Einführung in die Moralphilosophie 9783495817438, 9783495490099


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
1. Was ist Moral? Was spricht gegen Moral? Gibt es eine Begründung für sie?
1.1 Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts
1.2 Einwände gegen Moral, Amoralismus und Moralskeptizismus
1.3 Begründung der Moral
2. Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie
2.1 Semantik: Was bedeutet ›gut‹? Sprachphilosophische Aspekte der Moral
2.2 Ontologie und Epistemologie des Moralischen
2.3 Handlungstheorie: Kausalismus oder Teleologie?
2.4 Willensfreiheit und Autonomie
3. Teleologische Ethiken
3.1 Klassischer und moderner Eudämonismus
3.2 Utilitarismus
3.3 Intuitionismus, Perfektionismus und Wertethiken
4. Deontologische Ethiken
4.1 Ältere Formen der Pflichtethik
4.2 Kants Moralphilosophie
4.3 Neuere deontologische Ethiken
5. Vertragstheorien
5.1 Das Paradigma von Hobbes
5.2 Zeitgenössische Vertragstheorien
6. Gefühlsethiken
6.1 Ethik der Emotionen in der Antike
6.2 Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer
6.3 Moralische Gefühle in der Ethik der Gegenwart
7. Tugendethiken und Neoaristotelismus
7.1 Die Tugendethiken der Antike und des Mittelalters
7.2 Die Wiederentdeckung des Tugendbegriffs
7.3 Formen des Neoaristotelismus
8. Kontextualistische Ethiken
8.1 Kontextualismus und Anerkennung bei Hegel
8.2 Ethischer und politischer Kontextualismus im Anschluss an Hegel
8.3 Kontextualistische Ethiken in der Gegenwart
Nachwort
Zitierweise
Bibliographie
Personenregister
Sachregister
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Einführung in die Moralphilosophie
 9783495817438, 9783495490099

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Christoph Horn

Einführung in die Moralphilosophie

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817438

.

B

Christoph Horn Einführung in die Moralphilosophie

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Christoph Horn

Einführung in die Moralphilosophie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Christoph Horn Introduction to Moral Philosophy The book presents a brief and concise overview of current prevalent philosophical positions and arguments in the field of ethics. How are we to understand morality? Which norms guide human action? What are we obliged to do in situations of crisis? What does happiness consist in? Which ways of living prove to be desirable? Horn’s book benefits from juxtaposing the most important models of moral philosophy with central points of criticism. The result is an open-ended text that allows its readers to make up their own minds. In addition to presenting normative positions Horn provides the perspective of metaethics. This introduction to moral philosophy furthermore presents the most important historical positions of moral issues.

The Author: Christoph Horn, born 1964, studied philosophy, classics, and theology. Horn received his PhD with a thesis on Plotin. He is professor of philosophy at the University of Bonn. His areas of specialisation are philosophy of antiquity and practical contemporary philosophy. His numerous publications include Augustinus, Munich 1995, Antike Lebenskunst, Munich 1998, Politische Philosophie, Darmstadt 2003, Philosophie der Antike, Munich 2013, Nichtideale Normativität, Berlin 2014.

https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Christoph Horn Einführung in die Moralphilosophie Das Buch bietet einen knappen und konzisen Überblick über die philosophischen Positionen und Argumente im Feld der Ethik. Was sollen wir unter Moral verstehen? Unter welchen normativen Vorgaben steht menschliches Handeln? Wozu sind wir in krisenhaften Situationen verpflichtet? Worin besteht das Glück? Welche Lebensform erweist sich als wünschenswert? Neben die Präsentation der wichtigsten Modelle im Feld der Moralphilosophie werden immer gleich die zentralen Kritikpunkte gestellt. Damit erhält die Darstellung einen offenen Charakter, der eine eigene Urteilsbildung ermöglicht. Zur Diskussion normativer Standpunkte kommt noch ein Blick auf die Metaethik hinzu. Ein besonderer Akzent dieser Einführung in die Moralphilosophie besteht darin, dass neben der aktuellen Diskussion auch die wichtigsten historischen Positionen behandelt werden.

Der Autor: Christoph Horn, Jahrgang 1964, Studium der Philosophie, der Klassischen Philologie und der Theologie, Promotion mit einer Arbeit über Plotin, ist Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Antike und Praktische Philosophie der Gegenwart. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. Augustinus, München 1995, Antike Lebenskunst, München 1998, Politische Philosophie, Darmstadt 2003, Philosophie der Antike, München 2013, Nichtideale Normativität, Berlin 2014.

https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

2. Auflage 2019 © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbilder: Aristoteles, Thomas von Aquin, Immanuel Kant: Bildarchiv Herder; Philippa Foot: © Steve Pyke / GettyImages Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49009-9 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81743-8

https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

1. Was ist Moral? Was spricht gegen Moral? Gibt es eine Begründung für sie? . . . . . . . . . . .

11

1.1 Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Einwände gegen Moral, Amoralismus und Moralskeptizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Begründung der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 30 43

2. Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

54

2.1 Semantik: Was bedeutet ›gut‹? Sprachphilosophische Aspekte der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Ontologie und Epistemologie des Moralischen . . . . 2.3 Handlungstheorie: Kausalismus oder Teleologie? . . 2.4 Willensfreiheit und Autonomie . . . . . . . . . . .

55 65 75 88

. . . .

3. Teleologische Ethiken . . . . . . . . . . . . . . . . .

98 3.1 Klassischer und moderner Eudämonismus . . . . . . . 99 3.2 Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 3.3 Intuitionismus, Perfektionismus und Wertethiken . . 136

4. Deontologische Ethiken . . . . . . . . . . . . . . . . 149 4.1 Ältere Formen der Pflichtethik . . . . . . . . . . . . . 150 4.2 Kants Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 160 4.3 Neuere deontologische Ethiken . . . . . . . . . . . . . 173

7 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Inhalt

5. Vertragstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 5.1 Das Paradigma von Hobbes . . . . . . . . . . . . . . . 185 5.2 Zeitgenössische Vertragstheorien . . . . . . . . . . . 192

6. Gefühlsethiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 6.1 Ethiken der Emotionen in der Antike . . . . . . . . . 208 6.2 Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 6.3 Moralische Gefühle in der Ethik der Gegenwart . . . . 230

7. Tugendethiken und Neoaristotelismus . . . . . . . . 237 7.1 Die Tugendethiken der Antike und des Mittelalters . . 238 7.2 Die Wiederentdeckung des Tugendbegriffs . . . . . . 249 7.3 Formen des Neoaristotelismus . . . . . . . . . . . . . 257

8. Kontextualistische Ethiken . . . . . . . . . . . . . . . 269 8.1 Kontextualismus und Anerkennung bei Hegel . . . . . 270 8.2 Ethischer und politischer Kontextualismus im Anschluss an Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 8.3 Kontextualistische Ethiken in der Gegenwart . . . . . 288

Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Zitierweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

8 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Vorwort

Dieses Buch soll mit den wichtigsten Positionen der Moralphilosophie vertraut machen. Sein Ziel ist es, eine möglichst klare und übersichtliche Darstellung der wichtigsten Ansätze aus der normativen Ethik zu geben: der teleologischen und der deontologischen Modelle, der Vertragstheorien, Gefühlsethiken, Tugendethiken sowie der kontextualistischen Positionen. Hinzu kommt eine Einführung in die metaethischen Grundlagen der normativen Ethik. Es schien mir wichtig, neben die Darstellung der relevanten Positionen immer gleich schon zentrale Kritikpunkte zu stellen. Dadurch soll das Buch einen möglichst offenen, für die eigene Urteilsbildung geeigneten Charakter erhalten. In der Moralphilosophie geht es um grundlegende Fragen des menschlichen Zusammenlebens: Was schulden wir einander und warum? Wodurch entstehen moralische Wertungen? Was kann man gegen Moral einwenden? Wie soll man gemeinsam leben? Welches Verhalten ist in einem gegebenen Fall angemessen? Worin besteht für Menschen ein gelingendes Leben? Welches individuelle Leben würden wir als sinnvoll ansehen? Wie kann man das bestimmen, was wir voneinander erwarten können, während wir denken, anderes sollte jeder Person für sich überlassen bleiben? Diese und ähnliche Fragen besitzen eine so grundlegende Reichweite, dass man sie nüchtern und reflektiert, und das heißt: von der Philosophie und ihrer Tradition, diskutiert und beantwortet sehen möchte. Obwohl die Darstellung möglichst umfassend konzipiert war und neutral gegenüber den unterschiedlichen Standpunkten ausfallen sollte, ist sie natürlich selektiv geraten und lässt sicherlich klare Vorlieben durchscheinen. Man sieht sofort, dass eine Besonderheit dieser Einführung neben den vorhandenen Werken dieser Art darin besteht, dass ich außer der systematischen Darstellungsweise auch eine philosophiehistorische Perspektive verfolge. 9 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Vorwort

Nach meiner Überzeugung kann Moralphilosophie ohne ihre Geschichte weder verstanden noch systematisch angemessen betrieben werden. Aristoteles, die Stoiker oder Thomas von Aquin in einer Einführung in die Moralphilosophie beiseitezulassen, scheint mir daher unverantwortlich. Umgekehrt sind auch Kant, Mill oder Nietzsche zutiefst historische Figuren (mit Kontextbindungen, die man leicht zu gering veranschlagt), auch wenn man ihnen gemeinhin zutraut, unmittelbar in die Gegenwartsdiskussion zu passen. Das Buch ist aus den Vorlesungen zur Einführung in die Moralphilosophie an der Universität Bonn hervorgegangen, die ich im Lauf der Jahre gehalten habe. Ich schulde meinen Zuhörerinnen und Zuhörern Dank für ihre Fragen, Anregungen und kritischen Interventionen. Meine Bonner Kollegin Annette Dufner hat Kap. 3 genau gelesen und mir viele wertvolle Anregungen dazu gegeben. Zu besonderem Dank für die Arbeit am Manuskript bin ich Dr. Denis Walter und Dr. Simon Weber verpflichtet, zudem Julia Petz, Claas Lüttgens und Martina Richtberg. Für die optimale Kooperation seitens des Verlags danke ich zudem Lukas Trabert. Bonn, im Juni 2018

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1. Was ist Moral? Was spricht gegen Moral? Gibt es eine Begründung für sie?

Wir verwenden Ausdrücke aus dem Wortfeld von Moral und Ethik recht häufig in unserer Alltagssprache. Zu Beginn des Kapitels wird es daher um die Frage gehen, wie man die Begriffe der Moral und des Moralischen (und ebenso die Begriffe der Ethik und des Ethischen) historisch aufgefasst hat und heute üblicherweise interpretiert. Überdies ist zu fragen, wie man sie überlegtermaßen gebrauchen sollte. Danach soll geklärt werden, was wir unter dem ›moralischen Standpunkt‹ (im Englischen häufig ›the moral point of view‹ genannt) inhaltlich verstehen könnten und welche Rolle diesem Standpunkt im menschlichen Verhalten zukommt oder zukommen müsste. Moral zu beschreiben, geht natürlich am besten anhand von Beispielen. Mithilfe von vier zentralen Fällen soll unsere gewöhnliche Idee von Moral erläutert werden. Aber man muss Moral auch begrifflich gegen ähnliche Phänomene konturieren und abgrenzen. Daher ergibt sich aus einer Phänomenologie des Moralischen auch eine Bestimmung ihrer begrifflichen Komponenten (1.1). Danach setzen wir uns mit verschiedenen Bedenken und Einwänden gegen den moralischen Standpunkt auseinander (1.2). Damit verbindet sich schließlich die Frage, ob Moral eine Begründung braucht und wie diese grundsätzlich aussehen könnte (1.3).

1.1 Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts Der lateinische Ausdruck, von dem ›Moral‹ abgeleitet ist, nämlich mos, heißt ebenso wie sein griechisches Vorbildwort êthos einfach so viel wie Brauch oder Sitte. ›Brauch‹ und ›Sitte‹ bezeichnen die Gesamtheit traditioneller Lebensregeln oder Umgangsformen, 11 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Was ist Moral? Was spricht gegen Moral?

wie sie zwischen Menschen in bestimmten sozialen Verbänden und Gemeinschaften gelten. Das ältere griechische êthos hat die ursprüngliche Wortbedeutung ›Lebensraum‹ oder ›angestammter Wohnort‹ und bedeutet später auch so viel wie ›Charakter‹. Der Übergang von ›Wohnort‹ zu ›Sitte‹ wirkt einleuchtend: Ebenso wie der Wohnort die bekannten und selbstverständlichen räumlichen Lebensbedingungen von Menschen umschreibt, umfassen die Sitten die gewohnten und üblichen Handlungsregeln. Aristoteles hat dies ausdrücklich reflektiert, wenn er behauptet, der Wissens- oder Disziplinenbegriff der Ethik (êthikê) habe sich durch eine leichte Abwandlung aus dem Begriff für Gewohnheit oder Gewöhnung (ethos) ergeben (Nikomachische Ethik II.1). Das lateinische mos (im Plural mores) und sein Adjektiv moralis wurden von Cicero in die Philosophie eingeführt, ebenso der Begriff ›Moralphilosophie‹ (philosophia moralis: De fato 1). Wie wir sehen, bezeichnen die griechischen und die lateinischen Begriffe das Feld der sozialen Handlungsanforderungen, die nach den geltenden Sitten an uns als handelnde Personen (Akteurinnen und Akteure) gerichtet sind. ›Geltende Sitten‹ können konventionelle Regeln sein, die den ortsüblichen Traditionen entstammen. Sie können aber auch aus kritischen Überlegungen hervorgehen. Hier kommt die Philosophie ins Spiel: Moralphilosophie oder Ethik macht genau dies zum Thema. Sie untersucht einerseits die herkömmlichen Sitten und Regeln auf ihre Richtigkeit und Angemessenheit hin und verwirft oder bestätigt sie; dies ist die kritische bzw. begründende Funktion der Moralphilosophie. Andererseits kann sie die üblichen Regeln zurückweisen und sie revidieren und dann neue Regeln vorschlagen; hierin liegt ihre revisionäre Funktion. Gelegentlich kann man von einer Unterscheidung lesen, die zwischen den Begriffen ›Moralphilosophie‹ und ›Ethik‹ getroffen werden sollte: etwa so, dass man ›Moralphilosophie‹ als Ausdruck für ein kritisches, begründendes und revisionäres Vorgehen (wie soeben beschrieben) reservieren sollte, während ›Ethik‹ den Standpunkt des Ethos, also der angestammten Traditionsmoral zum Ausdruck bringt. Diese Differenzierung deckt sich aber weder mit dem alltagssprachlichen Gebrauch der Ausdrücke noch 12 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts

mit dem im Fach Philosophie: Man kann zwar vom ›Ethos einer Lebensgemeinschaft‹ oder vom ›ärztlichen Berufsethos‹ sprechen und damit etwas Konventionelles oder Traditionelles meinen; sooft man aber ›Ethik‹ verwendet, meint man damit immer etwas Reflektiertes und etwas mehr oder weniger gut Begründetes. Die Ausdrücke Ethik und Moralphilosophie gehen somit nahtlos ineinander über und werden daher im Folgenden, gemäß dem üblichen Sprachgebrauch, austauschbar verwendet. In der Alltagssprache existieren zwei Verwendungen von ›Moral‹, die für eine gewisse Verwirrung sorgen können und die daher auszuschließen sind: (a) Wir können davon sprechen, dass ein Sportwettkampf »dank seiner besseren Moral des Teams« zugunsten der Gästemannschaft ausgegangen ist; Moral bedeutet dann so etwas wie ›feste, unerschütterliche, zielgerichtete Einstellung‹. (b) Man kann davon sprechen, dass jemand einem anderen »ein unmoralisches Angebot macht«; in dieser und ähnlichen Gebrauchsweisen wird Moral einseitig mit sexuellen Verhaltensregeln konnotiert. Was im Folgenden mit ›Moral‹ gemeint ist, hat jedoch mit diesen beiden abgeleiteten bzw. vereinseitigten Gebrauchsweisen (a) und (b) nichts zu tun. Was macht dann stattdessen den moralischen Aspekt von etwas aus? Mit Blick worauf nennen wir irgendwelche Handlungen, Urteile, Überzeugungen, Motive, Einstellungen, Charaktere, Gefühle usw. moralische Handlungen, Urteile, Überzeugungen, Motive, Einstellungen, Charaktere, Gefühle? Es scheint so etwas zu geben wie eine Grundintuition von Moral. Diese lässt sich vielleicht treffend am ersten der vier Beispiele festmachen: Beispiel 1. Angenommen, eine Person A (zufällig eine Rettungsschwimmerin) wäre dazu in der Lage, die in einen Fluss gestürzte Person B vor dem Ertrinken zu retten. A wäre selbst in keiner lebensbedrohlichen Situation, sie allein wäre am Ort des Geschehens, und sie wäre als Rettungsschwimmerin zu einer Rettungsaktion prinzipiell imstande, so dass ein Erfolg erwartbar wäre, der für sie selbst ohne nennenswerte nachteilige Folgen bleiben dürfte (allenfalls könnte sich bei ihr ein Schnupfen einstellen). Angenommen weiter, es handelte sich um eine vollkommen eindeutige Situation:

13 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Was ist Moral? Was spricht gegen Moral?

ohne einen Rettungsversuch von A wäre B verloren. Doch ist A gerade auf dem Weg zu einer Verabredung im Café.

In einem Fall wie dem geschilderten würden wir es für moralisch angemessen halten, dass Person A um der Rettung von B willen eine direkt bevorstehende Verabredung zum Kaffeetrinken fallen lässt. Moral im geschilderten Fall bedeutet, dass gute Gründe dafür vorliegen, weshalb die Akteurin A um der Rettung von B willen ihre eigene Zielverfolgung vorübergehend zurückstellt und die Interessen von B zu ihren eigenen macht. Dabei sind, so nehmen wir an, die Interessen von B auf keine Weise – direkt oder indirekt – As eigene Interessen (indem z. B. die Rettung von B für A eine Belohnung oder öffentliche Würdigung einbringt). Betrachten wir einen anders gelagerten, zweiten Fall: Beispiel 2. Angenommen, eine Person C wäre dazu in der Lage, einem gewissen D dabei behilflich zu sein, das Leben eines verwöhnten Schlemmers zu führen. Da D ein passionierter Gourmet ist, verspürt er gegenwärtig einen starken Wunsch nach Kiebitzeiern und Gänseleberpastete; nun ist D aber gerade nicht in der Lage, sich selbst mit diesen kulinarischen Köstlichkeiten zu versorgen. C befindet sich momentan auf dem Weg zu einer Kaffeeverabredung, und D ruft ihm aus dem ersten Stock seines Hauses seinen dringlichen Wunsch zu.

Würden wir hier urteilen, dass C – ebenso wie A in Beispiel 1 – einen guten Grund hat, für D die fraglichen Lebensmittel zu besorgen? Zumindest keinen guten moralischen Grund. Nehmen wir an, alle vier Personen aus den beiden Beispielen seien einander unbekannt. Dann besäße zwar A ein starkes Motiv, die unbekannte Person B zu retten, aber C hätte wohl kaum einen triftigen Grund, den ihm unbekannten D zu versorgen und dafür ihre Verabredung fallen zu lassen. Das gilt auch dann, wenn D gehbehindert und tatsächlich auf Hilfe angewiesen wäre; solange es nicht um gesundheits- oder existenzbedrohenden Hunger, sondern nur um die Vorenthaltung eines kulinarischen Genusses geht, scheint

14 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts

für C kein guter Grund vorzuliegen, das Interesse von D gegenüber seinem eigenen zu priorisieren. Gemäß dieser so beschriebenen, weitgehend geteilten Intuition haben wir immer dann einen moralischen Grund zu helfen, zu intervenieren oder sonstwie geeignete Maßnahmen zu treffen, wenn wir z. B. als erste handlungsfähige Person an einem Unfallort vorbeikommen, wenn wir Zeugen einer Gewalttat werden, wenn neben uns jemand mit einer Herzattacke kollabiert oder wenn wir ein Kind in einem See untergehen sehen und um Hilfe rufen hören. Mehr noch, in allen diesen Fällen wird von uns verlangt, dass wir die moralische Handlungsoption priorisieren. Das ist die Idee moralischer Normativität. Ausnahmen von ihr scheinen nur möglich, wenn wir (a) gerade in eine Aktivität von vergleichbarer Wichtigkeit involviert sind (wir sind soeben dabei, einen Verletzten zur Klinik zu bringen, und hören im selben Moment Hilferufe aus einem brennenden Gebäude), (b) wenn wir uns selbst gefährden würden oder (c) wenn wir zur Hilfe unfähig sind. Ob diese Priorisierung eine ›kategorische Pflicht‹ und d. h. ob sie absolut vorrangig gilt, ist eine wichtige Streitfrage der Moralphilosophie. In einer starken Pflichtethik wie derjenigen Kants würde man sagen: Was immer wir auch gerade vorhaben, z. B. zur Arbeit zu fahren, eine wichtige Besorgung zu erledigen oder einer Freizeitbeschäftigung nachzugehen, in jedem Fall kommt dem moralischen Handeln zugunsten von ernsthaft Betroffenen ein Vorrang zu. Bernard Williams (1985 und 1993) hat diese Vorstellung kritisiert: Er meint, es gebe mitunter auch existenzielle Imperative, die für uns von überragender Bedeutung seien. Folgendes Beispiel lässt sich dafür anführen: Beispiel 3. Philipp hat Sandra versprochen, ihr am kommenden Samstag beim Umzug zu helfen. Die mittellose Sandra ist auf freundschaftliche Hilfe angewiesen, und Philipp ist einer der wenigen möglichen Helfer. Nun bekommt Philipp die überraschende Offerte, mit seiner Band auf einem Talentwettbewerb zu spielen, wofür er am betreffenden Samstag bereits frühmorgens an den weit entfernten Spielort aufbrechen müsste. Bedeutet der Vorrang der

15 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Was ist Moral? Was spricht gegen Moral?

Moral, dass Philipp sein Versprechen unbedingt (kategorisch) einhalten muss? Verständlich erscheint durchaus, dass Philipp sich selbst treu bleibt und sein eigenes Projekt priorisiert.

Für die Überzeugungskraft von Williams’ Position hängt vieles davon ab, wie man in dem Beispiel die strittigen Güter wählt und gewichtet: Dass Sandra in Philipp möglicherweise einen Umzugshelfer verliert, wenn dieser sein Versprechen bricht, scheint weit leichter hinnehmbar, als dass Philipp ungerührt der Ermordung von Sandra zusieht, weil er gerade auf dem Weg zum Musikwettbewerb ist. Auch Williams kann die Grundidee der Moral, dass es nämlich irgendeinen Vorrang des Moralischen gibt, schwerlich zurückweisen. So dürfte Philipp seine eigenen authentischen Interessen der Talententfaltung dann nicht über Sandras Güterperspektive stellen, wenn es um Sandras Leben oder elementare Gesundheit geht. Das zeigt, dass moralische Güter zumindest nur schwer übertrumpfbar sind. Erwähnenswert ist ferner, dass man Moralität auch übertrieben ernst nehmen kann, indem man ihr einen übermäßigen Stellenwert verleiht. So könnte eine Kinderkrankenschwester, die moralisch besonders empfindsam ist, von Gewissensbissen gequält werden, die das Ausmaß ihres tatsächlichen Fehlverhaltens gegenüber einem kleinen Patienten weit übersteigen. Es gilt also lediglich, das richtige Maß für den Vorrang der Moral zu bestimmen. Ob man nun also die Idee des Vorrangs der Moral im Sinn einer kantisch-kategorischen Pflichtethik vertritt oder eher Williams’sche Intuitionen gutheißt, es bleibt doch folgender Punkt am Phänomen der Moral festzuhalten: Moral beruht auf der normativen Vorstellung, dass wir als Akteurinnen und Akteure fremde Interessen gegenüber unseren eigenen vorübergehend priorisieren sollen, ohne dass sich die fremden Interessen irgendwie zugleich als unsere eigenen beschreiben lassen (manchmal mag es möglich sein, die fremden Interessen irgendwie als die eigenen zu betrachten, aber das wäre rein zufällig). Eine moralische Anforderung zu befolgen, heißt mithin, fremde Interessen vorübergehend – auf einen bestimmten Fall bezogen – gegenüber unseren eigenen vorzuziehen, obwohl wir es sonst als Handelnde gewohnt 16 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts

sind, unsere eigenen Belange oder die Interessen Nahestehender primär zu verfolgen oder zu fördern. Inhaltlich besteht moralisches Handeln darin, die grundlegenden Existenzbedingungen einer Person zu schützen, zu erhalten oder wiederherzustellen, oder auch eine Person zu retten, zu pflegen, zu unterstützen, zu heilen, zu ermutigen, vor Schaden zu bewahren usw. Unmoralisch ist gemäß dieser Idee entsprechend alles, bei dem jemand einen anderen gravierend schädigt oder einschränkt. Jemand handelt moralwidrig gegenüber einer anderen Person, wenn er diese ermordet, verletzt, misshandelt, verstümmelt, unterdrückt, herabsetzt, verleumdet, foltert, diskriminiert, einsperrt, beraubt, belügt, täuscht, ausnützt, gravierend benachteiligt usw.; typische unmoralische Motive sind dabei Habgier, Destruktivität, Egoismus, Geltungsbedürfnis, Rücksichtslosigkeit, Genusssucht oder Machtstreben. Um unsere geteilte moralische Intuition näher zu beschreiben, sei noch eine vierte anschauliche Szene geschildert: Beispiel 4. Eines Nachts kommen nacheinander verschiedene Passanten an einem Park vorbei, in dem soeben ein unschuldiges Opfer von gewalttätigen Schlägern ausgeraubt und verprügelt wird. Nehmen wir an, alle Vorübergehenden würden den Vorfall registrieren, und sie würden zweifelsfrei richtig einschätzen, was dort vor sich geht. Nehmen wir weiterhin an, sie zeigten unterschiedliche Reaktionen: solche des Mitempfindens, der Wut, der Empörung, der Gleichgültigkeit und der Angst. Zudem dächten alle in irgendeiner Form darüber nach, ob sie in der gegebenen Situation überhaupt etwas tun müssten, und wenn ja, was und weshalb. Schließlich handelten sie ganz unterschiedlich: vom beherzten Eingreifen über das Herbeirufen von Hilfe bis zum unberührten Weitergehen und zum fluchtartigen Davonlaufen.

Zunächst drängt sich die naheliegende Frage auf: Wer verhält sich richtig und weshalb? Wir würden vermutlich antworten: Wer auch immer die Straftat effizient verhindert und die Täter zur Rechenschaft zieht, verhält sich hier angemessen. Philosophisch noch wichtiger aber ist die Grundlagenfrage: Wie kann man das, 17 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Was ist Moral? Was spricht gegen Moral?

was an diesem und ähnlichen Fällen moralisch relevant oder irrelevant, erlaubt, verboten, geboten oder wünschenswert ist und warum es dies jeweils ist, theoretisch adäquat rekonstruieren? Beschränken wir uns hier auf die Frage, worin im geschilderten Fall eines nächtlichen Überfalls im Park genau die moralrelevante Schädigung besteht. Nehmen wir an, dass die brutalen Schläger dem Opfer (i) heftige, ja sogar qualvolle Schmerzen zufügen. Zudem rauben sie ihm (ii) sein Portemonnaie, das den für das Opfer wichtigen Geldbetrag von € 500,– enthält. (iii) Die kompliziert gebrochene linke Hand wird niemals wieder voll funktionsfähig sein. Hinzu kommt, dass die Schläger (iv) Verletzungen hervorrufen, die ihn für Wochen arbeitsunfähig machen. Mehr noch, das Verbrechensopfer ist (v) von nun an traumatisiert und wird sich vielleicht nie mehr unbefangen nachts in einer Stadt bewegen können. Und schließlich ist (vi) durch die extreme Respektlosigkeit des Vorgangs seine Selbstachtung gravierend beschädigt. Die Schädigungshinsichten sind hier wie auch in vielen anderen vergleichbaren Fällen: (i) Schmerz, (ii) Verlust materieller Güter, (iii) irreversible physische Schädigungen, (iv) vorübergehende Einschränkungen des Aktionsradius, (v) Verlust des Autonomiegefühls und des Weltvertrauens und (vi) Minderung der Selbstachtung. Gegeben eine solche Liste von Schädigungsaspekten: Wie kann man das moralrelevante Moment im vorliegenden Fall zu fassen bekommen? (a) Eine mögliche theoretische Rekonstruktion dessen, worauf sich moralische Normativität bezieht, besteht darin, dass man die moralrelevanten Aspekte als eine Schädigung der betroffenen Person in Bezug auf ihren Besitz grundlegender Güter deutet, besonders solcher der vernünftigen Autonomie. (b) Rekonstruieren kann man moralische Normativität aber auch so, dass man auf die Idee moralischer Gründe verweist: Moralisch akzeptable Gründe müssen akteurneutral sein, d. h. für alle Handlungsbetroffenen gleichermaßen wichtig. Die Idee akteurneutraler Gründe ergibt sich daraus, dass ich unvoreingenommen darauf blicke, wer in einer gegebenen Situation die relevantesten Gründe hat – ich selbst oder auch ein anderer (Nagel 1986, Kap. IX). (c) Eine weitere Erklärungsvariante liegt darin, dass sich alle ge18 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts

nannten moralrelevanten Aspekte auf die Minderung von Lust und die Vergrößerung von Unlust beziehen lassen. (d) Möglich ist es aber auch, die Schädigungen als Verletzung der Interessen oder Präferenzen einer fremden Person zu interpretieren; anders als in (c) wäre diese Rekonstruktion nicht ausschließlich hedonistisch eingefärbt. Auch könnte man (e) auf die verfehlte innere Einstellung oder Haltung der Handelnden verweisen, die das Verbrechensopfer in den genannten Hinsichten schädigen. Das sind so weit natürlich nur skizzenhafte Beschreibungen. Bei den Ansätzen (a)–(e) haben wir es mit philosophischen Versuchen zu tun, das Prinzip moralischer Normativität zu rekonstruieren, um es dann treffender anwenden zu können. Die Ansätze (a)–(e) (und es gibt mehr als diese fünf) laufen auf grundlegende Modelle von Moralphilosophie hinaus. Hingegen kann man das Thema Moral natürlich auch mit den deskriptiven Mitteln der Wissenschaft untersuchen: Die drei wichtigsten Disziplinen hierfür sind erstens die Moralsoziologie, zweitens die Moralpsychologie und drittens die Biologie der Moral. Keine der drei Disziplinen nehmen zum Inhalt der Moral affirmativ oder kritisch Stellung; sie untersuchen einfach die Gehalte, Quellen, Funktionen, Formen, Konflikte, Wandlungen oder Erwerbsprozesse des Moralischen mit jeweils eigenen Mitteln und Methoden. Beim Thema Moralsoziologie muss man zwischen empirischen und theoretischen Untersuchungen unterscheiden. Die empirische Moralsoziologie thematisiert das vorhandene Moralbewusstsein einer Gesellschaft oder einer ihrer Gruppen in deskriptiver Hinsicht; dabei sind besonders Phänomene des moralischen Einstellungswandels, der Generationenkonflikte, der Geschlechterverhältnisse, der Einstellungen zu Minderheiten und anderer sozialer Gruppen zueinander von Interesse. In der theoretischen Moralsoziologie geht es um die Funktion von Moral in der Gesellschaft überhaupt. (Hier kommt es bisweilen durchaus auch zur Moralkritik.) Klassiker der theoretischen Soziologie zum Thema Moral sind etwa Emile Durkheims Vorlesungen Erziehung, Moral und Gesellschaft (1902/03), Max Webers Wirtschaft und Gesellschaft (1922) oder Niklas Luhmanns Die Moral der Gesellschaft 19 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Was ist Moral? Was spricht gegen Moral?

(2008). Luhmann etwa schreibt über Moral und ihre Funktion für die Gesellschaft (2008: 256 f.): »Ich verstehe unter Moral eine besondere Art der Kommunikation, die Hinweise auf Achtung oder Missachtung mitführt. Dabei geht es nicht um gute oder schlechte Leistungen in spezifischen Hinsichten, etwa als Astronaut, Musiker, Forscher oder Fußballspieler, sondern um die ganze Person, soweit sie als Teilnehmer an Kommunikation geschätzt wird. Achtung oder Missachtung wird typisch nur unter besonderen Bedingungen zuerkannt. Moral ist die jeweilige gebrauchsfähige Gesamtheit solcher Bedingungen. Sie wird keineswegs laufend eingesetzt, sondern hat etwas leicht Pathologisches an sich. Nur wenn es brenzlig wird, hat man Anlass, die Bedingungen anzudeuten oder gar explizit zu nennen, unter denen man andere bzw. sich selbst achtet oder nicht achtet. Der Bereich der Moral wird hiermit empirisch eingegrenzt und nicht etwa als Anwendungsbereich bestimmter Normen oder Regeln oder Werte definiert. Das hat den Vorzug höherer Eindeutigkeit im Vergleich zu Versuchen, die Spezifik moralischer (etwa im Unterschied zu rechtlichen) Regeln auf der Ebene der Normen oder Werte zu bestimmen. Vor allem aber gewinnen wir damit die Möglichkeit zu fragen, was geschieht, wenn irgendwelche Konditionierungen (und seien es solche des Rechts oder der politischen Kultur, der Rassenunterschiede und des persönlichen Geschmacks) moralisiert werden mit der Folge etwa, dass man meint, jemanden nicht mehr achten und nicht mehr einladen zu können, wenn sich herausstellt, dass bei ihm zu Hause eine Bismarck-Büste auf dem Klavier steht.«

Luhmann bestimmt die Moral als eine charakteristische Kommunikationsform und sieht ihre Funktion in der Zuerkennung zwischenmenschlicher Achtung oder Missachtung. Achtung bzw. Missachtung träfen in der Moral die ›ganze Person‹. Gewöhnlich haben wir, so Luhmann, keinen Grund, moralische Wertungen abzugeben; Moral ist somit ein Krisenindikator, der anzeigt, dass man in Achtungsfragen unsicher ist. Zu moralisieren heißt für ihn, über ein Wertungssystem zu verfügen, das es einem erlaubt, jemandem beispielsweise die Achtung grundsätzlich zu entziehen, 20 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts

weil er sich politisch unkorrekt verhält. In einer solchen funktionalen Beschreibung scheint Moral allerdings stark verkürzt zu werden. Moralpsychologie ist heute ein transdisziplinär betriebenes Forschungsfeld, in dem zahlreiche geistes- und humanwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche und naturwissenschaftliche Untersuchungen zusammengeführt werden (J. Sautermeister 2017). Dazu zählen etwa empirische Studien zu Autonomie und Willensfreiheit, zu Verantwortlichkeit und Schuldfähigkeit, zur Moralentwicklung und zur moralischen Motivation, zu moralischen Einstellungen, moralischer Identität und Charakter (Habitualisierung einer Persönlichkeit), zu Gewissen und Vertrauen. Lässt sich Moral empirisch als gruppen- und kulturspezifisches Phänomen begreifen, oder kommt ihr eine kulturübergreifende Bedeutung zu? Eine wichtige Frage, die zwischen Moralpsychologie und Philosophie angesiedelt ist, betrifft empirische Studien dazu, ob Moral letztlich in unseren Gefühlen oder in unserer Vernunft verankert ist. Empirisch-experimentelle Studien scheinen eher für einen Sentimentalismus als für einen Rationalismus in der Moral zu sprechen. Allerdings können Rationalisten (z. B. Kantianer oder Utilitaristen) darauf verweisen, dass Moral eben nicht primär deskriptiv, sondern als vernünftige Forderung an uns zu verstehen ist (dazu Schälike 2014). Biologische Theorien der Moral sind am Modell der darwinistischen Evolutionstheorie orientiert. Sie erklären das Verhalten von Tieren und Menschen anhand eines evolutionären Konkurrenzprinzips von Genomen (Gen-Ausstattungen). Ihre Grundannahmen wie die Vorstellung eines Gen-Egoismus, die These vom Altruismus zugunsten verwandter Gen-Ausstattungen oder diejenige von der Bereitschaft zu sozialen Tit-For-Tat-Strategien (also zu einem kalkulierten wechselseitigen Geben und Nehmen in stabilen Populationen oder Gesellschaften) scheinen empirisch (zumindest für tierisches Verhalten) recht gut bestätigt zu sein. Wichtige Forschungen betreffen hier etwa das Verhalten von Primaten im Vergleich zum menschlichen Verhalten. Reziprozität wird in biologischen Moraltheorien meist als grundlegendes Phänomen beschrieben, etwa in R. D. Alexanders The Biology of 21 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Was ist Moral? Was spricht gegen Moral?

Moral Systems (1987). Hinzu kommen aber auch Mitgefühl und viele andere moralische Phänomene, die das einfache Bild der Mutualität wesentlich komplexer machen. Michael Tomasello (2016) betont in seinem differenzierten Bild von Moral die Aspekte der Koevolution von Genen und Kultur; diese sei wesentlich geprägt durch die Bedeutung, welche die kollektive Intentionalität in der Menschheitsgeschichte besessen habe. Vor mindestens 100.000 Jahren habe der moderne Mensch begonnen, in hochgradig interdependenten Gruppen Einstellungen des Mitgefühls und der Loyalität zu entwickeln, um in der Konkurrenz um Ressourcen aussichtsreich zu sein. Moral erscheint so als Ausdruck einer spezifisch menschlichen Entwicklungsgeschichte. Tomasello resümiert seine Skizze von Moral wie folgt (2016: 246): »Moral ist schwierig, keine Frage. Menschen haben natürliche Neigungen des Mitgefühls und der Fairness gegenüber anderen, aber dennoch sind wir manchmal auch egoistisch. […] Nein, es ist ein Wunder, das wir moralisch sind, und es hätte nicht so kommen müssen. Es ist einfach nur so, dass aufs Ganze gesehen diejenigen von uns, die überwiegend moralische Entscheidungen trafen, auch mehr Babys hatten. Und deshalb sollten wir – wie gesagt – einfach staunen und die Tatsache feiern, dass, mirabile dictu (und ungeachtet Nietzsche), die Moral irgendwie gut für unsere Spezies, unsere Kultur und uns selbst zu sein scheint – zumindest bis jetzt.«

Soweit die empirischen Zugänge zur Moral. Gelegentlich, wie im Beispiel 1 von der Rettungsaktion und im Beispiel 4 vom nächtlichen Überfall, erscheint moralisches Handeln als ziemlich eindeutiges Gebot, als Pflicht – ob man sie nun als ›kategorisch‹ bezeichnen mag oder nicht. Unter ›Pflichten‹ versteht man solche Normen, die für den betreffenden Akteur bindend sind. Doch längst nicht bei allen Geboten oder Pflichten handelt es sich um moralische Verbindlichkeiten. Manche Pflichten sind selbstauferlegte Regeln des guten oder angenehmen Lebens: z. B. ästhetische, sportliche oder ernährungsbezogene Regeln oder selbstgegebene Regeln des Tagesablaufs. Wenn ich es mir zur Regel mache, nie mit ungeputzten Schuhen aus dem Haus zu gehen oder jeden 22 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts

Tag 1000m zu schwimmen, erlege ich mir selbst ›Pflichten‹ auf. Solche Handlungsregeln können für mich extrem bindend und auch weniger wichtig sein; für sie gilt, dass sie gewöhnlich nichts oder wenig mit Moral zu tun haben. Daneben existieren aber auch unterschiedliche Felder sozialer Pflichten, also Normen, die jemandem durch sein soziales Umfeld abverlangt werden. Diese sind meist konventionell oder ergeben sich aus freiwillig eingegangenen Bindungen. Sie zeigen zumindest eine gewisse Affinität zum Moralischen. Eine Liste dieser Normen könnte so aussehen: (a) Generelle Höflichkeitsstandards, konventionelle Umgangsformen sowie Normen des Auftretens in Sonderkontexten wie in Parlamenten oder Kirchen, in Seminarveranstaltungen, bei Konzerten oder bei Beerdigungen (Höflichkeitspflichten); (b) spezielle Loyalitäten, etwa gegenüber dem eigenen Arbeitgeber, seinem großzügigen Förderer gegenüber oder gegenüber einer Institution, deren Gast man ist (Loyalitätspflichten); (c) Regeln, wie sie sich aus einer Gruppen-, Partei-, Vereins- oder Religionszugehörigkeit ergeben (Mitgliedspflichten); (d) Normen, die man durch seinen Beruf, z. B. als Ärztin oder Feuerwehrmann, oder durch sein Amt, z. B. als Bürgermeisterin oder Kassenwart zu tragen hat (Berufs- und Amtspflichten); (e) die Gesetze eines Landes und die politisch-soziale Kooperation in dem jeweiligen Kontext, in dem man als Akteur steht (Rechtspflichten und Kooperationspflichten); (f) spezielle Pflichten gegenüber Nahestehenden, etwa solche der aufmerksamen Zuwendung, der Fürsorge, einer Auffangverantwortung oder der Unterstützung in Krisenzeiten usw. (Liebespflichten); (g) Pflichten zur Solidarität mit Individuen und Gruppen, mit denen man durch geteilte Identitätsmerkmale verbunden ist (Solidarpflichten).

