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German Pages 444 [448] Year 1990
de Gruyter Lehrbuch
W G DE
Martin Honecker
Einführung in die Theologische Ethik Grundlagen und Grundbegriffe
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1990
Die wissenschaftliche Leitung der theologischen Lehrbücher im Rahmen der „de Gruyter Lehrbuch"-Reihe liegt in den Händen des ord. Prof. der Theologie D. Kurt Aland, D. D., D. Litt. Diese Bände sind aus der ehemaligen „Sammlung Töpelmann" hervorgegangen.
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CI P-Titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Honecker, Martin: Einführung in die theologische Ethik / Martin Honecker. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1990 (De-Gruyter-Lehrbuch) ISBN 3-11-008146-6
© Copyright 1990 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30 Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Vorwort I. Der Schwierigkeit, eine „Einführung" in die evangelische Ethik zu verfassen, wird man erst ganz inne, wenn man sich daran macht, ein solches Vorhaben selbst zu verwirklichen. „Einführen" — introducere, auch importare oder invehere — heißt eine Sache vorstellen, sie bekanntmachen, mit ihr vertraut machen. Wer einführt, will einen Uberblick über ein Thema, einen Gegenstand, einen Sachverhalt geben. Einführen heißt aber auch: „einarbeiten". In diesem doppelten Sinne hat eine Einführung also sowohl einen Überblick über Fragestellungen der Ethik zu geben wie eine Anleitung zur ethischen Argumentation zu leisten. Aber was ist die „Sache", in welche theologische Ethik einführen soll? Wenn es um Aufgabe und Zielsetzung theologischer Ethik geht, so ist in der evangelischen Theologie der Gegenwart keineswegs klar und unumstritten, um was es denn überhaupt dabei gehen soll. Man kann verschiedene Intentionen mit einer theologischen Ethik verbinden. (Einmal) kann man erwarten, daß eine „theologische Ethik" eine theologische Begründung der Ethik, des Handelns der Christen gibt. In einer zugespitzten Fassung hat dann theologische Ethik die theologischen Aussagen der Dogmatik oder der Bibel auf das Handeln von Christen und auf Lebensfragen anzuwenden. Theologische Aussagen dienen dann vor allem der Begründung im Sinne einer Legitimation. Nun kann man freilich schon bei A. Schopenhauer lesen: „Moral predigen ist leicht, Moral begründen ist schwer". „Moral predigen" meint hier: zu einem moralischen Leben aufrufen, Moral propagieren. Aber wissen wir wirklich immer, was das moralisch Geforderte und sittlich Richtige tatsächlich ist, was verantwortbar ist? Daher kann man (zum zweiten) von einer theologischen Ethik erwarten, daß sie über ethisch bedeutsame Sachverhalte informiert und ethische Argumentationen vorstellt. Ethik wird dann eher deskriptiv, beschreibend, analytisch verstanden. Zum zentralen Problem einer solchen Auffassung von Ethik wird dann die Vermittlung zwischen Sachdarstellung, allgemeinen ethischen Bewertungen und theologischer Beurteilung. Was ist
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Vorwort
dann aber das besondere Christliche, das christliche Proprium der Ethik, und wie ist dieses Proprium angemessen zur Geltung zu bringen? Eine solche Auffassung von Ethik fordert nicht notwendig den Verzicht auf theologische Perspektiven. Aber die Begründungsfrage stellt sich hier anders. „Begründen" bedeutet hier nicht legitimieren, sondern Gründe nennen, Argumente darlegen und abwägen. Begründen im Sinne von überzeugen bedeutet dann, erklären, warum man zu bestimmten Wertungen und Vorschlägen kommt. Und (schließlich) kann man theologische Ethik als Ethik für Theologen im kirchenleitenden Amt verstehen. Dabei ist „Kirchenleitung" im Sinne Schleiermachers als Ausübung einer kirchlichen Berufstätigkeit zu verstehen. In der Tat gibt es nicht nur eine Ethik, welche aus der Theologie folgt, sondern ebenso eine Ethik für Theologie und Kirche, eine Bewertung theologischer Aussagen, kirchlicher Forderungen und kirchlichen Handelns anhand ethischer Kriterien und Maßstäbe. Theologische Ethik ist häufig auch als Pastoralethik, als Anleitung für die Berufsausübung des Pfarrers verstanden worden. Es geht beispielsweise um die Glaubwürdigkeit christlicher Ansprüche, die mit der eigenen Praxis in der Kirche, aber auch mit der Universalisierbarkeit zu tun hat. Menschenrechte, Toleranz, sogar die Forderung der Glaubensfreiheit, der Umgang mit dem Pluralismus und die Fähigkeit zur Verständigung, zum Kompromiß sind auch innerkirchlich bedeutsam und ein Prüfstein für die Glaubwürdigkeit von Forderungen, die man nach außen hin erhebt. Der Ansatz der Überlegungen in diesem Studienbuch versucht allen drei Intentionen im Kern gerecht zu werden. Zurückhaltend bin ich freilich gegenüber allen emphatischen