise, die ihm, dem rohen Sargmacher, Tränen entlockt: I egm krepee on dümal, tem pecil'nee pela skripka. Skripnula scekolda raz-drugöj, i ν kalitke pokazälsja Rotsil'd. (Cechov 8, 304 f.) Und je stärker er nachdachte, desto trauriger sang die Geige. Es knarrte der Türriegel ein, zwei Mal, und in der Pforte erschien Rothschild.
Der erste Satz bringt das traurige Singen der Geige nicht nur thematisch, sondern auch phonisch in eine Verbindung mit Jakovs tiefem Nachdenken: krepee [„stärker"] erscheint in skripka [„Geige"] und pecal'nee [„trauriger"] in seine lautlichen Bestandteile zerlegt. Durch diese Isotopie thematischer und phonischer Beziehungen sensibilisiert, wird der Leser auch den zweiten Satz und seine Anknüpfung an den ersten aufmerksam wahrnehmen. Die Wörter an der Nahtstelle der Sätze, skripka („Geige") und skripnula („knarrte"), die - grundsätzlich kombinierbar - hier gleichwohl Agens und Actio zweier ganz unterschiedlicher Handlungen bezeichnen, bilden eine Paronomasie. Diese wiederum suggeriert einen mehr als nur zufälligen Zusammenhang der Handlungen. Die phonische Ordnung des Diskurses stiftet also einen Handlungsnexus, der in der Geschichte selbst nicht ausgeführt ist. Voraussetzung dafür ist freilich, dass der Leser das Prinzip der Äquivalenz von der Klang- auf die Handlungsebene projiziert. Das aber fordert die tendenzielle Ikonizität des ornamentalen Erzählens. Wenn im Diskurs skripnula wie ein verbales Echo auf skripka klingt, so erscheint in der Geschichte das mehrmalige Knarren des Türriegels, das den ängsdich zögernden Rothschild ankündigt, als Handlungsecho auf die traurig singende Geige. Man wird noch weiter gehen können: Rothschilds Auftreten ist sowohl durch die Geschichte als auch durch den Diskurs motiviert. Und in der Geschichte ist es auf doppelte Weise begründet: Rothschild soll den Auftrag des Orchesterleiters erfüllen, nämlich Jakov zum Spiel bei einer Hochzeit einladen, aber er scheint auch dem Klang der Geige zu folgen. Und das phonische Ornament des Diskurses suggeriert: Rothschild, den metonymisch
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die knarrende (Jkripnuld) Türklinke vertritt, ist auch vom Klang jenes Wortes (Jkripka - „Geige") herbeigerufen, das metonymisch die neuen Gedanken des auf der Schwelle des Todes Geige spielenden Jakov Ivanov bezeichnet. Vor und nach der Blüte der hypertrophen Ornamentalisierung bringt die hybride, ornamental-narrative Prosa Strukturen hervor, die die aperspektivische und apsychologische Weltsicht des Mythos narrativieren, einer perspektivischen Verkürzung und psychologischen Motivierung unterwerfen. Nicht selten macht sich die Moderne die Isomorphic zwischen dem mytho-poetischen Denken und der ontogenetischen wie phylogenetischen Vorzeit mit der Tätigkeit des Unbewussten zunutze, die zu ihrem Kulturverständnis gehört. Die assoziative Bereicherung erzählkünstlerischer Sinngebung und die fiktionale Einbettung des Wortkünstlerischen bieten hochkomplexe Möglichkeiten indirekter Darstellung des Menschen und seiner Innenwelt. Diese Möglichkeiten nutzt vor allem die russische Prosa der Moderne, die die Hybridisierung von Wortkunst und Erzählkunst zur Modellierung eines komplexen, zugleich archaischen und rezenten Menschenbildes nutzt. Ein Mustertext ist etwa Evgenij Zamjatins Höhle (Pescera). In dieser antiutopischen Erzählung aus dem Hunger- und Kältejahr 1920 wird eine Siedlung dargestellt, die an der Stelle liegt, wo „vor Jahrhunderten" Petersburg war: Gletscher, Mammute, Wüsteneien. Nächtliche schwarze Klippen, irgendwie Häusern gleich; in den Klippen Höhlen. Und es ist ungewiss, wer des Nachts auf dem Steinpfade zwischen den Klippen trompetet und, den Weg erschnuppernd, den weißen Schneestaub aufbläst: Vielleicht ein Mammut mit grauem Rüssel; vielleicht der Wind; vielleicht jedoch ist eben der Wind das eisige Gebrüll irgendeines mammutigsten Mammuts. Eines ist klar, es ist Winter. Und man muss fester die Zähne zusammenbeißen, auf dass sie nicht klappern; und man muss jede Nacht seine Feuerstelle aus Höhle in Höhle immer tiefer hineintragen; und man muss immer mehr zottige Tierfelle über sich selbst stülpen. (Russland erzählt, Frankfurt a. M. 1959, S. 99. Übersetzung: Johannes von Guenther)
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b) Der Skaz: Definitionen Obwohl der Skaz seit den Arbeiten der Russischen Formalisten (die ihn als eine Form der Verfremdung betrachteten) sich des besonderen Interesses der russischen Literaturwissenschaft erfreute, gibt es bis heute noch keine Vereinbarung darüber, was unter dem Begriff zu verstehen ist und welche Phänomene man ihm sinnvollerweise zuordnen sollte. In der russischen Erzähltheorie findet sich kaum ein zweiter Begriff mit einem so uneindeutigen Inhalt und einem so unklaren Umfang. Nicht selten wird der Skaz als eine der ornamentalen Prosa verwandte oder ihr subsumierbare Form betrachtet. Das ist insofern gerechtfertigt, als beide Stilisierungen, obwohl sie in entgegengesetzte Richtungen vom referenzorientierten Erzählen abweichen, gleichermaßen zu einer gesteigerten Wahrnehmbarkeit des Erzähltextes (in seinen beiden Komponenten) führen13. Die sich aus dieser Auffassung ergebende übergroße Extension des Begriffs der ornamentalen Prosa hat den Bedarf an spezifischeren Definitionen entstehen lassen. So definieren dann in der maßgebenden neunbändigen Kurzen literarischen Enzyklopädie Aleksandr Cudakov und Marietta Cudakova (1971) den Skaz auf folgende Weise: [Skaz] ist ein besonderer Typ des Erzählens, der sich als Erzählung einer vom Autor entfernten (konkret genannten oder impliziten) Figur konstituiert, die sich durch eine eigenartige Redeweise auszeichnet.
Nach dieser noch recht breiten Definition fällt der Skaz mit der Erzählweise einer jeglichen vom Autor hinreichend dissoziierten Instanz zusammen. Diese Bestimmung deckt sogar Erzähltexte wie den der Brüder Karamazov ab, dessen Erzähler zwar phasenweise als
13 Die Subsumierung sowohl des Skaz als auch der poetischen Stilisierung unter den Begriff der „ornamentalen Prosa" findet sich schon bei Gofman (1926, 232), der diese mit „Stilprosa" gleichsetzt, d. i. einer Prosa, die die „Spürbarkeit des Erzählens als solchen in den Vordergrund rückt", einer Erzählweise „mit einer stilistischen Dominante" („der Stil überwuchert das Sujet, ordnet sich seine Dynamik unter und erlangt sozusagen selbstwertige Bedeutung"). Ganz ähnlich definiert Stepanov (1928, 13 f.) die ornamentale Prosa als „Prosa mit Orientierung auf komplexe stilistische Arbeit" und nennt als ihre beiden Haupttendenzen zum einen die Einführung von Prinzipien des Verses und zum anderen die lexikalische und syntaktische Stilisierung des Skaz.
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etwas schwatzhafter Chronist auftritt und sich allerlei stilistische Ungeschicklichkeiten, logische Inkonsistenzen und überflüssige Abschweifungen zuschulden kommen lässt, aber in anderen Teilen kompetent und sogar mit Introspektion in die geheimsten Seelenregungen der Figuren erzählt. Kaum jemand wird diese Erzählweise als Skaz bezeichnen wollen. Dem steht nicht nur das Schwanken der Erzählinstanz, die mangelnde Konsequenz in der Durchführung der subjektiven Erzählweise entgegen, sondern auch der geistige Horizont und die narrative Kompetenz, die man dem persönlichen Erzähler bei all seinen Schwächen nicht absprechen kann. Auf die zu allgemeine Definition folgt in der Kurzen Literarischen Enzyklopädie eine gewisse Einengung der Merkmale: [...] im Skaz tritt die ständige Empfindung einer „nichtprofessionellen" Erzählweise in den Vordergrund, die auf einem „fremden" und für den Autor oft unannehmbaren Wort aufbaut. Die Orientierung an Verfahren des mündlichen Erzählens dient nur als ein Mittel, die Rede des Erzählers sowohl dem „Autor"-Wort als auch allgemein den in der jeweiligen Zeit gültigen literarischen Systemen entgegenzusetzen.
Neben der eigenartigen Redeweise und der Dissoziierung des Erzählers vom Autor heben Cudakov und Cudakova ein drittes Merkmal hervor, die Dialogizität: Die Struktur des Skaz ist an einem als Gesprächspartner vorgestellten Leser ausgerichtet, an den sich der Erzähler mit seinem von lebendiger Intonation durchdrungenen Wort gleichsam unmittelbar wendet.
Auch dieses Merkmal erweist sich, für sich genommen, als nicht hinreichend diskriminatorisch. Die aktive Ausrichtung am fiktiven Leser charakterisiert etwa auch den dialogischen Erzählmonolog in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Aber die in diesem Monolog dominierende Intellektualität und Rhetorik und seine weltanschauliche und psychologische Thematik sind mit der allgemein verbreiteten Vorstellung von Skaz nicht zu vereinbaren. Recht spezifisch wird die in Frage stehende Erzählweise in der Poetik des Skaz (Muscenko, Skobelev, Krojcik 1978, 34) definiert: Skaz ist ein zweistimmiges Erzählen, das den Autor und den Erzähler in eine bestimmte Korrelation bringt, im mündlich vorgetragenen und theatralisch improvisierten Monolog eines ein sympathetisch gestimmtes Auditorium voraussetzenden Menschen stilisiert ist, der, unmittel-
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bar mit dem demokratischen Milieu verbunden oder auf dieses Milieu ausgerichtet ist.
In dieser Definition sind verschiedene Merkmale miteinander verbunden, die einzeln oder gebündelt seit dem Beginn der Skaz-Forschung favorisiert wurden. c) Der Skaz: Forschungsgeschichte (B. Ejchenbaum, Ju. Tynjanov, V. Vinogradov, Μ. Bachtin) Die Diskussion wurde eröffnet durch Boris Ejchenbaums Skizze Illusion des Skaz (1918), einen der Schlüsselaufsätze des frühen Formalismus. Der Skaz wird hier vor allem betrachtet als Mittel zur Befreiung der Wortkunst von der „Schriftlichkeit, die für den Künstler des Wortes nicht immer ein Wert ist", als Mittel, in die Literatur das Wort als „lebendige, bewegliche Tätigkeit einzuführen, die von Stimme, Artikulation, Intonation gebildet wird, zu denen sich noch Gestik und Mimik hinzugesellen" (Ejchenbaum 1918, 166 f.). In dem darauf folgenden Aufsatz Wie Gogol's Mantel gemacht ist unterstreicht Ejchenbaum (1919, 122 f.) die Verlagerung des Schwerpunkts vom Sujet (im Sinne der nacherzählbaren Handlung), das in Gogol's Skaz auf ein Minimum reduziert ist, auf die Verfahren, die die Sprache als solche „spürbar" machen. In diesem Aufsatz unterscheidet Ejchenbaum zwei Arten des Skaz: 1. den „erzählenden" und 2. den „reproduzierenden" Skaz. Mit dem ersten Typus ist ein durch die Figur des Erzählers, seine Sprache und Ideologie motivierter, ihn charakterisierender Skaz gemeint. Der zweite Typus besteht in einem nicht mehr durch den Charakter der Erzählerfigur motivierten Spiel mit unterschiedlichen Sprachgesten, in dem der Erzähler
nur noch als Schauspieler, als Träger sprachlicher Masken figuriert14. In der Arbeit über den Mantel mit seiner Montage-Faktur 14 In seiner Darstellung des Russischen Formalismus rekonstruiert Hansen-Löve (1978,157-172, 274-303) für die formalistische Erzähltheorie die Unterscheidung zwischen 1. dem „charakterisierenden" Typus des Skaz („Skaz II"), in dem der Erzähltext ein bestimmtes Subjekt in einem bestimmten sozialen Milieu kundgibt, und 2. dem Montage-Typus oder dem „transmentalen" Typus des Skaz („Skaz I"), in dem ein diffuses Subjekt auftritt und das Wort sich zum Ding verwandelt. Diese Dichotomie koppelt Hansen-Löve an die Opposition zwischen dem (typologisch späteren) „syntagmatischen Funktionsmodell" des Russischen Formalis-
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und der ornamentalen Stilisierung interessiert sich Ejchenbaum nur für den zweiten Typus. In der späteren Arbeit über Leskov (1925, 218 f.) dagegen definiert er den Skaz als „eine Form der Erzählprosa", „die in ihrer Lexik, Syntax und in der Wahl der Intonationen eine Ausrichtung auf die mündliche Rede eines Erzählers zeigt", und er schließt hier ausdrücklich alle Erzählformen aus dem Skaz aus, „die deklamatorischen Charakter oder den Charakter poetischer Prosa haben und sich damit nicht am Erzählen orientieren, sondern an der oratorischen Rede oder am lyrischen Monolog". Mit dieser Definition engt er den Skaz auf den ersten, charakterisierenden, perspektivierten Typus ein. Gleichwohl konzediert er die Existenz von paradoxen Formen wie der des „ornamentalen Skaz", die „zwar noch Spuren einer folkloristischen Grundlage und der Skaz-Intonation bewahrt, aber keinen Erzähler als solchen mehr enthält" (236 f.). Der Skaz interessiert Ejchenbaum aber im Grunde nicht als spezifisch narratives und erzählerisches Phänomen, sondern als „Demonstration" des allgemeineren Prinzips der „Wortkunst": Nicht der Skaz als solcher ist wichtig, sondern die Ausrichtung auf das Wort, auf die Intonation, auf die Stimme, und sei es auch in schriftlicher Transformation. Das ist die natürliche und unabdingbare Grundlage der Erzählprosa. [...] Wir beginnen vieles wie von neuem, und darin liegt die historische Kraft unserer Zeit. Vieles empfinden wir anders darunter auch das Wort. Unser Verhältnis zum Wort ist konkreter geworden, sinnlicher, physiologischer. [...] Wir wollen es hören, es wie eine Sache anfassen. So kehrt die „Literatur" zur „Wortkunst" [slovesnost'\ zurück, die Erzählliteratur zum mündlichen Erzählen. (Ejchenbaum 1925, 2 4 0 - 2 4 3 ; Hervorhebung im Original; Übersetzung leicht modifiziert)
Jurij Tynjanov (1924b, 160 f.) unterscheidet in der Literatur seiner Gegenwart ebenfalls zwei Varianten des Skaz: 1. den älteren humoristischen Skaz, der auf Nikolaj Leskov zurückgeht und von Michail Zoscenko kultiviert wurde, 2. den „Remizov-Skaz", eine „lyrische, fast verssprachliche" Variante. Ebenso wie Ejchenbaum sieht Tynjanov die Funktion des Skaz der einen wie der anderen Variante im
mus („F II") und dem (typologisch früheren) „paradigmatischen Reduktionsmodell" („F I"), wobei „Skaz II" der typologischen Phase „F II" entspricht und „Skaz I" dem Modell „F I".
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IV. Erzählertext und Figurentext
Spürbarmachen des Wortes, aber er setzt die Akzente ein wenig anders, insofern er die Rolle des Lesers betont: Der Skaz macht das Wort physiologisch spürbar. Die ganze Erzählung wird zum Monolog, und der Leser geht in die Erzählung ein, beginnt zu intonieren, zu gestikulieren, zu lächeln. Er liest den Skaz nicht, sondern spielt ihn. Der Skaz führt in die Prosa nicht den Helden, sondern den Leser ein. (Tynjanov 1924b, 160)
In seinem die Diskussion bilanzierenden Aufsatz Das Problem des Skaz in der Stilistik bezeichnet Viktor Vinogradov (1925) die Definition des Verfahrens mit der Orientierung an der mündlichen Rede oder der Umgangssprache als unzureichend, da der Skaz auch ohne jede Orientierung an diesen Sprachtypen möglich sei: Skaz ist die spezifische künstlerische Orientierung am mündlichen Monolog des erzählenden Typus, er ist die künstlerische Imitation monologischer Rede, die, indem sie die Erzählfabel hervorbringt, sich gleichsam als ihr unmittelbares Sprechen konstituiert. (Vinogradov 1925,190 f.)
Ähnlich wie Ejchenbaum und Tynjanov unterscheidet Vinogradov (1925) zwei Typen des Skaz, 1. den Skaz, der an eine Figur gebunden ist, und 2. den „Autor-Skaz". Während in ersterem die „Illusion einer Lebenssituation" erzeugt werde, die „Amplitude der lexikalischen Schwankungen" sich verenge und „die stilistische Bewegung" durch ein bestimmtes sprachliches Bewusstsein begrenzt bleibe, sei der Skaz des zweiten Typs, der Autor-Skaz, „frei", zusammengesetzt aus Konstruktionen unterschiedlicher Buchgenres und Dialekte. „Das Autor-Ich ist kein Name, sondern ein Pronomen". Der Autor schlüpft in unterschiedliche Gestalten und kann frei die stilistischen Masken wechseln. „Eine ganzheitliche Psychologie ist für den Autor eine überflüssige Belastung" (Vinogradov 1925, 202 f.). Ejchenbaums Konzeption des Skaz als einer Erzählweise mit der Orientierung an der mündlichen Rede widerspricht auch Michail Bachtin, der allerdings neue Akzente setzt und dabei nur den „erzählenden" Typ (in Ejchenbaums Terminologie) im Auge hat: [Ejchenbaum] berücksichtigt überhaupt nicht, dass der Skaz in den meisten Fällen vor allem die Ausrichtung auf die fremde Rede ist und erst dann, als Folge, auf die mündliche Rede. [...] Es scheint uns, dass der Skaz in den meisten Fällen gerade um der fremden Stimme willen eingeführt wird, einer sozial definierten Stimme, die eine Reihe von
2. Ornamentale Prosa und Skaz
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Standpunkten und Wertungen mit sich bringt, die der Autor auch benötigt. (Bachtin 1929, 88; dt. 1971, 213 f.; Hervorhebung im Original; Übersetzung modifiziert)
Die fremde Rede ist für Bachtin vor allem der Träger einer fremden Sinnposition. Wenn aber die Ausrichtung auf die fremde Rede zum Grundmerkmal des Skaz erhoben wird, werden ihm Phänomene zugeordnet, die nach traditionellem Verständnis mit ihm nicht vereinbar sind. Zu ihnen gehört die intellektuelle, oratorische Rede, die stark auf die Sinnposition des Hörers eingeht, wie sie etwa in Dostoevskijs Aufzeichnungen aus dem Kellerloch vorliegt. Zu Recht konstatiert Natal'ja Kozevnikova (1971, 100), dass in Bachtins Konzeption „der Skaz als selbständige Erzählform verschwindet".
d) Charakterisierender und ornamentaler Skaz Im Weiteren soll auf der Grundlage der besprochenen Positionen eine neue Definition des Skaz und eine Systematisierung seiner Varianten angestrebt werden. Dabei wird pragmatisch gefragt: Welche Erzählformen und semantisch-stilistischen Phänomene sind sinnvollerweise unter den Begriff des Skaz zu subsumieren, damit er einerseits seine differenzierende Funktion für die Textanalyse behält und anderseits nicht dem allgemeinen Verständnis eklatant widerspricht. Das Ziel der Definition besteht darin, einen Katalog differenzierender Merkmale zusammenzustellen, die in ihrer Gesamtheit eine allgemeine Identifizierbarkeit des Phänomens sichern. Es scheint sinnvoll, entsprechend der Tradition zwei Grundtypen des Skaz zu unterscheiden: 1.
den charakterisierenden Skaz, der durch den Erzähler motiviert ist und seine sprachlich-ideologische Perspektive realisiert,
2.
den ornamentalen Skaz, der nicht einen bestimmten persönlichen Erzähler kundgibt, sondern auf ein ganzes Spektrum heterogener Stimmen und Masken zu beziehen ist und Spuren auktorialer (nicht narratorialer!) Ornamentalisierung zeigt.
Eine genaue Beschreibung nach Merkmalen ist lediglich beim ersten, klassischen Typus möglich. Der ornamentale Skaz lässt sich nur vor dem Hintergrund des charakterisierenden Skaz beschrei-
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ben, und zwar mit Hilfe der Abweichungen, die sich aus der poetischen Überformung des Erzähltextes ergeben. e) Merkmale des charakterisierenden Skaz Von charakterisierendem Skaz zu sprechen scheint sinnvoll, wenn folgende Merkmale vorliegen: 1.
Narratorialität
Skaz soll hier als ein ausschließlich narratoriales Phänomen verstanden werden. Er tritt auf im Text der erzählenden Instanz (gleichgültig, ob es sich um einen primären, sekundären oder tertiären Erzähler handelt) und nicht im Text einer Figur. Diese Grunddefinition schließt aus dem Bereich des Skaz alle semantisch-stilistischen Phänomene aus, die ihren Ursprung im Text einer erzählten Figur haben und auf einer „Ansteckung" des Erzählers am Stil seines Helden (oder des erzählten Milieus) oder auf einer bewussten Reproduktion einzelner Züge der Figurenrede beruhen15. 2. Begrenztheit des geistigen Horizonts
Ein obligatorisches Merkmal des klassischen Skaz ist auch die spürbare intellektuelle Distanz des Erzählers vom Autor, die Begrenztheit seines geistigen Horizonts. Der Narrator des charakterisierenden Skaz ist ein nicht-professioneller Erzähler aus dem Volk, dessen Erzählweise sich durch eine gewisse Naivität und Ungeschicklichkeit auszeichnet. Dieser unerfahrene Erzähler kontrolliert seine Rede nicht in allen Schattierungen. So entsteht die für den Skaz charakteristische Spannung zwischen dem, was der Erzähler sagen möchte, und dem, was er faktisch, ohne es zu wollen, mitteilt16. Ohne das Merkmal der Zugehörigkeit des Erzählers zum Volk (zum „demokratischen" Milieu, wie der sowjetische Euphemismus lautete) verliert der charakterisierende Skaz seine Konturen. 15 Damit wird die Interpretation des Skaz als einer Manifestation von erlebter Rede und verwandter Verfahren, wie sie etwa I. R. Titunik in seinen Arbeiten (1963; 1977) vorschlägt, grundsätzlich abgelehnt. 16 Vgl. dazu die Beobachtung Sklovskijs (1928,17): „Der Skaz motiviert eine zweite Wahrnehmung einer Sache. [...] Es ergeben sich zwei Ebenen: 1. das, was der Mensch erzählt, 2. das, was gleichsam zufällig in seiner Erzählung durchbricht".
2. Ornamentale Prosa und Skaz
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3. Zweistimmigkeit Die Distanz des Erzählers vom Autor bedingt eine narratorial-auktoriale Zweistimmigkeit der Erzählerrede. In ihr drücken sich zugleich der naive Erzähler und der seine Rede mit einer besonderen semantischen Geste präsentierende Autor aus. Die Zweistimmigkeit bedeutet auch eine Bifunktionalität der Erzählerrede, die zugleich als darstellendes Medium und dargestellte Rede fungiert. 4. Mündlichkeit Die mündliche Präsentation des Erzähltextes galt von Anfang an als grundlegendes Merkmal des Skaz. Tatsächlich ist es kaum sinnvoll, von charakterisierendem Skaz zu sprechen, wenn die Erzählerrede nicht als mündlich vorgetragen fingiert ist. Natürlich schließt die mündliche Rede die Imitation schriftlicher Rede nicht aus. Manche Skaz-Erzähler Michail Zoscenkos zum Beispiel gebrauchen gerne Ausdrucksformen der schriftlichen offiziellen Rede. Aber sie trägt dann Spuren ihrer mündlichen Reproduktion. 5. Spontaneität Skaz soll hier als spontane mündliche Rede und nicht als vorbereitete Rede (wie es die Ansprache eines Redners oder das Plädoyer eines Advokaten sind) betrachtet werden. Die Spontaneität bedeutet die Darstellung der Rede als eines sich entwickelnden, aber nicht unbedingt geradlinigen, konsequenten und zu einem Ziel führenden Prozesses17. 6. Umgangssprachlichkeit Die spontane mündliche Rede eines Erzählers aus dem Volke trägt in literarischer Darstellung in aller Regel Züge der Umgangssprache und kann durchaus Merkmale vulgärer, agrammatischer oder defekter Rede annehmen. Anderseits schließt die Umgangssprachlichkeit die gelegentliche Verwendung des Buchstils keineswegs aus. Zoscenkos .kleiner Mann' greift gern zu sprachlichen Sowjetismen, die er aus der Zeitung und der Propaganda kennt. Aber der Gebrauch buchsprachlicher oder offiziöser Wendungen ist in seinem ,Munde' unwillkürlich verfremdet und erhält ironische auktoriale Akzente. 17 Ausführlich zu den Merkmalen spontaner Rede vgl. Kveta Kozevnikovä 1970.
176
IV. Erzählertext und Figurentext
7. Dialogizität Für den Skaz ist die Orientierung des Sprechers an seinem Zuhörer und dessen Reaktionen charakteristisch. Solange der Erzähler einen ihm wohlgesonnenen Hörer aus seinen Kreisen voraussetzt, ist die Dialogizität in der Regel nicht besonders spannungsreich. Der Sprecher wird allenfalls Erläuterungen geben, Fragen antizipieren und auf sie antworten. Sobald der Skaz-Sprecher dem Publikum kritische Wertungen zuschreibt, wird sich eine Spannung zwischen ihm und seinem Adressaten aufbauen18. Die genannten Merkmale haben nicht die gleiche Relevanz. Mündlichkeit, Spontaneität, Umgangssprachlichkeit und Dialogizität sind in den Werken, die traditionell dem Skaz zugerechnet werden, mehr oder weniger stark ausgeprägt. Eine schwache Ausprägung hebt die Identität des Skaz noch nicht auf. Als obligatorisch sollte man aber die ersten drei Merkmale betrachten: Narratorialität, Begrenztheit des geistigen Horizonts und Zweistimmigkeit. Ohne sie verliert der Begriff des (charakterisierenden) Skaz seine Bezeichnungskraft. f) Charakterisierender Skaz in russischer und deutscher Literatur Der Skaz ist nicht selten auf einen sekundären Erzähler bezogen. Dann beschränkt sich die Rahmengeschichte in der Regel auf wenige Worte, die der Einleitung in die Situation einer lebendigen Erzählung dienen, wie das zum Beispiel in Zoscenkos Erzählung Aristokratin (Aristokratka) der Fall ist : Grigorij Ivanovic seufzte laut, wischte sich das Kinn mit dem Ärmel ab und begann zu erzählen: Also ich für meinen Teil, meine Brüder, liebe Weiber nicht, die in Hüten herumlaufen. Wenn ein Weib einen Hut trägt, wenn sie durchsichtige Strümpfchen aus Seidenbaumwolle anhat oder wenn sie einen Mops auf dem Arm oder einen goldenen Zahn hat, dann ist eine sol-
Ein Beispiel für ein gespanntes Verhältnis des Narrators zum angesprochenen Gegenüber waren die oben (II.5.b) zitierten Abschiedsworte des ukrainischen Imkers Rudyj Pan'ko in Nikolaj Gogol's Abenden auf dem Vorwerk bet Dikan'ka. Für den konventionellen Charakter des Rahmens ist bezeichnend, dass er in einigen Ausgaben der Erzählung fehlt.
2. Ornamentale Prosa und Skaz
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che Aristokratin für mich überhaupt kein Weib, sondern ein leerer Fleck. Zu meiner Zeit habe ich mich natürlich mal für eine Aristokratin erwärmt. Ging mit ihr aus und führte sie ins Theater. Im Theater kam dann aber alles heraus. Im Theater entfaltete sie ihre Ideologie im ganzen Umfang. (Zoscenko 1, 86) Auch in der jüngsten russischen Literatur finden wir Erzählungen, die im charakterisierenden Skaz stilisiert sind. Ein bemerkenswertes Beispiel ist Zeiteinander
(Raznovrazie; 1 9 9 8 ) von Irina Povolockaja,
eine Sammlung bunter Kapitel (Sobranie pestrych glav), wie das W e r k im Untertitel heißt. W i r haben hier ein Beispiel für weiblichen Skaz. E s erzählt Natal'ja, Köchin bei einem Geistlichen, v o n ihrem an Schicksalsschlägen reichen Leben. Zitiert sei aus d e m Beginn des Kapitels Alafransä
(Aljafranse), in dem die Heldin von ihrer ersten
Liebe berichtet: Als der Erste Weltkrieg zu Ende war, da hatten wir große Hungersnot. Die Polen, die sind bei uns damals alle umgekommen. Aber ich mit meiner Kollegin Marussja, wir beide haben uns über Wasser gehalten, weil wir die polnischen Pferde geschlachtet haben. Erst haut die Marussja einem Pferd mit der Axt auf den Kopf, und dann schlitz ich dem mit nem langen Dolch den Hals auf: Zack! Als die jüdischen Jungs das spitzgekriegt haben, da haben die gleich aufgehört, uns den Hof zu machen. Und einmal, als die Musik angefangen hat zu spielen, da ist als einziger Pjotr Iwanowitsch direkt auf mich zu gekommen. Es war beim Dorffest, und ich hatte mein festlichstes Kleid an, so eins mit betonter Taille und die Brust hochgeschnürt, ich stand so da mitten unter meinen Freundinnen. „Gestatten Sie, Fräulein, Sie zum Tanz zu bitten." „Ich tanz nicht", sag ich. „Warum denn nicht?", fragt er mich. „Ich hinke", sag ich. Aber sein Blick saugt mich ganz auf. „Ach so, sie sind die Tochter von der Malanja, sie sind die Natalja?" Und in dieser Sekunde hab ich mich mit Leib und Seele in ihn verliebt, und bis heut tut's mir noch weh, wenn ich nur an ihn denke. (Povolockaja 136. Übersetzung: Irina Burgmann-Schmid) In der jüngsten deutschen Prosa erfreut sich ein Erzählwerk besonderer Popularität, das in seinem Diskurs dem charakterisierenden Skaz entspricht. Das ist der R o m a n Faserland ( 1 9 9 5 ) des 1 9 6 6 gebo-
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IV. Erzählertext und Figurentext 20
rcnen Christian Kracht . Der spontane, in der Umgangssprache gesprochene und an einen gleichgesinnten Hörer adressierte Erzählmonolog eines Vertreters der bundesrepublikanischen Jeunesse doree, der von Sylt bis zum Bodensee durch das .Vaterland' reist und seine oberflächlichen Beobachtungen zum besten gibt, erfüllt die wesentlichen Merkmale des charakterisierenden Skaz. Lediglich der geistige Horizont der Erzählerfigur scheint auf den ersten Blick nicht so begrenzt zu sein, wie man es von den russischen SkazErzählern kennt, denn dieser Erzähler ist durchaus nicht ohne Bildung, hat er doch, wie er mehrfach erwähnt, die Internatsschule im Schloss Salem besucht. Aber in seinem seichten .Gefasel' von Partys und Bars, in dem Markennamen und Zelebritäten eine große Rolle spielen, zeigt er eine erhebliche geistige Reduziertheit. Der deutsche Partygänger und Discolöwe erweist sich tatsächlich als geistiges Äquivalent des russischen .demokratischen' Helden. Mündlichkeit, Spontaneität und Umgangssprachlichkeit charakterisieren bereits den Romanbeginn, der im Folgenden zitiert wird. Auch die Dissoziierung der Erzählinstanz vom Autor und die Zweistimmigkeit der Erzählerrede sind an diesem Zitat gut zu beobachten: Also, es fängt damit an, dass ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke. Fisch-Gosch, das ist eine Fischbude, die deswegen so berühmt ist, weil sie die nördlichste Fischbude Deutschlands ist. Am obersten Zipfel von Sylt steht sie, direkt am Meer, und man denkt, da käme jetzt eine Grenze, aber in Wirklichkeit ist da bloß eine Fischbude. Also, ich stehe da bei Gösch und trinke ein Jever. Weil es ein bisschen kalt ist und Westwind weht, trage ich eine Barbourjacke mit Innenfutter. Ich esse inzwischen die zweite Portion Scampis mit Knoblauchsoße, obwohl mir nach der ersten schon schlecht war. Der Himmel ist blau. Ab und zu schiebt sich eine dicke Wolke vor die Sonne. Vorhin hab ich Karin wiedergetroffen. Wir kennen uns noch aus Salem, obwohl wir damals nicht miteinander geredet haben, und ich hab sie ein paar Mal im Traxx in Hamburg gesehen und im PI in München. (Kracht 9)
20 Den Hinweis auf Kracht verdanke ich dem Mitglied der Hamburger Forschergruppe Narratologie Olaf Grabienski.
2. Ornamentale Prosa und Skaz
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g) Der ornamentale Skaz Der ornamentale Skaz ist ein hybrides Phänomen, das auf einer paradoxalen Vermischung der einander eigentlich ausschließenden Prinzipien der Charakterisierung und der Poetisierung beruht21. Anders als der charakterisierende Skaz verweist der ornamentale Skaz nicht auf einen persönlichen, mit den Zügen der Unprofessionalität ausgestatteten Erzähler, sondern ruft, sofern überhaupt eine Kundgabefunktion wirksam bleibt, die Vorstellung einer unpersönlichen Erzählinstanz hervor, die in verschiedenen Rollen und Masken auftritt. Vom charakterisierenden Skaz können im ornamentalen Skaz ein mündlicher Grundton, Spuren von Umgangssprachlichkeit und die narrativen Gesten eines persönlichen Erzählers erhalten bleiben, aber diese Züge geben nicht mehr die einheitliche Figur eines Narrators kund, schließen sich nicht mehr zur Einheit einer Persönlichkeit und einer Psychologie zusammen, sondern sind auf ein ganzes Spektrum heterogener Stimmen bezogen. Der ornamentale Skaz ist vielgesichtig und polystilistisch, schwankt zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Umgangssprachlichkeit und Poetizität, Buchsprache und Folklore. Der ornamentale Skaz verbindet Narrativität mit Poetizität; in dem Maße aber, wie die Poetizität mit den sie konstituierenden unzeitlichen Verknüpfungen die zeitlichen Verknüpfungen der Geschichte verdrängt, rückt der ornamentale Skaz, der in der erzählenden Literatur ohnehin eine Position an der Grenze einnimmt, aus dem Bereich der Erzählkunst in den der Wortkunst. Der unpersönliche Narrator figuriert dann nur noch als der Schnittpunkt heterogener verbaler Gesten, als Punkt, in dem unterschiedliche stilistische Linien zusammenlaufen. Im ornamentalen Skaz ist nicht nur die Kundgabefunktion des Textes in Bezug auf den Erzähler vermindert, sondern die Rolle der Perspektive ist generell abgeschwächt. Sofern hier überhaupt Figurenreden dargestellt werden, bleiben sie stilistisch tendenziell der homogenisierenden Poetisierung unterworfen und entfalten keine sprachliche Individualität. Die Opposition von Erzählertext und Figurentext wird durch die
21 Ausführlich ist diese Mischung in den Arbeiten N. A. Kozevnikovas beschrieben (insbesondere 1994, 64-74).
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IV. Erzählertext und Figurentext
poetisch-ornamentale Überformung weitgehend neutralisiert. Auch im konsequent durchgehaltenen charakterisierenden Skaz ist die Differenz von Erzählerrede und Figurenrede oft abgeschwächt. Aber das ist hier nicht durch die grundsätzliche Reduzierung der Perspektivität bedingt, sondern dadurch, dass der in seiner Kompetenz beschränkte Erzähler fremde Stile kaum zu ihrem Eigenleben kommen lassen kann und deshalb den Figurentext notgedrungen narratorial überformt. Während der charakterisierende Skaz schlüssig durch die ideologische und sprachliche Physiognomie eines konkreten Sprechers motiviert ist, zeichnet sich der ornamentale Skaz durch reduzierte, diffuse Perspektivik, charakterologische Unmotiviertheit und poetische Selbstwertigkeit des Erzähltextes aus. Den Typus des ornamentalen Skaz vertritt Gogol's Erzählung Der Mantel, die durch die berühmte Analyse Boris Ejchenbaums (1919) weite Bekanntheit erlangt hat. In der Urfassung begann die Erzählung mit einem klanglichen Calembourg: Im Departement der Einnahmen und Gebühren, - das übrigens bisweilen Departement des Infamen und der Allüren genannt wird [...] (Ejchenbaum 1919, S. 132 f.) Lange schwankte Gogol' zwischen verschiedenen Familiennamen für seinen Helden. Schließlich entschied er sich für Basmackin (im Deutschen etwa .Halbschuhlich'), einen Namen, der nach Ejchenbaum vor den Konkurrenten den Vorteil größerer „artikulatorischer Ausdruckskraft, mimisch-pronuntiativer Stärke" (ebd.) hatte. Dieser im Russischen höchst seltsam klingende Name wird vom Erzähler auf ostentativ absurde Weise motiviert: Allein schon am Namen sieht man, dass er irgendwann einmal von Halbschuh abgeleitet worden ist; aber wann, zu welcher Zeit und auf welche Weise man ihn von Halbschuh abgeleitet hat, darüber ist nichts bekannt. Sowohl der Vater als auch der Großvater und sogar der Schwager sowie ausnahmslos alle Basmackins gingen in Stiefeln, die sie nur ungefähr dreimal jährlich besohlen ließen. (Ejchenbaum 1919,134) Der Alogismus dieses Erzählens charakterisiert nicht den Erzähler. Seine Naivität ist nicht authentisch, sondern vorgespiegelt. Die sehr abstrakte und diffuse Erzählinstanz, die sich in mannigfachen rhetorischen Gesten manifestiert, spielt verschiedene sprachliche und
2. Ornamentale Prosa und Skaz
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damit auch ideologische Rollen durch. Eine Distanz zwischen dem mit der Sprache ironisch-spielerisch umgehenden Subjekt dieses aus heterogenen Sprechweisen montierten ornamentalen Skaz und dem Autor ist nicht wahrnehmbar. Deshalb nennt Vinogradov (1925) diesen Typus auch „Autor-Skaz" (siehe oben, S. 172). Von der auktorial-narratorialen Zweistimmigkeit, wie sie den Skaz in Gogol's Vorworten zu den Abenden auf dem Vorwerk bet Dikan'ka auszeichnet (vgl. oben, II.5.b), gibt es hier keine Spur. In der russischen Version des vorliegenden Buches (Schmid 2003a, 194 f.) wird der ornamentale Skaz an drei Beispielen aus der Literatur der Moderne und Avantgarde illustriert, an Andrej Belyjs Roman Die silberne Taube (Serebrjanyj golub') und Leonid Leonovs Erzählungen Egoruskas Untergang (Gibel' Egoruski) und Tuatamur. In der Übersetzung ist die ornamentale Faktur dieser Texte mit ihrer poetischen Rhythmisierung und dichten Klanginstrumentierung nicht annähernd wiederzugeben. In Leonovs Tuatamur verbindet sich die Poetisierung mit den Mitteln asiatisch-folkloristischer Stilisierung. Jurij Tynjanov (1924b, 161) sieht in der „tatarischen transmentalen Sprache" dieses Textes, der in seiner exotischen Faktur einem persischen Teppich gleiche, die Grenzen der Prosa erreicht: „Noch ein bisschen, und die Prosa wird zum Vers".