Diese Liste nicht-moralischer sozialer Normensysteme ist nicht absolut trennscharf von Moral zu unterscheiden. Einige der genannten Regelbereiche, z. B. (e), (f) und (g), besitzen eine starke Affinität zum Moralischen, andere eine schwächere oder sind 23 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Was ist Moral? Was spricht gegen Moral?

weitgehend frei davon. Trotz solcher aspektweisen Überlappungen bestehen jedoch offenbar grundlegende Unterschiede zwischen moralischen und nicht-moralischen Formen von sozialer Normativität. Zwei dieser Unterscheide sind: Zum einen wirkt die Liste konventionell; die eine oder andere Gesellschaft könnte die inhaltlichen Festlegungen jeweils so oder anders treffen. Zum anderen sind die hier aufgelisteten Pflichten nicht einmal innerhalb der jeweiligen Gesellschaft jedem Mitglied vorzuschreiben; sie bilden daher z. B. keinen überzeugenden Inhalt einer allgemeinen Moralpädagogik. Das führt zu der Frage, ob man als Akteurin oder Akteur sich selbst gegenüber moralische Verpflichtungen zu erfüllen hat. Die Idee selbstbezogener Pflichten besitzt dann einen guten Sinn, wenn man eine Moralphilosophie vertritt, welche insgesamt – oder zumindest in einem gewissen Umfang – perfektionistisch argumentiert. Unter ›Perfektionismus‹ ist die Auffassung zu verstehen, dass es im menschlichen Leben darum gehen sollte, sich an einem bestimmten Ideal von Vollkommenheit auszurichten und sich ihm anzunähern. Eine perfektionistische Ethik stellt Individuen daher naheliegenderweise unter Verbindlichkeiten, die ihr eigenes Leben betreffen. Wir sollen dann z. B. an unserem Fortschritt im Erwerb moralischer Tugend arbeiten, unsere kognitiven Fähigkeiten verbessern, unsere Talente entfalten usw. Doch bei dieser Sichtweise handelt es sich um eine Minderheit von Ansätzen, etwa solche aus der aristotelischen Tradition. Die Mehrheit moralphilosophischer Modelle versteht unter Moral ausschließlich ein Handeln zugunsten Anderer, oder auch dasjenige, was wir einander schulden. Für diese bleibt die Idee selbstbezogener Pflichten gewöhnlich inakzeptabel. Somit gelangen wir zu einer Arbeitsdefinition von Moral. Unter Moral ist ein System normativer Anforderungen an eine(n) Akteur(in) zu verstehen, welche diese(n) darauf festlegen, die eigene Vorteilsperspektive unter bestimmten Umständen zugunsten der Verfolgung fremder Güter oder Interessen zurückzustellen oder auszusetzen. Moral bedeutet die mehr oder minder weitreichende, relativ spürbar in die eigene Interessenlage einschneidende Forderung nach zeitweiser Selbstlimitation, deren 24 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts

Gründe im Wohlergehen anderer Personen liegen. Von anderen normativen Systemen der Verhaltensregulierung unterscheidet es sich dadurch, dass jede(r) Akteur(in) sich von ihm vernünftigerweise wünschen kann, dass es zum allgemein anerkannten und beispielsweise durch eine generellen Erziehungspraxis verbreiteten Normensystem wird. Soweit unsere erste Intuition. Versuchen wir nun, eine etwas anspruchsvollere Beschreibung der Moral zu liefern. Um diese möglichst gehaltvoll zu machen, sei hier auf Beschreibungselemente zurückgegriffen, die sich bei unterschiedlichen Philosophen und Schultraditionen finden, zunächst einmal einfach, ohne auf ihre mögliche (oder aber prekäre) Vereinbarkeit zu achten. Folgende zehn Merkmalen scheinen dafür besonders in Betracht zu kommen [1–10]: [1] Singularität des Moralischen. Es existiert nur eine einzige richtige Moral; der Standpunkt der Moral (the moral point of view) kann nur ein einziger sein. Dies ergibt sich daraus, dass wir Fälle wie den in Beispiel 1 geschilderten zwangsläufig als eindeutig denken müssen. Jede Person könnte in die Lage des Ertrinkenden kommen und jede in die Lage der potentiellen Retterin. Niemand kann hier zu einem anderen Urteil gelangen, etwa dazu, dass für ihn andere Menschen und ihre Interessen nicht von Belang seien. Die Frage ›Was kann als moralisch gut gelten?‹ hat demnach immer eine mehr oder minder eindeutige Lösung. [2] Universalität und Universalisierung. Infolge der Einzigkeit der Moral scheint eine Relativierung ihrer Geltung durch Kulturoder Epochenkontextualisierung unplausibel. Denken wir erneut an Beispiel 1, so ist nicht zu sehen, was an der Rettung eines menschlichen Lebens kultur- und epochenrelativ sein könnte. Vielmehr scheint uns hier ein Grundsatz einleuchtend, den Marcus G. Singer (1975: 25) als ›Prinzip der Verallgemeinerung‹ bezeichnet hat: »Was für eine Person richtig (oder nicht richtig) ist, (muss) für jede andere Person mit ähnlichen individuellen Voraussetzungen unter ähnlichen Umständen richtig (oder nicht richtig) sein«. [3] Verständlichkeit und Einfachheit. Beim moralischen Standpunkt handelt es sich nicht um etwas Entlegenes oder Her25 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Was ist Moral? Was spricht gegen Moral?

geholtes, über das wir uns und anderen erst aufwändig Klarheit verschaffen müssen. In der Mehrzahl der Fälle sind moralrelevante Situationen für uns intellektuell einfach und eindeutig zu beurteilen. Für Moral braucht es keine Expert(inn)en; man kann ihre Verständlichkeit für jeden Akteur unterstellen. Mit Kant gesprochen: »[…] die menschliche Vernunft im Moralischen [kann] selbst beim gemeinsten Verstande leicht zu großer Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden« (Grundlegung 4: 391). [4] Sich-Aufdrängen und starke ›innere‹ Präsenz des Moralischen. Dieser Punkt klingt zunächst ganz ähnlich wie [3]. Aber im Unterschied dazu ist gemeint, dass Moralität nie ganz verdrängt und aus dem Blick geraten kann. Moralrelevante Fälle sind in der Regel auffällig, irritierend oder gar verstörend. Die moralische Perspektive schiebt sich stets in den Vordergrund und erscheint uns etwa – in traditioneller Sprache ausgedrückt – als mahnende, anklagende oder verurteilende Stimme des ›inneren‹ Gewissens. Kant hat das sich aufdrängende moralische Bewusstsein als das ›Faktum der Vernunft‹ bezeichnet (KpV 5: 31). [5] Intrinsische Motivation. Moralisch angemessen ist die Motivation eines Handelnden nur dann, wenn jemand das Richtige aus den richtigen Motiven tut. Das richtige Motiv liegt aber ausschließlich dann vor, wenn der Betreffende eine moralisch angemessene Handlungsweise allein um ihrer Richtigkeit willen ausführt, also aus Einsicht in ihre Richtigkeit. Dies bezeichnet man als intrinsische Motivation, und es ist nach dieser Auffassung der innere Wert einer Handlung, der sie ausführenswert macht. Nach Kant ist dies unvereinbar damit, dass wir gewöhnlich aufgrund unserer Neigungen, Wünsche, Triebe, Impulse, Affekte und Begierden handeln, denn die Instabilität, Kontingenz und mangelhafte Kognitivität von ›pathologischen Neigungen‹ kann nie eine geeignete Grundlage für die Rekonstruktion des Moralischen abgeben. Ob Letzteres zutrifft oder nicht: überzeugend scheint zumindest, dass es zum Begriff des Moralischen gehört, dass man Richtige um seinetwillen tun muss. [6] Kategorizität (Vorrangstellung, overridingness): Moralische Aspekte des Handelns sollen überdies von so durchschlagender Wichtigkeit sein, dass sie, sobald sie auftreten, nicht26 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts

moralische Aspekte außer Gefecht setzen. Moralität ist kein konkurrierendes Handlungsmotiv, sondern ein übergeordneter Gesichtspunkt. Sie führt zu Sollenssätzen, die eine neigungsunabhängige Gültigkeit aufweisen. Erneut mit Kant gesprochen gebietet das ›moralische Gesetz‹ in Form von kategorischen, nicht in Form von hypothetischen Imperativen. Wenn jemand beispielsweise kurz vor einem vorteilhaften Geschäftsabschluss steht, dann aber feststellt, dass das Geschäft eine bisher übersehene kriminelle Komponente enthält, wäre es moralisch richtig, wenn der Betreffende auf das Geschäft insgesamt verzichten würde. Er soll, so die kantische Konzeption von Moralität, den moralischen Aspekt höher bewerten als sein Geschäftsinteresse – auch wenn er bereits viel Zeit und Arbeit investiert haben sollte und auch wenn er sich sagen muss, dass daraufhin andere das Geschäft abschließen werden. Dahinter steht der Gedanke, dass Moralität für jeden Handelnden gleichgültig mit welcher Handlungsabsicht vorrangig ist: Erst wenn alle moralischen Erfordernisse erfüllt sind, steht es dem Handelnden frei, sich den nicht-moralischen Inhalten seiner Lebensführung zuzuwenden (zum Vorrangproblem vgl. Hoffmann/Schmücker/Wittwer 2017). [7] Wunsch nach Sanktionen. Die Ausführung der moralischen richtigen Handlung durch jede Akteurin und jeden Akteur erscheint uns als so wichtig, dass wir ein Zuwiderhandeln unter Strafe gestellt sehen wollen. John S. Mill etwa sagt über Gerechtigkeit, worunter er den Kern der moralischen Pflichten versteht: »Glauben wir, dass jemand der Gerechtigkeit nach verpflichtet ist, etwas zu tun, so pflegen wir zu sagen, dass man ihn zwingen sollte, es zu tun« (Utilitarismus, Kap. 5). Der Sanktionsdruck muss nicht immer in einer Strafe bestehen, zumal nicht in einer solchen der staatlichen Rechtsordnung. Auch soziale Sanktionen (Ansehensminderung, Ausgrenzung, Gesichtsverlust oder der Gedanke göttlicher Strafen) erscheinen hier als mögliche Varianten. [8] Unparteilichkeit. Bezeichnend für den Moralitätsbegriff ist ferner eine Aufforderung zur Objektivität der Interessenbewertung nach dem Grundsatz ›Handle so, dass du fremde fundamentale Interessen deinen eigenen Interessen grundsätzlich gleichstellst‹. Die bloße Tatsache, dass ich es bin, der sich Hoffnungen 27 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Was ist Moral? Was spricht gegen Moral?

auf einen angenehmen Kinoabend macht, gibt kein objektives und damit kein rationales Argument dafür her, weshalb ein Kinobesuch wichtiger sein sollte als etwa die Rettung eines Menschenlebens. Eine Überlegung des Typs ›Ich brauche B nicht zu helfen; denn meine Präferenzen zählen mehr, weil ich es bin, der sie hat‹ eignet sich nicht einmal zu einem subjektiven Vorwand. Selbst subjektiv scheinen Überlegungen mindestens einen Allgemeinheitsgrad zu erfordern wie ›Ich darf Bs Rettung ausnahmsweise unterlassen, weil ich mich selbst gefährden würde‹ (oder ›weil weitere Personen anwesend sind‹; oder ›weil professionelle Hilfe erforderlich ist‹ usw.). Es war besonders Adam Smith, der in seiner Theory of Moral Sentiments (1759) den Standpunkt des ›unparteiischen Beobachters‹ (impartial spectator) formuliert hat: »Von meinem gegenwärtigen Standpunkt aus scheint eine ungeheure Landschaft von Wiesen und Wäldern und fernen Gebirgen nicht mehr Platz einzunehmen als den des kleinen Fensters, an dem ich schreibe […]. Ich kann auf keine andere Weise einen richtigen Vergleich zwischen jenen großen Objekten und den kleinen Gegenständen ziehen, die um mich sind, als indem ich mich wenigstens in der Phantasie an einen anderen Standpunkt versetze, von wo ich beide aus ungefähr gleicher Entfernung überblicken kann, so dass ich mir dadurch ein Urteil über ihre wahren Größenverhältnisse zu bilden vermag.«

Um die Größenverhältnisse einer Landschaft richtig einzuschätzen, muss man nach Smith seine eigene, die Relationen verzerrende Perspektive aufgeben und sich in die Rolle eines Beobachters begeben, der die Objekte aus gleicher Distanz betrachten kann. Ebenso muss man sich in der Moral auf einen Standpunkt stellen, der relativ zu den Gründen (oder Gütern, Schmerzen, Präferenzen usw.) der Beteiligten eine gleiche Distanz wahrt. [9] Bedeutung der Handlungsfolgen. Die moralische Bedeutung der Handlungsfolgen ergibt sich zunächst aus dem, was Marcus G. Singer (1975: 24) das ›Argument der Verallgemeinerung‹ genannt hat: »Wenn das jeder täte, wären die Folgen verheerend (oder nicht wünschenswert); daher sollte niemand das tun.« Auch 28 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralbegriff und die Beschreibung des moralischen Standpunkts

unabhängig von einer solchen Verallgemeinerungskomponente, die die Handlungsfolgen oft als besonders dramatisch erscheinen lässt, sind Fragen der Konsequenzenbeurteilung äußerst moralrelevant. Darf man beispielsweise Gewalt anwenden, um so ein Verbrechen zu verhindern? Ginge es dabei um die Frage, ob man einen Ladendieb erschießen darf, der sich gerade mit gestohlener Schokolade aus dem Staub machen will, so kämen wir sicherlich zu einem anderen Ergebnis, als wenn wir uns die Frage vorlegen würden, ob man eine Terrorattacke auf einen Kindergarten gewaltsam verhindern darf, indem man die Angreifer mit Tränengas außer Gefecht setzt und dann fesselt. In jedem Fall sind Handlungsfolgen so wichtig für unser moralisches Urteil, dass unsere Intuition durch Fallbeispiele dieser Art und durch die relevanten Parameter stark aktiviert wird. [10] Forderung nach Charakterbildung. Die Frage nach der moralisch angemessenen Motivation erschöpft sich nicht im Urteil über das richtige oder falsche Motiv eines Handelnden bei einer Einzelhandlung (Punkt [5] oben). Die Motivkonstellationen eines Individuums sind nämlich nur dann als im Vollsinn als gut anzusehen, wenn sie sich am moralisch Richtigen nicht nur gelegentlich und kontingenterweise, sondern konstant und zuverlässig orientieren. Eine Charakterhaltung, die dies sicherstellt, heißt traditionellerweise ›Tugend‹. Tugend bedeutet hier (entgegen unserem alltäglichen Sprachgebrauch, aber in Übereinstimmung mit der antiken Wortverwendung) so viel wie ein rationales, aber zugleich habitualisiertes moralisches Wahlvermögen, eine konstante vernünftige Ausrichtung auf das moralisch Vorziehenswerte. Verlangt wird daher eine Habitualisierung der moralischen Motivation. Eine stärkere Version dieses Gedankens lautet: Wenn es richtig ist zu sagen, dass das moralisch Richtige habituell gewählt werden muss, dann kann es nichts moralisch Angemessenes innerhalb des individuellen Handlungsradius geben, von dessen Ausführung (oder Geschehenlassen) der Akteur dispensiert wäre. Die zehn genannten Beschreibungsmomente von Moral wirken nicht sehr homogen: Während [1] und [2] recht weitgehend geteilt werden, zeigen [3]–[6] eine eindeutig kantische Handschrift. Das heißt natürlich nicht, dass ihre Akzeptabilität einen 29 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Einwände gegen Moral, Amoralismus und Moralskeptizismus

Kantianismus voraussetzt; sie aber auf anspruchsvolleren Voraussetzungen zu beruhen. Der Aspekt [7] wurde maßgeblich von J. S. Mill formuliert. Das Element [8] geht auf Smith zurück, ist aber wesentlich weiter verbreitet. Punkt [9] ist konsequentialistisch und wurde hauptsächlich von Utilitaristen hervorgehoben, und auch Punkt [10] ist oft (wenn auch nicht immer) auf Tugendethiken beschränkt. Dennoch hat es einen guten Sinn, die zehn Punkte zu kombinieren und zu einem umfassenden Bild von Moral zusammenzusetzen. Auch wenn vielleicht nicht jede(r) alle Punkte teilen mag, unterschreiben doch viele affirmativ eingestellte Moralphilosoph(inn)en die Mehrzahl von ihnen. In dem Bild, das dabei entsteht, stellt Moralität für jeden rational Handelnden ein relativ eindeutiges Ganzes von Handlungsgründen dar. Man spricht hier auch von ›praktischer Notwendigkeit‹. Um der Kritik von Bernard Williams entgegenzukommen, mag man vielleicht sagen, es handle sich dabei nicht um ein unentrinnbares, zwingendes System; es muss also nicht so sein, dass moralische Aspekte allenfalls durch übergeordnete moralische Gesichtspunkte überboten werden können (sondern manchmal auch durch außermoralische). Auch muss es sich bei Moral keineswegs um ein quasi-wissenschaftlich, objektives oder rational-widerspruchsfreies System der Handlungsbeurteilung entfalten (wie Kant dies annahm). Dennoch lässt sich die Idee der Einheit und Konsistenz der Idee der Moral grundsätzlich verteidigen.

1.2 Einwände gegen Moral, Amoralismus und Moralskeptizismus Die im Vorigen entwickelte Idee der Moral und der Moralphilosophie ist natürlich zahlreichen Einwänden ausgesetzt. Man kann alle Bedenken gegen die Relevanz des moralischen Standpunkts zusammengefasst als moralischen Skeptizismus bezeichnen. Im Folgenden seien fünf dieser Herausforderungen beschrieben und diskutiert, nämlich:

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Einwände gegen Moral, Amoralismus und Moralskeptizismus

(a) Moralischer Pluralismus (b) Moralkritischer Naturalismus (Soziobiologie) (c) Klassische Formen der Moralkritik (d) Moralischer Relativismus (e) Normativitätsanspruch von Religionen und Weltanschauungen

(a) Moralischer Pluralismus. Zunächst lässt sich ein Einwand gegen die Einheitlichkeit des moralischen Standpunkts seitens eines ›Moralischen Pluralismus‹ (z. B. Ross 1930 und Nagel 1979) formulieren – falls man diese Position überhaupt als einen Einwand auffassen mag. Die meisten Vertreter eines Pluralismus verbanden mit ihrer Auffassung zwar keine moralkritische Absicht; aber zumindest könnte man diese Position auch moralkritisch verstehen. Bei William David Ross finden wir in The Right and the Good (1930) eine Differenzierung zwischen sieben verschiedenen Pflichtarten: solchen des persönlichen Treueverhältnisses (fidelity), solchen der Wiedergutmachung (reparation), der Dankbarkeit (gratitude), der Gerechtigkeit (justice), des Wohltuns (beneficence), der Selbstentwicklung (self-improvement) und der Nichtschädigung (nonmaleficence). Nach Ross’ Überzeugung konstituieren die genannten Punkte sogenannte prima faciePflichten, als Verbindlichkeiten, welche so lange gelten, bis sie durch einen übergeordneten normativen Gesichtspunkt überboten werden. Alle genannten Pflichtarten sind nach Ross in Bezug aufeinander irreduzibel, da sie auf ganz verschiedene Wurzeln unserer sozialen Praxis zurückgehen. Ergibt sich daraus, dass das Feld des Moralischen uneinheitlich und fragmentiert ist? Ähnlich unterscheidet auch Thomas Nagel in Mortal Questions (1979: Kap. 9) zwischen fünf verschiedenen Arten von Wert (types of value), von denen er annimmt, dass sie miteinander inkommensurabel sind. Inkommensurabilität scheint eine noch weitergehende These zu beinhalten als Irreduzibilität: Nagels Wertarten haben nicht nur keine gemeinsame Quelle; sie lassen sich auch nicht miteinander abgleichen. Für ihn gibt es erstens spezifische Pflichten gegenüber Personen und Institutionen, mit denen man in einer besonderen Beziehung steht; zweitens Ver31 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Einwände gegen Moral, Amoralismus und Moralskeptizismus

pflichtungen, die sich aus den grundlegenden Rechten anderer ergeben; drittens Nutzenüberlegungen, wie Utilitaristen sie in Bezug auf die allgemeine Wohlfahrt anstellen; viertens perfektionistische Ziele oder Werte, wie sie mit intrinsisch wertvollen Aktivitäten (in Wissenschaft oder Kunst) und der Idee einer Selbstentwicklung zusammenhängen; und fünftens das Interesse an den eigenen Bindungen und Projekten. Wiederum ähnlich liegt der Fall beim bioethischen ›Principlism‹, den man als eine neuere Version von moralischem Pluralismus ansehen könnte. Dem Principlism zufolge setzt sich unsere moralische Intuition, zumindest in Fragen der Bioethik, aus vier verschiedenen Zielsetzungen gegenüber Anderen zusammen. Nach T. L. Beauchamp und J. F. Childress (62008) ist (medizinisches) Handeln dann moralisch richtig, wenn es [i] der Stärkung fremder Autonomie dient (der Wahrung der freien oder rationalen Handlungsfähigkeit), wenn es [ii] einem Wohltun entspricht (fremdes Wohlergehen stärkt), wenn es [iii] Nichtschädigung impliziert (den Verzicht auf eine Beeinträchtigung fremden Wohlergehens) sowie [iv] Gerechtigkeit einschließt (zu einer angemessenen Verteilung von Gütern, Lasten und Pflichten führt). Hier ist die Differenz weniger deutlich, da es gut möglich scheint, beispielsweise die Prinzipien [i], [ii] und [iii] gleichzeitig zu verfolgen und dabei auch noch [iv] im Auge zu behalten. Solange ein moralischer Pluralismus lediglich die Komponenten unseres praktischen Überlegens herausarbeiten und auf die Schwierigkeiten moralischer Urteilsfindung (etwa in DilemmaFällen) hinweisen will, ist er sicher überzeugend. Wer die Idee einer einheitlichen Moral (einen moralischen Monismus) verteidigen möchte, müsste dann zeigen, dass hinter der phänomenalen Heterogenität in Wahrheit eine einheitliche Urteilsbasis steht. Wo immer der Pluralismus aber weitergeht und eine Inkommensurabilität der Wertquellen oder der Wertarten behauptet, scheint er fragwürdig. Wären die genannten Sphären unserer Wertungen nämlich strikt miteinander unvergleichbar, so würde praktisches Überlegen gar nicht funktionieren, und es würde sich nicht mehr lohnen; folgerichtig müsste es durch bloßes Entscheiden, durch einen Dezisionismus, ersetzt werden. Doch in Wahrheit haben 32 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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wir bei Pflichtenkollisionen aus den genannten Feldern durchaus das Bewusstsein, dass Güterabwägungen möglich sind. Unser praktisches Überlegen kommt mit unterschiedlichen Pflicht- und Wertarten häufig umstandslos zurecht; bisweilen ergibt sich ein Vorrang für die eine, bisweilen für die andere Art von Pflichten oder Werten. Mit moralischen Konflikt- oder Dilemma-Fällen zu argumentieren, wie Nagel dies tut, scheint zweifelhaft: Denn unser moralisches Selbstverständnis schließt die Meinung ein, dass praktisches Überlegen – z. B. in Bezug auf Wichtigkeit, Dringlichkeit und Ernsthaftigkeit der zur Wahl stehenden Optionen – auch zwischen unterschiedlichen Wertsphären eindeutig sein kann. Generell gilt, dass unser praktisches Überlegen mit unterschiedlichen Pflicht- und Wertarten meist umstandslos zurechtkommt; bei Norm- und Pflichtenkollisionen haben wir durchaus das Bewusstsein, dass Güterabwägungen möglich sind (auch wenn eine Güterabwägung schmerzhaft ausfallen mag). Sie scheinen sich im Grunde auf eine einzige Skala beziehen zu lassen. (b) Moralrevisionärer Naturalismus. Die wichtigste moralkritische Position aus den Naturwissenschaften ist seitens der Soziobiologie formuliert worden. Bei der Soziobiologie handelt es sich um eine modernisierte Interpretationsvariante der darwinistischen Evolutionstheorie. Soziobiologen erheben vielfach den weitergehenden Anspruch, eine umfassende, naturwissenschaftlich fundierte Sozialanthropologie formulieren zu können, oft auch in einem kausal-deterministischen Sinn. Einen solchen moralrevisionären Naturalismus vertreten insbesondere Exponenten der Evolutionären Ethik wie Edward O. Wilson (1980), Richard Dawkins (1994), Matt Ridley (1997) und Eckart Voland (2014). Gemäß diesen soziobiologischen Ansätzen muss unser moralisches Bewusstsein als ein evolutionäres Produkt verstanden werden, das sich ganz mit den begrifflichen Mitteln des Selektionsdrucks und der genetischen Rivalität beschreiben lässt. Nach der Überzeugung der Hauptvertreter dieser Richtung bildet der psychologische Altruismus, also unser Sinn für fremde Interessen, lediglich ein Oberflächenphänomen. Es handelt sich in Wahrheit um ex post-Rationalisierungen. Unserem Moralbewusstsein sol33 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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len hauptsächlich zwei soziobiologische Hintergrundprinzipien zugrunde liegen: Zum einen der Impuls zur Privilegierung genetisch verwandter Individuen (so dass etwa ein Selbstopfer eines Akteurs als vorteilhaft erscheinen kann, wenn durch es genetische Verwandte direkt oder indirekt unterstützt werden) und zum anderen die Bereitschaft, reziproke Formen der Kooperation einzugehen, bei welchen Individuen auch mit genetisch Fremden stabile Formen der wechselseitigen Zusammenarbeit praktizieren. Hinter psychologischem Altruismus steht somit genetischer Altruismus, der aus der über-individuellen Perspektive des Genoms betrachtet jedoch einen Selektionsvorteil bedeutet und insofern auf einen kompetitiven Egoismus hinausläuft. In gewisser Weise impliziert eine solche evolutionäre Ethik einen Intuitionismus, weil sie Moralität als individuelles Apriori deutet, wenngleich es sich auch um ein stammesgeschichtliches Aposteriori handelt. Vier Einwände gegen diese Position scheinen besonders wichtig zu sein: Erstens ist es zweifelhaft, ob Moral von dieser Position überhaupt richtig beschrieben wird: Ein Genegoismus mitsamt einem reziproken Altruismus scheint mangelhaft gemessen an unserer oben (in 1.1) gegebenen Phänomen- und Begriffsbestimmung von Moral. Zweitens mag zwar unsere evolutionäre Prägung im Feld der Moral kaum ganz bestreitbar sein; aber ihre deterministische Auslegung erscheint angesichts der Bedeutung kultureller Gegebenheiten und spezifischer Milieus für menschliches Verhalten als wenig plausibel. Allenfalls sind Menschen genetisch zu bestimmtem Verhalten inkliniert, nicht aber determiniert. Drittens zeigt die biologische Forschung, dass die Aktivierung oder Nicht-Aktivierung von Genen ein komplexes Geschehen ist, das zusätzlich auf epigenetische Faktoren verweist; Menschen handeln also nicht einmal der aktuellen biologischen Forschungslage nach einfach gen-gesteuert. Und viertens beruhen viele der aus der Soziobiologie abgeleiteten Folgerungen für das Zusammenleben von Menschen auf logisch unerlaubten Schlüssen von Fakten auf Normen oder von einem Sein auf ein Sollen. (c) Klassische Formen der Moralkritik. Für die klassische Moralkritik aus der philosophischen Tradition ist es charakteristisch, 34 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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dass ihre Vertreter Moral als eine fragwürdige soziale Fiktion oder eine lebensbehindernde Konstruktion ansehen. Einen solchen Standpunkt finden wir erstmals referiert bei Platon, der in seinem Gorgias den Sophisten Kallikles eine Art Verschwörungstheorie der Erfindung und Etablierung der Moral vertreten lässt (483a7– 484b1): »Denn nach der Natur (physei) ist alles hässlicher, was auch schlechter ist, nämlich das Unrechtleiden, nach dem Gesetz aber das Unrechttun. Denn das Unrechtleiden ist nicht der eines Mannes würdige Zustand, sondern der eines Sklaven, für den der Tod besser ist als das Leben, weil er nicht imstande ist, wenn er beleidigt oder misshandelt wird, sich selbst zu helfen oder sonst jemandem, für den er sorgt. Die Gesetzgeber aber sind, denke ich, die schwächlichen Menschen und die große Masse. In Rücksicht auf sich und ihren eigenen Vorteil geben sie die Gesetze, sprechen sie Lob und Tadel aus. Sie wollen die stärkeren Menschen, welche die Kraft haben, sich Vorteil anzumaßen, einschüchtern, damit sie es nicht ihnen gegenüber tun, und sagen deshalb, es sei hässlich und ungerecht, sich Vorteile anzumaßen; darunter verstehe man Unrechttun, sich Vorteile vor dem andern anzumaßen suchen. Denn sie sind, denke ich, zufrieden, weil sie schwächer sind, wenn sie nur den gleichen Teil behalten. Daher also wird dies durch das Gesetz als ungerecht und hässlich bezeichnet: das Streben, mehr zu haben als die meisten; und dieses nennt man Unrechttun. Die Natur selbst aber beweist, dass es gerecht ist, dass der Stärkere mehr habe als der Schwächere und der Fähige mehr als der Unfähige. Unter vielen anderen Beweisen hierfür zeigt sie unter den Tieren überhaupt und unter den Menschen in ganzen Staaten und Geschlechtern; dass das anerkanntes Recht ist, dass der Stärkere über den Schwächeren herrsche und mehr habe als jener. Denn mit welchem Rechte ist denn Xerxes gegen Hellas zu Feld gezogen? Oder sein Vater gegen die Skythen? Oder tausend andere Tatsachen der Art könnte man anführen. Aber ich denke, diese handeln nach der Natur und, beim Zeus, nach dem Gesetz der Natur (kata nomon ge ton tês physeôs), freilich nicht nach dem, das wir willkürlich aufstellen. Die Besten und Stärksten aus unserer Mitte nehmen wir von Jugend an her

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und suchen sie wie Löwen durch Sprüche und Zaubermittel untertänig zu machen und sagen ihnen, Gleichberechtigung müsse sein, und darin bestehe das Schöne und Gerechte. Wenn aber, glaube ich, ein Mann kommt mit einer hinreichend starken Natur, schüttelt der das alles ab, durchbricht die Fesseln mit Erfolg, tritt unsere Satzungen, Zaubersprüche und Formeln und alle die widernatürlichen Gesetze zu Boden, und er, der unser Sklave war, tritt offen als unser Herr auf, und da zeigt sich das Recht der Natur (to tês physeôs dikaion) in glänzendem Lichte.«

Die Moralkritik des Kallikles beruht auf der Behauptung, es gebe eine Normgeltung von Natur aus – wonach der Starke seinen Vorteil auf Kosten der Schwachen verfolgen dürfe und der Schwache es hinnehmen müsse – und eine Normgeltung der sozialen Konvention nach – wonach man dem Starken lediglich einrede, er dürfe sich nicht mehr aneignen als das, was auch alle anderen bekämen. Diese verschwörerische Benachteiligung des Starken werde ihm suggeriert durch den verfehlten Begriff des ›Unrechttuns‹ als des Mehr-haben-wollens: Denn er habe durchaus das natürliche Recht, sich mehr zu nehmen; und dies dürfe nicht als Unrecht disqualifiziert werden. In der zitierten Passage erscheint gleich zweimal der Begriff des Naturrechts (nomos tês physeôs und to tês physeôs dikaion), wenn auch nicht im Sinn des moralischen Naturrechts, wie man dies seit den Stoikern kennt. In noch schärferer Form tritt die Moralkritik bei Friedrich Nietzsche in Erscheinung. In ihrer Grundidee gleicht Nietzsches Position derjenigen des Kallikles: Moral ist nichts weiter als ein Konstrukt der Schwachen. Aber Nietzsches Ablehnung ist darin grundlegender, dass sie Moral als System der Verhinderung der eigentlich wertvollen Lebensoptionen beschreibt. In der ›Vorrede 6‹ der Genealogie der Moral (1887) heißt es (KSA 5: 253): »Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als

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Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständniss; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist. Man nahm den Werth dieser ›Werthe‹ als gegeben, als thatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung; man hat bisher auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, ›den Guten‹ für höherwerthig als ›den Bösen‹ anzusetzen, höherwerthig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf den Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre? Wie? wenn im »Guten« auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die Gegenwart auf Kosten der Zukunft lebte? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger? … So dass gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde? So dass gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre? …«

Nietzsche verbindet mit seiner Moralkritik eine ganze Kulturanalyse und historische Sozialpsychologie; Moral hat ihm zufolge eine äußerst tiefreichende fatale Wirkung auf die westliche Kultur ausgeübt. Nietzsche hält moralische Normativität für grundlegend verfehlt und plädiert daher im zitierten Text vehement für ihre Abschaffung. Eine recht andersartige Moralkritik wurde von Karl Marx und Friedrich Engels entwickelt. Die beiden Theoretiker des Kommunismus berufen sich für die Formulierung ihres eigenen Standpunkts keineswegs auf Moral, sondern erklären moralische Normativität – wie auch andere Bewusstseinsinhalte – für ein bloßes soziales Epiphänomen materieller Produktionsprozesse. In ihrer Deutschen Ideologie (1845/46) heißt es (MEW III: 26 f.): »Die Moral, Religion, Metaphysik und sonstige Ideologie und die ihnen entsprechenden Bewußtseinsformen behalten hiermit nicht länger den Schein der Selbständigkeit. Sie haben keine Geschichte, sie haben keine Entwicklung, sondern die ihre materielle Produktion

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und ihren materiellen Verkehr entwickelnden Menschen ändern mit dieser ihrer Wirklichkeit auch ihr Denken und die Produkte ihres Denkens. Nicht das Bewußtsein bestimmt das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein.«

Die Behauptung, Moral sei Ausdruck der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der Arbeitswelt und der Produktionsformen des Kapitalismus, ist delegitimierend gemeint. Aber weder wird bei Marx und Engels genauer dafür argumentiert, worin Moral die materielle Wirklichkeit des Ökonomischen abbildet, noch, inwiefern dies, falls es zutrifft, Moral ihrer Legitimation berauben würde. Ebenfalls in der Deutschen Ideologie findet sich eine Erläuterung, in der Moral als zu enge und ungeeignete Normierung des kommunistischen Befreiungskampfes beschrieben wird (MEW III: 229): »Die Kommunisten predigen überhaupt keine Moral […]. Sie stellen nicht die moralische Forderung an die Menschen: Liebet Euch untereinander, seid keine Egoisten pp.; sie wissen im Gegenteil sehr gut, daß der Egoismus ebenso wie die Aufopferung eine unter bestimmten Verhältnissen notwendige Form der Durchsetzung der Individuen ist. […] Die theoretischen Kommunisten, die einzigen, welche Zeit haben, sich mit der Geschichte zu beschäftigen, unterscheiden sich gerade dadurch, daß sie allein die Schöpfung des ›allgemeinen Interesses‹ durch die als ›Privatmenschen‹ bestimmten Individuen in der ganzen Geschichte entdeckt haben. Sie wissen, daß der Gegensatz nur scheinbar ist, weil die eine Seite, das sogenannte ›Allgemeine‹, von der andern, dem Privatinteresse, fortwährend erzeugt wird und keineswegs ihm gegenüber eine selbständige Macht mit einer selbständigen Geschichte ist, daß also dieser Gegensatz fortwährend praktisch vernichtet und erzeugt wird. Es handelt sich also nicht um eine Hegelsche ›negative Einheit‹ von zwei Seiten eines Gegensatzes, sondern um die materiell bedingte Vernichtung einer bisherigen materiell bedingten Daseinsweise der Individuen, mit welcher zugleich jener Gegensatz samt seiner Einheit verschwindet.«

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Marx und Engels blicken hier auf das Normensystem der Moral aus der sozialgeschichtlichen Perspektive eines von ihnen unterstellten Entwicklungsverlaufs, in welchem Moral lediglich einen von zwei Polen bildet und daher nicht einseitig gutgeheißen werden sollte. Die Polarität von privatem Individualinteresse und dem Gemeinwohl werde verschwinden, sobald sich die materiellen Bedingungen der Gesellschaft änderten. Man sieht erneut nicht so recht, warum es die Moral diskreditieren sollte, dass sie sich möglicherweise aus gesellschaftlichen Lebensbedingungen ergibt (und überdies wirkt ihr Plädoyer für einen gelegentlichen ›Egoismus‹ wie eine problematische Selbstermächtigung). Vor allem aber bleibt unverständlich, ob die kommunistische Position nicht selbst auf normative Ressourcen zurückgreifen muss, um attraktiv zu sein, und welche dies sein könnten, wenn nicht die der Moral. (d) Moralischer Relativismus. Oft begegnet man dem Einwand, bei der Moral handle es sich um ein kulturabhängiges Set von normativen Vorstellungen, welche anderen Individuen, Gruppen und Kulturen nicht aufgedrängt werden dürften. Dies ist die Position des Kulturrelativismus, dem zufolge moralische Normen stets kontextabhängig sein sollen (sich also jeweils auf bestimmte Gruppen, Kulturen und Epochen beziehen), miteinander unvereinbar seien und nicht von einer Seite einer anderen Seite aufgenötigt werden dürften. Die Behauptung einer Unvereinbarkeit kann man als Divergenzthese bezeichnen, die Forderung nach einem Einmischungs- oder Nötigungsverzicht als Toleranzthese (so etwa Quante 2003). Ein solcher Kulturrelativismus lässt sich anhand eines Beispiels diskutieren, das einem Aufsatz von Richard Brandt (1961/21993) entnommen ist. Angenommen, dass die Angehörigen eines Südsee-Volks davon überzeugt wären, dass es zu den Sohnespflichten gehöre, den eigenen Vater an seinem 60. Geburtstag bei lebendigem Leib zu begraben. Der weltanschauliche Hintergrund dieser kulturell verankerten Verpflichtung läge in der Überzeugung, dass der Körper einer Person im jenseitigen Leben genau die Gestalt behalte wie zuletzt in der diesseitigen Existenz. Wenn der Sohn seinen Vater also pflichtgemäß ins Jenseits befördert, solange dieser noch rüstig ist, erweist er ihm eine 39 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Wohltat, die er ihm verweigern würde, wenn er ihn am Leben ließe. Brandt vergleicht diese kulturspezifische Überzeugung nun mit der Einstellung im antiken Rom, wonach ein Sohn seinen Vater keinesfalls töten durfte. Ist dies ein passendes Beispiel für die Plausibilität des Kulturrelativismus? Brandt verneint dies und erklärt dazu (21993: 46): »Hier schiene es mir nur verwirrend zu sagen, zwischen dem Römer und dem Südseebewohner bestünde ein Gegensatz in grundlegenden moralischen Axiomen. Denn die moralischen Bewertungen der beiden beziehen sich nicht eigentlich auf dieselbe Handlung, d. h. auf eine Handlung, die für beide genau die gleiche Bedeutung hat.«

Was Brandt zum Ausdruck bringen will, ist, dass hier nicht die moralischen Überzeugungen oder Werturteile divergieren, sondern die Tatsachenannahmen: Während die Südseebewohner meinen, mit der Praxis des Vatermords etwas moralisch Richtiges zu tun, meinten die Römer, man tue seinem Vater dann das Beste, wenn man ihn am Leben lasse. Dies liegt jedoch nicht an verschiedenen Moralauffassungen, sondern an andersartigen Jenseitsbildern. Das Beispiel und viele ähnlich gelagerte Fälle spricht also keineswegs für einen Relativismus der Moral. Die Divergenzthese ist so gesehen falsch. Michael Quante (2003: 151–153) hat die Fragwürdigkeit und Inkonsistenz des Moralrelativismus genauer herausgearbeitet, indem er zwischen einem metaethischen und einem normativen Relativismus unterscheidet. Während der Erstere die Gruppen-, Kultur- oder Epochenrelativität aller Moralbegriffe behauptet, besagt der Letztere, als Akteur müsse man sich stets an sein relativ gültiges Normensystem halten. Doch diese beiden Thesen sind sowohl für sich genommen unplausibel als auch miteinander unverträglich. Weshalb sollte ich mich an die Moral halten müssen, die mir mein Kontext vorgibt? Warum sollte ich sie nicht kritisieren dürfen und revisionär umformen? Und selbst wenn ich ihr folgen müsste, warum sollte ich dann nicht z. B. normgemäß befugt sein, Angehörige fremder Kulturen zu unterdrücken? Woher kommt ausgerechnet im Relativismus die These, man solle jede 40 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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fremde Kultur in ihrem Eigencharakter respektieren? Offenkundig hängt die Toleranzthese in der Luft, weil man theoriegemäß nicht begreifen kann, wie man am Ende doch noch zu einer nichtrelativen moralischen Einstellung gelangen sollte, nämlich zur Forderung nach Nichteinmischung in fremde moralische Überzeugungssysteme. (e) Normativitätsanspruch von fundamentalistischen Religionen und ideologischen Weltanschauungen. Die in Kap. 1.1 gegebene Beschreibung der Moral könnte zudem von fundamentalistischen Religionen und ideologischen Weltanschauungen zurückgewiesen werden. Solche Religionen bzw. Weltanschauungen haben die Tendenz, den Vorrang der Moral abzulehnen, indem sie ihn durch einen Vorrang von religiöser oder weltanschaulicher Normativität ersetzen. Beide, Religionen ebenso wie Weltanschauungen, stellen Überzeugungssysteme dar, welche typischerweise eigene Spielarten von Normativität ausbilden; sie konkurrieren daher oft in problematischer Form mit dem Anspruch der Moral. Angenommen, für die Gläubigen der X-Religion gäbe es einen Gott, der das Betreten der Trennlinien zwischen den GehwegSteinplatten mit ewiger Verdammnis bestraft und zur Missionierung der ganzen Welt aufruft: Dann würden diese ihr Leben wahrscheinlich so stark an dieser Glaubensbotschaft ausrichten, dass das Leben für selbst und für andere kaum noch erträglich wäre. Das liefe zum einen auf einen unannehmbaren moralischen Revisionismus hinaus. Zum anderen würde es fast jede Gewaltanwendung gegenüber anderen legitimieren. Aus moralischer Perspektive gleichermaßen inakzeptabel wäre die Lehre einer YWeltanschauung, nach der es ein Gebot gibt, Frauen zu benachteiligen, Homosexuelle zu diskriminieren oder Andersdenkende zu verfolgen. Im Fall der X-Religion würde Moralität durch Akzentuierung des Gehweglinien-Verbots unzulässig marginalisiert oder umgedeutet, im Fall der Y-Weltanschauung in inakzeptabler Weise ignoriert oder pervertiert. Neben zahlreichen Angehörigen fundamentalistischer Religionen laufen auch viele Anhänger von ideologischen Weltanschauungen Gefahr, Moralität wenigstens zum Teil durch ein Normensystem zu ersetzen, das unmoralisch 41 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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ist oder doch moralisch kontraintuitive Implikationen und Konsequenzen aufweist. Vielfach mag eher ein politisch-gesellschaftliches als ein philosophisches Problem vorliegen, wenn Vertreter solcher Weltsichten es für unumgehbar halten, die Idee der Moralität z. B. mit Glaubensüberzeugungen zu verbinden, welche Gott, ein jenseitiges Leben, Erlösung oder Bestrafung und entsprechende praxis pietatis-Regeln betreffen. Aber in anderen Fällen wird der Moralität der Rang prinzipiell streitig gemacht, indem etwa die Common sense-Bewertung des Todes als eines Übels für den Betroffenen bestritten wird. Zu einem nennenswerten Teil besteht das Problem darin, dass solche revisionären Positionen von anderen Tatsachenannahmen ausgehen als der Common sense. Wenn Gott tatsächlich die Gehweglinien-Betreter strafen und die Nicht-Betreter belohnen würde, wäre es zweifellos rational, sein eigenes Leben daran auszurichten und andere von der Wichtigkeit dieses Sachverhalts zu überzeugen. Dasselbe würde gelten, wenn es wahr wäre, dass die verfolgten sozialen Gruppen eliminiert werden müssten, damit es der Gesellschaft künftig gut geht (oder was sonst unterstellt werden mag). Allerdings spricht denkbar wenig dafür, die Welt so zu sehen wie die X-Religion und die Y-Weltanschauung. Für Kritiker der X-Religion wäre es folglich vielversprechend, das Zustandekommen der angeblichen göttlichen Offenbarung zu durchleuchten und die dazugehörende Theologie auf ihre Konsistenz zu prüfen. Ähnlich wäre mit der Y-Weltanschauung zu verfahren. Problematisch scheint (wie soeben gesehen) eine Spielart des orthodoxen Marxismus, nach der die Perspektive individueller Normativität irrelevant sein soll, weil der objektive Geschichtsverlauf z. B. diese und jene Grausamkeit seitens der Partei oder ihres Zentralkomitees erforderlich mache. In solchen Fällen lässt sich nur darauf verweisen, dass Inhalt und Vorrang der Moralität schlichtweg verkannt werden. Eine potentiell erfolgreiche philosophische Strategie der Argumentation gegen Fundamentalisten und Ideologen (wären diese nur argumentationsfähig) könnte darin bestehen, auf die Inkonsistenz des jeweiligen Weltbilds hinzuweisen. Denn in der Regel legen Anhänger(innen) kruder Überzeugungssysteme durchaus 42 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Begründung der Moral

Wert darauf, nicht selbst Opfer anderer kruder Überzeugungssysteme zu werden. Die Moralgeltung für sich selbst einzufordern, anderen aber zu bestreiten, ist aber praktisch inkonsistent.

1.3 Begründung der Moral Braucht man eine Begründung der Moral? Und falls ja, von welcher Art könnte diese sein? Nach einer weitverbreiteten Meinung ist eine philosophische Moralbegründung entweder unmöglich oder unnötig. Für den lebensweltlichen Zusammenhang scheint dies tatsächlich plausibel: Es wäre abwegig, wollte man mit den Mitteln einer Moralbegründung den ›allgemeinen Verfall der Werte‹ aufhalten oder den ›weit verbreiteten moralischen Nihilismus‹ bremsen. Die soziale Bedeutung der Moral scheint grundsätzlich völlig unstrittig; mögliche Amoralisten müssen daher mit erheblichem sozialem Sanktionsdruck rechnen – was im Übrigen auch wirkungsvoller sein dürfte als philosophische Argumente. Auch im Rahmen der Moralphilosophie mag man darauf verweisen, dass die verschiedenen Modelle – etwa der Eudämonismus, der Utilitarismus, der Kontraktualismus oder die Tugendethik – als philosophische Theorien bereits in sich mehr oder weniger gut begründet sind. Eine zusätzliche Moralbegründung wäre dann gewissermaßen eine Redundanz, eine unnötige Verdoppelung. Andererseits scheint es jedoch nicht absurd, den verschiedenen Varianten des moralischen Skeptizismus – also des theoretischen Amoralismus, nicht des praktischen – etwas entgegenzuhalten, was die Annahme der Relevanz moralischer Normen mit vernünftigen Argumenten plausibilisiert. Der im Deutschen gebräuchliche Ausdruck ›Moralbegründung‹ besitzt kein direktes Äquivalent (oder zumindest keine vergleichbar häufig benutzten Entsprechungen) in anderen westlichen Sprachen. Vermutlich hängt dies mit der starken Wirkung der kantischen Moralphilosophie auf die deutschsprachige Diskussion zusammen. Die Forderung nach einer Moralbegründung erscheint wie eine Ableitung aus Kants Vorgehen in der Grundlegung (1785): Während er dort in den Abschnitten I und II den 43 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Begriff der Moralität ›analytisch‹ expliziert, begründet er ihn erst in Abschnitt III ›synthetisch‹. Mit dieser nachgelieferten Rechtfertigung des Kategorischen Imperativs will Kant verhindern, dass jemand glaubt, die zuvor beschriebene Idee von Moral sei eine ›bloße Chimäre‹. Mehr noch, Kant vertritt generell einen ethischen Rationalismus, also die Position, wonach sich unmoralisches Verhalten stets zugleich als unvernünftig erweisen lässt, während moralisches angemessenes (= gefordertes) oder indifferentes (= erlaubtes) Verhalten stets zugleich als von der Vernunft gefordert (bzw. als erlaubt) herausstellt. Sein Grundgedanke ist, dass sich dieser Zusammenhang zwischen Moralität und praktischer Rationalität in einem oder mehreren einfachen Testverfahren zeigen lässt. Ist also Moral vernünftig und Unmoral unvernünftig? Grundsätzlich scheint sich diese Vorstellung in der Forderung nach einer Moralbegründung erhalten zu haben. Da aber ›Vernünftigsein‹ zahlreiche verschiedene Bedeutungen haben kann, lässt sich auch unter Moralbegründung recht Unterschiedliches verstehen. Eine besonders starke Variante ist mit der Formulierung einer ›Letztbegründung‹ versucht worden. Es war besonders Karl-Otto Apel, der in seiner ›Transzendentalpragmatik‹ einen solchen Versuch unternommen hat, indem er geltend machte, dass in der moralischen Reflexion ein absolut gewisses und nachweislich täuschungsfreies Handlungswissen erreicht werden kann (dazu näher unten S. 175–179). Die Idee einer Letztbegründung erinnert allerdings eher an Descartes’ Programm eines ›unerschütterlichen Fundaments‹ der Philosophie als an Kant, der mit Sicherheit keine Letztbegründung liefern will. Ein solcher Begründungsfundamentalismus scheint in der Moralphilosophie zu weit zu gehen. Aber ist damit die Idee einer starken Moralbegründung oder sogar die einer Moralbegründung überhaupt diskreditiert? Welche alternativen Begründungsvarianten stehen zur Verfügung? Zunächst ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Moralbegründung auch in einer ›schwachen‹ Version sinnvollerweise versucht werden kann. Dieter Birnbacher schreibt dazu (2003: 406 f.):

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Begründung der Moral

»›Schwache‹ Begründungen unterscheiden sich von starken dadurch, dass sie keine zwingenden, sondern lediglich Plausibilitätsgründe liefern. Zwingende Gründe lassen einem rational Denkenden keine Wahl. Sie haben die Struktur: Wer a sagt, muss – solange er weiterhin als rational gelten will – auch b sagen. Plausibilitätsgründe dagegen lassen eine Wahl. Sie zwingen nicht, sondern machen nur dazu geneigt, dem Begründeten zuzustimmen.«

Nach Birnbacher sind die relevanten Begründungsfiguren besonders das Universalisierungsprinzip und der Anspruch auf Allgemeingültigkeit; ähnlich Ansätze, die den ›idealen Beobachter‹ oder einen ›Schleier des Nichtwissens‹ verwenden; in Frage kommen für ihn auch die ›Goldene Regel‹ (also die Forderung nach geteilter, reziproker Regelbefolgung) und die objektive Interessenberücksichtigung. Für alle diese möglichen Strategien gilt nach Birnbacher aber, dass sie für einen Moralkritiker, der die Idee moralischer Normativität grundsätzlich ablehnt, nichts ausrichten können. ›Schwach‹ ist diese Moralbegründung also darin, dass sie eine gewisse Bereitschaft, sich auf moralische Argumente und Sichtweisen einzulassen, für ihren Erfolg bereits voraussetzen muss. Eine noch defensivere Begründungsform würde im Verweis auf die weitgehend geteilte faktische moralische Praxis bestehen (falls diese denn tatsächlich besteht) oder im Konsens der faktisch vertretenen Moralphilosophien (falls es diesen wirklich gibt). Ein solcher Begründungskontextualismus ist zwar sicher möglich, wirkt aber theoretisch nicht sehr befriedigend. Hans Albert hat ihn einmal zu Recht als einen ›honorigen Dogmatismus‹ verspottet; ein Kontextualismus klingt zu sehr nach einer affirmativen, unkritischen und unphilosophischen Einstellung gegenüber kulturell oder akademisch geteilten Inhalten. Wie könnten Begründungen sonst aussehen? Zu den eher schwachen Begründungsformen zählt neben dem Kontextualismus sicher auch der Kohärentismus. Historisch ist der Kohärentismus wohl auf den Pragmatismus John Deweys zurückzuführen. Aktualität gewonnen hat er im Rahmen der Methodendiskussion der Angewandten Ethik. Dort hat man vielfach 45 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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eine Analogiethese vertreten, wonach die moralische Urteilsbildung ähnlich vor sich geht wie die Hypothesenbildung in den empirischen Wissenschaften. Kohärentismus erscheint in den empirischen Wissenschaften als ein methodisch reflektiert vorgenommener Ausgleich zwischen empirischen Einzelbeobachtungen und solchen Vorannahmen, die sich aus den gesicherten Theorien, Hintergrundüberzeugungen und Metaannahmen der jeweiligen Wissenschaft herleiten. Nach Thomas Bartelborth gelten folgende Kohärenzkriterien (1996: 193): »Ein Überzeugungssystem ist dann kohärent, wenn (a) einzelne Überzeugungen sich gegenseitig stützen und ein Überzeugungssystem mit in erster Linie abduktiven Relationen bilden, also nicht beliebig nebeneinander stehen, und folglich ein hoher Grad inferentieller Beziehungen innerhalb des Systems bzw. eine hohe systematische Kohärenz vorliegt; (b) sowohl Überzeugungen im System als auch neu auftretende Überzeugungen, in einem weiteren Sinn auch Hypothesen oder Intuitionen, im Rahmen dieses Überzeugungssystems erklärbar sind und sich dadurch eine gewisse Stabilität des Überzeugungssystems erweist, also ein hoher Grad von relationaler Kohärenz vorliegt und diese Stabilität über die Zeit besteht; (c) keine Inkohärenz des Überzeugungssystems entsteht durch Inkonsistenzen, isolierte Subsysteme, Erklärungsanomalien oder konkurrierende abduktive Schlussvarianten im System.«