Postulaten einer (absoluten) theologischen Begründung. Denn alle derartigen Begründungsansprüche können leicht zum Zweck ideologischer Sanktion und Legitimation mißbraucht werden. Deshalb suche ich vor allem das Handlungsfeld der Ethik zu beschreiben und zu vermessen. Nach einer Aufgabenbeschreibung (Kapitel 1) werden „Theologische Voraussetzungen der Ethik" (Kapitel 2) vorgestellt. Das Wort „Voraussetzungen" ist dabei in dem Sinne gemeint, daß es um theologische Grundlegungen geht, die ebenso in der Fundamentaltheologie, der theologischen Anthropologie, der Dogmatik erörtert werden können. Das 3. Kapitel behandelt „Ethische Grundbegriffe". Daran wird deutlich, daß ich nicht eine bestimmte ethische Methode und Theorie als allein gültig übernehmen kann. Der Pluralismus ethischer Ansätze und Methoden ist ein Faktum, dem ein Lehr- und Studienbuch Rechnung zu tragen hat. Man kann allenfalls den Versuch zu einer Integration unter-
Vorwort
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schiedlicher Ansätze und Fragestellungen machen. Bemängeln mag man, daß dieser Entwurf keine ausgeführte Methodenlehre enthält. Aber ich versuche in dieser „Einführung" Sachfragen so zu verdeutlichen, daß die ethischen Argumentationsverfahren indirekt zu erschließen sind. Aber ich bin mir durchaus bewußt, daß diese Einführung keine Methodenlehre der Ethik enthält. Das 4. Kapitel „Normen und Werte" greift ein besonders umstrittenes Thema evangelischer Ethik auf. Während katholische Moraltheologie traditionell, nicht zuletzt aufgrund des Naturrechts und in Form einer kasuistischen Gesetzesauslegung, von vorgegebenen Maßstäben, „Normen" ausgeht, ist evangelische Ethik oftmals entweder nur an der Konstitution des ethischen Subjekts, an der existentiellen Forderung ausgerichtet; oder sie wird bewußt situationsethisch konzipiert. Die Frage nach den Normen und Werten ist freilich inzwischen unübersehbar geworden. Gibt es einen „evangelischen" Zugang zu und einen „evangelischen" Umgang mit Normen und Werten? Die bloße Orientierung an der Bibel als Norm reicht hier noch nicht zu. Zwischen biblischer Exegese und ethischer Reflexion besteht ja eine Kluft, die nicht zu übersehen ist. Beide sprechen ja durchaus auch eine verschiedene Sprache. Das 5. Kapitel „Quellen christlicher Ethik" benutzt deshalb bewußt das Wort „Quellen". Es erinnert damit an den Ursprung christlichen Glaubens und Lebens. Anders als eine fundamentalistische Auffassung von der Bibel als Norm der Ethik kann historisch-kritische Exegese den Wortlaut der Bibel nicht als zeitlos gültige Autorität und Norm anerkennen. Die formale Berufung auf die biblische Norm kann daher kein Ersatz für eine sachlich begründete Argumentation sein. Dazu kommt, daß zwischen Bibel und Gegenwart eine Geschichte der Aufnahme und Auslegung der Bibel als Heilige Schrift zu bedenken ist. Darauf will die Berücksichtigung der Geschichte christlicher Ethik aufmerksam machen. In diesem Zusammenhang kann auch die spezifisch konfessionelle Prägung evangelischer Ethik Platz finden, namentlich der Ansatz der Ethik beim Reformator Martin Luther. Das 6. Kapitel „Sozialethische Grundfragen" leitet zum 2. Band über, der eine materiale Sozialethik enthalten soll. Diese „Sozialethik" steht unter dem Leitbegriff einer Verantwortungsethik. Sie soll die Ethik der verschiedenen menschlichen Lebensbereiche als Güterethik entfalten. Leben und Gesundheit (medizinische Ethik), Ehe, Familie und Sexualität, Natur als Umwelt, Politik und Staat, Wirtschaft und Kultur sind dem Menschen als Güter vorgegeben und anvertraut, die er in Verantwortung zu erhalten, zu gestalten und zu fördern hat. „Theologische Weltdeutun-
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Vorwort
gen" (wie Zweireichelehre oder Königsherrschaft Christi) entschlüsseln die mit dem menschlichen Dasein und dem Leben insgesamt gegebenen, geschichtlich vermittelten Güter. Als Abschluß der Sozialethik ist dann die Aufgabe der Kirche in der Gesellschaft zu bedenken. Die vorliegende Einführung beendet im Kapitel 7 ein Ausblick auf „Grenzen der Ethik". Damit soll unterstrichen werden, daß Ethik nicht der Inbegriff schlechthin wahrhaft menschlichen Lebens ist, sondern nur ein wichtiger Aspekt menschlicher Existenz. Nach evangelischer Überzeugung lebt der Mensch nicht kraft eigener Leistung, sondern er ist Geschöpf Gottes und lebt von Gottes Gnade. Dessen ist sich der Christ in besonderer Weise bewußt: „Iustus ex fide vivit". II. Eine eigene Überlegung verdient der Argumentationsstil der Ethik. Unübersehbar besteht ein „Bedarf an Ethik"; der Verlag hat auch deshalb den Verfasser zur Veröffentlichung gedrängt. Ethik und Ethiker sind als Partner im gesellschaftlichen Diskurs angesprochen. Die Frage nach dem Beitrag oder gar nach der