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext a) Die Struktur der Textinterferenz Die Subjektivität der Erzählerrede, die mit dem Skaz verbunden ist, verdankt sich der Subjektivität des Erzählers. Aber es gibt auch Phänomene der Subjektivität der Erzählerrede, die eine grundsätzlich andere Herkunft haben, nämlich nicht auf den Erzähler, sondern auf die Figur zurückgehen. Die figurale Subjektivität dringt in die Erzählerrede durch jene Struktur ein, die Interferenz von Erzählertext und Figurentext oder, kürzer, Textinterferenz genannt werden soll (Schmid 1973, 39-79). Die Textinterferenz ist ein hybrides Phänomen, in dem sich Mimesis und Diegesis (im Platonischen Sinne) mischen, eine Struktur, die zwei Funktionen vereinigt: die Wiedergabe des Figurentex-
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IV. Erzählertext und Figurentext
tes (Mimesis) und das eigentliche Erzählen (Diegesis). Die Textinterferenz, die für die erzählende Prosa mit ihren zwei Komponenten charakteristisch ist, tritt in verschiedenen Formen auf, von denen am häufigsten die so genannte erlebte Rede21 Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung wurde. Die Interferenz resultiert in diesen Formen daraus, dass in ein und demselben Segment der Erzählerrede gewisse Merkmale auf den Erzählertext, andere dagegen auf den Figurentext als Ursprung verweisen. Durch die Distribution der Merkmale auf die beiden Texte, durch die in zwei Richtungen zielende Kundgabe werden diese Texte als ganze in ein und demselben Segment der Erzählerrede gleichzeitig vergegenwärtigt. Die simultane Vergegenwärtigung von Erzählertext und Figurentext soll in folgendem Schema dargestellt werden: ET
TI
FT
I Legende
ET = Erzählertext. Ή = Textinterferenz. FT = Figurentext. Gestrichelte Linie ( ) = Segment der Erzählerrede, das in einzelnen Merkmalen auf ET und in anderen auf FT verweist. Punktierte Linien ( ) » die im gegebenen Segment enthaltenen Merkmale. Doppelte gestrichelte Linien (====) = der durch die Merkmale vergegenwärtigte ET bzw. FT. 22 Es wird hier dieser von Etienne Lorck (1921) im Geiste der „Sprachseelenforschung" geprägte und in manchem missleitende Begriff deshalb verwendet, weil er sich im Deutschen eindeutig durchgesetzt hat. Zu anderen deutschen Bezeichnungen für diese Erscheinung (die allerdings nicht immer dasselbe meinen) und zu ihren französischen, englischen, niederländischen und skandinavischen Äquivalenten vgl. Neubert 1957, 7-11; Steinberg 1971,111-118.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
183
Auf die Doppelstruktur der Textinterferenz, eine Form, die er „hybride Konstruktion" nennt, hat bereits Michail Bachtin (1934/ 1935,118) verwiesen: Wir nennen hybride Konstruktion eine Aussage, die nach ihren grammatischen (syntaktischen) und kompositionellen Merkmalen einem einzigen Sprecher gehört, in der in Wirklichkeit aber zwei Aussagen vermischt sind, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei „Sprachen", zwei Sinn- und Wertungshorizonte. Der Begriff der Textinterferenz geht zurück auf Valentin Volosinovs (1929, 148; dt. 1975, 206) Terminus „Redeinterferenz" 23 , fällt aber inhaltlich nicht mit ihm zusammen. Als Musterbeispiel für Redeinterferenz zitiert Volosinov einen Ausschnitt aus Dostoevskijs Erzählung Eine dumme Geschichte (Skvernyj anekdot): [...] an einem klaren frostigen Winterabend, es ging übrigens schon auf zwölf zu, saßen drei außerordentlich ehrenwerte Herren in einem komfortablen, ja sogar prächtig ausgestatteten Raum in einem schönen zweistöckigen Haus auf der Petersburger Seite und waren in ein solides und vortreffliches Gespräch über ein ungemein interessantes Thema vertieft. Alle drei Herren hatten es schon zum Generalsrang gebracht. Sie saßen um einen kleinen Tisch, jeder in einem schönen Polstersessel, und schlürften während des Gesprächs ruhig und komfortabel ihren Champagner. (Dostoevskij 5, 5) Volosinov bemerkt dazu, dass die „banalen und blassen, nichts sagenden Epitheta", die in seinem Zitat kursiv gesetzt sind, aus dem Bewusstsein der Generäle stammten und im Kontext des Erzählens ironische und spöttische Akzente erhielten. Jedes dieser banalen, blassen, nichts sagenden Epitheta ist eine Arena für die Begegnung und den Kampf zweier Intonationen, zweier Perspektiven, zweier Reden! [...] fast jedes Wort dieser Erzählung gehört hinsichtlich seiner Expression, seines emotionalen Tons, seiner Akzentposition gleichzeitig zu zwei sich überschneidenden Kontexten, zu zwei Reden, zur Rede des Erzählers (die ironisch, spöttisch ist) und zur Rede des Helden (dem der Sinn nicht nach Ironie steht). [...] Wir haben es hier mit dem klassischen Fall eines fast überhaupt nicht untersuchten linguistischen Phänomens zu tun, der Redeinterferenz.
23 In der deutschen Übersetzung erscheint dieser Begriff nicht ganz adäquat als „sprachliche Interferenz".
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IV. Erzählertext u n d Figurentext
( V o l o s i n o v 1 9 2 9 , 1 4 7 f.; dt. 1 9 7 5 , 2 0 5 f.; K u r s i v e im Original; Übersetzung revidiert)
Volosinovs Begriff der „Redeinterferenz" unterstellt eine „intonationsmäßige" (d. h. ideologische) Doppelakzentigkeit der beiden Reden. Unsere Textinterferenz liegt dagegen schon vor, wenn die Merkmale eines Segments mal auf die eine, mal auf die andere Instanz verweisen. Eine bestimmte Differenz der Wertungshaltungen der beiden vergegenwärtigten Texte ist für die Textinterferenz nicht erforderlich. Als Grenzfall ist auch die völlige ideologische Übereinstimmung der beiden Texte möglich. Der hier verwendete Begriff der Textinterferenz ist also weiter gefasst als Volosinovs „Redeinterferenz" und impliziert nicht automatisch jene agonalen Strukturen, die Bachtin und Volosinov „zweistimmigen" Strukturen wie Interferenz und Dialogizität unterlegen24. b) Die Opposition der Texte und ihre Merkmale Die Analyse der Textinterferenz mit Hilfe eines Katalogs von Merkmalen, in denen Erzählertext und Figurentext differieren können, geht auf die Arbeiten Lubomir Dolezels (1958; 1960; 1965; 1967; 1973a; 1993) zurück. Aber Prämissen und Methoden der Analyse, die hier vorgeschlagen werden sollen, unterscheiden sich wesentlich von Dolezels Ansatz. Dolezel geht von einer festen Opposition zwischen dem „objektiven" Text des Erzählers und dem „subjektiven" Text der Figur aus. Der Erzählertext übt nach Dolezel (1993, 12) eine ausschließlich „darstellende Funktion" (im Sinne der Sprachfunktionen Bühlers 1934) aus und ist durch die ausschließliche Ausrichtung auf den dargestellten Gegenstand gekennzeichnet. Die Ausdrucks- und Appellfunktion, d. h. die Aktivierung der Relation zwischen Text und Sprecher bzw. Hörer, ist nach Dolezel im Erzählertext annulliert. Jegliche Subjektivität, d. h. jede Aktualisierung der Beziehung des Textes zum Sprecher oder Hörer, wird von Dolezel (1960) als ein „Stilmittel" betrachtet, das dem Erzählertext seine Grundeigenschaft nimmt, nämlich die Ob24 Zur Differenz von Volosinovs Redeinterferenz und meiner Textinterferenz und zur Konzentration Bachtins und Volosinovs auf agonale Textstrukturen vgl. Schmid 1989b.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
185
jektivität25. Es liegt auf der Hand, dass eine solch rigide und zirkulär begründete Idealisierung weder methodisch hilfreich noch historisch begründbar ist. Bühler hatte in seinem Organonmodell, auf das sich Dolezel beruft, die ausschließliche Wirksamkeit eines „Sinnbezugs", also etwa der „Darstellung", und die Annullierung der beiden anderen, „Ausdruck" und „Appell", wohlweislich nicht vorgesehen 26 . Das von Dolezel postulierte objektive Erzählen ist ein konstruierter Idealtyp, der nur in bestimmten Fällen realisiert wird, wenn die Literatur auf eine vorhergehende hypertrophe Subjektivierung reagiert (vgl. Holy 2000). Einen Grenzfall zur Grundform zu erheben, gibt es aber keinen Anlass. Anstatt eine absolute Gegenüberstellung idealisierter Texte zu konstruieren, wollen wir davon ausgehen, dass beide Texte in der Empirie in gleichem Maße mit Zügen objektiver Gegenstandsorientierung und subjektiver Hörerorientierung ausgestattet sein und in gleichem Maße die Kundgabefunktion ausüben können. Dass der Erzählertext nicht unbedingt weniger subjektiv zu sein braucht als der Figurentext, wird in allen europäischen Literaturen von der Empfindsamkeit bis zum Realismus hinreichend bezeugt. Warum aber geht Dolezel von einer fixen Opposition der Texte aus, und warum postuliert er als Grundtypus einen absolut objektiven Erzählertext, der in der Wirklichkeit der Literatur kaum begegnet? Es liegt hier vermutlich das Bedürfnis nach methodischer Vereinfachung zugrunde, das Bestreben, das in der Phonologie angewandte System distinktiver Merkmale auf Phänomene des Textes zu übertragen. Dieses System soll es erleichtern, die Segmente der Erzählerrede als entweder auf den Pol des Erzählers oder der Figur bezogen zu identifizieren. Wenn Subjektivität als distinktives Merkmal des Figurentextes betrachtet werden kann, dann erlaubt jedes Vorkommen subjektiver Züge in der Erzählerrede den Schluss, dass 25 Eine ähnliche Idealisierung finden wir bei Elena Paduceva (1996, 336 f.), die die „traditionelle Erzählung" als eine „Erzählung in der dritten Person" definiert, die keine Deixis, „Expressivität" (im Sinne der Kundgabe des Sprechers) und „Dialogizität" enthalte. 26 Auch der Figurentext wird von Dolezel idealisiert, wenn ihm eine unbedingte Subjektivität, d. h. starke Aktivierung der Beziehungen des Textes zum Sprecher und Hörer, zugesprochen wird. Es kann aber ein überaus subjektiver Erzähler eine objektiv, ganz sachgerichtet sprechende Figur darstellen.
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IV. Erzählertext und Figurentext
hier Figurentext vorliegt. Konzediert man aber, dass Subjektivität oder die Erscheinungen der Ausdrucks- und Appellfunktion an sich noch nicht distinktiv sind, insofern sie sowohl im Erzählertext als auch im Figurentext auftreten können, dann erweist sich Dolezels Methode als für die Analyse der Textinterferenz nicht geeignet. Im Weiteren sei ein Katalog von Merkmalen aufgestellt, in denen sich Erzählertext (ET) und Figurentext (FT) unterscheiden können. Dieser Katalog unterstellt nicht einen bestimmten Typus der Texte oder ihre absolute Opposition, sondern geht von dem empirischen Faktum aus, dass die Texte in unterschiedlichen Werken sehr verschiedene Profile haben können. Deshalb ist er als Katalog möglicher differenzierender Merkmale auf jedes konkrete Werk anwendbar. Natürlicherweise entspricht dieser Merkmalkatalog dem Katalog der Parameter, die wir für die Perspektive unterschieden haben: Parameter der Perspektive
Merkmale für die Differenzierung von ET und FT
Perzeption
thematische
Ideologie
ideologische
Raum
grammatische
Zeit
grammatische
Sprache
stilistische
Die grammatischen und stilistischen Merkmale bedürfen weiterer Differenzierung. Somit erhalten wir folgenden Merkmalkatalog: 1. Thematische Merkmale ET und FT können sich in der Auswahl der thematisierten Einheiten und durch charakteristische Themen unterscheiden. 2. Ideologische Merkmale ET und FT können sich in der Bewertung einzelner thematischer Einheiten und in ihrer allgemeinen Sinnposition unterscheiden. 3. Grammatische Merkmale der Personalform ET und FT können sich durch die Verwendung der grammatischen Person der Pronomina und Verbformen unterscheiden. Zur Bezeich-
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
187
nung der Figuren der erzählten Welt verwendet der nichtdiegetische Erzähler ausschließlich die Pronomina und Verbformen der 3. Person. Im FT wird das System der drei Personen verwendet: Die sprechende Instanz wird mit der 1. Person, die angesprochene Figur mit der 2. Person und die besprochene Figur mit der 3. Person bezeichnet. 4. Grammatische Merkmale des Tempus ET und FT können sich durch die Verwendung der Tempora unterscheiden. Im FT werden in der Regel drei Zeitstufen ausgedrückt (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft) und die drei präsentischen Tempora (Präsens, Perfekt, Futur) verwendet. Im ET wird für die Bezeichnung der Handlungen der erzählten Welt in der Regel das epische Präteritum bzw. das als Äquivalent fungierende historische Präsens verwendet. (In Aussagen, die sich nicht auf die Diegesis, sondern auf die Exegesis beziehen, also in Kommentaren, Autothematisierungen, Leserapostrophen und dergleichen kann der Erzähler natürlich Tempora aller drei Zeitstufen verwenden.) 5. Grammatische Merkmale des Zeigsystems Zur Bezeichnung des Raums und der Zeit der erzählten Handlung können ET und FT unterschiedliche Zeigsysteme verwenden. Für den FT ist die Verwendung chronotopischer Deiktika charakteristisch, die sich auf die Jch-Jetzt-Hier-Origo" der Figur (s. o., I.2.b) beziehen, wie heute, gestern, morgen, hier, dort, rechts, links. Im ET werden die Deiktika durch anaphorische Zeigwörter wie an diesem Tag, an demselben Morgen, ein Tag zuvor, am Tag nach der beschriebenen Begebenheit, ebenda, an demselben Ort, rechts von dem Helden ersetzt, also durch solche Ausdrücke, die sich auf bereits im Text gemachte Angaben zurückbeziehen, nicht aber ein Wissen um die Origo der Figur voraussetzen27. 6. Merkmale der
Sprachfunktion
ET und FT können durch unterschiedliche Sprachfunktionen (Darstellung, Ausdruck und Appell) charakterisiert sein. 27 Eine ausführliche Erörterung deiktischer und anaphorischer Verweisung in der Rede- und Gedankendarstellung, vor allem in der erlebten Rede, findet sich bei Fludernik 1993a, 110-146.
188
IV. Erzählertext und Figurentext
7. Stilistische Merkmale der Lexik ET und FT können durch unterschiedliche Benennungen ein und desselben Objektes („Aleksandr Ivanovic" vs. „Sasa", „Gaul" vs. „Ross") und überhaupt durch unterschiedliche lexikalische Repertoires charakterisiert sein, wobei der Text des Erzählers nicht notwendigerweise buchsprachlich oder stilistisch neutral ist und der Text der Figur nicht unbedingt umgangssprachlich. 8. Stilistische Merkmale der Syntax ET und FT können durch unterschiedliche syntaktische Muster charakterisiert sein. Dolezel (1960) unterscheidet fünf primäre distinktive Merkmale und geht von folgender konstanter Opposition des „Erzählerplans" und „Figurenplans" aus: 1. „Formale" Merkmale: FT enthält alle drei grammatischen Figuren und alle drei Zeiten; ET enthält nur eine (die dritte) grammatische Person und nur eine Zeit (das Präteritum). 2. „Funktional-situative" Merkmale: FT kennt sowohl a) die expressive und die appellative Sprachfunktion als auch b) die Deixis auf die außersprachliche Situation; keines der Merkmale kommt in ET vor. 3. „Semantische" Merkmale: Während in FT bestimmte Mittel den subjektiven semantischen Aspekt ausdrücken, wird der semantische Aspekt in ET nicht ausgedrückt. 4. „Stilistische" Merkmale: Die stilistische Spezifizierung von FT auf der Grundlage des umgangssprachlichen Stils steht dem stilistisch unspezifischen ET gegenüber. 5. „Graphische" Merkmale: Die Aussagen des FT sind graphisch markiert, die Aussagen des ET sind nicht markiert. Bei Dolezel fehlen die thematischen Merkmale, die sich in der Textanalyse als höchst relevant, nicht selten ausschlaggebend für die Zuordnung eines Segments erweisen. Die graphischen Merkmale gehören nicht in diese Reihe: Sie sind nicht Merkmale der Aussagen von FT selbst, sondern Merkmale ihrer Präsentation im Erzähltext. Im Gegensatz zu Dolezel gehe ich nicht davon aus, dass ET in den „formalen", „funktional-situativen", „semantischen" und „stilistischen" Merkmalen immer objektiv oder neutral und FT in diesen Merkmalen immer subjektiv markiert ist.
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3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
c) Die reinen Texte und die Neutralisierung der Opposition Wenn in einem Segment des Erzähltextes alle erwähnten Merkmale vertreten und die möglichen Oppositionen von E T und F T realisiert sind, ergibt sich für die reinen, unvermischten Texte folgendes Schema der Verteilung der Merkmale: Erzählertext 1. Thema ET
X
2. Wertung
3. Person
X
X
2. Wertung
3. Person
X
X
4. Zeit
5. Zeigsystem
6. Sprachfunktion
X
X
4. Zeit
5. Zeigsystem
funktion
X
X
7. Lexik
8. Syntax
X
X
X
6. Sprach-
7. Lexik
8. Syntax
X
X
FT Figurentext 1. Thema ET FT
X
X
Die reinen Texte sind in der Wirklichkeit der Literatur jedoch oft nicht so realisiert, da die Opposition der Texte teilweise neutralisiert sein kann. (Diese Neutralisierung wird im Schema durch ein χ sowohl für E T als auch für F T markiert.)28 Die Neutralisierung der Opposition von E T und F T findet in zwei Fällen statt: 1. wenn in dem gegebenen Segment bestimmte Merkmale überhaupt nicht vertreten sind (was am häufigsten die Merkmale der grammatischen Person und des Zeigsystems betrifft), 2. wenn E T und F T in einem Merkmal zusammenfallen. Der Zusammenfall von E T und F T in einem Merkmal findet dann statt, wenn die beiden Texte hinsichtlich des jeweiligen Merkmals identisch sind. So kann die Vergangenheitsform des F T mit dem 28 Zur Vermeidung von Missverständnissen sei angemerkt, dass der hier verwendete Begriff der Neutralisierung eine andere Struktur bezeichnet als bei Dolezel (1965), wo der Begriff unsere Textinterferenz bedeutet.
190
IV. Erzählertext und Figurentext
epischen Präteritum des ET zusammenfallen. Die Opposition der Texte ist dann hinsichtlich des Merkmals Zeit in allen Präteritalformen neutralisiert, die die Vergangenheit der Figur bezeichnen. Das Erzählen kann sich natürlich des historischen Präsens bedienen. Dann gilt die Neutralisierung für alle Segmente, die die Gegenwart einer Figur bezeichnen29. Im nichtdiegetischen Erzählen ist die Opposition von ET und FT in allen Segmenten neutralisiert, in denen über eine dritte Person der erzählten Welt berichtet wird (d. h. nicht über die sprechende oder angesprochene Figur): Sowohl im ET als auch im FT figuriert die besprochene Figur in der dritten grammatischen Person. In den soeben betrachteten Fällen ist die Neutralisierung lokal, d. h. sie bezieht sich nur auf einzelne Segmente des Erzähltextes. Solche lokale Neutralisierung ist auch hinsichtlich der Merkmale 1, 2, 5, 6, 7, 8 möglich. So kann es etwa sein, dass die Lexik in bestimmten Aussagen der Erzählerrede sowohl auf ET als auch FT bezogen werden kann, in anderen dagegen nur auf einen der beiden Texte. Hinsichtlich der Merkmale 1, 2, 6, 7, 8 kann die Opposition von ET und FT im gesamten Erzähltext neutralisiert sein. Dann haben wir es mit einer globalen Neutralisierung zu tun. Sie betrifft am häufigsten die Merkmale der Lexik und Syntax. Wenn der Erzähler und die Figur zum Beispiel mit demselben Stil ausgestattet sind, was in vorrealistischer Literatur oder im Skaz die Regel ist, hat im gesamten Werk das Merkmal Lexik keine zwischen ET und FT differenzierende Funktion. Die Merkmale 3, 4, 5, 6 unterliegen einem Vorbehalt. Sie differenzieren ET und FT lediglich in Aussagen, die sich auf die Diegesis, die erzählte Welt beziehen. In den Kommentaren des Erzählers, d. h. in allen Aussagen, die sich auf die Exegesis beziehen, treffen wir dieselben Züge an wie in den Aussagen der Figuren: 1. Person, Präsens, deiktische Adverbien, Ausdrucks- und Appellfunktion. So klingt zum Beispiel der bekannte Ausruf des Erzählers in Karamzins Armer Liza in den Merkmalen 3, 4, 5, 6 ganz wie die
29 Neutralisiert ist die Opposition der Texte natürlich im Merkmal 4 (Zeit) in allen allgemeingültigen Aussagen mit dem gnomischen Präsens.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
191
Aussage einer Figur. Nur das Thema (1) und die Wertung (2) verweisen auf den Erzähler: Ach! Ich liebe jene Gegenstände, die mein Herz rühren und mich Tränen süßer Trauer vergießen lassen! (Karamzin II 37) Die Verteilung der Merkmale sieht in diesem Fall wie folgt aus:
ET FT
1. Thema
2. Wertung
3. Person
4. Zeit
5. Zeigsystem
6. Sprachfunktion
7. Lexik
8. Syntax
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
X
Im diegetischen Erzählen bestehen für die Differenzierung von ET und FT und für die Neutralisierung ihrer Opposition andere Bedingungen. Insofern die erzählte Figur mit dem früheren Ich des Erzählers zusammenfällt, unterscheiden sich ET und FT im Allgemeinen geringer als im nichtdiegetischen Erzählen. (Die nichtdiegetische Situation gilt im diegetischen Erzählen natürlich für alle Figuren außer dem erzählten Ich.) Merkmal 3 (Person) fällt im diegetischen Erzählen, wenn vom erzählten Ich berichtet wird (das nicht, wie bei Caesar, mit der dritten Person bezeichnet ist), für die Differenzierung von ET und FT völlig aus. In Lexik und Syntax wird sich ET vom Text des erzählten Ich nicht kategorial unterscheiden. Eine gewisse Differenz ist aber, abhängig von der veränderten äußeren und inneren Situation, durchaus möglich. Die Opposition der Texte wird vor allem in den thematischen und Wertungs-Merkmalen bestehen. Ihre differenzierende Kraft hängt davon ab, wie weit sich die Sinnposition des erzählenden Ich von der des erzählten Ich entfernt hat. Der zeitliche Abstand ist dabei nicht einmal ausschlaggebend. In Dostoevskijs Jüngling, wo das Erzählen vom Erleben nur durch wenige Monate getrennt ist, verhält sich das erzählende Ich überaus distanziert zur Sinnposition des erzählten Ich. d) Textinterferenz als Transformation des Figurentextes Die Textinterferenz gründet in der Distribution der Merkmale eines Segments der Erzählerrede auf die beiden Texte. Textinterfe-
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IV. Erzählertext und Figurentext
renz liegt bereits dann vor, wenn eines der Merkmale auf einen anderen Text verweist als die übrigen Merkmale. So sieht der Grundtypus der erlebten Rede im Russischen bei voller Präsenz aller relevanten Merkmale in unserem Schema folgendermaßen aus: 1. Thema
2. Wertung
ET FT
3. Person
4. Zeit
5. Zeigsystem
6. Sprachfunktion
7. Lexik
8. Syntax
X
X
X
X
X
X X
X
Fälle von Textinterferenz sind schon in der antiken Literatur und in der Literatur des Mittelalters beobachtet worden. Spuren finden sich etwa in altfranzösischen Texten, im mittelhochdeutschen Nibelungenlied und in der altrussischen Nestorchronik. Es handelt sich dort aber immer nur um vereinzelte grammatische Verkürzungen bei der Rede- und Gedankenwiedergabe ohne besondere Wirkungsintention. Als bewusst und systematisch eingesetztes Verfahren verbreitet sich die Textinterferenz, vor allem die erlebte Rede, in den europäischen Literaturen erst seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts 30 . Für die deutsche Literatur sind Goethes Wahlverwandtschaften (1809) ein frühes Beispiel (Pascal 1977,11), für die englische Literatur wird die erste systematische Verwendung der Textinterferenz oft für Jane Austens Emma (1816) postuliert31. In der russischen Literatur wurde die Textinterferenz als bewusst gehandhabtes Verfahren von Aleksandr Puskin eingeführt (Volosinov 1929; Bachtin 1934/1935) und von Michail Lermontov, Nikolaj Gogol' und Ivan Goncarov weiterentwickelt 32 . Aber erst in den Erzählungen des jungen Dostoevskij figuriert die Textinterferenz als dominantes und mit deutlicher Wirkintention eingesetztes Verfahren des Textaufbaus (Schmid 1973, 39-79). Der Doppelgänger (1846)
30 Zur Entwicklung der erlebten Rede in der französischen Literatur: G. Lerch 1922; Lips 1926; Verschoor 1959; in der deutschen Literatur: Neuse 1980; 1990; in der englischen Literatur: W. Bühler 1937; Glauser 1948; Neubert 1957. 31 M. Klepper (2004, 73) verweist allerdings auf englische Erzählwerke der neunziger Jahre des 18. Jahrhunderts, die sich bereits der Textinterferenz bedienen. 32 Zur Geschichte der erlebten Rede in der russischen Literatur vgl. Hödel 2001.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
193
provozierte in der Kritik Irritation und Ablehnung, weil das zugrunde liegende Verfahren nicht identifiziert wurde. In der französischen Literatur spielte eine analoge Rolle Gustave Flaubert, dessen Madame Bovary (1857) durch die zu jener Zeit noch ungewohnte narratorial-figural gemischte Darbietung der sündigen Gedanken der Ehebrecherin die moralische Empörung der Zeitgenossen gegen den vermeintlich im eigenen Namen sprechenden Autor lenkte (Jauß 1967, 67-70). Die Verbreitung der Textinterferenz ist Folge der zunehmenden Figuralisierung des Erzählens, d. h. der Verlagerung der Perspektive vom narratorialen zum figuralen Pol. Solche Figuralisierung ruft manchmal den Eindruck hervor, als träte der Erzähler die Erzählfunktion an die Figur ab und ginge ,νοη der Bühne'. Die Vorstellung vom Verschwinden des Erzählers liegt zahlreichen Modellen der erlebten Rede zugrunde, von Charles Bally (1912; 1914; 1930) bis zu Ann Banfield (1973; 1978a; 1978b; 1983) und Elena Paduceva (1996). Auf die Ersetzung des Erzählers durch die Figur läuft auch die oben (II.4.g) besprochene Modellierung Dolezels (1973a, 7) hinaus, die die Übertragung der für den Erzähler charakteristischen Funktionen representation und control auf die Figur vorsieht. Im Gegensatz aber zu allen Theorien, die das Verschwinden des Erzählers und seine Ersetzung durch die Figur postulieren, geht das hier vorgeschlagene Modell der Textinterferenz davon aus, dass der Erzähler auch in der .objektivsten' erlebten Rede grundsätzlich ,auf der Bühne' bleibt, d. h. dass sein Text, den zumindest das Merkmal 3 (Person) vergegenwärtigt, gleichzeitig mit dem Text der Figur präsent ist. Der Begriff der Textinterferenz impliziert, dass der als vorgefunden fingierte Text der Figur im wiedergebenden Erzähltext auf eine bestimmte - und sei es auch noch so geringe Weise - bearbeitet, narratorial transformiert wird. Zwischen FT und ET erstreckt sich ein breites Spektrum von Mischformen, von mehr oder weniger ausgeprägten narratorialen Transformationen mit unterschiedlicher Distribution der Merkmale auf FT und ET. Bestimmte Stufen dieser Transformation sind vorgegeben durch die nationalsprachig spezifischen Schablonen der Wiedergabe von FT, die im Deutschen (und vergleichbar in anderen indoeuropäischen Sprachen) als direkte, indirekte und erlebte Rede kategorisiert sind.
IV. Erzählertext und Figurentext
194
Im Weiteren sollen die indirekte und die erlebte Rede als narratoriale Transformation der direkten Rede betrachtet werden, wobei für den Vergleich der drei Schablonen unterstellt wird, dass die direkte Rede den Figurentext authentisch wiedergibt (was in literarischen Texten, wie wir gesehen haben, keineswegs der Fall zu sein braucht). Bei der Entscheidung über den Bezug der Merkmale auf ET oder FT gehen wir in den angeführten Beispielsätzen von einem neutralen ET aus. Ohne einen solchen Hintergrund, den im konkreten Werk das gesamte Profil der beiden Texte bildet, ist eine merkmalbezogene Analyse nicht durchführbar. 1. Direkte Rede Sie fragte sich; „Ach! Warum muss ich heute zu dieser blöden Weihnachtsfeier antanzen? Weihnachten ist doch erst morgen!" 1. Thema
2. Wertung
3. Person
4. Zeit
5. Zeigsystem
6. Sprachfunktion
7. Lexik
8. Syntax
X
X
X
X
X
X
X
X
ET FT
2. Indirekte Rede Sie fragte sich, warum sie heute zu dieser blöden Weihnachtsfeier antanzen müsse, Weihnachten sei doch erst morgen. 1. Thema
2. Wertung
ET FT
χ
χ
3. Person
4. Zeit
χ
X
5. Zeigsystem
6. Sprachfunktion
7. Lexik
X X
X
8. Syntax
X X
Die Verwendung der dritten Person zur Bezeichnung der sprechenden Figur, die Zeit (hier der Modus) und die Syntax verweisen auf ET. Hinsichtlich der übrigen Merkmale ist entweder FT repräsentiert oder die Textopposition neutralisiert. 3. Erlebte Rede Ach! Warum musste sie heute zu dieser blöden Weihnachtsfeier antanzen? Weihnachten war doch erst morgen!
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
1. Thema
2. Wertung
ET FT
X
3. Person
4. Zeit
X
X
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5. Zeigsystem
6. Sprachfunktion
7. Lexik
8. Syntax
X
X
X
X
X
In diesem Beispiel unterscheidet sich die erlebte Rede von der indirekten Rede durch die Sprachfunktion (Merkmal 6 für FT) und die Syntax (Merkmal 8 für FT). In den Formen der Textinterferenz werden folgende Inhalte des Figurentextes wiedergegeben: 1. Aussagen, 2. Gedanken, 3. Wahrnehmungen und Gefühle und 4. die Sinnposition. In folgendem Schema ist die Korrelation zwischen 1. dem Inhalt des wiedergegebenen FT, 2. den Formen des wiedergegebenen FT und 3. den bevorzugten Wiedergabeschablonen dargestellt: Inhalt
Aussagen
l Formen
Schablonen
äußere Rede
Gedanken
i innere Rede innerer Monolog
Wahrnehmungen Gefühle
Sinnposition
1 i Fragment aus dem Bewusstseinsstrom
Wertungen
ixrn/
direkte Rede
indirekte Rede
erlebte Rede
196
IV. Erzählertext und Figurentext
Die erlebte Rede dient in der deutschen und russischen Literatur selten der Wiedergabe äußerer Rede. In der Fachliteratur zu der Schablone gibt es zwar Hinweise auf Fälle, in denen sie gesprochene Rede gestaltet (vgl. Sokolova 1968, 29-31), es handelt sich dabei aber fast durchweg nicht um die Wiedergabe der gesprochenen Rede selbst, sondern um die Gestaltung der äußeren Rede in der Wahrnehmung einer der Figuren (vgl. Kovtunova 1955,138). e) Direkte Rede und direkter innerer Monolog In der Schablone der direkten Rede werden, wie aus dem Schema ersichtlich ist, sowohl äußere als auch innere Reden der Figur dargestellt. Die Schablone signalisiert authentische Wiedergabe von FT. Von der vollen Repräsentation des FT in der direkten Rede gibt es freilich einige Abweichungen, die wir im Folgenden betrachten wollen. Wenn ET und FT im gesamten Werk in den lexikalischen und syntaktischen Merkmalen nicht differieren, die Opposition der Texte also in diesen Merkmalen neutralisiert ist, haben wir es mit einer Variante des Grundtyps der direkten Rede zu tun, die Volosinov (1929) „entpersönlichte direkte Rede" nennt. Diese Variante begegnet in den europäischen Literaturen vor dem 19. Jahrhundert, wo sie allerdings nicht bewusst als Verfahren eingesetzt wird. Wo sie in neuerer Literatur, wie zum Beispiel in der ornamentalen Prosa der Moderne auftritt, kann sie besonderen ästhetischen Zielen dienen. Aber mit Textinterferenz hat sie so wenig gemein wie der Grund33
typ der direkten Rede, in dem alle Merkmale für FT sprechen . Eine längere innere Rede bezeichnen wir als inneren Monolog. Der innere Monolog, der nicht selten mit der erlebten Rede identifiziert wird, kann sowohl in der Schablone der direkten als auch der erlebten Rede dargestellt werden. Im ersten Fall sprechen wir vom direkten inneren Monolog, im zweiten vom erlebten inneren Monolog. 33 Dolezel (I960,189) gliedert eine Abart der direkten Rede aus, die er „nicht-markierte direkte Rede" nennt. In ihr fehlt jegliche Hervorhebung der Figurenrede aus dem Erzähltext. Insofern aber die Markierung nicht als ein Merkmal von FT betrachtet werden kann (s. o., S. 188), ist die nicht-markierte direkte Rede kein Fall der Textinterferenz.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
197
Der direkte innere Monolog ist in der Regel als wörtliche, authentische Wiedergabe der inneren Rede einer Figur ausgegeben, eine Wiedergabe, die nicht nur den Inhalt des FT, sondern auch alle grammatischen, lexikalischen, syntaktischen und sprachfunktionalen Besonderheiten bewahrt. Aber keineswegs immer reproduzieren innere Monologe das stilistische Profil des FT. Nicht selten stoßen wir auf eine „entpersönlichte" Variante des direkten inneren Monologs, in der die Gedanken und Reflexionen des Helden syntaktisch narratorial überarbeitet sind. Als Beispiel dafür dient einer der Monologe Pierre Bezuchovs aus Tolstojs Krieg und Frieden·. „Elena Vasil'evna, die nie etwas außer ihrem Körper geliebt hat und eine der dümmsten Frauen auf der Welt ist", dachte Pierre, „scheint den Menschen der Gipfel der Klugheit und der Verfeinerung zu sein, und sie verneigen sich vor ihr. Napoleon Bonaparte wurde von allen verachtet, bis er groß war, und seitdem er zu einem jämmerlichen Komödianten geworden ist, versucht ihm Kaiser Franz mit allen Mitteln seine Tochter als illegitime Ehefrau anzudienen. [...] Meine Freimaurerbrüder schwören heilige Eide, dass sie bereit seien, alles für den Nächsten zu opfern, zahlen aber nicht mal einen Rubel, wenn für die Armen gesammelt wird [...] Wir alle bekennen uns zu dem christlichen Gebot, Beleidigungen zu verzeihen und den Nächsten zu lieben, ein Gebot, demzufolge wir in Moskau unzählige Kirchen errichtet haben; gestern aber hat man einen Deserteur zu Tode gepeitscht, und der Diener dieses selben Gebots der Liebe und Verzeihung, der Priester, hat dem Soldaten das Kreuz vor der Hinrichtung zum Kuss gereicht." So dachte Pierre, und diese ganze allgemeine, von allen zugegebene Lüge, setzte ihn, wie sehr er sich auch an sie gewöhnt hatte, jedes Mal in Erstaunen, als ob sie etwas Neues wäre. (Tolstoj 10, 296)
Pierre Bezuchov dient hier offensichtlich als Sprachrohr des Autors (von dem der Erzähler wenig dissoziiert ist) und spricht eine auktoriale Wahrheit aus. Seine innere Rede hat der Erzähler bearbeitet, geglättet und an den Stil seiner Erzählerrede angepasst. Die charakterisierende Funktion des inneren Monologs wird in solchen Fällen von der auktorial-ideologischen dominiert. Es fehlen in diesem Beispiel Züge einer assoziativen Entwicklung des Gedankens und Merkmale spontaner Hervorbringung. Bezeichnenderweise erfährt der Stil beim Übergang vom direkten inneren Monolog zur Erzählerrede keine Veränderung.
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IV. Erzählertext und Figurentext
Der Autor von Krieg und Frieden gibt den Monologen seiner Helden in der Regel geringen figuralen Freiraum. Aber wir finden in diesem Roman auch innere Monologe, in denen die Prozesse der Wahrnehmung, Erinnerung und Reflexion unmittelbar inszeniert werden. Von solcher Art ist etwa der zweistimmige Monolog, in dem sich Andrej Bolkonskij seine Ruhmsucht eingesteht: ,Ja und dann?", sagt wieder die andere Stimme, „und dann, wenn du nicht schon vorher zehn Mal verwundet, getötet oder verraten bist, nun, und was dann?" - „Nun, und dann", gibt sich Fürst Andrej selbst zur Antwort, „Ich weiß nicht, was dann sein wird, ich will und kann es nicht wissen, aber wenn ich danach strebe, wenn ich nach Ruhm strebe, wenn ich unter den Menschen bekannt sein will, von ihnen geliebt werden will, ist es doch nicht meine Schuld, dass ich das will, dass ich nur das eine will, nur für das eine lebe. Ja, nur für dieses eine! Ich werde niemals jemandem etwas davon sagen, aber, mein Gott, was soll ich denn tun, wenn ich nichts anderes liebe als nur den Ruhm, nur die Liebe der Menschen." (Tolstoj 9, 324) Wenn Tolstoj, der Psychologe des Alltagsbewusstseins, besondere mentale Situationen beschreibt, den Halbschlaf, einen Fieberzustand, starke Erregung, verwendet er einen figuralen, rein ,mimetischen' Typus des inneren Monologs, dessen Assoziationen nicht nur auf thematischer Kohärenz und Kontiguität beruhen, sondern auch auf phonischen Äquivalenzen, wie das im folgenden Monolog Nikolaj Rostovs der Fall ist: „Das muss Schnee sein, dieser Fleck; ein Fleck - une tache", dachte Rostov, „nein, doch keine tache". „Natascha, Schwester, schwarze Augen. Na... taschka... (Da wird sie sich aber wundern, wenn ich ihr erzähle, wie ich den Kaiser gesehen habe!) Nataschka... nimm die Tasche". [...] „Woran hab ich bloß gedacht? Das darf ich nicht vergessen. Wie ich mit dem Kaiser sprechen werde? Nein, das war's nicht, das ist morgen. Ach ja, das war's, die Tasche angreifen... uns greifen - wen? Die Husaren. Die Husaren und Schnurrbarte... Über die Tverskaja ritt dieser Husar mit dem Schnurrbart, ich habe noch an ihn gedacht, er ritt gerade am Haus der Gur'evs vorbei... Der alte Gur'ev... Was für ein toller Kerl, der Denisov! Ach, das ist alles unwichtig. Die Hauptsache ist jetzt: Der Kaiser ist hier. Wie er mich anschaute, und er wollte mir etwas sagen, aber er hat sich nicht getraut. Nein, ich war es, der sich nicht getraut hat. Aber das ist unwichtig, die Hauptsache ist - nicht vergessen, dass ich an etwas
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
199
Notwendiges gedacht habe, ja. Na-taschka, die Tasche greifen, ja, ja, ja. Das ist gut." (Tolstoj 9, 325 f.)
In der Fachliteratur wird die Priorität in der Verwendung des bewusstseinsunmittelbaren inneren Monologs häufig Edouard Dujardin und seiner Novelle Les lauriers sont coupes (1888) oder Arthur Schnitzlers Lieutenant Gustl (1900) zugeschrieben 34 . Schon Gleb Struve (1954) hat allerdings bezweifelt, dass der innere Monolog mit Dujardin beginne, wie dieser behauptet hatte: „le premier emploi voulu, systematique et continu du monologue interieur date des Lauriers sont coupes" (Dujardin 1931, 31), und er verweist auf ein früheres Vorkommen bei Lev Tolstoj: In seiner Abhandlung zu Tolstojs frühen Erzählungen macht der russische Literaturkritiker Nikolaj Cernysevskij 35 (der später in seinem Roman Was soll man tun [Cto delat', 1863] selbst Muster dieses Verfahrens gegeben hat) auf den „inneren Monolog" in Tolstojs Sevastopoler Skizzen (1855) aufmerksam. Tolstoj war, so Struve, der erste europäische Schriftsteller, der bewusst und extensiv jene Technik verwendet hat, die Dujardin (1931, 59) auf folgende Weise definiert: Le monologue interieur est, dans l'ordre de la poesie, le discours sans auditeur et non prononce par lequel un personnage exprime sa pensee la plus intime, la plus proche de l'inconscient anterieurement ä toute organisation logique, c'est ä dire en son etat naissant, de faton ä donner l'impression „tout venant".
Aber auch Tolstoj kann die Priorität in der Verwendung des inneren Monologs kaum zugesprochen werden. Schon neun Jahre vor dem Erscheinen der Sevastopoler Skizzen hat Dostoevskij im Doppelgänger einen extrem figuralen und assoziativen Typus des inneren Monologs verwendet, der ganz der Dujardinschen Definition entspricht. Betrachten wir ein Beispiel: „Gut, wir werden sehen", dachte er bei sich, „wir werden sehen, wir werden das alles rechtzeitig gewahr werden... Oh, mein Gott", stöhnte er zum Abschluss mit ganz veränderter Stimme, „und warum habe ich ihn überhaupt eingeladen, zu welchem Zweck habe ich das Ganze ge-
34 Vgl. zuletzt noch das Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie (Nünning [Hg.] 1998), s. v. „Innerer Monolog". 35 In dem Aufsatz Kindheit und Knabenalter. Die Kriegserzählungen Graf L. N. Tolstojs (Dctstvo i otrodestvo. Voennye rasskazy grafa L. N. Tolstogo; 1856).
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IV. Erzählertext und Figurentext tan? Ich stecke doch tatsächlich meinen Kopf in die Schlinge dieser Gauner, drehe mir diese Schlinge noch selbst. Ach du Dummkopf, du Dummkopf! Hast du's nicht ausgehalten und musstest damit herausplatzen wie irgendein Jüngelchen, wie so ein Kanzleimensch, wie ein dahergelaufener Lump ohne jeden Rang, wie ein Waschlappen, ein stinkiger Putzlumpen, du Schwatzmaul du, du Waschweib!... Ihr meine Heiligen! Verslein hat der Schuft gedichtet und mir seine Liebe bekannt! Wie konnte das so weit kommen... Wie kann ich diesem Schuft auf anständige Weise die Tür weisen, wenn er wiederkommt? Es gibt natürlich viele Wendungen und Weisen. So und so, kann ich sagen, bei meinem begrenzten Gehalt... Oder ich kann ihm auf irgendeine Art Furcht einjagen, kann sagen, dass ich in Erwägung dieses und jenes Umstandes genötigt bin zu erklären... kann sagen, dass er die Hälfte für Logis und Kost aufbringen und das Geld im voraus zahlen muss. Hm! Nein, zum Teufel, nein! Das würde meine Reputation beschmutzen. Das ist nicht ganz delikat! [...] Aber wenn er nun gar nicht kommt? Ist das auch schlecht? Musste ich gestern damit herausplatzen!.. Oh, das ist schlimm, wirklich schlimm! Oh, was haben wir da für eine schlimme Geschichte! Ach, ich Dummkopf, verfluchter Dummkopf! Kriegst du das nicht in deinen Schädel hinein, wie man sich benimmt, kannst du nicht ein bisschen Verstand hineinkriegen! Nun, wenn er kommt und absagt? Gebe Gott, dass er kommt! Ich wäre sehr froh, wenn er käme; viel würde ich dafür geben, wenn er käme..." (Dostoevskij 1,160 f.)
V o n den Assoziationen Nikolaj Rostovs in Krieg
und
Frieden
und
v o m Zwiegespräch des Herrn Goljadkin mit sich selbst ist es nur noch ein Schritt zum Bewusstseinsstrom,
d. h. zu jener Technik, in
der die Diegesis nicht mehr als eine v o m Erzähler berichtete Geschichte dargeboten wird, sondern als Sequenz flüchtiger Eindrücke, freier Assoziationen, momentaner Erinnerungen und fragmentarischer Reflexionen der Figuren 3 6 .