Vielfach machen kohärentistische Moralphilosophen Anleihen bei der von John Rawls für seinen politischen Kontraktualismus entwickelten Idee eines Überlegungsgleichgewichts (reflective equilibrium: 1973: 36–38). Rawls geht es darum, von einzelnen ›festen‹ oder ›wohlerwogenen‹ intuitiven Urteilen zu einer konsistenten Gerechtigkeitsvorstellung zu gelangen. Hierfür schlägt er einen methodischen Ausgleich vor, bei dem beide Teile, Intuitionen und theoretische Explikationen, einer wiederholten wechselseitigen Korrektur unterliegen, bis eine kohärente, erklärungskräftige Gerechtigkeitstheorie Gestalt gewinnt. Dabei handelt es sich um ein ›Hin- und Hergehen‹ zwischen Einzelurteilen und Prinzipien. Das Überlegungsgleichgewicht wirkt zunächst wie 46 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Begründung der Moral

eine elegante Methode zur Erlangung einer ausgewogenen Position. Doch sind auch die methodologischen Schwierigkeiten erheblich: Wie genau werden die intuitiv plausiblen Einzelurteile und die Ausgangsprinzipien gewonnen? Was rechtfertigt es, ein Einzelurteil oder ein Prinzip jeweils abzuschwächen, und bis zu welchem Grad darf dies geschehen? Bei welchem Ausmaß von Kompromissbildung ist ein Gleichgewicht erreicht (dazu S. Hahn 2000)? Auch stärkere Formen der Moralbegründung scheinen vielversprechend, ohne dass sie vergleichbar anspruchsvolle Positionen einnehmen müssten wie die einer transzendentalpragmatischen Letztbegründung. Als Beispiele hierfür seien die Moralbegründungen von Alan Gewirth (1987) und von Christine Korsgaard (1996) angeführt, die einander darin ähneln, dass beide die Idee eines normativ gehaltvollen, nicht-beliebigen praktischen Selbstbilds von Akteur(inn)en entwickeln. Der Grundgedanke ist in beiden Fällen, dass sich in der Reflexion des handelnden Subjekts auf seine praktischen Grundbedingungen eine moralisch gehaltvolle Normativität identifizieren lässt. Alan Gewirth hat in Reason and Morality (1987) eine geschlossene Kette von Urteilen aufgestellt, die sich auseinander durch pragmatische Implikation ergeben sollen und die er als ›dialektisch notwendig‹ kennzeichnet. Sein Beweisziel besteht darin zu zeigen, dass jeder Handelnde diese Folge von Aussagen anerkennen muss, darunter abschließend auch ein moralisch gehaltvolles Prinzip. Die Anerkennung soll deshalb zwingend sein, weil es sich um diejenigen Konsistenzbedingungen handelt, die für die Gattung ›Handlung‹ überhaupt konstitutiv sind. Gewirth spricht daher vom ›Prinzip der generischen Konsistenz‹ (principle of generic consistency). Dieses Prinzip abzulehnen, hieße misszuverstehen, was Handlungen ihrer Grundstruktur nach charakterisiert. Die Ähnlichkeit zu Kants Anliegen, für die Moralphilosophie allein die formalen Konsistenzbedingungen vernünftigen Wollens in Anspruch zu nehmen, fällt deutlich ins Auge. Was sind aber für Gewirth diese Charakteristika? In der präzisen Rekonstruktion von K. Steigleder (1992 und 1997) lauten Gewirths wichtigste Argumentationsschritte wie folgt: 47 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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»Ich tue die Handlung H um eines Zieles Z willen.« »Ich will Z.« »Z ist gut.« »Z ist ein Gut.« »Ich will, dass H erfolgreich ist.« »Mein Handlungserfolg ist ein Gut.« »Meine Handlungsfähigkeit ist ein Gut.« »Meine Freiheit und die (weiteren) grundsätzlichen Fähigkeiten und Voraussetzungen meiner erfolgreichen Zielverfolgung sind notwendige Güter.« »Meine Freiheit und mein ›Wohlergehen‹ sind notwendige Güter.« »Ich brauche meine Freiheit und mein Wohlergehen (in deren Eigenschaft als notwendige Bedingungen meiner erfolgreichen Zielverfolgung überhaupt) notwendig, und ich will sie (in dieser Eigenschaft) unkonditioniert und ausnahmslos.« »Es soll ausnahmslos und durchgängig nicht der Fall sein, dass meine Freiheit und mein Wohlergehen (in deren Eigenschaft als notwendige Bedingungen meiner erfolgreichen Zielverfolgung überhaupt) von außen beeinträchtigt werden.« »Jeder Handlungsfähige ist strikt verpflichtet, meine Freiheit und mein Wohlergehen (in deren Eigenschaft als notwendige Bedingungen meiner erfolgreichen Zielverfolgung überhaupt) nicht zu beeinträchtigen.« »Ich habe ein Recht auf meine Freiheit und mein Wohlergehen (in deren Eigenschaft als notwendige Bedingungen meiner erfolgreichen Zielverfolgung überhaupt).« »Ich habe die konstitutiven Rechte, weil ich ein zielverfolgender Handelnder bin.« »Jeder zielverfolgende Handelnde hat gleichermaßen die konstitutiven Rechte.« »Jeder Handlungsfähige (auch ich) ist strikt dazu verpflichtet, die konstitutiven Rechte der anderen Handlungsfähigen nicht zu verletzen.« »Jeder Handelnde soll stets in Übereinstimmung mit den konstitutiven Rechten der Empfänger seiner Handlungen wie auch seiner selbst handeln.«

48 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Begründung der Moral

Nach Gewirths Anspruch ist jeder Akteur dialektisch genötigt, von der Anerkennung basaler handlungstheoretischer Feststellungen zur Zustimmung zum Prinzip (= 17) überzugehen. Sein Beweisweg ist folgender: Handlungen sind durch Ziel- oder Zweckorientierung definiert; überdies muss der rationale Akteur sein Handlungsziel in irgendeiner Hinsicht immer für ›gut‹ und für ›ein Gut‹ halten, auch wenn es sich als bloßes vermeintliches Gutes erweisen sollte und auch wenn er im Fall von Willensschwäche das Ziel Z nach eigener Einsicht keineswegs für die beste Handlungsoption halten mag. Indem der Akteur die notwendigen Voraussetzungen seiner Güterverfolgung mitwollen muss, gelangt Gewirth dazu, auch die konditionalen Güter Freiheit und Wohlergehen als Bedingungen seiner vernünftigen Handlungsfähigkeit zu bejahen. Diese sind so strikt notwendig, dass er sie sowohl in seiner eigenen Zielverfolgung stets beachten muss (z. B. nicht unterminieren darf) als auch als einen Rechtsanspruch betrachten muss, dessen Gewährleistung er legitimerweise von Andere verlangen darf. Indem er diesen Punkt abschließend für alle Akteure universalisiert, gelangt Gewirth zu einem Modell einer allgemeinen wechselseitigen Anerkennung der Rechte und Pflichten, die wir als vernünftige Handelnde mit Blick aufeinander haben, also zu einem moralischen Standpunkt. Als Probleme der Gewirth’schen Moralbegründung gelten oft folgende Punkte: (i) Problem möglicher nicht-zielorientierter Handlungen: Muss tatsächlich jede Handlung zielorientiert sein? Oder kommt man in der Handlungsbeschreibung auch ohne Zieloder Zweckkomponente aus? (ii) Problem der Bosheit sowie der Willensschwäche: Muss tatsächlich jedes Ziel einer Handlung aus der Akteursperspektive als gut (zumindest als vermeintliches Gut) erscheinen? Ließen sich Bosheit oder Willensschwäche nicht als bewusst wählbar beschreiben? (iii) Problem der Selbstrestriktion auf beschränkte Handlungsziele: Muss ein Akteur immer seine eigene allgemeine Handlungsfähigkeit erhalten wollen? (iv) Problem des Übergangs von prudential rights zu einem moralisch gehaltvollen Prinzip: Warum sollte ich, wenn ich einsehe, dass ich selbst unveräußerliche Rechte beanspruchen muss, diese auch anderen konzedieren müssen? (v) Problem der Universali49 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Einwände gegen Moral, Amoralismus und Moralskeptizismus

sierung: Warum sollte ich auf die Gewährleistung fremder Güter verpflichtet sein? In eine ähnliche Richtung wie das Modell Gewirths geht die konstruktivistische Ethikbegründung von Christine Korsgaard in The Sources of Normativity (1996). Das Leitproblem von Korsgaards Buchs besteht darin, eine hinreichende Antwort auf die Herausforderung durch einen moralischen Skeptiker zu geben, also auf Fragen wie: Warum soll ich mich als moralisch verpflichtet ansehen? Was rechtfertigt moralische Standards? Warum soll ich moralisch handeln? Korsgaard wählt in ihrer an Kant angelehnten Position folgenden Ausgangspunkt: Selbstbewusstsein bilde zwar kein irrtumsfreies Wissen im Descartes’schen Sinn, beruhe also nicht auf reiner Selbsttransparenz; doch sei das menschliche Selbstverhältnis ein unausweichliches: Der Verzicht auf ein Selbstverhältnis sei für uns undenkbar. Damit stellt sich jedoch eo ipso die normative Frage, welchem Handlungsimpuls oder Motiv jemand folgen wolle. Um diese Frage zu entscheiden, benötige ein Akteur Handlungsgründe (reasons). Denn es sei prinzipiell ausgeschlossen, schlichtweg den eigenen Neigungen, Wünschen und Motiven zu folgen; auch diese müssen zumindest einen Unbedenklichkeitstest durch praktisches Deliberieren bestehen. Vom Innenstandpunkt aus betrachtet verfüge ich somit über die Freiheit der Selbstgesetzgebung. Im Anschluss daran entwickelt Korsgaard die folgende Argumentationskette (zur Rekonstruktion und Kritik vgl. FitzPatrick 2005 und 2013 sowie Bambauer 2018): (1) Selbstbewusstsein begründet ein unausweichliches inneres Selbstverhältnis. Daraus ergibt sich für jeden Akteur das normative Problem: Nach welchem Impuls oder Wunsch soll ich handeln? Jede Entscheidung, auch die für einen naturalen Impuls, setzt eine bewusste Zustimmung voraus. (2) In meinem praktischen Selbstverhältnis muss ich mich – ungeachtet einer möglichen Richtigkeit des Kausaldeterminismus – als autonom auffassen: Geltung können für mich nur Gründe haben; und diese Geltung muss durch ein nachvollziehbares rationales Prüfverfahren zustande kommen.

50 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Begründung der Moral

(3) Das praktische Selbstverhältnis eines Akteurs muss über ad hocEntscheidungen hinausgehen; eine rationale Prüfung von Handlungsgründen bedeutet stets, zu prüfen, ob eine Handlung Fall einer allgemeinen Regel oder eines Gesetzes sein könnte. Mehr noch, ich muss mich für eine dauerhafte praktische Identität entscheiden. (4) Vernünftigerweise besitzt die von mir gewählte praktische Identität eine verbindliche Geltung. Ein Verpflichtungsgrund, x zu tun, ergibt sich immer dann, wenn mein Selbstbild durch ein Unterlassen von x beschädigt würde. (5) Zwar ist dem Kontextualismus zuzugestehen, dass kontingente und partikulare praktische Identitäten faktisch für das Moralbewusstsein konstitutiv sind. Dennoch müssen sich alle diese Identitäten vor dem Hintergrund der allgemeinmenschlichen Identität überprüfen lassen. Konflikthafte Partikularidentitäten können nur im Rückgriff auf eine solche Hintergrundidentität untereinander vermittelt werden. (6) Mit einer allgemein-menschlichen Hintergrundidentität (Kantisch gesprochen der ›Menschheit‹) kommt die Moralitätsidee ins Spiel. Als moralisch erweisen sich Handlungsoptionen immer dann, wenn ihre Prüfung zeigt, dass sie Bestandteile von Regeln sind, die für alle Mitglieder eines intelligiblen Reichs der Zwecke Gültigkeit besitzen könnten. (7) Die Tatsache, dass wir die Hintergrundidentität der ›Menschheit‹ immer als normativ verwenden müssen, schließt ein, dass wir sie zudem immer schon schätzen müssen. Sie kann nicht nur kognitiv, als Beurteilungsmaßstab, verwendet werden, sondern muss auch unser positives Handlungsziel sein. (8) Ebenso wenig, wie jemand eine Privatsprache benutzen kann, kann jemand privat einer Norm folgen. Was für einen einzigen rationalen Akteur bindend ist, muss für alle Handelnden verpflichtend sein.

Triftige Handlungsgründe müssen für Korsgaard nicht-externer Art sein; sie kommen nur durch ›reflexiven Erfolg‹ zustande. Ein solcher stellt sich nach Korsgaard genau dann ein, wenn ein Grund einem Gesetz oder einer Regel entspricht. Das Testverfahren, mit dem ich zu einem reflexiven Erfolg gelange, bezeichnet 51 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Einwände gegen Moral, Amoralismus und Moralskeptizismus

sie als einen ›Kategorischen Imperativ‹. Was die Autorin bei dieser unorthodoxen Begriffsverwendung im Blick hat, ist, dass ein Handlungsgrund dann gültig ist, wenn er ohne Selbstwiderspruch gesetzesförmig formulierbar ist. Korsgaard legt besonderen Wert auf die Feststellung, dass das von ihr anvisierte Prüfverfahren nichts mit dem moralischen Realismus der Intuitionisten zu tun hat. Nun zwingt die Prüfung von Handlungsimpulsen nach Korsgaard zu mehr als nur zur aktuellen Festlegung eines Handlungsziels; sie zwingt zur Herausbildung einer ›praktischen Identität‹. Das ist so zu verstehen: Zunächst erweisen sich zweifellos mehrere ›Kategorische Imperative‹ als konsistent, etwa derjenige, jedem momentanen Begehren zu folgen. Um jedoch eine gegebene Handlungssituation bewältigen zu können, müssen wir, so Korsgaard, grundsätzlich entscheiden, was für Menschen wir sein wollen; wir müssen eine ›Vorstellung von uns selbst‹ (conception of ourselves) entwickeln; auch wer z. B. einfach augenblicksorientiert seinen Neigungen folgt, wählt somit eine praktische Identität. Normative Schlussfolgerungen ergeben sich aus einer solchen Identität, indem man die Konformität einer Maxime mit dem gewählten Selbstbild überprüft. So lehne jemand beispielsweise eine Handlungsoption ab, weil diese sein Selbstbild als Muslim, Intellektueller oder Psychiater bedrohen würde. Korsgaard behauptet nun, dass eine Verpflichtung zu einer Handlungsoption x aus interner Perspektive genau dann entsteht, wenn ein Selbstbild durch das Unterlassen von x zerbrechen würde. Verpflichtung sei somit als Fall inneren Genötigtseins zu einer ›reflexiven Zurückweisung‹ (reflective rejection) zu verstehen. Mit der bisherigen Argumentation ist lediglich die Bedeutung der Moralität vom Standpunkt der ersten Person aus gezeigt. Mit Wittgenstein will Korsgaard nun darüber hinaus nachweisen, dass es ebenso wenig einen ausschließlich privaten Handlungsgrund oder eine praktische Privatidentität geben kann, wie es ausschließlich private sprachliche Bedeutungen gebe; eine nur private Moral soll genauso ausgeschlossen sein wie eine Privatsprache. Gerade die Moralbegründung von Christine Korsgaard stellt eine interessante Mischung starker und schwacher Elemente dar: In ihren Grundgedanken eher stark angelegt (im Sinn einer trans52 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Begründung der Moral

zendentalen Argumentation) verbindet sich Korsgaards Ansatz zu einen mit dem schwächeren Theorieparadigma des Konstruktivismus sowie mit Wittgensteins Privatsprachenargument und vertritt zum anderen einen bloß ›prozeduralen Realismus‹ anstelle eines ›substantiellen Realismus‹. Mit dieser Charakterisierung sind wir am Übergangspunkt zu Fragen der Metaethik angelangt.

53 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

2. Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

›Metaethik‹ ist die Bezeichnung für die philosophische Grundlagendiskussion um die normative Ethik. Wie wir in Kapitel 1 sahen, geht es in der normativen Ethik darum, unsere gewöhnliche, alltägliche Vorstellung vom moralischen Standpunkt (dem moral point of view) in eine philosophische Form zu bringen. Grundfragen sind dann: Was macht aus irgendwelchen Handlungen, Urteilen, Überzeugungen, Motiven, Einstellungen, Charakteren, Gefühlen usw. moralische Handlungen, Urteile, Überzeugungen, Motive, Einstellungen, Charaktere, Gefühle? Wodurch wird ein Alltagskonflikt zum moralischen Problem? Welche Art von Verhalten ist als unmoralisch anzusehen, und wie muss man auf moralische Herausforderungen reagieren? Was sollen wir als gültige Moral verstehen und warum? In der Metaethik tritt man nun gleichsam einen Schritt zurück und betrachtet die normative Ethik aus theoretischer Distanz. Man stellt dann Fragen wie: Beruht die normative Ethik überhaupt auf vertrauenswürdigen Grundlagen? Oder könnte es sein, dass wir in der Moral unsinnige Sätze formulieren oder über Pseudo-Tatsachen sprechen? Täuschen wir uns, wenn wir glauben, es gebe objektives Wissen und echte Erkenntnis in der Ethik? Existiert etwas, das unsere moralischen Urteile wahr oder falsch macht – und wenn ja, sind dies natürliche Gegebenheiten in der Welt? Der Verdacht, Moralphilosophie könnte die Grenzen sinnvollen Sprechens überschreiten, ist prominent von Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus (1921) formuliert worden, indem er aus der Perspektive seiner eigenen Grenzziehung sinnvoller Rede sagt: »Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben« (6.42) und »Es ist klar, dass Ethik sich nicht aussprechen lässt.« (6.421) – wobei man sich allerdings klarmachen muss, dass Wittgenstein dies keineswegs zur Verwerfung des Ethischen sagt. Zumindest kann man aber den Verdacht hegen, dass normative Ethik 54 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Semantik: Was bedeutet ›gut‹? Sprachphilosophische Aspekte der Moral

auf ungenügenden Fundamenten steht; man muss diese daher eigens thematisieren. In der Metaethik treffen die theoretische und die praktische Philosophie aufeinander (eine Sammlung klassischer Texte bieten Heinrichs/Heinrichs 2016).

2.1 Semantik: Was bedeutet ›gut‹? Sprachphilosophische Aspekte der Moral Die Debatte um die Metaethik begann im frühen 20. Jahrhundert mit sprachphilosophischen Überlegungen. Es war besonders G. E. Moore in seinem Buch Principia Ethica (1903), der die Frage nach der Semantik von ›gut‹ als die grundlegende Frage der Metaethik überhaupt auffasste. Moore war davon überzeugt, dass sich das, was wir mit ›gut‹ meinen, nicht auf natürliche Eigenschaften zurückführen lässt. ›Gut‹ sei vielmehr ein einfacher, elementarer Ausdruck, der sich nicht weiter analysieren lasse und durch kein Äquivalent – z. B. durch ›angenehm‹, ›vorteilhaft‹ oder ›wählenswert‹ – näher erläutert oder definiert werden könne. Ein moralischer Naturalismus sei daher verfehlt (der angezielte Gegner war hierbei der hedonistische Utilitarismus). Moore bezeichnet dies als ›naturalistischen Fehlschluss‹ (naturalistic fallacy). In den Principia Ethica (1903) heißt es (Kap. 1. 10, 40 f.): »Es mag sein, dass alle Dinge, die gut sind, auch etwas anderes sind, so wie alle Dinge, die gelb sind, eine gewisse Art von Lichtschwingung hervorrufen. Und es steht fest, dass die Ethik entdecken will, welches diese anderen Eigenschaften sind, die allen Dingen, die gut sind, zukommen. Aber viel zu viele Philosophen haben gemeint, dass sie, wenn sie diese anderen Eigenschaften nennen, tatsächlich ›gut‹ definieren; dass diese Eigenschaften in Wirklichkeit nicht ›andere‹ seien, sondern absolut und vollständig gleichbedeutend mit Gutheit. Diese Ansicht möchte ich den ›naturalistischen Fehlschluss‹ nennen […].«

Diese Zurückweisung des Naturalismus war historisch einflussreich, wird heute aber zumeist kritisch beurteilt. Ein Einwand ge55 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

gen sie lautet, dass man Definitionen (wie Saul Kripke in Naming and Necessity (1972) gezeigt hat) nicht allein mittels Synonymen geben kann, sondern auch durch die Angabe der Referenz des betreffenden Ausdrucks: Obwohl die beiden Sätze »x ist Wasser« und »x hat die molekulare Struktur H2 O« nicht synonym (bedeutungsgleich) sind, sind sie doch extensionsgleich; somit kann man Wasser durch die molekulare Struktur H2 O definieren – und ebenso könnte man prinzipiell eine Definition von ›gut‹ als ›nutzenmaximierend‹ (wie im Utilitarismus) anbieten. Wie dem auch sei, Moores Hauptargument zugunsten der Zurückweisung des Naturalismus ist das ›Argument aus der offenen Frage‹ (open question argument). Er führt es so ein (Principia Ethica Kap. 1. 13, 46 f.): »Die Hypothese, eine Meinungsverschiedenheit über die Bedeutung von gut sei eine Meinungsverschiedenheit über die richtige Analyse eines gegebenen Ganzen, stellt sich sehr leicht als unzutreffend heraus, wenn wir überlegen, dass bei jeglicher angebotenen Definition angesichts des definierten Ganzen stets zu Recht gefragt werden kann, ob es selbst gut ist. Um einmal eine der einleuchtenderen, weil komplizierteren, vorgeschlagenen Definitionen zu betrachten: Man könnte auf den ersten Blick leicht meinen, dass gut sein soviel bedeuten kann wie dasjenige sein, was wir zu begehren begehren. Wenn wir hiernach diese Definition auf einen konkreten Fall anwenden und sagen ›Wenn wir A für gut halten, so glauben wir, dass A eines der Dinge ist, die wir zu begehren begehren‹, dann erscheint unser Satz recht plausibel. Wenn wir aber die Untersuchung fortführen und uns fragen ›Ist es gut zu begehren, dass wir A begehren?‹, so wird nach kurzer Überlegung klar, dass diese Frage selbst ebenso einsichtig ist wie die ursprüngliche Frage ›Ist A gut?‹«

Das Argument der offenen Frage lässt sich so rekonstruieren: Behauptet man von etwas, es sei gut, dann müsste sich gemäß dem Naturalismus – nehmen wir z. B. den hedonistischen Utilitarismus, der behauptet, gut sei, was den Nutzen maximiert – der Satz »x ist gut« ersetzen lassen durch den Satz »x ist nutzenmaximierend«. Nun kann man aber nach Moore immer fragen 56 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Semantik: Was bedeutet ›gut‹? Sprachphilosophische Aspekte der Moral

»x ist nutzenmaximierend, aber ist es auch gut?« Diese Frage wäre jedoch sinnlos, wenn ›gut‹ und ›nutzenmaximierend‹ bedeutungsgleich wären, denn dann lautete die Frage »x ist nutzenmaximierend, aber ist es auch nutzenmaximierend?« Offenbar ist jedoch die Frage »x ist nutzenmaximierend, aber ist es auch gut?« keineswegs tautologisch, wie es etwa die Frage wäre »Max ist Junggeselle, aber ist er auch unverheiratet?« Wir können sinnvoll darüber streiten, ob ›gut‹ so viel wie ›nutzenmaximierend‹ meint oder nicht. Moore thematisiert in den Principia Ethica die Semantik von ›gut‹ allerdings nicht sehr umfassend. Einen Aspekt, den er ganz auslässt, kann man als die deskriptive Bedeutung von ›gut‹ bezeichnen. Sie ist in gewisser Weise fundamental auch für die normative Bedeutungsanalyse. Wir können mitunter etwas gut nennen, ohne es für uns selbst zu wollen oder anderen zu empfehlen; einen positiven Wertgesichtspunkt zu nennen, schließt eine evaluative Stellungnahme nicht zwingend ein. So ist es etwa möglich, dass ich Autos, Tennisspieler oder Kuckucksuhren unter Zurückhaltung jedes persönlichen Urteils als gut bezeichne, ja sogar unter der gegenteiligen Voraussetzung, dass ich den motorisierten Individualverkehr, den Tennissport und folkoristisch gestaltete Wanduhren für mich selbst ablehne und auch keineswegs empfehlen möchte. Es besteht die Möglichkeit eines deskriptiven Wortgebrauchs; die präskriptive, empfehlende Wortverwendung erscheint von hier aus betrachtet sogar als bloße Sonderform der allgemeineren deskriptiven Bedeutung. Die Bedeutung von ›gut‹ erweist sich näher besehen nicht als äquivalent mit ›empfehlenswert‹ oder ›wählenswert‹. Bereits Paul Ziff (1960) hat darauf hingewiesen, dass man von ›gutem Wetter‹ sprechen kann, ohne zu unterstellen, hier sei etwas zu empfehlen oder es stehe etwas zur Auswahl. Noch deutlicher ist vielleicht Ziffs Beispiel des ›guten Todes‹: Man kann von jemandem sagen, er sei eines guten Todes gestorben, ohne dass man die Todesart für sich selbst wünscht oder der betreffenden Person gewünscht hätte; auch muss man nicht unterstellen, ein guter Tod sei Gegenstand einer Wahl (1960: 219). In dieselbe Richtung geht das Beispiel von Peter Stemmer (1997); stellt jemand fest: »Augustus war ein guter Kai57 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

ser«, so meint man damit nicht, es handle sich um einen empfehlenswerten oder gar wählenswerten Kaiser (denn glücklicherweise gehört das römische Kaisertum einer weit entfernten Epoche an). Sowohl Ziff als auch Stemmer schließen aus ihren Beobachtungen, wonach das präskriptive Element im Ausdruck ›gut‹ in deskriptiver Weise verwendet werden kann, dass sich der Kern der Wortbedeutung am Wollen irgendwelcher Personen festmachen lässt – seien diese real oder fiktiv, historische Fälle oder idealisierte Konstruktionen. Nehme ich hypothetisch die Interessenlage von jemandem ein, der Autos, Tennis oder Kuckucksuhren mag, so kann ich auch dann von einem guten Auto, einem guten Tennisspieler oder einer guten Kuckucksuhr sprechen, wenn ich selbst diese Dinge geringschätze. Einen römischen Kaiser gut zu nennen, erscheint als sinnvoll aus der hypothetischen Perspektive der Zeitgenossen. In diesem Sinn spricht man von einer ›guten Mutter‹ dann, wenn man sich dabei hypothetisch in die Interessenlage von Kindern versetzt und aus dieser Sichtweise die Qualitäten einer Person in puncto Liebe, Pflege, Ernährung oder Förderung evaluiert. Der deskriptive Sprachgebrauch kann sogar noch weitergehen: Man kann Beispiele finden, in denen selbst die hypothetische Interessenlage imaginärer Personen ohne Belang ist. Und es ist diese Wortverwendung, die in der antiken philosophischen Reflexion auf die Bedeutung von ›gut‹ eine besondere Rolle spielt. Sie lässt sich z. B. an der Rede von einem ›guten Taschendieb‹ festmachen. Spreche ich affirmativ von einem ›guten Taschendieb‹, so brauche ich das (moralisch ziemlich verwerfliche) Handwerk des Kleinkriminellen keineswegs zu billigen; aber mehr noch, ich schließe mich nicht einmal hypothetisch an eine fremde Interessenperspektive an, die vom Tätigwerden eines guten anstelle eines schlechten Taschendiebs profitieren würde. Ich bezeichne einen Taschendieb nicht etwa deshalb als gut, weil ich mich in die Lage eines Bandenchefs versetze, der von einem guten Taschendieb mehr als von einem schlechten profitiert; vielmehr unterscheide ich bei meiner Evaluierung implizit zwischen Graden in der ›Kunst des Taschendiebstahls‹ (vgl. Rawls 1971: 441). Ähnlich ist ein ›guter Pianist‹ nicht unbedingt ein Klavierspieler, der mir 58 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Semantik: Was bedeutet ›gut‹? Sprachphilosophische Aspekte der Moral

einen erheblichen Kunstgenuss verschafft, sondern jemand, der es im Klavierspiel zu einer besonderen Meisterschaft gebracht hat; auch eine gute Fußballmannschaft braucht niemanden zu erfreuen, sie muss nur auf hohem technischen Niveau spielen etc. Bezeichnen wir dasjenige Gutsein, das im Beispiel des ›guten Taschendiebs‹ verwendet wird, als funktionales Gutsein (weil es einen hohen Grad der Funktionstauglichkeit von etwas zum Ausdruck bringt) und dasjenige Gutsein, das im Beispiel der ›guten Mutter‹ erscheint, als prudentielles Gutsein (weil es etwas Wählenswertes beschreibt aus der hypothetischen oder faktischen Perspektive eines Wählenden), dann kann man feststellen: Moore thematisiert mit dem moralischen Gutsein lediglich eine von drei verschiedenen Wortbedeutungen von ›gut‹. In der Philosophiegeschichte lassen sich also mindestens folgende drei Verwendungen identifizieren: (a) Funktionales Gutsein (b) Prudentielles Gutsein (c) Moralisches Gutsein

(a) In der antiken Philosophie wurde tatsächlich dasjenige, was man später als moralisches Gutsein deutete, gar nicht mit dem Wort ›gut‹ (griech. agathon, lat. bonum) bezeichnet, sondern mit anderen Ausdrücken (besonders kalon bzw. pulchrum oder honestum). Während sich bei Platon und Aristoteles und in der Mehrzahl der philosophischen Positionen aus Antike und Mittelalter eher die Interpretation von ›gut‹ im Sinn von (a), also einer funktionalen Wortverwendung, ausmachen lässt, scheint in der Neuzeit eher (b), also ein prudentielles Wortverständnis vorzuherrschen (ohne dass das jeweils andere in den Kontexten fehlen würde). Nach der älteren Auffassung (a) ist etwas, ein x, genau dann gut, wenn es die Vollform dessen repräsentiert, was unter einem x zu verstehen ist; ein x ist umso besser, je mehr es sich dem Ideal dessen annähert, was es heißt, ein x zu sein. Versteht man den Ausdruck in diesem Sinn, dann ist er sowohl auf funktionale Artefakte und technisch-instrumentelle Gegenstände als auch auf natürliche Arten, auf Bäume, Tiere, Mikroorganismen 59 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

oder Feuchtbiotope anwendbar, d. h. auf alles, was sich in Graden funktionaler Tauglichkeit oder in Graden der Realisiertheit von x beschreiben lässt. Insofern kann man von einem funktionalen Begriff des Guten sprechen. Auf Peter Geach (1956 und 1957) geht eine Beobachtung zur Semantik von ›gut‹ zurück: Geach hebt hervor, dass es sich bei ›gut‹ um ein attributives Adjektiv handelt, d. h. um einen Typus, der grundsätzlich von prädikativen Adjektiven zu unterscheiden ist. Spricht man von einer ›großen Maus‹ und einem ›kleinen Elefanten‹, so liegt es auf der Hand, dass man nicht meint, die große Maus sei größer als der kleine Elefant. Vielmehr bauen die Ausdrücke ›groß‹ und ›klein‹ auf der Bedeutung der Bezugsnomina Maus und Elefant auf und liefern hierauf bezogen neue Gesamtbeschreibungen. Anders im Fall von prädikativen Adjektiven; diese qualifizieren ihre Bezugsnomina auf eine starre Weise und bedeuten daher in jedem Verwendungskontext dasselbe: So sind ein ›rotes Auto‹ und eine ›rote Tomate‹ jeweils rote Gegenstände; in ihrem Rotsein sind sie nicht unterschieden, während Groß- und Kleinsein für Mäuse und Elefanten Verschiedenes bedeutet. Im vorliegenden Beispiel qualifizieren die Adjektive ›groß‹ und ›klein‹ ihre Bezugsnomina ziemlich genau so, wie dies Gutsein gemäß der funktionalen Wortbedeutung von ›gut‹ tut. Ein guter Taschendieb ist auf eine andere Weise gut als ein guter Wachhund. Gemeinsam ist ihnen aber, dass sie exzellente Grade dessen repräsentieren, was es für ein x heißt, ein Taschendieb bzw. ein Wachhund zu sein. Auch für eine große Maus gilt, dass sie prinzipiell im selben Sinn groß ist wie ein großer Elefant – auch wenn wir verschiedene quantitative Maßstäbe anlegen würden. Es gibt allerdings auch solche Beispiele wie das des ›verbrannten Briefs‹ oder der ›gefälschten Banknote‹. Hier gilt, dass das Adjektiv den Sinn des Bezugsworts stark verändert oder gänzlich aufhebt: Ein verbrannter Brief ist unter Umständen – je nach Verbrennungsgrad – gar kein Brief mehr. Und eine gefälschte Banknote ist weder eine so-und-so beschaffene Banknote (wie eine große Maus eine sound-so beschaffene Maus ist), noch ist sie etwas Gefälschtes und eine Banknote (wie ein rotes Auto ein roter Gegenstand ist und ein Auto). Es handelt sich vielmehr gar nicht um eine Banknote. 60 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Semantik: Was bedeutet ›gut‹? Sprachphilosophische Aspekte der Moral

(b) Das prudentielle Gutsein meint dagegen dasjenige, was für ein bestimmtes Individuum, gegeben dessen Wünsche, Interessen und Präferenzen, vorteilhaft ist. So sagt Thomas Hobbes im Leviathan, (6. Kap.; dt. Euchner 51992, 41): »Aber was auch immer das Objekt des Triebes oder des Verlangens eines Menschen ist: dieses Objekt nennt er für seinen Teil gut, das Objekt seines Hasses und seiner Abneigung schlecht und das seiner Verachtung verächtlich und belanglos. Denn die Wörter gut, schlecht und verächtlich werden immer in Beziehung zu der Person gebraucht, die sie benützt, denn es gibt nichts, das schlechthin und an sich so ist. Es gibt keine allgemeine Regel für Gut und Böse, die aus dem Wesen der Objekte selbst entnommen werden kann.«

Wie Hobbes hier klar herausstellt, besteht das Charakteristikum des prudentiellen Gutseins in seiner Individuenrelativität, also darin, dass das als gut Bezeichnete gut für jemanden ist, während es zugleich schlecht für einen anderen sein mag, oder auch gut und schlecht für dieselbe Person in verschiedenen Hinsichten. So mag man z. B. sagen, dass der Verfall der Landeswährung gut ist für den Tourismus (weil dann ausländische Reisende einen Währungsvorteil haben), aber schlecht für Lebensmittelimporte (weil dann Inländer mit ihrem Geld weniger Lebensmittel aus dem Ausland beziehen können). Etwas kann auf diese Weise gut und schlecht zugleich sein, nämlich für verschiedene Personen oder in verschiedenen Hinsichten; dies wäre bei der Wortbedeutung (a) hingegen ausgeschlossen. (c) Moralisches Gutsein ist nun aber sowohl vom funktionalen als auch vom prudentiellen Gutsein zu unterscheiden. Es divergiert vom funktionalen Gutsein darin, dass es nicht den Bestzustand eines bestimmten x bezeichnet, und es weicht vom prudentiellen Guten darin ab, dass es nicht etwas meint, was gut für jemand Bestimmten, aber möglicherweise schlecht für einen Anderen ist. Nenne ich die Rettungshandlung der Schwimmerin aus Beispiel 1 (oben S. 13 f.) moralisch gut, dann meine ich weder, die gute Handlung sei ein vorzügliches Exemplar innerhalb der Klasse aller Handlungen, noch meine ich, die betreffende Handlung 61 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

sei gut für das Kind (weil sein Leben gerettet wird), aber schlecht für die Schwimmerin (weil sie ihren Termin verpasst und sich einen Schnupfen holt). Moralisches Gutsein ist in gewissem Sinn uneingeschränktes, absolutes Gutsein. Dies scheint Kant im Sinn zu haben, wenn er am Beginn der Grundlegung mit Blick auf eine moralisch gute Einstellung (den ›guten Willen‹) sagt (4: 393): »Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille.«

Dass moralisches Gutes uneingeschränktes oder absolutes Gutsein meint, unterscheidet es vom funktionalen und vom prudentiellen Wortgebrauch. Sprechen wir im moralischen Sinn von einem ›guten Menschen‹ oder einer ›guten Tat‹, dann wird ›gut‹ ähnlich starr wie ›rot‹, also als prädikatives Adjektiv. Natürlich gibt es neben ›gut‹ noch zahlreiche weitere Ausdrücke, die wir gebrauchen, um moralische Normativität zu bezeichnen: etwa ›richtig‹, ›angemessen‹, ›lobenswert‹, ›ehrenhaft‹ (und deren Gegenteile) oder ›sollen‹, ›müssen‹, ›sich geziemen‹ usw. Im Hinblick auf moralisches Vokabular sind zwei grundsätzlich verschiedene semantische Auffassungen vertreten worden: die der wahrheitsfunktionalen Semantik und die der handlungstheoretischen Semantik. Man kann entweder die Bedeutung von Sätzen, so wie dies erstmals Alfred Tarski tat, auf Tatsachen in der Welt beziehen oder aber, wie etwa Wittgenstein meinte, auf ihren Gebrauch. Die erste Auffassung nimmt an, dass moralische Urteile wie »Körperverletzung ist moralisch unerlaubt« oder »Kindesmisshandlung ist grausam« wahr oder falsch sein können. Letztere Auffassung betont die sprachpragmatische Dimension unseres normativen Vokabulars und bestimmt die Bedeutung moralischer Urteile aus ihrer Gebrauchspraxis. Mit moralischem Vokabular oder moralischen Sätzen führen wir demnach bestimmte Sprechhandlungen aus. Ein berühmtes Beispiel für die Betonung der sprachpragmatischen Dimension normativer Begriffe ist der Emotivismus. Unter ›Emotivismus‹ ist eine ältere metaethische Position aus der ana62 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Semantik: Was bedeutet ›gut‹? Sprachphilosophische Aspekte der Moral

lytischen Philosophie zu verstehen, der zufolge unser Gebrauch moralischer Begriffe nicht auf faktische Gegebenheiten in der Welt gestützt ist, sondern lediglich unsere Einstellung von Missbehagen und Ablehnung gegenüber dem als unmoralisch bezeichneten Verhalten ausdrückt. Alfred Jules Ayer formuliert seinen Emotivismus in Language, Truth and Logic (1936) besonders klar in folgendem Absatz (dt. H. Herring 1970: 141): »Wir beginnen mit dem Eingeständnis, dass die ethischen Grundbegriffe nicht analysierbar sind, da es kein Kriterium gibt, mittels dessen man die Gültigkeit der sie enthaltenden Urteile prüfen kann. […] Wir nennen als Grund ihrer Nichtanalysierbarkeit, dass sie nur Pseudobegriffe sind. Das Vorhandensein eines ethischen Symbols in einer Proposition fügt ihrem tatsächlichen Inhalt nichts hinzu. Wenn ich daher zu jemandem sage ›Du tatest Unrecht, als du das Geld stahlst‹, dann sage ich nicht mehr aus, als ob ich einfach gesagt hätte ›Du stahlst das Geld‹. Indem ich hinzufüge, dass diese Handlung unrecht war, mache ich über sie keine weitere Aussage. Ich zeige damit nur meine moralische Missbilligung dieser Handlung. Es ist so, als ob ich ›Du stahlst das Geld‹ in einem besonderen Tonfall des Entsetzens gesagt oder unter Hinzufügung einiger besonderer Ausrufezeichen geschrieben hätte. Der Tonfall oder die Ausrufezeichen fügen der Bedeutung des Satzes nichts hinzu. Sie dienen nur dem Hinweis, dass sein Ausdruck von gewissen Gefühlen des Sprechers begleitet wird.«

Ayer beginnt mit einem scheinbaren Zugeständnis an Moore, was die Nichtanalysierbarkeit moralischen Vokabulars anlangt; dann aber gibt er dieser These die Wendung, den Begriffen der Moral sei jeder reale Objektbezug abzusprechen. Die Sprache der Moral drückt demnach einfach eine emotionale Verurteilung des vorgefallenen Diebstahls aus. Während dies bei Ayer kritisch gemeint ist, kann man durchaus auch einen Sprachpragmatismus vertreten, ohne Moralkritiker zu sein. Ein gutes Beispiel für eine affirmative pragmatische Semantik liefert Richard M. Hare in seinen Büchern The Language of Morals (1952) und Freedom and Reason (1963). 63 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

Nach Hare geht es bei unserer Verwendung von ›gut‹ grundsätzlich darum, etwas zu empfehlen. Der Empfehlung liege aber keine bloße emotionale Einstellung zugrunde; vielmehr werde zugleich der Maßstab dafür angegeben, nach dem etwas (eine Handlung oder ein Objekt) als allgemein empfehlenswert aufzufassen sei. Moralische Urteile sind für Hare stets präskriptiv und zudem universell zu verstehen. In Freedom and Reason findet sich folgendes Beispiel (Übers. G. Meggle; leicht modifiziert): »A schuldet B Geld, und B schuldet C Geld, und nach dem Gesetz steht es Gläubigern frei, ihre Schulden dadurch einzutreiben, dass sie ihre Schuldner ins Gefängnis stecken. B fragt sich: ›Kann ich behaupten, dass ich diese Maßnahme gegen A ergreifen sollte, um ihn dadurch zum Zahlen zu bringen?‹ Ohne Zweifel ist er geneigt, dies zu tun, oder er will es tun. Würde es infolgedessen keine Frage des Universalisierens von seinen Vorschriften geben, dann würde er bereitwillig der singulären Vorschrift zustimmen ›Lass mich A ins Gefängnis stecken‹. Wenn er aber versucht, diese Vorschrift in ein Moralurteil umzuwandeln und also zu sagen: ›Ich sollte A ins Gefängnis stecken, weil er mir nicht zahlen will, was er mir schuldet‹, dann wird ihm deutlich, dass das auch die Annahme des Grundsatzes einschließt: ›Jeder in meiner Lage sollte seinen Schuldner ins Gefängnis stecken, wenn er nicht zahlt.‹ Danach bemerkt er, dass C ihm (B) gegenüber in der gleichen Lage eines Gläubigers ist, der sein Geld noch nicht zurückerhalten hat; und dass die Fälle sonst identisch sind; und dass dann, wenn jeder in dieser Lage seine Schuldner ins Gefängnis stecken sollte, somit auch C ihn (B) ins Gefängnis stecken sollte. Die moralische Vorschrift ›C sollte mich ins Gefängnis stecken‹ anzunehmen, würde ihn darauf festlegen (da er, wie wir gesehen haben, das Wort ›sollte‹ dabei präskriptiv gebrauchen muss), auch die singuläre Vorschrift anzunehmen: ›Lass C mich ins Gefängnis stecken‹; und dies zu akzeptieren ist er nicht bereit. Ist er es aber nicht, dann kann er auch nicht das ursprüngliche Urteil annehmen, dass er (B) A wegen seiner Schulden ins Gefängnis stecken sollte.«

Hare beschreibt die Funktion moralischen Sprechens nicht als die Artikulation von Emotionen, sondern als Empfehlung universali64 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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sierungsfähiger Imperative, welche vom Sprecher als Handlungsvorschriften vorgeschlagen oder als gültig angesehen werden. In der moralischen Sprecherrolle befürwortet man Regeln, unter die man sich ebenfalls gestellt sieht – was sich im geschilderten Fall der Inhaftierung von Schuldnern gegen den Empfehlenden selbst richten würde. Moralisches Sprechen bringt damit ein bestimmtes Reflektieren über universalisierungsfähige Verhaltensregeln zum Ausdruck.