Antwort der Ethik wird oftmals gestellt. „Ethik" hat derzeit Konjunktur. Die Nachfrage nach einem Beitrag der Ethik (oder der Ethiker) zu kontroversen gesellschaftlichen Diskussionen ist groß. Wie kann die Ethik freilich diese Nachfrage befriedigen? Um diese Frage überhaupt beantworten zu können, ist zunächst einmal zu klären, worin denn überhaupt ein „Bedarf" an Ethik besteht. Wer einen Bedarf anmeldet, erweckt den Eindruck eines Mangels und erhebt den Wunsch, diesem Mangel abzuhelfen; er fühlt sich bedürftig, er hat ein „Bedürfnis". Eine solche Nachfrage nach Ethik kann freilich recht subjektiv begründet werden. Man mahnt oft mehr ein Defizit an ethischer Orientierung an, als daß man diesen Mangel objektiv — zumindest ansatzweise — aufzeigen und aufweisen will. Der Ruf nach Ethik ist dann auch reichlich rhetorisch. Nun ist zweifellos unbestreitbar, daß es ein Bedürfnis nach Ethik, oder sagen wir es vorsichtiger, nach moralischen Aussagen gibt. In der Diskussion um die Folgenabschätzung der Gentechnologie beispielsweise war der Vorwurf zu hören, auch die Theologen wüßten nicht, was in Zukunft auf diesem Gebiet richtig sei und sein werde. Dieser Vorwurf beklagt, daß es in der heutigen Gesellschaft keine Instanz und keine moralische Autorität mehr gebe, die so eindeutig und unumstritten anerkannt sei, daß sie sagen könne, was moralisch richtig oder falsch sei. Ein Verlangen an Ethik entspringt also zunächst häufig einer
Votwort
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allgemeinen Verunsicherung. Verunsicherung muß freilich nicht immer dasselbe sein wie Ratlosigkeit. Theologie und Kirche werden häufig von den Politikern und Repräsentanten der öffentlichen Meinung als Hüter der Moral angesprochen. Die Themen, zu denen die Ethik gefragt wird, sind jeweils vielfältig. Nicht nur die Gentechnologie oder die ethische Verantwortbarkeit der Kernenergie stehen zur Debatte; auch bei der Friedenspolitik, etwa der Abschreckungstheorie, der ethischen Bewertung des Asylrechts, dem politischen Umgang mit Problemen der Ausländer und Aussiedler melden sich die Kirchen mit Stellungnahmen zu Wort. Aus Anlaß der Gesundheitsreform wurde beispielsweise die Frage aufgeworfen, was die christliche Ethik und die kirchliche Erziehung denn zu Mündigkeit, Eigenverantwortung und Solidarität sage. Gewerkschaften und Arbeitgeber wollen die kirchliche Wertung des Sonntags mit in ihre eigene Interessenlage einbeziehen, wenn es um die Ausweitung der Wochenendarbeit geht. Genug der Beispiele! Der Anlässe sind somit mehr als genug, bei denen die Frage gestellt werden kann: Und was sagt die (christliche) Ethik dazu? Man hat freilich zu prüfen, welchem Zweck dieser Beitrag zur Ethik dient. Wollte man von der Ethik (bzw. den Ethikern oder den Vertretern der Kirche) das alle Probleme lösende Wort erwarten, so würde man sie überfordern. Denn in allen Sachfragen hat der Ethiker kein höheres Wissen und keine bessere Einsicht in das Notwendige als sie jeder vernünftige und verständig Denkende haben kann, der sich die Mühe macht, über die Sachverhalte und die Streitfragen sich zu informieren und kundig zu machen. Häufig will man jedoch gar keinen Rat haben, der die eigene Meinung und Position zu überdenken nötigen könnte, sondern man sucht die Autorität der Kirche oder der Ethik für den eigenen Standpunkt und die eigenen Interessen zu gewinnen und zu beanspruchen. Die Nachfrage nach Ethik dient dann vor allem der Legitimation oder, falls die eigene Position in der Minderheit sein sollte, der Bestärkung der abweichenden Meinung und der Kritik. Die Inanspruchnahme eines höheren moralischen Rechts stützt die eigenen politischen Forderungen ab. Ein Bedürfnis nach Legitimation und ein Interesse an Moralisierung sind oft der Anlaß, die Forderung zu erheben, daß es einen „Bedarf an Ethik" gebe. Denn wer das moralische Recht für sich und seine Sache ins Feld führen kann, hat es leichter, politische Akzeptanz geltend zu machen. Ethik wird dadurch zum Mittel, zum Instrument, um für Akzeptanz zu werben. Das Bedürfnis nach Ethik wird damit instrumentalisiert; es wird für andere Zwecke instrumentalisiert als dies die Suche nach dem meint, was im Einzelfall richtig oder falsch im
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Vorwort