36 Der Begriff stream of consciousness wurde vom amerikanischen Philosophen und Psychologen William James eingeführt, um erratische Bewusstseinsinhalte zu charakterisieren. Ein Muster dieser Technik ist das Kapitel Penelope aus James Joyce' Ulysses.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
201
f) Die direkte figurale Benennung Die direkte Rede tritt gelegentlich in einer reduzierten Variante auf, in der lediglich einzelne Wörter des Erzähltextes durch graphische Zeichen dem FT zugewiesen werden. Diese Variante wollen wir direkte figurale Benennung nennen. In Dostoevskijs Romanen, in denen, wie Bachtin gezeigt hat, ein Kampf der ideologisch definierten „Stimmen" geführt wird, finden wir zahllose Beispiele für dieses Verfahren. Schon Leo Spitzer (1928b, 330) hat die „Nachahmung einzelner Worte im Berichttext", wie er das Verfahren nennt, an einem Beispiel aus den Brüdern Karamazov illustriert: „Starr blickte er [d. i. Dmitrij Karamazov] dem .Milchbart' in die Augen". Spitzer kommentiert: „Man sieht gleichsam einen Strahl von Subjektivität, den Ton der Stimme Mitjas, aus dem sachlichen Bericht emporschießen" (Spitzer 1928b, 330). In den oben (II.4.c) zitierten Sätzen aus Dostoevskijs Ewigem Ehemann war eine Reihe von Beispielen für die direkte figurale Benennung enthalten. Es handelte sich dort um symptomatische Wendungen aus dem FT wie „mir nichts, dir nichts", die der Erzähler ironisch akzentuierte. Die direkte figurale Benennung wird auch von diegetischen Erzählern verwendet. Eine Fülle von Beispielen finden wir in Dostoevskijs Jüngling, wo der Erzähler das Denken dritter Personen nicht selten in charakteristischen Benennungen kondensiert: Wo die Versilovs auch sein mochten [...], Makar Ivanovic gab der „Familie" unbedingt Nachricht von sich. (Dostoevskij 13,13) Es handelte sich um einen ganzen Haufen von „Gedanken" des Fürsten [Sokol'skij], die er dem Aktionärsausschuss vorlegen wollte. (Dostoevskij 13, 22)
Der Erzähler distanziert sich auf diese Weise auch von Benennungen, die die Sinnposition seines früheren, erzählten Ich kennzeichnen: An diesem Neunzehnten (Dostoevskij 13, 36)
unternahm
ich
noch
einen
„Schritt".
[...] und obwohl mein jetziger „Schritt" nur ein Versuch sein sollte, so hatte ich doch beschlossen, auch diesen Schritt erst dann zu unternehmen, wenn ich [...] mit allen gebrochen und mich in mein Schneckenhaus verkrochen hätte und völlig unabhängig wäre. Freilich war
202
IV. Erzählertext und Figurentext
ich noch längst nicht in meinem „Schneckenhaus" [...] (Dostoevskij 13, 36)
Die direkten figuralen Benennungen können von Hinweisen auf den Ursprungstext begleitet sein: [Versilov] war damals „weiß Gott warum" in das Dorf gekommen, zumindest hat er sich später mir gegenüber so ausgedrückt. (Dostoevskij 13,7) Makar lebte „ehrerbietig" - nach seinem eigenen merkwürdigen Ausdruck. (Dostoevskij 13, 9)
Mit der direkten figuralen Benennung ist, wie sie auch realisiert sein mag - mit oder ohne Hinweis auf die Quelle -, immer eine Textinterferenz verbunden. In dem Segment der Erzählerrede sind simultan ET und FT gegenwärtig, der zitierende und der zitierte Text. Das offensichtliche Bestreben des Erzählers, die fremden Worte möglichst authentisch zu reproduzieren, geht in der Regel mit einer gewissen Distanzierung sowohl vom Ausdruck als auch von der Sinnposition der zitierten Instanz einher. Insofern ist die Zweistimmigkeit in der direkten figuralen Benennung der Tendenz nach viel ausgeprägter als in der direkten Rede, wo sie zwar möglich, aber seltener realisiert ist. Im Gegensatz zu Ljudmila Sokolova (1968, 69-72), die das Verfahren der „graphischen Hervorhebung semantisch gesättigter Wörter" der Kategorie der „uneigentlichen Autorrede" (d. i. der erlebten Rede) zurechnet, schließe ich die direkte figurale Benennung aus dem Kreis der Varianten der erlebten Rede aus, da die graphische Markierung einen Grundzug der erlebten Rede aufhebt, die Verschleierung des Ursprungstextes. g) Die indirekte Darstellung von Reden, Gedanken und Wahrnehmungen Die Schablone der indirekten Rede, die nicht nur der Wiedergabe von Aussagen, sondern auch von Gedanken, Wahrnehmungen und Gefühlen dient, besteht aus zwei Teilen, dem Einleitungssatz der wiedergebenden Instanz mit dem verbum dicendi, sentiendi etc. und dem wiederzugebenden Text. Bei der Transformation einer direkten Rede in eine indirekte sind nationalsprachig spezifische grammatische Regeln zu beachten.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
203
Für die meisten indoeuropäischen Sprachen können folgende Transformationsregeln als allgemein gelten: 1. Personalformen der 1. und 2. Person, die sich auf das Subjekt oder den Adressaten der wiederzugebenden Rede beziehen, werden in der Regel durch Formen der 3. Person ersetzt. 2. In manchen Sprachen wird eine Veränderung des Tempus und/oder Modus vorgenommen. Er sagte: „Ich bin krank".
>
Er sagte, dass er krank sei.
He said: „I am ill".
>
He said (that) he was ill.
II disait: « Je suis malade ».
>
II disait qu'il etait malade.
Im Russischen dagegen stehen im Wiedergabeteil die Tempora des FT. OH CKa3aji: «Λ 6ojieH».
>
O H CKA3AN, HTO OH 6 o j i e H .
(Er sagte: „Ich bin krank".
>
Er sagte, dass er krank ist.)
3. Die expressiven und appellativen Elemente der direkten Rede müssen durch andere Mittel ersetzt werden, etwa durch zusätzliche Qualifikationen des verbum dicendi {Er sagte in starker Erregung, dass.Sie
fragte sich aufgewühlt, warum...).
4. Interjektionen und syntaktische Irregularitäten der direkten Rede wie Ellipsen, Anakoluthe usw. müssen in der indirekten Rede geglättet werden. 5. In einigen Sprachen, z. B. im Deutschen, fordern unterordnende Konjunktionen eine syntaktische Umformung der wiederzugebenden Rede: Er sagte: „Ich bin krank". Ohne Konjunktion:
>
Er sagte, dass er krank sei. Er sagte, er sei krank.
Im Russischen ist die indirekte Rede durch das Fehlen des Tempusund Moduswechsels und der syntaktischen Inversion grammatisch wesentlich geringer von der direkten Rede unterschieden als etwa im Deutschen. Das hat den russischen Syntaktiker Aleksandr Peskovskij (1920, 466) zu dem Schluss veranlasst, dass die indirekte Wiedergabe der russischen Sprache nicht eigen sei, einem Schluss, dem dann Valentin Volosinov (1929, 138; dt. 1975, 193) entschieden widersprach. Im Russischen wie auch in anderen Sprachen könne (und müsse) die indirekte Rede sowohl mit dem Inhalt als
204
IV. Erzählertext und Figurentext
auch mit den Formen des wiederzugebenden Figurentextes freier umgehen als die direkte Rede. Volosinov spricht deshalb vom analytischen Charakter dieser Wiedergabeschablone („Die Analyse ist die Seele der indirekten Rede") und unterscheidet zwischen zwei Spielarten, der sachanalytischen und der sprachanalytischen Modifikation. In der ersten Spielart werde bei Glättung und Neutralisierung der subjektiv-emotionalen Ausdrucksweise der thematische Gehalt und die Sinnposition der wiederzugebenden Rede akzentuiert, in der zweiten gehe es hauptsächlich um die Profilierung der „subjektiven und stilistischen Physiognomie der fremden Aussage" (Volosinov 1929,140-144; dt. 1975,196-201). Es sei hier eine etwas andere Typologie der Spielarten der indirekten Rede vorgeschlagen. Sie beruht nicht auf dem Objekt der in der Wiedergabe vorgenommenen Analyse, sondern auf der Nähe oder Ferne der wiederzugebenden Rede zu ET oder FT. In der narratorialen indirekten Rede erfährt die Rede der Figur eine deutliche Überarbeitung, die sich in der analytischen Akzentuierung des thematischen Kerns und in der stilistischen Assimilation an E T äußert. Dabei verweisen alle Merkmale außer 1 (Thema) und 2 (Weitung) in der Regel auf ET. Das oben (S. 194) gegebene Muster für indirekte Rede entsprach der figuralen Variante. In narratorialer Variante könnte der Satz etwa lauten: Sie fragte sich, warum sie an diesem Tage zu der ungeliebten Weihnachtsfeier erscheinen müsse, Weihnachten sei doch erst am nächsten Tag.
In den Merkmalen 5 (Zeigsystem), 6 (Sprachfunktion) und 7 (Lexik) ist in der narratorialen Variante nicht FT, sondern ET repräsentiert. Die narratoriale indirekte Rede dominiert im Werk Lev Tolstojs. Als Beispiel kann die Wiedergabe der Wahrnehmung und der Gefühle Boris Drubeckojs aus Krieg und Frieden dienen: Der Sohn bemerkte, wie sich mit einem Mal tiefer Kummer in den Augen seiner Mutter ausdrückte, und er lächelte leicht. (Tolstoj 9, 60) Boris fühlte, dass Pierre ihn nicht erkannte, aber er hielt es nicht für notwendig, seinen Namen zu nennen, und schaute ihm ohne jede Verlegenheit direkt in die Augen. (Tolstoj 9, 65)
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
205
In der figuralen indirekte Rede präsentiert der Erzähler die Rede der Figur in allen ihren Besonderheiten, in ihrem authentischen stilistischen Gepräge und in der ihr eigenen syntaktischen Struktur. Diese Modifikation ist im Werk Dostoevskijs weit verbreitet. Wir betrachten zwei Beispiele aus dem Doppelgänger. [Goljadkin] wollte gerade irgendwie in den Sinn kommen, sich einfach so unter der Hand, seitwärts, mucksmäuschenstill vom Schandort zu verdrücken, einfach mir nichts, dir nichts zu verduften, das heißt, so zu tun, als ob er gar nicht da wäre, als ob es sich gar nicht um ihn handelte. (Dostoevskij 1,135)
FT ist hier in folgenden Merkmalen repräsentiert: 6 (Sprachfunktion: expressive Färbung mit Klimax), 7 (Lexik: Nebeneinander von hochsprachlichen und umgangssprachlichen Benennungen und Wendungen), 8 (Syntax: Reihungen, Anaphern). Nachdem er im Nu erkannt hatte, dass er zugrunde gerichtet, in einem gewissen Sinne vernichtet worden war, dass er sich selbst besudelt und seine Reputation beschmutzt hatte, dass er in Gegenwart Unbeteiligter verspottet und bespuckt worden war, dass er von jenem heimtückisch beschimpft worden war, den er noch gestern für seinen hervorragendsten und zuverlässigsten Freund gehalten hatte, dass er schließlich entsetzlich durchgefallen war [...]. (Dostoevskij 1,167)
Merkmale für FT: 5 (Zeigsystem: gestern), 8 (Sprachfunktion: Expression), 7 (Lexik: hyperbolische umgangssprachliche Benennungen, redensartliche Wendungen, hyperbolische hochsprachliche, gespreizte Benennungen), 8 (Syntax: rhetorische Reihung von Synonymen). h) Die freie indirekte Rede Die Figuralisierung kann so weit gehen, dass die grammatischen und syntaktischen Normen der indirekten Rede verletzt werden. Dann bildet sich ein hybrider Typus, den ich freie indirekte Rede nenne37. Er entsteht insbesondere dann, wenn in einer figuralen in37 Einige Theoretiker benutzen den Terminus freie indirekte Rede als Übersetzung von „discours indirect libre" oder „style indirect libre" (vgl. Holthusen 1968, 226), d. h. zur Bezeichnung der erlebten Rede. So etwa Bulachovskij 1954, 4 4 3 - 4 4 6 , und in jüngster Zeit noch Paduceva 1996 (svobodnyj kosvennyj diskurs). Die freie
206
IV. Erzählertext und Figurentext
direkten Rede die Expressivität und die Syntax von FT die syntaktischen Restriktionen der Schablone sprengen oder wenn die indirekte Rede die konstitutiven Merkmale der direkten Rede (graphische Markierung, Gebrauch der 1. und 2. Person) übernimmt. Für den ersten Fall, die Übernahme von Interjektionen aus dem FT, ist folgendes Zitat aus dem Doppelgänger ein Beispiel: [Goljadkin] schien es, dass gerade, soeben jemand hier gestanden hatte, dicht bei ihm, neben ihm, auch auf das Ufergelände gestützt, und wie seltsam! - zu ihm sogar etwas gesagt hatte [...] (Dostoevski) 1,139)
Der zweite Fall wird durch folgendes Zitat aus Dostoevskijs Herrn Procharcin (Gospodin Procharcin) belegt: Die Personalformen wechseln hier vom Er-System der indirekten Rede zum Ich-Du-ErSystem der direkten Rede, und dieser Wechsel wird durch Anführungszeichen markiert: [...] dann begriffen sie, dass Semen Ivanovic prophezeite, dass Zinovij Prokof evic um keinen Preis in die höhere Gesellschaft gelangen wird und dass ihn der Schneider, dem er noch einen Anzug schuldet, verprügeln wird, unbedingt verprügeln, weil der dumme Junge so lange nicht zahlt und dass „du [sie!], du dummer Junge", fügte Semen Ivanovic hinzu, „schließlich, siehst du, zu den Husaren gehen willst, dass man dich dummen Jungen, wenn die Obrigkeit von allem erfährt, sofort zu den Schreibern steckt; so ist es, hörst du, du dummer Junge?" (Dostoevski) 1, 243)
Die freie indirekte Rede entsteht oft aus dem Wunsch des Erzählers, die Rede der Figur in allen ihren Eigentümlichkeiten möglichst authentisch wiederzugeben, ohne auf seine eigene narratoriale Präsenz zu verzichten. Die Verletzungen der grammatischen Norm sollen dann in der Regel dem FT zugeschrieben werden. Die Entwicklung der freien indirekten Rede aus einer figuralisierten indirekten Rede und das Streben des ironischen Erzählers nach voller Reproduktion des FT im Rahmen der indirekten Rede wird an folgendem Beispiel aus Krieg und Frieden deutlich (der Übergang zur Schablone der direkten Rede wird von mir durch Kursive markiert): Die Fürstin [Liza Bolkonskaja] teilte mit, dass sie alle ihre Kleider in Petersburg gelassen habe und hier Gott weiß in was herumlaufen werindircktc Rede unterscheidet sich von der erlebten Rede jedoch durch den expliziten Verweis auf die Wiedergabe des FT.
3. Die Interferenz v o n Erzählertext und F i g u r e n t e x t
207
de und dass sich Andrej völlig verändert habe und dass Kitty O d y n c o va einen alten M a n n geheiratet habe und dass sich für Fürstin Mar'ja ein Bräutigam pour tout d e bon gefunden habe, aber dass wir darüber später n o c h sprechen werden. (Tolstoj 9 , 1 2 0 ) i) D i e e r l e b t e R e d e : D e f i n i t i o n D i e k o m p l e x e s t e E r s c h e i n u n g s f o r m d e r T e x t i n t e r f e r e n z ist d i e e r lebte Rede38. V o n d e n a n d e r e n Manifestationen d e r T e x t i n t e r f e r e n z u n t e r s c h e i d e t sie s i c h d u r c h f o l g e n d e E i g e n s c h a f t e n : 1.
I m Gegensatz zur direkten figuralen B e n e n n u n g u n d
bestimm-
t e n F o r m e n d e r f r e i e n i n d i r e k t e n R e d e ist d i e e r l e b t e R e d e w e der graphisch n o c h thematisch markiert. 2.
Im Gegensatz zu jenen F o r m e n der freien indirekten Rede, die die der direkten R e d e e n t s p r e c h e n d e n P e r s o n a l f o r m e n (ich, du, er/sie) enthalten, w e r d e n in d e r erlebten R e d e s p r e c h e n d e , gesprochene
und
besprochene
Figur
mit
den
an-
grammatischen
F o r m e n der 3. Person bezeichnet. 3.
I m Gegensatz zur direkten u n d indirekten R e d e wird die erlebte R e d e nicht durch verba dicendi, sentiendi usw. u n d d e n sprechenden K o n j u n k t i o n e n eingeleitet. D i e Zugehörigkeit wiedergegebenen Aussagen, Gedanken, W a h r n e h m u n g e n
entder usw.
z u m F T wird auf keine W e i s e markiert39.
38 Die erlebte Rede beschränkt sich keineswegs auf die schöne oder fiktionale Literatur, wie einige ihrer Theoretiker postulieren (vgl. bes. Banfield 1973), sondern kommt auch außerhalb der Fiktion und gerade auch in der umgangssprachlichen Kommunikation vor. Man vgl. etwa folgende outrierende Wiedergabe einer fremden Rede: „Er konnte das nicht auch noch erledigen. Er hatte doch wirklich wichtigere Dinge zu tun!" Das Entstehen der erlebten Rede im Alltagskontext betonen schon Spitzer 1928b und Eugen Lerch 1928. Über die Rolle der erlebten Rede in der Alltagskommunikation, in der parlamentarischen Rede und im journalistischen Gebrauch (im mündlichen wie schriftlichen) vgl. Pascal 1977, 18 f., 34, 57; McHale 1978, 282. 39 Die erlebte Rede kann aber durch den Übergang aus direkter oder indirekter Rede oder durch entsprechende Darstellung von Rede-, Gedanken- und Wahrnehmungsakten der Reflektorfigur vorbereitet oder nachträglich signalisiert sein. Vgl. dazu die differenzierte Darstellung von Steinberg 1971, 88-106. Die Signalisierung durch den Kontext hebt freilich die der erlebten Rede grundsätzlich inhä-
208
IV. Erzählertext u n d Figurentext
4. Nach den vorhergehenden Definitionen ist die erlebte Rede mit dem ET identisch. Von diesem unterscheidet sie, dass sie die Aussagen, Gedanken, Wahrnehmungen usw. nicht des Erzählers, sondern einer Figur, des Reflektors ausdrückt. Bei nicht vollständiger Opposition der beiden Texte verweisen zumindest die Merkmale 1 (Thema) und 2 (Wertung) auf den FT. Wir können das Verfahren also auf folgende Weise definieren: Die erlebte Rede ist ein Segment der Erzählerrede, das Worte, Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen oder die Sinnposition einer der erzählten Figuren wiedergibt, wobei die Wiedergabe des FT weder graphisch noch durch irgendwelche explizite Hinweise markiert ist. In der erlebten Rede weist das Merkmal 3 (Personalform) immer auf den ET. Von den übrigen Merkmalen sind bei nicht vollständiger Neutralisierung der Opposition der Texte zumindest die Merkmale 1 (Thema) und 2 (Wertung) auf FT bezogen. Nicht selten wird FT noch durch andere Merkmale vergegenwärtigt: 5 (Zeigsystem), 6 (Sprachfunktion), 7 (Lexik), 8 (Syntax). Je mehr Merkmale auf FT verweisen, desto deutlicher hebt sich die erlebte Rede von der sie umgebenden Erzählerrede ab. Aber wenn die Opposition der Texte in allen Merkmalen neutralisiert ist, verliert die erlebte Rede ihre Identifizierbarkeit. Sie unterscheidet sich dann nicht mehr von der sie umgebenden Erzählerrede.
j) Typen der erlebten Rede im Deutschen und Russischen Unsere Definition deckt ein breites Spektrum von Formen der Mischung von ET und FT ab. Nach der Präsenz der Merkmale und der Repräsentation der beiden Texte könnte man eine differenzierte Typologie der erlebten Rede erstellen. Dabei wäre natürlich die einzelsprachige Realisierung zu berücksichtigen. Wir wollen uns hier auf die klassischen Typen der erlebten Rede im Deutschen und Russischen konzentrieren (dabei einen Seitenblick auf das Englische und Französische werfen) und die Typologie allein auf die Behandlung des Tempus (Merkmal 4) gründen. rente Ambivalenz nicht völlig auf. Auch wo solche Signale vorliegen, bedarf es einer Interpretation der Erzählerrede als Wiedergabe von FT.
3. D i e Interferenz v o n Erzählertext u n d Figurentext
1.
Erlebte
Rede im
209
Deutschen
a. Grundtypus: Tempus von ET Der Grundtypus der erlebten Rede im Deutschen zeichnet sich durch eine Tempusverschiebung gegenüber den im FT gebrauchten Tempora aus (Merkmal 4 => ET)40. Das figurale Präsens wird zum narratorialen epischen Präteritum verschoben, das figurale Präteritum zum Plusquamperfekt. Als Beleg für die erste Verschiebung führen wir noch einmal das oft zitierte Beispiel von Alice Berend a u s Die Bräutigame
der Babette
Bomberling
an:
Aber am Vormittag hatte sie d e n Baum zu putzen. M o r g e n war W e i h nachten.
Aus Sätzen diesen Typus schließt Käte Hamburger, wie bereits dargelegt wurde, auf die Detemporalisation des epischen Präteritums und die Zeitlosigkeit der Fiktion. Adäquater scheint dagegen die Interpretation, dass wir es hier mit einer Kontamination der Perspektiven oder einer Interferez der Texte zu tun haben: Das epische Präteritum weist auf den Erzähler (Zeit => ET), das deiktische Zukunftsadverb auf die Figur (Zeigsystem => FT). Die Vergangenheit der Figur wird im Grundtypus der deutschen erlebten Rede im Plusquamperfekt ausgedrückt: Das Manöver gestern hatte acht Stunden gedauert. (Bruno Frank, Tage des Königs; zit. nach Hamburger 1957, 3 3 )
Der Grundtypus der deutschen erlebten Rede hat in seiner Idealform (bei Präsenz aller Merkmale und nicht neutralisierter Opposition) folgende Merkmalverteilung41: 40 Die hier und im weiteren verwandten Pfeile symbolisieren das Verweisungsverhältnis. 41 Eine besondere Behandlung erfährt im Deutschen das explizite Futur mit der Umschreibung durch werden. Während das futurisch gebrauchte Präsens (Morgen ist Weihnachten) in der erlebten Rede der Tempusverschiebung ins Präteritum unterzogen wird (Morgen war Weihnachten), findet beim expliziten Futur (Wieviel wird sie verstehen?) ein Wechsel zur Form würde + Infinitiv statt (Wieviel würde sie verstehen?), die wie ein Konjunktiv aussieht, indes indikativische Funktion hat (Herdin 1905). Ähnliches gilt für englisch would + Infinitiv und den französischen Conditionnel (Steinberg 1971,172-221). Vgl. das von Hamburger (1957, 42) angeführte Beispiel aus Edzard Schapers Letztem Advent·. „Das konnte einfach nicht wahr sein - wenn er nur allein an sie dachte! Aber wieviel würde sie verstehen?
210
IV. Erzählertext und Figurentext
1. Thema
2. Wertung
ET FT
3. Person
X X
X
4. Zeit
5. Zeigsystem
6. Sprachfunktion
X
X
7. Lexik
8. Syntax
X
X
X
Die Grundform der deutschen erlebten Rede ist also grammatisch relativ gering markiert: Merkmale 3 (Person) und 4 (Zeit) => ET. Das macht sie schwer identifizierbar. Ganz ähnlich sind die Verhältnisse im Englischen und Französischen42. In beiden Sprachen findet eine Verschiebung vom Tempus des FT zum epischen Präteritum des ET statt. Die Tempusverschiebung im Englischen sei durch die beiden folgenden Zitate demonstriert43: And Father Conmee smiled and saluted. How did she do? A fine carri44 age she had. (Joyce 208) But instantly she was annoyed with herself for saying that. Who had said it? not she; she had been trapped into saying something she did not mean. (Woolf 101)
Für das Französische seien zwei Stellen aus Gustave Flauberts Madame Bovary angeführt. In der ersten sind die Gedanken Leons wiedergegeben, der in der Kathedrale von Rouen auf Emma wartet: Elle allait venir tout ä l'heure, charmante, agitee, epiant derriere eile les regards qui la suivaient [...] (Flaubert 285)
Das zweite Zitat inszeniert die verzweifelten Überlegungen Emma Bovarys bei ihren vergeblichen Versuchen, Geld aufzutreiben: Würde er sie nicht schon nach den ersten drei Minuten verlieren? Und das sollte er wagen? Wer verlangte das von ihm, wer konnte es verlangen?" 42 Grundlegend zu den temporalen Eigenschaften der erlebten Rede im Deutschen, Englischen und Französischen: Steinberg 1971, Fludernik 1993a. Zur Übersetzung erlebter Rede in englischer, französischer und russischer Sprache ins Deutsche vgl. Kulimann (Hg.) 1995. Darin zu deutschen Übersetzungen erlebter Rede aus dem Französischen Kullmann 1995, aus dem Russischen Jekutsch 1995, Vykoupil 1995. 43 Zit. nach Steinberg 1971,166. 44 Es handelt sich in diesem Fall nicht etwa um die Wiedergabe äußerer Rede, sondern um die Darstellung ihrer Wahrnehmung im Bewusstsein der Hörenden.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
211
Elle s'etonnait, a present, de n'avoir pas songe ä lui tout d'abord; hier, il avait άοηηέ sa parole, il n'y manquerait pas [...] (Flaubert 362)
b. Variante: Tempus von FT Im Deutschen begegnen wir auch einer erlebten Rede in jenen Tempusformen, die dem FT entsprechen. Die oben (III.2.f) zitierte Stelle aus Lion Feuchtwangers Jüdischem Krieg war ein Beispiel dafür. An die zitierte Stelle schließt ein Abschnitt an, der ebenfalls ganz im Präsens (bzw. Perfekt und Futur) gehalten ist: Er hat viel über Rom gelesen, aber es nützt ihm wenig. Der Brand vor drei Monaten hat die Stadt sehr verändert. Er hat gerade die vier Bezirke im Zentrum zerstört, über dreihundert öffentliche Gebäude, an die sechshundert Paläste und Einfamilienhäuser, mehrere tausend Mietshäuser. Es ist ein Wunder, wie viel diese Römer in der kurzen Zeit schon neu gebaut haben. Er mag sie nicht, die Römer, er hasst sie geradezu, aber das muss er ihnen lassen: Organisationstalent haben sie, sie haben ihre Technik. Technik, er denkt das fremde Wort, denkt es mehrmals, in der fremden Sprache. Er ist nicht dumm, er wird diesen Römern von ihrer Technik etwas abluchsen. (Feuchtwanger 7 f.)
An anderen Stellen des Romans entspricht die erlebte Rede dem Grundtypus, steht also im epischen Präteritum. Das Tempus der erlebten Rede entspricht jeweils dem der Erzählerrede, die zwischen epischem Präteritum und inszenierendem Präsens wechselt. In jedem Fall ist die erlebte Rede von der sie umgebenden Erzählerrede nur gering dissoziiert. Bei erlebter Rede in den Tempora des FT sind, abhängig vom jeweiligen narrativen Tempus, zwei Fälle zu unterscheiden. Wo das Grundtempus das epische Präteritum bildet und wo erlebte Rede auch im Präteritum erscheint, ist die erlebte Rede im Präsens besonders markiert. Wo aber die ganze Geschichte im Präsens erzählt wird, gibt es für die präsentische erlebte Rede keine Alternative. Dies ist etwa der Fall im Roman des südafrikanischen Literaturnobelpreisträgers J. M. Coetzee The Master of Petersburg, der durchweg im Präsens erzählt wird. Erlebter Rede im Präsens fehlt hier jegliche temporale Markiertheit. Der ganze Roman liest sich wie die
45 Den Hinweis auf die beiden Stellen verdanke ich Dorothea Kulimann 1992,116 f.
212
IV. Erzählertext und Figurentext
narrative Ausfaltung der Innenwelt seines Helden, Fedor Michajlovic Dostoevskijs: He [Dostoevski]] emerges into a crowded ante-room. How long has he been closeted with Maximov? An hour? Longer? The bench is full, there are people lounging against the walls, people in the corridors too, where the smell of fresh paint is stifling. All talk ceases; eyes turn on him without sympathy. So many seeking justice, each with a story to tell! (Coetzee 48)
Unabhängig vom Tempus der Erzählerrede gilt: Wenn die erlebte Rede dem Tempus von FT folgt, ist die Opposition der Texte im Merkmal Zeit in allen allgemeingültigen und gnomischen Aussagen neutralisiert. Es ist in solchen Fällen zumindest nach dem Tempus nicht mehr zu unterscheiden, ob der Erzähler oder die Figur der Urheber der Aussage ist46. 2. Erlebte Rede im Russischen a. Grundtypus: Tempus von FT Im Russischen zeichnet sich der Grundtypus der erlebten Rede durch den Gebrauch der Tempora von FT (Merkmal 4 => FT) aus. Dadurch steht die erlebte Rede dem reinen FT näher. Im Kontext einer Erzählerrede im epischen Präteritum wirkt das Tempus von FT, sofern es sich nicht um figurales Präteritum handelt, relativ deutlich markierend. Hier ist das ideale Schema des Grundtypus der erlebten Rede im Russischen: 1. Thema
2. Wertung
ET FT
3. Person
4. Zeit
5. Zeigsystem
6. Sprachfunktion
7. Lexik
8. Syntax
X
X
X
X
X
X X
X
46 Leo Spitzer (1923a) setzt für figurale Aussagen im gnomischen Präsens einen eigenen Typus an, den er „pseudoobjektive Rede" nennt (vgl. dazu auch Bachtin 1934-35, 118). Vgl. sein Beispiel aus Alice Berends Jungfrau Einehen und die Junggesellen·. „Obwohl niemand für seine Träume verantwortlich gemacht werden konnte [erl. R.]. Die kamen [erl. R.] aus dem Magen. Nur Böswillige können behaupten [pseudoobj. R.) [...]" (Spitzer 1923a, 205).
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
213
Die beiden folgenden Beispiele aus Dostoevskijs Doppelgänger enthalten unterschiedliche Zeitreferenzen des FT: Gegenwart des FT 3to He KpecTLHH Μβ3ηοβηη! Kto 3to? Mjim 3to oh? Oh! 3 t o KpecTbHH Μβεηοβημ, ho TOJibKO He npexHHw, s t oflpyroüKpecrtaH MeaHOBM^. 3tm yvKacHbiM Kpecn>HH MBaHOBHn!... Das ist nicht Krest'jan Ivanovic! Wer ist das? Oder ist er es doch? Tatsächlich, das ist er! Das ist Krest'jan Ivanovic, aber nicht der frühere Krest'jan Ivanovic, das ist ein anderer Krest'jan Ivanovic! Das ist ein entsetzlicher Krest'jan Ivanovic!.. (Dostoevskij 1, 229)
Vergangenheit des FT yBbi! OH 3TOflaBHOyjKe npeflnyBCTBOBaji!
Oh weh, das hat er schon lange vorausgeahnt! (Dostoevskij 1, 229)
Während das Deutsche die Vergangenheit des FT hier mit dem Perfekt wiedergeben und somit im präsentischen Tempussystem bleiben kann, steht im Russischen das Präteritum, das mit dem Erzähltempus zusammenfällt. In solchen Fällen ist im Russischen die Opposition der Texte im Merkmal 4 (Zeit) neutralisiert. Neutralisierung ist natürlich auch bei Wiedergabe der Gegenwart des FT möglich: Wenn der Erzähler gelegentlich im historischen oder gnomischen Präsens erzählt, fällt mit diesem Tempus das Präsens der Figur zusammen. b. Variante: Tempus des ET Eine im Russischen weit verbreitete Variante enthält nicht das Tempus von FT, sondern das epische Präteritum (Merkmal 4 => ET). In ihr rückt die erlebte Rede näher zum ET. Diese Variante wird wieder durch ein Beispiel aus dem Doppelgänger illustriert: Bce 6mjio TaK HaTypajiHo! Μ 6mjio oTnero coKpyuiMTbca, 6mtb Taicyio TpeBory!
Alles war doch so natürlich! Und gab es denn einen Grund, sich so zu grämen, einen solchen Alarm zu schlagen! (Dostoevskij 1,156)
Das Präteritum bezeichnet in diesem Fall nicht die Vergangenheit der Figur, sondern ist episches Präteritum, das die Gegenwart der Figur bezeichnet. Das Idealschema dieser Variante sieht wie folgt aus:
214
IV. Erzählertext und Figurentext
1. Thema
2. Wertung
X
ET FT
3. Person
X
X
4. Zeit
5. Zeigsystem
funktion
X
X
6. Sprach -
7. Lexik
8. Syntax
X
X
X
k) Die erlebte Wahrnehmung Wenn der Erzähler die Wahrnehmung der Figur wiedergibt, ohne die Wiedergabe in die Ausdrucksformen der Figur zu kleiden, haben wir eine Variante, die man nach Willi Bühler 1937 (131,153 ff.) erlebte Wahrnehmung nennen kann47. Diese Form ist als das „Schaffen von Bildern unmittelbarer Wahrnehmung" (Slykova 1962) beschrieben worden und als „Darstellung von Momenten und Ausschnitten der Wirklichkeit, des Seins der stummen Natur, beliebiger Phänomene der objektiven Außenwelt aus der Position einer erlebenden Figur, wobei die Reaktivität des Menschen sich nicht immer notwendigerweise in einem Redeakt, nicht einmal in einem inneren Redakt niederschlägt" (Andrievskaja 1967, 9). Erlebte Wahrnehmung liegt bereits dann vor, wenn nur die Merkmale 1 (Thema) und 2 (Wertung) auf FT verweisen und alle übrigen auf ET (oder neutralisiert sind). Diese Form kommt häufig im Doppelgänger vor, wo sie für die Pseudoobjektivität des Erzählens verantwortlich ist. Sie tritt überall dort auf, wo der Erzähler die halluzinatorische Wahrnehmung des Doppelgängers durch Goljadkin wiedergibt, ohne das Erzählen mit den Ausdrucksmitteln des Helden so zu färben, dass der Leser schon dadurch auf die Figur als Reflektor verwiesen würde: Der Passant verschwand schnell im Schneesturm. [...] Das war derselbe, ihm schon bekannte Passant, der vor etwa zehn Minuten an ihm vorbeigegangen war und der jetzt plötzlich, völlig unerwartet wieder vor ihm auftauchte... Der Unbekannte blieb wirklich stehen, etwa zehn Schritte von Herrn Goljadkin entfernt, und so, dass der Schein der in der Nähe stehenden Laterne ganz auf seine Gestalt fiel, blieb 47 W. Bühlers Opposition von erlebter Rede und erlebter Wahrnehmung nimmt Bernhard Fehr (1938) als substitionary speech und substitionary perception auf.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
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stehen, wandte sich zu Herrn Goljadkin um und wartete mit ungeduldigem Gesichtsausdruck darauf, was jener sagen würde. (Dostoevskij 1, 140 f.)
Ohne auffällige stilistische Anzeichen für die figurale Wahrnehmung stellt der Erzähler den Doppelgänger so dar, wie er vom pathologisch gestörten Helden wahrgenommen oder konstruiert wird. Die scheinbare Objektivität der erlebten Wahrnehmung bewirkt, dass der Leser erst allmählich die wahre Natur des Doppelgängers errät und die psychologische Motivierung der Handlung in dieser Petersburger Erzählung erkennt, die er zunächst unter dem Vorzeichen romantischer Phantastik wahrnehmen wird.
1) Der erlebte innere Monolog Der innere Monolog kann auch in der Schablone der erlebten Rede wiedergegeben sein. Dann haben wir es mit einem erlebten inneren Monolog zu tun. Er kann im Deutschen wie im Russischen entweder im Tempus von FT, also in den präsentischen Tempora Präsens, Perfekt, Futur gehalten sein (Merkmal 4 => FT) oder im epischen Präteritum (Merkmal 4 => ET). Die Tempora von FT prägen folgenden Ausschnitt, der aus einem für die Handlung zentralen inneren Monolog Andrej Bolkonskijs in Krieg und Frieden genommen ist. Dieser ausgedehnte innere Monolog wird zunächst in der direkten Schablone geführt, geht dann zur erlebten über und kehrt wieder zum direkten Modus zurück. Ein Teil der in direkter Rede gehaltenen Passagen wurde bereits oben (S. 198) als Beispiel für den bewusstseinsunmittelbaren inneren Monolog zitiert. Der erlebte innere Teil dieses Monologs 48 Im Russischen, das kein Perfekt kennt, fällt das Präteritum von FT mit dem epischen Präteritum zusammen. In der wörtlichen deutschen Übersetzung muss das russische Präteritum des FT durch das Perfekt wiedergegeben werden. Das ist etwa der Fall in folgendem erlebten inneren Monolog mit den selbstkritischen Überlegungen Pierre Bezuchovs: „Hat er nicht mit ganzem Herzen gewünscht, mal die Republik in Russland einzuführen, mal selbst Napoleon zu sein, mal ein Philosoph zu sein, mal ein Taktiker, der Napoleon besiegt? [...] Und statt des Ganzen, was ist er nun? Der reiche Mann einer untreuen Ehefrau, Kammerherr im Ruhestand, der gerne gut isst und trinkt und, wenn er die Weste aufgeknöpft hat, gern die Regierung ein wenig kritisiert [...] (Tolstoj 10, 294 f.)
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IV. Erzählertext und Figurentext
wird durch eine narratoriale Gedankendarstellung eingeleitet und geht allmählich in figurale perzeptive Perspektive über: Und er sah in Gedanken die Schlacht vor sich, die Niederlage, die Konzentration des Kampfes auf einen Punkt und die Verwirrung aller Kommandeure. Und da sieht er schließlich jene glückliche Minute, jenes Toulon, das er so lange ersehnt hat. Fest und klar sagt er Kutuzov und Weyrother und beiden Kaisern seine Meinung. Alle sind von der Richtigkeit seiner Überlegung betroffen, aber niemand macht sich daran, sie auszuführen, und da nimmt er sich ein Regiment, eine Division, macht zur Bedingung, dass sich niemand mehr in seine Anordnungen einmischt und führt seine Division zum entscheidenden Punkt und erringt allein den Sieg [...]. Die Disposition der nächsten Schlacht wird von ihm allein ausgearbeitet. Er trägt zwar noch den Titel des diensthabenden Offiziers bei Kutuzov, macht aber alles allein. Die nächste Schlacht wird von ihm allein gewonnen. Kutuzov wird abgesetzt, ernannt wird er... (Tolstoj 9, 323 f.) Als Beispiel für einen erlebten inneren Monolog im epischen Präteritum sei eines der Selbstgespräche Goljadkins aus dem Doppelgänger angeführt: Aber er hatte ja wirklich allen Grund, in eine solche Verwirrung zu geraten. Die Sache war die, dass dieser Unbekannte ihm jetzt irgendwie bekannt vorkam. Das hatte alles noch nichts zu sagen. Aber er hatte diesen Menschen erkannt, er hatte ihn fast völlig erkannt. Er hatte ihn schon oft gesehen, diesen Menschen, irgendwann einmal gesehen, vor sehr kurzer Zeit sogar. Aber wo? War es nicht erst gestern gewesen? (Dostoevskij 1,141) Nicht selten schwanken erlebte innere Monologe zwischen Tempora von F T und ET, wie das in folgendem Ausschnitt aus kolaj Gogol's Erzählung Der Mantel der Fall ist (durchgezogen terstrichen: Tempus von FT; gestrichelt unterstrichen: Tempus ET):
den Niunvon
Aber wie eigentlich, womit, mit welchem Geld soll man ihn [den Mantel] machen? Natürlich, man könnte sich teilweise auf die künftige Feiertagszuwendung verlassen, aber dieses Geld ist schon längst eingeplant und im voraus aufgeteilt. Man. musste .neue. Hosen, anschaffen, dem .Schuster eine alte .Schuld, bezahlen {...._.]_ mit einem Wort^das. ganze. Geld.würde v.Qlls.tändig. ausgegeben, werden; und selbst wenn der Direktor so gnädig ist und statt vierzig Rubel eine Zuwendung von
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
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fünfundvierzig oder fünfzig Rubel festsetzt, so bleibt doch nur ein lächerlicher Rest übrig, der im Mantelkapital wie ein Tropfen im Meer ist (Gogol* 3 , 1 5 3 )
m) Die erlebte Rede im diegetischen Erzählen Die funktionale Scheidung zwischen dem erzählenden Ich als Narrator und dem erzählten Ich als Aktor und die psychologische und ideologische Dissoziierung der beiden Ichs (vgl. oben, ΙΙ.4.Ϊ) macht Textinterferenz auch im diegetischen Erzählen, im Erzählen eines diegetischen Erzählers, möglich. Verbinden sich in einer Aussage Merkmale für E T mit Merkmalen für FT, so kommt es zu ähnlichen Textinterferenzen wie im nichtdiegetischen Erzählen. Nur verändern sich die Bedingungen für die Neutralisierung der Opposition der Texte. Entgegen der Behauptung Käte Hamburgers (1957; 1968) und anderer Autoren (W. Bühler 1937, 66; K. R. Meyer 1957, 25, 30) kann im diegetischen Erzählen auch die erlebte Rede vorkommen49. Dorrit Cohn (1969) hat dafür überzeugende Beispiele aus der deutschen Literatur angeführt: die Urfassung von Kafkas Schloss, Hesses Steppenwolf, Schnitzlers Erzählung Der Sekundant und Thomas Manns Felix Krull-Fragment50. Dabei gibt die erlebte Rede nicht die Texte dritter Personen wieder, sondern die Gedanken und Wahrnehmungen des früheren, erzählten Ich. Die Typologie der erlebten Rede gilt grundsätzlich auch für das diegetische Erzählen. Nur ist hier die Opposition von F T und ET häufiger als im nichtdiegetischen Erzählen neutralisiert. Merkmal 3 (Person) entfällt für die Differenzierung der Texte in der Regel völlig, und die Opposition von ET und FT ist im Merkmal 6 (Lexik) selten stark ausgeprägt. Sprachfunktion (Merkmal 7) und Syntax 49 Vgl. schon ausdrücklich Todemann 1930, 154 f. Vgl. auch die Diskussion der Möglichkeit der erlebten Rede im diegetischen Erzählen bei Gersbach-Bäschlin 1970, 21 f. 50 Auch in der russischen Literatur finden wir, beginnend mit Aleksandr Puskins Roman Die Hauptmannstocbter (Kapitanskaja docka) zahlreiche Werke, in denen die erlebte Rede das frühere Ich des Erzählers inszeniert. L. A. Sokolova 1968, 3 6 - 3 8 u. ö. führt Beispiele aus Werken Vladimir Korolenkos, Anton Cechovs, Lev Kassil's, Arkadij Gajdars und auch Dostoevskijs Netocka Nezvanova an.