2.2 Ontologie und Epistemologie des Moralischen Gibt es etwas in der Welt, das moralische Urteile wie ›Die Folterung politischer Häftlinge ist unzulässig‹ oder ›Kindesmisshandlung ist eine abscheuliche Grausamkeit‹ wahr oder falsch macht? Wenn diese Urteile zutreffend oder unzutreffend sein können, liegt dies dann daran, dass sie mit Tatsachen in der Welt übereinstimmen können – wie dies für Sätze aus der Biochemie oder der Geschichtswissenschaft gilt? Und wenn ja, mit welchen Tatsachen? Wer glaubt, dass es moralische Tatsachen in subjektunabhängiger Form gibt, vertritt einen Realismus, wer dies bestreitet, einen Antirealismus. Für den Alltag gilt: Bevor wir mit philosophischen Mitteln darüber nachdenken, tendieren wir meist zum Realismus. Gewöhnlich sind wir aber nicht nur Realisten, sondern auch Kognitivisten: Denn wenn wir uns im Alltag über moralische Einschätzungen streiten (»Hat sich Sandra moralisch korrekt verhalten, als sie eine Notlüge verwendete?«), unterstellen wir, dass man in Moralfragen recht und unrecht haben kann. Wer z. B. meint, ein Völkermord lasse sich rechtfertigen, scheint einfach falsch zu liegen. Der Betreffende, so glauben wir, irrt sich in seiner Meinung. Wer hingegen denkt, man müsse die Opfer eines Erdbebens unterstützen, scheint moralisch gesehen recht zu haben. Aber handelt es sich bei moralischen Urteilen wirklich um Erkenntnisse? Die affirmative Position hierzu nennt man Kognitivismus, die Gegenposition Nonkognitivismus. Die Gegensatzpaare ›Realismus und Antirealismus‹ sowie 65 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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›Kognitivismus und Nonkognitivismus‹ bilden das Grundgerüst der Debatte um die Ontologie und die Epistemologie des Moralischen. Ein zentraler Ausgangspunkt dieser Diskussion ergab sich aus John L. Mackies Buch Ethik. Die Erfindung des Richtigen und Falschen (1977). Nach Mackie existieren keine moralischen Tatsachen; er vertritt einen Antirealismus. Für seine Position stützt er sich auf das ›Argument aus der Relativität‹ (argument from relativity), wonach die Vielzahl der unterschiedlichen Moralauffassungen gegen die Annahme moralischer Tatsachen spricht, sowie auf das ›Argument aus der Absonderlichkeit‹ (argument from queerness), dem zufolge es sich bei Entitäten, die moralische Urteile wahr oder falsch machen würden, um sehr ›absonderliche‹ Vorkommnisse in der Welt handeln müsste. Mackie nennt als Beispiele platonische Ideen oder Moores nicht-natürliche Eigenschaften. Die gesuchten Tatsachen müssten ja, so Mackie, einen intrinsischen Wert aufweisen, von sich aus motivieren können und mit einem besonderen Erkenntnisvermögen erfasst werden. Eine solche Annahme sei jedoch höchst unplausibel. Zusätzlich bietet uns Mackie eine ›Irrtumstheorie‹, d. h. eine Erklärung dafür, wie es zu dem (aus seiner Sicht) gravierenden Missverständnis der Moral als etwas Realem und Objektivem gekommen sein mag und weshalb wir daran so beharrlich festhalten. Nach Mackie besitzt die Moral eine so erhebliche biographische und soziale Bedeutung, dass man sie sich vielfach nicht als subjektiv oder relativ vorstellen will – obwohl sie es ist. Beginnend mit dem Buch von Mackie hat eine breite Kontroverse in der analytischen Philosophie über die Ontologie und die Epistemologie der Moral eingesetzt. Inzwischen ist die Diskussionslandschaft breit und ausdifferenziert (vgl. die Überblicksdarstellungen von Stahl 2013 und Rüther 2015). Die ältere Standardposition analytischer Philosoph(inn)en war, wie wir bereits sahen (in 2.1), ein Nonkognitivismus, der den Erkenntnischarakter moralischer Urteile bestritt. Alfred Jules Ayer verteidigte eine Spielart des Emotivismus, dem zufolge moralische Sätze keine Einsichten über die Beschaffenheit der Welt enthalten, sondern bloße emotional-wertende Stellungnahmen des urteilenden Subjekts sind, vergleichbar einfachen Zustimmungs- oder Miss66 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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fallensbekundungen. Dieser Position hat Charles Stevenson (1944 und 1963) weitere Überlegungen hinzugefügt: Stevenson machte in seiner Spielart des Emotivismus darauf aufmerksam, dass wir in moralischen Urteilen das, was wir selbst für richtig und falsch halten, gleichzeitig anderen nahezubringen versuchen. Richard Hare hat sich schließlich gegen den Emotivismus gewandt und darauf hingewiesen, dass wir über moralische Fragen durchaus mit einem Erkenntnisanspruch streiten. In seinem Buch Die Sprache der Moral (1952) weist er die Meinung Ayers zurück, moralische Urteile müssten denen der Wissenschaft gleichen, um einen Erkenntnisanspruch erheben zu können. In seinem berühmten Aufsatz Askriptivismus (1960) hat Peter Geach hingegen den Nonkognitivismus mittels einer an Gottlob Frege angelehnten Überlegung angegriffen: Gemäß der nonkognitivistischen Analyse von ›gut‹ oder ›verantwortlich‹ handelt es sich um Zuschreibungen oder den Ausdruck von Einstellungen; wäre dies richtig, so könnte man nicht erklären, wie ›gut‹ oder ›verantwortlich‹ in Konditionalsätzen oder disjunktiven Sätzen erscheinen kann; in diesen werde nichts behauptet, wohl aber auf eine Behauptung Bezug genommen. Nonkognitivisten gelinge es nicht, dieses ›Einbettungsproblem‹ zu lösen. Aus Geachs Punkt scheint sich zu ergeben, dass Nonkognitivisten Schwierigkeiten damit haben, unsere gewöhnliche Unterstellung, jemand könne in moralischen Streitfragen recht oder unrecht haben, angemessen zu interpretieren. Auch scheint es für Nonkognitivisten schwierig zu erklären, in welchem Sinn wir sagen, es gebe ›gute Gründe‹ dafür, dies oder das zu tun. Nonkognitivisten müssen in der Lage sein zu erklären, warum moralische Urteile von ihren Sprechern zumeist mit einem Objektivitätsanspruch und oft sogar einem Universalitätsanspruch versehen werden können. Zugunsten des Nonkognitivismus lässt sich wiederum ein Argument anführen, das sich auf die Tradition Humes in der Motivationstheorie stützt. Nach Hume basieren alle unsere Handlungsmotive auf Wünschen oder auf ›Pro-Einstellungen‹ (dies ist Donald Davidsons Bezeichnung für Wünsche, Interessen, Präferenzen usw.). Wenn man nun, was plausibel scheint, annimmt, moralische Urteile seien handlungsmotivierend, und dann eine 67 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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humeanische Theorie akzeptiert, ist es naheliegend zu folgern, dass moralische Urteile von nonkognitiver Art sind. Denn Wünsche und Pro-Einstellungen sind keine Tatsachenfeststellungen oder Glaubensüberzeugungen über Gegebenheiten in der Welt. Sie drücken vielmehr das aus, was uns etwas bedeutet oder was wir für wichtig halten. Neuere Varianten des Nonkognitivismus werden u. a. von Simon Blackburn 1984 und 1993) und Allan Gibbard (1990 und 2003) vertreten. Blackburn und Gibbard verteidigen zwar einen Nonkognitivismus, doch erkennt dieser kognitive Aspekte moralischer Urteile durchaus an. Wenn etwa Sandra eine dreiste Lüge verabscheut und dies in einem Urteil äußert, so spricht sie über die objektive Tatsache, dass dreiste Lügen in uns moralische Empörung hervorrufen. Besonders Blackburns ›Quasirealismus‹ ist eine Position, wonach man das Wahr- oder Falschsein moralischer Urteile aufgrund struktureller Ähnlichkeiten mit objektiven Tatsachenfeststellungen auch dann aufrechthalten kann, wenn man einen ontologischen Realismus ablehnt. Denn die in moralischen Urteilen vermeinte Kognitivität sei im Grunde ein hinreichendes Äquivalent wirklicher Erkenntnis. Damit Sandras Urteil ›Eine dreiste Lüge ist abscheulich‹ eine zutreffende Erkenntnis sein kann, muss es, so Blackburn, keine Fakten geben, die eine explanatorische Rolle für die Rechtfertigung spielen (1998: 42). Manchmal charakterisiert man Blackburns Position auch als einen ›Projektivismus‹ – und das könnte man so verstehen, als ob die Akteurin im moralischen Urteil einfach ihre Emotion auf die objektive Welt ›projizieren‹ würde. Gemeint ist aber, dass wir nicht umhinkönnen, Moral so wahrzunehmen, als ob sie eine objektive Gegebenheit in der Welt wäre, auch wenn sie dies nicht ist. Obwohl unser moralisches Urteil also emotionsbasiert ist, ist es für Blackburn doch zugleich etwas kognitiv Gehaltvolles. Gibbard verteidigt in seinem Buch Wise Choices, Apt Feelings (1990) einen ›Expressivismus‹, dem zufolge moralische Urteile eine nonkognitive Haltung des Urteilenden zum Ausdruck bringen: nämlich die Haltung der Akzeptanz oder Nichtakzeptanz moralischer Regeln. Fällt jemand ein bestimmtes moralisches Urteil, so stimmt er damit nach Gibbard dem Set normativer Regeln zu, dem das Urteil 68 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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entnommen ist. Die kognitive Komponente dieser Form des Nonkognitivismus liegt also in der Richtigkeit oder Falschheit des Bezugs auf solche normativen Regeln. Eine mögliche schwache Variante des Kognitivismus könnte darin bestehen, den Erkenntnisgegenstand, auf den sich moralische Urteile beziehen, als die eigene aufgeklärte, wohlinformierte Interessenlage des Subjekts zu bestimmen. Eine weitere, ebenfalls schwache Version ergibt sich daraus, dass man als das Erkenntnisobjekt, welches moralische Urteile wahr oder falsch macht, die Normativität einer sozialen Gruppe oder Gemeinschaft annimmt (so z. B. Wong 2006). Eine stärkere Variante des Kognitivismus bildet hingegen der Konstruktivismus, wie man ihn in der Nachfolge von John Rawls etwa bei Christine Korsgaard findet. Der ›kantische Konstruktivismus‹ von Rawls und Korsgaard versteht Moral als ein vernünftiges und nicht-beliebiges (und nicht als ein subjektives oder soziales) Konstrukt, welches sich aus einem Verallgemeinerungstest (einem neu formulierten Kategorischen Imperativ) ergibt. Falls sich Moral tatsächlich konstruktivistisch verstehen lässt, wären erheblich geringere Begründungslasten zu tragen als bei der traditionellen Auffassung, sie sei einer absoluten Vernunftbegründung bedürftig und fähig oder aber nur nonkognitivistisch zu legitimieren. Eine solche Position stünde gewissermaßen in der Mitte zwischen der Realismus-Antirealismus-Kontroverse und der zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus: In ontologischer Hinsicht bräuchte sie sich nicht wie der Realismus auf die zweifelhafte Behauptung an sich existierender absoluter Werte zu stützen und wäre daher Mackies Argument aus der Absonderlichkeit nicht ausgesetzt; in epistemologischer Hinsicht könnte sie dagegen daran festhalten, dass moralische Urteile wahr oder falsch sein können. Sie bräuchte sich nicht auf ein außermoralisches Fundament zu berufen wie diejenigen Formen des moralischen Antirealismus, die etwa das prudentielle Überlegen des Individuums, die strategische Rationalität von Urzustandsteilnehmern oder die geteilten Werte historischer Gemeinschaften als moralphilosophisches Fundament heranziehen. Wie aber steht es um den moralischen Realismus? Für ihn 69 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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müssten ja die gesuchten Tatsachen anspruchsvollerweise so beschaffen sein, dass ihre Wahrheit nicht auf ein wertendes Subjekt und nicht auf ein Verfahren (wie einen kantischen Verallgemeinerungstest) zurückgehen; es müsste sie ›da draußen in der Welt‹ geben. In seiner Verteidigung eines moralischen Realismus plädiert David Brink (1989) deshalb dafür, in moralischen Tatsachen nichts allzu Außergewöhnliches zu sehen. Brink vertritt einen naturalistischen Realismus in dem Sinn, dass sich moralische Tatsachen als superveniente Beschreibungen von Fakten über menschliches Wohlergehen rekonstruieren lassen. Ihm folgten Autoren wie Nicholas Sturgeon oder Richard Boyd; man bezeichnet diese Richtung des naturalistischen Realismus auch als ›Cornell Realism‹. Dagegen hat Peter Railton (1986) eine Variante des Realismus vertreten, bei der sich moralische Tatsachen von einem sozialen Standpunkt aus ergeben und somit soziale Rationalität spiegeln. Vertreten wird ferner die Auffassung, die gesuchten Tatsachen seien subjektabhängig. Ein solcher Ansatz besteht darin, moralische Eigenschaften mit John McDowell nach dem Muster ›sekundärer Qualitäten‹ zu verstehen. McDowell (1985) weist darauf hin, dass wir Eigenschaften der objektiven Welt im Grunde nie bloß als ›primäre Qualitäten‹, d. h. als reine Gegebenheiten ohne eine Zutat des erkennenden Subjekts, auffassen können. In Analogie zu unserer Farbwahrnehmung scheint man dann aber sagen zu können, dass auch moralische Werthaftigkeit in der Welt als Kombination aus objektiver Gegebenheit und subjektiver Auffassung zu verstehen ist. Ebenso wie die Oberflächenstruktur eines materiellen Gegenstands von uns als farbig wahrgenommen wird, würde so gesehen eine objektive Situation in der Welt von uns als moralisch wertbezogen wahrgenommen werden. Gänzlich anders als der naturalistische Realismus argumentiert ein nicht-naturalistischer Realismus wie etwa der moralische Intuitionismus. Dieser Position zufolge geschieht das Erfassen des moralisch Richtigen unmittelbar, auf eine Weise, die sich von sonstigem Erkennen, welches auf sinnlicher Erfahrung oder auf logischem Schließen beruht, grundsätzlich unterscheidet. Merkmale des epistemischen Intuitionismus sind also: Moralische Erkenntnis ist direkt, universell geteilt, spontan und nicht-metho70 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Ontologie und Epistemologie des Moralischen

disch, nicht-diskursiv, einzelfallbezogen und nicht regelförmig wiedergebbar sowie vor-propositional. Historisch wurde eine solche Position von G. E. Moore, H. A. Prichard, W. D. Ross und Max Scheler vertreten (zur inhaltlichen Charakterisierung s. unten S. 137 f.). Die Schwierigkeiten des Ansatzes liegen auf der Hand: Zuerst das Problem unterschiedlicher Intuitionen; treten solche auf, so scheint es unklar, wie man divergierende Intuitionen gegeneinander abgleichen könnte. Ein rationaler moralischer Dissens wäre so unmöglich; es wäre allenfalls möglich, einen Konsens durch Insistieren oder den Verweis auf gemeinsam geteilte Intuitionen zu suchen. Sodann ist es problematisch, dass alle Intuitionen gleich wertvoll sein müssten; hätte jemand z. B. rassistische oder sexistische Intuitionen, so schiene unklar, warum diese auszuschließen wären. Ebenso ratlos müsste eine intuitionistische Position gegenüber einem Mangel an moralischer Sensitivität sein (einem lack of moral sense). Schwierig scheint auch, dass die betreffende Person dann eher für pathologisch als für andersdenkend erklärt werden müsste. Intuitionisten können ferner kaum erklären, wie es zu besseren oder schlechteren moralischen Positionen kommen kann und welche Rolle Gründe und Argumente dabei spielen. Das gilt insbesondere für ›übereilte‹ oder ›unüberlegte‹ moralische Urteile. Ähnlich verhält es sich, wenn wir von einer ersten zu einer zweiten reflexiven Position übergehen: Haben sich dann unsere Intuitionen gewandelt? Hinzu kommt ein Argument aus moralischen Gedankenexperimenten: Stellen wir uns – wie oben in Kap. 1 – moralsensitive Fälle vor und verändern dabei die Parameter (Wie verhalten sich die Akteure? Welche Güter sind im Spiel? Wie ist der Schweregrad der jeweiligen Interessenverletzung? usw.). Spricht es dann nicht gegen einen Intuitionismus, dass sich unsere moralischen Urteile mit den jeweiligen Parametern ändern? Es gibt jedoch auch erneuerte Formen eines moralischen Intuitionismus: Der vielleicht wichtigste Ansatz hierzu stammt von Robert Audi in The Good in the Right (2004). Nach Audi schließen die beiden Sätze ›p ist selbstevident‹ und ›p kann aus anderen Aussagesätzen gefolgert werden‹ einander keineswegs aus; sie können für moralische Urteile vielmehr zugleich wahr sein. 71 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Moralische Intuitionen verlieren bei Audi dadurch ihren mysteriösen Charakter; sie sind selbstevident in dem defensiven Sinn, dass ein angemessenes Verständnis dafür ausreicht, sie als begründet anzusehen. Audi unterscheidet näherhin zwischen ›weicher‹ und ›harter Selbstevidenz‹. Für Letztere gilt, dass sie ›stark axiomatisch‹ in dem Sinn ist, dass (a) nichts besser gerechtfertigt ist als sie, dass sie (b) unmittelbar ist, so dass es keiner weiteren Reflexion bedarf, um sie zu verstehen, dass sie (c) unanfechtbar gerechtfertigt ist und schließlich (d) unwiderstehlich ist, so dass alle, die sie verstehen, sie auch für wahr halten müssen. ›Weiche Selbstevidenz‹ weist diese vier Merkmale hingegen nicht auf. Für die Moral genügt aber ein weiches Begriffsverständnis. Auf dessen Basis formuliert Audi einen ›kantischen Intuitionismus‹, gestützt auf die ›Menschheit-als-Selbstzweck-Formel‹ des Kategorischen Imperativs. Mit dessen Hilfe verteidigt Audi eine Konzeption des intrinsischen Werts menschlicher Personen und entwickelt zehn prima facie-Pflichten des moralischen Handelns (anstelle der fünf, die W. D. Ross benannt hat). Häufig vertreten wird in Verbindung mit einem intuitionistischen Realismus die Position eines wahrnehmungsbasierten Partikularismus. Diese wird oft verbunden mit einer positiven Bezugnahme auf Aristoteles’ Begriff der phronêsis – wobei diese als situative Urteilskraft oder als Gespür für »morally relevant features of a given situation« verstanden wird. Partikularismus bezeichnet die metaethische Auffassung, dass moralische Urteile sich stets nur in Bezug auf Einzelfälle formulieren lassen. Um adäquat zu sein, muss jedes moralische Urteil an den zahllosen Aspekten orientiert sein, welche für eine bestimmte Situation spezifisch kennzeichnend sind. Nach der ›Inkommensurabilitätsthese‹ des Partikularismus ist praktische Vernunft bei jeder Handlung vor neue, nicht antizipierbare Herausforderungen gestellt. Partikularismus kann einerseits als ontologische These verstanden werden; dann bedeutet er eine Bestreitung der Existenz allgemeiner Prinzipien innerhalb der praktischen Deliberation. Oder er betrifft Fragen der moralischen Entscheidungsfindung; dann wendet er sich gegen die Unflexibilität und mangelnde Passgenauigkeit allgemeiner Prinzipien. Oder er bezieht sich auf die 72 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Begründungsebene moralischer Urteile; dann macht er sich dafür stark, dass Begründungen legitimerweise situationsrelativ sein können (oder gar müssen). Wichtige Vertreter sind gegenwärtig John McDowell, David Wiggins, Jonathan Dancy oder David McNaughton. McDowell (1979) geht so weit, mit Wittgenstein zu behaupten, moralisches Handeln brauche keineswegs regeloder prinzipienorientiert zu sein. Auf der Basis einer humeschen Theorie der Motivation scheint der Antirealismus, wie wir sahen, recht plausibel. Aber hat Hume mit seiner Motivationstheorie tatsächlich recht? Eine grundlegende Kontroverse in der Metaethik dreht sich um die Frage, ob moralische Urteile von uns tatsächlich als ›Pro-Einstellungen‹ aufgefasst werden müssen (so Hume, Kant, Intuitionisten und Emotivisten) oder ob sie als Glaubensüberzeugungen zu verstehen sind (so die Utilitaristen und die Kontraktualisten). Wählt man die erste Option, so deutet man die Moral als etwas ›Inneres‹ (d. h. bezogen auf psychische Zustände); wählt man die zweite Option, als etwas ›Äußeres‹ (nämlich bezogen auf Tatsachen in der Welt). An dieser Stelle kommt die Unterscheidung zwischen moralischem Internalismus und moralischem Externalismus ins Spiel. Kann man den Satz ›Die Handlung h ist moralisch verbindlich‹ für wahr halten, ohne zur Ausführung von h motiviert zu sein? Internalisten verneinen dies; mit dem Für-moralisch-halten von h ist notwendig und unmittelbar ein Motiv gegeben, h auszuführen (wenn auch vielleicht kein faktisch hinreichendes, so doch ein potentiell durchsetzungskräftiges). Externalisten dagegen bejahen die Möglichkeit eines moralischen Urteils ohne motivationale Basis; mit dem Für-moralisch-halten von h ist nicht notwendig ein Impuls gegeben, h auszuführen (wenn auch häufig eines hinzukommen mag). Für Internalisten handelt die Moral von Wünschen, Gefühlen, Gründen, Pro-Einstellungen, praktischem Überlegen, praktischer Vernunft. Für Externalisten dagegen handelt die Moral von Theorien, Propositionen und Argumenten, und wenn wir dies-und-das für richtig halten, brauchen wir davon unabhängige Motive zur Ausführung des Richtigen. In der wichtigen Frage ›Warum moralisch sein?‹ benötigt der Externalismus somit zusätzliche äußere Motive, z. B. einen sozialen Sanktionsdruck. 73 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

Bernard Williams sieht das Ziel des praktischen Überlegens im menschlichen Wohlergehen (human flourishing) des Reflektierenden und schlägt vor, Überlegen am Maßstab einer ›internalistischen Perspektive‹ auszurichten. Dazu bedient sich Williams der Gegenüberstellung von internen und externen Handlungsgründen: Interne Gründe sind solche, die mit meinen persönlichen Motiven (d. h. meinen Wünschen, Präferenzen, Wertungen, Loyalitäten, Projekten usw.) in enger Verbindung stehen; bei externen Gründen besteht dagegen keine solche Verbindung. Nach Williams’ Überzeugung muss angemessenes praktisches Überlegen stets auf internen Handlungsgründen beruhen; alle externen Begründungsansprüche seien falsch. Williams vertritt folglich die Auffassung, der kantische Moralitätsbegriff sei ein externes Zwangssystem, das mit dem praktischen Überlegen, wie es sich natürlicherweise und angemessenerweise vollziehe, nicht kompatibel sei. In Williams’ Beispiel hätte ein junger Mann, der alles Militärische zutiefst verabscheut, auch dann keinen guten Grund, Soldat zu werden, wenn er aus einer Familie von Berufssoldaten stammen würde. Der bloße Verweis auf die Familientradition ist nach Williams unzureichend für das, was für die betreffende Person ein guter Grund ist. Auch die Entscheidung Paul Gauguins, seine Familie zu verlassen, um in der Südsee eine neue Phase seiner künstlerischen Entwicklung zu beginnen, sei nicht von vornherein moralisch zu verwerfen; über ihre Richtigkeit entscheide erst das Gelingen oder Scheitern des damit verbundenen Lebensplans. Für diesen ethischen Reflexionstyp beruft er sich auf Aristoteles, der dem Handelnden ebenfalls keine äußeren Standards auferlege, sondern eine Entwicklung eigener Anlagen aus der Innenperspektive empfehle, ohne dass er deswegen mit äußeren Standards in Konflikt kommen müsste (1985). Treten solche Konflikte aber auf, so gibt es für sie keine situationsunabhängigen Lösungen, wie es der Moralitätsbegriff suggeriert.

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Handlungstheorie: Kausalismus oder Teleologie?

2.3 Handlungstheorie: Kausalismus oder Teleologie? Ein Grundbegriff der Moralphilosophie ist der der Handlung. Was aber ist eine Handlung? Wie unterscheiden sich Handlungen von Ereignissen und von bloßen Prozessen, die sich an einem menschlichen Körper vollziehen? Unter Handeln verstehen wir gewöhnlich, dass eine Person gezielte, absichtliche Körperbewegungen unternimmt (wobei dieses ›Unternehmen‹ auch eine vorsätzliche Unterlassung meinen kann), um auf diese Weise von ihr gewünschte Tatsachen in der Welt herbeizuführen. Dabei müssen die betreffenden Körperbewegungen in geeigneter Form durch mentale Einstellungen der Person verursacht sein. Wenn sich Sandra in der Küche einen Kaffee zubereitet, muss sie zuvor den Wunsch nach Kaffee verspürt haben, dessen Vorzüge und Nachteile abgewogen und die Ausführungsumstände überlegt haben, bevor sie dann diejenige Reihe von Handgriffen ausführt, die für eine Kaffeezubereitung notwendig sind. Der Wunsch nach Kaffee, die Hoffnung auf einen nachmittäglichen Arbeitsimpuls sowie die Überlegung, dass drei Tassen pro Tag nicht gesundheitsschädlich sind, gehören in diesem Fall vielleicht zu den Beschreibungselementen, die ihre Handlungsgründe fundieren. Alle bewegen sich auf der Ebene der Alltagspsychologie. Der Ausdruck ›Alltagspsychologie‹ (folk psychology) steht für die Erklärung von Handlungen auf der Basis von Wünschen, Überzeugungen, Gefühlen, Absichten, Zwecken, Zielen und Charaktereigenschaften der Akteurin. Rationale Akteurinnen (zu denen Sandra mit ihrer Kaffeezubereitung beispielshalber gehören soll) handeln auf der Basis solcher Handlungsgründe, und zwar handeln sie aus diesen Gründen. Handlungen sind entsprechend Vorkommnisse, die durch derartige Gründe erklärt werden, nämlich durch die Angabe der Wünsche, Überzeugungen, Gefühle, Absichten usw. Handlungserklärungen machen sichtbar, was einer handelnden Person in einer Situation wichtig war und was sie für angemessen und wertvoll hielt, so dass es ihr einen Grund gab, entsprechend zu agieren. In der klassischen Handlungserklärung seit Aristoteles spielte die Idee eines ›praktischen Syllogismus‹ eine wichtige Rolle. Aristoteles führt den Begriff mit der Überlegung ein, man müsse sich 75 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

die Auslösung von animalischem Verhalten bzw. menschlichem Handeln dadurch erklären, dass das betreffende Lebewesen eine Konklusion aus zwei Prämissen vornehme (Corcilius 2008 und Brüllmann/Rapp 2008). Denke man gleichzeitig affirmativ an zwei geeignete Prämissen, dann sei es unausweichlich, aus ihnen diejenige Konklusion zu ziehen, die die Aktivität auslöst. Die eine Prämisse muss, so Aristoteles, ›das Gute‹ zum Inhalt haben, die andere ›das Mögliche‹ (De motu animalium 701a22–25). Unter einem praktischen Syllogismus versteht Aristoteles also einen handlungsleitenden Schluss, bestehend aus einer allgemeinen Prämisse, die etwas als gut vorstellt, und einer speziellen Prämisse, die eine Möglichkeit sieht, das Gute zu realisieren, sowie einer Folgerung, die die Handlung hervorruft. Obersatz: »Es ist gut, X zu tun.« Untersatz: »Das Tun von A ist ein hier und jetzt ausführbarer Fall von X-Tun.« Konklusion: »Also ist es ist gut, hier und jetzt A zu tun«.

Aristoteles stellt den Sachverhalt auch so dar, als handelte es sich bei der Konklusion gar nicht um einen Satz, sondern bereits um eine Handlung. Sein eigenes Beispiel lautet: »Von allem Süßen muss man kosten« – »Dieser Einzelgegenstand hier ist süß« – also solle man kosten (Nikomachische Ethik VII.5, 1147a29–31). Nun kann es nach Aristoteles sein, dass jemand, obwohl er über beide Prämissen verfügt, nur die allgemeine aktuell verwendet, dieser aber einen bestimmten Einzelfall nicht zuordnet. Dies ist eine von Aristoteles’ Erklärungen für die Möglichkeit von Willensschwäche. Historisch scheint sich auch Kants Maximenbegriff aus dem des praktischen Syllogismus ergeben zu haben. Denn eine Maxime ist wörtlich ein ›Obersatz‹ (propositio maxima), der eine allgemeine normative Einstellung in Regelform formuliert. In Verbindung mit einem deskriptiven Satz, der eine Handlungssituation als Fall dieser Regel identifiziert, führt eine bestimmte Maxime zu einem Handlungsgebot. Das Besondere bei Kant liegt allerdings darin, dass er bei der Wahl angemessener Maximen 76 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Handlungstheorie: Kausalismus oder Teleologie?

einen Universalisierungstest verlangt, den diese passieren müssen (unten S. 162 f.). In Donald Davidsons Aufsatz Actions, Reasons, and Causes (1963) findet sich die grundlegende Idee einer Deutung von Gründen als Ursachen sowie das belief-desire-Modell in Anlehnung an die Theorie des praktischen Syllogismus bei Aristoteles. Für Davidson fungieren exakt diejenigen ›primären Handlungsgründe‹, die für einen Akteur bei seiner Handlungswahl ausschlaggebend sind, zugleich als effiziente Ursachen der Handlung. Unter primären Handlungsgründen sind hierbei jeweils Paare, zusammengesetzt aus einer Pro-Einstellung und einer tatsachenbezogenen Überzeugung, zu verstehen. Solche Paare erfüllen im praktischen Syllogismus die Funktionen von generellem Obersatz bzw. partikularem Untersatz, so dass sich die Handlung direkt aus dem Zusammenspiel von Wünschen, Interessen, Präferenzen usw. einerseits und den situativ vorhandenen Faktenüberzeugungen des Akteurs andererseits ergibt. Damit sind wir beim Problem der Handlungserklärung: genauer bei der Frage nach der Handlungsverursachung. Der Alltagspsychologie zufolge sind es unsere mentalen Einstellungen, die unser Handeln erklären. Dem steht die Vorstellung einer möglichen Naturalisierbarkeit der Handlungserklärung gegenüber. Aufgrund ihrer Nähe zu den Naturwissenschaften schien vielen analytischen Philosophen im 20. Jahrhundert die Frage vordringlich, ob man sich menschliches Handeln vollständig in den naturalen Kausalnexus bzw. in eine nomologische Weltbeschreibung aufgelöst denken kann oder ob man ihm eine Sonderstellung einräumen muss. Hierin liegt die vielleicht grundlegendste und folgenreichste Problemstellung der Handlungstheorie für die Moralphilosophie: in der Frage einer möglichen Naturalisierung menschlichen Handelns. Naturalistische Handlungstheorien stellen Kausalerklärungen ins Zentrum der Aufmerksamkeit; Handeln wird in ihnen u. a. aus biochemischen oder neurologischen Ursachen erklärt, also im Sinn eines Kausalismus. Behielte der Kausalismus recht, so wäre das, was wir in unserer Alltagspsychologie für Akteurskausalität halten, letztlich nichts Anderes als Naturkausalität. 77 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

Doch bereits Wittgenstein macht in seinem Blauen Buch darauf aufmerksam, dass wir von Gründen auf markant andere Weise sprechen als von Ursachen (Werkausgabe, Bd. 5, 34 f.). Die Frage nach den Ursachen einer Handlung zielt auf (wissenschaftliche) Vermutungen oder Hypothesen; die Frage nach Gründen oder Motiven für sie dagegen wird (im Alltagsleben) durch etwas beantwortet, was Akteure sicher wissen. Dieser Unterschied, so Wittgenstein, wird dadurch leicht übersehen, dass Ursachen und Gründe als Antworten auf die Warum-Frage auftreten; es handelt sich jedoch in Wahrheit um grundverschiedene Antworten: »An dieser Stelle tritt jedoch noch eine Verwechslung auf, und zwar zwischen Grund und Ursache. Zu dieser Verwechslung wird man durch den zweideutigen Gebrauch des Wortes ›warum‹ verleitet. So ist man, wenn die Kette der Gründe beendet ist und gleichwohl die Frage ›warum?‹ gestellt wird, geneigt, eine Ursache statt eines Grundes anzugeben. […] Der zweifache Gebrauch des Wortes ›Warum‹ in Fragen nach der Ursache und in Fragen nach dem Motiv, zusammen mit dem Gedanken, dass wir unsere Motive wissen und nicht nur vermuten können, führen zu der Verwirrung, in der ein Motiv für eine Ursache gehalten wird, deren wir uns unmittelbar bewusst sind, eine ›von innen gesehene‹ Ursache, oder eine erfahrene Ursache.«

Tatsächlich wäre es für unser alltägliches Weltbild hochgradig irritierend und revisionär, wollten wir menschliches Handeln erklären, indem wir auf etwas zurückgreifen, was wir gewöhnlich für die Kausalität von nicht-intentionalen, nicht-gesteuerten Körpervorgängen halten. Üblicherweise glauben wir, dass Veränderungsprozesse, die an Menschen auftreten, in zwei verschiedene Klassen zerfallen: in naturale, die wir als fremdverursacht deuten, und in intentionale, die wir als selbstverursacht interpretieren. Zu den ersteren gehören Prozesse des Wachsens, Alterns, Verdauens, Niesens oder Gähnens sowie Körperreflexe. Zur zweiten Gruppe zählt etwa, dass jemand spazieren geht, ein Buch liest, einen Vertrag schließt, eine Partei wählt, einen Bus zu erreichen sucht usw. Im zweiten Fall ist der Akteur, um mit Aristoteles zu sprechen, 78 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Handlungstheorie: Kausalismus oder Teleologie?

›Ursprung der Bewegung‹ (archê tês kinêseôs). Entsprechend scheint es plausibel, markant zwischen zwei Aktivitätstypen und Personengruppen zu differenzieren: Einerseits gibt es Aktivitäten von Kleinkindern, mental stark behinderten Personen, Volltrunkenen, Drogenabhängigen, Willensschwachen usw., deren Körperbewegungen man ganz oder teilweise das Etikett ›Handlungen‹ verweigern muss. Andererseits existieren vernünftige, überlegte, beabsichtigte, gezielt ausgeführte Aktivitäten von Erwachsenen, denen man das Etikett zugestehen muss. Wir glauben gewöhnlich, dass sich eine vernünftige Akteurin in ihren Überzeugungen, Urteilen und Ansichten nicht als determiniert verstehen kann. Denn sie muss ja stets über zureichende (oder zumindest ihr als zureichend erscheinende) Gründe für eine von ihr vollzogene Handlung verfügen. Diese kann sie nie als Ursachen interpretieren, welche ihr Verhalten gleichsam nezessitieren würden. Sie müssen ihr vielmehr als rechtfertigende Gründe (oder auch als entschuldigende Gründe) erscheinen, während man Ursachen allenfalls zur neutralen Erklärung anführen kann. Die Eigenart von Handlungen und der sie stützenden Gründe und Absichten richtig zu beschreiben, war das übergreifende Anliegen der analytischen Handlungstheorie in der Zeit nach Wittgenstein. Elizabeth Anscombe entwickelt in ihrem Werk Intention (1957) eine facettenreiche Theorie des Intendierens als des zentralen Merkmals von Handlungen. Einen wichtigen Ausgangspunkt bildet dabei Anscombes Anlehnung an Wittgensteins Sprachspiel-Konzeption, nach welcher Handlungsabsichten nicht als mentale, volitionale Prozesse zu interpretieren sind, sondern als sozial kontextualisierte Antworten auf die Frage »Warum tust du das?«. Bei der Klärung der verschiedenen Redeweisen von ›Absicht‹, ›absichtlich‹, ›beabsichtigen‹ weist Anscombe etwa auf den Unterschied zwischen einer Vorhersage (›Morgen wird es kräftig schneien‹) und einer Absicht hin (›Morgen werde ich zum Skifahren gehen‹). Zwar sind beide Äußerungen zukunftsgerichtet, aber die erste stützt sich auf empirische Fakten, während die zweite auf Handlungsgründe zurückgeht. Gibt es keine solchen Gründe (wie wenn man vor Schreck ein Glas vom Tisch stößt, weil man 79 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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durch die Fensterscheibe ein Gesicht glaubt wahrgenommen zu haben), dann liegt überhaupt keine Handlung vor. Ein und dieselbe Aktivität (etwa Sandras Kaffeezubereitung) kann so gesehen einerseits eine Handlung sein (nämlich unter der Beschreibung von Sandras Wunsch, eine Tasse Kaffee zu trinken), während sie andererseits auch nicht als Handlung zählen kann (z. B. unter der Beschreibung, dass die Duftentwicklung bei Sandras Kaffeezubereitung ihre Mitbewohnerin in die Küche lockt). Anscombe weist zudem die ältere philosophiehistorische These zurück, wonach Absichten auf ein letztes, umfassendes Ziel (nämlich das Glück) gerichtet seien: »Antike und mittelalterliche Philosophen – oder doch einige von ihnen – betrachteten es als evident, als beweisbar, dass menschliche Wesen immer zielgerichtet, und sogar auf ein einziges Ziel ausgerichtet handeln müssen. Uns mutet die diesbezügliche Argumentation eher seltsam an. Kann ein Mensch etwa nicht ein Großteil der Zeit einfach das tun, was er tut?« (Absicht, Freiburg/München 1986: 54 f.). Nach Anscombe verläuft unser Handeln diskontinuierlich; ein übergreifendes Ziel bestehe nicht. Vielleicht sogar für die Mehrzahl unserer Handlungen gelte, dass sie weder einen Grund noch eine Absicht benötigten (wie bei einem versonnenen Blick aus dem Fenster mit einer Tasse Tee in der Hand); und selbst wenn Gründe und Absichten im Spiel seien, bräuchten diese keine Bestandteile von Zielketten zu bilden, die in ein einziges Ziel einmünden. Georg Henrik von Wright, Wittgensteins Nachfolger auf dem Lehrstuhl für Philosophie in Cambridge, geht in seinem Werk Explanation and Understanding (1971) das Problem der Naturalisierbarkeit anders an als Anscombe. Er wendet sich gegen das covering law-Modell des strengen Kausalismus und betont stattdessen – auch unter Rückgriff auf die kontinentale Tradition – die Irreduzibilität des Verstehens bei der Handlungserklärung. Intentionalismus und Teleologie erscheinen ihm als unvermeidliche Elemente dieses Verstehens. Methodisch gesehen bleibt sein Vorgehen aber sprachanalytisch. Die Richtigkeit teleologischer Handlungserklärungen ergibt sich für von Wright bereits aus dem logical connection argument. Danach ist es unabdingbar, jede Intention logisch oder begrifflich mit einer intendierten Handlung 80 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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verbunden zu sehen, während nicht jede Ursache begrifflich mit ihrem Effekt verbunden gedacht werden muss. Von Wright restituiert damit aber nicht nur die teleologische Erklärung von Handlungen; vielmehr rehabilitiert er auch den aristotelischen praktischen Syllogismus. Er attackiert den Kausalismus bis zu dem Punkt, dass er den naturwissenschaftlichen Kausalitätsbegriff als abhängig von der Idee der Handlungskausalität beschreibt. Die Vorstellung von Ereigniskausalität hängt selbst von derjenigen einer kausalen Einflussnahme von Akteuren ab, die in die äußere Welt intervenieren können. Der bekannteste Beitrag von Arthur C. Danto zur Handlungstheorie in seinem Buch Analytic Philosophy of Action (1973) besteht im Begriff einer ›Basishandlung‹. Basishandlungen sind nach Danto solche Aktivitäten, die nicht durch den Vollzug einer anderen Handlung ausgeführt werden. Beispielsweise könnte man jemanden grüßen, indem man ihm zuwinkt: Die Handlung des Grüßens wird dann vollzogen, indem man die Hand hebt und hin und her bewegt. Grüßen ist so gesehen nicht-basal, weil es durch die Basishandlung der Bewegung der rechten Hand vollzogen wird. Allgemein gesprochen vollziehen wir nicht-basale Handlungen gemäß der Struktur ›A φ-t, um zu ψ-en‹ (A bewegt die rechte Hand hin und her, um zu grüßen), basale Handlungen kommen dagegen ohne diese Um-zu-Struktur aus. Für die Diskussion um die Kausalität ist bei Danto Folgendes wichtig: Er behauptet die Irreduzibilität narrativer Erklärungen von Handlungen und historischen Ereignissen (wie sie in den Kultur- und Geisteswissenschaften üblich sind), ohne deswegen das nomologische Modell relativieren zu müssen. Dantos Beispiel ist das des Hissens der US-amerikanischen Flagge in Monaco am Nationalfeiertag (man denke an die 1960er Jahre). Die zu erklärende Tatsache, dass neben der monegassischen Fahne auch die US-Flagge gehisst worden sei, finde ihre Lösung darin, dass der Fürst die Amerikanerin Grace Kelly geheiratet habe. In diesem Fall sei also das Explanandum (das Hissen der Flagge eines fremden Landes) nur durch die Betrachtung historischer Ereignisse zu erklären (die Erhebung einer fremden Staatsbürgerin zur Fürstin durch Heirat). Dantos allgemeine These ist nun, dass man neben dem Ex81 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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planandum und dem Explanans den Begriff eines ›Explanatum‹ einführen müsse, das sich auf die Ehrung angeheirateter Monarchen fremder Nationalität durch Flaggenhissen bezieht – und damit doch wieder einen gesetzesförmigen Charakter aufweist. Somit erreicht er eine Kompromissposition zwischen einem streng nomologisch-deduktiven Wissenschaftsmodell (das die Kultur- und Geisteswissenschaften nicht zu erfüllen scheinen) und der idiographisch-narrativen Methode, wie diese sie praktizieren. Auch die Kultur- und Geisteswissenschaften (sowie generell unsere Erklärungen mithilfe der Alltagspsychologie) greifen nach Danto versteckt auf nomologische Erklärungsmuster zurück. Für die Handlungstheorie heißt das, dass man den Kausalismus nicht schon deswegen zurückweisen darf, weil Handlungserklärungen scheinbar historisch-narrativ sind. Alvin J. Goldman vertritt in Theory of Human Action (1970) eine sozial-epistemologische Handlungstheorie. Ein relevanter Punkt dabei ist die Beschreibung von Handlungen gemäß einer Ebenen- oder Baumstruktur: Anknüpfend an die u. a. von Danto untersuchte Struktur ›A φ-t, um zu ψ-en‹ konstatiert Goldman, Handlungen seien häufig durch eine Vielzahl von Ebenen oder Schichten charakterisiert. Denn Sandra kocht ja Kaffee, indem sie Wasser in den Filter gießt; dabei lockt sie einerseits ihre Mitbewohnerin durch den Duft an, zieht sich andererseits aber Ärger zu, weil sie den letzten Rest Kaffeebohnen verbraucht, ohne rechtzeitig neue zu besorgen. Eine solche mögliche Verzweigung einer Handlung ist es, was Goldman mit einer Baumstruktur meint. Seine Handlungstheorie steht zudem in enger Verbindung mit seiner kausalen Analyse von Wissen. Den bekannten Beispielen, mit denen sich Edmund Gettier (1963) gegen die Definition von Wissen als ›gerechtfertigte wahre Meinung‹ gewandt hat, hält Goldman entgegen, dass empirisches Wissen stets auf eine rekonstruierbare Kausalkette zurückgehe, weswegen das bloß ›zufällig‹ korrekte Für-wahr-Halten der Gettier-Beispiele die klassische Wissensdefinition nicht außer Kraft setze. Allerdings musste Goldman in späteren Äußerungen zugeben, dass sich eine solche kausale Epistemologie nicht durchhalten lässt. Wie schon erwähnt, liefert Davidson in Actions, Reasons, and 82 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Causes (1963) in der Linie des aristotelischen praktischen Syllogismus eine Handlungserklärung mithilfe von ›primären Handlungsgründen‹, die für einen Akteur ausschlaggebend sind und die zugleich als effiziente Ursachen aufgefasst werden. Mit primären Handlungsgründen sind Paare von Pro-Einstellung und tatsachenbezogenen Überzeugungen gemeint. Kausalisten in der Nachfolge Davidsons behaupten daher, es reiche aus, in einem gegebenen Fall die als Ursachen wirksamen primären Handlungsgründe anzugeben. In diesem Punkt scheinen nun Davidson und seine kausalistischen Verteidiger über ein starkes Argument zu verfügen; man bezeichnet es als ›Davidsons Herausforderung‹ an die teleologischen Gegner. Wie Davidson in dem klassischen Aufsatz von (1963) plausibel macht, kann ein Akteur durchaus einen Grund G haben, die Handlung H auszuführen, und H tatsächlich tun, und dennoch kann es so sein, dass G nicht der Grund ist, aus dem der Akteur H ausführte. Handlungserklärungen sind also nur dann als erfolgreich anzusehen, wenn sie den tatsächlich auslösenden, handlungswirksamen Grund als Explanans benennen. Dass Sandra genau deshalb in die Küche ging, weil sie eine Tasse Kaffee trinken wollte, macht den Kaffeewunsch im vorliegenden Fall zum handlungswirksamen Grund. Die Tatsache, dass Sandra gleichzeitig auch ihre Brille suchte, was für sie ebenfalls ein Grund hätte sein können (weil die Brille zufällig in der Küche lag), erklärt ihr Betreten der Küche hingegen nicht. Denn dies war nicht der Grund, aus dem Sandra tatsächlich handelte. Damit scheint klar, dass man Handeln auf der Basis eines praktischen Syllogismus erklären muss und dass die kausale Vorgeschichte einer Handlung ihr zentrales Moment darstellt. Eine Handlungserklärung ist immer nur dann als erfolgreich anzusehen, wenn man mit ihr den Grund benennt, der die jeweilige Körperbewegung faktisch hervorgerufen hat. Ein grundlegender Einwand gegen Davidsons Position ergibt sich nun jedoch aus dem ›Argument der abweichenden Kausalketten‹. Angenommen, ein Partygast (der in Wahrheit ein Krimineller ist) wollte seinen im Hintergrund wartenden Komplizen ein Zeichen zum Beginn eines zuvor abgesprochenen Raubüberfalls 83 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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geben; nun würde ihn der Gedanke, dass er sein Glas in Kürze auf der Party in der verabredeten Weise verschütten soll, so nervös machen, dass er den Glasinhalt aus Aufgeregtheit über die bevorstehende kriminelle Aktion unabsichtlich verschütten würde. Das Fallbeispiel lässt sich antikausalistisch verstehen, denn offenkundig entspräche die kausale Vorgeschichte dieses Vorgangs genau Davidsons Bedingung; dennoch läge keine Handlung vor. Der Handlungsgrund, nämlich die Absicht des Partygasts, das verabredete Startsignal zu geben, bildet hier ja die Ursache für das Verschütten des Glases. Obwohl der Grund der Handlung zugleich ihre Ursache darstellt, lässt sich hier nicht von einer Handlung zu sprechen, weil das Geben eines Signals durch den kriminellen Partygast ja unabsichtlich auf einem anderen als dem intendierten Weg zustande kam. Davidsons Position lässt sich durch Fälle dieser Art, wie es scheint, ad absurdum führen. Beim Phänomen abweichender Kausalketten erfüllt sich die Absicht des Handelnden anders, als er sie herbeiführen wollte. Eine Handlung liegt jedoch nur dann vor, wenn sich nicht allein das Ergebnis mit der Absicht des Handelnden deckt, sondern auch der Weg, auf dem es erreicht wurde, vom Handelnden beabsichtigt war. Weitere antikausalistische Bemerkungen zum Problem der abweichenden Kausalketten finden sich bei Geert Keil (2000). Keil differenziert zunächst zwischen ›primären‹ und ›sekundären‹ Fällen von Abweichung: Hiermit meint er einerseits Abweichungen im Handlungsverlauf, die sich vor der Basishandlung ereignen, und andererseits Abweichungen, die während oder nach der Basishandlung geschehen. Für keinen der beiden Typen hält er es jedoch für möglich, Abweichungs- oder Entartungsfälle präzise von intendierten Handlungsverläufen zu unterscheiden. Keil sieht daher den Versuch als aussichtslos an, eine Liste von Kriterien anzugeben, mit denen wir vorab bestimmen könnten, wann eine Handlung in ihrem weiteren Verlauf schiefgegangen oder intentionsgemäß sein mag. Dem zufolge gibt es potentiell unendlich viele Möglichkeiten, wie eine Basishandlung entarten kann, so dass die richtige, intentionsgemäße Verursachungsweise unspezifizierbar bleibt. Für Keil bleibt daher nur der Weg offen, dass der Akteur jeweils ex post darüber befindet, ob er den Handlungs84 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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verlauf – in der mehr oder minder vorhergesehenen Verlaufsform – als seine Handlung anerkennen kann oder nicht. In der Summe scheint es kaum bestreitbar, dass die Diskussion um die abweichenden Kausalketten zulasten des Davidson’schen Kausalismus und zugunsten einer teleologischen Position ausgeht (s. die Diskussion bei Horn/Löhrer 2010). Handeln ist ganz grundsätzlich so zu beschreiben, dass eine Akteurin diejenigen Gründe wirksam werden lässt und in Aktivitäten umsetzt, welche ihr vor dem Hintergrund ihrer Pro-Einstellungen sowie faktischer äußerer Gegebenheiten als die normativ relevantesten oder besten erscheinen. Daraus ergibt sich ein beträchtlicher normativer Druck auf die Akteurin; ein guter Grund, so oder so zu handeln, unterscheidet sich erheblich von einem schlechten Grund (oder von Gründen für andere Handlungen). Um die gemeinte Normativität genauer charakterisieren zu können, muss man neben den kurzfristigen Wünschen einer Akteurin, ihren momentanen Bedürfnissen, Impulsen und Neigungen auch längerfristige Bindungen, Einstellungen, Überzeugungen, Loyalitäten, Ideale, Neigungen, Zugehörigkeiten usw. in Betracht ziehen. Solche längerfristigen Tendenzen lassen sich erneut einteilen in allgemein-menschliche, kulturdependente, epochenrelative, genderspezifische usw. – d. h. nach den verschiedenen Zugehörigkeiten einer Person –, und zu einem weiteren Teil dürften sie auch individuell ausfallen. Doch wie auch immer, ob nun eher persönlich und individuell oder unpersönlich über-individuell, klar ist, dass diese längerfristigen Tendenzen ständig bezogen auf die Idee einer insgesamt gelingenden menschlichen Biographie erklärt werden müssen. Jemand wählt sie in der Überzeugung, dass sie zu einem guten und gelingenden Leben beitragen. Gegen die Idee einer einheitlichen, gelingensorientierten Lebensführung lässt sich einwenden, dass es gerade Brüche, Diskontinuitäten und Umorientierungen sind, in denen sich die Mehrzahl von modernitätstypischen Biographien bewegen. Doch in gewisser Weise bilden gerade diese Phänomene das Zentrum von teleologischer Narrativität. Die Abfolge von narrativem Ausgangspunkt, der Schilderung diverser Verwicklungen, in die ein Protagonist oder ›Held‹ gerät, und einem glücklichen (oder un85 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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glücklichen) Endpunkt sind konstitutiv für alle Erzählungen des gemeinten Typs. Begriffe des Scheiterns, also des unglücklichen diachronen Lebensverlaufs, sind selbst teleologisch gehaltvoll; nur beziehen sie sich auf die vorübergehenden Verwicklungen oder auf das mögliche endgültige Misslingen der Biographie, nicht auf einen geglückten Idealverlauf. Nicht-ideale Verläufe sind also um nichts weniger teleologisch zu beschreiben als geglückte. Dasselbe gilt für die synchrone Fragmenthaftigkeit oder Pluralität einer Biographie, so wie wenn jemand grundlegend divergierende Wünsche, Neigungen und Tendenzen in sich vorfindet, ohne dass sich diese klar nach einer Seite auflösen ließen. Auch für diesen Fall scheint narrative Teleologie passend und sogar unvermeidlich; andernfalls könnte man einen (mehr oder minder chaotischen) Widerstreit der Momente nicht einmal konstatieren. Demgegenüber kann man geltend machen, dass sich eine vernünftige Lebensführung stets als teleologische Geschichte erzählen lassen muss: Als gelingendes Leben erscheint eine erzählbare Biographie, in der die Anlagen, Neigungen, Wünsche und Überzeugungen einer Person sich an bestimmten äußeren Umständen nach nachvollziehbaren Grundsätzen erfüllen, enttäuscht werden, einer Modifikation, einer Vertiefung oder einer Revolution unterliegen usw. Unsere biographische Selbstinterpretation ist dabei stets die des narrativen Perfektionismus. Auch die Vielfalt biographischer Entwicklungsschritte, die Möglichkeit kleinerer oder tiefgreifender Konversionen sowie die Pluralität wünschenswerter Identitäten sprechen nicht dafür, die Lebensführung als diskontinuierlich aufzufassen. Der Gedanke eines biographischen Fortschritts oder Verlusts beruht auf der Voraussetzung, dass verschiedene Situationen im Hinblick auf ein einziges Ziel miteinander vergleichbar sind. Ebenso besteht die Pointe einer als umstürzend erlebten neuen Sichtweise im Leben eines Individuums darin, dass die Innovation eine zieladäquatere Lebensführung zu ermöglichen scheint. Wären biographische Umwälzungen Zeichen von Diskontinuität, so könnte kein Vergleich und keine Bewertung vorgenommen werden; Umschwünge wären dann bloße Naturereignisse. Sogar das Pluralitätserlebnis und die Wertschätzung einer diskontinuierlichen Lebensführung setzen so betrach86 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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tet eine einheitliche Handlungsbasis voraus. Wenn die Unterscheidung eines gelingenden von einem misslingenden Leben einen Sinn haben soll, dann muss eine einheitliche Lebensführung grundsätzlich möglich sein. Die Antithese von insgesamt gelingenden und insgesamt gescheiterten Lebensformen (mit jeweils höchst unterschiedlichen inhaltlichen Füllungen und zudem mit zahllosen Zwischenstufen) scheint für die Handlungstheorie unverzichtbar zu sein. Vor dem Hintergrund der normativen Handlungsrationalität und ihrer längerfristigen Implikationen gibt es keinen Weg geben, den glücksbezogenen, eudämonistischen Fragen auszuweichen: Was bedeutet es, ein gutes menschliches Leben zu führen? Welche Inhalte und Güter lassen ein menschliches Leben als wertvoll erscheinen? Kann man ein Leben unter den so-und-so gegebenen existenziellen Bedingungen überhaupt sinnvoll führen? Was für ein Mensch will ich sein, gegeben die besonderen Zugehörigkeiten, Fähigkeiten und Einschränkungen, Bedingungen und Voraussetzungen meiner Person? Es scheint unumgänglich, sein eigenes Leben als ein narrativ fassbares Kontinuum zu verstehen, das irgendeine vom Akteur intendierte Sinnganzheit darstellt, auch wenn es durch kontingente Umstände oder durch Neuorientierungen des Akteurs alles andere als bruchlos verlaufen mag. Die skizzierte Idee einer teleologisch-narrativen Einheit des menschlichen Lebensverlaufs findet sich etwa bereits in Hannah Arendts The Human Condition (1958). Arendt spricht davon, dass die Biographie eines Menschen stets ein narrativ wiederzugebendes Gewebe von Bezügen darstelle und erinnert dabei an die aristotelische Dramentheorie. Feinkörniger entwickelt wird der Gedanke in Alasdair MacIntyres After Virtue. MacIntyre verteidigt die These, dass es zu jeder punktuellen Basishandlung stets eines ›Rahmens‹ bedarf, der sich aus einem biographischen Kontext ergibt, in welchem die Handlung stattfindet. MacInytres plausibilisierendes Beispiel ist das einer Kant-Vorlesung, in der der Dozent ganz unvermittelt die Anweisungen eines Kochbuchs befolgt: »Wenn ich mitten in meiner Vorlesung über Kants Ethik plötzlich sechs Eier in eine Schüssel schlage und Mehl und Zucker hinzufüge, dabei aber mit meiner Exegese Kants fortfahre, habe ich […] 87 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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keine verständliche Handlung ausgeführt«. Handlungen, so MacIntyre, werden erst verständlich als »ein-mögliches-Element-ineiner-Abfolge«. Das gilt nicht nur für die Handlungskontinuität über einen eng begrenzten Zeitraum hinweg, sondern ebenso für ein ganzes menschliches Leben. Diese letzte Überlegung enthält die wichtige Beobachtung, dass nicht nur Metaethik für die Formulierung der normativen Ethik wichtig ist, sondern dass umgekehrt auch normative Überlegungen in die angemessene Theoriebildung der Metaethik einfließen können. Handlungstheorie ohne eine eudämonistische Reflexion scheint unmöglich zu sein.