Handeln und gut oder schlecht im Leben ist. Ethik, die sich auf den so ermittelten Bedarf oder auf ein so artikuliertes Bedürfnis einläßt, wird zur Ideologie. Die Nachfrage nach Ethik verführt dann dazu, daß man als Ethiker mehr sagt an Rat und Empfehlung, an Anweisung und Normierung, als man verantwortlich und sachlich „eigentlich" vertreten und begründen kann. Keine Ethik verfügt nämlich über einen Vorrat an abrufbaren Einsichten für alle Lebenslagen. Sie teilt vielmehr die Ratlosigkeit und Verlegenheit der von neuen Herausforderungen, neuen Situationen und neuen Aufgabenstellungen Betroffenen. Sie kann allenfalls versuchen, zu klären, wie man mit derartigen Verlegenheiten und Ratlosigkeiten verständig und vernünftig umgehen kann. Versteht man die Aufgabe der Ethik als die eines Dialogpartners im Orientierungsprozeß der Gesellschaft, so besteht allerdings in der Tat ein echter Bedarf an Ethik. Die Aufgabe der Ethik besteht dann nicht darin, definitive Antworten zu geben, sondern übersehene, unbequeme Aspekte zur Sprache zu bringen, Stimme der Sprachlosen und zum Schweigen Gebrachten zu werden, den Blick über den Horizont der nächsten Zeit und des unmittelbaren Lebensraumes hinaus zu weiten, auf übergreifende Zusammenhänge aufmerksam zu machen — kurz, mitzudenken, Nachdenken und Aufeinanderhören zu fördern. Der Argumentationsstil der Ethik muß deshalb dialogisch sein. Toleranz und Offenheit für unterschiedliche Argumente sind notwendig. Man muß bereit sein, sich auf Einwände einzulassen, abzuwägen, Gegengründe gelten zu lassen. Kurzum: Die Ethik selbst wird abwägend, pluralistisch, vorläufig. III. Eine derartige offene, dialogische Auffassung von der ethischen Aufgabe setzt sich freilich dem Verdacht der Unverbindlichkeit und des Relativismus aus. Einer solchen toleranten, „liberalen" Sicht von Ethik wird der Vorwurf gemacht, sie scheue die Anerkennung absoluter Normen und verwische den Unterschied zwischen richtig und falsch, gut und böse. Der Verweis auf die Komplexität von Entscheidungslagen dient dann nur dazu — so der Einwand —, der Eindeutigkeit der ethischen Forderung auszuweichen. Ein Bedürfnis nach absoluter Verbindlichkeit, nach Autorität kommt damit ins Spiel. Die katholische Moraltheologie mag in ihren gegenwärtigen Konflikten mit der Autorität des römischen Lehramtes dafür paradigmatisch sein. Seit der Enzyklika „Humanae vitae" Papst Pauls VI.
Vorwort
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gibt es Konflikte um die Sexualmoral, die zur Verweigerung kirchlicher Lehrbefugnis — des „Nihil obstat" — für Moraltheologen geführt haben. In diesen Kontext gehört auch die Auseinandersetzung um eine „autonome Moral". Ein weiteres Beispiel ist der Streit um die „Theologie der Befreiung". Man spricht deswegen von einer 3. „Modernismuskrise" in der katholischen Kirche. Die erste Modernismuskrise entzündete sich an den Folgen der Französischen Revolution und führte zum Konflikt zwischen dem politischen Liberalismus und der traditionell konservativen Theorie des Papsttums und der Hierarchie. Konfliktfelder waren Staatsverständnis, Menschenrechte, vor allem die Religionsfreiheit. Die zweite Modernismuskrise war eine Folge der Anwendung der historisch-kritischen Methode in Bibelauslegung und Dogmengeschichte (Enzyklika „Pascendi", 1907). Es ist kein Zufall, daß die dritte Modernismuskrise nicht bloß eine Folge des 2. Vatikanischen Konzils ist, sondern sich gerade an der Ethik manifestiert. Als Folge der nachkonziliaren Entwicklung befürchtet man eine Aufweichung der Moral und sucht den Weg zurück zu einer kasuistischen Anwendung absoluter Normen. Die Autorität des Lehramts wendet sich gegen eine Moraltheologie, die auf Evidenz und rationale Überzeugung setzt und die Autonomie, die Eigenverantwortung des ethischen Subjekts freigibt und respektiert. Kommunikationsfähigkeit, Toleranz und Offenheit sind die Merkmale einer solchen dialogischen Ethik, welche die Selbstverantwortlichkeit höher stellt als den Gehorsam gegen das Lehramt. Aber nicht nur in katholischer Moraltheologie gibt es ein Verlangen nach einer unanfechtbaren Autorität. Protestantischer Fundamentalismus beruft sich auf die Autorität der Bibel als der absoluten Norm. Eine Begründung der Ethik auf das Bekenntnis führt zu Programmformeln wie „status confessionis" oder „ethische Häresie". An die Stelle des Argumentes tritt dann der Bekenntnisvollzug oder das demonstrative Handeln, das ein „prophetisches" „Zeichen setzen" will. Man meint dann, die schwierige, oft nur Annäherungsaussagen erreichende vernünftige Abwägung ethischer Urteilsbildung abkürzen oder ganz vermeiden zu können. Evangelischer Theologie liegt es nahe, dafür auf das „fundamentum inconcussum" der Christologie sich zu gründen. Nun ist zwar unbestreitbar die Orientierung des Glaubens und Lebens von Christen an Botschaft und Geschichte Jesu von Nazareth und das Bekenntnis zu Jesus von Nazareth als Christus, Erlöser, das Besondere, Spezifische christlicher Theologie. Aber die lehrhafte Darstellung des Bekenntnisses zu Jesus Christus in Form einer Christologie ist wiederum kritisch zu reflektieren und führt zur Erkenntnis unterschiedlicher chri-
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Vorwort