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IV. Erzählertext und Figurentext
(Merkmal 8) werden nur dann eine Opposition bilden, wenn das erzählte Ich sich in einem besonderen psychischen Zustand befindet. Häufiger als im nichtdiegetischen Erzählen bleibt die Identifizierung der erlebten Rede auf die Merkmale 1 (Thema) und 2 (Wertung) angewiesen. Betrachten wir ein Beispiel aus Ivan Turgenevs Erzählung Asja: „Ich habe nach meinem Gewissen gehandelt", versicherte ich mir... Nein! Habe ich denn einen solchen Ausgang gewollt? Bin ich denn imstande, mich von ihr zu trennen? Kann ich sie denn entbehren? „Wahnsinniger! Wahnsinniger!" wiederholte ich mit Erbitterung... (Turgenev 6, 195. Kursive von mir - W. Sch.)
Das hier kursiv markierte Segment ist offensichtlich erlebte Rede des russischen Grundtypus (Merkmal 4 => FT). Diese Feststellung setzt allerdings voraus, dass man auf die thematischen und wertungsmäßigen Symptome rekurriert. Die expressive Sprachfunktion, häufig ein Anzeiger für FT, kann hier diese Rolle nicht spielen, da auch das erzählende Ich durch expressive Selbstfragen hervortritt. Ein diegetischer Roman, in dem die erlebte Rede eine prominente Rolle spielt, ist Dostoevskijs Jüngling. Arkadij Dolgorukij vergegenwärtigt innere Situationen, in denen er sich vor einem halben Jahr befunden hat. Die erlebte Rede inszeniert in ihrer offenkundigsten Gestalt (Merkmal 4 => FT) zumeist gefühlserregte Ausrufe und Fragen des innerlich aufgewühlten erzählten Ich: Ich war maßlos überrascht, diese Neuigkeit war von allen die beunruhigendste: es ist etwas geschehen, es ist etwa vorgefallen, es ist unbedingt etwas passiert, wovon ich noch nichts weiß! (Dostoevskij 13, 254. Kursive von mir - W. Sch.)
Die Präsenz von FT ist kaum wahrnehmbar, wenn die erlebte Rede im alternativen Typus (Merkmal 4 => ET) wiedergegeben wird: Aber Gott sei Dank befand sich das Dokument immer noch bei mir, war immer noch in meiner Seitentasche eingenäht; ich tastete mit der Hand nach ihm - da! Also brauchte man jetzt nur aufzuspringen und davonzulaufen, und vor Lambert brauchte man sich danach nicht zu schämen; Lambert war dessen nicht wert. (Dostoevskij 13, 420)
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
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n) Das uneigentliche Erzählen Von der erlebten Rede ist ein Typus der Textinterferenz zu unterscheiden, der in der europäischen und amerikanischen Erzählkunst seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts weit verbreitet ist. Im Russischen, wo dieser Typus seit der Literatur des Postrealismus eine große Rolle spielt, wird er „uneigentliches Autorerzählen" (nesobstvenno-avtorskoe povestvovanie) genannt (vgl. N. A. Kozevnikova 1971; 1994, 206-248) 51 . Johannes Holthusen (1968) hat für das Phänomen die deutschen Begriffe des „erlebten Erzählens" oder des „uneigentlichen Erzählens" vorgeschlagen. Es sei hier der zweite Terminus aufgegriffen. Wodurch unterscheidet sich das uneigentliche Erzählen von der erlebten Rede? Die erlebte Rede gibt den Text der Figur in der Gestalt der Erzählerrede mit geringerer oder größerer narratorialer Transformation wieder. Das uneigentliche Erzählen ist dagegen authentische Rede des Erzählers, die in variabler Dichte Wertungen und Benennungen ohne Markierung aus dem Figurentext übernimmt. In der erlebten Rede weist das Merkmal 1 (Thema) auf FT, im uneigentlichen Erzählen dagegen auf ET. Für die Übernahme von Wertungen und Benennungen aus dem FT kann man zwei Modi unterscheiden. Im ersten Modus reflektieren die figural gefärbten Elemente der Erzählerrede aktuelle Bewusstseinsinhalte der Figur, an denen sich der Erzähler gleichsam ansteckt. Wir wollen dieses Verfahren nach Leo Spitzer (1923b) Ansteckung der Erzählerrede am FT nennen. Ein Beispiel bietet der oben (III.2.f) zitierte Beginn von Cechovs Erzählung Der Student. Wenn die figural gefärbten Elemente der Erzählerrede nicht den im jeweiligen Moment aktuellen inneren Zustand der Figur reflektieren, sondern für den FT typische Wertungen und Benennungen präsentieren, sprechen wir von einer Reproduktion des FT. Dieses Verfahren liegt im oben (S. 183) zitierten Eingang zu Dostoevskijs Erzählung Eine dumme Geschichte vor. Die im Zitat kursiv gesetzten Wörter bezeichnen Bewertungen, die der Axiologie und Denkweise der versammelten Generäle entstammen, ohne dass sie 51 Der Begriff ist in Analogie zur russischen Bezeichnung der erlebten Rede „uneigentlich-direkte Rede" (nesobstvenno-prjamaja rec') gebildet.
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IV. Erzählertext und Figurentext
als aktueller Inhalt des Bewusstseins der Helden aufgefasst werden könnten. Beide Formen, sowohl die Ansteckung als auch die Reproduktion, sind von der direkten figuralen Benennung zu unterscheiden, die durch graphische Zeichen aus der Erzählerrede ausgegliedert wird. Am Beispiel von Cechovs Novelle Der Student kann man auch ein für das uneigentliche Erzählen typisches Phänomen beobachten: Vor dem expliziten Auftreten einer Reflektorfigur ist das Erzählen in Wertung und Benennung bereits mit Zügen ihres Textes gefärbt. So kann das uneigentliche Erzählen das spätere Auftreten des Reflektors vorbereiten 52 . In der russischen Literatur findet das uneigentliche Erzählen einen Höhepunkt in der späten Prosa Anton Cechovs. Bis zur ersten Hälfte der 90er Jahre dominierte in Cechovs Prosa noch die erlebte Rede. Ab der Mitte der 90er Jahre vertieft sich die Einwirkung des FT auf das Erzählen. Das Ergebnis dieser Entwicklung beschreibt Aleksandr Cudakov (1971, 98) am Beispiel der Dame mit dem Hündchen·. Die Beschreibung wird vollständig in der Sprache des Erzählers gegeben und geht nirgends in erlebte Rede über. Aber auf der objektiven Rekonstruktion des Geschehens liegt gleichsam der Schatten des emotionalen Zustands des Helden.
Das uneigentliche Erzählen beim späten Cechov ruft den Eindruck hervor, als wäre die Narration ganz in die Sphäre der Figuren getaucht, ohne dass dabei eine Darstellung aktueller Situationen des Bewusstseins stattfindet. Eine besondere Rolle spielt das uneigentliche Erzählen in der russischen Prosa der Vor-Perestrojka-Periode, also in den Jahren 53
1960-1980 , nachdem es in den vierziger und fünfziger Jahren als bürgerlich-formalistisches Verfahren vermieden worden war. Ein Schlüsselwerk für seine Renaissance war Aleksandr Solzenicyns La52 In Abschnitt V.3.d wird dafür ein Beispiel aus techovs Erzählung Rothschilds Geige betrachtet. 53 Als Autoren sind hier zu nennen: Jurij Trifonov, Vasilij Suksin, Sergej Zalygin, Fedor Abramov, Vasilij Tendrjakov, Vera Panova. Zum uneigentlichen Erzählen dieser Periode vgl. N. Kozevnikova 1977; Schmid 1979. Zum uneigendichen Erzählen der fünfziger und sechziger Jahre: Holthusen 1968.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
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ger-Erzählung Ein Tag im Leben des Ivan Denisovic (Odin den' Ivana Denisovica; geschrieben 1959, gedruckt 1962): Es hatte überhaupt keinen Sinn, sich schon morgens die Filzstiefel nass zu machen. Es gab nichts, was man dann hätte anziehen können, selbst wenn man in die Baracke gelaufen wäre. Verschiedene Anordnungen für das Schuhwerk hatte Suchov in den acht Lagerjahren erlebt: Mal waren sie den ganzen Winter ganz ohne Stiefel herumgelaufen, mal hatte man diese Schuhe nicht zu Gesicht bekommen, sondern nur Bastschuhe und ÖTZ (Schuhzeug aus Gummi, aus Autoreifen). Jetzt hatte es sich mit dem Schuhzeug einigermaßen eingerenkt. .. (Solzenicyn 3 , 1 0 )
Dieser Abschnitt ist offensichtlich nicht in erlebter Rede dargeboten. Hier wird nicht eine aktuelle innere Rede oder die Erinnerung des Helden präsentiert, sondern es erklingt die Stimme des Erzählers, der sich bei seinem narratorialen Überblick über die Geschichte der Beschuhung im Straflager (Merkmal 1 => ET) dem wertungsmäßigen und sprachlichen Horizont des Helden maximal annähert und einzelne stilistischen Züge von FT reproduziert (Merkmale 2, 7, 8 FT). Obwohl uneigentliches Erzählen und erlebte Rede unterschiedliche Strukturen aufweisen, ist es in Solzenicyns Text nicht überall möglich, sie voneinander zu scheiden. Ihre Identifizierung ist vor allem dort erschwert, wo sich figurale Elemente verdichten, die dem aktuellen Zustand des Helden entsprechen. So kann man die Schlusssätze der Erzählung sowohl als Wiedergabe eines aktuellen Bewusstseinsprozesses des einschlafenden Helden verstehen, der die Ereignisse des Tages für sich resümiert, d. h. als erlebte Rede, wie auch als Worte des Erzählers, der unabhängig von der aktuellen Bewusstseinssituation des Helden die .Erfolge' dieses Tages bilanziert, d. h. als uneigentliches Erzählen: Suchov schlief ein, völlig zufrieden. An dem Tag hatte er heute viele Erfolge eingeheimst: in den Karzer hatte man ihn nicht gesteckt, zur Sozkolonie hatte man die Brigade nicht hinausgejagt, beim Mittagessen hatte er einen Extrabrei organisiert, der Brigadeleiter hatte einen Bericht über Normübererfüllung gegeben, die Wand hatte Suchov fröhlich gemauert, beim Filzen war er nicht mit dem Sägeblatt aufgeflogen, am Abend hatte er sich bei Zesar etwas dazuverdient und Tabak gekauft. Und er war nicht krank geworden, hatte das überwunden. Der
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IV. Erzählertext und Figurentext Tag war vergangen, durch nichts getrübt, fast glücklich. (Solzenicyn 111)
o) Funktionen der Textinterferenz An den Anfängen der funktionalen Untersuchung der Textinterferenz steht die Diskussion über den style indirect libre, die in den zehner und zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf den Seiten der Germanisch-romanischen Monatsschrift zwischen dem Genfer Linguisten Charles Bally und seiner Schülerin Marguerite Lips einerseits und den Anhängern der Münchner Vossler-Schule andererseits geführt wurde54. Bally (1912; 1914; 1930) sieht im style indirect libre lediglich ein „procede grammatical de reproduction pure". Von der direkten Rede unterscheidet sich nach Bally diese „forme linguistique" ausschließlich durch ihre grammatischen Merkmale (Pronomina und Tempora der oratio obliqua). Sobald der Berichterstatter in der reproduzierten Rede eine eigene Wertung, etwa eine ironische Akzentuierung erkennen lässt, handelt es sich für Bally nicht um den „style indirect libre", sondern um eine „reproduction appreciee, die als „figure de pensee" streng von den „formes linguistiques" zu trennen und mit dem per definitionem objektiven „style indirect libre" unvereinbar ist. Von diesem scheidet Bally alle Formen, in denen die Präsenz des FT verschleiert ist. Der „style indirect libre" dient nach Bally ausschließlich der reinen, objektiven und offenkundigen Rede- und Gedankenwiedergabe. Die objektivistische Konzeption Ballys musste den Widerspruch der Vosslerianer herausfordern, die die erlebte Rede als ein spezifisch literarisches Phänomen betrachteten. Dabei neigten bestimmte Vertreter dieser Schule zu dem anderen Extrem. Ihr Interesse galt vornehmlich der psychologischen Leistung der erlebten Rede, die sie in der Empathie erblickten. Das Wesen der erlebten Rede bestand für diese Schule der „Sprachseelenforschung" in der „Einfühlung des Dichters in die Geschöpfe seiner Phantasie" (E. Lerch 1914; G. Lerch 1922), im unmittelbaren „Erleben" der Vorgänge eines fremden Be54 Ausführliche Darstellung dieser Diskussion bei Volosinov 1929, 153-174; dt. 1975, 211-37; vgl. auch Dolezel 1958.
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
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wusstseins (von daher rührt der von Etienne Lorck 1921 geprägte Begriff der „erlebten" Rede). Dabei wollten die Vosslerianer nicht die Möglichkeit einer doppelakzentigen Wiedergabe psychischer Prozesse einräumen, die in der Zeit diskutiert wurde. In der Polemik mit Werner Günther (1928, 83-91), der die erlebte Rede als synthetische Form beschrieben hatte, die zwei Perspektiven des Erzählers miteinander verschmelze, die sich in die Figur versenkende „Innensicht" und die distanzierte „Außensicht", die also „Einfühlung" und „Kritik" in einem Akt vereinige, konstatiert Eugen Lerch (1928, 469-471): [...] die Erlebte Rede bedeutet an sich nur Einfühlung, nicht auch Kritik [...]. Durch die Erlebte Rede kann der Autor sich sogar mit Figuren, die ihm keineswegs sympathisch sind oder deren Meinungen er keineswegs teilt, wenigstens für den Augenblick identifizieren [...]. Die Erlebte Rede bedeutet keine Kritik des Gedachten oder Gesagten, sondern im Gegenteil einen Verzicht auf Stellungnahme. Die Vorliebe der modernen europäischen und amerikanischen Literaturen für die Textinterferenz wurde im Sinne der Vossler-Schule oft damit begründet, dass die entsprechenden Erzählverfahren unmittelbaren Einblick in die psychischen Prozesse der Figuren gewährten (Stanzel 1955; Neubert 1957). Aber warum, so ist zu fragen, bezieht sich diese Vorliebe gerade auf hybride Formen, bei denen Unklarheit über die verantwortliche Instanz besteht? Warum gilt sie viel weniger den Formen in der direkten Schablone, die durch die Eindeutigkeit ihrer Zuordnung, wie es scheinen könnte, eher für eine authentische Wiedergabe prädestiniert sind? Die Vorliebe für die Textinterferenz kann nicht ohne Berücksichtigung ihres hybriden Charakters erklärt werden, nicht ohne die Tatsache, dass in ihr zwei Texte simultan präsent sind, deren Anteil an jeder einzelnen Stelle zu rekonstruieren ist, und dass der Erzähler die Worte, Gedanken und Wahrnehmungen der Figur narratorial akzentuieren und bewerten kann. Einen Schritt in diese Richtung hat bereits Ljudmila Sokolova (1968) mit ihrer bislang wenig beachteten Arbeit zur „uneigentlichen Autorrede" (nesobstvenno-avtorskaja rec") unternommen (mit welchem Begriff sie die Verfahren der Textinterferenz bezeichnet). Nach gründlicher Analyse der Mittel, die die „uneigentliche Autorrede" markieren, führt sie aus, welche „stilistischen" Möglichkeiten
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IV. Erzählertext und Figurentext
mit dieser neben der „Autorrede" und der „Figurenrede" „dritten Darbietungsform" zur Verfügung stehen und welche Vorzüge sie vor den beiden anderen hat55. Ausgehend von der Feststellung, dass die stilistischen Funktionen der „uneigentlichen Autorrede" aus der Kontamination oder Konfrontation der Subjektebenen von „Autor" und Held resultieren, führt Sokolova die Funktionen dieser Darbietungsform auf drei Möglichkeiten zurück: 1. Die „uneigentliche Autorrede" kann, indem sie den Standpunkt der Figur wiedergibt und dabei die Autorwertung beibehält, die geistige Entwicklung des Helden demonstrieren und das Wesen seines Charakters enthüllen. 2. Die „uneigentliche Autorrede" kann, indem sie die Wertung des Autors akzentuiert, als kompositionelles Mittel zur Hervorhebung der Hauptideen des Werks benutzt werden. 3. Die „uneigentliche Autorrede" kann durch die Konfrontation der Perspektiven von Autor und Held besondere semantische oder stilistische Effekte erzielen: die Gestaltung a) eines umgangssprachlichen Stils, b) eines lebendigen, leichten Erzähltons in der Kinderliteratur, c) eines humoristischen oder satirischen Erzählens, d) einer historischen oder literarhistorischen Stilisierung. Bei der Erfüllung dieser Aufgaben ist die „uneigentliche Autorrede" der „Autorrede" und der „Figurenrede" darin überlegen, dass sie es dem Autor ermöglicht, 1. den allgemeinen Inhalt des Gedankens und der Rede des Helden wiederzugeben, den dieser aus irgendwelchen Gründen nicht selbst artikulieren kann, 2. einen Inhalt wiederzugeben, der nicht mit dem üblichen Inhalt und den Normen der direkten Rede des Helden vereinbar ist (Rede eines Kollektivs, Verwischung der Grenzen zwischen äußerer und innerer Rede u. ä.), 3. eine stilistische Vielfalt zu erzielen, 4. Besonderheiten im Verlauf eines Dialogs zu profilieren, 5. bestimmte Teile der Rede zu akzentuieren, 6. unwichtige Momente der Sujetentwicklung zur psychologischen Charakteristik des Helden zu benutzen (die „uneigentliche Autorrede" fällt weniger auf und ist „ökonomischer" als die „Figurenrede") und 7. die Grenzen zwischen monologischer und dialogischer Rede der Helden zu verwischen.
55 Leider unterlässt es Sokolova, das nur global benannte Phänomen in seinen einzelnen Erscheinungsformen wie indirekte Rede, erlebte Rede, uneigentliches Erzählen usw. gesondert zu betrachten.
3 . Die Interferenz von Erzählertext und F i g u r e n t e x t
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So umfassend diese Liste der Funktionen auch ist, so werden zwei Grundfunktionen, die durch den hybriden Charakter der erlebten Rede und des uneigentlichen Erzählens ermöglicht werden, von Sokolova nicht einmal erwähnt. Es handelt sich um die Uneindeutigkeit und die Bitextualität. p) Uneindeutigkeit und Bitextualität Schon als man damit begann, das Phänomen der erlebten Rede zu beschreiben, wurde als ihr Hauptmerkmal die Uneindeutigkeit konstatiert. Theodor Kalepky nannte das Verfahren (das sein .Entdecker' Adolf Tobler [1887] als „eigentümliche Mischung direkter und indirekter Rede" beschrieben hatte) „verschleierte Rede" (Kalepky 1899; 1913) oder „verkleidete Rede" (Kalepky 1928) und definierte es als Darstellungsweise, bei welcher der Erzähler die G e d a n k e n und R e d e n seiner Figuren nicht
in irgendeiner sie als solche
kennzeichnenden
Weise, weder in „indirekter" noch „direkter" R e d e wiedergibt, sondern sie in diejenige F o r m kleidet, die er eigenen
Gedanken, W o r t e n
[...]
geben würde und es seinem Leser überlässt, ja o h n e weiteres v o n ihm erwartet, dass er sie trotzdem als Gedanken, W o r t e der inszenierten Figuren auffassen, erkennen und dass er die U m d e u t u n g - wie bei einem Chiffriersystem - richtig v o r n e h m e n werde. (Kalepky 1913, 6 1 3 )
Indem Kalepky das so verstandene Verfahren als „Verschleierung der Tatsachen", als formellen „Täuschungsversuch gegenüber dem Leser" auslegt, zielt er - wie nach ihm Spitzer (1923a) und Oskar Walzel („Versteckspiel, das der Erzähler treibt"; 1924, 221) - auf die aus der Uneindeutigkeit resultierende Wirkung auf den Leser 56 . Die 56 Volosinov, der dem Gegenspiel des „abstraktem Objektivismus" Ballys und des „hypostasierenden Subjektivismus" der Vosslerianer besondere Aufmerksamkeit schenkt und auch die Position Kalepkys ausführlich darstellt, lobt letzteren dafür, dass er die „Doppelgesichtigkeit" der erlebten Rede richtig erkannt habe, tadelt ihn aber wegen seiner Deutung: Es könne keine Rede davon sein, dass die Rede der Figur „verschleiert" werde und dass der Sinn des Verfahrens darin bestehe, den Leser erraten zu lassen, wer jeweils spreche. Jedem Leser sei von Anfang an klar, dass „dem Sinne nach" der Held spreche. Das Spezifikum des Verfahrens bestehe darin, dass sowohl der Autor als auch der Held spreche, dass in einer sprachlichen Konstruktion die „Akzente zweier gegeneinander gerichteter Stim-
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IV. Erzählertext und Figurentext
Folgen für die Rezeption hat bereits Emil Laftman in seiner Arbeit zur „stellvertretenden Darstellung" (d. h. zur erlebten Rede) formuliert: Oft kann der Leser nur aus dem Zusammenhang ersehen, ob der Schriftsteller in seinem eigenen Namen oder im Namen seiner Figuren spricht. [...] Es handelt sich dann um etwas, das die Folgerungskunst des Lesers in Anspruch nimmt. (Liftman 1929,165) Die Uneindeutigkeit der Zuordnung der erlebten Rede aktiviert den Leser und lässt ihn auf den Kontext rekurrieren. Die Formen der Textinterferenz sind von dieser Uneindeutigkeit in unterschiedlichem Maße betroffen. In der direkten figuralen Benennung und allen Formen der indirekten Rede wird die Präsenz der fremden Rede graphisch oder durch verba dicendi signalisiert. Eine „Verschleierung" der Präsenz des FT liegt hier natürlich nicht vor. In den Formen der indirekten Rede kann der konkrete Anteil des FT fraglich erscheinen. Der Leser muss hier entscheiden, welche Eigenschaften ET und FT zuzuordnen sind. In den Typen der erlebten Rede, in denen das Merkmal 4 (Zeit) auf FT weist, wird die Identifizierung des FT durch die Differenz zum Tempus der Erzählerrede erleichtert. Wenn aber Merkmal 4 auf ET verweist, kann es sowohl im präsentischen als auch im präteritalen Kontext recht schwierig werden, die Präsenz des FT zu identifizieren. Eine Erschwerung der Wahrnehmung entsteht in beiden Typen der erlebten Rede, wenn die Opposition von ET und FT neben der Zeit noch in weiteren Merkmalen neutralisiert ist. Dann kann die erlebte Rede vom ET ununterscheidbar werden. Am wenigsten eindeutig zu identifizieren ist das uneigentliche Erzählen. In vielen Texten, die dieses Verfahren enthalten, erweist es sich als außerordentlich schwierig, wenn nicht unmöglich, in den Interferenzen die Anteile von FT und ET auseinander zu halten. Ihre Verschmelzung erleichtert indes die Aufgabe, innere Prozesse der Helden wiederzugeben. Die Uneindeutigkeit des sich ständig ändernden Textaufbaus entspricht der Uneindeutigkeit des darzubietenden Seelenlebens. Wo direkte und indirekte Rede die schwer men" ausgedrückt würden (Volosinov 1929, 156; dt. 1975, 215). Hier zeigt sich wieder die oben (S. 184) bereits angemerkte Präferenz Bachtins und Volosinovs für die agonalen Manifestationen der „Zweistimmigkeit".
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
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zu bestimmenden, noch nicht artikulierten Seelenbewegungen unangemessen eindeutig fixieren57, bildet die Uneindeutigkeit der Präsenz des FT in der perspektivisch fluktuierenden Erzählerrede ein ideales Medium zur Darstellung der latenten Bewegungen des Bewusstseins, einer Darstellung, die auf die Mitarbeit des Lesers rechnet. Die oben erwähnte Auseinandersetzung darüber, ob die erlebte Rede eher der Einfühlung oder der Kritik diene, ist heute noch nicht zu einem Abschluss gekommen. Noch Elena Paduceva (1996, 360) ergreift in dieser Kontroverse eine eindeutige Position: Sie scheidet die „Zitierung" (womit sie die Ansteckung und Reproduktion meint und das damit verbundene uneigentliche Erzählen), die sich durch „Zweistimmigkeit" auszeichne, von der nach ihrer Auffassung „monologischen" erlebten Rede, in der die Stimme der Figur „die Tendenz habe, die Stimme des Erzählers völlig zu verdrängen". (Diese Position entspricht der Betrachtung der erlebten Rede als eines grundsätzlich univokalen Phänomens von Bally bis Banfield.) Dagegen sei eingewandt, dass erstens die Merkmale für 58
ET den Erzähler und seine Bewertung vergegenwärtigen und zweitens, dass das Phänomen der simultanen Präsenz zweier Texte in ein und derselben Aussage unausweichlich zur Bitextualität führt. Mit der Entwicklung einer Distanz zwischen den Sinnpositionen von Erzähler und Figur wird diese Bitextualität den Charakter einer ideologischen Zweistimmigkeit, einer Doppelakzentigkeit annehmen. Ein Beispiel für eine scharfe Kollision der Wertungsstandpunkte war Eine dumme Geschichte, in der nach Volosinovs (1929, 147; dt. 1975, 204) Beobachtung „jedes Epitheton eine Arena der Begegnung und des Kampfes zweier Intonationen, zweier Standpunkte, zweier Reden" bildet. 57 In seiner Abhandlung zum Wort im Roman bezeichnet Bachtin (1934/1935, 133) die erlebte Rede als am meisten geeignet zur Wiedergabe der inneren Reden der Figuren, da sie die „expressive Struktur der inneren Rede des Helden und die ihr eigene Unausdrücklichkeit und Verschwommenheit bewahrt, was bei einer Wiedergabe in der trockenen und logischen Form der indirekten Rede unmöglich ist". 58 Die Präsenz des Erzählers in den auf ihn verweisenden grammatischen Merkmalen wie Personalform und Tempus wird von den Kritikern der Bitextualität geleugnet (vgl. Fludernik 1993a, 355).
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IV. Erzählertext und Figurentext
Die Zweistimmigkeit macht die Erzählerrede axiologisch doppelwertig. Jeder Wertung der Figur ist eine narratoriale Sinnposition entgegenzusetzen. Die implizite Kritik des Erzählers kann in der zweistimmigen erlebten Rede sowohl auf die Ideologie als auch auf den sprachlichen Ausdruck von FT gerichtet sein. In Mieke Bals (1977a, 11) Interpretation der erlebten Rede, die Genettes Unterscheidung von „mode" und „voix" aufgreift (s. o., Ill.l.b), macht sich ein dieser Dichotomie inhärenter Reduktionismus geltend. Nach Bals Auffassung liegt in dem Verfahren nicht eine Interferenz der Texte von Erzähler und Figur vor (wie Schmid 1973, 39-79 behauptet), sondern lediglich eine Interferenz von „parole" (des Erzählers) und „vision" (der Figur). Auf diese Weise bringt Bai die Struktur der erlebten Rede de facto auf die Formel „Sicht der Figur + Stimme des Erzählers". Damit wird aber der Umstand vereinfacht, dass einerseits die erlebte Rede in der Regel in Lexik und Syntax (d. h. in der „Stimme") der Figur realisiert wird und anderseits der Erzähler auf den Wahrnehmungen, den Gedanken und Worten der Figur Spuren seiner eigenen Bewertung (seiner „vision") hinterlässt. Folglich sind in der erlebten Rede zwei Sichtweisen und zwei Stimmen, also zwei Texte vereinigt59. Die Bitextualität nimmt, wie schon oben (S. 184), bei der Abgrenzung unserer Textinterferenz von Volosinovs „Redeinterferenz" ausgeführt wurde, nicht zwangsläufig einen zweistimmigen, doppelakzentigen Charakter an. In der erlebten Rede der russischen romantischen Prosa beobachten wir z. B. keinerlei Konkurrenz der Wertungen. Auch in den späten Erzählungen Cechovs sind in der erlebten Rede keine adversativen oder relativierenden Akzente des Erzählers wahrzunehmen. Nach den Beobachtungen A. P. Cudakovs (1971, 103) nähern sich die erlebten inneren Monologe des späten Cechov jener einakzentigen Form, die Volosinov (1929,151; dt. 1975, 211) aus dem Bereich der - für ihn grundsätzlich zweistimmigen - erlebten Rede verbannt 60 . Nicht zufällig haben Bachtin und Volosinov in ihrer Konzentration auf die agonalen Manifesta59 Die unbegründete Kritik meiner Theorie in Bai (1977a) wird durch Bronzwaer (1981,197-200) analysiert und zurückgewiesen. 60 Volosinov nennt eine Darstellung, in der der Autor für seinen Helden spricht und keinen eigenen Akzent setzt, „vertretene direkte Rede" (zamescennaja prjamaja rec').
3. Die Interferenz von Erzählertext und Figurentext
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tionen der Textinterferenz Cechov, den Meister der univokalen erlebten Rede, konsequent umgangen. Zwischen der einakzentigen Textinterferenz und der den Inhalt und den Ausdruck des Helden satirisch vorführenden zweistimmigen Darbietung erstreckt sich ein breites Spektrum möglicher Formen mit unterschiedlichen Wertungsrelationen, die von der Empathie über die humoristische Akzentuierung, die kritische Ironie bis zur vernichtenden Verhöhnung reichen61. Natürlich ist die Realisierung der Wertungsrelation durch den Erzähltext nicht eindeutig prädeterminiert, sondern von der jeweiligen Interpretation der Wechselbeziehung von Textinterferenz und Kontext abhängig. Wir können aber bestimmte Dispositionen der Formen zu bestimmten Wirkungen konstatieren. So tendieren zur Zweistimmigkeit vor allem jene Formen, in denen die Präsenz des FT explizit signalisiert wird, wie die direkte figurale Benennung und bestimmte Spielarten der freien indirekten Rede. Aber auch in der erlebten Rede und im uneigentlichen Erzählen ist die Zweistimmigkeit weit verbreitet, wie die zahlreichen Beispiele zeigen, die Bachtin und Volosinov für den Kampf der Stimmen aus unterschiedlichen Literaturen anführen. Die Zweistimmigkeit der erlebten Rede und des uneigentlichen Erzählens verstärkt die aus ihrer Uneindeutigkeit resultierende Erschwerung der Wahrnehmung. Der Leser hat nicht nur die Aufgabe, aus der Erzählerrede den latenten FT herauszuhören, er ist auch aufgerufen, zu entscheiden, welchen Wertungsstandpunkt der Erzähler gegenüber dem Inhalt und dem Ausdruck des FT einnimmt.
61 Darstellung der so genannten „dual-voice-hypothesis" (die schon in der Diskussion der zwanziger Jahre auftaucht: in Deutschland bei Spitzer 1 9 2 2 und Günther 1928, in Russland bei Bachtin 1 9 2 9 und Volosinov 1929), Zusammenfassung der Argumente ihrer Gegner (v. a. Ann Banfield) und eigene Kritik bei Fludernik 1993a, 3 3 8 - 3 5 9 .
V. Die narrativen Transformationen: Geschehen - Geschichte - Erzählung Präsentation der Erzählung 1. „Fabel" und „Sujet" im russischen Formalismus a) Modelle der narrativen Konstitution Modelle der narrativen Konstitution stellen das Erzählwerk als Resultat einer Reihe von Transformationen dar. Das Werk wird in einzelne Ebenen, die Stufen seiner Konstitution, zerlegt, und den Transformationen werden bestimmte narrative Verfahren zugeordnet. Die Folge der Transformationen darf man keinesfalls im zeitlichen Sinne verstehen, sondern nur als unzeitliche Ausfaltung der das Werk simultan hervorbringenden Verfahren. Insofern stellen die Modelle der narrativen Konstitution nicht den Prozess der Entstehung des Werks dar und auch nicht den Prozess seiner Rezeption, sondern bilden mit Hilfe zeitlicher Metaphern die ideale, unzeitliche Genesis des Erzählwerks ab. In Analogie zu den Transformationsmodellen der Linguistik könnte man sie „generativ" nennen, sachlich adäquater ist freilich die Bezeichnung „idealgenetisch". Warum beschäftigt sich die Narratologie überhaupt mit solchen Abstraktionen? In den idealgenetischen Modellen geht es weniger um die Unterscheidung der Ebenen (die ohnehin der Beobachtung nicht zugänglich sind) als um die Identifizierung der Operationen, die den Übergang von einer Ebene zur anderen bedingen. Die Aufgabe der idealgenetischen Modelle besteht also darin, jene narrativen Operationen zu unterscheiden, die das im Erzählwerk enthaltene Ausgangsmaterial in einen der Beobachtung zugänglichen Erzähltext transformieren. Somit dient die Differenzierung von Ebenen vor allem als Hilfsmittel zur Analyse der grundlegenden narrativen Verfahren.
1. „Fabel" und „Sujet" im russischen Formalismus
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Das Modell der narrativen Konstitution, das den größten Einfluss auf die internationale Literaturwissenschaft hatte, war die von den russischen Formalisten geprägte Dichotomie „Fabel" vs. „Sujet". Dieses binäre Modell hat in der Literaturwissenschaft verschiedener Länder weite Verbreitung gefunden und ist zum Ausgangspunkt zahlloser narratologischer Modelle geworden (vgl. Schmid 2008b) Im Rahmen des Formalismus ist die Dichotomie allerdings auf unterschiedliche Weise definiert worden1. Im Folgenden seien die wichtigsten Ansätze betrachtet 2 .
b) V. Sklovskij Viktor Sklovskij beabsichtigte nicht, eine narratologische Theorie zu entwerfen oder auch nur eine Differenzierung narrativer Ebenen vorzunehmen. Sein Interesse galt ausschließlich dem Sujet, wobei dieser Begriff für ihn in den meisten Fällen nicht ein fertiges Produkt, etwa das Resultat von Transformationen bedeutete, sondern eine Energie, den Prozess der künstlerischen Konstruktion, ein Moment der „Form":
1
Die wichtigsten metatheoretischen Arbeiten sind: Volek 1977; 1985; HansenLöve 1978, 238-263; Garcia Landa 1998, 22-60. In der russischsprachigen Wissenschaft sind der systematischen und literarhistorischen Erforschung der FabelSujet-Dichotomie besonders die Sammelbände der in Daugavpils (Lettland) herausgegebenen Reihe Voprosy sjuzetoslozenija („Fragen des Sujetbaus") gewidmet. Vgl. bes. Cilevic 1972; Egorov u.a. 1978. 2 In der Sujettheorie können einen gewissen Einfluss auf den Russischen Formalismus die Arbeiten deutscher Philologen zur Komposition literarischer Texte gehabt haben. In erster Linie sind hier zu nennen: Otmar Schissel von Fleschenberg, Bernhard Seuffert und Wilhelm Dibelius. In W. Dibelius' (1910) Englischer Romankunst findet sich der Ansatz eines systematischen Modells der narrativen Struktur, der aus heutiger Warte ein frühes idealgenetisches Modell darstellt (Dolezel 1973b). Zu den Beziehungen zwischen der deutschen und der russischen Kompositionstheorie vgl. Dolezel 1973b; Hansen-Löve 1978, 264-267; Dolezel 1990,124-146. In den zwanziger Jahren haben bereits Viktor Zirmunskij (1927) und besonders Rozalija 5 or (1927) auf die deutsche Kompositionstheorie hingewiesen. Letztere, auf die sich Dolezel stark stützt, tendiert in ihrem Bericht über die „deutschen Formalisten" freilich dazu, das Verdienst der sehr kritisch betrachteten russischen Formalen Schule zu schmälern. Vgl. dazu jetzt Aumüller 2008, der den Einfluss der deutschen Theoretiker deutlich relativiert.
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V. Die narrativen Transformationen [...] das Sujet und die Sujethaftigkeit sind eine ebensolche Form wie der Reim. (Sklovskij 1919,108) Das Sujet ist ein Phänomen des Stils, der kompositioneile Aufbau des
Werks. (Sklovskij 1928, 220) Die Methoden und Verfahren der Sujetfügung sind analog und im Prinzip identisch mit den Verfahren etwa der Lautinstrumentierung. Wortkunstwerke stellen ein Geflecht von Lauten, von Artikulationsbewegungen und Gedanken dar. (Sklovskij 1919, 106; Hervorhebung im Original)
Die klassische Definition des Verhältnisses von Fabel und Sujet gibt Sklovskij wie beiläufig im Aufsatz zu Sternes Tristram Shandy ·. Den Begriff Sujet verwechselt man allzu häufig mit der Beschreibung von Ereignissen, also mit dem, wofür ich den Begriff Fabel vorschlage. In Wirklichkeit ist die Fabel nur Material für Formung durch das Sujet. Somit ist das Sujet von Eugen Onegin nicht die Romanze des Helden mit Tat'jana, sondern die sujetmäßige Verarbeitung dieser Fabel, erreicht durch die Einschaltung von unterbrechenden Abschweifungen. (Sklovskij 1921a, 2 9 6 - 2 9 8 ; Hervorhebung im Original)
Sklovskij suchte die Ästhetizität ausschließlich in den Akten der Formung und schätzte die ästhetische Relevanz des zu formenden Materials äußerst gering ein. Das Sujet als Formungsakt bedeutete für Sklovskij eine verfremdende Deformation der Fabel. Kunst war, wie der programmatische Titel von Sklovskijs bekanntem Ε ssay (1917) postulierte, „Verfahren", und die Verfahren des Sujetbaus bestanden vor allem in jenen Techniken des Parallelismus, der Wiederholung, des „Stufenaufbaus", der „Zerkleinerung" oder der „Bremsung", die eine „Verfremdung der Dinge" und eine „erschwerte Form" bewirkten (Sklovskij 1917, 14). Gegenstand der Wahrnehmung, die erschwert und - als „Selbstzweck in der Kunst" - verlängert werden sollte, waren die erschwerenden Formungsakte selbst, das - wie Sklovskij in einem schönen Bild formulierte 3
Die deutsche Fassung der Zitate aus Sklovskijs Essays folgt, soweit letztere dort abgedruckt sind, den Texten der russischen Formalisten, Bd. 1 (Striedter [Hg.] 1969). In einzelnen Fällen wird jedoch von der dort angebotenen Übersetzung abgewichen.
4
Mit seiner Dichotomie hat Sklovskij zwei Begriffe, die ursprünglich gleichermaßen den erzählten Stoff, die erzählte Handlung bezeichneten, in eine Opposition gebracht (vgl. Volek 1977,142).
1. „Fabel" und „Sujet" im russischen Formalismus
233
„Tänzeln hinter dem Pflug"5 oder das „Machen einer Sache"6. Die in der Formung bearbeitete Substanz, etwa „die Welt der Emotionen, der seelischen Erlebnisse" (Jakobson 1921, 32) oder Eugen Onegins „Romanze mit Tat'jana" (Sklovskij 1921a, 299), wurde zur bloßen „Motivierung" der Verfahren, zum „Mittel der Rechtfertigung" (Jakobson 1921, 32) degradiert und das aus der Formung hervorgehende Produkt, das „Gemachte", „der gepflügte Acker", lapidar als „nicht wichtig" abgetan. Sklovskij gab im mer wieder zu verstehen, dass er das Sujet nicht als Substanz dachte, etwa als geformten Inhalt oder als das Produkt der Anwendung von Verfahren auf die Fabel, ja, er unterstrich sogar die Irrelevanz der Inhaltskategorie für das Sujet: F ü r den Begriff „Inhalt" findet sich bei der sujetbezogenen Analyse eines Kunstwerks keinen Bedarf. Die F o r m muss man hierbei als Konstruktionsgesetz des Gegenstands begreifen. (Sklovskij 1 9 1 9 , 1 0 8 )
Dieses „Konstruktionsgesetz des Gegenstands" nimmt bei Sklovskij den Charakter einer autonomen abstrakten Kraft an. Das Sujet bearbeitet nicht einfach ein bestehendes, fertiges, vorgegebenes Material, dessen Direktiven es folgt. „Auf der Grundlage von besonderen, noch unbekannten Gesetzen der Sujetfügung" (43) sucht es sich vielmehr aktiv aus dem Repertoire der ewig bestehenden Motive einzelne aus und verbindet sie8. Sklovskijs Vorstellung von 5
„Auch der Tanz ist ein Gehen, das man empfindet; noch genauer, ein Gehen, das so angelegt ist, dass man es empfindet. Und so tänzeln wir hinter dem Pflug; das geschieht, weil wir pflügen, aber den gepflügten Acker brauchen wir nicht" (Sklovskij 1919, 36). „Weil wir pflügen" heißt hier: „weil wir das Empfinden des Pflügens genießen".
6
„[...] die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig" (Sklovskij 1917,14).
7
Den letzten Satz hat der Autor erst in der Version hinzugefügt, die in der Theorie der Prosa (Sklovskij 1929, 60) abgedruckt wurde. Abweichend von der deutschen Version in Striedter (Hg.) 1969 übersetze ich russ. predmet mit „Gegenstand" und nicht mit „Thema".