2.4 Willensfreiheit und Autonomie Benötigt man zur Grundlegung moralischer Normativität Willensfreiheit? Wie ist Willensfreiheit überhaupt zu verstehen? Lässt es sich plausibel machen, dass wir über Willensfreiheit verfügen? Oder sind wir in unserem Verhalten kausal determiniert? Ist kausaler Determinismus mit der Idee von Willensfreiheit grundsätzlich kompatibel oder nicht? Offenbar handelt es sich bei Willensfreiheit um ein anspruchsvolles Konzept. Benötigen wir es, um die Idee autonomen Handelns formulieren zu können? Zumindest scheint klar, dass man nicht ohne ein grundlegendes Verständnis von Akteur(inn)en als autonomen Personen auskommt. Aber auch die Idee von Autonomie verdient eine genauere Analyse. Der Begriff der Willensfreiheit bezeichnet die Fähigkeit von Personen, selbständige und unabhängige Akte der Entscheidung und der Wahl zwischen Optionen vorzunehmen. Unterstellt wird dabei eine ›Spontaneität des Willens‹. Der Wille erscheint in dieser Sichtweise als ein autonomes Vermögen der nicht-determinierten Erstauslösung, der überlegten Umsetzung und der gezielten Verfolgung von Ereignissen gemäß den Intentionen des Akteurs. Dabei muss ›Erstauslösung‹ nicht zwingend so verstanden werden, als könnte man eine Ursachenkette initiieren; der erstverursachende Wille muss seinerseits nicht völlig ursachelos 88 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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sein. Er orientiert sich vielmals, wie wir im vorigen Abschnitt sahen, an Handlungsgründen und ihrer Vernünftigkeit. Ein grundlegender Konflikt in der Frage nach der Willensfreiheit verläuft zwischen Positionen des Kompatibilismus und denen des Inkompatibilismus. Kompatibilisten vertreten die Überzeugung, eine durchgängige Kausalordnung der Welt sei vereinbar mit der Idee der Willensfreiheit, Inkompatibilisten halten sie für unvereinbar. Oder bilden Willensfreiheit und Determinismus gar keine strikte Alternative? Vereinbar wären die beiden Konzepte dann, wenn sich ihr Konflikt als ein scheinbarer herausstellen würde. Eine kompatibilistische Lösung könnte etwa darin bestehen, dass man unter der menschlichen Entscheidungsfreiheit beim Handeln nicht die Fähigkeit zu einer radikal spontanen Willkürentscheidung versteht (einen Voluntarismus oder Dezisionismus), sondern das Vermögen, nach guten Gründen zu handeln, und dieses dann seinerseits als determiniert betrachtet (z. B. P. Bieri 2001). Unvereinbar können die beiden Konzepte einerseits in dem Sinn sein, dass Willensfreiheit eine bloße Illusion darstellt; als Akteure glauben wir nur, frei zu sein, weil wir die Ursachen unseres Verhaltens ignorieren. Zum anderen können sie unvereinbar sein, weil es neben der Kausalität der Naturprozesse noch eine Kausalität aus Freiheit gibt, wie der Libertarismus behauptet (so etwa Keil 2007). Aber ist es überhaupt zwingend anzunehmen, die Naturvorgänge verliefen nach strikten Gesetzen (Determinismus)? Falls ja, welche Bedeutung hätte dies für das Problem der Willensfreiheit? Oder kann man umgekehrt auf naturwissenschaftliche Beobachtungen verweisen, die für die (probabilistische oder chaotische) Indeterminiertheit bestimmter Prozesse sprechen, und ließe ein Indeterminismus überhaupt einen geeigneten Raum für Willensfreiheit? Bereits in der Antike meinte Epikur, die These von der Willensfreiheit lasse sich durch einen Indeterminismus retten. Doch die Nicht-Prognostizierbarkeit mancher Naturabläufe scheint keine sinnvolle Basis für Freiheit abzugeben, da Akteure ja nicht zufällig zu handeln glauben. Zu unterscheiden ist ferner zwischen Handlungsfreiheit und Willensfreiheit: Handlungsfreiheit bedeutet, über die Fähigkeit 89 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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zu verfügen, selbstgewählte Optionen auszuführen und selbstbestimmte Grundsätze in die Tat umzusetzen. Man kann Handlungsfreiheit nochmals in einen negativen und einen positiven Begriffsaspekt differenzieren: Negative Freiheit bedeutet dann so viel wie Unabhängigkeit von (psychischen, physischen, sozialen, politischen etc.) Hindernissen, positive Freiheit so viel wie ein aktives Verfügen über einen Handlungsspielraum (ein hohes Maß an positiver Dispositionalität). Willensfreiheit bezieht sich dagegen auf eine stärker im ›Innern‹ fundierte Entscheidungsfähigkeit. Sie lässt sich vielleicht mit Harry Frankfurt (1971) als das Vermögen charakterisieren, Volitionen zweiter Stufe und damit eine bestimmte Persönlichkeit oder ›höherstufige‹ Identität zu wählen, z. B. sich für ein Selbstbild bestehend aus festen Grundsätzen zu entscheiden – gleichgültig, ob sich diese auch tatsächlich realisieren lassen. Z. B. könnte man als Drogenabhängiger faktisch unfähig sein, auf einen regelmäßigen Drogenkonsum zu verzichten, und dennoch wollen, man wäre von der Droge unabhängig. Frankfurt glaubt nun allerdings, bei seinem Begriff der Willensfreiheit auf das ›Prinzip alternativer Möglichkeiten‹ verzichten zu können, wonach wir stets auch anders hätten handeln können, als wir es tatsächlich getan haben (I could have done otherwise). Das Prinzip scheint darin angreifbar zu sein, dass es niemals nachprüfbar ist, ob jemand Handlungsalternativen zur Verfügung gestanden hätten. Frankfurt (1969) attackiert dieses Prinzip, indem er auf Fälle verweist, in denen unter Umständen auch alternativloses Handeln als frei gelten kann. Angenommen, der Neurowissenschaftler Black plante, einen gewissen Jones dazu zu nutzen, Smith zu töten. Er benutzt dazu ein Gerät, mit dem er Jones manipulieren könnte, die Absicht zu haben, Smith zu töten – falls dieser nicht bereits von sich aus diese Absicht hat. Nun hat Jones aber tatsächlich diese Absicht und tötet Smith. Nach Frankfurt liegt hier ein Fall vor, in dem der Akteur (Jones) aus freier Entscheidung eine Handlung ausführt (Smith tötet), ohne dass er eine alternative Handlungsoption gehabt hätte. Das Gedankenexperiment wirkt aber alles andere als überzeugend: Es setzt ja vielmehr selbst voraus, dass die Freiheit von Jones darin besteht, sich für ein Töten von Smith unter der Voraussetzung zu ent90 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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scheiden, dass er dieses Töten auch unterlassen könnte (zur Kritik vgl. etwa Betzler/Guckes 2001). Der Begriff der Willensfreiheit ist für die Moralphilosophie zweifellos von großer Bedeutung: In moralischen, juristischen und pädagogischen Theorien des Fehlverhaltens begründet er die Möglichkeit der Rede von vorsätzlichem, freiwilligem oder absichtlichem Handeln. Es sieht so aus, als benötigten wir den Begriff der Willensfreiheit im Rahmen unserer alltäglichen ebenso wie unserer reflektierten Auffassungen von Zurechenbarkeit, Verantwortlichkeit oder Imputabilität. Stützt man eine Theorie der Verantwortlichkeit des Handelnden auf die Vorstellung von Willensfreiheit, dann liegt es nahe, sie in etwa so zu verstehen, wie dies bereits Augustinus in ihrem christlich-theologischen Entstehungskontext tat (in der Gegenwart z. B. Roderick Chisholm): Willensfreiheit setzt voraus, dass Menschen (a) über ein Vermögen verfügen, auf das sich falsches Handeln bei vollem Bewusstsein zurückführen lässt, und wenn sie (b) das Vermögen, das es erlaubt, sich bei vollem Bewusstsein für das Falsche zu entscheiden, für nicht weiter ableitbar hält. Der Wille kann das Falsche wählen, ohne dass ihn eine Täuschung über die vorziehenswerte Option im Spiel ist und ohne dass ihn irgendeine interne oder externe Größe dazu determiniert. Man kann diese (a) als Bewusstheitskriterium und (b) als Spontaneitätskriterium bezeichnen. In gewisser Weise scheint diese Idee absurd zu sein (vgl. Gilbert Ryle, The Concept of Mind, Kap. 3 und seine Rede vom ›Mythos von den Willensakten‹). Kants Standpunkt ist hier von besonderem Interesse. Bereits in der Kritik der reinen Vernunft (1781) erklärt er sowohl einen Freiheitsbeweis basierend auf Begriffen als auch einen Freiheitsbeweis, der auf Erfahrung beruht, für ausgeschlossen. Was aber gemäß der ersten Kritik gleichfalls falsch wäre, ist der Schluss auf die Richtigkeit eines naturalen Determinismus. Doch nicht die theoretische Pattsituation zwischen Freiheitsthese und Determinismus ist der entscheidende Punkt. Der zentrale Akzent, den Kant in der ersten Kritik setzt, ist vielmehr der der Vereinbarkeit beider Positionen. In der dritten Antinomie (A444/B472–A451/B480) weist er die Vorstellung zurück, unser Nachdenken zum Problem von Freiheit 91 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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und Determinismus verstricke sich in eine unausweichliche Aporie. Die beiden Standpunkte, wonach wir einerseits »eine Reihe von successiven Dingen oder Zuständen von selbst anfangen« können, und wonach andererseits ein durchgängiger kausaler Zusammenhang besteht, können vielmehr beide zugleich wahr sein. In Verbindung mit unserem, wie er meint, unhintergehbaren Freiheitsbewusstsein gelangt Kant dann in der Grundlegung (4: 448) doch noch zu einem affirmativen Argument: »Ich sage nun: Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d. i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde. Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, nothwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Causalität in Ansehung ihrer Objecte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urtheile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Subject nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urtheilskraft zuschreiben. Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Principien ansehen unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.«

Es war im 20. Jahrhundert insbesondere der Neukantianer Heinrich Rickert in seiner Schrift System der Philosophie, Bd. 1 (1921: 302), der die in Kants Grundlegung eher angedeutete als entwickelte Überlegung zu einem schlagkräftigen anti-deterministischen Argument auszubauen versuchte. Nach Rickert gerät der Determinist in eine unüberwindliche Aporie, da er anzunehmen gezwungen sei, dass er seinen philosophischen Standpunkt, eben 92 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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den Determinismus, letztlich aufgrund kausaler Determination und nicht auf der Basis frei abgewogener Sachgesichtspunkte vertrete. Ist dies soweit richtig, dann könnte der Determinist nach Rickert nicht gleichzeitig behaupten, sein Standpunkt sei dem eines Indeterministen der Sache nach überlegen. Vielmehr dürften für ihn dann Sachgesichtspunkte keine entscheidende Rolle spielen. Der Determinist müsste ja sowohl sich selbst als auch den Indeterministen für determiniert halten, den jeweiligen Standpunkt einzunehmen (oder auch von einer Position zur anderen überzugehen). In der Konsequenz wäre nun jede Sach- und Wahrheitsorientierung unmöglich. Um diese Aporie zu vermeiden, müssen wir uns, so Rickert, in unserer Urteilsbildung für frei halten: »Behauptet er [sc. der Determinist], dass es überhaupt keine Freiheit der Entscheidung gibt, dann kann er in seiner eigenen Entscheidung für den Determinismus ebenfalls nicht einen freien Akt des Subjekts sehen, sondern lediglich ein Produkt der kausalen Notwendigkeit. Falls das aber zutrifft, hat der Determinismus gegenüber der faktisch auch vorhandenen Entscheidung anderer Denker für den Indeterminismus jeden theoretischen Vorzug eingebüßt, denn der Indeterminismus ist, gerade nach der deterministischen Theorie, mit eben derselben kausalen Notwendigkeit entstanden wie der Determinismus. Wir haben also die beiden kausalen Naturprodukte: Determinismus und Indeterminismus, einfach hinzunehmen. Das Subjekt kann ja niemals durch den Wert bestimmt werden, für den es sich entscheidet. Es gehorcht der Ursache. Deshalb ist auch der Determinist nicht durch den Wert der Wahrheit in seiner Entscheidung bestimmt, sondern allein durch den Zwang der Kausalität.«

Rickerts Argument scheint mit seiner einfachen Lesart Kants das folgende zu meinen: In meinen Überzeugungen kann ich mich unmöglich als determiniert ansehen. Denn ich muss immer über zureichende (oder zumindest mir als zureichend erscheinende) Gründe für eine von mir bezogene Position verfügen. Würde ich nun glauben, ich sei zum Vertreten dieser oder jener Position determiniert, dann wäre es nicht die Kraft der Gründe, sondern die 93 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

Kraft determinierender Ursachen, welche in mir das Für-richtighalten dieser oder jener Position auslösen würde. Folglich beginge der Verteidiger des Determinismus so etwas wie einen performativen Selbstwiderspruch: Er glaubt nämlich einerseits, dass es gute Gründe zum Vertreten eines Determinismus gibt, und nimmt jedoch andererseits an, dass sein eigener mentaler Zustand (das Vertreten des Determinismus) Teil eines kausal determinierten Geschehens ist. In dieser Rekonstruktion ist Rickerts Argument sicherlich angreifbar, wie etwa U. Pothast (1980: 254) feststellt: Es gibt viele mentale Phänomene, die wir so erleben, dass sie von einem Freiheitsbewusstsein begleitet sind, ohne dass bei ihnen tatsächlich von Freiheit die Rede sein kann. Einleuchtende Beispiele dafür liefern z. B. auch Freuds klassische Experimente mit der sogenannten ›posthypnotischen Suggestion‹. Suggeriert der Therapeut dem Patienten unter Hypnose, er solle nach dem Erwachen mitten im Behandlungszimmer seinen Regenschirm aufspannen, so führt der Patient dies u. U. tatsächlich aus – und mehr noch (das behauptet jedenfalls Freud), er rationalisiert dieses unsinnige, aber als frei empfundene Tun sogar, indem er fiktive Gründe dafür angibt (»Ich dachte, es regnet in diesem Raum«). Nichts schließt prima facie aus, dass auch das Erscheinen von Gründen als richtig oder falsch als Bestandteil einer naturalistisch reduziblen Gehirnaktivität gelten muss. Eine zentrale Herausforderung an den Begriff der Willensfreiheit ist daher, dass möglicherweise eine (der Akteurin unbewusste) kausale Determination vorliegt, sodass Willensfreiheit eine Illusion darstellt. In den Neurowissenschaften der letzten Jahrzehnte wurde dieser Punkt, der vielleicht für einen reduktionistischen Naturalismus spricht, in breiter Form diskutiert. Diese Sichtweise wird begünstigt u. a. durch die Forschungen von Benjamin Libet (Mind Time: 2005), der allerdings selbst kein Reduktionist war. Unter den Libet-Experimenten versteht man neurologische Versuche, in denen sich zeigt, dass handlungsauslösende Hirnaktivitäten zeitlich bereits vor einer bewussten Entscheidung registrierbar sind. Etwa 550 Millisekunden vor der bewussten Willensentscheidung besteht bereits ein latentes Bereitschaftspotential. Ist unser Freiheitsgefühl ein neu94 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Willensfreiheit und Autonomie

ronal suggerierter Zustand? Unterliegen Bewusstsein und Denken vollständig den Beschreibungen von Physik, Chemie und Biologie? Wie auch immer die Frage nach der Willensfreiheit zu beantworten ist, zumindest benötigt man in der Moralphilosophie den bescheideneren Begriff rationaler Autonomie und autonomer Akteurinnen und Akteure. Was aber konstituiert Autonomie? Offenkundig muss man zunächst festhalten, dass die Bestimmung notwendiger Bedingungen hier wesentlich wichtiger ist als die hinreichender Bedingungen. Denn es scheint zwar eindeutig, dass jemand unbedingt aus dem Zustand einer schweren Drogenabhängigkeit oder dem Sozialstatus der Sklaverei befreit sein muss, damit man sie oder ihn autonom nennen kann; aber wie wichtig bestimmte Fremdsprachen- oder Technikkenntnisse sein mögen, ohne die man niemandem (zumal unter Gegenwartsbedingungen) Autonomie zusprechen will, lässt sich unterschiedlich beurteilen. Die Konstitutiva von rationaler Autonomie scheinen teilweise anthropologisch-invariant, teilweise kulturrelativ und variabel zu sein – ohne dass die gesamte Idee rationaler Autonomie dadurch eine Tendenz zum Kulturrelativismus erhalten müsste. Noch wichtiger als eine Auflistung von konstitutiven Faktoren ist jedoch eine Begriffsbestimmung rationaler Autonomie. In erster Näherung gesprochen ist rational autonom jemand, der ›sein eigner Herr ist‹, d. h. maßgeblich über sich selbst entscheidet und sich selbst zum Handeln bestimmt, der seinen eigenen Überlegungen und wohlerwogenen Gründe folgen kann und der imstande ist, seine Interessen, Neigungen, Präferenzen, Wünsche, besonders seine ›höherstufigen Wünsche‹ (wie wir dies bei Frankfurt sahen) und seine eigenen Lebenspläne, zu verfolgen. Der erste Teil dieser Formulierung klingt externalistisch (wie in Kants Rechtslehre), der zweite internalistisch (wie in Frankfurts Aufsatz von 1971). Mit der Verbindung beider Ebenen scheint ein Konflikt überspielt zu werden, nämlich der zwischen axiologischer Subjektivität und axiologischer Objektivität. Entsteht Autonomie dadurch, dass es dabei allein oder doch primär auf die Innenperspektive der Akteurin ankommt? Dann wäre entscheidend, ob es ihr gelingt, ihre Wünsche, Interessen und Neigungen zu identifizieren und zu 95 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Metaethik: Theoretische Grundlagen der Moralphilosophie

artikulieren, für sich eine Idee guten Lebens auszubilden, das Ideal einer wünschenswerten Persönlichkeit zu formulieren sowie wertvolle Lebensziele ins Auge zu fassen. Damit schwer vereinbar scheint es die externalistische Perspektive einzunehmen, d. h. eine Reihe von objektiv relevanten Außengütern anzugeben. Ist dann eine externalistisch-objektive Position vorzuziehen? Vielleicht ist der Gegensatz von externalistischen und internalistischen Ansätzen aber auch irreführend. Denn die Diskussion um den internalistischen Ansatz von Frankfurt und ähnlichen Modellen hat zu der Einsicht geführt, dass ein subjektiver Internalismus insgesamt wenig attraktiv ist. Frankfurts zentrale Idee war die von Autonomie als einer Hierarchie von Wünschen, wobei sich die übergeordnete zweite Wunschstufe selektiv und regulativ auf die Ebene spontan auftretender Wünsche erster Stufe auswirkte. Die wesentlichen Einwände dagegen sind folgende (vgl. die Aufarbeitung durch Betzler und Guckes 2001): (a) Einem Regresseinwand zufolge kann Frankfurt nicht angeben, warum für die Beurteilung der Wünsche erster Stufe eine zweite Stufe ausreicht und weshalb diese nicht wiederum durch Wünsche dritter, vierter usw. Stufe beurteilt werden müssten. (b) Einem ab initio-Einwand zufolge kann Frankfurt nicht erklären, warum nicht bereits Wünsche erster Stufe für Autonomie ausreichen sollten, etwa deswegen, weil diese ungefilterter und authentischer sind. (c) Dem Selbstentfremdungseinwand folgend könnte man (als Präzisierung von (b)) zu bedenken geben, dass vielen Wünschen zweiter Stufe eine selbstentfremdende Lerngeschichte vorausgeht. (d) Einem Willenseinwand zufolge ist nicht zu sehen, was Frankfurts Wünsche zweiter Stufe mit dem Willen einer Person zu tun haben – warum sie also jemandes wahre Eigenpersönlichkeit repräsentieren sollten. (e) Einem Selektionseinwand zufolge lässt sich nicht verstehen, wie es Wünschen zweiter Ordnung gelingen mag, unter solchen erster Ordnung auszuwählen. Und (f) einem Dezisionismus-Einwand folgend kann man geltend machen, dass dann Autonomie eine völlig beliebige Selbstkonstitution, eine Art radikaler Selbstwahl, bedeuten könnte; aber unserem Vorverständnis nach scheinen einige Formen der Selbstwahl eher in die Heteronomie als in die Autonomie zu führen. 96 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Willensfreiheit und Autonomie

Muss man wegen dieser Liste von Bedenken, die Frankfurts Standpunkt von 1971 wohl unhaltbar macht, die Idee eines Hierarchiemodells insgesamt aufgeben? Nicht notwendig; aufgeben sollte man lediglich einen subjektivistischen Internalismus. Aus der breit geführten Diskussion kann man vielmehr lernen, dass man anstelle von ›Wünschen zweiter Ordnung‹ eher Prinzipien oder Regeln anzunehmen hat und dass diese nicht subjektiv (oder wenigstens nicht vollkommen subjektiv) sein dürfen. Unverzichtbar scheint es, eine substantielle Konzeption des Guten zur Grundlage rationaler Autonomie zu machen. Entscheidend ist aber, dass man unter Autonomie und dem Willen einer Person nicht primär eine Dynamik von Wünschen (oder anderen mentalen Vorkommnissen) versteht, sondern eine ursprüngliche, aktive Fähigkeit des Subjekts, sich eine moralische Identität zu geben.

97 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

3. Teleologische Ethiken

Eine der wichtigsten Unterscheidungen im Feld der normativen Ethik ist diejenige zwischen teleologischen und deontologischen Ansätzen. Sie findet sich prominent bei William K. Frankena (1973) und John Rawls (1971), geht aber ursprünglich auf Überlegungen in C. D. Broads Five Types of Ethical Theory (1934) zurück. Ethiken können teleologisch oder deontologisch oder aus beiden Modellen gemischt sein. Zwar passen nicht alle Ethiken in dieses Schema; einige normative Ethikmodelle – wie die Vertragstheorie oder die aktuelle Tugendethik – lassen sich nur schlecht oder gar nicht damit rekonstruieren (dazu genauer in Kap. 5 und 6). Andererseits kann man wichtige Ansätze, darunter den Utilitarismus und das Modell Kants, auf diese Weise recht treffend beschreiben. (Grundsätzlich sei angemerkt, dass solche großflächigen Einteilungen nur als nützliche Hilfsmittel angesehen werden sollten.) Die Unterscheidung von teleologischen und deontologischen Ethiken beruht darauf, wie ein Ansatz die beiden fundamentalen Begriffe des ›Guten‹ und des ›Richtigen‹ zueinander in Beziehung setzt. Das ›Gute‹ meint hierbei das für Menschen Wünschenswerte, Angenehme oder Vorteilhafte und somit alles dasjenige, was zum menschlichen Glück beitragen kann (wie immer man dies dann auch näher bestimmen mag). Das ›Richtige‹ steht hingegen für alles das, wovon wir sagen würden, es sei geboten, es zu tun – und was folglich von Akteur(inn)en verlangt werden kann oder worauf sich ein Handlungsgebot bezieht. Teleologische Ethiken nun liefern zunächst eine Beschreibung des Guten; sie gründen moralische Normativität auf Überlegungen darüber, welche Güter ein menschliches Leben typischerweise oder idealerweise gelingen lassen (oder welche Übel es zum Scheitern bringen). Sie gehen erst danach dazu über, das Richtige in Abhängigkeit vom Guten zu beschreiben. Umgekehrt bei deontologischen Ethiken. Sie be98 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Klassischer und moderner Eudämonismus

ginnen im ersten Schritt damit, das moralische Richtige zu bestimmen, und deuten dann erst das Gute in Abhängigkeit vom Richtigen. Kennzeichnend für deontologische Ethiken ist es, strikt verbindliche Pflichten geltend zu machen, die folgenunabhängig ausgeführt werden müssen. In den teleologischen Ethiken der Antike spielten beispielsweise Glück und Tugend als Güter eine herausragende Rolle, im Utilitarismus des frühen 19. Jahrhunderts dagegen die GüterÜbel-Distinktion von Lust und Unlust (oder auch ›Freude‹ und ›Leid‹). Aristoteles etwa in seiner (für die Antike ziemlich charakteristischen) teleologischen Ethik bestimmt erst das Glück als wünschenswertes Ziel und gibt dann an, was zu seiner Erreichung getan werden muss: und erst dazu gehört die Tugend einschließlich der moralischen Forderungen. Jeremy Bentham hingegen bestimmt zunächst Lust und Unlust als grundlegende Güter bzw. Übel, bevor er Lustmaximierung und Unlustminimierung als Handlungsgebote identifiziert. Eine wichtige Folgeunterscheidung innerhalb der teleologischen Ethiken ist die zwischen strebenstheoretischen (oder handlungsteleologischen) und konsequentialistischen Ansätzen. Während Erstere betonen, unser Handeln sei immer schon (wenn auch in der Regel unbewusst) auf intrinsische Güter und ein letztes Ziel hin ausgerichtet, behaupten Letztere, die Richtigkeit von Handlungen ergebe sich aus ihrer Eignung für die Maximierung des als erstrebenswert charakterisierten Guten. Damit jetzt zu den teleologischen Ethiken im Einzelnen.

3.1 Klassischer und moderner Eudämonismus Im Zentrum der antiken Moralphilosophie stehen generell Tugend- und Glücksmodelle, die die Antwort auf die Frage liefern sollen, welche Form des menschlichen Lebens als gut oder wählenswert anzusehen ist. Unter welchen Bedingungen gelingt eine Biographie? Wann und warum ist sie vom Scheitern bedroht? Wie können wir glückliche Menschen werden? Die Ethik der Antike beginnt zwar aspektweise bereits bei Heraklit und Pythagoras; 99 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Teleologische Ethiken

wichtiger ist aber der Neubeginn mit Sokrates. In der Zeit vor Sokrates bestimmten Spekulationen über die ersten Prinzipien der Natur die Philosophie, und auch der junge Sokrates scheint sich daran zunächst beteiligt zu haben. Cicero berichtet jedoch, Sokrates habe dann »als erster die Philosophie vom Himmel (sc. der Naturspekulationen) herabgerufen, sie in den Städten heimisch gemacht, sie sogar in die Häuser eingeführt und sie gezwungen, über das Leben, die Sitten und die guten und schlechten Dinge Untersuchungen anzustellen« (Tusculanae disputationes V. 10). Da uns Sokrates nichts Schriftliches hinterlassen hat, ist es schwierig zu sagen, worin genau seine Ethik bestanden hat. Möglicherweise war er sogar Skeptiker, der keinerlei affirmative Theorie vertreten wollte. Was als positive Lehre des Sokrates in Betracht kommt, hängt primär mit seiner ›delphisch-apollinischen Mission‹ zusammen, also mit dem Bewusstsein, von dem Gott Apollon den Auftrag zur kritischen Prüfung gängiger Überzeugungen erhalten zu haben. Damit verbindet sich das Ideal der richtigen Selbsterkenntnis und der angemessenen Selbsteinschätzung. Die Inschrift ›Erkenne dich selbst‹ (gnôthi seauton) am Apollon-Tempel von Delphi dürfte Sokrates so gedeutet haben, dass sie zu einer ›Sorge um sich‹ oder einer ›Fürsorge für die eigene Seele‹ auffordert. Überdies ist es wahrscheinlich, dass Sokrates einen sogenannten ›moralischen Intellektualismus‹ vertrat; dieser besteht aus drei provokativen Thesen: (1) Tugend ist Wissen. (2) Niemand handelt freiwillig schlecht. (3) Alle Tugenden bilden eine Einheit. Sokrates’ Intellektualismus zufolge ergibt sich das angemessene oder richtige Handeln einer Person allein aus ihrer vernünftigen Einsicht. Das bedeutet: Jemandes vernünftige Einsicht garantiert sein individuelles Gutsein und gutes Handeln, und dies sowohl im Sinn einer notwendigen als auch im Sinn einer hinreichenden Bedingung. Die Pointe dieser Position besteht darin, dass es in jedermanns Hand liegt, ob er oder sie sich durch eine konsequente Vernunftorientierung von verfehltem Handeln frei macht oder nicht. Denn jedem soll seine Vernunft unmittelbar zugänglich sein; wer sie aber vollständig aktiviert, vermag damit sowohl prudentielles Fehlhandeln zu vermeiden, nämlich die sogenannte Willens100 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Klassischer und moderner Eudämonismus

schwäche (akrasia), als auch moralisches Fehlhandeln auszuschließen, d. h. Unrechttun (adikia). Tugendhaft sein – d. h. über wünschenswerte persönliche Eigenschaften im Sozialverhalten und im Selbstverhältnis zu verfügen – beruht aus sokratischer Sicht allein auf richtiger Einsicht. Wer über die richtige Einsicht verfügt, besitzt zugleich auch die zureichende Motivation, einsichtsgemäß zu leben, und hat auch nicht mit inneren Widerständen zu rechnen, die dies verhindern könnten. Damit ist nun bereits der sokratische Begriff der Tugend (aretê) umrissen. Der zweite Kernbegriff von Sokrates’ Ethik ist der des Glücks (eudaimonia). Für Sokrates bedeutet ›Glück‹ nicht – wie man dies heute mehrheitlich auffassen würde – einen äußerst positiven mentalen, subjektiven Gefühlszustand, sondern den objektiven dauerhaften Besitz derjenigen Güter, die ein menschliches Leben erfüllen (welche dies im Einzelnen auch sein mögen). Interessant ist nun, wie Sokrates in Platons Dialog Euthydemos unser Streben nach Glück charakterisiert (282a): »Da wir nun alle danach streben, glücklich zu sein, und da wir offenkundig durch den Gebrauch der Dinge und zwar durch den richtigen Gebrauch glücklich werden, wobei es das Wissen ist, das die Richtigkeit und das gute Gelingen sicherstellt, muss jeder Mensch, wie es scheint, auf jede Weise dafür sorgen, so weise wie möglich zu werden.«

Der Basis-Satz dieses Zitats ist ›Alle Menschen streben nach Glück‹. Glück ist das letzte, allgemeine, konstante, umfassende Ziel alles unseres Handelns. Um glücklich zu werden, müssen wir, Sokrates zufolge, die Tugend der Weisheit dahingehend entwickeln, dass sie unseren ›richtigen Gebrauch‹ (orthê chrêsis) aller Dinge anleitet. Um die Position des Sokrates und überhaupt der klassischen Glücks- und Tugendethiken aus Antike und Mittelalter zu verstehen, muss man sich ihren Hintergrund in einer bestimmten teleologischen Handlungstheorie verdeutlichen; diese stützt sich wesentlich auf die Vorstellung eines ›natürlichen Strebens‹. Man kann sie treffend als strebens- oder handlungsteleologische Posi101 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Teleologische Ethiken

tion bezeichnen. Die Vorstellung eines natürlichen Strebens meint, dass sich unser Handeln (die Rationalität des Akteurs vorausgesetzt) an nicht-beliebigen Sinnbedingungen zu orientieren hat. Historisch gesehen sind Glücksphilosophien des gemeinten Typs seit Sokrates und Platon vertreten worden; zu dieser Gruppe zählen, bei allen Unterschieden in der Ausgestaltung des Modells, die Positionen des Aristoteles, Epikurs, der älteren Stoiker sowie zahlreicher späterer Peripatetiker, Stoiker, Platoniker und sogar der Skeptiker und ebenso christliche Autoren wie Augustinus oder Thomas von Aquin (dazu ausführlicher Horn 2003). Handlungsteleologische Ethiken beruhen auf der Überzeugung, dass nicht nur die Einzelhandlungen eines Individuums subjektiv zielgerichtet sein müssen, sondern dass zudem eine Ordnung der verfolgten Ziele besteht, eine Ordnung, die vom Akteur in der Regel unbemerkt bleibt, obwohl er ihr implizit Folge leistet. Eine erste Teilüberzeugung aller dieser Moralphilosophien besagt, jeder Akteur müsse seinen eigenen Handlungserfolg wollen; traditionell ausgedrückt: Jede Handlung müsse sich auf ein Gut richten oder zumindest auf etwas (subjektiv) für gut Gehaltenes. Man kann dies als die These von der Erfolgsbindung des Handelns bezeichnen. Eine andere Teilüberzeugung lautet, dass jeder Akteur mit allen seinen Handlungen auf ein umfassendes letztes Ziel gerichtet sei. Wie viele Teilziele jemand auch immer synchron und diachron verfolgen mag, sie lassen sich vor dem Hintergrund eines einzigen großen Ziels verstehen. Man kann diese Ansicht die These vom umfassenden letzten Ziel allen Handelns nennen. Einen wichtigen Ausgangspunkt von Ethiken dieses Typs bildet folgende Überlegung. Es gibt zwei Möglichkeiten, den Gütercharakter G einer Entität x zu interpretieren: Das Gutsein von Wasser für einen Durstigen unterscheidet sich erheblich vom Gutsein eines Hirschkäfers für eine Insektensammlerin. Entweder ergibt sich G aus den objektiven Eigenschaften von x sowie aus den objektiven Merkmalen des Akteurs, oder aber G kommt durch einen arbiträren Wunsch zustande, den der Akteur auf x richtet; im ersten Fall wäre G dasjenige, was den Wunsch im Subjekt hervorriefe, im zweiten Fall wäre es das Subjekt, das G einem x zuweisen wür102 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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de. Im Wahrnehmungsmodell ist der Zusammenhang zwischen dem Gegenstand und dem Wunsch eines Individuums einer Außenbeschreibung fähig, im Geschmacksmodell ist er dagegen von interner Art. Der Kern der Unterscheidung liegt in der Antithese »gewünscht, da wertvoll« (desired because valuable) und »wertvoll, da gewünscht« (valuable because desired), wie man sie bei James Griffin (1986) formuliert findet. Mit Blick auf die Relation zwischen einem Wunsch und seinem Gegenstand kann man also von einer Geschmackstheorie sprechen, wenn das Verhältnis so gedeutet wird, dass etwas als gut anzusehen sei, weil es aus beliebigen subjektiven Gründen gewünscht wird. Hingegen lässt sich eine Position als Wahrnehmungstheorie bezeichnen, für die die Bedingung rationalen Strebens darin besteht, dass das Erstrebte zuvor als gut identifiziert ist. Die gemeinten handlungstheoretischen Ethiken gehören klar der Gruppe der Wahrnehmungstheorien an. (Bemerkenswerterweise zeigt auch die neuere Debatte, dass sich erhebliche Vorteile auf Seiten dieser objektivistischen Theorien finden; vgl. den Sammelband von Steinfath 1998). Für die hier thematisierte moralphilosophische Tradition besteht nun das zentrale Auswahl- und das Vorrangkriterium von Gütern in ihrer objektiven Glücksrelevanz. Einige Güter besitzen eine weitreichende, andere eine geringe Bedeutung für die eudaimonia. Glück bedeutet dabei so viel wie definitiver und umfassender Güterbesitz, d. h. ein Zustand, in dem das Streben eines Individuums seine Erfüllung erreicht – was immer dafür inhaltlich konstitutiv sein mag. Die Strebensrelation kommt in dem, was schlechthin erstrebenswert ist, zu einem Ende. Zur Semantik des Glückbegriffs gehört es, dass man nicht sinnvoll weiterfragen kann, weshalb jemand glücklich sein will. Was immer unter Glück inhaltlich zu verstehen sein mag, bildet jenes Ziel, an welchem jedes Streben, Begehren, Wünschen usw. definitiv erfüllt ist. Dieses Glückskonzept bildet das Rückgrat der handlungsteleologischen Ethiken. Dabei wird das Glück als ein Ziel interpretiert, das man nicht als partikular gut oder als ein Gut neben anderen auffassen kann; es ist ein abschließend-umfassendes Gut. Den Ausgangspunkt von Platons moralphilosophischen Überlegungen bildet die Frage: ›Wie soll man leben?‹ (hontina tropon 103 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Teleologische Ethiken

chrê zên. Politeia I: 352d). Zu beachten ist, dass das ›soll‹ hier nicht für ein moralisches, sondern für ein glücksorientiertes Sollen steht. Platon vertritt in der Linie des Sokrates einen moralischen Intellektualismus, also (wie gerade gesehen) die Überzeugung, die menschliche Vernunft sei notwendig und hinreichend für das Glück. Die für die Antike typische Betonung asketisch-psychologischer Praktiken und Techniken ist bei Platon daher weitgehend auf kognitive Übungen beschränkt. Zentral für die Moralphilosophie Platons ist ferner das Motiv einer möglichst weitgehenden ›Angleichung an Gott‹ (homoiôsis theô), das Platon mehrfach als Ziel philosophischer Bemühung hervorhebt (Theaitetos 176a–b; Politeia X.613a–b). Platon entwickelt somit einen emphatischen Begriff von der persönlichkeitsverändernden Wirkung der Philosophie: Der Philosoph besitzt wahres Wissen (epistêmê) im Unterschied zu bloßer Meinung (doxa), denn die Gegenstände seines Wissens sind, wie Platon meint, strikt unveränderlich. Dem Philosophen werden als Kontrastfiguren der Tyrann und der Sophist gegenübergestellt; Letzterer wird als bloßer Taschenspieler und Trickbetrüger charakterisiert. Damit jemand zum Philosophen werden kann, muss er eine Umwendung oder Konversion vollzogen haben (periagôgê, peristrophê). Philosophie steht so betrachtet für einen Aufstieg (epanhodos) der Seele (VII.518d). Platon beschreibt die Tugend, insbesondere die Gerechtigkeit, als etwas unbedingt Wählenswertes – unabhängig davon, welche Folgen die Tugend mit sich bringt, und gleichgültig, was das letzte Ziel menschlichen Strebens ist. Da er in der Politeia unter Gerechtigkeit die volle funktionale Entfaltung der Seele versteht, ist eine tugendhafte Seele (und analog dazu ein gerechter Staat) intrinsisch wünschenswert, weil allein sie (bzw. allein der vollkommen gerechte Staat) ein funktionales Optimum erreicht. Dass der Übergang vom Mangelzustand einer Entität zu ihrem Erfüllungszustand von ihr ›gewollt‹ wird, ist für Platon eine schlichte begriffsanalytische Wahrheit. Nachdem dies klar ist, liegt auch auf der Hand, wodurch eine Seele bzw. der Staat ein funktionales Optimum erreichen kann: Dadurch, dass sie ihre Funktion erfüllen oder, wie es heißt, »das Ihrige tun« (ta hautou prattein), also ihre spezifischen Fähigkeiten entfalten (IV. 433a). Platon deutet die so 104 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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verstandene Gerechtigkeit (dikaiosynê) als Einheitsmoment der drei weiteren Tugenden Besonnenheit (sôphrosynê), Tapferkeit (andreia) und Weisheit (sophia), die er den drei von ihm unterschiedenen Seelenteilen epithymêtikon, thymoeides bzw. logistikon zuordnet. Die einzelnen aretai stehen zueinander in einem notwendigen Verhältnis; keine kann ohne die andere vorkommen (IV. 428a). Die Tugenden der Seelenteile werden ebenfalls als deren jeweiliges funktionales Optimum gedeutet. Die vollkommene Tugend besteht somit in der Harmonie eines bestmöglichen Zusammenspiels der drei Seelenteile des Individuums (bzw. der drei Stände eines Staates). Dieses soll sich als Konsequenz der philosophischen Einsicht ergeben. Die dikaiosynê erweist sich so weit als intrinsisches Gut vergleichbar dem Wohlbefinden oder dem unschädlichen Vergnügen. Auch Aristoteles’ Moralphilosophie basiert auf dem Glücksbegriff, d. h., sie ist eudämonistisch. Ihr zweites begriffliches Zentrum liegt im Begriff der Tugend. Unter Glück (eudaimonia) versteht Aristoteles ebenfalls nicht bloß einen positiven mentalen Zustand, sondern das objektive Gelingen eines Lebens. Um sein Leben gelingen zu lassen, muss jemand im Besitz glücksrelevanter Güter sein, und zwar im dauerhaften Besitz mehr oder weniger aller Güter. Aristoteles scheint im Unterschied zu zahlreichen anderen antiken Moralphilosophen Güterpluralist zu sein: Er erklärt eine Mehrzahl von Gütern für glücksrelevant. Allerdings sind diese bloße Voraussetzungen des Glücks, nicht dessen Teile. Das aristotelische Glücksverständnis bleibt somit gütermonistisch, obwohl etwa Gesundheit und körperliche Vorzüge, soziale Anerkennung, Wohlstand, Bildung und das Leben in einem erfolgreichen Gemeinwesen zum Glück gehören. Für wirklich glückskonstitutiv hält Aristoteles dagegen, ob jemand im Besitz der Tugenden ist. Anders als Platon kennt Aristoteles zwei Gruppen von Tugenden: ethische und dianoetische. Unter Ersteren sind erlernte Charaktervorzüge zu verstehen, mit denen wir unser Handeln in einem bestimmten Wirklichkeitsbereich in optimaler Weise und mit verlässlicher Konstanz steuern können. Wer etwa die Tugend der Tapferkeit besitzt, wird im Bereich des gefahrenbehafteten Handelns ein angemessenes Maß an Risikobereitschaft auf105 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Teleologische Ethiken