stologischer Aussagemöglichkeiten und Lehrformulierungen. „Christologie" kann somit nur den Bezugspunkt bezeichnen, auf die hin alles Denken und Handeln von Christen sich ausrichten soll; sie gibt aber kein universales Erkenntnisprinzip für alle ethischen Sachfragen an die Hand. Der Rekurs auf die Christologie kann nicht an die Stelle des ethischen Diskurses und vernünftig nachvollziehbarer Normfindungsund Urteilsbildungsverfahren treten. Dazu kommt außerdem für die evangelische Ethik, wie für jede Ethik, eine weitere Schwierigkeit. Konkrete ethische Entscheidungen haben es mit „gemischten" Sachverhalten zu tun. „Gemischt" meint dabei, daß empirische Gegebenheiten, Fakten einerseits, ethische Bewertungen andererseits zu beachten sind. Häufig sind die Gegebenheiten strittig; das zeigt sich besonders deutlich bei der Bewertung neuer Technologien wie der Kernenergie, der Informationstechnik oder der Gentechnik; Grenzwerte, Risiken, Risikoakzeptanz, Folgeabschätzungen sind strittig. Diese Strittigkeit fällt jedoch bei neuen Techniken, an die man sich noch nicht gewöhnt hat, nur stärker auf; Gewöhnung und Gewohnheit lassen manchmal übersehen, daß die Frage nach der Verbindung von Sachgerechtem und Situationsgerechtem mit dem Menschengerechten sich bei allen materialethischen Überlegungen stellt. Die oben erwähnte Wiederentdeckung eines Bedarfs an Ethik beruht gelegentlich darauf, daß angesichts der Ungewißheit der Realität Ethik als Garant und Vermittler von Gewißheit beansprucht wird. Theologische Ethik sucht diesem Bedürfnis gelegentlich dadurch Rechnung zu tragen, daß sie assertorisch spricht, einen absoluten Anspruch bekräftigt, etwa den Anspruch der Herrschaft Christi. Daraus folgt dann für diesen Argumentationstypus der Aufweis schroffer Alternativen, die Proklamation eines klaren, aber rein programmatischen Entweder-Oder, z. B.: entweder Gott oder die Atombombe, entweder Gott oder der Kapitalismus (oder was immer man nennen mag). Diese assertorische Redeweise endet schließlich leicht bei bloßer Polemik. Will man dieser Reduktion theologischer Ethik auf Polemik und bloße Zeitkritik entgegensteuern, so muß man dem Problem einer Vermittlung zwischen Sachgerechtem und Menschengerechtem besondere Beachtung widmen. Es empfiehlt sich daher nicht, von theologischen Gewißheiten ausgehend deduktiv rigorose, absolute ethische Ansprüche zu formulieren; sondern es ist von den Ungewißheiten auszugehen, die zur ethischen Reflexion herausfordern. Ethisches Nachdenken wird deswegen immer ein Element der Selbstkritik und Skepsis mitenthalten. So stehen alle ethischen Überlegungen in dieser „Einführung" unter dem Vorbehalt
Vorwort
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besserer Einsicht und Belehrung; die Wirklichkeit der Lebensverhältnisse kann sie genauso überholen wie der Aufweis einer besseren Plausibilität anderer Überlegungen. In diesem Sinne verstehe ich meinen Ansatz bewußt als kontextuell, bezogen auf eine bestimmte Diskussionslage und auf eine bestimmte Zeiterfahrung. Wesensaussagen liegen mir fern. Zur Redlichkeit ethischer Überlegungen gehört es auch, daß man sich und anderen eingesteht, daß man an den Ungewißheiten und Ratlosigkeiten der Gegenwart teilhat. IV. Wenn am Ende das Manuskript des Buches entgegen meiner eigenen Skepsis fertiggestellt wurde, so ist dies mancherlei unterschiedlicher Mithilfe zu verdanken: Herr Professor Dr. Wenzel vom Verlag de Gruyter hat mich immer wieder inständig bedrängt. Neben Frau Erna von Gallera und Frau Christiane Günther haben — angesichts der eingeschränkten Arbeitsmöglichkeit am Institut für Sozialethik der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn — viele fleißige studentische Hände die Schreibarbeiten und Korrekturen mitübernommen. Herrn Dr. Hartmut Kreß habe ich für tatkräftige Unterstützung und guten Rat in vielen Fragen und Problemen zu danken. Ihm und Herrn stud. theol. Tobias Schlingensiepen ist auch für tatkräftige Unterstützung beim Korrekturlesen zu danken. Nicht zuletzt hat mich meine Frau ermutigt und sich bemüht, Skepsis und Resignation bei mir nicht überhandnehmen zu lassen und beides zu überwinden. Dennoch bleibt ein Rest an Zweifel. „Des Büchermachens ist kein Ende" (Prediger 12, 12); die entscheidenden Einsichten für ein eigenverantwortliches Leben gewinnt man gewiß nicht aus Büchern, sondern durch Lebenserfahrung und am Beispiel gelebter sittlicher Verantwortung. Aber vielleicht können Bücher doch etwas dazu beitragen, daß man über die uns gestellten Aufgaben nachdenkt. Nachdenklichkeit verdankt sich weithin der Erinnerung. So ist es die Absicht dieser Einführung, an Einsichten christlicher Überlieferung zu erinnern und dadurch zur Erhellung der gegenwärtigen Herausforderungen an die Ethik beizutragen. Bonn, den 1. Januar 1990
Martin Honecker