8
Wie sehr kompositionelle Bedürfnisse sogar die Einführung von Figuren leiten können, illustriert Sklovskij mit Hilfe eines Briefes von Lev Tolstoj (vom 3.5.1865) an eine Dame, die den Romancier gefragt hatte, wer Andrej Bolkonskij sei. Bolkonskij sei niemand, antwortete ihr Tolstoj. Zu Beginn des Romans habe er den Tod eines glänzenden jungen Mannes gebraucht. Aus Gründen der Ökonomie („weil es unangebracht ist, eine mit dem Roman nicht verbundene Figur
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V. Die narrativen Transformationen
der Eigentätigkeit des Sujets, die nirgendwo expliziert ist, wird deutlich am Beispiel der Einführung von thematischem Material in die Volksdichtung aufgrund des künstlerischen Erfordernisses von Verfahren wie „Stufenbildung" und „Bremsung": Hier können wir eine in der Kunst übliche Erscheinung beobachten: eine bestimmte Form sucht eine Ausfüllung, ähnlich wie in lyrischen Gedichten Klangflecken durch Wörter ausgefüllt werden. (Sklovskij 1919, 60)
In Sklovskij s radikaler Konzeption werden Handlungsmomente in ein Werk nicht aufgrund ihres lebensweltlichen, ethischen, philosophischen Gehalts eingeführt, sondern weil die Sujetkonstruktion sie erfordert: „Die Sujetkonstruktionen wählen Fabelsituationen aus, die zu ihnen passen, und deformieren damit das Material" (Sklovskij 1928, 220): Bestimmte Fabelsituationen können nach Sujetprinzipien ausgewählt werden, d. h. in ihnen selbst kann eine bestimmte Sujetkonstruktion angelegt sein, ein Stufenaufbau, eine Inversion, eine Ringkonstruktion. So haben gewisse Steinsorten einen Schichtenaufbau und sind deshalb besonders geeignet für bestimmte Plattenmuster. (Sklovskij 1928, 220)
Die Gesetze der Sujetkonstruktion, auf die, wie Sklovskij konstatiert, die Menschen üblicherweise nicht achten, da ihre Aufmerksamkeit ganz von der Suche nach „Lebenswelt, Seele und Philosophie" (Sklovskij 1919, 65) eingenommen wird, zielen auf die „Herstellung wahrnehmbarer Werke" (97). Die Wahrnehmbarkeit aber wird durch die Neuheit der Form garantiert: Eine neue Form entsteht nicht, um einen neuen Inhalt auszudrücken, sondern um eine alte Form abzulösen, die ihren Charakter als künstlerische Form bereits verloren hat. (Sklovskij 1919, 51)
Insofern Sklovskij dazu tendierte, den Begriff der Form mit dem Begriff des ästhetisch Wirksamen gleichzusetzen, vernachlässigte er nicht nur die Substanz der Fabel, sondern auch ihre eigene Geformtheit. Die Form der Fabel wurde als vorgegebene Eigenschaft
zu beschreiben") habe er den glänzenden jungen Mann zum Sohn des alten Bolkonskij gemacht, und es habe sich eine weitere Rolle für ihn im Roman gefunden. Deshalb habe er ihn begnadigt, indem er ihn nicht sterben, sondern nur schwer verwundet sein ließ. (Sklovskij 1919, 9 7 - 9 9 )
1. „Fabel" und „Sujet" im russischen Formalismus
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des Materials betrachtet. Sie erschien nicht als Resultat künstlerischer Tätigkeit. Der Überblick über Sklovskij s Fabel-Sujet-Konzept macht deutlich, warum sich die formalistische Dichotomie in der Praxis der Werkanalyse als schwer anwendbar erweist: Der Grund ist nicht nur die Uneindeutigkeit der Begriffe9, sondern auch der Antisubstantialismus des formalistischen Denkens. Wie „Fabel" auch aufgefasst wurde, immer bedeutete der Begriff etwas Untergeordnetes, dessen raison d'etre sich darin erschöpfte, einem verfremdenden Sujet als Grundlage zu dienen. Die Fabel war für die Formalisten nur wichtig als das zu Überwindende, als eine Ordnung, die der deformierenden Neuordnung Widerstand entgegensetzte und damit letztlich nur die „Wahrnehmbarkeit" der diesen Widerstand überwindenden Verfahren, d. h. des Sujets, steigerte, aber sie wurde nicht als eigene phänomenale Gegebenheit betrachtet. Sobald die Verfahren wahrgenommen werden, kann der Leser nach der Konzeption der Formalisten jenes Material vergessen, das ihrer Manifestation diente. Der radikale Antisubstantialismus ihres Denkens verstellte den Formalisten den Blick auf den künstlerischen Eigenwert, die „Gemachtheit" und den semantischen Gehalt der zu transformierenden Fabel. Er hinderte sie auch daran, Fabel und Sujet als unterschiedlich geformte Substanzen zu betrachten, deren Inkongruenz - verbunden mit der aus ihr resultierenden Spannung - sich über den bloßen Verfremdungseffekt hinaus in neuen thematischen Sinnpotentialen niederschlägt10. 9
Unsere Rekonstruktion der am ehesten formalistisch zu nennenden Version der Fabel-Sujet-Dichotomie soll nicht vergessen machen, dass Sklovskij schon in seiner frühen Phase seine Schlüsselbegriffe keineswegs konsequent verwendet. Insbesondere der Sujetbegriff wird von ihm nicht selten im konventionellen Sinn gebraucht, als Synonym für Fabel oder als Bezeichnung des Resultats der Anwendung der Verfahren. 10 Unter den Formalisten im engeren Sinne hat Jurij Tynjanov (1927a, 548-551) eine eigene Konzeption von Fabel und Sujet entworfen. Er verwirft verbreitete Definitionen der Fabel („statisches Schema der Beziehungen", „Schema der Handlungen") und schlägt eine Dichotomie vor, die er in Analogie zum Verhältnis von Metrum und Rhythmus setzt: Die Fabel ist danach der „gesamte semantische (bedeutungsmäßige) Grundriss der Handlung", das Sujet seine „Dynamik, wie sie aus der Wechselwirkung aller Verknüpfungen des Materials (unter ande-
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V. Die narrativen Transformationen
c) Μ. Petrovskij Michail Petrovskij 11 kehrt in seinen Arbeiten zur Komposition der Novelle (1925; 1927) die Bedeutung der von Boris Ejchenbaum (1921) übernommenen Begriffe „Fabel" und „Sujet" völlig um. Was Ejchenbaum im Gefolge Sklovskijs „Fabel" nennt, heißt bei Petrovskij „Sujet", und was Ejchenbaum als „Sujet" bezeichnet, figuriert bei Petrovskij als „Fabel": Ich möchte das Wort Sujet im Sinne des Stoffs des Kunstwerks gebrauchen. Das Sujet ist gewissermaßen das System der Ereignisse, der Handlungen (oder ein einzelnes einfaches oder komplexes Ereignis), das dem Dichter in einer bestimmten Formung vorlag, die allerdings noch nicht das Resultat seiner eigenen individuellen schöpferischen Arbeit ist. Das poetisch bearbeitete Sujet möchte ich mit dem Terminus Fabel bezeichnen. (Petrovskij 1925,197; Hervorhebung im Original)
Wichtig ist hier freilich nicht so sehr, dass bei Petrovskij „Fabel" und „Sujet" ihre Plätze tauschen. Entscheidend ist vielmehr, dass in Petrovskijs Definition eine auf den ersten Blick unbedeutende, in Wirklichkeit aber höchst charakteristische Verschiebung der Intensionen stattgefunden hat. Während Sklovskij seinen Sujetbegriff meistens in Kategorien der Form oder Formung („Bearbeitung", „Formgebung") definiert, bezeichnet Petrovskij mit seinem äquivalenten Fabelbegriff eine Substanz, den „poetisch bearbeiteten Stoff". Hier finden wir bereits jene Akzentverschiebung von der Energeia zum Ergon, die für die ganze spätere Rezeption der Fabel-SujetDichotomie leitend wurde. Und noch eine zweite Verschiebung der Begriffsinhalte ist zu registrieren: Das „Sujet" (in Petrovskijs Begriffsverwendung) liegt, auch wenn es das Ausgangsmaterial für den individuellen kreativen Akt bildet, dem Dichter nicht als amorphes Material vor, sondern als etwas, das schon auf eine bestimmte rem auch der Fabel als der Handlungsverknüpfung) resultiert - der stilistischen Verknüpfung, der Handlungsverknüpfung usw." Diese Definition löst freilich die Zuordnung der beiden Begriffe auf. Die Fabel steht für die dargestellte Welt, das Sujet für die Struktur des Werks. Es handelt sich nicht mehr um eine Opposition, sondern um eine Inklusion: Die Fabel wird zu einer Komponente des Sujets (vgl. auch Todorov 1971a, 16 f.; Volek 1977,145 f.). 11 M. Petrovskij gehörte nicht zum inneren Kreis der russischen Formalisten, sondern - wie auch Boris Tomasevskij, Viktor Zirmunskij und Aleksandr Reformatskij - zur Peripherie, zu den Vertretern der so genannten Kompositionstheorie.
1. „Fabel" und „Sujet" im russischen Formalismus
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Weise geformt ist, als „System der Ereignisse" (wie Petrovskij aristotelisch formuliert). Diese zweite Akzentverschiebung wird dann in vielen Modellen vorgenommen, die den frühformalistischen Reduktionismus zu überwinden trachten. In seinem Aufsatz zur Morphologie der Novelle (1927) setzt Petrovskij die Fabel-Sujet-Dichotomie (mit der ihm eigenen Umkehrung der Inhalte) in Relation zu der aus der Rhetorik stammenden Differenzierung von Disposition und Komposition. Im Erzählen ist, so fordert Petrovskij, die „Reihenfolge der Bewegung des Sujets und die Reihenfolge seiner Darbietung" zu unterscheiden. Die erstere werde als Disposition, die letztere als Komposition bezeichnet12. Das Sujet könne aus seiner Darbietung abstrahiert werden, indem man die kausal-temporale Folge des Lebens wiederherstelle. Deshalb sei seine Struktur (die Disposition) nicht von besonderem Interesse: E s ist klar, dass die künstlerische Struktur der N o v e l l e organisch mit ihrer Komposition verbunden ist, mit der Technik der Darbietung, d. h. mit der Entfaltung ihres Sujets. (Petrovskij 1 9 2 7 , 7 3 )
Obwohl Petrovskij der Komposition die künstlerische Priorität zuspricht, erkennt er, anders als Sklovskij, dem Material der Darbietung (in seiner Begrifflichkeit: dem Sujet) immerhin eine eigene Strukturiertheit zu. Das „Sujet" ist das „Leben", aber nicht das Leben in seiner ganzen Fülle, sondern das „umgestaltete Leben": Das Sujet ist i m m e r eine Umgestaltung des Lebens, das sein R o h m a terial bildet.
[...]
Vor
allen
Dingen ist das Sujet eine
Auswahl.
(Petrovskij 1 9 2 7 , 7 2 )
Diese Feststellung weist voraus auf Modelle, die der „Geschichte" oder der „story" eine Selektivität gegenüber dem zu erzählenden 12 Mit der Dichotomie Disposition vs. Komposition arbeitete die deutsche Kompositionstheorie der zehner Jahre. Rozalija Sor verweist auf eine Arbeit von Otmar Schissel von Fieschenberg (1910), in der der Kompositionsanalytiker die Komposition als ästhetische Anordnung des Inhalts der Disposition als der logischen Entwicklung der Ereignisse gegenüberstellt. In einer späteren Arbeit betrachtet Schissel als Disposition auch die kanonisierte Komposition, die Merkmal einer bestimmten Gattung geworden ist (§or 1927,133). Von hier ergibt sich eine Verbindung zum formalistischen Theorem, demzufolge das automatisierte Sujet eines Werks oder einer Gattung zur Fabel eines neuen, verfremdenden Sujets werden kann.
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V. Die narrativen Transformationen
Geschehen zuweisen und ihr einen künstlerischen Status zuerkennen. Damit deutet sich bei Petrovskij bereits eine Triade der Ebenen an: „Leben" - „Sujet" mit seiner „Disposition" - „Fabel" mit ihrer „Komposition". d) L. Vygotskij Der Reduktionismus, der der formalistischen Fabel-Sujet-Dichotomie inhärent ist, tritt besonders deutlich in den quasiformalistischen Werkanalysen zutage, in denen die Kategorien der Formalisten adaptiert werden, ohne von einem - alle Reduktionen letztlich kompensierenden - genuin formalistischen Erkenntnisinteresse geleitet zu sein. Ein aufschlussreicher Katalysator, der den Reduktionismus der formalistischen Fabel-Sujet-Dichotomie bloßlegt, ist die exemplarische Analyse von Ivan Bunins Novelle Leichter Atem (Legkoe dychanie), die der russische Psychologe und Psycholinguist Lev Vygotskij (*1896, 11934) in seinem Buch Psychologie der Kunst vorgenommen hat (1925; dt. 1976). In dem Buch geht der Psychologe der Frage nach, auf welche Weise Kunstwerke verschiedener Gattung bestimmte psychische Reaktionen auslösen. Die theoretischen Ausführungen, die der Analyse von Bunins Novelle vorausgehen (1965, 69-91), kritisieren und korrigieren die Prämissen des Formalismus13. In unserem Zusammenhang ist besonders interessant, dass Vygotskij die Extension des Formbegriffs und der künstlerischen Tätigkeit auf die Konstitution der Fabel erweitert und den Eigenwert des Materials für die ästhetische Wirkung des Kunstwerks unterstreicht: [...] das Thema oder Material der Konstruktion erweisen sich als keineswegs gleichgültig für die psychologische Wirkung des gesamten Kunstwerks. (Vygotskij 1965, 8 0 )
13 Das Verhältnis von Vygotskijs Psychologie der Kunst (deren Teile zwischen 1915 und 1922 entstanden sind) zum russischen Formalismus ist nicht ganz eindeutig. Trotz seiner expliziten Kritik des Formalismus modelliert Vygotskij die Psychologie der ästhetischen Reaktion ganz in der Nomenklatur des Formalismus. Inwieweit den gleichen Termini gleiche Konzepte zugrunde liegen, müsste im Einzelnen geprüft werden.
1. „Fabel" und „Sujet" im russischen Formalismus
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Wie Petrovskij so betont auch Vygotskij, dass die Fabel oder Disposition nicht mit dem Leben zusammenfalle, sondern bereits Resultat einer künstlerischen Bearbeitung sei. Wie der Kompositionstheoretiker hebt auch der Psychologe das Moment der Auswahl hervor und unterstreicht die künstlerische Relevanz dieses Aktes: Der bequemen Gedankenführung halber sind wir davon ausgegangen, dass wir die Disposition als das natürliche Moment der Komposition als dem künstlichen Moment gegenübergestellt haben, wobei wir vergaßen, dass die Disposition selbst, das heißt die Auswahl der zu gestaltenden Fakten, bereits ein schöpferischer Akt ist. [...] Genauso wie der Maler, der einen Baum malt, durchaus nicht jedes einzelne Blatt malt [...], genauso bearbeitet auch der Schriftsteller, der nur das von den Ereignissen auswählt, was er benötigt, das aus dem Leben stammende Material und stellt es um. (Vygotskij 1925, 206; dt. 1976,186 f.)
Gleichwohl bleibt Vygotskijs werkanalytischer Zugriff - offensichtlich im Bann des formalistischen Modells - auf charakteristische Weise insuffizient14. Vygotskij führt die ästhetische Wirkung der Novelle auf den „dialektischen Widerspruch", den „Kampf" zwischen „Inhalt" und „Form", auf die (Schillersche) „Vernichtung des Inhalts durch die Form" zurück. Als „Inhalt" oder „Material" betrachtet er die „Fabel", d. i. das vorliterarische Geschehen, „alles das, was der Dichter fertig übernommen hat: die Alltagsverhältnisse, die Geschichten, die konkreten Fälle, die Lebensumstände, die Charaktere, also alles, was vor der Erzählung existierte". „Form" ist für Vygotskij - im Sinne Sklovskijs - das „Sujet", d. i. die „Überarbeitung" und „Überwindung" des Materials durch seine „Anordnung nach den Gesetzen einer künstlerischen Konstruktion (1925, 187; dt. 1976, 168). Die ästhetische Wirkung der Novelle Bunins beruht nach Vygotskij auf der Spannung zwischen den divergierenden „Strukturen" des „Materials" und der „Erzählung". Während die „Struktur des Materials" (die mit der „Disposition", der „Anatomie" und dem „statischen Schema der Konstruktion" identifiziert wird) die Ereignisse in ihrer „natürlichen Anordnung" (dem ordo naturalis der Rhetorik) enthält, bringt sie die „Struktur der Erzählung" (die „Komposition", die „Physiologie", das „dynamische Sche14 Vgl. die interessanten Arbeiten von Alexander Zholkovsky (1992; 1994), in denen Vygotskijs „glänzende" Abhandlung als „Überinterpretation einer unvollständigen Strukturanalyse" kritisiert wird.
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ma der Komposition") in eine „künstliche Ordnung" (ordo artificialis). Die Umstellung der Teile des „Materials" ändert - und das ist Vygotskijs entscheidendes Argument - den „Sinn" und die „emotionale Bedeutung", die dem Material an sich zukommen. (Auch wenn Vygotskij noch auf weitere Verfahren verweist, insbesondere den Benennungsakt und die Perspektivierung, reduziert er die Leistungen des „Sujets" praktisch auf die Umstellung.) In Bunins Novelle ruft das erzählte Geschehen nach Vygotskijs Auffassung an sich einen düsteren, äußerst abstoßenden Eindruck hervor; das „Material" verkörpert für sich genommen den Sinn „Bodensatz des Lebens", und diesen affektiven Grundton verstärkt der Autor (sie!) in seiner Darbietung durch „grobe und harte Ausdrücke", die die ungeschminkte Wahrheit des Lebens bloßlegen". (Vygotskij nennt mit diesen Qualitäten der erzählerischen Präsentation - methodisch inkonsequent - bereits Verfahren des Sujets!) Als ganze vermittelt die Erzählung in Vygotskijs Deutung den genau entgegengesetzten Eindruck: „das Gefühl der Befreiung, der Leichtigkeit, der Unbeschwertheit und völligen Durchsichtigkeit des Lebens, das man unmöglich aus den Ereignissen ableiten kann, die ihr zugrunde liegen" (1925, 199; dt. 1976, 180). Seine radikale Umtönung verdankt das Material, das substantiell dasselbe bleibt, in der Interpretation Vygotskijs ausschließlich der Permutation seiner Teile: „Die Ereignisse sind so verbunden und verkettet, dass sie ihre Lebensschwere und undurchsichtige Trübe verlieren" (1925, 200; dt. 1976, 201). Offensichtlich angeregt durch Jurij Tynjanovs (1924a) Hinweis auf die semantische Funktion der poetischen Konstruktion, entwickelt Vygotskij in der ihm eigenen metaphernreichen Darlegungsweise den Ansatz zu einer Analyse jener semantischen „Doppelung", die aus der simultanen Gegebenheit von Fabel und Sujet resultiert, einen Ansatz, den er im Weiteren allerdings nicht konsequent verfolgt: Die Wörter der Erzählung [...] tragen ihren eigenen einfachen Sinn, ihr Wasser; die Komposition schafft über diesen Wörtern einen neuen Sinn, situiert dies alles auf einer anderen Ebene und verwandelt es in Wein. So ist hier die Alltagsgeschichte von einer leichtsinnigen Gymnasiastin in den leichten Atem der Buninschen Novelle verwandelt. (1925, 201; dt. 1976,181)
1. „Fabel" und „Sujet" im russischen Formalismus
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In Vygotskijs Analyse beobachten wir zwei gravierende Reduktionen, die von der formalistischen Fabel-Sujet-Konzeption vorgegeben sind: 1. Die „Materialemotion" wird funktional der „Formemotion" untergeordnet. Die Qualitäten des Materials und ihre affektive Wirkung fungieren nur als mediales Substrat der sich auf ihnen aufbauenden finalen Formqualitäten. Damit führt Vygotskij sein theoretisches Bekenntnis zur Eigenwertigkeit des Materials in der Analyse ad absurdum. Der Finaleindruck der Novelle ist für ihn doch nur das statische Resultat der Formung des Materials, jene „Leichtigkeit", auf die der Titel der Novelle anspielt, nicht aber - wie es die dialektischen Prämissen erwarten lassen - die simultane Präsenz von Fabel und Sujet, die Dissonanz von „Lebensschwere" des „Inhalts" und „Durchsichtigkeit" der Form, die komplexe Einheit einander widerstreitender Wahrnehmungseindrücke. Vygotskij würdigt letztlich auch nicht das „Empfinden des Verlaufs [...] der Wechselbeziehungen des unterordnenden, konstruktiven Faktors und der untergeordneten Faktoren", das von ihm in einem späteren Teil des Buchs (1965, 279) im Rekurs auf Jurij Tynjanov (1924a, 40) postuliert wird. 2. Vygotskij überschätzt eklatant die Sinnrelevanz der Komposition. Die kathartische Befreiung von der niederdrückenden Wirkung der erzählten existentiellen Momente resultiert in Bunins Novelle weniger aus der Umstellung der Teile im Sujet als aus der künstlerischen Organisation der Fabel selbst. Bereits die Fabel weist eine Organisation auf, die das existentiell „Entsetzliche" (Verführung, Verworfenheit, Totschlag, Trauer usw.) aus seinem unmittelbaren Bezug zur Lebenspraxis des wahrnehmenden Subjekts herausreißt, die direkte Lebensrelevanz der Existentialia gleichsam einklammert und dem traurigen Geschehen eine leichtere Tönung gibt, freilich ohne dass der tragische Grundton aufgehoben würde. Zu den Verfahren der Fabelorganisation, die einen solchen Effekt bewirken, gehören in diesem Werk die komisch-zufällige Konstellation der Situationen, Figuren und Handlungen, vor allem die überraschenden Äquivalenzen zwischen den Figuren: 1. die thematischen Äquivalenzen, die von den verwandtschaftlichen Beziehungen der Figuren, ihrer gleichen oder entgegengesetzten gesellschaftlichen Stel-
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V. Die narrativen Transformationen
lung und Sphäre, ihrer Ideologie und ihrem Verhalten gebildet werden, 2. die positioneilen Äquivalenzen, die durch das Auftreten der Figuren an vergleichbarer Stelle in der Geschichte gegeben sind, 3. die verbalen Äquivalenzen, die auf Wiederholungen in und zwischen den Figurenreden zurückgehen (die ja Teile der Fabel sind und nicht erst im Sujet hinzutreten). Auch ohne Bunins Novelle hier im Einzelnen zu analysieren, können wir feststellen, dass die Dialektik von Tragik und Komik, von Schwere und Leichtigkeit bereits im „Material" fundiert ist. Die Sujetformung, in die neben der Permutation der Teile auch die Verbalisierung eingeht, profiliert lediglich die in der Fabel angelegte Simultaneität entgegengesetzter Emotionen. Wie bei den Formalisten geht bei Vygotskij die Unterschätzung der Sinnrelevanz der Fabel einher mit einer eklatanten Überschätzung der Leistungskraft des Sujets. e) B. Tomasevskij Boris Tomasevskij ist mit seiner Theorie der Literatur (1925; 1928a) der in der westlichen Literaturwissenschaft bei weitem am intensivsten rezipierte russische Theoretiker der Fabel-Sujet-Dichotomie. Es stellt sich freilich die Frage, ob Tomasevskijs Position, die Todorov (1971a, 15) als „wesentlich kohärenter denn die Sklovskijs" qualifiziert und die oft als das letzte, „kanonische" (Volek 1977, 142) Wort des russischen Formalismus zum Fabel-Sujet-Problem betrachtet wird, tatsächlich noch genuin formalistisches Denken repräsentiert. Hansen-Löve (1978, 268) sieht Tomasevskijs Orientierung am Thema als dem vereinigenden Prinzip der Konstruktion zu Recht „in scharfem Widerspruch" zum Immanentismus der Formalisten stehend. Immerhin aber attestiert Sklovskij (1928, 220), dass Tomasevskij „ziemlich genau" seine, Sklovkijs, Definition des Unterschieds von Fabel und Sujet angeführt und nur wegen des Lehrbuchcharakters der Theorie der Literatur in beiden Auflagen nicht den Urheber der Definition genannt habe. Tomasevskij entwickelt seine Definition in zwei Ansätzen. Der erste Ansatz wird ab der vierten Auflage (Tomasevskij 1928a; dt. 1985) etwas anders formuliert als in der ersten Auflage von 1925.
1. „Fabel" und „Sujet" im russischen Formalismus
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Wir betrachten zunächst den ersten Ansatz. Die Fabel wird in der Ausgabe 1925 auf folgende Weise definiert: Fabel heißt die Gesamtheit der miteinander verknüpften Ereignisse, von denen im Werk berichtet wird. Die Fabel kann pragmatisch dargestellt werden, in der natürlichen chronologischen und logischen Ordnung der Ereignisse, unabhängig davon, in welcher Ordnung und wie sie im Werk eingeführt worden sind. (Tomasevskij 1925,137) Das Sujet wird hier noch vage als eine Umorganisation von „Ordnung" und „Verknüpfung" definiert: Der Fabel steht das Sujet gegenüber: dieselben Ereignisse, aber in ihrer künstlerischen Darbietung, in jener Ordnung, in der sie im Werk mitgeteilt werden, in jener Verknüpfung, in der im Werk Mitteilungen über sie gemacht werden. (Tomasevskij 1925,137; Hervorhebung im Original) In der Auflage von 1928 wird für die Fabel der Aspekt der Reihenfolge durch den der Verknüpfung ersetzt: Das Thema eines Werks mit Fabel stellt ein mehr oder weniger einheitliches System von Ereignissen dar, die auseinander hervorgehen und miteinander verknüpft sind. Die Gesamtheit der Ereignisse in ihrer wechselseitigen inneren Verknüpfung nennen wir Fabel. (Tomasevskij 1928a, 134) Die Fabel wird in dieser Auflage also nicht mit dem vor-literarischen Stoff identifiziert, sondern sie bildet bereits eine gewisse Abstraktion vom Kontinuum der Ereignisse mit dem Merkmal der Verknüpfung. In der Auflage von 1928 bleibt auch die Definition des Sujets zunächst noch recht unbestimmt: Es reicht nicht, eine unterhaltsame Kette von Ereignissen zu erfinden und sie durch Anfang und Ende zu begrenzen. Man muss diese Ereignisse verteilen, sie in eine bestimmte Ordnung bringen, sie darstellen, indem man aus dem Fabelmaterial eine literarische Kombination macht. Die künstlerisch organisierte Verteilung der Ereignisse in einem Werk heißt Sujet. (Ebd.; Hervorhebung im Original) Der zweite Ansatz zur Definition von Fabel und Sujet bedient sich in beiden Auflagen der Theorie der Literatur des Motivbegriffs. Motive werden die kleinsten nicht weiter zerlegbaren Teile des thematischen Materials genannt (Tomasevskij 1925,137).
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Y. Die narrativen Transformationen Die Motive bilden in ihrer Verknüpfung die thematische Kohärenz des Werks. Aus dieser Perspektive ist die Fabel die Gesamtheit der Motive in ihrer logisch-kausalen Verknüpfung, das Sujet die Gesamtheit derselben Motive in jener Reihenfolge und Verknüpfung, in der sie im Werk präsentiert werden. Für die Fabel ist nicht wichtig, in welchem Teil des Werks der Leser von einem Ereignis erfährt und ob es ihm in unmittelbarer Mitteilung des Autors präsentiert wird oder in der Erzählung einer Figur oder durch ein System von Anspielungen. Im Sujet dagegen spielt gerade die Einführung der Motive in das Wahrnehmungsfeld des Lesers eine Rolle. (Tomasevskij 1925, 138; dt. 1985, 218)
Die bei Petrovskij zu beobachtende Tendenz, die Fabel als etwas bereits Gestaltetes zu betrachten, finden wir auch bei Tomasevskij. Das Herstellen einer logisch-kausalen Verknüpfung, die ja nicht in der Wirklichkeit selbst vorgefunden wird, ist bereits ein künstlerischer Akt. Die Grenze zwischen Vor-Literarizität und Literarizität wird auch bei Tomasevskij anders gezogen als bei Sklovskij (vgl. Todorov 1971a, 17). Während letzterer die Fabel meistens mit dem ästhetisch indifferenten, vorliterarischen Geschehen gleichsetzt, erkennt Tomasevskij der Fabel, zumindest implizit, einen künstlerischen Charakter zu. Das Sujet wird von Tomasevskij in zweierlei Hinsicht der Fabel gegenübergestellt: Es ist einerseits das Resultat der Umstellung und der künstlerischen Verknüpfung der von der Fabel vorgegebenen Motive, anderseits aber präsentiert es die künstlerisch organisierte Folge der Motive aus einer bestimmten Perspektive. Im Kurzen Kurs der Poetik, einer weniger bekannten Abhandlung für den Schulgebrauch, nennt Tomasevskij (1928b, 87) die Fabel „alle Ereignisse, die mit dem Grundgeschehen verbunden sind, das gesamte Verhalten und alle Handlungen der Figuren, die an der Handlung teilhaben". Damit geht er im Grunde wieder hinter die Definitionen aus der Theorie der Literatur zurück, die mit der Verknüpfung der Motive operierten. Für das Sujet, das zunächst unter dem Aspekt der „Anordnung der Episoden" definiert wird, stellt er, konkreter als in der Theorie, einen Katalog von 6 Operationen auf, die der Autor vorzunehmen habe. Der Autor habe zu entscheiden:
1. „Fabel" und „Sujet" im russischen Formalismus
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1. welche Fabelereignisse ausführlicher, „in Szenen", und welche „abstrakt" dargestellt werden sollen, 2. in welche Reihenfolge diese Szenen und Mitteilungen gebracht werden sollen, 3. in welchem Maße die Hintergründe der Ereignisse aufgeklärt werden sollen, 4. wie die Beschreibungen und alles, was keinen direkten Bezug zur Bewegung der Fabel hat, angeordnet werden sollen, 5. welche Stellen herauszuheben sind und in welchem Ton die Erzählung gehalten werden soll, 6. wessen Perspektive die Erzählung zu folgen hat. Somit wird das Sujet zum „ausgearbeiteten Schema des Werks, im Gegensatz zur Fabel, die das „Schema des Ereignisses" (89) bildet. Dieser Katalog ist die am stärksten ausdifferenzierte Aufzählung der Sujetverfahren, die die russische formalistische und quasiformalistische Theorie der zwanziger Jahre hervorgebracht hat. 2. Die Überwindung des formalistischen Reduktionismus a) „Histoire" und „discours" im französischen Strukturalismus Die handliche Fassung, die Tomasevskij dem formalistischen FabelSujet-Paar gab, kann nicht das grundsätzliche Problem verdecken, das der Dichotomie von Anfang an innewohnte, nämlich die Ambivalenz beider Begriffe. Der Fabelbegriff oszillierte zwischen zwei Bedeutungen: 1.) Material im Sinne des vorliterarischen Geschehens der Wirklichkeit, 2.) mit Anfang und Ende versehene und auch intern strukturierte Folge von Motiven in ihrem logischen, kausal-temporalen Zusammenhang. Der Sujetbegriff schwankte zwischen den Bedeutungen 1.) energetische Kraft der Formung, 2.) Resultat der Anwendung verschiedener Verfahren. In der zweiten Bedeutung blieb unklar, welche Verfahren Anteil haben sollten und in welcher Substanz das Sujet zu denken sei, ob es bereits als in der Sprache einer Kunst (der Literatur, des Films, der Musik usw.) formuliert oder als medial noch nicht substantiierte Struktur vorgestellt werden müsse. Auch die Ersetzung von Fabel und Sujet
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V. Die narrativen Transformationen
durch die Dichotomie rech vs. narration (Barthes 1966) oder histoire vs. discours (Todorov 1966) 15 löste die Probleme, die ein dyadisches Modell der narrativen Konstitution aufwirft, nur zum Teil. Bei der Definition ihrer Kategorien rekurrierten die französischen Strukturalisten auf die didaktisch geglättete Konzeption Tomasevskijs16 und beriefen sich vorzugsweise auf seine bewusst vereinfachende Explikation in der berühmten Fußnote der ersten Auflage der Theorie der Literatur, eine didaktische Erklärung, auf die Tomasevskij in den späteren Auflagen verzichtet hat: Kurz gesagt, die Fabel ist das, „was tatsächlich gewesen ist", das Sujet das, „wie der Leser davon erfahren hat". (Tomasevskij 1925,137)
In offensichtlicher Anlehnung an Tomasevskij formuliert Todorov: Au niveau le plus general, l'oeuvre litteraire a deux aspects: eile est en meme temps une histoire et un discours. Elle est histoire, dans ce sens qu'elle evoque une certaine realite [...]. Mais l'oeuvre est en meme temps discours [...]. A ce niveau, ce ne sont pas les evenements rapportes qui comptent, mais la faςon dont le narrateur nous les a fait connaitre. (Todorov 1 9 6 6 , 1 2 6 )
Noch Seymour Chatman, der in seinem Buch Story and Discourse die prominentesten Ansätze der russischen Formalisten und französischen Strukturalisten zu „synthetisieren" sucht, reformuliert in seiner Basisdefinition Tomasevskijs Fußnote: In simple terms, the story is the what in a narrative that is depicted, discourse the bow. (Chatman 1978,19; Kursive im Original)
15 Die Dichotomic histoire vs. discours hat Todorov bei Emile Benveniste (1959) entlehnt, wo die Begriffe allerdings eine andere Bedeutung hatten. 16 Aus Tomasevskijs Theorie der Literatur ist außerhalb Russlands vor allem das Kapitel Thematik mit den Ausführungen zu Fabel und Sujet rezipiert worden. Eine französische und eine englische Übersetzung bzw. Teilübersetzung des Kapitels sind 1965 in Anthologien der russischen Formalisten erschienen (Tomasevskij 1965a; 1965b; vgl. auch Seemann 1985). 17 Ähnlich schon Meir Sternberg 1974, 8 f.: „To put it as simply as possible, the fabula involves what happens in the work as (re)arranged in the .objective' order of occurence, while the sujet involves what happens in the order, angle, and patterns of presentation actually encountered by the reader". Während Chatmans Dichotomie auf die Opposition von Inhalt und Form hinausläuft, werden in Sternbergs Interpretation von Fabel und Sujet zwei kookkurrente Ordnungen miteinander konfrontiert.
2. Die Überwindung des formalistischen Reduktionismus
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Trotz der Abhängigkeit vom formalistischen Archi-Konzept und trotz der scheinbaren Homologie mit Fabel vs. Sujet impliziert die Dichotomie bistoire vs. discours drei wesentliche Akzentverschiebungen, die zu einer adäquateren und analysetauglicheren Modellierung der narrativen Konstitution beitragen: 1. Die histoire wird vom Makel, bloßes Material zu sein, befreit, und ihr wird ein eigener künstlerischer Wert zugestanden: „l'histoire et le discours sont tous deux egalement litteraires" (Todorov 1966, 127)18 2. Während Sklovskij besonders auf den Parallelismus und den Stufenbau hinwies und Petrovskij, Vygotskij, Tomasevskij der Permutation der Fabelelemente die stärkste Wirkung unter den Sujetverfahren zuschrieben, betonen die französischen Theoretiker die Verfahren der Amplifikation, Perspektivierung und Verbalisierung19. 3. Während der Sujetbegriff bei den russischen Formalisten und den ihnen nahe stehenden Theoretikern in Kategorien der Form oder Formung gedacht wurde, ist der Terminus discours mit einer substanzbezogenen Betrachtungsweise verbunden. Der Begriff bezeichnet nicht die Summe der angewandten Verfahren (wie Sujet bei Sklovskij), sondern das Resultat von künstlerischen Operationen. Dabei überschneiden sich im Begriff Diskurs zwei Aspekte: a. Der Diskurs enthält die Geschichte in transformierter Gestalt. b. Der Diskurs hat eine kategorial andere Substanz als die Geschichte: Er ist Rede, Erzählung, Text, der die Geschichte nicht einfach enthält und sie auch nicht lediglich umformt, sondern sie allererst als sein Signifikat bezeichnet, darstellt. Somit ist der Begriff des Diskurses mit zwei ganz unterschiedlichen Operationen verbunden: 1. der Transformation der Geschichte 18 In der Rehabilitierung der histoire tendieren einige Vertreter des französischen Strukturalismus freilich zu dem der einseitigen Favorisierung des Sujets entgegengesetzten Extrem: zum ausschließlichen Interesse für die Regeln, die die Konstitution der histoire leiten. Auch dafür gibt es ein Vorbild in der russischen Theorie der zwanziger Jahre: Vladimir Propps (1928) Modell der Aktanten und Funktionen. Am augenfälligsten ist diese Tendenz in den Arbeiten zur „narrativen Grammatik" (z. B. Bremond 1964; Greimas 1967; Todorov 1969). 19 Zu den Punkten 1 und 2 vgl. auch Rimmon 1976, 36.
V. D i e narrativen Transformationen
248
durch Umstellung der Teile oder andere Verfahren, 2. der Materialisierung der Geschichte in einem sie bezeichnenden Text. Die beiden Operationen werden im folgenden Schema dargestellt: => Transformation Handlung
(Signifikat)
Geschichte
X 4 Materialisierung
Text
(Signifikant)
Diskurs
im Signifikanten
Das Schema ist wie folgt zu lesen: Die vorsprachliche Geschichte wird in ein vorsprachliches χ transformiert, das bei den französischen Theoretikern unbezeichnet bleibt. Die transformierte Geschichte wird dann verbal (oder bildlich, filmisch usw.) materialisiert. Das Resultat der Materialisierung ist im Fall der Literatur der Diskurs. b) Drei-Ebenen-Modelle In der textanalytischen Arbeit erweist sich, dass jede zweistufige Modellierung entweder mit doppeldeutigen Ebenenbegriffen operiert oder die narrative Konstitution um ganze Dimensionen verkürzt. So wurde mit Fabel sowohl das gesamte im Erzählwerk implizierte Geschehensmaterial als auch die daraus ausgewählte Geschichte bezeichnet. Und im Sujet-Begriff fallen - wie dann auch im discours der Franzosen, wie wir gesehen haben - zwei verschiedenartige Operationen zusammen, Permutation und Verbalisierung. Wo aber die Ambivalenz der Begriffe beseitigt wird, wie etwa in Todorovs histoire-Begriii, der im Sinne der zweiten Bedeutung von Fabel definiert ist, verkürzt man die narrative Konstitution um die sie allererst begründende Operation, nämlich die Bildung der gestalthaften und sinnhaltigen Geschichte. Die mangelnde Eindeutigkeit und Erschließungskraft der dichotomischen Konzepte 20 war Anlass zur Ausarbeitung von Model21 len mit mehr als zwei Ebenen . 20 Die im angelsächsischen Bereich verbreitete Dichotomie von story und plot, die auf Forster 1927 zurückgeht, ist nicht kongruent mit Fabel vs. Sujet oder histoire
2. Die Überwindung des formalistischen Reduktionismus
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Eines der am weitesten verbreiteten Drei-Ebenen-Modelle ist von Gerard Genette in seinem Discours du recit (1972) vorgeschlagen worden. Genette unterscheidet drei Bedeutungen von recit·. 1. „l'enonce narratif, le discours oral ou ecrit qui assume la relation d'un evenement ou d'une serie d'evenements"; 2. „la succesion d'evenements, reels ou fictifs, qui font l'objet de ce discours", 3. „l'acte de narrer pris en lui-meme" (1972, 71). Den drei Bedeutungen weist er drei Termini zu: 1. recit, 2. histoire, 3. narration (wobei recit als Signifikant und histoire als Signifikat figuriert) 22 . Mieke Bai (1977a, 6) merkt an, dass sich Genettes dritter Begriff auf einer anderen Ebene als die ersten beiden befinde. Während narration den Prozess der Aussage bezeichne, bedeuteten recit und histoire das Produkt einer Aktivität. Narration gehöre in eine andere Reihe, nämlich in die der „activites productrices", die gebildet werde von narration, disposition und invention. Damit unterscheide Genette im Grunde nur zwei Ebenen, nämlich die des russischen Formalis23
mus . Bai selbst schlägt eine etwas andere Triade vor: texte - recit histoire (1977a, 4) oder, in der englischen Version: text - story - fabula (1985, 5-6). Der Text ist in ihrem Verständnis der Signifikant der Erzählung {recit, story)·, die Erzählung ist ihrerseits der Signifikant der Geschichte {histoire, fabula). Auf ähnliche Weise unterscheidet Jose Angel Garcia Landa (1998, 19 f.) drei Ebenen für die Analyse des Erzähltextes: 1. den „narrativen Diskurs" {discurso narrativo), 2. die „Geschichte" {relato), 3. die „Handlung" {acciori). Unter „Handlung" versteht er die „Folge der erzählten Ereignisse". Die „Geschichte" ist die „Darstellung \representacion] der Handlung, sofern sie narrativ vermittelt wird". Und der „Diskurs" ist die Darstellung der Geschichte.
vs. discours, sondern komplementär zu diesen Oppositionen, vgl. Sternberg 1974, 8-14. 21 Vgl. die Übersichten über die Modelle der narrativen Konstitution bei Garcia Landa 1 9 9 8 , 1 9 - 6 0 , Martinez/Scheffel 1999, 2 2 - 2 6 und Pier 2003. 22 Shlomit Rimmon-Kenan (1983, 3) übernimmt diese Triade ins Englische: text story - narration. 23 Die Ternarität des Genetteschen Modell wird dagegen verteidigt von Fludernik 1996, 334; Pier 2003, 82.