bringen. Er verhält sich dann so, dass er eine optimale Mitte zwischen übertriebenem Selbstschutz (Feigheit) und extremer Selbstgefährdung (Tollkühnheit) einhält. Die Lehre von der Charaktertugend als der Mitte (mesotês) hat also den Sinn, die Fähigkeit, welche den Tugendhaften (phronimos) auszeichnet, als die einer situationsgerechten angemessenen Handlungswahl zu charakterisieren (den Besitz der richtigen begleitenden Emotionen eingeschlossen). Solche ethischen Tugenden kennt Aristoteles in größerer Zahl als Platon; er beschreibt 13 verschiedene Tugenden, lässt seine Liste aber grundsätzlich offen. Dianoetische Tugenden sind erworbene intellektuelle Fähigkeiten einer Person, die sich in deren stabilem Besitz befinden. Aristoteles kennt acht von ihnen: Wissen (epistêmê), Weisheit (sophia), Intellekt (nous), Kunstfertigkeit (technê) und Klugheit (phronêsis); hinzukommen Wohlüberlegtheit (euboulia), Einsicht (synesis) und Erkenntnis (gnômê). Dass die oben genannten körperlichen und äußeren Güter glücksrelevant sind, liegt auf der Hand. Aber warum sind für Aristoteles auch die Tugenden von Bedeutung für die eudaimonia, ja sogar von entscheidender Wichtigkeit? Die Antwort darauf liefert er in seinem Argument von der spezifischen Funktion des Menschen (ergon tou anthrôpou). Nach Aristoteles existiert für den Menschen ein funktionales Optimum, das er dann erreicht, wenn er aktiv ist gemäß der vollkommenen Tugend im intellektuellen Seelenteil. Das gemeinte Optimum ist zu verstehen in Analogie zur funktionalen Bestheit eines Messers, welches vorzüglich schneidet. Ein Mensch in einem solchen Bestzustand hat die wichtigste seiner potentiellen Vorzüglichkeiten vollständig aktualisiert. Von hier aus ist es nur noch ein kurzer Weg zu der These, dass Menschen ihr volles Glück erreichen, wenn sie ein Leben der theoretischen Betrachtung (bios theôrêtikos) führen. Sie gleichen dann dem Gott – wenigstens in den Zeiten, in denen ihnen dieses theoretische Leben offensteht. Das Glücksmodell Epikurs beruht auf zwei Elementen: auf der Idee einer souveränen Weltorientierung und auf der einer reflektierten Genussfähigkeit. Beides soll man durch philosophische Einsicht und durch gezielte Übung erlangen können. Der Kern seiner Position liegt in der Ansicht, dass das Glück mit der Emp106 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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findung von Lust (hêdonê) identisch ist. Epikur denkt freilich nicht an jede Spielart von Vergnügen; vielmehr schenkt er einer Theorie der glückserzeugenden Kultivierung allein der richtigen Form von Lust seine Aufmerksamkeit. Um sein Glücksverständnis plausibel zu machen, muss man sich Epikurs Abwehr falscher Formen von Besorgnis verdeutlichen. Er hält besonders vier Typen von Sorgen wegen ihrer weitreichenden Konsequenzen für lustmindernd: (i) die Furcht vor Erscheinungen am Himmel (moderner ausgedrückt: die Furcht vor beunruhigenden Naturphänomenen); (ii) die Angst vor dem Tod, (iii) die Furcht vor einer Unstillbarkeit und Rastlosigkeit der eigenen Begierden und (iv) die Furcht vor maßlos großen Schmerzen. Er entwickelt zu ihrer Therapie eine Art von wissenschaftlicher Disziplin, die abschließende und verlässliche Erkenntnisse über die Stellung des Menschen in der Welt vermitteln soll; er bezeichnet sie als ›Kanonik‹. Diese wendet sich in aufklärerischer Absicht gegen das, was Epikur als ›Mythologie‹ bezeichnet, zudem gegen eine verfehlte Form von Physiologie (Naturlehre). Entgegen einer langen Tradition der Fehldeutung handelt es sich bei Epikur keineswegs um einen grobschlächtigen Hedonisten. Auch Epikur glaubt vielmehr, dass grenzenlos wachsende Begierden mit dem Begriff eines seelischen Gleichgewichts oder inneren Friedens unvereinbar wären. Epikur setzt daher seine Vorstellung von Genuss oder Lust von einem Lustbegriff der Begehrlichkeit ab, um so am Ideal der ataraxia festhalten zu können. Er tut dies, indem er behauptet, es gebe ein wohlbestimmtes Höchstmaß an Lust, nämlich die vollkommene Unlustfreiheit (aponia); sie ist ein maximaler Erfüllungszustand (plêrôma). Epikur meint, Lust bestehe nicht im Prozess der Reduzierung von Unlust, sondern in dessen Resultat. Die wirkliche Lust werde erst im Zustand nach dem Verschwinden von Unlust erreicht; Epikur bevorzugt die ›katastematische‹, die gleichförmig-ruhige, gegenüber der ›kinetischen‹, d. h. der veränderlichen Lust. Wenn eine bestimmte Lust das Maximum an Lustmöglichkeit darstellt, wäre es unvernünftig, ein höheres Maß an Annehmlichkeit erreichen zu wollen. Eben dieses Missverständnis, so Epikur, ist die Ursache maßloser Begierden. 107 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Für die hellenistische Stoa ist die These von der Einheit theoretischer und praktischer Vernunft kennzeichnend: Eine vollentwickelte menschliche Vernunft bedeutet zugleich einen vollständigen Tugendbesitz. Die Basis der nicht-dualistischen Konzeption vernünftiger Übereinstimmung liegt in Zenons Lehre, es gebe ein zugleich geistiges und materielles Prinzip, nämlich feinstoffliches Feuer oder Wärme (pneuma), das auch als ›keimhafte Vernunft‹ (spermatikos logos), als Schicksal (heimarmenê), Gott, Vorsehung (pronoia) oder Vernunft bezeichnet wird; dieses prägt und gestaltet ein passives materielles Prinzip. Für die Glückskonzeption der Stoiker sind wiederum die pointierten Sokratischen Ansichten maßgeblich. Zunächst soll die Tugend dazu ausreichen, das Glück zu erzeugen; weitere Güter sind dazu nicht erforderlich (Suffizienzthese: SVF III.30). Sodann vertreten die Stoiker die Auffassung, dass Tugend und eudaimonia identisch sind; zwischen ihnen bestehe lediglich eine begriffliche, keine sachliche Differenz (Identitätsthese: SVF III.39). Und schließlich nehmen die Stoiker die aristotelische Differenzierung ethischer und intellektueller Tugenden wieder zurück: Unter der ethischen Tugend sei nichts anderes als ›vollendete Vernunft‹ zu verstehen (Vernunftthese: SVF III.198). Äußere Güter sollen für das Glück keinerlei Rolle spielen, ebenso wenig Schmerzfreiheit, Gesundheit, Lust oder angenehme Gefühlszustände. Ein solches Glücksideal wirkt reichlich unrealistisch und nahezu unmenschlich. Schon Cicero lässt einen Gegner der Stoiker mit der Bemerkung auftreten, dass deren Bestimmung des höchsten Gutes nicht einmal für ein reines Geistwesen geeignet sei (De finibus IV. 27). Dennoch sollte man die stoische Glückskonzeption nicht einfach aus unserer gewöhnlichen Alltagsperspektive zurückzuweisen. Die Stoiker entwickeln ihre Auffassung vom Glück vor dem Hintergrund einer komplexen und reflektierten Theorie. Ebenso wie die platonische und die aristotelische Konzeption basiert das stoische Glücksverständnis auf einem Strebensmodell. Danach ist die eudaimonia das höchste menschliche Handlungsziel (telos), nämlich das, was um keiner anderen Sache willen erstrebt wird, während alles andere um seinetwillen gewählt wird (SVF III.2). Die ethische Tugend ist für die Stoiker eben dieses höchste und 108 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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zudem das einzige Gut (SVF I.190). Zwar müssen sie folgerichtig behaupten, es gebe nichts, das geeignet wäre, dieses einzige Gut zu erweitern oder zu verbessern. Genau genommen bestreiten sie aber nicht, dass bestimmte äußere sowie körperliche Vorzüge existieren; sie sagen lediglich, solche Vorzüge vergrößerten das höchste Gut nicht. Es gibt ›Vorziehenswertes‹ (proêgmenon); nur verblasst es im Vergleich zur Tugend. Konsequenterweise sind die Stoiker der Auffassung, dass dem, der die Tugend besitzt, alle anderen Güter fehlen können, ohne dass er eine Einbuße erleidet. Der Tugendhafte ist auch auf der Folterbank glücklich. Denn für die Stoiker handelt es sich bei solchen Faktoren wie Gesundheit, Körperkraft und Schönheit (körperliche Güter) oder Reichtum, Macht und Ansehen (äußere Güter) nicht um wirkliche Güter. Sie ordnen solche Größen, denen man gewöhnlich Wert zuschreibt, vielmehr in die Kategorie des Indifferenten oder Gleichgültigen (adiaphora) ein und gestehen ihnen lediglich zu, gegenüber Krankheit, Hässlichkeit, Armut und Abhängigkeit etwas ›Vorziehenswertes‹ zu sein. Ein wichtiges ethisches Theoriestück der Stoiker hängt mit dem Begriff der ›Zueignung‹ (oikeiôsis) zusammen. Es handelt sich um eine biologische, psychologische und moralphilosophische Konzeption, nach der die Tendenz zur Selbsterhaltung den primären natürlichen Impuls jedes Lebewesens bildet. Speziell beim Menschen schließt sich als zweite Stufe eine rationale Selbstaffirmation sowie eine vernünftige Akzeptanz aller anderen Menschen an. Der Ausdruck oikeiôsis ist eine Ableitung aus oikeios (eigen) und oikeioun (sich aneignen). Wörtlich bezeichnet er den Umstand, dass sich ein Lebewesen mit sich selbst prozessförmig bekannt macht und sich selbst in Besitz nimmt. Die oikeiôsis-Konzeption scheint (trotz aristotelischer Wurzeln) eine theoretische Innovation der älteren Stoa, besonders des Chrysipp, darzustellen. Die moralphilosophische Pointe der oikeiôsis-Konzeption besteht darin, dass die zur Rationalität gelangte Person ihre praktische Autonomie als zentralen Gegenstand des Interesses entdeckt. Solange diese nur im Dienst der körperlichen Selbsterhaltung stand, galt sie lediglich als instrumentelles Gut, während nun109 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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mehr deutlich wird, dass das Prinzip ihres angemessenen und unangemessenen Gebrauchs in ihr selbst liegen muss und dass sie selbst das Ziel der Selbsterhaltung darstellt. Es handelt sich bei ihr deswegen um ein intrinsisches Gut. Auf diese Weise kommt es zu einer Selbstbejahung zweiter Stufe; sie richtet sich auf jemandes praktische Autonomie, nicht auf seine körperliche Fortdauer. Die Vernunft übernimmt die Funktion eines dem Trieb übergeordneten Sachverständigen (technitês: SVF III.178). Der Betreffende erreicht damit den Status des Weisen; das Glück des Weisen besteht in der von ihm erreichten Kongruenz mit seiner natürlichen Ausstattung und der Welteinrichtung. Die stoische oikeiôsis-Konzeption ist aber keineswegs ausschließlich individualistisch zu verstehen. Vielmehr nehmen die Stoiker für Menschen einen naturalen Sozialimpuls (instinctus socialis) an, der sie in gestuften Sympathiegraden zuerst mit seiner Nachkommenschaft, dann mit seinen Verwandten, Freunden, Mitbürgern und seiner ethnischen Gruppe sowie schließlich mit der gesamten Menschheit verbinden soll (Kosmopolitismus: LS 57F–G). Kommt es im Lauf der biographischen Entwicklung zur Entdeckung der Vernunft, dann, so die älteren Stoiker, erweise sich diese Stufung von Sympathiegraden für die Mitmenschen als verfehlt. Während also das unvernünftige oder noch unzureichend vernünftige Lebewesen soziale Beziehungen um seiner Selbsterhaltung willen betreibt – man könnte von einem ich-bezogenen Altruismus sprechen – erfasst der vollständig vernünftige Mensch, dass jedermanns Selbsterhaltung aus Vernunftgründen zu bejahen ist. Daher wird der stoische Weise zum Kosmopoliten, der der Menschheit als Gemeinschaft aller Vernunftwesen einen Selbstzweckcharakter zuerkennt. Er privilegiert nicht länger bestimmte Sozialbeziehungen aus Gründen der Selbsterhaltung, sondern pflegt Freundschaften allein um ihrer selbst willen und wendet sich allen Menschen mit gleicher Anteilnahme zu. Ethiken, die die Begriffe Glück und Tugend ins Zentrum ihrer systematischen Überlegungen rücken, sind für uns Zeitgenossen des frühen 21. Jahrhunderts in erster Linie von historischem Interesse. Zwar gibt es auch gegenwärtig eine ausgedehnte Debatte 110 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Klassischer und moderner Eudämonismus

um die Fragen von Glück, gutem Leben und gelingender menschlicher Existenz. Auch die – von Elizabeth Anscombe angestoßene – neuere Diskussion um die Vorzüge einer Tugendethik ist bedeutend und verdient genaue Beachtung (dazu Kap. 7). Aber die aktuellen Rückgriffe auf Glück und Tugend unterscheiden sich doch darin prinzipiell von ihren historischen Vorläufern, dass sie diese beiden Konzepte nicht zu einem Modell vereinigen. Nach zeitgenössischer Auffassung wird Glück nicht primär durch Tugend erlangt, und Tugend ist nicht primär glücksfunktional zu interpretieren. Zudem haben sich die Bedeutungen der Ausdrücke Glück und Tugend jeweils so grundlegend gewandelt, dass man Mühe hat zu sehen, worin eine Kontinuität zwischen den historischen und den heute vertretenen Konzeptionen genau bestehen mag. Während in der Moralphilosophie der Vormoderne einer Ethik, die sich auf die Begriffe Glück und Tugend stützt, nahezu eine Monopolstellung zukam, verschwand dieses eudämonistische (d. h. auf der Glückskonzeption basierende) Modell seit dem 18. Jahrhundert so gut wie vollständig. Die Frage, wie ein Ethikkonzept, das zwischen Sokrates und der frühen Neuzeit das Feld beherrscht hat, gänzlich ins Abseits geraten konnte, ist nur schwer beantwortbar. Klar scheint zumindest, dass es vor allem durch Ansätze aus der Vertragstheorie, der Pflichtenethik, dem Utilitarismus und dem Kontextualismus ersetzt wurde, die wegen ihrer schwächeren theoretischen Grundannahmen oder aufgrund ihrer veränderten begrifflichen Grundlagen (wie Wille, Pflicht oder Nutzen) modernitätsadäquater wirkten (zum Prozess der Entstehung der modernen Formen von Moralphilosophie vgl. Schneewind 1998). Eine Rückkehr zum Glücksbegriff in der Moralphilosophie der letzten Jahrzehnte ergab sich aus dem verbreiteten Bedürfnis nach einer Theorie des guten und gelingenden Lebens. Mit D. Parfit (1984: 493) kann man dabei zwischen drei Arten von Ansätzen unterscheiden: (a) hedonistischen Modellen, (b) Präferenz- oder Wunscherfüllungstheorien und (c) Objektive-Listen-Modellen. Eine ausgearbeitete hedonistische Theorie liefert etwa Roger Crisp in Reason and the Good (2006), eine Konzeption der rationalen Präferenzerfüllung findet sich bei Stephen Darwall in 111 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Welfare and Rational Care (2002) und eine Objektive-ListenKonzeption in Martha Nussbaums Women and Human Development (2000). Viele dieser Ansätze griffen auf das antike Paradigma zurück (etwa Kraut 2007, Annas 2011 oder Nussbaum 2011) oder versuchten es mit der empirischen Glückspsychologie auszusöhnen (Schmid 1998) oder mit dem deontologischen Paradigma zu verbinden (so etwa Seel 1995). Andere entwickelten Modelle, die die antiken Glücks- und Tugendauffassungen explizit ablehnen (Krämer 1992). Von der Glücksfrage begrifflich zu unterscheiden ist die Frage nach dem Sinn des Lebens. Während unter der Glücksfrage das Problem des guten und gelingenden Lebens oder auch des ›Wohlergehens‹ (well-being) zu verstehen ist, bezeichnet die Sinnfrage das Problem, was einem menschlichen Leben Bedeutung verleiht. Die Sinnfrage bildet einerseits ein besonders fundamentales Problem der Philosophie, scheint aber andererseits zugleich irgendwie unbeantwortbar, vielleicht sogar unsinnig und in jedem Fall hoffnungslos spekulativ zu sein. Dies ist der Grund, weshalb das Problem unter den Verdacht ›schlechter Metaphysik‹ (bad metaphysics) gestellt wurde und im 20. Jahrhundert (besonders im Kontext des Logischen Positivismus und der analytischen Philosophie) weitgehend unbehandelt blieb. In den letzten Jahren hat sich hingegen eine intensive Diskussion mit einer erheblichen Anzahl von neuen Publikationen zum Thema ergeben: In dem Literaturbericht »Recent Work on the Meaning of Life« (Metz 2002) werden in der Bibliographie über 100 Einträge genannt. Spätestens seit der Veröffentlichung der Monographien von Susan Wolf Meaning in Life and Why it Matters (2010) und Thaddeus Metz Meaning in Life (2013) ist das Problem zurück auf der Agenda der relevanten moralphilosophischen Fragen. Auch im deutschen Sprachraum hat die Frage neue Aufmerksamkeit gefunden, wozu besonders die umfassende Arbeit Der Sinn der Sinnfrage von Christian Thies (2008) beigetragen hat. Wolfs Diktum »Academic philosophers do not talk much about the meaning in life« (2010: 7) kann also mittlerweile bereits als überholt gelten. Doch was genau will man wissen, wenn man die Frage nach dem Sinn des Lebens aufwirft? Eine fundamentale Unterschei112 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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dung ist hier die zwischen der Frage nach dem Sinn des Lebens (SdL-Frage) und der Frage nach dem Sinn im Leben (SiL-Frage). Die Wiederkehr der Sinnfrage in der aktuellen moralphilosophischen Debatte betrifft in erster Linie die SiL-Frage; allerdings ist auch die SdL-Frage keineswegs obsolet. Die beiden Perspektiven unterscheiden sich ganz erheblich voneinander. Die SdL-Frage richtet eher einen allgemeinen Blick, der zudem von außen kommt, auf das menschliche Leben und betrachtet dieses tendenziell sub specie aeternatitis (wie Thomas Nagel 1986 dies ausdrückte). Typische Antworten auf die SdL-Frage stammen daher von den Religionen und aus der metaphysischen Tradition der Philosophie; dabei werden dem Menschen ein bestimmter Platz im Universum oder eine Funktion im kosmischen Geschichtsverlauf zugeschrieben. Hingegen werden wir mit der SiL-Frage immer dann konfrontiert, wenn wir über unser eigenes oder ein fremdes individuelles Leben nachdenken, z. B. bei der Lektüre einer Autobiographie, und wenn wir herauszufinden versuchen, worin jemand den Sinn seines oder ihres Lebens findet oder fand. Der Kontrast zwischen den Redeweisen »ein sinnerfülltes Leben führen« und »unter der Sinnlosigkeit seines Lebens« leiden erhält sein Gewicht primär vor dem Hintergrund der SiL-Frage. Entsprechend sind radikal subjektive Positionen, denen zufolge jeder Mensch einen Sinn für sich ›bestimmen‹ oder ›entdecken‹ kann (oder soll) und nach denen der Lebenssinn stets ein ganz persönlicher ist, allein auf der Basis der SiL-Frage angemessen. Auf Ansätze in der Gegenwartsphilosophie, die sich selbst als ›aristotelisch‹ bezeichnen, ohne die Idee einer Handlungsteleologie zu teilen, werden wir noch zurückkommen (Kap. 7.3).

3.2 Utilitarismus Der Utilitarismus ist sicherlich das bekannteste und auf den ersten Blick attraktivste Modell einer teleologischen Ethik. In der angelsächsischen Tradition bildete er für lange Zeit die vorherrschende Form von Moralphilosophie und stellt noch heute den wichtigsten Ausgangspunkt dar – eine Funktion, die in der kontinentalen (und 113 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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speziell der deutschen) Tradition meist von Kants Ansatz erfüllt wird. Wie weit man Vorformen identifizieren kann, etwa den ›theologischen Utilitarismus‹ von William Paley im 18. Jahrhundert, ist eine offene Frage der Forschung. Der klassische Utilitarismus ist jedenfalls eine Erfindung des späten 18. sowie des 19. Jahrhunderts; er ist mit den drei Autorennamen Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Henry Sidgwick verbunden. Im 20. Jahrhundert waren es dann R. B. Brandt, R. M. Hare und J. J. C. Smart, die den Utilitarismus – zumindest aspektweise und in modifizierter Form – aufgegriffen und fortgeführt haben. Gegenwärtig werden erneuerte Varianten des Utilitarismus etwa von Derek Parfit und von Peter Singer verteidigt. Vertreter des Utilitarismus im deutschen Sprachraum sind etwa Dieter Birnbacher, Jean-Claude Wolf oder Bernward Gesang. Als Begründer des Utilitarismus kann Jeremy Bentham gelten. Der englische Moralphilosoph, Ökonom und Politiker hat diesen besonders in seiner Schrift Eine Einführung in die Prinzipien von Moral und Gesetzgebung (An Introduction to the Principles of Morals and Legislation. 1789) entwickelt. Vier hauptsächliche Überlegungen charakterisieren das Modell Benthams: (i) Konsequenzenprinzip. Nach Benthams Auffassung ist dasjenige, woran wir unsere moralische Bewertung einer Handlung festmachen sollten, der Aspekt der Folgen oder Ergebnisse einer Handlung. Schädigt eine Handlung eine fremde Person (indem jemand dieser z. B. eine Verletzung zufügt), so ist diese Handlung genau dadurch moralisch schlecht, dass sie dem Betroffenen einen Nachteil zumutet – und nicht etwa aufgrund der boshaften Intention des Täter oder aufgrund seines Verstoßes gegen eine allgemeine Regel. Nützt eine Handlung einer fremden Person (wie wenn jemand einem Hungernden etwas zu essen gibt), dann ist sie insofern moralisch gut, als sie ein positives Resultat hervorruft – und nicht aufgrund der moralisch richtigen Haltung des Akteurs bzw. seiner Regeleinhaltung. Moralisches Gut- und Schlechtsein bemisst sich ausschließlich an den Folgen einer Handlung. (ii) Nutzenprinzip. Der Maßstab für die Angemessenheit von Handlungsfolgen ist für Bentham der Nutzen (utility) für alle von 114 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Utilitarismus

einer Handlung betroffenen Personen. Der Begriff des ›Nutzens‹ ist bei Bentham als Vorteil oder Zugewinn (benefit) im quantitativen Sinn zu verstehen: Ähnlich wie bei einer Unternehmensbilanz meint er die Summe aller positiven Effekte meiner Handlung im Hinblick auf die Handlungsbetroffenen abzüglich aller negativen Effekte auf sie. Versorgt eine Zahnärztin beispielsweise ihre Patientin professionell, so ist ihre Handlung gut, insofern sie bei ihr längerfristige Zahngesundheit (einen wichtigen Faktor des individuellen Wohlbefindens) herstellt, auch wenn die Schmerzen der kurzfristigen Behandlung dabei negativ ins Gewicht fallen. Käme es dagegen zu einer unsachgemäßen Behandlung, die eher schmerzhaft als wirkungsvoll ausfällt, so wäre ihre Bilanz negativ, und folglich wäre die gesamte Handlung (das zahnärztliche Vorgehen im gegebenen Fall) als schlecht zu bewerten. (Eine Frage ist hier allerdings, ob Bentham Lust oder Freude tatsächlich kardinal quantifizieren will – als ob man Lustintensitäten auf einer Messskala ablesen könnte – oder lediglich ordinal, d. h. dass man etwa drei verschiedene Lustphänomene in eine Rangordnung von Wünschbarkeit bringen könnte.) (iii) Hedonismus-Prinzip. Der Gradmesser für den Nutzen einer Handlung wiederum ist das ›Glück‹ der Handlungsbetroffenen, worunter ihre Lust, vermindert um ihre Unlust, zu verstehen sein soll. Bentham ist ein klassischer Hedonist, der unter ›Lust‹ oder ›Freude‹ (pleasure) einen positiven mentalen Zustand versteht; ebenso bezeichnet ›Schmerz‹ (pain) ganz allgemein den negativen mentalen Zustand eines Individuums. Für positive mentale Zustände gibt es recht unterschiedliche Formen und Bezeichnungen (außer von Lust oder Freude würden wir z. B. von Wohlsein, Wohlbefinden, Zufriedenheit, Vergnügen oder Behaglichkeit sprechen); ebenso umfasst der Begriff negativer mentaler Zustände recht verschiedene Formen von Unlust (neben physischem Schmerz lassen sich Unwohlsein, Trauer, Depression, Unzufriedenheit oder Missvergnügen anführen). Aber die grundsätzliche Bentham’sche Annahme ist, dass pleasure und pain weitgefasst zu verstehen sind. Wichtig ist nun seine implizite Unterstellung, wonach man die mentalen Zustände von Personen (wenigstens prinzipiell) messen oder (mehr oder minder) objektiv 115 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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gewichten kann. Im Fall der zahnärztlichen Behandlung wirkt dies in der Tat einleuchtend: Ein kunstgerechtes zahnmedizinisches Vorgehen unter Einsatz z. B. von Schmerzmitteln dürfte relativ wenig Unlust bereiten und zu erheblicher langfristiger Lust – etwa in Form der Vermeidung quälender Zahnschmerzen – führen. (iv) Substitutionsprinzip. Im Blick auf die utilitaristische Bewertung einer Handlung vermag nach Bentham der größere Nutzen einer Person A den kleineren Nachteil einer Person B auszugleichen. Hierbei zähle ich selbst qua Akteur keineswegs in privilegierter Weise, sondern einfach als einer von allen Handlungsbetroffenen; alle sind gleichermaßen in den hedonistischen Kalkül einzubeziehen. Freude und Leid der einen lässt sich mit Freude und Leid der anderen gleichsam verrechnen. Benthams Argumentation zugunsten seines Hedonismus ist naturalistisch begründet, wie die folgende Stelle belegt: »Die Natur hat die Menschheit unter die Herrschaft zweier souveräner Gebieter – Unlust und Lust – gestellt. Es ist an ihnen aufzuzeigen, was wir tun sollen, wie auch zu bestimmen, was wir tun werden. Sowohl der Maßstab für Richtig und Falsch als auch die Kette der Ursachen und Wirkungen sind an ihrem Thron festgemacht.«

In dieser berühmten Passage vertritt Bentham eine Position, die eine Brücke zwischen deskriptivem und normativem Naturalismus schlägt: Er meint, wir stünden faktisch, von Natur aus, unter der handlungsleitenden Macht von Lust und Unlust; und wir sollen aus diesem natürlichen Faktum auch unseren Maßstab für Richtig und Falsch gewinnen. Bentham zeigt sich bemüht, eine präzise Bemessungsgrundlage für ›Glück‹ zu formulieren; zur Operationalisierung seines ›hedonistischen Kalküls‹ führt er sechs Parameter an: Man müsse Lust oder Schmerz aufgrund von Intensität (intensity) und Dauer (duration) beurteilen, nach dem Gewissheitsgrad (certainty bzw. incertainty) des Eintreten von Befriedigung bzw. Frustration, nach der zeitlichen Nähe oder Ferne ihres Eintretens (propinquity bzw. remoteness), nach ihrer ›Fruchtbarkeit‹ (fecundity: ›Zieht eine Freude weitere Befriedi116 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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gungen nach sich oder nicht?‹) und nach ihrer Reinheit (purity) (Introduction 1789/1970: 38–41). Hinzu kommt Benthams Kriterium des Ausmaßes, der Verbreitung oder des Wirkungsradius (extent) von Lust, d. h. die Anzahl der Betroffenen. Folgerichtig bezeichnet er als den »einzig und allein gerechten und einzig und allein zu rechtfertigenden Endzweck des Staates: Das größte Glück der größten Zahl.« Bentham sprach mit Blick auf diese Parameter von einem ›hedonischen Kalkül‹ (hedonic calculus). Der moralphilosophische Ansatz Benthams scheint unsere geteilte moralische Intuition recht gut abzubilden: Zum einen glauben wir, dass die Handlungsfolgen bei der moralischen Bewertung von Verhaltensweisen stark ins Gewicht fallen; hierfür scheinen Lust und Unlust (in weitem Sinn verstanden) besonders relevante Parameter zu sein. Beispielsweise dürfte der Schmerz, den das Opfer eines Gewaltverbrechens empfindet, den ›Nutzen‹ des Täters so stark überwiegen, dass sich in der negativen Bilanz unsere moralische Ablehnung von Gewalttaten angemessen spiegelt. Zum anderen tendieren wir dazu, eine unparteiliche, neutrale Betrachtungsweise gutzuheißen, bei der man die Folgen meiner Handlung gleich bewertet, egal wen diese treffen: den Akteur selbst oder andere Personen. Der moralische Aspekt einer Handlung scheint ja geradezu spezifisch darin zu bestehen, dass eine fremde Person begünstigt oder geschädigt wird; ein Akteur A muss demnach seine Interessenperspektive immer dann relativieren, wenn der für die Betroffenen B, C und D drohende Schaden überwiegt. Auch diesen Punkt kann das hedonistische Konsequenzenprinzip recht gut widerspiegeln. Bentham selbst glaubte, dass seine Überlegungen nicht nur in der Individualethik Anwendung finden sollten, sondern sich auch sozialpolitisch realisieren ließen. Tatsächlich hat sich sein Utilitarismus auf die Ideen von Sozialstaatlichkeit (›Wohlfahrtsökonomie‹) der letzten 200 Jahre spürbar ausgewirkt. Bentham selbst sah sich bereits als einen der großen Wohltäter der Menschheitsgeschichte; sein Selbstbewusstsein spiegelt sich darin, dass er verfügte, nach seinem Tod mumifiziert und öffentlich ausgestellt zu werden (bis heute zu besichtigen in der Lobby des University College London). 117 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Zweifellos erfüllt Benthams Modell damit einige unserer zentralen moralischen Intuitionen. Auf der anderen Seite stößt man sich an mehreren Aspekten seines Utilitarismus. Wahrscheinlich das wichtigste Bedenken, das man gegen Bentham vorgebracht hat, wurde bereits von den Zeitgenossen formuliert: Lust oder Freude und Schmerz oder Unlust als einziges intrinsisches Gut bzw. Übel, d. h. letztlich als lebens- und ethikbestimmende Parameter anzusehen, scheint der Vielfalt menschlicher Motive im Feld der Moral nicht gerecht zu werden, etwa unseren Idealen von Wissen, Wahrheit, Freundschaft, Fürsorge, Liebe und Gerechtigkeit; es scheint ein allzu grobes Menschenbild des selbstbezogenen Lustgewinns vorauszusetzen. Hinzu kommt, dass Bentham selbst moralisch zweifelhafte Freuden – etwa das boshafte Vergnügen eines Gewalttäters am Leiden seiner Opfer – prima facie als intrinsisch wertvoll ansehen muss. Auch wirkt es von vornherein anstößig, die ›Unlust‹ des Verbrechensopfers überhaupt mit der ›Freude‹ des Kriminellen zu verrechnen. Der bedeutende britische Philosoph, Ökonom und Politiker John Stuart Mill versuchte auf diese verbreitete Kritik am Utilitarismus zu reagieren, indem er den undifferenzierten Begriff der Lust nach verschiedenen Lustformen hin auffächerte: Dabei unterschied er höhere von niederen Lüsten (›qualitativer Hedonismus‹). Mill war der Sohn des Historikers James Mill, eines entschiedenen Anhänger Benthams, der ihn als Kind zum idealtypischen Utilitaristen erziehen wollte. Das rigide Erziehungsprogramm seines Vaters belastete Mill lebenslang. Trotzdem verteidigte Mill den Ansatz Benthams, wenn auch mit deutlichen Modifikationen. In seiner moralphilosophischen Hauptschrift Utilitarismus (Utilitarianism. 1861) findet sich die folgende Schlüsselpassage (dt. nach D. Birnbacher, Stuttgart 1985: 212): »Es ist unbestreitbar, dass ein Wesen, dessen Fähigkeiten zu Genuss und Freude niedrig sind, die größte Chance hat, sie voll befriedigt zu bekommen; während ein hochbegabtes Wesen immer das Gefühl haben wird, dass alles Glück, das es erwarten kann, so wie die Welt verfasst ist, unvollkommen ist. Aber es kann lernen, seine Unvollkommenheiten zu ertragen, wenn sie denn überhaupt erträglich

118 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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sind; und sie werden es nicht das Wesen beneiden machen, das nun in der Tat um die Unvollkommenheiten nicht weiß, einfach deshalb, weil es keinen Sinn hat für all das Gute, das erst diese Unvollkommenheiten als solche qualifiziert (und in den Blick treten lässt). Es ist besser ein unzufriedener Mensch zu sein als ein zufriedenes Schwein; besser ein unzufriedener Sokrates als ein zufriedener Dummkopf. Und wenn der Tor oder das Schwein anderer Meinung sind, dann deshalb, weil sie nur ihre Seite der Angelegenheit kennen. Die andere Partei kennt beide Seiten.«

Mill verfügt gegenüber Bentham über einen verfeinerten Hedonismus. Dieser gestattet es, dass man die ›höheren‹ Freuden eines Sokrates den handgreiflichen ›niederen‹ Genüssen eines ›Dummkopfs‹ (oder ›Schweins‹) vorzieht. Für Mill entspricht dies unserer reflektierten Selbsterfahrung: Wir ziehen unter ansonsten gleichen Umständen subtilere Genüsse (etwa solche der Kunst, Literatur, Religion, Wissenschaft oder Philosophie) den vulgäreren Vergnügungen vor [wobei man allerdings als heutige(r) Philosophiedozent(in) die Erfahrung macht, dass man diesen nach Viktorianischem Zeitalter klingenden Punkt nur schwer gegen den aktuellen Zeitgeist verteidigen kann]. Noch Bentham wollte hingegen Freuden infantiler Art gleichstellen, als er schrieb: »Prejudice apart, the game of push-pin is of equal value with the arts and sciences of music and poetry« (The Rationale of Reward, 1825: 206). Mills Kriterium für die Vorzugswürdigkeit höherer Freuden besteht jedenfalls darin, dass jeder, der beide Lustarten kennt, unmittelbar den Qualitätsunterschied einsieht und die höheren für vorziehenswert hält. Angenommen nun, Mills Punkt wäre zu konzedieren. Dann bliebe sein Modell grundsätzlich gütermonistisch. Lust ist auch dann das einzige intrinsische Gut, wenn damit eher die Freude an Kammermusik als der Spaß an Computerspielen gemeint ist. Nach Mill ist das hedonistisch verstandene Glück das einzige, was als abschließender Zweck wünschenswert ist; nur die Lustempfindung und die Schmerzvermeidung sind Zwecke, die auf keine weiteren Zwecke hingeordnet sind, sondern auf die jede andere Präferenz als ein Mittel orientiert sein soll. Zwar gesteht Mill 119 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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durchaus zu, Zwecke würden keineswegs immer deswegen verfolgt, weil sie Annehmlichkeiten versprächen; so kann er etwa den Wert der Tugenden und sogar den übergeordneten Wert der Sicherheit zugestehen. Aber dennoch bleibt Mills Modell insofern monistisch, als er feststellt, dass die Verfolgung eines Zwecks wie z. B. der Tugend in Wahrheit stets darauf beruhe, dass jemand dabei ein Bewusstseinserlebnis von Lust oder der Vermeidung von Unlust habe (Utilitarianism, Kap. 4). Generell weist der Utilitarismus die Tendenz auf, unsere intuitiv geteilte Wertschätzung für nicht-hedonistische Güter als hedonistisch nützliche Fiktionen einzuschätzen; intrinsisch gut soll nur die Lust sein. Mill meint sogar, einen ›Beweis‹ für die Werttheorie des Utilitarismus zu besitzen. Seine Überlegung lautet: Ebenso wie sich die Existenz von etwas Sichtbarem (visible) nur dadurch beweisen lasse, dass Menschen es tatsächlich sähen, liege der einzige Beweis für die Vorzugswürdigkeit von etwas Wünschenswertem (desirable) darin, dass Individuen es wirklich wünschten (Utilitarianism Kap. IV § 3). Folgt man Mill, so zeigt das Argument, dass nur Lust und die Abwesenheit von Schmerz intrinsisch gut sind. Das Argument scheint allerdings ziemlich fragwürdig: Der Ausdruck visible bezeichnet im Unterschied zu desirable nicht etwas, das zu sehen sich lohnt oder das zu sehen angemessen, sinnvoll oder rational ist; visible meint einfach das, was für die optische Wahrnehmung als Gegenstand in Frage kommt, desirable hingegen das, was Gegenstand eines gebilligten Wünschens ist. Henry Sidgwick war gleichfalls ein englischer Moralphilosoph und überdies Ökonom; sein Hauptwerk ist das Buch Methoden der Ethik (Methods of Ethics. 1874). Zudem beachtenswert ist seine philosophiehistorische Arbeit Outlines of the History of Ethics (1886). In den Methoden unterscheidet Sidgwick zwischen drei alltäglichen Weisen, moralische Urteile zu fällen: Erstens greifen wir auf unmittelbare Einschätzungen zurück; wir meinen dann gleichsam zu ›sehen‹, welche Urteile oder Prinzipien richtig oder falsch sind. Dieses Vorgehen bezeichnet Sidgwick als ›Intuitionismus‹; in der Philosophiegeschichte war es etwa Thomas Reid, der im Sinn Sidgwicks einen intuitionistischen Ansatz verteidigte. Zweitens folgen wir in unseren moralischen Urteilen dem Grund120 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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satz, dass wir stets zu unserem eigenen Vorteil agieren; diese Methode bezeichnet er als ›Egoismus‹, wie man ihn in reflektierter Form von Thomas Hobbes her kennt. Drittens verwenden wir das Prinzip, dass wir mit unserem Handeln möglichst viel Nutzen für alle von unserem Tun Betroffenen hervorzubringen versuchen; diesen Ansatz nennt Sidgwick ›Utilitarismus‹. Keine der drei Methoden ist für ihn unmittelbar überzeugend oder selbstevident. Was aber für den Utilitarismus spricht, ist laut Sidgwick, dass er solche Axiome oder Metaprinzipien befolgt wie: ›Wenn etwas richtig ist in einem bestimmten Fall, muss es auch in allen ähnlich gelagerten Fällen richtig sein‹, oder: ›Wir sollen auf Gutes im Allgemeinen gerichtet sein, nicht nur in Einzelfällen‹. Sidgwick meint, man könne den Intuitionismus mit dem Utilitarismus versöhnen (so dass sich zwei unserer Alltagsmethoden miteinander verknüpfen ließen); der Egoismus dagegen erweist sich als unvereinbar mit dem Utilitarismus, womit sich eine prinzipielle Spannung in unserer geläufigen Handlungsrationalität auftut. George Edward Moore hat den Hedonismus als Bestandteil des Utilitarismus überhaupt kritisiert und einen ›idealen Utilitarismus‹ vorgeschlagen, der das Konsequenzenprinzip mit einer Mehrzahl von intrinsischen Gütern wie z. B. ›Schönheit‹ in Verbindung bringt. Intrinsisches Gutsein heißt bei Moore, dass einem Objekt ein Wert unabhängig von seiner Wirkung – etwa auf den Rezipienten der Schönheit – inhäriert. Er schlägt in den Principia Ethica dafür ein Gedankenexperiment vor, wonach eine aus lauter schönen Dingen bestehende Welt von uns auch dann als wertvoller beurteilt werden würde als eine Welt hässlicher Objekte, wenn kein Mensch die Schönheit wahrnehmen würde. Umgekehrt sei Lust gerade kein intrinsisches Gut, weil darin z. B. auch sadistische Lüste eingeschlossen wären. In einer berühmt gewordenen Darstellung des Utilitarismus hat R. B. Brandt zwischen Akt- oder Handlungsutilitarismus (act utilitarianism) und Regelutilitarismus (rule utilitarianism) unterschieden (1959, Kap. 15). Es ist eine philosophiehistorisch interessante Frage, auf welche Seite eigentlich die beiden Klassiker Bentham und Mill gehören; aber vielleicht entging ihnen einfach die Brisanz dieser Alternativoptionen. Der Ersteren gemäß muss sich 121 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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unser moralisches Urteil auf Einzelhandlungen richten, der Letzteren zufolge auf Handlungsregeln. Akt-Utilitaristen betonen, dass, um ein moralisch angemessenes Vorgehen sicherzustellen, jede Einzelhandlung auf ihre Konsequenzen hin untersucht werden müsse; denn würde man stattdessen einer Regel folgen, so wäre diese auch in Fällen einzuhalten, in denen sie eine ungünstige Lust-Unlust-Bilanz aufwiese. Befolgt jemand z. B. ein striktes Lügenverbot, so müsste sich der Betreffende auch unter Bedingungen, in denen eine Not- oder Rettungslüge attraktiv scheint, an die Verbotsregel halten. Die beste Bilanz, so die Befürworter des Akt-Utilitarismus, sei also nur garantiert, wenn jede Handlung einzeln auf ihre Folgen hin bewertet werde. Hinzu kommt das Argument aus den Dilemma-Fällen: Gerät ein Akteur beispielsweise in eine Situation, in der es nur ein Medikament für zwei Patienten gibt, so kann er keine generelle Regel anwenden, sondern muss konkrete Fakten und singuläre Gegebenheiten in Rechnung stellen, etwa: Wer hat größere Schmerzen, bessere Überlebenschancen oder eine höhere allgemeine Lebenserwartung? Solche Fragen sind aber stets auf Einzelfälle bezogen. Gegen den Akt-Utilitarismus werden meist folgende drei Einwände vorgebracht: (i) Gemäß dem Einwand aus den falschen Antworten liefert uns der Akt-Utilitarismus zahlreiche moralisch anstößige Bewertungen. Um dies an einem (leicht modifizierten) Beispiel von Thomas Pogge zu illustrieren: Angenommen, wir wollten die Zahl der Verkehrstoten durch betrunkene Autofahrer radikal absenken; angenommen weiter, es handelte sich um 2000 Fälle pro Jahr. Sollen wir dann zu einer (akt-utilitaristisch offenbar sinnvollen) Methode greifen, wie man sie in der römischen Armee bei Fällen von ›Feigheit vor dem Feind‹ befolgte, nämlich zum sogenannten ›Dezimieren‹? Würde nämlich in einer ›Hinrichtungslotterie‹ per Los jeder zehnte betrunkene Autofahrer zur Tötung ausgewählt werden, also 200 Personen (wie dies im römischen Kriegswesen der Fall war), so wäre die Abschreckungswirkung vermutlich so nachhaltig, dass man in der Bilanz zahlreiche Menschenleben retten könnte. Wenn sich beispielsweise im Folgejahr nur noch 1000 solche Fälle ereignen würden, hätte man – bei 122 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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200 Hinrichtungen betrunkener Autofahrer – per Saldo 800 Menschenleben gerettet. Moralisch ist dieser Idee dennoch hochgradig kontraintuitiv: Offenbar wollen wir gar nicht, dass das Justizsystem um jeden Preis zum Instrument der Herstellung der günstigsten sozialen Nutzensumme gemacht wird, sondern nur, wenn die Justiz dabei in moralisch verantwortbarer Weise vorgeht. (ii) Gemäß dem Einwand aus der Erosion der Moralität erzeugt der Akt-Utilitarismus das Problem, dass Einzelhandlungen – nehmen wir das Einhalten von Versprechen oder das Tötungsverbot – immer nur dann geboten wären, wenn sich dies mit der dabei entstehenden Lustbilanz decken würde, nicht aber grundsätzlich. Angenommen nun, wir könnten nicht mehr sicher sein, ob unsere Ärztin eine konstante Heilungsabsicht verfolgt, weil wir erfahren, sie sei zur Akt-Utilitaristin konvertiert; dann müssten wir vielleicht damit rechnen, dass sie uns tötet, um so Spendermaterial für fünf andere Patienten zu gewinnen. Dann aber stünde die allgemeine gesellschaftliche Moralerwartung in Frage, und es käme zu einer dramatischen Erosion des für das Handeln wichtigen sozialen Vertrauens. Um dies auszuschließen, muss man offenbar an der pflichtethischen Intuition festhalten, dass das Töten von Patienten für Ärzte immer und ausnahmslos unerlaubt ist (auch wenn ein Tötungsakt im Einzelfall eine günstige Folgenbilanz haben mag). (Erwähnenswert ist hier allerdings ein Gedankenexperiment von J. J. C. Smart: Gesetzt den Fall, jemand könnte einen anderen aus einer lebensbedrohlichen Situation retten – müsste er dies dann auch tun, wenn wir das Jahr 1938 schrieben und die bedrohte Person Hitler wäre? Würde man Hitler nicht retten, dann, so Smarts Gedanke, blieben jene Millionen von Menschen am Leben, die seinetwegen zwischen 1939 und 1945 sterben mussten. Die Fragestellung scheint allerdings problematisch, weil sie ein für das Jahr 1938 unverfügbares Wissen unterstellt. Aus der faktischen Perspektive von 1938 scheint es zumindest weniger eindeutig, ob eine unterlassene Hilfeleistung – oder auch ein Tyrannenmord wie im Fall des Attentatsversuchs von Georg Elser – moralisch richtig gewesen wäre.) (iii) Gemäß dem Einwand aus der moralischen Überforderung scheint der Akt-Utilitarismus unsere übliche Moralintuition 123 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Teleologische Ethiken