Inhalts verzeichni s Vorwort
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1. Kapitel: Einleitung. Ethik. Begriff und Fragestellung
1
§ 1. Ethik, Ethos, Moral 1. Begriffsklärungen 2. Differenzierungen 3. Das Thema der neuen Moral 4. Einteilungen der Ethik 4.1. Individualethik und Sozialethik 4.2. Situationsethik und Prinzipienethik 4.3. Gesinnungs- und Verantwortungsethik 4.4. Paränese und normative Ethik
3 3 4 7 8 8 11 15 16
§ 2. Ethik als theologische Disziplin 1. Das Verhältnis von Dogmatik und Ethik — eine Grundfrage evangelischen Ethikverständnisses 2. Die Beziehung zwischen christlicher und nichtchristlicher Ethik in der Theologiegeschichte 3. Die theologische Begründung der Ethik in evangelischer Sicht 4. Unterschiedliche Zuordnungen von Ethik und Dogmatik 5. Theologie und Ethik in der neueren Diskussion
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§ 3. Ethik als Wissenschaft 1. Der positivistische Einwand 2. Was heißt Wissenschaft? 3. Ethik und Wissenschaftstheorie 4. Die Forderung nach einer Wissenschaftsethik
33 33 35 36 37
2. Kapitel: Theologische Voraussetzungen der Ethik § 1. Die christliche Freiheit 1. Die Fragestellung 2. Dimensionen des Freiheitsbegriffs 3. Freiheit in theologischer Deutung Exkurs: Imago Dei
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23 25 28
41 43 43 43 46 48
XVI
Inhaltsverzeichnis
§ 2. Das christliche Verständnis von Sünde 1. Sünde als Thema theologischer Ethik 2. Theologische Aspekte des Sündenbegriffs 3. Die ethische Bedeutung der Sündenlehre
50 50 51 57
§ 3. Gesetz und Evangelium 1. Die Fragestellung 2. Zum theologischen Begriff „Gesetz" 3. Gesetz und Evangelium bei Luther 3.1. Der Problemhorizont bei Luther 3.2. Die allgemein-menschliche Bedeutung des Gesetzes nach Luther 3.3. „Gesetz und Evangelium" statt „Natur und Gnade" . . 4. Karl Barth: Evangelium und Gesetz 4.1. Die Position Barths 4.2. Gesichtspunkte der Kritik an Barth 5. Tertius usus legis als Problem des Gesetzesverständnisses 6. Die Bedeutung der Unterscheidung von Gesetz und Evangelium für die theologische Ethik 6.1. Die Problemstellung 6.2. Das „Gesetz" in der Ethik
60 60 61 62 62
§ 4. Rechtfertigung und Heiligung 1. Probleme der Rechtfertigungslehre 2. Heiligung 3. Kritische Gesichtspunkte zum Heiligungsverständnis . . .
83 83 86 88
§ 5. Askese und christliche Ethik 1. Begriff und Begriffsgeschichte 2. Neuzeitliche und moderne Problemaspekte
90 90 91
65 69 70 70 73 75 77 77 80
§ 6. Gute Werke 1. Die reformatorische Fragestellung 2. Exegetische Gesichtspunkte 3. Systematische Erwägungen Exkurs: Quietismus
94 94 101 103 105
§ 7. Das Naturrecht 1. Die Problemstellung und neuere Diskussion 2. Eindeutigkeit des Naturrechts? 3. Die Ideologieanfälligkeit des Naturrechts 4. Die Geschichte des Naturrechts
107 107 109 110 111
Inhaltsverzeichnis 4.1. Das antike Naturrecht 4.2. Das christliche Naturrecht 4.3. Das aufgeklärte, profane Naturrecht 5. Das Naturrecht in der Sicht der Reformation 6. Zur Bewertung des Naturrechts 7. Ausblick
XVII 111 114 117 119 120 123
§ 8. Das Gewissen 1. Die Strittigkeit des Gewissens 2. Der Begriff Gewissen 3. Gewissen im Neuen Testament 4. Gewissen in der Theologie des Mittelalters 5. Gewissen im reformatorischen Verständnis (Luther) . . . . 6. Das idealistische Verständnis des Gewissens 7. Der Zerfall des Gewissensverständnisses 8. Die Notwendigkeit des Gewissensbegriffs 9. Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen
126 126 128 129 131 133 136 137 138 140
§9. Nachfolge 1. Die Fragestellung 2. Biblische Grundlage 3. Reformatorische und neuzeitliche Sicht 4. Systematische Aspekte
145 145 145 146 148
§ 10. Das Liebesgebot 1. Begriff und Probleme 2. Biblische Grundlagen 3. Philosophische und theologische Deutungen 4. Gegenwärtige Fragestellungen
152 152 153 154 156
3. Kapitel: Ethische Grundbegriffe
159
§ 1. Tugend 1. Aristoteles 2. Der Tugendbegriff in der christlichen Ethik 3. Neuzeitliche Gesichtspunkte
161 161 164 164
§ 2. Gesetz und Norm 1. Begriff und Fragestellung 2. „Gesetz" in christlicher Sicht 3. Neuzeitliche Deutungen des Gesetzes 4. Der Normbegriff
166 166 166 167 168
XVIII
Inhaltsverzeichnis
§3. Kasuistik 1. Begriff und Probleme 2. Kasuistik im Recht 3. Kasuistik im Neuen Testament 4. Kasuistik in der katholischen Ethik 5. Evangelisch-theologische Stellungnahme
170 170 170 171 172 174
§4. Pflicht 1. Der Begriff 2. „Pflicht" bei Kant 3. Die Kritik an Kant
176 176 176 177
§ 5. Autonomie 1. Begriff 2. Philosophische Interpretationen 3. Autonome Moral in der Katholischen Moraltheologie . .
179 179 179 180
§ 6. Utilitarismus 1. Begriff 2. Probleme des Utilitarismus 3. Der Eudämonismus
184 184 185 186
§7. Gerechtigkeit 1. Begriff 2. Theologiegeschichtliche Aspekte 3. Probleme in der gegenwärtigen ethischen Diskussion
188 188 189 189
..