250
V. Die narrativen Transformationen
Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der narrativen Konstitution war die von Karlheinz Stierle (1971; 1977) vorgeschlagene Triade Geschehen - Geschichte - Text der Geschichte, die in der internationalen Diskussion allerdings weitgehend unbemerkt blieb. In dieser Triade entsprechen die beiden ersten Ebenen dem formalistischen Fabelbegriff. Das „Geschehen" ist das in der „Geschichte" implizierte narrative Material, das, indem es zu einer Geschichte transformiert wird, einen bestimmten Sinn ausdrückt. (Eine ähnliche Differenzierung von Geschehen und Geschichte liegt auch dem im Folgenden vorgeschlagenen Vier-Ebenen-Modell vor.) Durch die Unterscheidung von sinnhafter Geschichte und dem von ihr implizierten und interpretierten Geschehen weist Stierles Triade jene Ebene, die Sklovskij als ästhetisch indifferentes, vorgegebenes Material betrachtete, als Resultat sinnbildender künstlerischer Operationen aus. Problematisch ist allerdings die Definition des „Textes der Geschichte". Wie der präformierende Begriff des discours vereinigt „Text der Geschichte" zwei heterogene Aspekte: 1. die Umstellung der Teile zu einer künstlerischen Gestalt, 2. die Manifestation der „Geschichte" im Medium der Sprache. Stierle sieht selbst, dass die beiden Operationen auf unterschiedlichen Konstitutionsebenen liegen, und trägt dem Rechnung durch die „behelfsmäßige" Differenzierung zwischen dem „translinguistischen" „discours I (Tiefendiskurs)" und dem „discours II (Oberflächendiskurs)", der die „zweifache Intentionalität von Geschehen und .discours Γ durch ihre Materialisierung nach den Möglichkeiten einer gegebenen Sprache einlöst" (Stierle 1971, 54). An Stierles zweifacher Besetzung des „Textes der Geschichte" hätte eine Korrektur anzusetzen, und sie müsste so verlaufen, dass sie die „behelfsmäßige" Unterscheidung von „Tiefendiskurs" und „Oberflächendiskurs" in eine systematische Differenzierung von zwei Ebenen überführt. Das folgende Schema gibt eine Übersicht über die besprochenen Zwei- und Drei-Ebenen-Modelle. Die Spalten enthalten analoge, aber nicht notwendigerweise in jeder Hinsicht identische Begriffe.
2. Die Überwindung des formalistischen Reduktionismus Tomasevskij 1925
fabula
sjuzet
Todorov 1966
histoire
discours
Genette 1972
histoire
recit
story
text
Rimmon-K. 1983
251
Bai 1977
histoire
recit
texte
Bai 1985
fabula
story
text
Garcia Landa 1998
aeeiön
relato
discurso
Stierle 1971
Geschehen
Geschichte
Text der Geschichte
3. Die vier narrativen Ebenen a) Das idealgenetische Modell Der Vergleich der Modelle führt zu dem Schluss, dass die Dichotomie oder Triade der Begriffe durch ein Modell mit vier Ebenen ersetzt werden sollte. Ein solches Modell muss der je zweiwertigen Bedeutung der Begriffe Fabel und Sujet oder histoire und discours Rechnung tragen. Im Folgenden sei ein solches Konstitutionsmodell vorgestellt, das die Ebenen Geschehen, Geschichte, Erzählung und Präsentation der Erzählung umfasst: 1. Das Geschehen Das Geschehen ist die amorphe Gesamtheit der Situationen, Figuren und Handlungen, die im Erzählwerk explizit oder implizit dargestellt oder logisch impliziert sind. Das so verstandene Geschehen bildet ein räumlich grundsätzlich unbegrenztes, zeitlich unendlich in die Vergangenheit verlängerbares, nach innen unendlich zerkleinerbares und in unendlich vielen Eigenschaften konkretisierbares Kontinuum24. Das Geschehen entspricht dem formalistischen 24 Das Geschehen eines jeden Werks ist theoretisch bei immer weiter in die Vergangenheit zurückreichenden inferierten Vorgeschichten bis zur Erschaffung der Welt verlängerbar. Indes nimmt mit der Entfernung von den im Text explizit
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V. Die narrativen Transformationen
Fabelbegriff im Sinne Sklovskijs, aber es wird hier nicht gedacht als ästhetisch indifferentes Material, sondern als bereits ästhetisch relevantes Resultat der Erfindung, jenes Aktes, den die antike Rhetorik inventio oder ευρεσις nannte. 2. Die Geschichte Die Geschichte ist das Resultat einer Auswahl aus dem Geschehen. Sie konstituiert sich durch zwei Selektionsoperationen, die Unendlichkeit des Geschehens in eine begrenzte, sinnhafte Gestalt überführen: 1. Auswahl von bestimmten Geschehensmomenten (Situationen, Figuren und Handlungen), 2. Auswahl von bestimmten Qualitäten aus der unendlichen Menge der den gewählten Momenten im Geschehen zuschreibbaren Eigenschaften. Die Geschichte umfasst also nichts anderes als die im Text explizit dargestellten und mit bestimmten Eigenschaften versehenen Sachverhalte, die denotierten und qualifizierten Situationen, Figuren und Handlungen. Die dargestellten Sachverhalte sind nur in jenen Eigenschaften Teil der Geschichte, die durch die im Text gegebenen expliziten Qualifizierungen konkretisiert werden. Alle äußeren und inneren Situationen, Handlungen und Qualitäten, die wir zu den dargestellten Sachverhalten hinzudenken können und oft auch müssen, also alles mehr oder weniger eindeutig Implizierte verbleibt entweder endgültig oder - in bestimmten Fällen, die weiter unter betrachtet werden - vorläufig in der Unendlichkeit der nicht gewählten Geschehensmomente und ihrer Qualitäten. Die so defidargestellten Geschehensmomenten die Relevanz des nur implizierten Geschehens ab. Die im Roman Anna Karenina erzählte Geschichte impliziert zum Beispiel, dass die Titelheldin Bildung und Erziehung genossen hat, obwohl von ihrem Schulbesuch und der elterlichen Erziehung, ja überhaupt von den Eltern explizit nicht die Rede ist. Gleichwohl können bestimmte explizite Motive der erzählten Geschichte (die moralischen Reaktionen, das gesellschaftliche Verhalten, die literarische Lektüre der Heldin) die Konkretisation des nur Implizierten sinnvoll machen (zu diesem Problem siehe weiter unten). Aber die nach der logischen Implikation vorauszusetzenden Lebensgeschichten der Eltern und Großeltern sind ohne jede Relevanz für den Roman und gehören deshalb praktisch nicht zu seinem Geschehen.
3. Die vier narrativen Ebenen
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nierte Geschichte entspricht dem Fabelbegriff Tomasevskijs und der histoire Todorovs. In den Begriffen der antiken Rhetorik ist die Geschichte das Resultat der Disposition (dispositio, τάξις). Sie enthält die ausgewählten Geschehensmomente im ordo naturalis. 3. Die Erzählung 25
Die Erzählung ist das Resultat der Komposition , die die Geschehensmomente in einen ordo artificialis bringt. Die wesentlichen Verfahren der Komposition sind: 1. die Linearisierung des in der Geschichte simultan Geschehenden in einer Darbietungssequenz, 2. die Permutation der Segmente der Geschichte. Während das erste Verfahren in den verbalen Kunstformen obligatorisch ist, hat das zweite einen fakultativen Status. 4. Die Präsentation der Erzählung Die Präsentation der Erzählung bildet die Phäno-Ebene (während die drei vorausgehenden Ebenen nur durch Abstraktion zu gewinnende Geno-Ebenen sind), d. h. sie ist als einzige der Ebenen der empirischen Beobachtung zugänglich. In den Begriffen der Rhetorik ist sie das Resultat der elocutio oder der λέξις. Das sie konstituierende Verfahren ist im Fall der literarischen Narration die Verbalisierung, d. h. die Wiedergabe der medial noch nicht manifestierten Erzählung im verbalen - und nicht etwa im filmischen, mimischen, tänzerischen, musikalischen oder figuralen - Medium. Im folgenden Schema sind die vier Ebenen und ihre Beziehungen zu den Dichotomien Fabel vs. Sujet und histoire vs. discours dargestellt (das Symbol ο bezeichnet die Geschehensmomente).
25 Die Lehre vom künstlerischen Aufbau der erzählten Geschichte fehlt im System der antiken Rhetorik. Der Begriff der compositio (συνθήκη) figuriert in der Antike nicht als Lehre vom Aufbau der Handlung, sondern bezeichnet die Lehre von der Zusammenfügung der Wörter im Satz nach den Gesetzen des Wohlklangs und fällt in den Bereich der elocutio (λέξις), vgl. Curtius 1948, 80.
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3. Die vier narrativen Ebenen
Idealgenetisches Modell der narrativen Ebenen Präsentation der Erzählung
0000000
Sujet/ discours
J
Erzählung
Verbalisierung
Komposition: 1. Linearisierung 2. Permutation
Geschichte
Fabel/ histoire
Geschehen
Auswahl von 1. Geschehensmomenten 2. Eigenschaften
3. Die vier narrativen Ebenen
255
b) Der Ort der Perspektive Unter den in der Abbildung aufgeführten Operationen wird man die Perspektivierung vermissen. Welchen Ort nimmt die Perspektive in der narrativen Konstitution ein? Betrachten wir zunächst einmal den Ort der Perspektive in einigen bekannten Modellen. In den Zwei-Ebenen-Modellen, auch in jenen, deren erste Ebene sich mit unserer „Geschichte" identifizieren lässt, wird die Perspektivierung als eine der Operationen betrachtet, die die Transformation Fabel > Sujet oder histoire > discours bewerkstelligen. So weist Tomasevskij (1925, 138), wie wir bereits gesehen haben, „die Einführung der Motive in das Wahrnehmungsfeld des Lesers" und damit implizit die Perspektivierung dem Sujet zu. Im Kurzen Kurs der Poetik nennt Tomasevskij (1928b, 87) die Entscheidung über die Perspektive unter den sechs Operationen, die von der Fabel zum Sujet führen. In ihrer Theory of Literature geben Wellek und Warren (1949, 218) folgende Definition: „,Sujet' is plot as mediated through ,point of view', ,focus of narration'". Auch Todorov (1966, 126) rechnet dem „discours" die Leistung der Perspektivierung zu. Ebenso zählt Sh. Rimmon-Kenan (1976, 35) das „handling of point of view" zu den Verfahren, die den „recit" in einen „discours" transformieren. Und Jonathan Culler (1980, 28) postuliert für die Analyse des „point of view" die Existenz einer vorgängigen, noch nicht der Perspektivierung unterworfenen Geschichte, die er sich als „invariant core" vorstellt, als eine Handlungssequenz, die auf verschiedene Weise dargestellt werden kann. Im Drei-Ebenen-Modell Stierles (1971; 1977) erscheint die Perspektivierung neben dem Arrangement der zeitlichen Folge und der Akzentuierung durch Raffung und Dehnung als eines der Verfahren, die die „Geschichte" in den „Text der Geschichte" transformieren: „Indem die Geschichte Text wird, wird sie zunächst also gebunden an die Perspektive eines Erzählers und seiner je spezifischen Erzählsituation" (1977, 224). Ganz ähnlich ist in Mieke Bals (1977a, 32 f.) Drei-Ebenen-Modell die focalisation eine der Operationen, denen die histoire unterworfen wird, bevor sie recit wird. Die hier referierten Konzepte stimmen in zwei wesendichen Punkten überein:
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V. Die narrativen Transformationen
1. Die Perspektivierung wird als eine Operation unter anderen betrachtet und auch in Modellen, die mehr als zwei Ebenen vorsehen, einer einzigen Transformation zugeordnet. 2. Indem man die Perspektivierung als Transformation der Geschichte auffasst, unterstellt man, dass es eine objektive, noch nicht perspektivierte, eine „Geschichte an sich" gibt. Gegen diese weit verbreitete Auffassung seien hier zwei Einwände vorgebracht: 1. Eine .Geschichte an sich', d. h. eine Geschichte ohne Perspektive kann es nicht geben. Es ist auch nicht sinnvoll, in einem Konstitutionsmodell eine solche zu postulieren. Frei von erzählerischer Perspektivierung ist lediglich das unbegrenzte, amorphe Geschehen. Jegliche Auswahl von Geschehensmomenten und ihren Eigenschaften, die ja allererst eine Geschichte konstituiert, setzt immer 26 schon eine Perspektive voraus . 2. Die Perspektivierung ist nicht eine einzelne Operation unter anderen, sondern das lmplikat aller Operationen, die in dem oben skizzierten Schema den drei Transformationen zugeordnet wurden. Somit bildet sich die Perspektive im Durchgang des Geschehensmaterials durch die drei Transformationen. Im Weiteren wollen wir die drei Transformationen näher betrachten und die Rolle bestimmen, die die entsprechenden Operationen bei der Bildung der Perspektive spielen. c) Vom Geschehen zur Geschichte Das Erzählen einer Geschichte setzt die Auswahl einzelner Geschehensmomente (Situationen, Figuren, Handlungen) und ihrer Eigenschaften voraus. Im Gegensatz zum Geschehen, das in die 26 Auch die in der Forschung zum „Erzählen im Alltag" gelegentlich postulierte „reale Geschichte", die „Geschichte im eigentlichen Sinn des Wortes: Vorfälle, die sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort abgespielt haben" (Rehbein 1980, 66), ist ein wenig hilfreiches Konstrukt. Die außermentale Wirklichkeit kennt keine Geschichten, sondern nur das unbegrenzte und auf unendlich viele Weisen fokussierbare, selektierbare und segmentierbare Kontinuum des Geschehens.
3. Die vier narrativen Ebenen
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Vergangenheit unendlich verlängerbar, in die Zukunft offen und nach innen unendlich genau detaillierbar ist, hat die Geschichte Anfang und Ende und einen bestimmten Konkretisierungsgrad. Die Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften nimmt im fiktionalen Werk - nach den Gesetzen der Fiktion der Erzähler vor. Der Autor überantwortet ihm gleichsam das narrative Material in Form von Geschehnissen, die das Produkt seiner auktorialen Erfindung sind, aber der Autor selbst erscheint in der dargestellten Welt nicht als auswählende Instanz. Indem der Erzähler die Elemente seiner Geschichte auswählt, legt er eine Sinnlinie durch das Geschehen, die bestimmte Geschehensmomente verbindet und andere beiseite lässt. Dabei orientiert er sich am Kriterium der Relevanz der Elemente für die Geschichte, die er im Begriff ist zu erzählen. Der Begriff der Sinnlinie geht wie auch die Dichotomie von Geschehen und Geschichte auf Georg Simmeis Abhandlung zum Problem der historischen Zeit (1916) zurück. Nach Simmel muss der Historiograph eine „ideelle Linie" durch die unendlich zerkleinerbaren Elemente eines Ausschnitts aus dem Weltgeschehen „hindurchlegen", um zu einer historiographischen „Einheit" wie etwa dem „Siebenjährigen Krieg" oder der „Schlacht von Zorndorf' zu gelangen (Simmel 1916, 165). Dem Hindurchlegen der ideellen Linie geht ein „abstraktes Konzept" der jeweiligen Einheit voraus, das darüber entscheidet, welche „Geschehensatome" zu ihr gehören und welche nicht. Während sich das Geschehen durch „Stetigkeit" und „Kontinuierlichkeit" auszeichnet, ist die „Geschichte", die darüber geschrieben wird, mit Notwendigkeit „diskontinuierlich". Diese Erkenntnisse des Philosophen gelten auch für die fiktionale Literatur. Wie der Geschichtsschreiber seine eigene Geschichte über ein bestimmtes Geschehen schreibt, indem er einzelne Momente eines Ausschnitts der kontinuierlichen Wirklichkeit unter einem allgemein Begriff („Siebenjähriger Krieg") zusammenfasst, so bildet auch der Erzähler seine eigene, individuelle, unter einen Titel gebrachte Geschichte des von ihm zu erzählenden Geschehens27. 27 Einen Vergleich des literarischen Erzählers mit dem Historiographen unternimmt auch Hayden White (1973), der die Tätigkeit des Geschichtsschreibers als
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An dieser Stelle ist der Einwand denkbar, dass es im fiktionalen Werk eigentlich kein Geschehen gebe. Diesen Standpunkt hat z. B. Dorrit Cohn (1995, 108) vertreten, die zwischen historischem und fiktionalem Erzählen eine „absolute Differenz" konstatiert, die darauf beruhe, dass die Fiktion im Gegensatz zur Geschichtsschreibung keine „Referenzstufe" kenne. Whites Begriff des „emplotment" und Paul Ricoeurs „mise en intrigue" aufgreifend, argumentiert sie, dass ein Roman nicht „m-plotted", sondern ganz einfach „plotted" sei und er sich nicht auf etwas beziehe, was in eine „intrigue" umgesetzt worden sei. Dagegen ist vorzubringen, dass es in der Fiktion durchaus eine „Referenzstufe" gibt, allerdings nicht in der Form einer vorgegebenen realen Wirklichkeit, sondern im Modus einer implizierten fiktiven Wirklichkeit. Das Geschehen eines Romans ist dem Leser ja nicht als solches zugänglich, sondern nur als Konstrukt, genauer: als Re-Konstrukt, das von ihm auf der Grundlage der erzählten Geschichte gebildet wird. Vom genetischen Standpunkt aus hat Cohn völlig Recht. In idealgenetischer Perspektive jedoch, die hier eingenommen werden soll, bildet das fiktive in der Geschichte implizierte Geschehen jene „Referenzstufe", die logisch allen Akten der Auswahl vorausgeht. Das Geschehen eines fiktionalen Werks ist, wie eingeräumt werden musste, nicht im gleichen Status gegeben wie das Geschehen, das der vom Historiographen geschriebenen Geschichte zugrunde liegt. Mag historisches Geschehen der Vergangenheit auch nur über Geschichten zugänglich sein, also über sinnbildende Reduktionen der kontinuierlichen und unendlich detaillierbaren Wirklichkeit, wie es jede „Geschichte des Siebenjährigen Kriegs" ist, so hat es sich doch an sich ereignet. Diese Faktizität und Seinsautonomie fehlen dem literarischen Geschehen, auch dort übrigens, wo - wie im „historischen" Roman - das „Material" der literarischen Geschichte reale Begebenheiten zu bilden scheinen. Das private, aber auch das öffentliche, politische Geschehen, das den Hinemplotment bczcichnct. Bei der Bildung dieses Begriffs beruft sich White auf die von den russischen Formalisten vorgenommene Unterscheidung von Fabel und Sujet (letzteres im Englischen von ihm als plot wiedergegeben). Insofern das emplotment auf narrativen Verfahren beruht (vgl. z. B. White 1978), hebt White die Opposition faktualer und fiktionaler Texte auf, was in der europäischen Narratologie skeptisch betrachtet wurde (vgl. Nünning 1995,129-144).
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tergrund für die in Krieg und Frieden erzählte Geschichte abgibt, ist nicht mit dem realen historischen Geschehen der Napoleonzeit gleichzusetzen. Es ist vielmehr genauso fiktiv wie die aus ihm „herausgeschnittene" Geschichte. Obwohl nun in der Fiktion dem Schaffen des Autors nicht nur kein reales Geschehen zugrunde liegt, sondern auch das fiktive Geschehen erst mit der Geschichte entworfen wird, muss dieses Geschehen als eine eigene Strukturebene des Werks betrachtet werden, eine Strukturebene freilich in absentia. Das Geschehen bildet jenes Material, auf das sich die Selektionen beziehen, die die Geschichte hervorgebracht haben. Die Ausgewähltheit der Momente aber ist auf Schritt und Tritt spürbar, vor allem in der Lückenhaftigkeit der Wirklichkeitsabbildung (über den Status der für die Geschichte nicht gewählten Geschehensmomente siehe unten, V.3.f). Wenn wir davon sprechen, dass die Geschichte durch Auswahl von Momenten „hervorgebracht" oder aus einem ihr vorausliegenden Geschehen „ausgeschnitten" wird, haben wir natürlich weder den realen Schaffensakt des Autors noch die reale Chronologie der Werkgenese noch auch die sukzessive Konkretisation des Werks durch den Rezipienten im Auge. Wie schon oben ausgeführt, gebrauchen wir diese Ausdrücke wie auch die zeitlichen Bestimmungen vorher und nachher im idealgenetischen Sinne, d. h. im Sinne eines idealgenetischen Konstitutionsmodells, das die Simultaneität der Ebenen mit temporalen Metaphern in logisch-konsekutive Operationen zerlegt, um die Faktur des Werks, die in ihm angewandten „Verfahren" der Analyse zugänglich zu machen. Insofern das Geschehen nichts anderes ist als das implizierte Ausgangsmaterial für Selektionen, deren Ergebnis die Geschichte bildet, kann es nicht hinsichtlich der realen Welt, sondern nur in Abhängigkeit von der es implizierenden Geschichte definiert werden. Das Geschehen kann nur jenen ontologischen Status und jene pragmatischen Möglichkeiten haben, mit denen die Geschichte selbst ausgestattet ist. Eine Antwort auf die Fragen, welche ontologische Ordnung in der gegebenen narrativen Welt herrscht, welche Instanzen als handelnde auftreten können, welche Handlungen im Prinzip möglich sind und dergleichen, gibt nicht das Geschehen, sondern die Geschichte. Insofern ist das Geschehen kategorial vollständig durch die es implizierende Geschichte determiniert.
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d) Auswahl und Perspektive Die Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften konstituiert nicht nur eine Geschichte, sondern auch die ihr inhärente perzeptive, räumliche, zeitliche, ideologische und sprachliche Perspektive. In rein narratorialer Wiedergabe ist die implizite Perspektivität der Geschichte mehr oder weniger deutlich spürbar. Betrachten wir deshalb zum Kontrast einen Textabschnitt mit jener komplexen ditributiven Perspektive, wie sie für die postrealistische Prosa charakteristisch ist. Es handelt sich hier um den Anfang von Cechovs Erzählung Rothschilds Geige. Das Städtchen war klein, mieser als ein Dorf, und es lebten in ihm fast nur alte Leute, die so selten starben, dass es richtig ärgerlich war. Vom Krankenhaus aber und von der Gefängnisburg wurden sehr wenige Särge bestellt. Mit einem Wort, die Geschäfte liefen miserabel. (Cechov 8, 297)
Der Abschnitt präsentiert die Ausgangssituation der Geschichte. Die Auswahl der Elemente (Städtchen, alte Leute, Krankenhaus, Gefängnisburg, Särge, Geschäfte) und ihre Bewertung (das Städtchen ist klein, mieser als ein Dorf, die alten Leute sterben so selten, dass es richtig ärgerlich ist·, sehr wenige Särge werden bestellt) und auch die Verknüpfung der heterogenen Momente zu einer Situation, die eine bestimmte Stimmungsqualität ausdrückt, Selektion und Kombination also folgen dem räumlichen und ideologischen Standpunkt des Helden, des Sargmachers Jakov Ivanov, der vom Sterben der Menschen sein Leben fristet. Auch der zeitliche Standpunkt, von dem aus die Situation in dieser Weise beschreibbar wird, ist der des Helden: Er ist lokalisierbar an der Schwelle zwischen der (später in den Erinnerungen gestalteten) Vorgeschichte und der eigentlichen Geschichte, unmittelbar vor dem Eintreten jener Ereignisse (Tod der Ehefrau Marfa, Erkrankung Ivanovs), die das mentale Hauptereignis der Novelle, die Erinnerung und die innere Umkehr des groben Sargmachers, auslösen werden. In der räumlichen, zeitlichen und ideologischen Perspektive ist die Darstellung also figural. Es wird hier aber nicht etwa eine von den Geschehensmomenten selbst gebildete Situation lediglich figural dargeboten. Das Geschehen, das ja absolut kontinuierlich ist und keine Einschnitte kennt, enthält keine Situationen. Eine Situation konstituiert sich
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immer erst im Bewusstsein eines die Wirklichkeit erlebenden, ihre 28
Komplexität auf wenige Momente reduzierenden , latent geschichtenbildenden Subjekts. Wer ist hier dieses Subjekt? Es scheint zunächst, als wäre es Jakov, der die Stadt, die alten Menschen und die miesen Geschäfte zu einer Situation zusammengeschlossen hätte. Aber in seinem Bewusstsein gibt es diese Situation nicht, denn die gewählten Momente sind nicht Gegenstand einer aktuellen Wahrnehmung oder Erinnerung Ivanovs, der die Bühne der Erzählung auch noch gar nicht betreten hat. Wir haben hier keine erlebte Rede, also die mehr oder weniger narratorial überformte Wiedergabe des aktuellen Inhalts eines Figurenbewusstseins, sondern die uneigentliche Narration des Erzählers, der in der Auswahl und Bewertung der thematisierten Geschehensmomente den Text der Figur reproduziert, ohne dass diese zu dem gegebenen Zeitpunkt der Geschichte das Thematisierte wahrnähme oder dächte . Die gewählten Momente bestimmen zwar die Seelenlage des Sargmachers, und ihrer Qualifizierung haftet durchaus etwas von der inneren Befindlichkeit Ivanovs an, sie können auch grundsätzlich in seinem Bewusstsein aufscheinen, aber ihre Wahl aus der Mannigfaltigkeit seiner möglichen Bewusstseinsinhalte und die Verknüpfung zu einer Situation hat der Erzähler vorgenommen. Indem er gerade diese und nicht andere Momente wählt, legt er eine Sinnlinie durch die im Geschehen vorliegenden unzähligen Bewusstseinsfakten. Insofern ist in dem Textausschnitt auch sein eigener ideologischer Standpunkt mit repräsentiert, und zwar in dem Sinn, den die gewählten Momente in seiner Geschichte erhalten. Dieser Sinn realisiert sich zunächst im Aufzeigen der kommerziellen Kategorien, die das Denken und Fühlen des Sargmachers bestimmen. Konkreter fassbar wird er erst, wenn die Geschichte abgeschlossen ist und die Transformationen zur Erzählung und ihrer Präsentation durchlaufen hat. Man kann aber nicht sagen, dass die Geschichte Jakov Ivanovs erst auf einer logisch späteren Ebene an seine Perspektive 28 Man denke an die Theorie Niklas Luhmanns (1971, 31-39), derzufolge die Reduktion von Komplexität durch die Selektion von Elementen eine elementare Bedingung für das sinnhafte Erleben der Welt bildet. Vgl. dazu auch Schmid 1984b, 79,110. 29 In Abschnitt IV.3.n wurde diese Darbietungsform als eine Manifestation der Textinterferenz, und zwar als uneigentliches Erzählen bezeichnet.
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gebunden oder der Sinnintention eines hinzugeschalteten Erzählers unterworfen würde. Vor der figuralen Perspektivierung und der narratorialen Sinngebung gibt es überhaupt keine Geschichte. Diese konstituiert sich allererst aus jenen Momenten, die der Erzähler, der Perspektive des Helden folgend, ausgewählt und zusammengeschlossen hat, um einen Sinn auszudrücken. Natürlich hätte der Autor den Erzähler auch narratorial erzählen oder ihn sich am Standpunkt einer anderen Figur orientieren lassen können, er hätte auch etwa Rothschild zum Reflektor oder gar Erzähler machen können. Nur wäre das Geschehen in jedem dieser Fälle anders gefiltert und geordnet worden. Die in den zitierten Sätzen dargestellten Sachverhalte wären dann gar nicht oder in ganz anderer sinnhafter Verknüpfung zur Erscheinung gekommen. Kurz, wir hätten jedes Mal eine andere Geschichte erhalten. Es trifft eben nicht zu, dass die Entscheidung für eine bestimmte Perspektive die Geschichte nicht berührt, wie Tomasevskij (1925, 145) zu postulieren scheint, wenn er feststellt, dass in Hauffs Märchen Kalif Storch beim Austausch von primärem und sekundärem Erzähler (Kalif bzw. Prinzessin) „die Fabel dieselbe geblieben wäre" (wenn „Fabel" so etwas wie unsere Geschichte bezeichnen soll).
e) Raffung und Dehnung Die Geschichte, die das Geschehen aufgrund seiner unendlichen Zerkleinerbarkeit prinzipiell nicht im Verhältnis eins zu eins abbilden kann, muss sich notgedrungen auf eine bestimmte Menge von Geschehensmomenten beschränken und diese im Status einer mehr oder weniger großen Unbestimmtheit belassen. Während die Momente im Geschehen in allen denkbaren (und das heißt: unendlich vielen) Hinsichten bestimmt sind, werden sie in der Geschichte immer nur in wenigen Eigenschaften konkretisiert. Über Anna Karenina z. B. erfahren wir mehrmals, welche Farbe das Kleid und die Schuhe haben, die sie jeweils trägt, und der Erzähler nennt wiederholt ihre körperlichen Eigenschaften, die Anzeichen ihrer „beherrschten Lebendigkeit", die glänzenden Augen, den gedrechselten Hals, die vollen Schultern, die energischen kleinen Hände (Merkmale, die sie übrigens mit Vronskijs Pferd Frou-Frou teilt,
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das, ebenfalls eine nicht ganz makellose Schönheit, sich durch glänzende Augen, gedrechselte Beine und einen zugleich energischen und zarten Ausdruck auszeichnet). Aber ganz abgesehen davon, dass selbst diese Eigenschaften das Bild der Heldin nur wenig konkretisieren, bleiben viele wesentliche Züge ihres Charakters und ihres Äußeren völlig unbestimmt. So wird zum Beispiel nichts über ihre Bildung, ihre Jugend oder ihr Elternhaus mitgeteilt. Wie Roman Ingarden (1931, 261-270; 1937, 4 9 - 5 5 ) gezeigt hat, enthält die „gegenständliche Schicht" des literarischen Werks zwangsläufig zahllose „Unbestimmtheitsstellen". Denn es ist, wie Ingarden (1937, 50) ausführt, nicht möglich, „mit Hilfe einer endlichen Zahl Wörter bzw. Sätze auf eindeutige und erschöpfende Weise die unendliche Mannigfaltigkeit der Bestimmtheiten der individuellen, im Werk dargestellten Gegenstände festzulegen". Die „Unbestimmtheit" als unvollständige Konkretheit der Gegenstände ist somit noch kein künstlerisches Verfahren (zu dem sie erst in der Ingarden-Rezeption ernannt wurde), sondern notwendige Begleiterscheinung jeder sprachlichen Repräsentation von Wirklichkeit. Die Relation von „Erzählzeit" und „erzählter Zeit", die seit Günther Müllers bekanntem Aufsatz (1948) ganze Generationen germanistischer Erzählanalytiker bewegt hat und die Gerard Genette (1972) als Phänomen der mouvements narratiff® behandelt, reduziert sich letztlich auf die Frage der Selektivität der Geschichte hinsichtlich des Geschehens. Wenn für eine Episode der Geschichte relativ viele Momente gewählt und die Momente in vielen Eigenschaften konkretisiert sind, erscheint die Darstellung gedehnt und das Erzählen langsam. Wenn aber relativ wenige Momente und Eigenschaften gewählt sind, erscheint die Darstellung gerafft und das Erzählen schnell. Raffung und Dehnung werden üblicherweise als „späte" Opera31 tionen in der narrativen Konstitution angesehen . In Wirklichkeit 3 0 Das Phänomen des mouvement narratif wird von Genette als Problem von „Isochronie" und „Anisochronie" entwickelt, d. h. der Kongruenz oder Inkongruenz des temps d'histoire und des (pseudo)temps de recit. Während diese Zeiten in der scene zusammenfallen, ist im recti sommaire und in der ellipse die Zeit des Erzählens kürzer und in der pause länger als die der Geschichte. 31 Ich selbst habe sie seinerzeit (Schmid 1982) fälschlicherweise der Transformation der Geschichte zur Erzählung zugeordnet.
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sind sie nichts anderes als Implikate der Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften und sind deshalb „schon" der Transformation Geschehen > Geschichte zuzuordnen. Im Prozess der Konkretisierung von Geschehensmomenten und Eigenschaften, der ganz in das Belieben des Erzählers gestellt ist und keine Grenze im Geschehen selbst hat, kann man vier Verfahren unterscheiden: 1. Die Zerlegung der Zustandsveränderung in immer kleinere Schritte. 2. Die innere „Zerkleinerung" einer Situation oder Figur in immer weitere Teile. 3. Die Bestimmung eines Geschehensmoments (einer Situation, einer Figur, einer Handlung) durch eine immer größere Menge von Eigenschaften. 4. Die äußere Kontextualisierung eines Geschehensmoments durch Erwähnung des zeitlichen, räumlichen oder logischen Umfelds (z. B. der Vorgeschichte einer Figur, der Umgebung oder der kausalen Beziehungen). „Sobald" (in zeitlicher Metaphorik gesprochen) die Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften, d. h. die Bildung der Geschichte, abgeschlossen ist, kann keine zusätzliche Raffung oder Dehnung mehr stattfinden, es sei denn durch das wiederholte Nennen ein und derselben Momente und Eigenschaften in der Präsentation der Erzählung. Aber das ist ein ganz anderes Verfahren als die Auswahl einer großen oder kleinen Menge von Momenten und Eigenschaften aus dem Geschehen. Raffung und Dehnung sind natürlich relative Begriffe, für die es keinen objektiven Maßstab gibt. Jegliche quantitative Bestimmung wäre hier verfehlt. Es gilt nur zu bedenken, dass die Detaillierung und Konkretisierung der Geschehensmomente in der Geschichte grundsätzlich nicht die allseitige Bestimmtheit erreichen können, die den Momenten im Geschehen eignet. Deshalb ist auch allen Versuchen zu widersprechen, ein „zeitdeckendes Erzählen" (Lämmert 1955, 83 f.) oder einen Zusammenfall von temps d'histoire und temps de recit (Genette 1972) zu konstruieren (vgl. dazu referierend und leicht kritisch Martinez/Scheffel 1999, 39 f.) Im Fall ge-
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dehnter Darstellung, d. h. „langsamen" Erzählens, wird die Geschichte auch bei extremer Deskriptivität niemals soviel Momente und Eigenschaften enthalten wie das nach innen unbegrenzte, d. h. unendlich fein gliederbare und qualifizierbare Geschehen. Wenn einem relativ kurzen Abschnitt aus dem Geschehen ein verhältnismäßig langes Segment des Textes entspricht, handelt es sich nicht unbedingt um eine pause descriptive, die Genettes (pseudo-)mathematische Formel TR °o> TH erfüllt (Genette 1972,129; TR = temps de redt, TH = temps d'histoire), sondern es kann sich um die Einschaltung von Kommentaren handeln, die sich nicht auf die Diegesis, sondern die Exegesis beziehen. Den relativen Unterschied zwischen Raffung und Dehnung kann man mit folgendem Schema darstellen: Raffung
Dehnung
Geschichte
Geschehen
Die Dehnung ist in der Regel mit hoher Deskriptivität verbunden. Die detaillierte Beschreibung bedeutet die Akkumulation vieler Facetten und Eigenschaften von Geschehensmomenten. (Die Narration schließt die Deskription, wie wir oben in Abschnitt I.l.b. gesehen haben, nicht aus, sondern erfordert sie für die Exposition der Situationen, Figuren und Handlungen.) Die Dehnung kann aber auch durch die Zerlegung einer Zustandsveränderung in ihre Teile und Phasen zustande kommen. Ein Beispiel für eine extreme Dehnung der Narration ist Prousts A la recherche du temps perdu, wo eine einzige Bewegung des Barons de Charlus auf mehreren Seiten dargestellt, in unzählige Teile und Facetten zerlegt wird. Beispiele gerafften Erzählens liefert A. S. Puskins Erzählzyklus Die Erzählungen Belkins. Die Selektivität ist hier von besonderer Art. Einerseits ist sie außergewöhnlich hoch. Die nicht erzählte Zeit der Geschichte, die zwischen den ausgeführten Episoden ver-
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strichen ist, wird im besten Fall lediglich durch knappe Verweise wie: „Es vergingen einige Jahre" gestaltet. Und auch in den relativ ausführlich erzählten Episoden werden nur wenige Geschehensmomente und Eigenschaften expliziert. Die hochdynamische Narration gibt einer retardierenden Deskription kaum Raum. Dank dieser Punktiertechnik kann Puskin auf wenigen Seiten ganze Lebensgeschichten erzählen. Nicht von ungefähr sind die Erzählungen Belkins mit „extrem verdichteten Romanen" (Unbegaun 1947, XV) verglichen worden. Zum anderen aber ist die Selektivität durchaus fluktuierend, und ihr Schwanken scheint mit der Relevanz der Motive nicht im Einklang zu stehen. Während wichtige Geschehensmomente unbezeichnet bleiben, werden Details, die man zunächst für nebensächlich halten muss, konkret ausgestaltet. So sind zum Beispiel die vier Bilder zum Gleichnis vom verlorenen Sohn, die die Stube des Stationsaufsehers schmücken, ausführlich beschrieben, die inneren Motive des Titelhelden dagegen in aller Unbestimmtheit belassen. Solch unmotiviert wirkender Wechsel zwischen Raffung und Dehnung irritierte im 19. Jahrhundert viele Kritiker, wie z. B. Michail Katkov, der sich darüber beklagte, dass die Erzählweise in Puskins Prosa mal „übermäßig detailliert", mal „übermäßig summarisch" sei32. Am sensibelsten freilich reagierte die Epoche der entstehenden Bewusstseinskunst auf die mangelnde Konkretisierung des Seelenlebens. Symptomatisch ist die Ablehnung dieser Erzählweise durch den jungen Tolstoj (46, 187 f.), der die Erzählungen Belkins als „irgendwie nackt" bezeichnete. Tatsächlich sind in den fünf Novellen des Zyklus sogar die zentralen Handlungsmotivationen der Helden unbestimmt. Warum schießt Sil'vio in der Erzählung Der Schuss nicht auf den Grafen? Und warum hat der Graf, ein geübter Schütze, auf wenige Schritt Entfernung zwei Mal sein Ziel verfehlt? Warum verliert die sittenstrenge Heldin des Schneesturms (Metel') Mar'ja Gavrilovna, die jungfräuliche Witwe, die so lange Vladimir, dem unromantischen Entführer, nachzutrauern scheint, ihre ganze Kälte, sobald Burmin, der unerkannte Angetrau-
3 2 Zit. nach V. Zelinskij (Hg.), Russkaja kriticeskaja literatura ο proizvedenijach A. S. Puskina: Chronologiceskij sbornik kritiko-bibliograficeskicb statej, Moskau 1888, Bd. VII, S. 157.
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te, auftaucht? Ist es nur Zufall oder Fügung der Vorsehung, dass sich die ineinander verlieben, die, ohne es zu wissen, bereits miteinander verheiratet sind? Warum lädt der Sargmacher in der gleichnamigen Erzählung (Grobovscik) zu seinem Einzugsfest die „orthodoxen Toten" ein, und warum lässt er, aus dem Cauchemar erwacht, „erfreut" die Töchter zum gemeinsamen Teetrinken rufen? Warum schließlich macht Aleksej in Fräulein Bäuerin (Barysnja krest'janka) der gelehrigen Akulina einen Heiratsantrag, obwohl er doch um die Unüberwindbarkeit der sozialen Barriere zwischen ihm, dem Gutsbesitzersohn, und dem armen Bauernmädchen wissen muss? Zu solchen Warum-Fragen provoziert auch die auf den ersten Blick am wenigsten rätselhafte der fünf Erzählungen, Der Stationsaufs eher. Warum hat Dunja auf der ganzen Fahrt von der Poststation in die Stadt geweint, obwohl sie, wie der Kutscher bezeugt, allem Anschein nach aus freien Stücken mitgefahren ist? Warum folgt Samson Vyrin nicht seinem biblischen Vorbild und bleibt nicht, wie der Vater des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, zu Hause, auf die Rückkehr der .verlorenen Tochter' vertrauend? Und warum gibt er nach dem Wiedersehen in Petersburg mit einem Mal alle Versuche auf, sein „verirrtes Schäfchen" nach Hause zurückzuführen? Und schließlich - warum trinkt er sich zu Tode? (Vgl. ausführlich Schmid 1991,103-170.) In Raffung und Dehnung realisiert sich auch die Perspektive, und zwar der ideologische Standpunkt, die Wertungsperspektive. Der Gebrauch der Verfahren hängt von der Bedeutsamkeit ab, die der Erzähler (und hinter ihm natürlich der Autor) bestimmten Episoden beimisst: Gedehnte Episoden sind, das ist die Logik des Erzählens, wichtiger als geraffte. Die narrative Relevanz von Handlungen und Episoden entspricht jedoch nicht irgendwelchen außerliterarischen Maßstäben, sondern bemisst sich danach, wie sie die zu erzählende Geschichte zur Erscheinung bringen. Das kann einen starken Konflikt mit den Lebensnormen des Lesers mit sich bringen. Ein Beispiel dafür, wie Raffung und Dehnung eine ideologische Perspektive realisieren, die den Alltagsnormen zuwiderläuft, ist Cechovs Erzählung Seelchen (Dusecka). In den Episoden, die die Ehen der Heldin mit Kukin und Pustovalov darstellen, wird das Geschehen auf eine Weise gerafft
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und gedehnt, die unseren lebensweltlichen Relevanzvorstellungen eklatant widerspricht. Während das Kennenlernen der Partner verhältnismäßig ausführlich dargestellt ist, werden die für ein Menschenleben immerhin entscheidenden Ereignisse der Werbung und Trauung ganz lapidar, jeweils in einem einzigen Satz mitgeteilt: „Er [Kukin] machte einen Antrag, und sie ließen sich trauen"; „Bald versprach man sie ihm [Pustovalov], dann war die Hochzeit" (Cechov 10, 103, 106). Aus der Zeit der Ehe, die in beiden Fällen sehr summarisch abgehandelt wird, vorwiegend im iterativen Modus, wählt der Erzähler einzelne, dem Leser zunächst unbedeutend erscheinende Mikrodialoge aus, in denen das zentrale Thema der Erzählung zur Anschauung kommt: die vorbehaltlose Anpassung der buchstäblich selbst-los liebenden Frau an die Welt des jeweiligen Ehemanns. Der Tod der Ehemänner wird wieder in lakonischer Kürze mitgeteilt. Das Telegramm des Regisseurs der Operettentruppe, das in allerknappstem - und verballhorntem, „Beerdigung" und „Lachen" (cbocborony) kontaminierendem - Wortlaut die Nachricht von Kukins Tod übermittelt, nennt nicht einmal eine Ursache - wir erfahren sie auch später nicht. Und Pustovalovs Krankheit und Tod werden mit extremer Raffung, in einem einzigen trockenen Satz mitgeteilt: „Ihn behandelten die besten Ärzte, aber die Krankheit nahm sich das ihre, und er starb nach viermonatiger Krankheit" (108). Der Erzähler gibt also, wenn er rafft und dehnt, dem Geschehen, von dem er erzählt, seine Akzentuierung. Der Wechsel von Raffung und Dehnung oder von hoher und niedriger Selektivität ist eines der Mittel, den Sinn der Erzählung, so wie er im Horizont des Erzählers aufscheint, zur Anschauung zu bringen.
f) Das Nicht-Gewählte Der Leser, der die für eine Geschichte konstitutive Sinnlinie nachzuzeichnen sucht, ist aufgefordert, die Selektion in ihren beiden Seiten zu erfassen, nicht nur als Position (als Auswahl bestimmter Momente), sondern auch als Negation·, als Abweisung anderer Möglichkeiten der Wahl. Erst vor dem Hintergrund des NichtGewählten erhält das Gewählte seine Identität und seine Sinnfunk-
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tion. Eine Geschichte als sinnhaftes Ganzes zu erfahren heißt: die Logik ihrer Selektivität zu erschließen. Aber noch ein weiteres. Der Leser muss sich bewusst machen, welchen Charakter die Negativität der im Werk getroffenen Selektion hat, d.h. in welchem Modus das Nicht-Gewählte abgewiesen worden ist. Bei der Selektion sind nämlich mindestens drei Modi der sie begleitenden Negation zu unterscheiden. Der erste Modus der Negation ist die Nicht-Auswahl von Geschehensmomenten und Eigenschaften, die für die Geschichte irrelevant sind. Die nicht-gewählten Geschehensmomente liegen hierbei nicht nur nicht auf den durchgezogenen, sondern nicht einmal auf den punktierten (d. h. zu rekonstruierenden) Abschnitten der Sinnlinie. Dieser erste Modus der Negation hinterlässt irrelevante „Unbestimmtheitsstellen" (Ingarden 1931), deren Konkretisierung von der Geschichte weder gefordert noch unterstützt wird. Wer das irrelevante Nicht-Gewählte dennoch konkretisiert, erbringt eine Rezeptionsleistung, die nicht nur überflüssig ist, sondern auch am Aufspüren der Sinnlinie, an der Rekonstruktion der Wahlentscheidungen hindert 33 Der zweite Modus der Negation liegt vor, wenn die Geschichte Ansätze für traditionelle Sinnlinien enthält, denen jedoch nicht zu folgen ist, da sich der Sinn der Geschichte nicht in diesen angedeuteten Linien erschließt. Solche Fallen für den Leser, die die Abweisung suggerierter fremder Motive für die Ausfüllung der Leerstellen erfordern, finden wir in den Erzählungen Belkins. Der Leser, der z. B. die expliziten Motive im Stationsaufseher zu einer schlüssigen, alle Details verbindenden Sinnlinie zusammenzubringen sucht, ist aufgerufen, den vom Helden oder Erzähler suggerierten Sinnangeboten nicht zu folgen und die Linien nicht auszuziehen, die in den biblischen, klassischen, sentimentalen oder romantischen Prätexten ihren Ursprung haben. Dunja ist eben nicht als verführte unschuldige Heldin sentimentaler Genese aufzufassen, und ihr Va33 Welche nicht-gewählten Momente für eine Geschichte irrelevant sind, entscheidet sich allerdings erst im Verlauf der Rezeption, und zwar nicht nur eines einzigen Lesers, sondern in der Geschichte der Sinnzuweisungen. Es können im Text jederzeit Motivkonstellationen und Anspielungen entdeckt werden, die aus einem zunächst irrelevant scheinenden nicht-gewählten Moment ein höchst bedeutsames machen.