überzustrapazieren: Muss jemand beispielsweise die € 3000,–, die er momentan auf seinem Konto hat, für die örtliche Obdachlosenhilfe spenden, statt sie für eine amüsante Urlaubsreise auszugeben? Dies scheint geboten, falls die erste Option eine spürbar günstigere Nutzenerwartung hergeben würde – was ja durchaus wahrscheinlich ist. Dennoch glauben wir, hier gehe der Akt-Utilitarismus mit seinen Moralforderungen zu weit; er scheint den Altruismus gewöhnlicher Akteure zu überfordern. Üblicherweise halten wir eine maßvolle Selbstprivilegierung und die Begünstigung der uns Nahestehenden für moralisch legitim, wenn nicht gar für geboten. Das Alternativmodell zum Akt- oder Handlungsutilitarismus ist der Regelutilitarismus. Er nimmt die Tatsache ernst, dass sich nicht allein Einzelhandlungen nach ihren Nutzeneffekten evaluieren lassen, sondern auch vieles andere: Charaktere und persönliche Einstellungen, Gesetze und politische Systeme, Wirtschaftsordnungen und soziale Praktiken, gesellschaftliche Institutionen und Traditionen – oder eben moralische Regeln. Mehr noch, nach diesem Modell bilden Regeln sogar das Zentrum der utilitaristischen Ethik. Dies wirkt zunächst wie eine Preisgabe der Kernidee des Utilitarismus und wie eine übergroße Konzession an deontologische Ethiken. Aber wie der Einwand aus der Erosion der Moralität soeben zeigte, ist die Gefahr groß, dass ohne Regeln das gegenseitige Vertrauen unter den Akteuren einer Gemeinschaft schwindet. Regeln als Stabilisatoren sozialer Verhaltenserwartungen aufzufassen, ist aber durchaus eine utilitaristische Perspektive: Regelorientierung erzeugt demnach eine günstigere Nutzenbilanz als Einzelfallorientierung. Deontologische Ethiken sind für Regelutilitaristen zwar in ihrer Begründung (und oft auch in ihrem Inhalt) misslungen; aber die regelhafte Gebotsform scheint ihnen gleichwohl angemessen. Zunächst einmal spricht für einen Regelutilitarismus, dass er die oben angeführten Schwierigkeiten des Handlungsutilitarismus vermeiden kann. Er rät nicht zu moralisch vergleichbar kontraintuitiven Verhaltensweisen. Und indem er das Verhalten von Akteuren stabil anleitet, macht er deren Verhalten vorsehbarerweise gut und führt daher nicht zu einem Vertrauensverlust unter 124 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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den Akteuren einer Gemeinschaft. Andererseits sieht man nicht wirklich, wie er das Überforderungsproblem bewältigen könnte. Und er hat das Problem, dass er Regeln nicht um ihretwillen gutheißt, sondern allein um ihrer günstigen Folgen willen. Wer aber einsieht, dass ihm Regelbefolgung nur auferlegt ist, weil Regeln – sofern allgemein befolgt – nützlich sind, wird sich leicht einmal von der strikten Regelbefolgung ausnehmen. Gerade Utilitaristen werden geneigt sein, einen ›Fetischismus der Regeln‹ zu vermeiden und diese als bloße Daumenregeln oder Prima faciePflichten anzusehen. Derek Parfits Version des Utilitarismus trägt die Bezeichnung ›Prioritarismus‹. Sie ergibt sich aus Überlegungen zu der Frage, was eigentlich schlecht an Ungleichheiten ist. Ungleichheiten sind nach Parfit nicht in jedem Fall abzulehnen. Wenn es beispielsweise um die natürliche Verteilung von Fähigkeiten physischer oder intellektueller Art geht, wäre es für ihn nicht einzusehen, weshalb man um der Herstellung von Egalität willen eine ›Angleichung nach unten‹ vornehmen sollte. Das aber scheint der traditionelle teleologische Utilitarismus vorzuschlagen. Für den Prioritarismus ist demgegenüber derjenige Zuwachs an Wohlergehen besonders wertvoll, der das Wohlergehensniveau von Schlechtergestellten anhebt – weswegen man keine Angleichung nach unten vornehmen müsse. Egalität bleibt für Parfit ein normatives Ziel, wird aber nicht unbedingt auf Kosten der Bessergestellten verfolgt (dazu Dufner 2017). In dem Werk On What Matters (2011) hat Parfit die ›Triple Theory‹ vertreten, der zufolge Kantianismus, Kontraktualismus und Konsequentialismus einander nicht widersprechen müssen; man könne die drei Modelle vielmehr als komplementär in dem Sinn verstehen, wie man einen Berg von drei verschiedenen Seiten besteigen kann. Versuchen wir eine systematische Bewertung des klassischen Utilitarismus (für eine neutrale Einschätzung vgl. die Darstellung von Mulgan 2007). Grundlegend vorteilhaft scheint, dass der Utilitarismus unsere landläufige Intuition aufgreift, wonach sich die moralische Qualität einer Handlung daran bemisst, ob sie aus der Perspektive aller Handlungsbetroffener (nicht nur des Akteurs) nützlich oder schädlich ist. Ein weiterer Vorteil liegt in seiner 125 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Operationalisierbarkeit, die auf seiner Empirienähe und seinem Gütermonismus beruht: Da der Utilitarismus moralische Urteile erfahrungsbasiert und anhand eines einzigen und einfachen Maßstabs treffen kann, nämlich der Summe von Lusterzeugung bzw. von Schmerzvermeidung als Folgen unseres Handelns, erlaubt er zahlreiche Urteile und Einschätzungen zu praktischen Fragen der modernen Lebenswelt, in denen alternative Ansätze versagen. Beispielsweise lässt es sich schwer vorstellen, wie man sonst das Weltarmutsproblem oder die Frage nach der Verantwortung für künftige Generationen behandeln sollte, ohne zumindest teilweise auf utilitaristische Überlegungen zurückzugreifen. Plausibel wirkt zudem, dass sich moralische Urteile im Utilitarismus am Prinzip der Unparteilichkeit orientieren, indem man bei Folgeabschätzungen alle handlungsbetroffenen Individuen gleichbehandelt. Dies schließt auch einen Universalismus ein, der auf dem Gedanken der natürlichen Gleichheit aller Menschen beruht – was ebenfalls zentral zu unseren moralischen Intuitionen gehört. Überdies sympathisieren viele moderne Rezipient(inn)en mit dem Utilitarismus wegen seiner Einbeziehung der Tiere in die Moral; denn alle lust- und schmerzempfindenden Wesen zählen im Utilitarismus, über Speziesgrenzen hinweg, gleichermaßen (besonders P. Singer 1979: Kap. 3 und 5). Als attraktives Merkmal erscheint zunächst auch der Konsequentialismus, also die These, es seien die Handlungsfolgen, auf die sich unser moralisches Urteil primär bezieht. Wenn wir uns vor die Wahl gestellt sehen, mit verschiedenen Rettungsaktionen entweder zehn Menschenleben vor dem Tod bewahren zu können oder nur ein einziges, bildete die größere Anzahl der geretteten Personen ceteris paribus sicher ein moralrelevantes Entscheidungskriterium. Ebenso ist die günstigere Nutzenbilanz durch Gleichverteilung intuitiv moralrelevant: Sollte man wählen müssen, wie man den Betrag von € 500.000 unter fünfzig Familien verteilt, die von einer Naturkatastrophe betroffen sind, so wirkt ceteris paribus eine gleichmäßige Verteilung (jede Familie erhält € 10.000) moralisch angemessener, als wenn zehn Familien je € 50.000 bekommen und die anderen leer ausgehen. Generell lassen sich viele moralische Güterabwägungen mit konsequentia126 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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listischen Mitteln auf eine intuitiv recht befriedigende Weise rekonstruieren. Gleichwohl hat unsere Intuition, wonach die Handlungsfolgen moralrelevant sind, auch ihre Grenzen: Nicht alles, was wir in der Moral als wünschenswert ansehen, lässt sich auf diese Weise darstellen; mehr noch, Handlungsfolgen sind wahrscheinlich nicht einmal das primäre Referenzobjekt unserer moralischen Beurteilung. Man denke hierfür an Beispiele, in denen der größte Nutzen der größten Zahl eine moralwidrige Komponente aufweist. Liegen etwa in einer Klinik fünf junge Patienten, die zu den Hoffnungsträgern der einheimischen Fußball-Nationalmannschaft gehören und die ohne Spenderorgane in den nächsten Stunden sterben würden, dann scheint es keineswegs moralisch akzeptabel, einen alleinstehenden Obdachlosen, der »ohnehin nur die öffentlichen Sozialkassen belastet«, von der Straße zu kidnappen, um mithilfe der ihm entnommenen Organe – und unter Inkaufnahme seines Todes – die fünf jungen Sportler zu retten, selbst wenn diese daraufhin zur Begeisterung weiter Bevölkerungskreise ein wichtiges Fußballturnier gewinnen. Wie schwierig Konsequentialismus sein kann, zeigen auch die Beispiele der ›Rettungsfolter‹ oder des ›Rettungsabschusses‹: Darf die Polizei einen gefangen genommenen Kindesentführer foltern, um so das Versteck des bedrohten Kindes herauszubekommen (Jakob-von-Metzler-Fall)? Soll man ein von Terroristen gekapertes Passagierflugzeug abschießen, das gegen ein Hochhaus geflogen werden soll? Klar ist zumindest, dass unsere Intuitionen hier nicht eindeutig auf Seiten des Konsequentialismus-Prinzips liegen. Einen triftigen anti-utilitaristischen Einwand hat auch der Ökonom Amartya K. Sen vorgebracht: Demnach führt die Grenznutzentheorie des klassischen Utilitarismus zu moralisch problematischen Ergebnissen. Die auf dem ›Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen‹ (law of diminishing marginal utility) beruhende Annahme, wonach die Nutzenfunktionen von Individuen gewöhnlich gleich seien, weswegen man bei der Verteilung von 200 Äpfeln auf 100 Personen davon ausgehen könne, dass eine Distribution von zwei pro Person das hedonisch günstige Gesamtergebnis hervorbringt), erweise sich in vielen moralsensitiven 127 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Fällen als nicht zutreffend. Sen verteidigt in On Economic Inequality (1973/21996) stattdessen ein ›Axiom der schwachen Gleichheit‹, d. h. die Annahme, Individuen seien in ihren Nutzenfunktionen allenfalls als bedingt gleich anzusehen. Nehmen wir ein Beispiel: Gesetzt den Fall, Schulz und Meyer hätten ungleiche Nutzenfunktionen; Schulz hätte aufgrund einer Behinderung von seinem Einkommen (wegen erheblicher Zusatzaufwendungen) einen erheblich geringeren Nutzen als der nicht-behinderte Meyer (z. B. immer genau die Hälfte). Dann würde eine Gleichverteilung des verfügbaren Einkommens zwischen Schulz und Meyer nur den halben Nutzen bei Meyer im Vergleich zu Schulz erzeugen; folglich würde die zu erwartende Nutzensumme einer u. a. aus Schulz und Meyer bestehenden Gesellschaft wachsen, wenn man Einkommen von Schulz auf Meyer umverteilen würde. Der Utilitarismus müsste diese Umverteilung folglich gutheißen. Intuitiv schiene uns, so Sen, jedoch das Gegenteil angemessen, nämlich dass man Schulz’ Nachteil infolge seiner Behinderung zumindest tendenziell ausgleichen sollte, also Schulz und nicht Meyer begünstigen müsste. Nun sind Menschen nach Sen aber faktisch erheblich verschieden; also erweist sich der Utilitarismus als sozialpolitisch kontraintuitiv. Einschlägig ist auch Bernard Williams’ fiktives Jim-und-PedroBeispiel aus der Schrift Kritik des Utilitarismus (1973): Ein gewisser Jim gerät anlässlich einer Botanik-Expedition in Südamerika in ein Rebellengebiet und wird von Soldaten gefangen genommen. Diese sind im Begriff, auf einem Marktplatz eine Gruppe von 20 Indios zu erschießen, von denen sie annehmen, sie sympathisierten mit den Rebellen. Pedro, der Befehlshaber der Soldaten, bietet nun Jim als unbeteiligtem Ausländer das ›Privileg‹ an, selbst einen der Indios hinzurichten; tue er dies, so blieben die anderen am Leben, versichert ihm Pedro. Jim überlegt, dass er durch Tötung eines Gefangenen die anderen retten könnte; diese bitten ihn geradezu darum, das Angebot anzunehmen. Aus der Sicht von Bernard Williams braucht Jim dies – entgegen der Empfehlung des Utilitarismus – aber keineswegs zu tun. Angenommen nämlich, sein tiefverwurzeltes Selbstbild liefe dem so sehr zuwider, dass Jim an der Erschießung eines Gefangenen zer128 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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brechen würde; dann würde der Wertungsaspekt der personalen Authentizität unter Umständen den der utilitären Folgenabschätzung überbieten. Wir können an dieser Stelle festhalten, dass es nicht nur moralische Grenzen des Utilitarismus gibt, sondern auch solche, die sich aus der Perspektive unserer authentischen personalen Identität ergeben. Auch die weitere Liste der Einwände gegen den Utilitarismus ist lang. Zunächst muss man zu bedenken geben, dass Lust- und Unlustmessungen kaum in irgendeinen Fall, geschweige denn in jedem Fall interpersonal verbindlich und präzise möglich sind, ferner, dass sich verschiedene Genüsse kaum auf einer einzigen Skala verrechnen lassen (was ja durch Mills Wendung zum qualitativen Hedonismus bestätigt wird). Nehmen wir ein triviales Beispiel: Wenn jemand Wein gegenüber Bier präferiert, heißt dies nicht, dass er von Bier einen irgendwie quantifizierbaren geringeren Nutzen hätte als von Wein, z. B. ein Drittel oder die Hälfte. Wäre er dazu bereit, für ein Glas Wein den doppelten Betrag wie für ein Glas Bier zu bezahlen, so brächte er damit keineswegs zum Ausdruck, dass Bier für ihn halb so wertvoll ist wie Wein – so dass man ihm etwa zwei Gläser Bier reichen müsste, um denselben Nutzen herzustellen, den ein Glas Wein erzeugt. Möglicherweise ist der Nutzen von Wein für ihn einfach nicht korreliert mit dem von Bier (für das Beispiel vgl. Dahlstrom 2005). Präferenzen sind somit oft subjektiv, nicht-generalisierbar und inkommensurabel. Zudem bleibt im Utilitarismus unklar, ob man die gesellschaftliche Gesamtsumme oder den individuellen Mittelwert des Nutzens erhöhen muss, weiterhin, ob es gleichgültig ist, in welcher Reihenfolge Lust und Unlust hintereinander auftreten, und schließlich, ob der Bentham’sche Utilitarismus neben einem Summierungsprinzip auch eine sinnvolle Verteilungsregel zu bieten hat. Selbst wenn sich diese Fragen befriedigend beantworten ließen, bliebe das gravierende Problem bestehen, dass Präferenzerfüllung keineswegs gleichbedeutend mit Lustgewinn ist: Wir streben nicht ausschließlich nach Lust, sondern etwa auch nach Wissen, danach, anderen nützlich zu sein, oder danach, etwas in hervorragender Weise zu beherrschen, z. B. Klavier- oder Fußball129 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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spielen. Zumindest der klassische Utilitarismus dürfte damit aus deskriptiven Gründen für eine Gütertheorie unbrauchbar sein; er erfasst weder, was Akteure für Güter halten noch warum sie dies tun. Doch zwei weitere Nachteile scheinen wichtiger als die bisher genannten zu sein. Erstens meinen wir, dass nicht immer diejenige Handlungsoption, die die günstigste Lustbilanz aufweist, zugleich als moralisch vorziehenswert gelten kann. Wie bereits gesagt darf man keinen Menschen töten, auch wenn fünf vom Tod bedrohte Personen durch seine Spenderorgane gerettet werden könnten; ebenso darf man keine Bevölkerungsgruppe versklaven, auch wenn dies eine deutlich verbesserte gesamtgesellschaftliche Nutzenbilanz mit sich brächte. Dass der klassische Utilitarismus naturalistisch argumentiert, erweist sich genauer betrachtet als ein zusätzlicher erheblicher Nachteil. Denn meine jeweiligen Gütervorstellungen beruhen unter Umständen auf Wertungen, die zu meinen eigenen ProEinstellungen, etwa intensiven Bedürfnissen, Neigungen und Tendenzen im Widerspruch stehen. So kann ich mich für etwas entscheiden, das mir einen geringeren hedonistischen Nutzen einträgt, etwa mit der Begründung, dass ich es für moralisch richtig halte oder dass es meiner politischen Überzeugung entspricht. Würde jemandes religiöses Weltbild dazu führen, dass der Betreffende fastet, so bräuchte die Präferenzerfüllung keine hedonistisch günstigere Bilanz aufzuweisen als ein Nicht-Fasten. Derartige subjektive Präferenzen lassen sich immer nur quantitativ in das utilitaristische Modell einbeziehen, also immer nur soweit, wie sie sich als Bedürfnisse der numerischen Messbarkeit und intersubjektiven Vergleichbarkeit unterwerfen lassen. Zwar bedeutet die Nichterfüllung einer nicht-hedonistischen Präferenz immer auch eine hedonistische Einbuße; Präferenzen und Luststreben sind sicherlich nicht ganz unkorreliert. Zudem kann etwas ex post lustvoll sein, weil es wertvoll ist; aber es ist nicht deshalb wertvoll. Aber der größere Lustgewinn ist nicht immer gleichbedeutend mit der größeren Präferenzerfüllung, und die größere Präferenzerfüllung bedeutet keineswegs immer einen größeren Lustgewinn. Eine Kontroverse innerhalb des Utilitarismus wurde um die 130 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Frage geführt, ob die Konsequenzen, an welchen sich der Nutzenwert einer Handlungsoption bemessen sollte, die tatsächlichen oder die vorhersehbaren Folgen sein sollen. Wären die tatsächlichen Folgen gemeint, so müsste man jemandem z. B. auch die unvorhersehbaren (negativen) Konsequenzen seines Verhaltens zur Last legen; dächte man dagegen an die vorhersehbaren Folgen, so wäre jemand unter Umständen für sein risikoreiches Verhalten mit negativem Ausgang entschuldigt, solange dieser nur nicht eindeutig vorhersehbar war. Eine elegante Lösung scheint hier zu sein, die ›erwartbaren Folgen‹ oder den ›erwarteten Nutzen‹ als Richtwert vorzusehen, d. h. die für den Akteur vorhersehbaren (positiven und negativen) Konsequenzen gemäß ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit. Ein denkbarer Ausweg aus den Aporien des klassischen Utilitarismus könnte ferner darin bestehen, dass man den Güterbegriff radikal pluralisiert. Man mag etwa sagen: Worauf immer sich jemandes Präferenzen richten mögen, das ist für das betreffende Individuum ein Gut; da auch ein solcher Präferenzutilitarismus konsequentialistisch vorgeht, wäre das größte Maß an durchschnittlicher individueller Präferenzerfüllung dasjenige, was die Bezeichnung ›moralisch richtig‹ verdienen würde. Ein solcher Ansatz, wie er etwa von Derek Parfit und Peter Singer und zuvor bereits John Harsanyi vertreten worden ist, erweist sich insofern als vorteilhaft gegenüber dem klassischen Utilitarismus, als Güterfragen nicht mehr reduktionistisch behandelt werden müssen. In einem solchen Modell erhält die subjektive Seite eine erhebliche Zuspitzung: Denn arbiträre, idiosynkratische oder unmoralische Güterpräferenzen werden prinzipiell ebenso respektiert wie überlegte, allgemein geteilte oder moralische Wünsche. Als Präferenzquellen kommen z. B. bei Harsanyi alle Arten von Meinungen, Absichten, Neigungen usw. in Betracht, also neben den hedonistischen Motiven auch Altruismus, religiöse Ideale, politische Überzeugungen oder sonstige Motive – ohne dass ein Urteil über deren Sachangemessenheit, Dringlichkeit, Natürlichkeit oder Moralität im Spiel wäre. Harsanyi verfügt in seinem Ansatz sogar über eine raffinierte Pointe, die das Problem vermeidet, dass die Präferenzen einer bestimmten Person von vornherein den An131 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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tipathien oder gegenläufigen Präferenzen anderer zum Opfer zu fallen drohen. Wenn Müller Mozart-Verehrer ist, wird diese Präferenz nicht einfach dadurch neutralisiert oder egalisiert, dass Meier und Schulze Wagner-Verehrer mit einem starken Affekt gegen Müllers Mozart-Präferenz sind. In Harsanyis Ansatz spielen die Vorlieben von Personen im Blick auf die Vorlieben anderer keine Rolle; paternalistische Wünsche, die sich auf die Bevormundung anderer beziehen, können somit vernachlässigt werden. Beachtet werden Präferenzen nur aus der internen, nicht aus der externen Perspektive; das Individuum findet mit seinen Präferenzen auf jeden Fall Beachtung. Jedoch erweist sich auch ein solch pointierter Gütersubjektivismus als eine fragwürdige Position. Denn ein Problem des Präferenzutilitarismus ist, wie das Vorliegen einer Präferenz festgestellt werden sollte – außer auf der Basis ihrer Artikulation durch Individuen. Weil der Präferenzutilitarismus keine naturalistische Theorie ist, sind andere Bemessungsgrundlagen ausgeschlossen; dann aber scheint derjenige bevorzugt, der sich ähnlich vorteilhaft artikulieren kann, wie dies für eine effiziente Lobby in der Politik gilt. Dabei entsteht ein ernstes Problem: Entspricht das Artikulationskriterium unserer Intuition einer angemessenen Beurteilung von Präferenzstärken? Ganz sicher nicht; die Dringlichkeit von Präferenzen ist zweifellos artikulationsunabhängig. Aber auch der Intensitätsgrad des Präferenzempfindens bildet kein sinnvolles Verteilungskriterium. Wenn ein einziges Stück Kuchen nur entweder an die Person A oder die Person B vergeben werden kann, ist die größere Intensität von As Präferenz keineswegs ein plausibles Argument dafür, A das Stück Kuchen zu geben. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, weshalb As Begehren unabhängig vom zu erwartenden oder tatsächlichen Genuss besonders groß sein könnte: Vielleicht hat A einen expressiven, emotionalen Charakter, oder er entstammt einer Großfamilie, in der er die orektische Disposition erworben hat, in Verteilungssituationen aus der Sorge darum, überhaupt ein Kuchenstück abzubekommen, ein heftiges Verlangen zu empfinden. B könnte umgekehrt ein besonders hungriger und genussfähiger, aber ganz und gar nicht-expressiver und zurückhaltender Mensch 132 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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sein. In diesem Fall würde für die stärkere Präferenz und gegen den größeren Genuss entschieden. Es scheint aber nicht klar, weshalb Präferenzen wichtiger sein sollten als der Nutzen- oder Genussaspekt. Ferner kann es sein, dass A bereits zwei Stücke erhalten hat, B dagegen nur eines; dann wären zudem präferenzunabhängige Gerechtigkeitsaspekte zu beachten. Einmal zugestanden, die artikulierten Präferenzen und ihre Intensitäten entsprächen tatsächlich den individuellen Bedürfnissen. Dann bliebe es äußerst fragwürdig, weshalb die Präferenzen der Individuen zusammengenommen die ernstzunehmenden Bedürfnisse einer Gesellschaft spiegeln sollten. Die tatsächlich bestehenden Bedürfnisse dürften auch dann kaum adäquat und umfassend ermittelt sein, wenn man ein von Artikulationsverzerrungen unabhängiges gesellschaftliches Präferenzprofil erstellen würde. Ein erstes Problem besteht in der fragwürdigen Korrelation von subjektivem Bedürfnis und objektiver Bedürfnisbefriedigung: So hat Tim Scanlon darauf aufmerksam gemacht, dass ich das medizinische Präparat x insofern mit vollem Recht wollen könnte, als ich tatsächlich krank bin, dass aber x kein angemessenes Heilmittel für meine Krankheit ist; mir x aufgrund meiner Präferenz zuzugestehen, wäre sogar in diesem Fall eines echten Bedürfnisses abwegig. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus Präferenzschwankungen: Wie viele Änderungen in den Einstellungen und Vorlieben sollten jemandem zugestanden werden? Wie oft also wäre eine Präferenzendemoskopie erforderlich? Damit hängt das Problem konflikthafter individueller Vorlieben zusammen: Wie kann man sich rational an den teilweisen widersprüchlichen Wünschen einer Person orientieren? Ist die vorzugswürdige Präferenz diejenige, für die jemand alle anderen Güter zu opfern bereit wäre? Auch das führt zu keinem handhabbaren Kriterium. Ein Teil dieser Schwierigkeit besteht im Konflikt zwischen kurzfristigen und langfristigen Neigungen. Wie sind aktuelle und wie zeitübergreifende Präferenzen zu gewichten? Muss man den langfristigen, wohlinformierten Wünschen folgen, wie rational desire-Theorien dies annehmen? Wenn sich jemand einen ruhigen Nachmittag wünscht, aber gleichzeitig den längerfristigen Wunsch hegt, ein guter Tennisspieler zu werden, kann er die Tat133 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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sache, dass er überraschend zu einem Tennisspiel abgeholt wird, als seine eigentliche Wunscherfüllung verstehen; er kann sich aber auch darüber ärgern, dass sich sein intensives Ruhebedürfnis nicht erfüllen ließ. Eine subjektivistische Theorie der Güterkonstitution gelangt auf diese Weise kaum je zu einem Kriterium, wann man Wünsche zugestehen und wann man sie zurückweisen soll. Ist ein lebenslanger, identitätskonstitutiver Wunsch wichtiger, so dass es einen Verrat an der langfristigen Identität der Person bedeuten würde, seinem aktuellen Wunsch nachzugeben? Oder muss man dem augenblicklichen, stark empfundenen Wunsch folgen? Ohne ein objektivierendes Zusatzkriterium scheint eine Entscheidung darüber ausgeschlossen zu sein. Die artikulierten Präferenzen sind also nicht nur aufgrund der unterschiedlichen Artikulationsfähigkeit verzerrt, sondern bilden auch kaum die reale Bedürfnislage von Menschen ab. Und selbst wenn man beides versuchsweise zugestehen würde, käme man von den adäquat repräsentierten individuellen Präferenzen noch nicht zu einem klaren gesellschaftlichen Präferenzprofil. Mehr noch, bereits die These scheint aussichtslos, etwas sei gut, weil es gewünscht wird. Man kann sich leicht Fälle vorstellen, in denen etwas Gewünschtes schlecht ausfällt oder ungünstige Folgen hat, sich also im Nachhinein als etwas erweist, von dem man sich wünschen würde, es sich nicht gewünscht zu haben. Insbesondere wirkt aber fragwürdig, wie in einer Gesellschaft konkurrierende Präferenzen, also solche, die nicht zugleich realisiert werden können, zu behandeln sein könnten. Man kommt somit um die Frage nicht herum: Was motiviert die Präferenzen? Hält eine bestimmte Präferenz einem rationalen Test stand oder nicht? Tatsächlich gesteht etwa Harsanyi ein, man müsste in den Präferenzutilitarismus ein Überlegungs- und ein Informationskriterium einbeziehen. So betrachtet sprechen gute Argumente dafür, das Geschmacksmodell insgesamt zurückzuweisen; die folgenden Punkte, die sich teilweise überschneiden, sind dafür entscheidend: (a) Nicht alles, was ein Akteur wünscht, ist für sein Wohlbefinden tatsächlich vorteilhaft oder auch nur relevant. Eine Facette dieses Problems ist der Gegensatz von kurzfristigem und langfristigem Wünschen, eine andere die Antithese 134 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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von oberflächlichem und tiefergehendem Begehren. Es bedeutet einen erheblichen Unterschied, ob jemand über die tatsächliche Wirkung eines gewünschten Objekts vorurteilsfrei, sachlich und neutral informiert ist oder nicht. Solange der Gegenstand G vom arbiträren Begehren her beurteilt wird, besteht kein angemessenes Kriterium, G als wertvolles oder als zu vernachlässigendes Gut einzuschätzen. (b) Die Forderung nach Informiertheit und Begründetheit von Präferenzen dürfte Grenzen der arbiträren Auswahl von gewünschten Gegenständen implizieren; es scheint z. B. ausgeschlossen, sich das Leben einer Person zu wünschen, die vordergründig von ihren Mitmenschen gelobt und bewundert, in Wahrheit aber lächerlich gemacht und verspottet wird. (c) Man kann andere Personen um wertvolle Faktoren ihrer Biographie beneiden (oder wegen verheerender Faktoren bedauern) und die eigene Lebensführung an solchen Beobachtungen orientieren. Wenn es möglich ist, das eigene Leben aus der Perspektive fremder Lebensstile zu beurteilen, scheint eine weitergehende These möglich: Vielleicht ist eine rein idiosynkratisch geprägte Biographie sogar ausgeschlossen. Donald Davidson vertritt in Analogie zu Wittgensteins Privatsprachenargument explizit die Auffassung von der Unmöglichkeit einer exklusiv privaten Lebensführung. (d) Es liegt nahe, sich die menschliche Lebensführung als Reihe zu erfüllender oder zu vernachlässigender Möglichkeiten vorzustellen; dabei spielt der Begriff des intrinsisch Guten eine besonders wichtige Rolle: Eine prudentiell angemessene Lebensführung scheint dagegen nur bedingt auf intrinsische Güter gerichtet zu sein. (e) Der Akteur ist ebenso wenig das bloße Sprachrohr seiner Wünsche wie das seiner Emotionen; er kann und muss unter ihnen eine Auswahl treffen. Dazu gehört, dass er sie grundsätzlich als gut oder schlecht, als situativ angemessen oder unpassend, als konstruktiv oder destruktiv, vorteilhaft oder verhängnisvoll usw. beurteilen muss – gleichgültig, ob er dies anhand eines moralischen oder eines prudentiellen, individuellen oder sozialen Maßstabs tut. (f) Wir würden das Verfolgen mancher Wünsche als Selbstmissverständnis bewerten und zum Mittel der Kritik oder Aufklärung greifen. Ein Beispiel wäre, dass jemand der Verlockung zur Selbstschädigung folgen könnte, etwa dem »sirenen135 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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haften« Sog, sich in einen Abgrund zu stürzen. Noch deutlicher dürfte der Fall krass unterprivilegierter Frauen in traditionell oder religiös geprägten Gesellschaften sein, die bei Befragungen mitunter die Angemessenheit ihrer Unterprivilegierung selbst vehement rechtfertigen. Grundsätzlich muss also eine objektivierende Beurteilung geschmacklicher Präferenzen möglich sein.

3.3 Intuitionismus, Perfektionismus und Wertethiken Es gibt weitere Spielarten teleologischer Ethiken außer dem Eudämonismus und dem Utilitarismus: nämlich Intuitionismus, Perfektionismus und die Wertethiken. Diese drei Begriffe bezeichnen nicht so sehr klar definierte moralphilosophische Richtungen, sondern bestimmte historische Positionen. Aus chronologischen Gründen beginne ich mit der Gruppe der (angelsächsischen) Intuitionisten, nämlich Thomas Reid, Harold A. Prichard und William David Ross. Dann wende ich mich kurz der perfektionistischen Ethik zu, d. h. Thomas H. Green (zu seinen modernen Nachfolgern s. unten S. 266 f.). Als besonders komplex erweist sich am Ende die Gruppe der deutschen Wertethiken; dazu gehören Aristoteliker, Kantianer, Hermeneutiker und Phänomenologen – also äußerst unterschiedliche philosophische Orientierungen. Den schottischen Aufklärungsphilosophen Thomas Reid als einen Intuitionisten zu bezeichnen, ist eigentlich ein Anachronismus; Intuitionismus ist eine moralphilosophische Position des 20. Jahrhunderts, maßgeblich formuliert von W. D. Ross. Aber bereits Reid verteidigte im 18. Jahrhundert die Auffassung, es gebe erste, selbstevidente Handlungsprinzipien, die jede(r), auch der einfachste Mensch, in sich trage und nach denen die oder der Betreffende Fragen der angemessenen Handlung beurteile. Von diesen Prinzipien soll es mehrere geben; sie seien nicht aufeinander reduzierbar. Anders als Kant und die Utilitaristen vertritt Reid somit keinen Prinzipien- oder Gütermonismus. Moralprinzipien sind nach Reid elementar und undefinierbar; sie sind von gänzlich eigener Art (sui generis). Vergleichbar mit den Intuitionisten des 20. Jahrhunderts ist er auch darin, dass er eine anti-naturalistische 136 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Intuitionismus, Perfektionismus und Wertethiken

Ethik konzipiert: Die Naturwissenschaft (für Reid: die Mechanik Newtons) vermag unser moralisches Urteilen nicht zu erfassen; dieses superveniert nämlich nicht über mechanischen Tatsachen oder natürlichen Gegebenheiten wie etwa Freude und Schmerz. Was Reid mit Kant verbindet, ist seine – wie man sie genannt hat – ›Hierarchiethese‹: Demnach müssen moralische Gesichtspunkte von Akteuren stets gegenüber außermoralischen vorgezogen werden; ein Akteur soll die Einstellung einnehmen, das Moralische immer zu priorisieren. Dieses Pflichtprinzip (principle of duty) ist dasjenige vernünftige Handlungsprinzip, dem wir eine Leitfunktion über unser Verhalten geben müssen. J. B. Schneewind (1998) hat Reid daher neben Kant als den herausragenden Ethiker der vernünftigen Autonomie in der frühen Neuzeit gestellt. Daneben kann man allerdings auch betonen, dass Reid mit seiner Idee einer ›moralischen Wahrnehmung‹ nahe bei den Autoren des Sentimentalismus wie Francis Hutcheson steht. Harold A. Prichard hat den moralischen Intuitionismus im Jahr 1912 in einem klassischen Aufsatz verteidigt, der den Titel trägt: Does Moral Philosophy Rest on a Mistake? Darin wirft er die Frage auf, ob die Moralphilosophie nicht so lange fehlgeleitet bleibt, wie sie von nicht-normativen Prämissen ausgehend moralisch verbindliche Normen erweisen will. Auch ist die Frage nach der moralischen Motivation nach Prichard sinnlos und lässt sich durch ein Dilemma ad absurdum führen: Entweder müssen moralische Motive bereits vorhanden sein; dann kann und muss man sie nicht begründen. Oder sie müssen mit Blick auf außermoralische Motive begründet werden; das aber verzerrt ihren genuinen Sinn. Intuitionisten glauben, dass moralische Motive unmittelbar und notwendig zugleich mit den moralischen Einsichten gegeben sind. Die klassische Formulierung des ethischen Intuitionismus ist diejenige von W. D. Ross in der Schrift The Right and the Good (1930). Ross’ Position besteht darin, eine irreduzible Mehrzahl von basalen Verhaltensprinzipien anzunehmen, die alle selbstevident sein sollen. ›Selbstevident‹ sind Prinzipien, wenn sie unmittelbar gewusst werden und eines Beweises weder fähig noch bedürftig sind. Ross unterscheidet zwischen sieben verschiedenen 137 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Pflichtarten: solchen des persönlichen Treueverhältnisses (fidelity), solchen der Wiedergutmachung (reparation), der Dankbarkeit (gratitude), der Gerechtigkeit (justice), des Wohltuns (beneficence), der Selbstentwicklung (self-improvement) und der Nichtschädigung (nonmaleficence). Alle genannten Pflichtarten sind für Ross nicht-naturalistisch zu beschreiben; das Richtige und das Gute bilden undefinierbare Eigenschaften, wie G. E. Moore dies gelehrt hatte. Nach Ross’ Überzeugung konstituieren die genannten Punkte sogenannte prima facie-Pflichten, welche so lange gelten, bis sie durch einen übergeordneten normativen Gesichtspunkt überboten werden. In der gegenwärtigen Moralphilosophie sind es besonders Philip Stratton-Lake (2003) und Robert Audi (2004), die Ross’ Position verteidigen. Gegen einen Intuitionismus, gleichgültig in welcher Spielart, lassen sich gravierende Bedenken formulieren. Zunächst, er scheint nicht imstande zu sein, Konflikte zwischen divergierenden moralischen Intuitionen zu klären, weil er sich dafür immer nur auf weitere Intuitionen berufen könnte, statt Gründe oder Argumente zu liefern; am Ende muss er eine bestimmte Intuition einfach dogmatisieren und für abschließend erklären. Zudem: wie lassen sich fehlgeleitete Intuitionen ausschließen? Was macht uns darin sicher, dass das, was wir unmittelbar und nachdrücklich für richtig halten, auch richtig ist? Ebenso ist der Intuitionismus unfähig, Unklarheiten und Uneindeutigkeiten aufzulösen; wenn wir schwierige Moralfragen als unklar empfinden, dürfte weiteres Nachdenken nichts nützen – denn eine Intuition ist ja eben kurzerhand eine Intuition. (Problematisch ist so gesehen eigentlich schon, wie eine Intuition überhaupt unklar sein kann – was bei moralischen Einschätzungen aber häufig der Fall ist.) Außerdem kann er nicht befriedigend erklären, was geschieht, wenn jemand von einem ersten, vorschnellen Urteil zu einer wohlüberlegten Einschätzung übergeht; moralische Urteilsbildung stellt für den Intuitionismus ein uneinholbares Phänomen dar. Ein argumentbasiertes praktisches Überlegen erweist sich im Alltag als relativ erfolgreiches Instrument der moralischen Urteilsfindung; wegen ihrer begrifflich-diskursiven Komponente kann praktische Deliberation jedoch nicht als ein ›Warten auf die richtige Intuition‹ inter138 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Intuitionismus, Perfektionismus und Wertethiken

pretiert werden. Vielmehr ist es umgekehrt plausibel, dasjenige, was uns als pure Intuition erscheint, als ein stark abgekürztes Überlegungsverfahren zu deuten. So verstandene Intuitionen erweisen sich dann aber als grundsätzlich rationalisierbar, kritisierbar, revidierbar – und sie sind bisweilen einfach fehlgeleitet. Solche und ähnliche Bedenken machen einen Intuitionismus aus moralphänomenologischer Sicht unattraktiv. Zudem versagt er vor der Aufgabe, einen moralischen Skeptiker mit einer Moralbegründung zu konfrontieren und damit mehr als nur den Vorwurf der ›moralischen Wertblindheit‹ (lack of moral sense) zu erheben. Gegen alle Formen des moralischen Intuitionismus kann man überdies einwenden, dass diese fälschlich unterstellen müssten, dasselbe Moralbewusstsein bestehe gleichzeitig überall und habe auch immer und überall bestanden. Doch faktisch ist dies unzutreffend; man kann zwar normativer Universalist sein, keineswegs aber ein deskriptiver. Moralität bildet genetisch-kulturgeschichtlich gesehen ein Spezifikum unserer westlichen Kultur; offenkundig weicht das Moralbewusstsein in vormodernen und in nicht-westlichen Kulturen beträchtlich von unseren heutigen und hiesigen Intuitionen ab. Ein solcher deskriptiver kulturrelativistischer Einwand führt allerdings nicht zu einem normativen Relativismus; gleichwohl enthält er ein bedeutendes Wahrheitsmoment. Offenkundig ist es in einem bestimmten Sinn wahr zu sagen, unsere moralische Intuition sei das Ergebnis eines historisch-kulturellen Entstehungsprozesses. Einen recht subtilen Einwand liefert schließlich das, was man als ›Gedankenexperiment aus den variierten Parametern‹ bezeichnen könnte: Stelle ich mir vor, wie ein Verbrecher sein Opfer bedroht (oder ausraubt, schlägt, foltert oder diskriminiert), und variiere dabei die moralrelevanten Parameter (wie etwa Schmerz/Lust, Freiheit/Unfreiheit, Selbstachtung/Demütigung) nach Intensität mal so, mal anders, so folgt meine moralische Intuition in der Regel der Intensitätsänderung der Parameter. Das zeigt, dass sie auf diesen Parametern superveniert. T. H. Green gilt als Begründer des Britischen Idealismus, besonders aufgrund seiner intensiven und zustimmenden Rezeption Hegels. Neben seinem Interesse an Erkenntnistheorie und Meta139 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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physik – er kritisierte in scharfer Form den zeitgenössischen Empirismus und Atomismus – befasste er sich mit Religionsphilosophie, Ethik und politischer Philosophie. In seiner Religionsphilosophie erscheint Gott nicht allein als überzeitlich-transzendentes Wesen, sondern zudem als geschichtsimmanentes Prinzip, das als ›Naturgesetz‹ (law of nature) in individuellen Akteuren präsent ist und auf diese eine normative Wirkung ausübt. Seine Moralphilosophie, entwickelt besonders in dem Spätwerk Prolegomena to Ethics (1883), enthält u. a. eine Kritik an Humes Überzeugung, Menschen handelten aufgrund von Wünschen (desires), sowie eine weitgefasste Abrechnung mit dem Hedonismus der klassischen Utilitaristen. Nach Green ist der bewusste, verantwortliche Akteur von seinen natürlichen Impulsen unabhängig und muss im Licht einer personalen Konzeption des Guten handeln. Damit formuliert Green einen Perfektionismus, der die freie Verantwortlichkeit von Menschen hervorhebt. Dieser basiert einerseits auf der Idee der Selbstrealisierung – gemeint ist die Entfaltung eigener Talente und Fähigkeit – und andererseits auf der Idee eines ›Fortschritts der Menschheit‹ (Prolegomena §176). Die deutschen Wertphilosophien sind grob gesprochen ein Phänomen der Jahre 1850–1950. Man muss sie sich ursprünglich als Kampfpositionen gegen zeitgenössische Formen von Szientismus, Biologismus, Psychologismus und Positivismus vorstellen. Auf den ersten Blick wirken sie heute ebenso obsolet wie ihre historischen Gegner. In der deutschen Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts verbindet man mit dem Tod Hegels (1831) üblicherweise die Diagnose von einem dramatischen Glaubwürdigkeitsverlust des spekulativen Idealismus. Idealistische Positionen gerieten unter dem Eindruck der Erfolgsbilanz von Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft ab dem zweiten Drittel des Jahrhunderts stark in die Defensive. Im Gegenzug führte Hermann Lotze den Wertbegriff in die Philosophie ein, und zwar als eine Rückzugsposition: Der Ausdruck spiegelt die Einschätzung Lotzes, dass einerseits ein spekulativer Idealismus, der die Wirklichkeit insgesamt als vernünftig, nicht-kontingent und sinnvoll auffasst, unhaltbar geworden sei, dass aber andererseits wesentliche idealistische Theorieteile gegenüber einem anti-metaphysi140 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Intuitionismus, Perfektionismus und Wertethiken

schen Denken bewahrenswert seien. Lotzes Wertbegriff wird dieser Aufgabe insofern gerecht, als er einen Bereich des Wichtigen und Wesentlichen von der Sphäre des Banalen oder Gleichgültigen zu unterscheiden erlaubt; letztere kann man dann umstandslos der Wissenschaft, Technik und Ökonomie überlassen (vgl. dazu Schnädelbach 1983: 206–218). Adolf Ritschl übertrug die Wertkonzeption schon früh auf die protestantische Theologie; generell erlangte die Wertphilosophie für einige Jahrzehnte einen erheblichen Einfluss auf die Geisteswissenschaften und die bildungsbürgerliche Öffentlichkeit. Das »wirklich Wertvolle« konnte auf dieser begrifflichen Grundlage für Moral, Musik, Bildende Kunst und Literatur, für Religion, Weltanschauung und Politik sowie für die historischen und hermeneutischen Wissenschaften reserviert werden, also für Bereiche und Disziplinen, in denen es weniger um ›Tatsachenfragen‹ als um ›Sinnfragen‹ geht. In der Philosophie waren es um 1900 besonders die Neukantianer der südwestdeutschen Schule, nämlich Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert sowie Jonas Cohn, später auch Nicolai Hartmann, die die Anstöße Lotzes aufgriffen. Eine wichtige Voraussetzung dafür bestand in der von Franz Brentano konzipierten intuitionistischen Theorie der Werterkenntnis in seinem Werk Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis (1889/1921). Von Lotze und Brentano ausgehend versuchten die südwestdeutschen Neukantianer, die Wertphilosophie mit der kritischen Position Kants (teilweise auch mit dem Idealismus Hegels) zu synthetisieren; wegen ihrer erheblichen Abweichungen von Lotzes Modell muss man freilich von einer zweiten Phase der deutschen Wertphilosophie sprechen. Mit dem Auftreten einer phänomenologisch orientierten Wertphilosophie, der tendenziell auch Hartmann zuzurechnen ist, lässt sich schließlich deren dritte Phase markieren; ihr gehören hauptsächlich Max Scheler, Dietrich von Hildebrand und Hans Reiner an. Die unterschiedlichen Modelle der deutschen Philosophie um 1900 heben übereinstimmend hervor, Wertgeltung sei ein Phänomen von selbständiger, unabhängiger und irreduzibler Art. Nach dieser Auffassung lassen sich Geltungsfragen nicht auf positivwissenschaftliche Weise thematisieren; Wertaspekte erweisen 141 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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sich jedoch als unentbehrlich, ja sogar als konstitutiv für das menschliche Selbstverständnis. Anders ausgedrückt, von den Tatsachenfeststellungen, wie sie Gegenstand der Wissenschaften sind, führt kein Weg zur Aufdeckung oder Rechtfertigung gültiger Evaluierungsstandards. Alle wertphilosophischen Positionen gründen sich somit auf die Überzeugung, dass szientistische oder positivistische Philosophien auf dem Vorurteil basierten, die Charakterisierung der Wirklichkeit als Gesamtheit aller Gegenstände, Relationen und Ereignisse, kurzum aller Tatsachen, sei erschöpfend. Während Lotze der philosophischen Wertdiskussion eher eine ergänzende und kompensatorische Rolle zum Themen- und Methodenfeld der Naturwissenschaften zuwies, kommt es zu einer intuitionistischen Deutung der Wertgeltung bei Windelband und Rickert. Windelband meint, man könne aufgrund einer transzendentalen Wertkonzeption sogar zu ›absoluten Werten‹ gelangen. Dazu will er die Existenz eines ›Normalbewusstseins‹ aufweisen, das durch seine unmittelbare Werterfassung charakterisiert sein soll. Gemeint ist eine Art natürlicher Grundzustand des Bewusstseins vor seiner Bestimmung durch irgendwelche spezifischen Gehalte. In diesem Zustand sollen Werte als Grundgegebenheiten des Bewusstseins erfasst werden. Die transzendentale Wendung der deutschen Wertphilosophie bei Windelband führt somit zwar zu einer Ableitung aller Wertgeltung von einer Konstitutionsleistung des Subjekts, aber diese Subjektivierung bedeutet nicht, dass unsere Evaluierungsstandards nicht invariant gelten müssten. Nach Windelband besteht tatsächlich eine solche absolute Geltung. Überdies ist er – und dies im Unterschied zu Hartmann – der Auffassung, dass das Normalbewusstsein auch für den Bereich unserer Tatsachenfeststellungen maßgeblich sei. Der Bereich des Objektiven wird also ebenso wie das Feld unserer gewöhnlichen Evaluierungen durch Wertgeltungen zweiter Ordnung geprägt. Folglich fasst er auch den theoretischen Bereich als wertbestimmt auf; insbesondere deutet er Wahrheit als einen ›theoretischen Wert‹. Rickert verlässt im Laufe seiner Entwicklung den Windelband’schen Standpunkt von einem grundlegenden ›Bewusstsein überhaupt‹ und kehrt zu einem metaphysischen 142 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Intuitionismus, Perfektionismus und Wertethiken