§ 8. Menschenwürde und Humanität 1. Begriff und Probleme 2. Menschenwürde und christliche Ethik 3. Humanität
192 192 194 195
§ 9. Erfahrung, Vernunft und Entscheidung 1. Quellen der Ethik 2. Das Problem ethischer Entscheidung 3. Die Erfahrung in der Ethik 4. Die Vernunft in der Ethik
197 197 198 198 201
§10. Deontologische und teleologische Argumentation 1. Begriffe 2. Zuordnung zur Theologie 3. Zur Bewertung 4. Ausblick Exkurs: Zur Methode ethischer Urteilsfindung
203 203 204 205 206 208
Inhaltsverzeichnis
4. Kapitel: Normen und Werte
XIX 211
§ 1. Werte 1. Begriff 2. Geschichte der Wertethik 3. Probleme der Wertethik 4. Die Diskussion zur Normenbegründung 5. Die Geltung von Werten 6. Wertethik aus theologischer Sicht
213 213 214 216 217 219 221
§ 2. Universalismus und Relativismus der Werte
223
§ 3. Zur Grundwertedebatte 1. Der parteipolitische Hintergrund 2. Die Grundwertedebatte von 1976: das Staats Verständnis angesichts der Wertfrage 3. Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität 4. Wertekrise in der Gegenwart? 5. Werte in theologischer Sicht 6. Die evangelisch-katholische Grundwerteerklärung von 1979
225 225
§ 4. Kompromiß und Güterabwägung im Normenkonflikt . . . . 1. Problementfaltung 2. Theologische Deutungen des Kompromisses Exkurs: Grenzmoral 5. Kapitel: Quellen christlicher Ethik
226 228 230 231 233 234 234 236 244 247
§ 1. Zur Geschichte christlicher Ethik 1. Biblische Voraussetzungen der christlichen Ethik 2. Ethik in der Alten Kirche und im Mittelalter 3. Reformation und Neuzeit
249 249 251 253
§ 2. Der Dekalog 1. Der Dekalog als Thema der christlichen Katechetik . . . . 2. Der Dekalog im Alten Testament 3. Die zehn Gebote in ihrer heutigen Bedeutung 4. Ausblick
256 256 257 258 265
§ 3. Die ethische Deutung der Bergpredigt 1. Das Problem 2. Inhalt und Aufbau
267 267 268
XX
Inhaltsverzeichnis
3. Zur Auslegungsgeschichte der Bergpredigt 3.1. Das perfektionistische Verständnis 3.2. Die mittelalterlich-katholische Auslegung 3.3. Das reformatorische Verständnis 3.4. Die Deutung der Bergpredigt als Gesinnungsethik im Kulturprotestantismus 3.5. Die eschatologische Deutung 3.6. Die existentiale Deutung 3.7. Die christologische Auslegung 3.8. Erwägungen zur Auslegungsgeschichte 4. Zur Exegese der Bergpredigt 5. Zur aktuellen ethischen Diskussion § 4. Der Ansatz der Ethik bei Martin Luther
274 275 276 276 278 278 282 285
6. Kapitel: Sozialethische Grundfragen § 1. Die Aporien einer „Theologie der Ordnungen" 1. Der Ordnungsgedanke bei Luther und im Lutherthum 2. Probleme der Ordnungstheologie 3. Alternative Denkansätze 4. Zur Beurteilung der Ordnungstheologie
270 270 272 273
289 .
291 291 295 298 302
§ 2. Institutionentheorien 1. Die unterschiedlichen Theorien 1.1. Soziologisch 1.2. Der juristische Institutionenbegriff 1.3. Der rechtstheologische Institutionenbegriff 2. Institutionen in sozialethischer Sicht
304 304 304 308 309 311
§ 3. Die sozialethische Grundfrage der Eigengesetzlichkeit . . . . 1. Problemaspekte 2. Neuere Positionen zur Eigengesetzlichkeit 3. Der geistesgeschichtliche Hintergrund der Fragestellung 4. Zwischenüberlegung: Zur Bewertung der „Eigengesetzlichkeit" als sozialwissenschaftliche Leitidee 5. Sozial- und wirtschaftsethische Konkretion 6. Theologische Sozialethik und Eigengesetzlichkeit
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§ 4. Sozialethik als Verantwortungsethik 1. Die Fragestellung 2. Deutungen der Verantwortungsethik
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Inhaltsverzeichnis
2.1. Walter Schulz 2.2. Max Weber 2.3. Dietrich Bonhoeffer 2.4. Georg Picht 2.5. Hans Jonas 2.6. „Verantwortliche Gesellschaft" 3. Ausblick § 5. Katholische Soziallehre 1. Die sozialphilosophische Grundlage 1.1. Das Personalitätsprinzip 1.2. Solidaritätsprinzip 1.3. Subsidiaritätsprinzip 1.4. Gemeinwohl 2. Die Sozialenzykliken 2.1. Leo XIII 2.2. Pius XI 2.3. Pius XII 2.4. Johannes XXIII 2.5. Paul VI 2.6. Das 2. Vatikanische Konzil 2.7. Johannes Paul II
XXI
328 329 331 331 334 335 336 338 338 340 340 341 343 344 345 346 348 349 349 352 352
7. Kapitel: Grenzen der Ethik
357
§ 1. Handeln und Erleiden
357
§ 2. Das Ende des Lebens
360
§ 3. Der Sinn des Lebens
364
§ 4. Das Leiden und die Theodizeefrage
366
§ 5. Schuld und Vergebung
370
Bibliographie
377
Sachregister
412
Personenregister
419
1. Kapitel Einleitung Ethik. Begriff und Fragestellung
§ 1. Ethik, Ethos, Moral 1.