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ter erweist sich weder als der weise Vater des Gleichnisses vom verlorenen Sohn noch als der gute Hirte des Johannesevangeliums. Die Geschichte des Stationsaufsehers konstituiert sich in der Negation der im Bewusstsein des Vaters und auch des Erzählers aufscheinenden literarischen Muster. Die nicht-gewählten Momente, die Motiven konventioneller Sujets entsprechen und sich für die Ausfüllung der Leerstellen anbieten, sind abzuweisen. Dieser zweite Fall erfordert für die sinnhafte Erschließung der Geschichte grundsätzlich durchaus die Aktualisierung von Nicht-Gewähltem, nur eben nicht die Aktivierung solcher Momente, die durch trügerische Anspielungen auf konventionelle Handlungsmuster nahe gelegt werden. Den dritten Modus könnte man die aufzubebende Negation nennen. Er betrifft nicht-gewählte Momente, die paradoxerweise in absentia zur Geschichte gehören, insofern sie eine Lücke auf ihrer Sinnlinie schließen. Der Leser muss hierbei die vom Autor vorgenommene Negation aufheben und nach den im Text mehr oder weniger latent enthaltenen Anweisungen Nicht-Gewähltes für die Geschichte „reaktivieren". Im Lesen erbringen wir diese Leistung sehr häufig, und zwar zumeist unwillkürlich, im Automatismus des Implizierens. Bewusst vollziehen wir solches Ausfüllen von Lücken in der Regel erst dann, wenn das Ausgesparte an wesentlichen Momenten auftritt oder gar die Richtung der Sinnlinie bestimmt. Ein solches zentrales Moment ist oft die Handlungsmotivation des Helden. Als Beispiel kann man wieder den Stationsaufseher anführen. In dieser Novelle werden die Motivationen des Helden nicht expliziert. Der Leser soll die Nicht-Auswahl sozusagen rückgängig machen, indem er Momente wiederherstellt, die nicht ausgewählt wurden, aber zur Geschichte gehören. Die aufzuhebende Nicht-Wahl ist zu einem Merkmal der neueren Erzählprosa geworden. In dem Maße, wie die Erzählprosa ihre Helden mit einer komplexen, mehrschichtigen Psyche ausstattet und die Geschichte vom Standpunkt der erzählten Figur darbietet, werden die Bewusstseinshandlungen, die die Tat- und auch die Sprech-Handlungen motivieren, zum Problem. Die Momente des Bewusstseins, die der Erzähler explizit beschreibt, sind oft nicht mehr imstande, die Tat und das Wort schlüssig zu motivieren. Der Leser muss die Handlungsmotivation dann erschließen, indem er über die expli-
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zierte Geschichte hinaus auf bestimmte nicht-gewählte Momente des - psychischen - Geschehens zurückfragt, die der Erzähler vorenthält oder die ihm gar nicht zugänglich sind. Zur Vermeidung von Missverständnissen seien die Überlegungen zum Verhältnis von Geschehen und Geschichte durch zwei Hinweise abgeschlossen: 1. Dem Leser wird hier nicht so sehr die Aufgabe zugewiesen, aus der Geschichte das implizierte Geschehen zu extrapolieren, als vielmehr die Logik der Selektivität der Geschichte zu verstehen. 2. Das Geschehen wird in der narrativen Konstitution nicht einfach durch die Geschichte ersetzt, sondern bleibt spürbar als Vorrat anderer Möglichkeiten der Wahl. g) Von der Geschichte zur Erzählung In der Geschichte können Episoden zugleich stattfinden. Einige Kunstgattungen wie z. B. das narrative Ballett verfügen über die Möglichkeit, synchrones Geschehen simultan darzustellen. Wie andere lineare Repräsentationen muss die Literatur das gleichzeitig Stattfindende in einer temporalen Sequenz darbieten. Insofern ist die Linearisierung des Simultanen ein notwendiges Verfahren, das die Transformation der Geschichte zur Erzählung bedingt. Die Linearisierung simultan verlaufender Geschehensstränge kann mit besonderen semantischen Effekten verbunden sein. Betrachten wir dazu ein Beispiel: In Anna Karenina wird das fatale Pferderennen zwei Mal erzählt, einmal aus der Perspektive Vronskijs (Teil II., Kap. 25), ein zweites Mal aus der Perspektive Karenins, der allerdings nicht das Pferderennen selbst beobachtet, sondern auf die Reaktionen seiner Ehefrau achtet (Teil II, Kap. 2829). Vronskijs Unfall und Karenins Schlussfolgerung aus Annas Reaktion auf den Unfall finden in ein und demselben Augenblick statt, aber berichtet wird davon in unterschiedlichen Teilen der Erzählung. Das zweite Verfahren, das die Transformation der Geschichte in die Erzählung bedingt, ist die Permutation der Episoden gegen die natürliche, chronologische Folge, die Ersetzung des ordo naturalis durch einen ordo artificialis.
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Eine solche Umstellung finden wir etwa im Stationsaufseher, wo die zweite Begegnung des Erzählers mit dem Titelhelden vor der - von Samson Vyrin erzählten - Entführung Dunjas erzählt wird, die drei Jahre vorher stattgefunden hat. Der Schuss enthält dasselbe Verfahren in entblößter Form: Die vier Episoden der Geschichte werden in der Erzählung, die in zwei Kapiteln je zwei Episoden umfasst, in zweimaliger, symmetrischer Permutation dargeboten: Kapitel I
Kapitel II
Episode 1 (im Bericht des primären Erzählers): langweiliges Militärleben des Erzählers, Freundschaft mit Sil'vio, Sil'vios Erzählung von Episode 2.
Episode 3 (im Bericht des primären Erzählers): langweiliges Landleben des Erzählers, Begegnung mit dem Grafen, Erzählung des Grafen von Episode 4.
Episode 2 (im Bericht Sil'vios): Sil'vios glückliches Militärleben, Erscheinen des Grafen, erste Phase des Duells, zeitweiliger Verzicht Sil'vios auf seinen Schuss.
Episode 4 (im Bericht des Grafen): glückliches Landleben des Grafen, Erscheinen Sil'vios, zweite Phase des Duells, endgültiger Verzicht Sil'vios auf den todbringenden Schuss.
In der realen Chronologie der Geschichte ist die Folge der Episoden: 2 — 1 — 4 — 3. Die kompositionelle Symmetrie der vier Episoden schwächt oder kaschiert die Permutation nicht, sondern macht sie eher wahrnehmbar. In beiden Novellen ist die Permutation natürlich motiviert, d. h. dadurch bedingt, dass die Binnengeschichten retrospektiv, in der sekundären Erzählung ihrer Teilnehmer, berichtet werden. In Pique Dame finden wir Permutationen, die nicht auf diese Weise, d. h. durch die Einbettung, begründet sind und das Verstehen der
3. Die vier narrativen Ebenen
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Geschichte erschweren. Betrachten wir das zweite Kapitel. Nach dem Darbietungsmodus und der temporalen Struktur können wir es in sechs Teile gliedern: 1.
Szene im Ankleidezimmer der Gräfin: Ein junger Offizier tritt ein, der Enkel der Alten, und bittet um die Erlaubnis, ihr einen seiner Freunde vorzustellen. Dem Leser wird nicht sofort klar sein, dass dieser Enkel jener Tomskij ist, der im ersten Kapitel die Anekdote vom Geheimnis seiner Großmutter erzählt hat. Lizaveta Ivanovna, die Pflegetochter der Gräfin, fragt Tomskij leise, wen er vorstellen wolle, ob sein Freund Ingenieur sei. Der Leser kann hier noch nicht wissen, warum das Mädchen diese Fragen stellt. Er kann nur vermuten, dass der Ingenieur, den Lizaveta Ivanovna im Auge hat, derselbe junge Mann ist, der im ersten Kapitel als Beobachter des Kartenspiels eingeführt wurde, der selbst grundsätzlich nicht spielte. Lizaveta Ivanovna erblickt durch das Fenster einen jungen Offizier und errötet. Der Leser kann wiederum nur vermuten, dass es sich um jenen jungen Mann handelt, nach dem sie gefragt hat.
2.
Allgemeine Charakteristik der launischen Gräfin und der unglücklichen Pflegetochter.
3.
Retrospektive Erzählung von Vorkommnissen, die sich eine Woche vor der geschilderten Szene und zwei Tage nach dem im ersten Kapitel beschriebenen Kartenspiel ereignet haben: der erste Blickwechsel zwischen Lizaveta Ivanovna und dem jungen Offizier, der seitdem regelmäßig unter ihrem Fenster erscheint.
4.
Die Erzählung kehrt zurück zu der Frage, die Lizaveta Ivanovna Tomskij gestellt hat.
5.
Beschreibung von Charakter und Lebensgewohnheiten Germanns, über dessen Identität mit dem jungen Offizier, der unter dem Fenster der Pflegetochter erscheint, der Leser nur Mutmaßungen anstellen kann.
6.
Rückkehr der Erzählung zum Ende des ersten Kapitels: Wirkung von Tomskijs Anekdote auf Germanns Phantasie. Dieser Teil endet damit, dass sich Germann unter seinen Überlegungen unversehens vor dem ihm unbekannten Haus der Gräfin
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V. Die narrativen Transformationen
befindet und in einem Fenster ein frisches Gesicht mit schwarzen Augen erblickt, was, wie es im Text heißt, sein Schicksal entscheidet. Die mehrfache Umstellung der Episoden der Geschichte und der Glieder der kausalen Folge bewirkt, dass für das Verstehen der Handlung unerlässliche Informationen vorenthalten werden. Es wird zunächst über die Folgen des Entschlusses, mit der Gräfin Kontakt aufzunehmen, erzählt, und erst danach mitgeteilt, wie und warum Germann diesen Entschluss gefasst hat. Diese Permutation, die das Verstehen der zeitlichen Folge und der kausalen Beziehungen der Ereignisse erschwert, ist natürlich eines der Mittel, im Leser Interesse zu wecken und an seine Findigkeit zu appellieren. Die Uneindeutigkeit der diegetischen Beziehungen, die durch die Fülle genauer Zeitangaben kaschiert wird, veranlasst den Leser, sich in diese narrative Welt zu vertiefen und sich ein Bild von der in ihr herrschenden Ordnung zu machen. Die inexplizite Exposition der Figuren bereitet zudem die Unklarheit der Identitäten und Beziehungen in dieser Novelle vor, deren Motivierung zwischen Psychologie und Phantastik schwankt und sich endgültiger Auflösung zugunsten einer der beiden Erklärungsweisen entzieht (Schmid 1997). Ähnlich wie in der Geschichte das Geschehen, aus dem es „ausgeschnitten" wurde, spürbar bleibt, so wird auch die Geschichte in der Erzählung nicht ausgelöscht. Die Ordnung der Geschichte bleibt noch in ihrer Überwindung durch die Erzählung präsent. Im Erzählwerk nehmen wir nicht nur die Erzählung oder die Geschichte wahr, sondern auch ihre simultane Präsenz, die voller Spannungen und Widersprüche sein kann.
h) Die Komposition der Erzählung und die Perspektive Die Linearisierung der in der Geschichte gleichzeitig verlaufenden Handlungen zu einer Erzählsequenz, die in der Literatur ein obligatorisches Verfahren ist, und die Permutation der in chronologischer Ordnung aufeinander folgenden Sequenzen, die fakultativ ist, bringen die Teile der Geschichte in eine sinnkonstituierende Folge.
3. Die vier narrativen Ebenen
275
In der Komposition der Erzählung bildet sich ein Sinn, der das in der Geschichte angelegte Sinnpotential aktualisiert und modifiziert. In den Verfahren der Komposition wird also die Sinnposition des Erzählers, sein ideologischer Standpunkt mitkonstituiert. Die Perspektivik ist aber an der Komposition noch auf andere Weise beteiligt. Die Linearisierung impliziert immer einen Wechsel der zeitlichen Perspektive. Der Erzähler kehrt von dem erreichten Punkt auf der Zeitachse zu einem früheren Punkt zurück, um die Ereignisse zu erzählen, die sich in derselben Zeit wie das soeben Erzählte zugetragen haben. Diese Umschaltung ist häufig auch mit einem Wechsel des räumlichen Standpunkts verbunden. So wechselt der Erzähler in Anna Karenina zusammen mit der zeitlichen Perspektive auch die räumliche und perzeptive, wenn er in der Darstellung des Pferderennens vom Standpunkt Vronskijs zu dem Karenins umschaltet. Auch die Permutation bedeutet die Einnahme eines anderen Standpunkts im raum-zeitlichen Koordinatensystem der fiktiven Welt. Nur geht damit nicht unbedingt ein Wechsel der Reflektorfigur einher. Die Permutation ist vielmehr häufig mit der Retrospektive eben jener Figur verbunden, die schon zuvor Reflektor war. Wenn der Erzähler in Rothschilds Geige sich zunächst jeden Hinweises auf die Vergangenheit des Sargmachers enthält und die Vorgeschichte erst gegen Ende der Erzählung berichtet, so deshalb, weil Jakov Ivanov, dessen räumliche, zeitliche und ideologische Perspektive er übernimmt, sich erst kurz vor dem Tod an sein früheres, glückliches Leben erinnert. Hätte der Erzähler Ivanovs Geschichte narratorial dargeboten, wären wir über die für den Helden wichtigen Ereignisse und Situationen der Vergangenheit zu Beginn der Erzählung unterrichtet worden. Die Retrospektive aber wird möglich, weil der Sargmacher, der seine Vergangenheit völlig vergessen hat, von seiner sterbenden Frau daran erinnert wird, dass sie einmal ein Kind hatten. Erst jetzt kann (oder will) Ivanov das vergegenwärtigen, was er vergessen oder verdrängt hat. Die Erinnerung wird somit zum Anzeichen einer veränderten Haltung des Helden. Wir erfahren von der Vorgeschichte an eben jener Stelle der Erzählung, an der Ivanov der Erinnerung fähig wird. Insofern entspringt die Permutation nicht irgendwelchen abstrakten Komposi-
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V. Die narrativen Transformationen
tionsüberlegungen, sondern folgt der Logik der Bewusstseinshandlungen des Helden.
i) Von der Erzählung zu ihrer Präsentation In der Präsentation der Erzählung wird die medial noch nicht manifestierte Erzählung in der spezifischen Sprache einer Kunstgattung ausgedrückt. Im literarischen Werk geschieht die Präsentation der Erzählung durch die Verbalisierung. Auf dieser Ebene kann die präsentierte Erzählung mit nichtdiegetischen, rein exegetischen Texteinheiten (Wertungen, Generalisierungen, Kommentaren, Reflexionen, metanarrativen Bemerkungen des Erzählers) verknüpft werden. In der Verbalisierung kommt die sprachliche Perspektive zur Geltung. Wenn der Erzähler die Erzählung präsentiert, hat er die Wahl zwischen verschiedenen Stilen. Er kann lexikalische Einheiten und syntaktische Strukturen verwenden, die seinem eigenen Stil entsprechen, (d. h. einen narratorialen Standpunkt einnehmen) oder sich - nach Maßgabe seiner sprachlichen Kompetenz - an die stilistische Welt des Geschehens anpassen und die Erzählung in der Sprache einer oder mehrerer der Figuren präsentieren (d. h. figural perspektivieren). Zum Geschehen gehören natürlich auch die (äußeren und inneren) Reden und Erzählungen der Figuren. Die Konstitution der Figurenreden und der Erzählungen sekundärer Erzähler durchläuft denselben Transformationsprozess wie die Erzählung des primären Erzählers. Nur sind diese Reden und sekundären Erzählungen .schon' fertig, .bevor' (wieder in temporaler Metaphorik ausgedrückt) der Erzähler sie mit der in ihnen realisierten Perspektive der Figur aus dem Geschehen .ausschneidet', um seine Geschichte zu erzählen. (Das bedeutet, dass es ein Geschehen, das von sprachlicher Realisierung frei wäre, nicht gibt, denn in das Geschehen gehen auch die Sprechhandlungen der Figuren ein.) Dabei braucht die auf der Ebene des Geschehens .vorgefundene' Sprache der Figuren nicht mit jener Sprache identisch zu sein, in der die Erzählung präsentiert wird. Erst auf dieser vierten Ebene erhalten die Äußerungen der Figuren ihr endgültiges sprachliches Profil. Die
3. Die vier narrativen Ebenen
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Verbalisierung kann mit einer wesentlichen Umgestaltung der Figurenreden verbunden sein bis zu ihrer Übersetzung in eine fremde Sprache. So sprechen z. B. in Epen die Helden in Versen, und in Romanen wird fremdsprachige Rede in der Regel in der Sprache des Erzähltextes wiedergegeben. Tolstojs Roman Krieg und Frieden, der die französische Rede der Helden vollmimetisch wiedergibt (mit der für Russen typischen stilistischen Kolorierung), ist in dieser Hinsicht eher eine Ausnahme. Während in der Literatur die Überarbeitung der im Geschehen gesprochenen (oder gedachten) Reden weitgehend unbemerkt bleibt, wird man im Ballett oder in der Pantomime, die den Inhalt der Texte der Figuren in der Sprache der Gesten und Bewegungen ausdrücken, eher aufmerksam auf die in ihnen stattfindende Umkodierung. Die Perspektivität der Verbalisierung ist freilich in den literarischen Epochen unterschiedlich stark ausgeprägt. Volle Entfaltung findet sie nur in realistischen Schreibweisen, die das Prinzip des Mimetismus auch auf Figuren- und Erzählerstil anwenden. Im vorrealistischen Erzählen ist die Verbalisierung dagegen Gattungsgesetzen und literarischen Normen unterworfen, die die Möglichkeit ihrer Perspektivität stark einschränken. So zeigt das Sprechen der Figuren und des Erzählers in den narrativen Versgattungen nur schwache Spuren einer stilistischen Individualisierung. Und auch im vorrealistischen Prosaroman verbleibt der Stil des Erzählers und seiner Figuren noch ganz in den engen Grenzen, die von der literatursprachlichen Norm gesetzt sind. Weder belässt der Erzähler seinen Figuren ihr sprachliches Eigenleben (man denke nur daran, wie empfindsam Karamzins Erzähler seine Bäuerin sprechen lässt), noch erhält er selbst eine individuelle stilistische Physiognomie. Noch in der romantischen Narration Lermontovs pflegen Helden und Erzähler dieselbe rhetorisch zugespitzte, sentenzenreiche Rede. Auch aus der Moderne kennen wir Poetiken, die der sprachlichen Perspektivierung Restriktionen auferlegen. Man denke an die „ornamentale" Prosa der russischen Literatur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (siehe dazu oben, IV.2.a). Sie unterwirft das Erzählen mit Verfahren wie Rhythmisierung, Lautinstrumentierung, Klangwiederholung und Paronomasie einer poetischen Organisation, die weder auf den Erzähler noch auf die Figuren bezogen
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V. Die narrativen Transformationen
werden kann. Wo aber die Perspektivität reduziert ist, wird man von Erzählkunst, die sich ja durch konsequenten Perspektivismus in allen narrativen Operationen auszeichnet, nur mit Vorbehalten sprechen können. Sofern die Texte des Erzählers und der Figuren sprachlich individualisiert sind, entwerfen sie nicht nur ein Bild ihrer Sprecher, mit den Charakteristika der Herkunft, des Status, der Bildung und der Ideologie, sie können darüber hinaus auch die aktuelle Bewertung der benannten Geschehensmomente durch die sprechende Instanz anzeigen. Besonders relevant ist hier die Namensgebung. Betrachten wir dazu ein Beispiel aus Cechovs Seelchen. Ol'ga Semenovna Plemjannikova, die Heldin dieser Erzählung, wird in den Perioden ihres Eheglücks von den Leuten „Seelchen" genannt. Darin drückt sich Sympathie mit der selbstlos liebenden Frau aus. Auch Kukin, ihr erster Ehemann, nennt sie in der Hochzeitsnacht, als er ihrer körperlichen Reize ansichtig wird, „Seelchen" (was natürlich eine auktoriale Allusion auf die in Apuleius' Metamorphoses oder Der goldene Esel erzählte Geschichte von Eros und Psyche ist und uns den ironischen Autor zeigt). Der Erzähler nennt sie dagegen „Olen'ka". Es ist am Leser, zu entscheiden, ob er dieses Hypokoristikon als authentische narratoriale Namensgebung oder als Anpassung an die Perspektive des Milieus auffassen will. Von dieser Entscheidung hängt ab, welche subjektive Haltung er dem Erzähler zuschreibt, warme Sympathie oder leise Ironie. Neben jener Wertung, die in der Benennung impliziert ist, begegnen wir auf der Ebene der Präsentation natürlich auch der expliziten narratorialen Bewertung von Momenten der Geschichte. Beide Wertungsakte, die implizite wie die explizite Wertung, können sich auf die Diegesis beziehen, gehören aber selbst zur Exegesis.
j) Ein idealgenetisches Modell der Perspektive Folgendes Schema stellt dar, mit welchen Transformationen die Perspektive auf den verschiedenen Ebenen der Konstitution korreliert:
3. Die vier narrativen Ebenen
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1. sprachliche P. 2. ideologische P.
1. ideologische P. 2. zeidiche P. 3. räumliche P.
1. perzeptive P. 2. ideologische P. 3. räumliche P. 4. zeitliche P. 5. (sprachliche P.)
Geschehen
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V. Die narrativen Transformationen k) Erzählgeschehen und Erzählgeschichte
Der Erzähltext enthält nicht nur die Präsentation der Erzählung, sondern auch die Gesamtheit der expliziten Wertungen, Kommentare, Generalisierungen, Reflexionen und Autothematisierungen des Erzählers. Solche Texteinheiten konstituieren nicht die Diegesis (die erzählte Welt), sondern die Exegesis (den Akt des Erzählens). Sie sind nicht einfach Amplifikationen der Erzählung, sondern denotieren oder implizieren die Erzählgeschichte, d. h. die Geschichte des Erzählakts, in deren Verlauf die Präsentation der Erzählung hervorgebracht wird. Die dargestellte Welt des Erzählwerks vereinigt also zwei ganz unterschiedliche Geschichten: 1. Die präsentierte Erzählung mit der in ihr enthaltenen erzählten Geschichte. 2. Die Präsentation selbst, d. h. die sie fundierende Erzählgeschichte. Die Erzählgeschichte ist in den meisten Erzählwerken nur in Fragmenten gegeben, aber es gibt Werke, in denen sie voll ausgestaltet ist, ja sogar im Vordergrund steht. Das ist etwa der Fall in Laurence Sternes Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman, wo die opinions der Exegesis das life der Diegesis überwuchern und fast verdrängen. Fehlen explizite Erzählerkommentare und Autothematisierungen des Erzählers, so haben wir keine Erzählgeschichte, müssen aber grundsätzlich ein (natürlich auch fiktives) Erzählgeschehen ansetzen, ohne das es keine Erzählgeschichte gäbe. Aus dem Erzählgeschehen ist dann kein Element für die Gestaltung einer Erzählgeschichte ausgewählt worden. Der Leser muss in diesen Fällen das Erzählgeschehen aus den Indizes, die in den narrativen Verfahren enthalten sind, rekonstruieren. Wenn die Verfahren hinreichend deutliche Symptome enthalten, können auch in scheinbar absolut erzählerlosen Werken die das Erzählen leitenden Bewusstseinshandlungen extrapoliert werden. Ein extremes Beispiel dafür ist Alain Robbe-Grillets La Jalousie, wo bei radikaler Aussparung des erzählten Ich und bei fehlender Autothematisierung des erzählenden Ich nur die vom Erzähler beobachtete Ehefrau, der Freund der Eheleute und die aufs genaueste beschriebenen Gegenstände der äußeren Welt figurieren (siehe dazu oben, II.4.g). Die Auswahl der Gegenstände und ihre auffällig wiederholte Nennung dienen
3. Die vier narrativen Ebenen
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jedoch als Indizien für das nicht-thematisierte Erzählgeschehen. Die scheinbar unpersönliche, extrem objektiv wirkende, quasi-wissenschaftliche Beschreibung mit den übergenauen Angaben der geometrischen Konstellationen, Maße und Winkel lässt zumindest einige Schlussfolgerungen zu über das, was im Erzähler während des Erzählens vorgehen mag.
1) Das semiotische Modell Idealgenetische Modelle bilden, wie bereits erwähnt, nicht den realen Schaffens- oder Rezeptionsakt ab, sondern simulieren mit Hilfe zeitlicher Metaphern die ideale, nicht-zeitliche Genesis des Erzählwerks mit dem Ziel, die das Erzählen leitenden Verfahren zu isolieren und in ihren Beziehungen zu beleuchten. Zum Schluss betrachten wir das Modell der narrativen Ebenen von der anderen Seite, d. h. wir gehen vom Erzähltext aus und fragen nach der Konstruktion der erzählten Geschichte und der Erzählgeschichte durch den Leser. Eine solche Perspektive führt zu einem semiotischen Modell, das die Korrelationen zwischen Signifikanten und Signifikaten im Prozess der Rezeption abbildet. Die einzige der Beobachtung zugängliche Ebene ist der Text des Erzählwerks. Alle anderen Ebenen sind Abstraktionen und Konstrukte. Der Text des Erzählwerks vereinigt, wie oben schon erwähnt, einerseits die Präsentation der Erzählung, anderseits die expliziten Wertungen, Kommentare, Generalisierungen, Reflexionen und Autothematisierungen des Erzählers, d. h. der Text des Werks spaltet sich in einen diegetischen und einen exegetischen Teil. Die folgenden Ebenen fungieren jeweils als Signifikanten für die tieferen, d. h. dem Geschehen näheren Ebenen. Die semiotischen Prozesse, die hier stattfinden, sind Denotation und Indikation, hinzu tritt die logische Operation der Implikation. Folgendes Schema, in dem zwischen dem diegetischen und dem exegetischen Zweig der narrativen Konstitution unterschieden wird, stellt die semiotischen Beziehungen zwischen den Ebenen dar und modelliert die Konstruktion der Geschichte und des Geschehens sowie der Erzählgeschichte und des Erzählgeschehens aus dem Erzähltext:
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V. Die narrativcn Transformationen
3. Die vier narrativen Ebenen
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m) Die Korrelation der Ebenen in der Wortkunst Bei der Unterscheidung von Ebenen, ob sie idealgenetischer oder semiotischer Art sind, darf nicht übersehen werden, dass sie im Werk wie in der Rezeption gleichzeitig existieren. Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass von einer endgültigen Überwindung des Geschehens durch die Geschichte oder der Geschichte durch die Erzählung nicht die Rede sein könne. Im Erzählwerk existieren die narrativen Ebenen vielmehr simultan und bilden dabei eine dynamische Korrelation. Diese Korrelation sieht in verschiedenen Poetiken unterschiedlich aus. In der ornamentalen Prosa z. B., die - wie ausgeführt wurde - nicht ein rein stilistisches, sondern ein strukturelles Phänomen ist, beschränkt sich die Ornamentalisierung nicht auf die Präsentation der Erzählung, sondern manifestiert sich auch auf den anderen Ebenen. Für eine ornamentale, wortkünstlerische Geschichte werden die Geschehensmomente nach etwas anderen Gesichtspunkten ausgewählt als für eine erzählkünstlerische Geschichte. In der Erzählkunst besteht zwischen den ausgewählten Momenten vor allem eine temporale und kausale Beziehung, und leitend für die Wahl ist die Relevanz der Momente für die zu erzählende Geschichte. In der Wortkunst dagegen spielen auch die nicht-zeitlichen Verknüpfungen wie Wiederholung, Leitmotivik und Äquivalenz eine führende Rolle. Ein Geschehensmoment Β wird dann nicht nur deshalb ausgewählt, weil es temporal oder kausal auf das Moment Α folgt (im Schema: ->), sondern auch weil es mit einem späteren Moment Ε eine thematische Äquivalenz (as) bilden soll. Die Kookkurrenz der zeitlichen und nicht-zeitlichen Verknüpfungen sei in folgendem Schema dargestellt
A —
Β Β
—
C m
—
D Ε
Die durch die nicht-zeitlichen Verknüpfungen konstituierten Relationen unterwerfen die Ordnungen der drei Transformationsebenen (1. das sprachliche Syntagma der Präsentation der Erzäh-
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V. Die narrativen Transformationen
lung, 2. die Komposition der Erzählung, 3. das thematische Syntagma der Geschichte) einer poetisch-ornamentalen Überdeterminierung. In der Präsentation der Erzählung führt diese Überdeterminierung zu Rhythmisierung und Klangwiederholungen, die auktorialen Status haben und in den Regel nicht auf die Erzählinstanz bezogen sind. In der Erzählung lenkt sie die Linearisierung und Permutation, und auf das Syntagma der Geschichte legt sie ein Netz unzeitlicher Verknüpfungen nach dem Prinzip von Ähnlichkeit und Kontrast (vgl. dazu oben, I.l.e). Das bedeutet also: Die Ornamentalität schlägt auf die Operation der Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften durch. Vergleichbare Modifikationen des Modells der narrativen Konstitution sind überall dort erforderlich, wo die perspektivierende Erzählkunst mit Verfahren aperspektivischer Wortkunst überzogen wird34.
34 Zu den Modifikationen, die die ornamentale Prosa und überhaupt die Wortkunst vom Modell der narrativen Transformationen erfordern, vgl. Schmid 2008b.
Zusammenfassung Aufgabe dieses Buches war es, konstitutive Strukturen fiktionaler Erzähltexte zu betrachten. Dabei galt ein besonderes Augenmerk jenen Kategorien, mit denen der slavische (russische, tschechische, polnische) Formalismus und Strukturalismus die internationale Narratologie bereichert hat. Die Konzentration auf das literarische Erzählwerk ist damit begründet, dass die genuin narratologische Theoriebildung im Wesentlichen immer noch im Rahmen der Literaturwissenschaft geschieht. Erzählt wird zwar in verschiedenen Medien und in vielen Lebens- und Kulturbereichen, und die Untersuchung von verbalen und nicht-verbalen Narrativen erfolgt auch außerhalb der Literaturwissenschaft (Schönert 2004), ja der Begriff Narratologie wird in jüngerer Zeit programmatisch im Plural gebraucht (Nünning 2003), aber man operiert in den diversen Narratologien doch mit Kategorien, die der Literaturwissenschaft entstammen. Eine eigene narratologische Kategorienbildung findet jenseits der Literaturwissenschaft im Grunde kaum statt (vielleicht mit Ausnahme der Filmtheorie, in der eigene Entwicklungen, vor allem zur Kategorie der Perspektive, beobachtet werden können). Nach wie vor ist die Mutterdisziplin der Narratologie die Literaturwissenschaft1. Und die Literatur scheint immer noch der Bereich zu sein, der die mannigfachen Möglichkeiten des Erzählens in exemplarischer Weise erprobt und exponiert. Damit der Ort der hier vorgelegten Narratologie im Kontext der aktuellen Theoriebildung hinreichend deutlich werde, seien noch einmal die für das Buch charakteristischen Positionen zusammengefasst.
Diesen Eindruck hat auch das Kolloquium Narratology beyond Literary Criticism bestätigt, das die Hamburger Forschergruppe Narratologie im Jahr 2003 veranstaltet hat (vgl. dazu den Sammelband Meister [Hg.] 2005).
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Zusammenfassung
LI. Als konstitutives Merkmal des Erzählens wird die Narrativität betrachtet. Angesichts der Konkurrenz der klassischen Position, die die Narrativität an die Präsenz einer Vermittlungsinstanz bindet, und der strukturalistischen Auffassung von Erzählen als jeglichem Darstellen von Zustandsveränderungen wird ein Kompromissvorschlag gemacht, der für den Begriff „narrativ" zwei unterschiedlich weite Bedeutungen vorsieht. Narrativ im weiteren Sinne sollen Texte genannt werden, die eine Zustandsveränderung darstellen und somit eine Geschichte (in der Minimalform „The king died") erzählen, als narrativ im engeren Sinne werden Texte bezeichnet, die eine Geschichte mit Vermittlung durch einen Erzähler präsentieren. 1.2. Unter den Zustandsveränderungen, von denen es in literarischen Texten unübersehbar viele gibt, wird eine Klasse ausgegliedert, die besondere Bedingungen erfüllt, die Ereignisse. Im kritischen Ausgang von Jurij Lotman, der als Bedingung für das Ereignis das Überschreiten einer Grenze, das Verlassen eines semantischen Feldes oder die Verletzung einer Norm vorsieht, wird folgende Definition vorgeschlagen: Ein Ereignis ist eine Zustandsveränderung, die Realität und Resultativität voraussetzt und die Bedingungen der Relevanz, der Imprädiktabilität, der Konsekutivität, der Irreversibilität und der Non-Iterativität erfüllt. 1.3. Die durch das Maß der Erfüllung dieser Kriterien bestimmte Ereignishaftigkeit ist eine gradationsfähige Eigenschaft von Ereignissen. Ereignisse können also mehr oder weniger ereignishaft sein. Während die Zustandsveränderung objektiv im Text erscheint, beruht die Ereignishaftigkeit auf einer von der Interpretation abhängigen Zuschreibung. Für die Instanzen, die mit einer Zustandsveränderung konfrontiert sind - den Helden, den Erzähler und den fiktiven Leser, den Autor und den abstrakten Leser und natürlich den konkreten Leser - kann die Ereignishaftigkeit einer Zustandsveränderung in durchaus unterschiedlichem Licht erscheinen. 1.4. Neben den zeitlichen Verknüpfungen wie temporaler und kausaler Folge (von denen in eine Minimaldefinition der Narrativität lediglich die erste einzugehen braucht), beobachtet man in narrativen Texten, vor allem in solchen mit „ornamentaler" Faktur, auch un-
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zeitliche Verknüpfungen nach dem Prinzip der - formalen und thematischen - Äquivalenz von Motiven auf den Ebenen der Geschichte und des Diskurses. 1.5. Als zweites distinktives Merkmal der literarischen Narration wird die Fiktionalität betrachtet. Der in dem Buch zugrunde gelegte Fiktionsbegriff folgt dem Aristotelischen Begriff der Mimesis als Darstellung nicht des Gewesenen, sondern des Möglichen, als Machen handelnder Menschen. 1.6. In der Kontroverse um die Frage, ob der spezifische Status der Literatur hinsichtlich der Ontologie der dargestellten Gegenstände oder der Pragmatik des darstellenden Diskurses zu bestimmen sei, hat die philosophische Ästhetik deutlich an Terrain verloren. Den .mainstream' markiert heute die auf die Sprechakt-Theorie gegründete pretense-YLonze^tion John Searles. Danach trifft der Autor eines fiktionalen Textes Feststellungen, die lediglich die Form von Feststellungen haben, in Wirklichkeit aber nur „vorgegebene" Feststellungen sind. Diese Auffassung wird in dem vorliegenden Buch nicht geteilt. Entgegen der heute dominierenden Meinung, wonach die Fiktionalität nicht durch Eigenschaften des Textes vorgegeben ist, folge ich der Konzeption K. Hamburgers, nach der es durchaus ein Merkmal fiktionaler Texte gibt, nämlich die unmotivierte Darstellung fremder Innenwelt. Wie schon E. M. Forster (1927) ausgeführt hat, ist die Gestaltung fremder Innenwelt ein Spezifikum fiktionaler Literatur. 1.7. Für die Fiktivität der dargestellten Welt wird nur eine Ja-NeinEntscheidung für sinnvoll gehalten. Jegliche mixed. ^-Konzeption, nach der Figuren, Räume oder Zeiten teilweise real und teilweise fiktiv oder ein Text teilweise fiktional und teilweise faktual sein können, wird verworfen. Napoleon ist in Krieg und Frieden ebenso fiktiv wie Natasa Rostova. Fiktiv- und Fiktional-Sein sind keine gradierbaren Eigenschaften. II.l. Grundlage des Modells der Kommunikationsebenen ist die These, dass das Erzählwerk nicht erzählt, sondern ein Erzählen darstellt, somit zumindest zwei Ebenen der Kommunikation umfasst: Autorkommunikation und Erzählkommunikation. Die realen, abstrakten und fiktiven Instanzen dieser Kommunikationen werden
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Zusammenfassung
im Rekurs auf tschechische und polnische Theorien in einem Modell der Kommunikationsebenen präsentiert. 11.2. Gegen die in den siebziger und achtziger Jahren weit verbreitete Kritik am Autor wird an der Notwendigkeit der Kategorie des abstrakten Autors festgehalten. Im Gegensatz zum Erzähler ist der abstrakte Autor allerdings nicht spezifisch für die Narration und auch nicht eine dargestellte pragmatische Instanz des Erzählwerks. Rein semantische Größe, ist er vielmehr nur ein Rekonstrukt des Lesers aus den schöpferischen Akten, die das Werk hervorgebracht haben. Die Kategorie des abstrakten Autors ist insofern sinnvoll und erforderlich, als sie einen Objektschatten auf den Erzähler und sein Erzählen wirft. 11.3. Der abstrakte Leser, der nichts anderes ist als die Vorstellung vom Gegenüber, die der konkrete Leser dem abstrakten Autor zuschreibt, erscheint einerseits als unterstellter Adressat und anderseits als idealer Rezipient. 11.4. Für den fiktiven Erzähler wird zwischen expliziter und impliziter Darstellung unterschieden. Letztere, die auf der Kundgabefunktion gründet, ist der basale Modus, der grundsätzlich immer mehr oder weniger aktiv ist, aber nie vollständig verschwindet. Insofern wird das Postulat eines erzählerlosen Werks oder der Existenz eines nonnarrator (Chatman) abgelehnt. Gegen die weit verbreitete Auffassung, dass der Erzähler im „objektiven" Erzählen von der Bühne gehe oder mit dem Autor verschmelze, wird die These vertreten, dass der Erzähler präsent bleibt, und sei es auch nur in der Auswahl der Figurenreden. 11.5. Gerard Genettes komplizierter und semantisch in mancher Hinsicht problematischer Typologie des Erzählers wird eine vereinfachte Unterscheidung entgegengesetzt: die Triade der Einbettungen extradiegetisch, intradiegetisch, metadiegetisch wird durch primär, sekundär und tertiär ersetzt, die Dichotomie von bomodiegetisebem und heterodiegetischem Erzähler durch die Opposition von diegetischem (zur erzählten Welt gehörenden) und nichtdiegetiscbem (nicht in der erzählten Welt figurierenden) Erzähler ersetzt, eine Opposition, die weder mit explizit vs. implizit noch mit persönlich vs. unper-
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sönlich noch auch mit irgendwelchen Dichotomien der Perspektive identisch ist. II.6. Der fiktive Leser, für den die Funktionsinstanzen fiktiver Adressat und fiktiver Rezipient zu unterscheiden sind, wird im Wesentlichen implizit dargestellt, und zwar durch die Operationen des Appells und der Orientierung. III.l. Die Kategorie der Erzählperspektive wird in einem weiten Sinne verstanden als der von inneren wie äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen eines Geschehens. Perspektivierung ist ein basales Verfahren, das nicht erst auf eine schon bestehende Geschichte angewendet wird, wie zahlreiche Modelle postulieren, sondern sich bereits in der Konstitution der Geschichte durch die Auswahl von Geschehensmomenten bildet. Ohne Perspektive gibt es keine Geschichte. 111.2. Für die Perspektive werden in der kritischen Nachfolge von Uspenskijs Ebenenmodell und in der Auseinandersetzung mit ihren Derivaten (Lintvelt, Rimmon-Kenan) fünf Parameter unterschieden: Perzeption, Ideologie, Raum, Zeit, Sprache. In jedem dieser Parameter kann die Perspektive narratorial (auf den Erzähler bezogen) sein oder figural (auf die Figur bezogen). Die beiden Perspektivmöglichkeiten gelten sowohl für diegetische als auch für nichtdiegetische Erzähler. 111.3. Die Perspektive kann kompakt, d. h. in allen fünf Parametern auf ein und dieselbe Instanz bezogen, aber auch distributiv, d. h. in einigen Parametern narratorial, in andern figural sein. Gerade die Distribution von narratorialen und figuralen Merkmalen erschwert die Lektüre moderner Prosa, deren oft unentscheidbarer Textaufbau zum Abbild der Unentschiedenheit des Seelenlebens wird. IV.l. Das Phänomen der Perspektive wird in dem Buch verbunden mit der Korrelation von Erzählertext und Figurentext, den beiden Komponenten des Erzähltextes, die an der Textoberfläche oft in vermischter Gestalt als Erzählerrede und Figurenrede auftreten. IV.2. Auf die Betrachtung zweier Abweichungen vom neutralen Erzähltext, der Poetisierung in der „ornamentalen" Prosa und der charakterisierenden Stilisierung im „Skaz", zu deren Beschreibung
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und Typologisierung Positionen russischer Theorie herangezogen werden, folgt eine differenzierte Analyse jenes Grundverfahrens moderner Prosa, das ich Interferenz von Erzählertext und Figurentext nenne und dessen bekannteste Manifestation die so genannte erlebte Rede ist. In der Auseinandersetzung einerseits mit den russischen Theoretikern Bachtin und Volosinov, die die erlebte Rede als agonales Phänomen modellieren, in dem der Erzähler die Bedeutungsposition des Helden bestreitet, anderseits mit dem tschechischen Strukturalisten Dolezel, der das Phänomen rein stilistisch interpretiert und um der Einfachheit der Analyse willen von Idealtypen der beiden Texte ausgeht, wird ein Modell vorgeschlagen, das den fünf unterschiedenen Parametern der Perspektive mögliche Merkmale für die Differenzierung von Erzählertext und Figurentext zuordnet. Das Merkmalprofil, das noch keine Vorentscheidung über die inhaltlichen Relationen der Texte enthält, fungiert als Instrument für die Analyse des jeweiligen Anteils der beiden Texte, der Neutralisierung ihrer Opposition und der Interferenz ihrer Bedeutungspositionen. IV.3. Die wichtigsten Manifestationen der Textinterferenz, wie indirekte Darstellung von Reden, Gedanken und Wahrnehmungen, freie indirekte Rede, erlebte Rede in ihren Grundtypen und Varianten, erlebte Wahrnehmung, erlebter innerer Monolog, uneigentliches Erzählen werden auf ihre Funktionen befragt, von denen das Schaffen von Uneindeutigkeit und Bitextualität die unter dem Wirkaspekt grundlegende ist. V.l. In der Auseinandersetzung mit der Dichotomie Fabel vs. Sujet, mit deren Hilfe die russischen Formalisten (Sklovskij, Tynjanov) und ihnen nahe stehende Analytiker (Petrovskij, Tomasevskij, Vygotskij) den Kunstcharakter der erzählenden Prosa zu erklären suchten, sowie der französischen Dichotomie bistoire vs. discours (Todorov) und den sich daran anschließenden Drei-EbenenModellen (Genette, Bai, Garcia Landa, Stierle) wird ein idealgenetisches Vier-Ebenen-Modell der narrativen Konstitution vorgeschlagen. Den je zweiwertigen Begriffen Fabel und Sujet entsprechen die Ebenen Geschehen, Geschichte, Erzählung und Präsentation der Erzählung. Als Transformationsoperationen fungieren 1) die Auswahl von Geschehensmomenten und ihren Eigenschaften (mit den
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Implikationen Raffung und Dehnung), 2) die Komposition (mit den Verfahren der Linearisierung und Permutation) und 3) die Materialisierung der Erzählung in einer medienspezifischen Sprache (in der Literatur die Verbalisierung). V.2. Die Perspektivierung ist nicht ein Verfahren unter andern und lässt sich auch nicht nur einer der Transformationen zuordnen, sondern figuriert in ihren unterschiedlichen Facetten als Implikat aller drei Transformationen. Dieser Sachverhalt wird durch ein idealgenetisches Modell der Perspektive illustriert. V.3. Eine besondere Rolle spielt in der Rezeption das für eine Geschichte Nicht-Gewählte, denn eine Geschichte als sinnhaftes Ganzes zu erfahren heißt: die Logik ihrer Selektivität zu erschließen und den Charakter der Negativität der Selektion zu erfahren. V.4. Für den Umgang des Lesers mit dem Nicht-Gewählten werden drei Modi unterschieden: 1) die Nicht-Aktivierung von irrelevant scheinenden nicht-gewählten Geschehensmomenten und Eigenschaften, 2) die Abweisung nicht-gewählter Momente, die sich für die Ausfüllung von Unbestimmtheitstellen anbieten, 3) die Aufhebung der Negation. V.5. Das Buch wird beschlossen durch ein semiotisches Modell, das von dem der Erfahrung zugänglichen Text des Erzählwerks ausgeht und das für den diegetischen (die Geschichte betreffenden) und den exegetischen (die Präsentation betreffenden) Zweig des Werks die semiotischen Operationen der Denotation, Indikation und Implikation skizziert und somit die Wahrnehmung des Erzählwerks, der in ihm erzählten Geschichte und Erzählgeschichte durch den Leser nachzeichnet.