Begriffsklärungen
Ethik kann man als etwas ganz Selbstverständliches betrachten. Denn ist nicht als gemeinsamer Grundsatz jeder Ethik anerkannt, das Gute sei zu tun und das Schlechte, Böse sei zu unterlassen? Die Unterscheidung von gut und böse gilt als Grundlage der Ethik. Für die theologische Ethik ist dann erläuternd vorauszusetzen, daß das Gute das dem Willen Gottes Entsprechende, das Böse das Gottes Willen Widersprechende ist. Friedrich Theodor Vischer meinte lapidar: „Das Moralische versteht sich von selbst". Dagegen meinte Arthur Schopenhauer. „Moral predigen ist leicht, Moral begründen ist schwer" (Preisschrift über die Grundlagen der Moral, Werke, ed. P. Deussen, 3. Bd. 1912, S. 573). Und Karl Marx stellte fest (in: „Die Heilige Familie"): „Die Kommunisten predigen keine Moral". „Die Moral, wohlverstanden, die in Bezug auf einen idealen Wert gerechtfertigte Moral ist die Impotenz in Aktion". Für Marx tritt an die Stelle der Forderung der Moral das ökonomische Bewegungsgesetz der Geschichte: Geschichtstheorie ersetzt Ethik. Die Frage nach einer marxistischen Ethik ist so verstanden die Frage nach der Tragfähigkeit einer Geschichtsdeutung und der ökonomischen- Gesellschaftstheorie (vgl. als Beispiele: Leszek Kolakowski, Milan Machovec). Leszek K o l a k o w s k i , D e r Mensch ohne Alternative. Von der Möglichkeit und Unmöglichkeit, Marxist zu sein, München
1964; ders. Hauptströmungen
des
Marxismus, München 1977/79, 1981, 2. Auflage; Milan Machovec, V o m Sinn des menschlichen Lebens, München 1964.
Der Begriff und die Disziplin Ethik gehen auf Aristoteles zurück, der als erster von ethischer Theorie spricht (f)6lKT)s Oecopias) (Anal, post 89 b 9). Mit dem Wort „ethisch", das von fjöos (gewohnter Ort des Wohnens, Gewohnheit, Sitte, Brauch) herzuleiten ist, greift Aristoteles ein von Sokrates und Piaton in der Auseinandersetzung mit der Sophistik aufgenommenes Problem auf, wie Sitte und Institutionen der Polis zu legitimieren sind. Ethik fragt seit Aristoteles nach dem Grunde des in Nomos, Sitte und Gewohnheit verfaßten Lebens der Polis (Arist. Ethik. Nie. 1180 b 3; vgl. W. Kluxen, Ethik des Ethos, 1974). Ethik stützt sich
4
1. Kapitel: Ethik. Begriff und Fragestellung
seitdem nicht mehr allein auf die Autorität des Herkömmlichen und Überlieferten, sondern wird zu einer Aufgabe theoretischen Nachdenkens. Ethik bedenkt das für den Menschen im Leben und Handeln (TTpöc^is) tätig erreichbare und verfügbare höchste Gut. Dieses höchste Gut ist nach Aristoteles das Glück (eü8ou|jovicc), das um seiner selbst willen gewollt werden soll (Ethik. Nie. 1097 a 34 ff.); solches „Glück" besteht inhaltlich in der „Verwirklichung der Seele gemäß der Tugend" ( Y U X F | S evepyeia KCRationalistau Die Bergpredigt ist wie andere Redekomplexe im Mth.ev. (Kap. 10; 13; 18; 23; 24 f.) eine Komposition des Evangelisten aus Spruchgut, das er bereits in seiner Uberlieferung vorfand. Nach herrschender Lehre (anderer Ansicht z. B. Hans
Thilo Wrege) stammt das Spruchgut über-
wiegend aus der Logienquelle Q , einiges auch aus judenchristlicher Sonderüberlieferung ( = vormatthäische Gemeinde) (z. B. Mth.
5,17—20:
Jesus als der Vollender des Gesetzes). Schon in Q waren, wie ein Vergleich von Mth. 5 — 7 mit Lk. 6 (Feldrede) zeigt, die Logien Jesu programmatisch zusammengestellt. Mth. hat also mit überliefertem Gut gearbeitet, das weithin schon in Q zusammengestellt war. E r stellt es unter das Thema der „Gerechtigkeit, die besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer" (insgesamt ist im Mth.ev. eine antipharisäische Tendenz zu beobachten, vgl. die Abgrenzung in Mth. 23) und gestaltet sie zu einer „katechismusartigen Jüngerrede" aus ( R G G 3
I,
1047).
Mth. versteht die
christliche Gerechtigkeit als Vollkommenheit des Menschen (Mth. 5,48; 19,21:
teAeios — vgl. den status perfectionis des Mönchs im Mittelalter;
eine Mönchsethik). SlKCtioowri heißt bei ihm die Rechtschaffenheit des Menschen (nicht wie bei Paulus Gottes Heilstat). Bei Mth. stehen sodann
§ 3. Die ethische Deutung der Bergpredigt
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das Verhalten der Jüngergemeinde und das Endgericht in enger Verbindung. „Die Bergpredigt wird damit zu einer Proklamation der von Gott verfügten Einlaßbedingungen