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Glossar und Index narratologischcr Begriffe In diesem Verzeichnis sind narratologische Begriffe aufgeführt, die im vorliegenden Buch in einem spezifischen Sinne gebraucht werden. Zusammengesetzte Begriffe (wie „erlebte Rede") erscheinen unter dem Substantiv („Rede, erlebte"). Die Ziffern verweisen auf die Seiten, auf denen die Begriffe eingeführt oder definiert werden. Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf Fußnoten. Adressat = die vom Sender als Empfänger unterstellte oder intendierte Instanz 43 - unterstellter = eine der beiden Hypostasen des abstrakten Lesers 45, 68-69 Ansteckung der Erzählerrede am Personentext 219 Anzeichen s. indiziale Zeichen Aperspektivismus (der ornamentalen Prosa) 162 Appell = Aufforderung an den Adressaten, eine bestimmte Haltung zum Erzählten, zum Erzähler usw. einzunehmen 107 Äquivalenz (Similarität und Opposition) 22 - formale = Verklammerung zweier Erzählsegmente aufgrund eines gemeinsamen formalen Merkmals 24 - thematische = Verklammerung zweier Erzählsegmente aufgrund eines gemeinsamen thematischen Merkmals 24 auktorial = auf den Autor bezogen 137 Auswahl von Geschehensmomenten - als Indiz für den Erzähler 73 - als konstitutive Operation der Bildung einer Geschichte 260 Auswahl von Qualitäten der Geschehensmomente - als konstitutive Operation für die Bildung einer Geschichte 252 Autor - abstrakter = 1. Signifie aller indizialen Zeichen des Textes, die auf den Sender bezogen sind 46, 60-61 2. anthropomorphe Hypostase aller schöpferischen Akte 60
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Glossar und Index narratologischer Begriffe 3. (Re)-Konstrukt des Lesers auf der Grundlage seiner Semantisierung des Werks 61
- konkreter = historische Figur des Autors 44 Autorkommunikation (reale Kommunikation zwischen Autor und Adressat/Rezipient) 42 Benennung - direkte figurale 201 Bewertung der ausgewählten Geschehensmomente (als Indiz für den Erzähler) 73 Binnengeschichte 85 Bitextualität (als Eigenschaft der Textinterferenz) 227 Darstellen eines Geschehens 129 Darstellung - explizite und implizite (des Erzählers) 72 - explizite und implizite (des fiktiven Lesers) 105-106 - indirekte (von Reden, Gedanken und Wahrnehmungen) s. indirekte Rede Dehnung 262 Detaillierung der ausgewählten Geschehensmomente (als Indiz für den Erzähler) 73 Diegesis = erzählte Welt 86 Diegesis im Sinne Piatons = das eigentliche Erzählen im Gegensatz zur Mimesis als Nachahmung der Personenrede 10,
86,154,182
diegetisch = zur erzählten Welt gehörend 86, 87 Diskursgeschichte = Erzählgeschichte Disposition (dispositio, τάξις) 253 Distribution (der Merkmale auf Erzählertext und Figurentext) 182 Doxa = das in der jeweiligen narrativen Welt allgemein Erwartete 14 elocutio (λέξις) 253 Ereignis = Zustandsveränderung, die Realität und Resultativität voraussetzt und weitere Bedingungen erfüllen muss 11-12 Ereignishaftigkeit = skalierbare, gradationsfähige Eigenschaft von Ereignissen 13 Erfassen eines Geschehens 129
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Erzählen - diegetisches 217 - uneigentliches 219 Erzähler - fiktiver 72 - diegetischer = Erzähler, dessen früheres Ich als Figur der Diegesis, d. h. der erzählten Welt, auftritt (sog. „Ich-Erzähler") 86 - nichtdiegetischer = Erzähler, der nicht in der erzählten Welt auftritt (sog. „Er-Erzähler") 86 - primärer, sekundärer, tertiärer = Erzähler einer Rahmengeschichte, Binnengeschichte bzw. Binnengeschichte zweiten Grades 85 Erzählerrede 154-158 Erzählertext = unvermischter, von Anteilen des Figurentextes freier Text des Erzählers 157-158 Erzählgeschehen 2 8 0 Erzählgeschichte 9, 2 8 0 Erzählkommunikation = dargestellte Kommunikation zwischen fiktivem Erzähler und fiktivem Leser 42 Erzählkunst (im Unterschied zur Wortkunst) 160 Erzählmonolog - dialogischer 113 Erzählperspektive = der von inneren und äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen eines Geschehens 128 Erzähltext 154 Erzählung (als Ebene der narrativen Konstitution) 253 Erzählung in der zweiten Person 91 Exegesis = Ebene des Erzählens und der das Erzählen begleitenden Kommentare 86, 87 Faktizität einer Zustandsveränderung (als Bedingung für das Vorliegen eines Ereignisses) 12 faktual (als Gegenbegriff zu fiktional) 26 Figuralisierung des Erzählens 157 Figurenrede 157-158 Figurentext = reiner, unvermischter Text der Figur 157-158 Fiktion = künstlerische Konstruktion einer möglichen Wirklichkeit 26, 2 9 31
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fiktional = Eigenschaft von Repräsentationen fiktiver Welten 26 fiktiv = Eigenschaft der in fiktionalen Repräsentationen dargestellten Welt: dargestellt ohne Referenz auf eine außertextliche Realität 26-27,37-41 Fiktivität der Figuren, Situationen, Handlungen, Räume und Zeiten in fiktionalen Repräsentationen 39-41 Geschehen = die amorphe Gesamtheit der in einer Geschichte implizierten Situationen, Personen und Handlungen 129, 251, 259 Geschehensmomente = die für eine Geschichte ausgewählten Situationen, Personen und Handlungen 252 Geschichte 1. als Inhalt einer Erzählung im Gegensatz zum Diskurs 6 2. als Ergebnis der Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Qualitäten 252 Handlung = Zustandsveränderung, die durch einen Agenten herbeigeführt wird 3 Ich - erzählendes 87 - erzähltes 87 Imprädiktabilität (als Bedingung hoher Ereignishaftigkeit) 14 Impression = Versuch der Beeindruckung; ein Typus des Appells, der implizit den fiktiven Lesers entwirft 107 Inklusion der Figurenrede in den Erzähltext 155 Inszenierung fremder Innenwelt als Merkmal der Fiktion 36 Interferenz von Erzählertext und Figurentext 181,184 Introspektion des Erzählers in das Bewusstsein einer Figur 136 inventio (εΐρεσις) 252 Irreversibilität (als Bedingung hoher Ereignishaftigkeit) 17-18 Komposition der Erzählung (als Operation in der narrativen Konstitution) 274 Komposition des Erzähltextes (als Indiz für den Erzähler) 73 Konkretisierung der ausgewählten Geschehensmomente (als Indiz für den Erzähler) 73 Konsekutivität (als Bedingung hoher Ereignishaftigkeit) 16-17
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Konstitution - narrative 230 Kookkurrenz zwischen den Ordnungen von Diskurs und Geschichte 163 Kundgabefunktion 46, 73 Leser - abstrakter = Inhalt jener Vorstellung des Autors vom Empfänger, die im Text durch indiziale Zeichen fixiert ist 67-68 - fiktiver (narrataire, narratee, narratator) = Adressat des fiktiven Erzählers 100 - konkreter 44 Linearisierung des in der Geschichte simultan Geschehenden in einer Darbietungssequenz 253, 271 Markiertheit des Erzählers 75 Merkmale (für die Differenzierung von Erzählertext und Figurentext) - grammatische (der Personalform, des Tempus, des Zeigsystems) 186187 - ideologische 186 - der Sprachfunktion 187 - stilistische (der Lexik, der Syntax) 188 - thematische 186 Mimesis (im Sinne Aristoteles') 27-28, Mimesis (im Sinne Piatons) 27 Monolog - dialogischer 102 - innerer - direkter innerer 196 - erlebter innerer 196, 215 narrativ 1. (im engeren Sinne = Zustandsveränderungen mit Vermittlung einer Erzählinstanz darstellend) 9-10 2. (im weiteren Sinne = Zustandsveränderungen darstellend) 3, 9-10 Narrativität 1-2 Narratorialität 174 Negation der Wahl von Geschehensmomenten - aufzuhebende 270
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Nicht-Auswahl von Geschehensmomenten und Eigenschaften für die Geschichte 269 Neutralisierung (der Opposition von Erzählertext und Personentext) 190 Non-Iterativität (als Bedingung hoher Ereignishaftigkeit) 18 Orientierung = Ausrichtung des Erzählers am Adressaten; ein Mittel der impliziten Darstellung des Erzählers 106 Ornamentalismus (Überwiegen von unzeitlichen Verknüpfungen) 24-26 Parameter der Perspektive 130-131 Permutation der Segmente der Geschichte gegen die natürliche chronologische Folge 253, 271 Perspektive - distributive 151 - figurale 137 - ideologische 131-133 - kompakte 151 - narratoriale 137 - perzeptive 136-137 - räumliche 131 - sprachliche 134-135 - zeitliche 133-134 Perspektivierung als Implikat aller Transformationsoperationen 266 Präsentation der ausgewählten Geschehensmomente als Indiz für den Erzähler 73 Präsentation der Erzählung 253, 276 Prosa - ornamentale 24-26,159 Raffung 262 Rahmengeschichte 85 Realität einer Zustandsveränderung (als Bedingung für das Vorliegen eines Ereignisses) 12 Rede - direkte 194 - entpersönlichte direkte 196 - erlebte 194, 207 219 - freie indirekte 205-206
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- indirekte ( = indirekte Darstellung der Rede, Gedanken und Wahrnehmungen) 194, 202 - figurale indirekte 205 - narratoriale indirekte 204-205 Relevanz der Zustandsveränderung (als Bedingung hoher Ereignishaftigkeit) 14 Reproduktion (des Figurentextes im Erzähltext) 219 Resultativität einer Zustandsveränderung (als Bedingung für das Vorliegen eines Ereignisses) 12 Rezipient = im Gegensatz zum Adressaten der faktische Empfänger 43 - fiktiver = Figur einer primären Geschichte, die die Erzählung eines sekundären Erzählers aufnimmt 101 - idealer = eine der beiden Hypostasen des abstrakten Lesers 69 Selektivität der Geschichte hinsichtlich des Geschehens 263 Simultaneität (der durch unzeitliche Verknüpfungen verbundenen Geschehensmomente) 22 Sinnlinie = ideelle Linie, die der Erzähler durch die auszuwählenden Momente des Geschehens hindurchlegt 257 Situation s. Zustand Skaz - charakterisierender 173-174 - ornamentaler 173-174 Sukzessivität (der Geschehensmomente in der Geschichte) 25 Symptome s. indiziale Zeichen Text - erzählender narrativer = Text, der Zustandsveränderungen mit Vermittlung durch eine Erzählinstanz darstellt 9 - 1 0 - mimetischer narrativer = Text, der Zustandsveränderungen ohne vermittelnde Erzählinstanz darstellt 9-10 - narrativer = Text, der Zustandsveränderungen darstellt 7 - 9 - deskriptiver = Text, der Zustände darstellt 7 - 9 Textinterferenz s. Interferenz von Erzählertext und Figurentext Textmodus - narrativer 7 - 8 - deskriptiver 7 - 8 Transformationen (in der narrativen Konstitution) 230
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Glossar und Index narratologischer Begriffe
Uneindeutigkeit (als Wirkung der Textinterferenz) 225 Verbalisierung als konstitutive Operation der Präsentation der Erzählung (in der Literatur) 276 Verknüpfung - zeitliche 22 - unzeitliche = Verknüpfung nicht aufgrund temporaler oder kausaler Folge, sondern aufgrund von Äquivalenz 22 Vorkommnis = Zustandsveränderung, die einer Figur als einem Patienten zugefügt wird 3 Wahrnehmung - erlebte 214 Welt - dargestellte = Produkt der Tätigkeit des Autors 41 - erzählte = Produkt der Tätigkeit des fiktiven Erzählers 41 - zitierte = Produkt der erzählenden Tätigkeit der Person 41 Wertungshaltung (als Faktor der ideologischen Perspektive) 132 Wissen (als Faktor der ideologischen Perspektive) 132 Wortkunst (im Unterschied zur Erzählkunst) 160, 283 Zeichen - indiziale = Symptome, Anzeichen 46 Zustand = Menge von Eigenschaften, die sich auf eine Figur oder die Welt in einer bestimmten Zeit beziehen 3 Zustandsveränderung 3 Zweistimmigkeit (als Grundzug der Textinterferenz) 175
Index der Namen und Werke Kursiv gesetzte Seitenzahlen verweisen auf Fußnoten. Seiten, die unter dem Werk eines Autors aufgeführt sind, erscheinen nicht unter seinem Namen.
Abramov, Fedor 220 Abbott, Edwin A. Fiatland. A Romance of Many Dimensions 77-78 Anderegg, Johannes 32, 293 Andrievskaja, A. A. 214, 293 Angelet, Christian 118,121, 293 Apuleius Lucius Asinus aureus (Metamorphoseon libri) 76, 278 Aristoteles 14, 27-28, 29, 37, 287 De arte rbetorica 14 Astafev, Viktor P. Ode auf den russischen Gemüsegarten (Oda russkomu ogorodu) 90 Augustinus Aurelius Confessiones 97 Aumüller, Matthias 231, 293 Austen, Jane Emma 192 Austin, John Langshaw 30, 293 Babel', Isaak Ε. 165 Der Übergang über den Zbruc (Perechod cerez Zbruc) 165 Bachtin, Michail Μ. V, 48, 52-53, 59, 60,71,108-109,123,172-
173,183-184,192, 201, 212, 226, 228-229, 290, 293 Bai, Mieke 56-57, 85,103,118,121122, 228, 249-251, 255, 290, 294 Balcerzan, Edward 49, 294 Bally, Charles 193, 222, 225, 227, 294 Banfield, Ann 78,193, 207, 227, 229, 294 Barthes, Roland 6, 52-53, 74,100, 246, 294 Bartoszydski, Kazimierz 44, 294 Beardsley, Monroe C. 51, 317 Belyj, Andrej 160 Petersburg (Peterburg) 164 Die silberne Taube (Serebrjanyj golub') 181 Die Symphonien (Simfonii) 164 Benveniste, Emile 51, 246, 294 Berend, Alice Die Bräutigame der Babette Bomberling 147, 209 Jungfrau Binchen und die Junggesellen 212 Berendsen, Marjet 120, 295 Blin, Georges 118, 295 Bonheim, Helmut 115, 295
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Index der Namen und Werke
Booth, Wayne C. 50-52, 54-56, 61, 65, 76, 94, 295 Borges, Jorge Luis La forma de la espada 91 Boyd, John D. 28, 295 Bremond, Claude 247, 295 Breuer, Horst 94, 295 Broich, Ulrich 138, 295 Bronzwaer, W. J. M. 55, 56, 63, 122, 228, 295 Brooks, Cleanth 118, 295 Browning, Gary L. 160, 295 Brugmann, Karl 32, 295 Bühler, Karl 32, 46,73,159,184185, 295 Bühler, Willi 192, 214, 217, 295 Bulachovskij, L. A. 205, 295 Bunin, Ivan A. Λτκ Ausgang der Tage (U istoka dnej) 90 Leichter Atem (Legkoe dychanie) 238-242 Burgmann-Schmid, Irina 177 Busch, Ulrich 32, 75, 295 Caesar Gaius Iulius Commentarii de Bello Gallico 90, 191 Camus, Albert La Chute 112 tapek, Karel Der Dichter (Basnik) 132-133 Erzählungen aus der einen Tasche (Povidky ζ jedne kapsy) 132 Carden, Patricia 160, 296 Cassirer, Ernst 163, 296 Cechov, Anton Pavlovic 13,17, 70, 217, 220, 228-229 Die Bauern (Muziki) 228 Die Braut (Nevesta) 15,17-18, 26
Die Dame mit dem Hündchen (Dama s sobackoj) 19, 26, 220 Ein Ereignis (Sobytie) 14 lonyc 26 Der Literaturlehrer (Ucitel' slovesnosti) 15-17 Rothschilds Geige (Skripka Rotsil'da) 165-167, 220, 260262, 275-276 Seelchen (Dusecka) 18, 26, 267268,278 Springinsfeld (Poprygun'ja) 26 Der Student (Student) 145-146, 151-152, 219-220 ternysevskij, Nikolaj G. Was soll man tun (Cto delat') 199 Cervantes Saavedra Miguel de Coloquio de los perros 76 Novelas ejemplares 76 Cervenka, Miroslav 49, 66, 296 Chanpira, E. 123, 296 Chatman, Seymour 3,10, 51, 5455, 61, 63, 78-79, 246, 288, 296 Cilevic, Leonid Μ. 231, 296 Coetzee, J. Μ. The Master of Petersburg 211-212 Cohn, Dorrit 30-31, 34,36, 87, 94, 117,137, 217, 258, 296 Conan-Doyle, Arthur 95 Crittenden, Charles 31, 296 Cudakov, Aleksandr P. 47,168169, 220, 228, 296 tudakova, Marietta 0.168-169, 296 Culler, Jonathan 255, 296 Curtius, Ernst Robert 154, 253, 297 Danneberg, Lutz 51, 297 Diaz Arenas, 44, 297
Index der Namen und Werke Dibelius, Wilhelm 231, 297 Diengott, Nilli 54, 297 Diomedes, 87,154 Dolezel, Lubomir 11, 29, 37, 41, 88, 157,158,184-185,188,189,193, 1%, 222, 231, 290, 297 Dostoevskij, Fedor M. 13, 62, 69, 155,192, 201, 205 Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (Zapiski iz podpol'ja) 58, 9 8 - 9 9 , 1 0 6 , 108,112-114,126,173,169 Die Brüder Karamazov (Brat'ja Karamazovy) 17, 40, 60, 62, 75, 95,128,136,168, 201 Die Dämonen (Besy) 96,127, 136 Der Doppelgänger (Dvojnik) 143, 150-151,192,199-200, 2 0 5 206, 213-216 Eine dumme Geschichte (Skvernyj anekdot) 183, 219, 227 Der ewige Ehemann (Vecnyj muz) 80-81,139-140, 201 Herr Procharcin (Gospodin Procharcin) 206 Der Jüngling (Podrostok) 86, 9496, 98,108,112,139,147,150, 157,191, 201-202, 218 Nettchen Nezvanova (Netocka Nezvanova) 217 Die Sanfie (Krotkaja) 112-113, 139,148 Drozda, Miroslav 123, 297 Dujardin, Edouard 298 Les lauriers sont coupes 199 Dupont-Roc, Roselyne 27, 298 Easthope, Anthony 51, 60 Eckermann, Johann Peter 11 Eco, Umberto 51, 298
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Ejchenbaum, Boris M. 170-172, 180, 236, 298 Else, Gerald F. 28, 298 Engj a n van der 70, 298 Evdokimova, Svetlana 52, 298 Fehr, Bernhard 214, 298 Feuchtwanger, Lion Der jüdische Krieg 146, 211 Fieguth, Rolf 44, 4 9 - 5 0 , 298 Flaubert, Gustave 50 Madame Bovary 20,193, 210211 Fludernik, Monika 91,187, 210, 227, 229, 249, 2 9 8 - 2 9 9 Forster, Edward M. 5, 7, 36, 248, 287, 299 Foster, Ludmila A. 123, 299 Foucault, Michel 53, 2 9 9 Frank, Bruno Tage des Königs 209 Frank, Joseph 25, 299 Freise, Matthias 52, 53, 298 Friedemann, Käte 1-2, 75, 298 Friedman, Norman 78, 83, 298 Frisch, Max Stiller 33 Füger, Wilhelm 83-84, 92, 299 Fuhrmann, Manfred 28, 2 9 9 Gabriel, Gottfried 26, 2 9 9 Gajdar, Arkadij 217 Garcia Landa, Jose Angel 28, 249, 251, 290, 299 Gebauer, Gunter 27, 2 9 9 Genette, Gerard 6, 7, 27, 28, 31, 32, 33, 34, 36, 38, 55-56, 58, 6 7 68, 85, 87, 88-89, 91, 95,100, 101,103,115,116,117-122,128, 130,138,149, 228, 249, 251, 263-265, 288, 290, 2 9 9 - 3 0 0
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Index der Namen und Werke
George, Stefan 161 Gersbach-Bäschlin, Annette 217, 300 Glauser, Lisa 192, 300 Glowmski, Micha! 65-66,102,112, 300 Gofman, Viktor 168, 300 Gogol', Nikolaj V. 170,180,192 Abende auf dem Vorwerk bei Dikan'ka (Venera na chutore bliz Dikan'ki) 104,176,181 Der Mantel (Sinei') 170,180, 216-217 Der Revisor (Revizor) 127 Gogotisvili, Ljudmila A. 60, 71, 300 Gölz, Christine 47, 300 Goncarov, Ivan A. 192 Goethe, Johann Wolfgang 11 Die Wahlverwandtschaften 192 Goetsch, Paul 105, 300 Grabienski, Olaf 178 Greimas, Algirdas Julien 247, 300 Grimm, Gunter 67-68, 300 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von Simplicissimus 97 Gukovskij, Grigorij A. 123, 300 Günther, Werner 223, 229, 300 Gurvic, Isaak A. 123, 300 Haard, Eric A. de 82, 300 Haller, Rudolf 41,301 Hamburger, Käte 27, 28, 31-35, 37, 74, 78, 94,147, 209, 217, 287, 301 Hansen-Löve, Aage 37,160,163, 170, 231, 242,301 Harweg, Roland 82,106, 301 Heine, Heinrich 99 Hemingway, Ernest 78-79
Hempfer, Klaus 31, 53, 301 Herdin, Elis 209,301 Herman, David VI, 301 Herman, Jan 118,121, 293 Hesse, Hermann Der Steppenwolf217 Hödel, Robert 192, 302 Hoek, Leo H. 44, 55, 302 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus Lebensansichten des Katers Murr 76 Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza 76 Hofmannsthal, Hugo von 161 Holthusen, Johannes 205, 219, 220, 302 Holy, Jiri 185, 302 Homer Ilias 155-156 Hoops, Wiklef 29, 302 Horälek, Karel 32, 302 Hrabal, Bohumil Scharf bewachte Züge (Ostfe sledovane vlaky) 100 Hühn, Peter 11, 22, 60 Il'in, I. P. 53, 68, 78,100,118,302 Ingarden, Roman 38, 263, 269, 302 Iser, Wolfgang 51, 66-67,302 Ivancikova, E. A. 47, 302 Jahn, Manfred 3, 85,115,302 Jakobson, Roman V, 23, 24,161, 233, 302-303 James, Henry 10, 78, 84,115,130 James, William 200 Janik, Dieter 41, 44, 303 Jannidis, Fotis 51, 55,132,303 Jasmska, Maria 102,303
Index der Namen und Werke
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Jauß, Hans Robert 193, 303 Jedlickovä, Alice 101, 303 Jekutsch, Ulrike 210, 303 Jensen, Peter Alberg 160, 303 Jost, Fran?ois 120, 303 Joyce, James Ulysses 200, 210 Juhl, Peter D. 52, 303
Kozevnikovä, Natal'ja A. 90,159, 160,164,173,179, 219, 220, 305 Koziol, H. 32, 305 Kracht, Christian Faserland 178 Kristeva, Julia 52, 305 Krojcik, L. E. 169, 308 Kulimann, Dorothea 210, 211, 305
Kablitz, Andreas 118,120, 303 Kafka, Franz Ein Bericht für eine Akademie 76 Forschungen eines Hundes 76 Das Schloss 94, 217 Kahrmann, Cordula 44,304 Kainz, Friedrich 46, 304 Kalepky, Theodor 225, 304 Kannicht, Richard 28, 304 Karamzin, Nikolaj M. Die Arme Liza (Bednaja Liza) 93, 97,101,191, 277 Natal'ja, die Bojarentochter (Natal'ja, bojarskaja doc') 93 Kassil, Lev Α. 217 Katkov, Michail Ν. 266 Kayser, Wolfgang 99,304 Keil, Rolf-Dietrich 105 Keller, Gottfried Der grüne Heinrich 94 Kindt, Tom VI, 50, 51, 52, 54-55, 304 Klepper, Martin 192, 304 Kohl, Stephan 27, 304 Koller, Hermann 27, 304 Korman, Boris O. 48-49, 66,304 Korolenko, Vladimir 217 Körte, Barbara 91, 305 Korthals, Holger 3, 5, 6, 305 Kovtunova, 1.1.196, 305 Kozevnikovä, Kveta 175,305
Labov, William 15 Liftman, Emil 226,305 Lallot, Jean 27, 305 Lamarque, Peter 30, 305 Lanser, Susan S. 52, 95,116, 305 Lauer, Gerhard 305 Leibfried, Erwin 84, 94, 305 Leonov, Leonid Μ. Egoruskas Untergang (Gibel' Egoruski) 181 Tuatamur 181 Lerch, Eugen 192, 207, 223, 305306 Lerch, Gertraud 187, 222, 306 Lermontov, Michail Ju. 182, 277 Ein Held unserer Zeit (Geroj nasego vremeni) 59, 96 Lesage, Alain-Rene Histoire de Gil Blas de Santillane 95 Leskov, Nikolaj S. 171 Levin, V. D. 160, 306 Lichacev, Dimitrij S. 47, 306 Link, Hannelore 44, 67-68, 306 Lintvelt, Jaap 44, 54, 68, 70, 82, 83, 115,123,127-128,133,137,138, 289, 306 Lips, Marguerite 192, 222, 306 Lockemann, Wolfgang 32, 306 Lorck, Etienne 182, 223, 306 Löschnigg, Martin 34, 306
332
Index der Namen und Werke
Lotman, Jurij Μ. V, 11,12,14, 286, 306-307 Lubbock, Percy 10, 78, 83,115,130, 307 Lucius Apuleius Asinus aureus 76 Luhmann, Niklas 261, 307 Lukian Lukios, der Esel (Λούκιος ή όνος) 76 Lukios von Patrai Metamorphosen (Μεταμορφώσεων λόγοι) 76 Mann, Thomas Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull 97, 99, 217 Königliche Hoheit 146 Lotte in Weimar 147 Oer Tod in Venedig 6 Märchen aus Tausend und einer Nacht 85 Markovii, Vladimir M. 52, 307 Markus, Manfred 115, 307 Martinez, Matias 5-6, 33-34,130, 249, 264,307 Martinez Bonati, Felix 30, 31, 38, 307 Mathauserovä, Svetla 123, 307 Matlaw, Ralph E. 75, 307 McHale, Brian 207, 307 Meijer, Jan M. 75, 307 Meister, Jan Christoph VI, 7,12, 285,307 Melville, Herman Moby Dick 99 Moll Flanders 99 Meyer, Kurt Robert 217,307 Moenninghof, Burkhard 33,308 Morrison, Sister Kristin 130,308 Mukarovsky, Jan 49, 308
Müller, Günther 263, 308 Müller, Hans-Harald VI, 50, 51, 52, 54-55, 308 Muscenko E. G. 169, 308 Nabokov, Vladimir V. Das Auge (Sogljadataj) 91 König, Dame, Buhe (Korol', dama, valet) 58 Schwerer Rauch (Tjazelyj dym) 90 Neschke, Ada B. 27, 308 Nestorchronik 192 Neubert, Albrecht 182,192, 223, 308 Neuse, Werner 192, 308 Nibelungenlied 192 Nünning, Ansgar VI, 52, 54-55, 76, 85,115,121, 258, 285, 308309 Ohmann, Richard 30, 309 Okopieii-Slawmska, Alexandra 44, 49-50,103,309 Olsen, Stein Haugom 30, 305 Orwell, George Nineteen Eighty-four 40 Oulanoff, Hongor 160,309 Paduceva, Elena V. 87, 88, 92,103, 185,193, 205, 227, 309 Panova, Vera 220 Parsons, Terence 41, 309 Pascal, Roy 192, 207, 309 Paschen, Hans 44,309 Pavel, Thomas G. 37, 41, Paschen, Hans 44,309 Peirce, Charles Sanders 46, 49, 309 Penzkofer, Gerhard 82, 309 Peskovskij, Α. M. 203, 309
Index der Namen und Werke Petersen, Jürgen H. 32, 81, 9 3 - 9 4 , 116,138,309 Petrov-Vodkin, K. S. Chlynovsk. Meine Erzählung (Chlynovsk. Moja povest') 9 0 Petrovskij, Michail A. 236-237, 239, 244, 247, 290, 309 Philippe, Charles Louis Bubu de Montparnasse 81 Pier, John 6, 249, 309-310 Piaton 29, 86,118 Der Staat (Res publica) 10, 2Π, 28,154-156 Polletta, Gregory T. 52, 310 Pomorska, Krystyna 24, 303 Potebnja, Aleksandr A. 160 Pouillon, Jean 118-119, 310 Povolockaja, Irina Zeiteinander (Raznovrazie) 177 Pratt, Mary Louise 106,310 Prince, Gerald 3, 4, 7,100,106, 310 Propp, Vladimir Ja. V, 247, 310 Proust, Marcel A la recherche du temps perdu 265 Puskin, Aleksandr S. 5,192 Die Erzählungen Belkins (Povesti Belkina) 164, 265-267, 269 Evgenij Onegin 105-106, 232233 Fräulein Bäuerin (Barysnja krest'janka) 267 Der Gefangene im Kaukasus (Kavkazskij plennik) 228 Die Hauptmannstochter (Kapitanskaja docka) 217 Pique Dame (Pikovaja dama) 272-274 Der Sargmacher fGrobovscik) 267 Der Schneesturm (Metel') 266
333
Der Stationsaufseher (Stancionnyj smotritel') 21, 85, 96,101-102, 267, 2 6 9 270, 272 Der Schuss (Vystrel) 9 6 , 1 4 0 142, 266, 272 Rasch, Wolfdietrich 32, 310 Reformatskij, Aleksandr 236 Rehbein, Jochen 256, 310 Reiß, Gunter 304 Remizov, Aleksej M. 171 Renner, Karl Nikolaus 12 Ricoeur, Paul 28, 258, 310 Riffaterre, Michel 34, 310 Rilke, Rainer Maria Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke 161162 Rimmon-Kenan, Shlomit 51, 54, 55, 62, 67, 85,103,118,123,134, 247, 249, 251, 255, 289, 310 Robbe-Grillet, Alain La Jalousie 91, 280 Romberg, Bertil 85, 310 Rühling, Lutz 26, 29, 310 Ryan, Marie-Laure 78-80, 81, 310 Rymar', Nikolaj 46, 48 61, 66, 310 Schaper, Edzard Der letzte Advent 209 Scheffel, Michael 5 - 6 , 33-34,130, 249, 264, 307 Schernus, Wilhelm 77 Schissel von Fleschenberg, Otmar 231, 237, 311 Schluchter, Manfred 304 Schmid, Wolf 5, 41, 43-45, 46, 55, 56, 60, 62, 66, 70-71, 75, 81, 82, 94,106,117,123,160,163,164,
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Index der Namen und Werke
165,181,184,192, 220, 228, 231, 261, 263, 261, 214, 311-312 Schnitzler, Arthur Lieutenant Gustl 199 Der Sekundant 217 Schönert, Jörg 285,312 Searle, John R. 27, 30-31, 32, 33, 34, 80, 287, 312 Seemann, Klaus-Dieter 246, 312 Segal, Dimitrij M. 123, 312 Seidler, Herbert 32, 312 Seuffert, Bernhard 231 Shipley, Joseph T. 76, 312 Shukman, Ann 123, 312 Simmel, Georg 257, 312 Sklovskij, Viktor Β. V, 160,114, 231-237, 242, 244, 247, 250, 252, 290, 312-313 Skobelev, Vladislav 46, 48, 61, 66, 169, 308, 310 Slawinski, Janusz 49, 313 Slykova, M. A. 214, 313 Smith, Barabara Herrnstein 30, 313 Sokolova, Ljudmila A. 196, 202, 211, 223, 224, 225, 313 Sokrates 29 Solzenicyn, Aleksandr I. Ein Tag im Leben des Ivan Dentsovic (Odin den' Ivana Denisovica) 221-222 Sor, Rozalija 231, 233, 313 Sörbom, Göran 27,313 Souriau, Etienne 81, 313 Spielhagen, Friedrich 1, 313 Spitzer, Leo 81, 81, 201, 207, 212, 219, 225, 229,313 Stanzel, Franz K. 2, 32, 81, 93-94, 99,116-118,130,131,138,139, 223,313 Steinberg, Günter 182, 201, 210, 314
Steiner, Wendy 123, 314 Stempel, Wolf-Dieter 4, 49, 314 Stepanov, Nikolaj 168, 314 Sternberg, Meir 246, 249, 314 Sterne, Laurence The Life and Opinions of Tristram Shandy Gentleman 232, 280 Stierle, Karlheinz 250-251, 255, 290, 314 Striedter, Jurij 232, 233, 314 Struve, Gleb 160,199,314 Sturgess, Philip J. M. 314 Suksin, Vasilij M. 220 Szilard, Lena 160, 314 Tamarcenko, Natan D. 2,115,116, 314 Tendrjakov, Vasilij F. 220 Thürnau, Donatus 30, 314 Titunik, Irwin R. 114, 315 Titzmann, Michael 4,12,16,315 Tobler, Adolf 225, 315 Todemann, Fritz 211, 315 Todorov, Tzvetan V, 1, 6, 53,118119,123, 236, 242, 244, 246-247, 251, 253, 255, 290, 315 Tolmacev, V. M. 115,315 Tolstoj, Lev N. 13, 38, 45, 62, 70, 204, 233, 266 Anna Karenina 38,139,144145, 252, 262, 271, 275 Die Kreutzersonate (Krejcerova sonata) 58 Krieg und Frieden (Vojna i mir) 11, 35, 39, 40, 41,135,142143,148,197-200, 204, 207, 215, 259, ΤΠ, 287 Der Leinwandmesser (Cholstomer) 76-77, 85
Index der Namen und Werke
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Sevastopol' im Dezember (Sevastopol' ν dekabre mesjace) 92 Sevastopoler Skizzen 199 Der Teufel (D'javol) 59 Der Tod des Ivan Wie (Smert' Ivana Il'ica) 30 Vater Sergius (Otec Sergij) 59 Tomasevskij, Boris V. V, 4, 5, 8, 236, 242-247, 251, 253, 255, 290,315 Toolan, Michael J. 54,103, 315 Trifonov, Jurij V. 220 Turgenev, Ivan S. As ja 218 Tynjanov, Jurij Ν. V, 61,160,171172,181, 235, 240-241, 290, 316
Walzel, Oskar 1, 225, 317 Warren, Robert Penn 118, 255, 317 Weber Dietrich, 5, 317 Weidle, Wladimir 27, 317 Weimar, Klaus 32, 74, 86, 317 Weinrich, Harald 33, 317 Wellek, Rene 255, 317 Werlich, Egon 26,317 Weststeijn, Willem 47, 57-58, 317 White, Hayden 257, 258, 317 Wimsatt, William K. 51, 317 Wolff, Erwin 67, 318 Wolfram von Eschenbach
Unbegaun, Boris 266, 316 Uspenskij, Boris Α. V, 60,71,123128,133,135-136, 289,316
Yevseyev, Vyachselav 12
Vaihinger, Hans 27, 316 Valk, Frans de 123, 316 Verschoor, Jan Adriaan 192, 316 Veselovskij, Aleksandr N. 160 Vinogradov, Viktor V. 46-49, 59, 123,172,181, 316 Vitoux, Pierre 121, 316 Volek, Emil 231, 232, 236, 242, 316 Volosinov, Valentin Ν. V, 123, 183-184,192,196, 203-204, 222, 225, 226, 227-229, 290, 316-317 Vygotskij, Lev S. 238-241, 247, 290, 317 Vykoupil, Susanna 210, 317
Parzival 20 Woolf, Virginia Mrs. Dalloway 147 Wulf, Christoph 27, 299
Zalygin, Sergej P. 220 Zamjatin, Evgenij 1.165 Die Höhle (Pescera) 167 Die Überschwemmung (Navodnenie) 165 Zholkovsky, Alexander 239, 318 Zimmermann, Friedrich Wilhelm 32,318 Zipfel, Frank 26, 29, 30, 31, 34, 41, 53,104, 318 Zirmunskij, Viktor M. 160, 231, 236,318 Zolkiewski, Stefan 123,318 Zoscenko, Michail M. 171,175 Die Aristokratin (Aristokratka) 176-177 Zuckerkandl, Viktor 28,318