Standpunkt absoluter Wertgeltung zurück. Anders als Lotze bleibt er aber dabei, dass unser gesamtes Wirklichkeitsverhältnis wertbestimmt sei; Rickert führt es auf eine ›irreale Wertsphäre‹ zurück. Theoretische Urteile über die Wirklichkeit stützten sich immer schon auf eine evaluative Basis. Rickert hat das Wertthema als Fundament aller ›Sinnfragen‹ erweisen wollen, d. h. als Basis allen Verstehens; Wertphilosophie bildet das Fundament der Hermeneutik. Ein werttheoretisches Apriori anzunehmen und dabei die Wertgeltung zum Basisphänomen zu machen, auf dessen Grundlage man das theoretisch-objektive Weltverhältnis erklärt, wirkt auf den ersten Blick wie eine attraktive Konzeption. Der Objektivismus unserer gewöhnlichen moralischen Einstellung scheint eine solche Position zu erfordern; auch scheint es vorteilhaft, dass eine apriorische Wertgeltung einem ethischen Universalismus eine solide Basis verschaffen könnte. Allerdings bezahlt Hartmann seinen Apriorismus mit dem hohen Preis, empirische Wertdifferenzen als Ausdruck unterschiedlicher moralischer Entwicklungsstufen deuten zu müssen; es wirkt problematisch, dass Hartmann abweichende Urteile mit dem Etikett ›Wertblindheit‹ belegt (1926/41962, 156 ff.). Sein Intuitionismus des ›Wertfühlens‹ ist ebenso wie der Scheler’sche kaum dazu fähig, Kriterien angemessener Werterkenntnis anzugeben. Attraktiver scheint insofern Windelbands Position zu sein, der zufolge sich Wertgeltung anhand einer ›transzendentalen Deduktion‹ rechtfertigen lassen soll; andererseits wirken seine Auffassung und die Rickerts problematisch, auch das theoretische Wirklichkeitsverhältnis sei immer schon wertbezogen. In ihrer Grundlagendebatte wirkt die deutsche Wertphilosophie anregend, ist aber zu zeitgebunden, um für die Gegenwart direkt anstoßgebend sein zu können. Ungleich stärker fällt ihre phänomenologische Seite aus, wofür man als Beispiele besonders Scheler und Hartmann anführen kann. Zunächst ist erwähnenswert, dass Scheler in seinem moralphänomenologischen Hauptwerk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (1913–16/21921) in reflektierter Selbstbescheidung sorgfältig der Gefahr einer Hypostasierung des Wertbegriffs ausweicht; er konzipiert Werte ungegenständ143 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Teleologische Ethiken

lich, nämlich als die für das Handeln maßgeblichen evaluativen Gesichtspunkte. Die Stärken seines Modells lassen sich am ehesten vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit Kants Ethik darstellen. Schelers wertphilosophisches Selbstverständnis ergibt sich aus dem Bewusstsein, Kants ethischer Formalismus sei mangelhaft und ergänzungsbedürftig; er treffe allenfalls auf den Bereich der Güter und Zwecke, nicht auf den der Werte zu. Kant missachte, dass Wertungen für unser Weltverhältnis konstitutiv seien: der objektiven Gegenstandserkenntnis gehe immer schon eine Werterkenntnis vorher. Vor theoretischen Akten wie Wahrnehmung, Urteil, Vorstellung lägen die wertenden Akte des Interessenehmens, der Zu- oder Abneigung, des ästhetischen Gefallens usw. Scheler will mit den Mitteln der phänomenologischen Methode die Breite und Komplexität des Felds solcher Wertungen aufdecken. Dazu unterscheidet er Person- und Sachwerte, Fremdund Eigenwerte, Akt-, Funktions- und Reaktionswerte, Gesinnungs-, Handlungs- und Erfolgswerte, Intentions- und Zustandswerte, Fundament-, Form- und Beziehungswerte, Individual- und Kollektivwerte sowie Selbst- und Konsekutivwerte; daneben spricht Scheler auch von ›Unwerten‹. Natürlich weisen die genannten Differenzierungen höchst unterschiedliche begriffliche Beziehungen untereinander auf; sie ergeben insgesamt ein bemerkenswertes Tableau evaluierender Verhaltensweisen. Die Stärke des Scheler’schen Ansatzes liegt in dieser subtilen Form phänomennaher Differenzierungen. Sein Modell lässt sich daher insofern als wichtige Ergänzung der kantischen Ethik auffassen, als Kant – zumindest scheinbar – offenlässt, wie ein ›guter Wille‹ und dessen Geltungsform für neigungsbestimmte Wesen, nämlich der Kategorische Imperativ, in einer bestimmten Handlungssituation als moralische Überlegungsregel anwendbar ist. Scheler verfügt demgegenüber über ein reiches Instrumentarium, um die implizite Wertkonstellation einer Handlungssituation thematisieren zu können. Eine zentrale Frage hierbei ist, ob eine Wertphilosophie des Scheler’schen Typs das Phänomen moralischer Normativität angemessen von anderen normativen Wertungsweisen unterscheiden kann und ob sie darüber hinaus zu einer Moralbegründung 144 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Intuitionismus, Perfektionismus und Wertethiken

imstande ist. Um Moralität deskriptiv zu erfassen, bringt Scheler die Vielzahl der von ihm differenzierten Wertkategorien in eine vierstufige Rangordnung. Die vierte und unterste Stufe nehmen die ›Werte des Angenehmen und Unangenehmen‹ ein, die dritte Stufe die ›vitalen Werte‹; darauf folgen auf der zweiten Stufe die ›geistigen Werte‹ (nämlich die ästhetischen Werte, die des ›Rechten und Unrechten‹ sowie die der ›Wahrheitserkenntnis‹), während der höchste Rang den Werten des ›Heiligen und Unheiligen‹ zugesprochen wird. Die von Scheler anvisierte Pointe ist nun, moralisches Handeln sei nicht auf »sittliche Werte« sui generis zu stützen, sondern sei mithilfe dieser Präferenzordnung zu erklären. Nach Scheler ist ein Willensakt dann moralisch gut, wenn er sich auf die höheren von mehreren möglichen Werten richtet. Die moralische Qualität einer Absicht, einer Handlung oder einer Haltung tritt dann nämlich nur nicht-intendiert auf, nämlich – wie Scheler sagt – »gleichsam auf dem Rücken«. Auf diese Weise versucht er der Intuition gerecht zu werden, dass eine direkt intendierte Sittlichkeit zu Heuchelei oder Pharisäismus zu führen droht. Es scheint so, als würde Schelers axiologische Rangordnung nicht einmal einfachen Prüfungen standhalten. Es ist keineswegs einzusehen, warum es moralisch angemessen sein sollte, das Leben, die Gesundheit oder das Wohlbefinden einer Person für einen geistigen oder religiösen Wert zu opfern. Auch wirkt nicht nachvollziehbar, weshalb es ethisch richtiger sein sollte, jemanden in Elementarteilchenphysik zu unterrichten als ihn mit Nahrungsmitteln zu versorgen. Andererseits scheint es korrekt, Moralität nicht als fixierbaren Wertsachverhalt zu betrachten, sondern als eine Frage des Vorrangs unterschiedlich wichtiger Wertaspekte. Der Gedanke einer Präferenzordnung von Werten wäre dann in veränderter Form vielleicht aufrechtzuhalten. Bereits Nicolai Hartmann hat gegen Scheler eingewandt, das Kriterium einer solchen Vorzugsordnung dürfe nicht allein in der Werthöhe liegen; zu beachten sei auch die ›Wertstärke‹ – oder, mit Hans Reiners Ausdruck, die ›Wertdringlichkeit‹. Freilich haben solche Begriffe allenfalls einen problemanzeigenden, keinen problemlösenden Charakter. Auch Hartmanns Ansatz in seiner Ethik besitzt erhebliche 145 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Teleologische Ethiken

Stärken in der Phänomenbeschreibung, etwa in der Zurückweisung des utilitaristischen Eudämonismus; Glück könne unmöglich als höchster moralrelevanter Wert gelten (1926/41962, 81 ff.). Im Unterschied zu Scheler platziert er die sittlichen Werte an die erste Stelle; erst danach kommen außermoralische, etwa ökonomische und ästhetische Werte. Hartmann steht Kant näher in der Akzentuierung der Gesinnung als der Grundlage moralischer Handlungsbeurteilung und in deren deontologischer Ausformulierung. Für den Bereich der sittlichen Werte spielen bei ihm eine erhebliche Rolle zum einen die personalen Werte, zu denen er vorteilhafte menschliche Eigenschaften, Haltungen und Tugenden rechnet, und zum anderen materielle Werte oder Güter, die für die Existenzsicherung von Menschen als Grundlagen bereitstehen müssen. Hartmann hat also genauer als Scheler gesehen, dass außermoralische Wertaspekte für unsere ethische Handlungsbeurteilung bedeutsam sind; in seiner Darstellung der ethischen Werte Gutes, Edles, Fülle und Reinheit wird dieser vielversprechende Ansatz aber kaum ausgeführt. Auch seine Wiederaufnahme und Synthese antiker Tugenden mit christlicher Nächstenliebe und neuzeitlicher Solidarität wirkt eher additiv. Einen ausführlichen Versuch, Vorrangprinzipien für Werte zu formulieren, hat auch Hans Reiner in seinem Buch Die Grundlagen der Sittlichkeit (1974) unternommen. Reiner sieht das Charakteristikum moralischer Absichten darin, dass diese einem objektiven Wert Vorrang vor einem subjektiven einräumen. Die Ausdrücke ›objektiv‹ und ›subjektiv‹ haben bei Reiner von vornherein eine starke normative Einfärbung: ›Objektiv wertvoll‹ ist dann gleichbedeutend mit ›kategorisch geboten‹, ›subjektiv wertvoll‹ mit ›bloß prudentiell angemessen‹. Als objektive Werte bestimmt Reiner alles das, was entweder »absolut wertvoll« ist (wie etwa ein Menschenleben) oder was sich als »fremdrelativ wertvoll« bezeichnen lässt, d. h. was aus der prudentiellen Perspektive anderer Personen wählenswert ist. Moralisch verhält sich nach Reiner also jemand, der – wenn unterschiedliche Werte zur Wahl stehen – entweder einen schlechthin verbindlichen Wert verfolgt oder aber zugunsten fremder Interessen handelt. Auch Reiners Modell wirkt nicht völlig befriedigend. Zunächst lässt sich leicht 146 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Intuitionismus, Perfektionismus und Wertethiken

zeigen, dass der zweite Teil dieser Bestimmung ein »altruistisches Missverständnis« darstellt; Uneigennützigkeit ist oft moralisch indifferent und gegenüber den prudentiellen Interessen anderer keineswegs sittlich geboten. Für die erste Bestimmung gilt hingegen immer noch, dass sie das Problem nur anzeigt, nicht aber löst. Denn die zentrale Frage ist, wann und weshalb man von einem »absoluten Wert« sprechen kann. Hinzu kommt bei Reiner eine problematische Unterscheidung von gut und böse einerseits und moralisch richtig und falsch andererseits; gemeint ist die Qualität des persönlichen Wollens auf der einen und seine objektive Beurteilung auf der anderen Seite. Reiner glaubt, die persönliche Willensorientierung vollziehe sich intuitiv, während die objektive Beurteilung kognitiv vor sich gehe, was sicher nicht richtig ist. Intuitive Entscheidungen werden vielmehr häufig für den Mangel an Überlegung und Abwägung getadelt; wir unterstellen also, dass sie an kognitiven Maßstäben ausrichtbar sind. Die Beiträge der phänomenologisch-hermeneutischen Tradition zur Moralphilosophie sind reich und vielfältig (für einen Überblick s. Drummond/Embree 2002). Um sie halbwegs angemessen darzustellen, müsste man über eine Fülle von Autor (inn)en sprechen: zumindest über Edmund Husserl und Martin Heidegger, Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Hans-Georg Gadamer und Paul Ricœur. Für alle Genannten gilt jedoch, dass Ethik eher ein Nebenthema – oft ein recht marginales – ihres philosophischen Denkens darstellt. Die zentrale Ausnahme hiervon ist Emmanuel Levinas. In seiner Auseinandersetzung mit Husserls transzendentaler Phänomenologie und mit Heideggers Fundamentalontologie behauptet er den Primat der Ethik im Sinn einer ›Ersten Philosophie‹. Eine Inspirationsquelle bildet dabei auch Martin Bubers Dialogphilosophie der Ich-DuBeziehung (1923). Levinas versteht seine Moralphilosophie als eine anti-ontologisch ausgerichtete ›Metaphysik‹, deren thematisches Zentrum die von der Tradition angeblich missachtete Andersheit oder Exteriorität bilden soll. Levinas’ Hervorhebung radikaler Alteritätserfahrung, besonders in dem Werk Totalität und Unendlichkeit (Totalité et infini 1961), richtet sich gegen die Vereinnahmung des Anderen in ein objektivierendes Totalitäts147 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Teleologische Ethiken

denken; betont wird stattdessen der Vorrang der Begegnung »von Angesicht zu Angesicht«. Dem »Anspruch des Anderen« ausgesetzt zu sein, ist zentral für diesen »Humanismus des anderen Menschen«. Sachliche Probleme der Levinas’schen Ethik sind: Der Primat der Begegnung mit dem Anderen wird nicht weiter begründet, sondern bloß »phänomenologisch aufgewiesen«; seine Position ist damit in ähnlicher Form angreifbar wie der Intuitionismus. Sodann scheint der Appellcharakter der Begegnung mit dem Anderen zu vage und zu instabil, um moralisches Handeln zuverlässig auslösen und dauerhaft motivieren zu können, besonders bei zeitlich und räumlich fernstehenden Personen, etwa künftigen Generationen. Schließlich führt keine erkennbare Brücke von dieser Ethikform zu konkreten Handlungsanweisungen, Güterabwägungen oder ethischen Anwendungsproblemen. Sie scheint kaum operationalisierbar zu sein.

148 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

4. Deontologische Ethiken

Wie am Beginn des vorigen Kapitels ausgeführt (oben S. 98), resultiert der Unterschied zwischen teleologischen und deontologischen Ethiken aus deren jeweiliger Verhältnisbestimmung zwischen ›dem Guten‹ und ›dem Richtigen‹. Gemeinsames Merkmal aller deontologischen Ethiken ist es, das Richtige zu priorisieren und dann, in Abhängigkeit hiervon, Fragen des Guten zu behandeln. Kant beispielsweise wirft in seiner Grundlegung zunächst die Frage auf, was die ›reine praktische Vernunft‹ von uns verlangt, und gibt hierauf die Antwort, das moralische Gesetz gebiete mittels eines Kategorischen Imperativs; erst danach darf es ihm zufolge um Fragen der Glückseligkeit und des höchsten Guts gehen. Daraus ergibt sich, dass deontologische Ethiken das Gesamtfeld aller Handlungen typischerweise in drei Klassen einteilen: in moralisch gebotene, verbotene und erlaubte (indifferente). Erlaubte Handlungsoptionen dürfen – zumindest in Kants Modell – erst dann gewählt werden, wenn die Anforderungen seitens gebotener und verbotener Handlungen bereits erfüllt sind. Nach einer zusätzlichen Charakterisierung von Samuel Scheffler (1982: 83) lassen sich viele deontologische Ethiken dadurch kennzeichnen, dass sie dem Handelnden ›akteurzentrierte Restriktionen‹ auferlegen. Scheffler zufolge liegt das Proprium dieser deontologischen Ethikkonzeptionen darin, dass eine Akteurin A, der etwas moralisch geboten ist, sich auch dann an diese Verpflichtung halten muss, wenn voraussehbar ist, dass ihr Verhalten die Nichteinhaltung der Pflicht durch eine Akteurin B zur Folge hat. Der springende Punkt ist hier, dass die Akteurin jeweils selbst die primäre, nicht-vertretbare Adressatin moralischer Pflichten ist, unabhängig vom zu erwartenden Verhalten anderer; sie darf ihre Regelbefolgung nicht von der Regelbefolgung anderer abhängig machen. Solche deontologischen Ethiken richten somit unausweichliche oder unentrinnbare Pflichten an uns; man 149 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Deontologische Ethiken

spricht dabei auch von ›praktischer Notwendigkeit‹. Neben akteurzentrierten deontologischen Ethiken gibt es allerdings auch akteurneutrale und adressatenzentrierte Ansätze: Sie formulieren Pflichten aus der Perspektive von Rechtsträgern, deren Ansprüche primär erfüllt werden müssen; demgegenüber ist es sekundär, wer die betreffenden Pflichten zu erfüllen hat. Was aber macht Handlungen überhaupt richtig, falsch oder indifferent? Während der Konsequentialismus, wie wir sahen, behauptete, die moralische Handlungsbewertung ergebe sich aus den Handlungsfolgen, lauten zwei von deontologischer Seite gegebene Antworten: Dies geschieht mit Blick auf die Intention des Handelnden oder aber durch die Handlungsklasse, in die eine Option fällt. Eine Lüge beispielsweise kann moralisch schlecht sein, weil die Täuschungshandlung in böser Absicht verfolgt wird – oder aber bereits als solche: als Täuschungshandlung, gleichgültig mit welcher Absicht sie vollzogen wird. Hier gelangen deontologische Ansätze zu unterschiedlichen Einschätzungen.

4.1 Ältere Formen der Pflichtethik Man könnte annehmen, die teleologischen Ethiken hätten die ältere Geschichte der Moralphilosophie allein bestimmt. Grundsätzlich scheint das zuzutreffen. Doch in gewisser Weise ist die deontologische Ethik so alt wie Sokrates. Während man Sokrates früher ausschließlich als teleologischen Eudämonisten ansah, gewinnt in der neueren Forschung die Deutung an Plausibilität, wonach seine Ethik auch wesentliche deontologische Elemente aufweist. Denn er betrachtete sich als von dem Gott Apollon beauftragten Mahner, der einen politisch-erzieherischen Auftrag für seine athenischen Mitbürger wahrzunehmen habe (vgl. u. a. Gómez-Lobo 1994; Horn 2008). In die Richtung einer solchen göttlichen Gebotsethik weisen besonders das von ihm betonte delphische Gebot ›Erkenne dich selbst‹ und die Vorstellung der Mission, die er streng zu befolgen habe (Apologie 28e-29a). Neben der platonischen Apologie erscheint die Idee einer göttlichen Beauftragung des Sokrates etwa auch im Theaitetos im Kontext der 150 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Ältere Formen der Pflichtethik

berühmten Hebammenpassage, wo er ausdrücklich von sich sagt: »Urheber der Entbindung sind der Gott und ich« (150d) und feststellt, er besitze eine göttliche Stimme (daimonion), die ihm manchmal etwas verbiete, manchmal auch zurate (151a). Zudem lässt Platon ihn sagen, man müsse (dein) beim Handeln allein darauf achten, ob etwas gerecht oder ungerecht sei und die Taten eines guten oder bösen Menschen seien (Apologie 28b7–9); wer Unrecht getan habe, müsse dafür Strafe leiden (Euthyphron 8d–e), Unrecht tun sei ausnahmslos schlimmer als Unrecht leiden (Kriton 48d, Gorgias 469b). Sokrates sagt explizit, das Verbot des Unrechttuns lasse sich als strikt und unumstößlich erweisen, nämlich »mit eisernen und stählernen Argumenten« (Gorgias 508e–509a). Eine Schlüsselpassage für eine mögliche deontologische Ethik des Sokrates ist zudem folgende Textstelle (Kriton 49c10–d9): »Sokrates. Somit darf man weder Unrecht mit Unrecht vergelten noch irgendeinem Menschen Böses antun, auch wenn man was auch immer von ihm erleidet. Und sieh zu, Kriton, dass du, wenn du dies einräumst, nicht entgegen deiner Meinung zustimmst. Denn ich weiß wohl, dass nur wenige dies glauben und glauben werden. Für die, denen dies richtig scheint, und für die, denen nicht, existiert keine gemeinsame Beratungsebene; vielmehr müssen sie einander notwendig geringachten, wenn einer die Überlegungen des anderen sieht. Überlege nun also auch du genau, ob du mit mir gemeinsame Sache machst und übereinstimmst und wir von hier aus zu überlegen beginnen, dass man weder Unrechttun noch Vergeltung üben darf, oder ob du Abstand nehmen willst und diesem Ansatzpunkt nicht zustimmst.«

Sokrates verlangt hier strikt, dass wir unter keinen Umständen Unrecht mit Unrecht vergelten – gleichgültig, was ein anderer uns auch antut. Er selbst hält dieses moralische Gebot für streng gültig und meint, dass die wenigsten es als richtig ansähen. Zwischen den Verteidigern und den Gegnern gebe es, so sagt er, »keine gemeinsame Beratungsebene«; denn die meisten hielten zumindest eine gewisse Vergeltung von Übeltaten für angemessen. 151 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Deontologische Ethiken

Dieser Gedanke impliziert, wie es scheint, klar die deontologische Idee einer unvertretbaren Verpflichtung des Moraladressaten. Aristoteles ist zwar mit Sicherheit insgesamt als ›teleologischer Eudämonist‹ einzuordnen (s. Kap. 3.1), aber es gibt bei ihm auch starke deontologische Elemente. Das wichtigste hiervon sind die ›moralischen Absoluta‹, die man bei ihm an mehreren Stellen findet. In Nikomachische Ethik VIII.13 beispielsweise sagt Aristoteles über das Verhältnis von Herrn und Sklaven (1161b6–9): »Sofern er also Sklave ist, gibt es keine Freundschaft zu ihm, sondern nur sofern er Mensch ist. Denn es scheint eine Gerechtigkeit zu geben für jeden Menschen gegenüber jedem, der fähig ist, an Gesetz und Vertrag teilzunehmen, und so auch eine Freundschaft, sofern er ein Mensch ist.«

Der Textpassage zufolge existieren Gerechtigkeitsforderungen, die jeder Mensch in Bezug auf jeden anderen erfüllen muss, und zwar unabhängig vom sozialen Status einer Person. Die zentrale Passage für moralische Absoluta bei Aristoteles ist aber zweifellos Nikomachische Ethik II.6 (1107a8–27), wo Aristoteles ausdrücklich feststellt, dass nicht alle Fälle praktischen Überlegens durch jenes Verfahren bewältigt werden können, das er selbst gerade eingeführt hat: die Lehre vom Mittleren (mesotês). In seiner Tugendkonzeption ist Aristoteles der Ansicht, Tugend sei als die richtige Mitte zwischen zwei extremen Haltungen anzusehen; so sei Tapferkeit die richtige Mitte zwischen Feigheit und Tollkühnheit (dazu unten S. 243). Es gebe aber auch Fälle, in denen bestimmte Emotionen oder Handlungen strikt verboten seien. Solche verbotenen Emotionen (pathê) sind für Aristoteles u. a. Schadenfreude, Unverschämtheit und Neid; verbotene Handlungen sind etwa Ehebruch, Diebstahl oder Mord. In diesen Fällen ist es sinnlos, die mesotês-Methode anzuwenden und nach einem richtigen Maß zu suchen – denn für Mord gibt es kein richtiges Maß, er bleibt vielmehr immer moralisch unzulässig. In Politik VII.2 verbietet Aristoteles jede Spielart der Jagd auf Menschen »zum Verzehr oder Opfer« (1324b39–40). An weiteren Textstellen finden wir die Idee praktischer Notwendigkeit in Verbindung 152 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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mit Ausdrücken für Sollen, nämlich to deon und to prepon. Offenbar ist Aristoteles nicht weit von einem Modell entfernt, in dem strikte Pflichten mit vorrangiger Bedeutung formuliert werden. Vielfach meint man, die Stoiker seien in der Antike der deontologischen Ethik am nächsten gekommen; aber das ist falsch. Obwohl die Stoiker die Idee der praktischen Notwendigkeit in ihren Begriffen kathêkon (›angemessenes Verhalten‹) und kathortôma (›moralisch richtiges Verhalten‹) berührten, vertreten sie insgesamt keine deontologische Position. Ein kathêkon ist weder kategorisch geboten, noch muss es bewusst vollzogen sein, noch zählt es zum Bereich des moralisch Guten, d. h. zur Tugend. Vielmehr gilt ein kathêkon lediglich als ›wertvoll‹ (axion); dabei ist es genau genommen noch nicht einmal ein Gut, sondern etwas ›bevorzugt Indifferentes‹ (proêgmenon). Dagegen bezeichnet der Begriff katorthôma das bewusst gewählte, moralisch richtige Handeln, sofern es aus einer angemessenen inneren Motivation vollzogen wird (vgl. SVF III.498); doch auch das katorthôma lässt sich nicht als Pflicht verstehen, sondern als freiwillige tugendhafte Handlung. Es war Cicero, der besonders mit seiner Schrift De officiis wichtige Impulse für die deontologische Ethik des Mittelalters und der frühen Neuzeit gegeben hat. Er selbst ist aber kein Deontologe; vielmehr folgt er der Stoa, genauer Panaitios, indem er das kathêkon unter der lateinischen Bezeichnung officium medium für die Standardnorm eines guten Lebens erklärt und das katorthôma als officium perfectum, d. h. als Idealnorm, interpretiert (De officiis I.3.8). Interessanter für die Geschichte der Deontologie sind denn auch diejenigen Stellen bei Cicero, die man als Ausgangspunkt der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Naturrechtstradition betrachtet: Cicero behauptet dort, es gebe ein wahres, vernünftiges, natürliches Gesetz, das universell gültig sei und unbedingte Forderungen an Staaten wie an Individuen richte (De re publica III 33): »Es ist aber das wahre Gesetz (vera lex) die richtige Vernunft (recta ratio), die mit der Natur in Einklang steht, sich in alle ergießt, in

153 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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sich konsequent, ewig ist, die durch Befehle zur Pflicht ruft, durch Verbieten von Täuschung abschreckt, die indessen den Rechtschaffenen nicht vergebens befiehlt oder verbietet, Ruchlose aber durch Geheiß und Verbot nicht bewegt. Diesem Gesetz etwas von seiner Gültigkeit zu nehmen, ist Frevel, ihm irgendetwas abzudingen, unmöglich, und es kann ebenso wenig als Ganzes außer Kraft gesetzt werden. Wir können aber auch nicht durch den Senat oder das Volk von diesem Gesetz gelöst werden, es braucht als Erklärer und Deuter nicht Sextus Aelius geholt zu werden, noch wird in Rom ein anderes Gesetz sein, ein anderes in Athen, ein anderes jetzt, ein anderes später, sondern alle Völker und zu aller Zeit wird ein einziges, ewiges und unveränderliches Gesetz beherrschen, und einer wird der gemeinsame Meister gleichsam und Herrscher sein: Gott. Er ist der Erfinder dieses Gesetzes, sein Schiedsrichter, sein Antragsteller, wer ihm nicht gehorcht, wird sich selber fliehen, und das Wesen des Menschen verleugnend, wird er gerade dadurch die schwersten Strafen büßen, auch wenn er den übrigen Strafen, die man dafür hält, entgeht.«

Der Text enthält ein eindrucksvolles Plädoyer für ein überpositives, überzeitlich-überkulturelles Natur- oder Vernunftrecht, welches weder von Menschen abwandelbar oder suspendierbar sein soll noch einer näheren Auslegung bedürfe. Dieses Naturrecht weist einen göttlichen Ursprung auf und soll normativ verbindlich für alle Staaten und Individuen sein. Offenbar ist mit der vera lex eine prinzipienorientierte Vernunftmoral gemeint. Der für die deontologische Tradition maßgebliche imperativische Aspekt liegt im Gesetzesbegriff, der gleich fünfmal im obigen Zitat erscheint. In der Philosophie der christlichen Tradition muss besonders Thomas von Aquin als Wegbereiter der deontologischen Ethik angesehen werden. Inspiriert von den strikten Formulierungen des biblischen Dekalogs (Exodus 20,1–21: ›Du sollst nicht töten‹ u.a.) erklärt Thomas als einer der ersten Moralphilosophen bestimmte Handlungsarten für an-sich-gut, schlecht oder indifferent (Summa theologiae I-II 18, 2 und 5; 19, 2). Er schließt hieraus, Einzelhandlungen müssten immer entweder gut, schlecht oder indifferent sein (I-II 19). Für eine teleologische Moral154 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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philosophie wirkt dies überraschend, weil es für sie eigentlich nur auf den Ort einer Handlung innerhalb der Strebensordnung ankommt; insofern scheinen für die Handlungsbewertung allein telos-bezogene Überlegungen erforderlich. In teleologischen Ethiken gelten Mord, Diebstahl, Körperverletzung oder Betrug denn auch nur deswegen als verboten, weil sie der Tugend und dem Streben nach dem letzten Ziel zuwiderlaufen, und nicht, weil sie selbst unmittelbar als schlecht identifizierbar wären. Thomas dagegen legt einen starken Akzent darauf, dass sich Handlungsarten im absoluten Sinn moralisch qualifizieren lassen. Nach Thomas konstituieren sich Handlungsarten durch ihren Gegenstand (obiectum), also durch den Gehalt einer Handlung; öffne ich z. B. eine Tür, so gehört dieser Akt zunächst der Handlungsart des Türöffnens an. Im eigentlichen Sinn artbestimmend wirkt sich jedoch der jeweilige Zweck aus (Summa theologiae I-II 1, 3 und 18, 2 ff.). Würde etwa jemand eine Tür öffnen, um in räuberischer Absicht in eine fremde Wohnung einzudringen, so wäre der Akt des Türöffnens nach Thomas nunmehr nicht der Handlungsart ›Türöffnen‹, sondern der Art ›Einbruch‹ zuzuordnen. Der primäre Aspekt der Beurteilung einer Handlung liegt also in ihrer Materie und besonders in ihrer Form; es soll allerdings mitunter Fälle geben, in denen auch Handlungsumstände artkonstitutiv sein können (I-II 18,10). Wenn ein Diebstahl etwa in einer Kirche verübt wird, liegt nach Thomas die Handlungsart sacrilegium vor; Thomas bezeichnet diese Sonderwirkung eines Handlungsakzidens auf die Vernunftordnung als dessen ›Spezialrepugnanz‹ (repugnantia specialis: dazu I-II 73,3 und II-II 66,3 und Nisters 1992). Jedoch, was auch immer eine Art konstituiert, die Pointe einer Betrachtung von Handlungsarten liegt immer darin, Einzelfälle aus ihren Kontexten lösen zu können und allgemeine Urteile zu ermöglichen. Denn auch wenn das eigentlich Schlechte im finis oder der intentio liegt, ist Thomas keineswegs der Ansicht, ein Einbruch oder ein Diebstahl sei nur dann schlecht, wenn Selbstbereicherung das zentrale Motiv darstellt. Vielmehr sollen Einbruch oder Diebstahl bereits als Handlungsarten schlecht sein. Anders gesagt, es kann nach Thomas keinen legitimen Diebstahl geben, etwa einen Diebstahl mit dem Ziel, 155 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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reichlich Almosen zu verteilen (I-II 18,7). Thomas plädiert damit zweifellos für eine Ethik der akteurzentrierten Restriktionen: Man kann bestimmte Handlungen absolut verwerfen oder gutheißen, gleichgültig welche Folgen sich aus ihnen ergeben; kein Akteur hat das Recht, im Blick auf den eminenten sozialen Nutzen einen Diebstahl zu begehen. Schön zum Ausdruck kommt Thomas’ Affinität zur Deontologie in der ›Gerichtspassage‹ von Summa theologiae I-II 19,10. Dort entwickelt Thomas eine Art deontologischer Rollentheorie der Moralverpflichtung: Jeder Mensch muss an seiner jeweiligen Stelle dasjenige tun, wozu er oder sie verpflichtet ist. So muss bei einem Strafprozess der Richter (wir würden eher sagen: der Staatsanwalt) die Bestrafung (hier: die Hinrichtung) des Angeklagten anstreben, während die Ehefrau des Delinquenten einen Freispruch wollen soll. Der Richter ist primär dem Gemeinwohl (bonum commune) und der Gerechtigkeit (iustitia) verpflichtet, die Ehefrau dagegen in erster Linie dem Privatwohl der Familie (bonum privatum familiae). Nach Thomas entsteht hier kein Widerspruch zwischen dem allgemeiner orientierten Wollen des Richters und dem spezielleren Wollen der Ehefrau, solange das Wollen beider, welche jeweils mehr oder weniger eingeschränkte Güter anstreben, nur auf das letzte umfassende Ziel bezogen bleibt. Thomas nennt diese Letztorientierung am umfassenden Gut ein ›formal Gewolltes‹ (volitum formaliter), das inhaltlich Angestrebte dagegen das ›material Gewollte‹ (volitum materialiter). Daraus leitet er die Regel ab, dass Menschen nicht versuchen sollten, sich dem göttlichen Willen materialiter anzugleichen; es genüge vielmehr, dass jede und jeder inhaltlich seine Primärverpflichtungen erfüllt. In Thomas’ Worten: »Daher pflegt man auch zu sagen, dass der menschliche Wille dem göttlichen insofern angeglichen wird, als er das will, von dem Gott will, dass er es will.«

Berühmt ist in diesem Zusammenhang auch Thomas’ ›Lehre von der Doppelwirkung‹ (duplex effectus-Theorie): Sie erlaubt beispielsweise einer Ärztin, einen Patienten, der sich in einem 156 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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schwierigen Zustand befindet, als letztes Mittel einer Operation zu unterziehen, auch wenn deren Erfolgsaussichten eher ungünstig sind – vorausgesetzt, dass im gegebenen Fall die allgemeinen Überlebenschancen gering sind. Hierbei gilt generell, dass die intendierte Folge einer Handlung niemals schlecht sein darf; wohl aber kann die nicht-intendierte, nur hingenommene Folge schlecht ausfallen, ohne dass ein Akt deswegen zwangsläufig schlecht sein müsste (Summa theologiae II-II 64,7; De malo I.3 ad15; dazu Matthews 1999). Zwar können gute Handlungsfolgen eine schlechte Handlung niemals gut machen (gemäß dem angeblich jesuitischen Grundsatz ›Der Zweck heiligt die Mittel‹); aber schlechte Handlungsfolgen darf man bei guten Handlungen dann vernachlässigen, wenn sie nicht-intendiert oder unwillentlich (involuntaria) sind. Noch ein anderer Punkt ergibt sich aus Thomas’ Sympathie mit der deontologischen Ethik: seine Idee der moralischen Verdienstlichkeit oder Supererogation (Summa theologica II-II 58,3). Damit ist der Bereich moralisch guter Handlungen bezeichnet, soweit diese über das Maß des von Akteuren (zumutbarerweise) Geforderten hinausgehen. Von gewöhnlichen Menschen kann man nicht verlangen, dass sie allzu große Opfer für die Moral bringen. Denen, die dies dennoch tun, wird ihr Verhalten nach Thomas’ Auffassung von Gott gleichsam als ›Verdienst‹ angerechnet. Die Idee scheint von der biblischen Geschichte vom ›barmherzigen Samariter‹ inspiriert zu sein: Der Erzählung zufolge macht sich zwar nicht schuldig, wer einen Verletzten am Straßenrand lediglich erstversorgt; wer ihn aber zusätzlich noch beherbergt und mit Geld ausstattet, macht sich um ihn verdient (Lukas 10,25–37). Man unterscheidet in der modernen Debatte häufig zwischen Heldensupererogation und Heiligensupererogation: Denn heroische Individuen erbringen moralische Ausnahmeleistungen aufgrund von ganz anderen persönlichen Merkmalen und Einstellungen als Heilige; in der traditionellen Tugendsprache ausgedrückt, sind Heroen eher tapfer und wehrhaft, Heilige eher demütig und selbstopfernd. Auch in der modernen Ethik scheint es grundsätzlich einen Platz für solche außergewöhnlichen Charaktervorzüge zu geben (J. O. Urmson 1958 und U. Wessels 2002). 157 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Von Thomas ausgehend gewinnen Gebotsethiken in der Naturrechtstradition immer stärker an Bedeutung: Zentral ist hier die Zweiteilung der Pflichten in officia perfecta und officia lata (oder imperfecta). Auf Hugo Grotius geht zunächst die Unterscheidung zwischen vollkommenen und unvollkommenen Rechten zurück, auf Samuel Pufendorf dann die entscheidende Distinktion zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten (vgl. Schneewind 2010: 184). Das Eigentumsrecht an einem Objekt beispielsweise ist nach Grotius ›vollkommen‹; es darf daher auch durch Einsatz von Gewalt verteidigt werden. Um der christlichen Forderung nach Nächstenliebe zu genügen, gibt es aber nach Grotius auch unvollkommene Rechte, etwa dasjenige des Bettlers auf die Almosen der Wohlhabenden (De iure belli ac pacis I.1,4–8; III.13,4). Vollkommene Pflichten sind bei Pufendorf solche, die ihren Adressaten strikt und präzise binden, während unvollkommene Pflichten nicht exakt vorschreiben, wie ein Handlungsgebot zu erfüllen ist (De iure naturae et gentium I.1, 19 f.). Viele der teleologischen Ethiken, die zugleich deontologische Elemente aufweisen, haben die gemeinsame Schwäche, dass sie aus ›göttlichen Gebotsethiken‹ (divine command ethics) hervorgegangen sind. Wie wir sahen, gilt dies bereits für Sokrates’ Ethik. Störend daran wirkt, dass es sich insofern nicht um Ethiken der Autonomie handelt. Das narrative Paradigma einer göttlichen Gebotsethik findet sich in der biblischen Geschichte vom IsaakOpfer: Gott befiehlt dort Abraham, seinen Sohn Isaak wie ein Opfertier zu schlachten (Genesis 22,1–19; zur mittelalterlichen Rezeption vgl. Mandrella 2002). Das führt zu der wichtigen philosophischen Frage: Soll man göttliche Gebote, auch wenn sie vernunftwidrig sind, immer und unbedingt befolgen? Selbst wenn Gott am Ende der Isaak-Geschichte sein Gebot zurücknimmt, bleibt es doch dabei, dass er Abraham zwischenzeitlich seiner vernünftigen und moralischen Autonomie beraubt hat. Solche Divine command-Ethiken werden aber durchaus auch systematisch vertreten; in der modernen Debatte waren es etwa Philip Quinn (1978) und Robert Adams (1999), die göttliche Gebotsethiken verteidigt haben. Schon Platon hat das angedeutete Problem gesehen; man be158 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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zeichnet es nach einem seiner Dialoge als das Euthyphron-Dilemma. Der Kontext ist dort folgender (5c–11d): Sokrates (als platonische Dialogfigur) ist überrascht darüber, dass der Priester Euthyphron seinen eigenen Vater wegen Tötung eines Sklaven vor Gericht ziehen will. Seinen eigenen Vater anzuklagen, scheint ›unfromm‹ (anhosion) zu sein. Ist eine Strafverfolgung, so die Frage des anschließenden Dialogs, auch dann ›fromm‹ (hosion), wenn sie einen nahen Verwandten betrifft? Muss man allgemein Frömmigkeit als das definieren, was die Götter lieben, wie Euthyphron dies tut? Das liefe auf die Idee göttlicher Willkür als der Quelle moralischer Verbindlichkeit hinaus. Daher die Schlüsselfrage des Sokrates (10a1–3): »Überlege aber das Folgende: Wird das Fromme, weil es fromm ist, von den Göttern geliebt, oder ist es fromm, weil es von den Göttern geliebt wird?«

Generell formuliert: Gebieten die Götter das, was (unabhängig von ihnen) moralisch richtig ist, oder ist ein Gebot deswegen moralisch richtig, weil die Götter es aufstellen? Platon wendet sich klar gegen eine Divine command-Ethik, den zweiten Flügel dieser Alternative. Dagegen hat beispielsweise Wilhelm von Ockham die Auffassung vertreten, dass Diebstahl und Mord für uns dann moralisch geboten wären, wenn Gott sie uns im Einzelfall direkt befehlen würde (Super 4 libros Sententiarum I d.48). Eine weitere Schwäche solcher teleologisch-deontologischer Ethiken besteht darin, dass die Gebotselemente letztlich nicht rein moralisch motiviert sind, sondern als zu erfüllende Forderungen auf dem Weg des Individuums zu seinem persönlichen Glück erscheinen. Dies verträgt sich allerdings schlecht mit der Idee von Moralität, nach der das moralisch Richtige allein dann mit einer angemessenen Motivation getan wird, wenn dies nicht (und sei es noch so indirekt oder versteckt) zum eigenen Vorteil geschieht; die einzig richtige moralische Motivation ist die Einsicht in Richtigkeit und Gebotenheit der betreffenden Handlung. Damit sind wir bei einer Grundidee der Moralphilosophie Kants angekommen. 159 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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4.2 Kants Moralphilosophie Der frühe Kant durchlief verschiedene Stadien der Meinungsbildung in Fragen der Ethik; u. a. scheint er vorübergehend mit einer Gefühlsethik (s. Kap. 6) sowie mit einem Perfektionismus sympathisiert zu haben. Seine eigentliche Moralphilosophie formuliert er jedoch erstmals in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) und dann nochmals in der Kritik der praktischen Vernunft (1788). Wichtig ist auch die späte Metaphysik der Sitten (1797) mit ihren beiden Teilen Rechtslehre und Tugendlehre sowie verschiedene kleinere Schriften der 1790er Jahre. Kants maßgeblichen Ausgangspunkt in der Grundlegung bildet die Ansicht, man müsse eine angemessene Moralphilosophie von allen empirischen Elementen freihalten und auf der Basis dessen konzipieren, was er als ›reine praktische Vernunft‹ bezeichnet. Einzig auf diesem Fundament soll es möglich sein, den strikten Nötigungs- oder Gebotscharakter der Moral richtig zu verstehen. Kant will dabei von unserer geteilten Moralvorstellung ausgehen; deswegen versucht er zunächst anzugeben, was wir meinen, wenn wir etwas als gut ohne jede Einschränkung bezeichnen. Er vertritt die Auffassung, die gesuchte Größe, das moralisch schlechthin Gute im gewöhnlichen Verständnis, liege im ›guten Willen‹. Für das Moralprinzip des guten Willens will er anschließend eine philosophisch angemessene Formulierung liefern und gelangt auf diesem Weg zum Begriff eines ›Handelns aus Pflicht‹. Nur wer demnach eine pflichtgemäße Handlung zusätzlich aus Pflicht ausführt, d. h. sich die Einsicht in die moralische Richtigkeit der Handlung auch zum Handlungsmotiv macht, handelt mit einem vollen moralischen Wert. Auf der Basis des Pflichtbegriffs wiederum nimmt Kant seine berühmte Unterscheidung zwischen hypothetischen und kategorischen Imperativen vor: Sollenssätze (das meint der Ausdruck ›Imperative‹) können entweder zu Handlungen auffordern, die von bestimmten Zwecksetzungen des Akteurs abhängig sind (hypothetische Imperative), oder sie können von solchen Zwecken unabhängig und damit strikt gebieten (kategorische Imperative). Hypothetische Imperative gebieten Handlungen entweder relativ 160 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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zu einem Zweck, den ein Akteur haben kann oder nicht (problematischer hypothetischer Imperativ); ein Beispiel wäre ›Verwende für deine Gartenarbeit einen Spaten!‹ – vorausgesetzt, dass jemand das Umgraben des Gartens effizient und gründlich ausführen will. Oder aber sie gebieten Handlungen relativ zu einem Zweck, der bei jedem Akteur mit Sicherheit anzunehmen ist (assertorischer hypothetischer Imperativ); mit diesem Zweck meint Kant das Glück, von dem er annimmt, er sei das allgemeine menschliche Strebensziel (beispielsweise ›Achte auf eine bewusste Life-workbalance!‹). Kategorische Imperative hingegen gebieten nicht relativ zu den Zwecksetzungen eines Akteurs, sondern binden den Akteur absolut – im Sinn einer akteurrelativen Restriktion. Kants oberstes Moralprinzip, der Kategorische Imperativ, von welchem im Textverlauf drei verschiedene Formeln angegeben werden, soll einerseits als Auffindungsregel des moralisch Richtigen zu verstehen sein und andererseits auch unmittelbar als Handlungsgrund dienen. Insofern ist er sowohl oberstes Bewertungs- als auch Handlungsprinzip. (I)

Die Allgemeine-Gesetzes-Formel (AGF): »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (4: 421,7–8). (Ia) Die Naturgesetzformel (NGF): »Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte« (4: 421,18–20). (II) Die Menschheit-als-Selbstzweck-Formel (MSF), auch: Zweck-an-sich-Formel, Selbstzweckformel, Menschheitsformel: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« (4: 429,10–12). (III) Die Autonomieformel (AF): Handle »nur so, dass der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten« kann (4: 434,12–14). (IIIa) Die Reich-der-Zwecke-Formel (RZF): »Handle nach Maximen eines allgemein gesetzgebenden Gliedes zu einem bloß möglichen Reich der Zwecke« (4: 439,1–3).

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Natürlich fragt man sich insbesondere, ob und wie der berühmte Maximentest funktionieren mag, den Kant mit der AGF sowie der NGF verbindet. Zunächst, eine Maxime ist eine subjektive Handlungsregel; nach Kant handeln wir immer und unausweichlich nach selbstgegebenen Maximen. Kant erläutert nun die AGF anhand von vier Beispielsfällen: (a) dem Selbsttötungsverbot, (b) dem Betrugs- oder Täuschungsverbot, (c) dem Verbot der Selbstverwahrlosung und (d) dem Verbot der zwischenmenschlichen Gleichgültigkeit. Kant bezeichnet die (aus der Negation der entsprechenden Verbote logisch folgenden) Gebote (a) und (b) etwas später im Text als ›strenge oder engere (unnachlassliche)‹ Pflichten, während er (c) und (d) als ›weitere (verdienstliche)‹ Pflichten charakterisiert. Diese Differenzierung von strikten und weiten Pflichten basiert auf einer Unterscheidung zwischen einem ›Denkkriterium‹ und einem ›Wollenskriterium‹ (4: 424): »Man muß wollen können, daß eine Maxime unserer Handlung ein allgemeines Gesetz werde: dies ist der Kanon der moralischen Beurteilung derselben überhaupt. Einige Handlungen sind so beschaffen, daß ihre Maxime ohne Widerspruch nicht einmal als allgemeines Naturgesetz gedacht werden kann; weit gefehlt, daß man noch wollen könne, es sollte ein solches werden. Bei andern ist zwar jene innere Unmöglichkeit nicht anzutreffen, aber es ist doch unmöglich, zu wollen, daß ihre Maxime zur Allgemeinheit eines Naturgesetzes erhoben werde, weil ein solcher Wille sich selbst widersprechen würde. Man sieht leicht: daß die erstere der strengen oder engeren (unnachlaßlichen) Pflicht, die zweite nur der weiteren (verdienstlichen) Pflicht widerstreite, und so alle Pflichten, was die Art der Verbindlichkeit (nicht das Objekt ihrer Handlung) betrifft, durch diese Beispiele in ihrer Abhängigkeit von dem einigen Prinzip vollständig aufgestellt worden.«

Was das Denkkriterium zunächst mit dem Willenskriterium gemeinsam hat, ist die folgende Struktur: Alle vier ausgeführten Beispiele praktischen Überlegens beruhen darauf, dass eine Maxime entweder als ›moralisch erlaubt‹, nämlich als gesetzesförmig 162 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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universalisierbar, oder als ›moralisch unerlaubt‹, nämlich als nicht in Gesetzesform verallgemeinerbar, erwiesen wird. Somit ergeben sich moralische Pflichten aus Kants Prüfverfahren genau dann, wenn sich das kontradiktorische Gegenteil einer verallgemeinerungsfähigen Maxime, also ihre Negation, als moralisch unerlaubt herausstellt, und d. h. nicht als ein Gesetz verallgemeinerbar ist. Eine Maxime des Typs ›Ich will täglich um 7 Uhr aufstehen‹ erweist sich folgerichtig als moralisch indifferent, weil sie ebenso problemlos verallgemeinerbar ist wie ihre Negation. Wie lassen sich nun aber die strengen Pflichten formal von den weniger strengen unterscheiden? Kant verwendet in der Grundlegung das oben zitierte Doppelkriterium. Strenge Pflichten, so Kant, kann man identifizieren, indem man Maximen, die gegen sie verstoßen, in verallgemeinerter Form weder zu denken noch (a fortiori) zu wollen vermag. Verdienstliche Pflichten hingegen sind daran erkennbar, dass man Maximen, die mit ihnen unverträglich sind, zwar als universell geltend denken, nicht aber als universell geltend wollen könne. Als strenge Pflicht erweist sich eine Maxime somit genau dann, wenn sie als allgemeines Gesetz gedacht und gewollt werden kann, während ihr Gegenteil als allgemeines Gesetz weder gedacht noch gewollt werden kann. Eine verdienstliche Pflicht liegt mithin vor, wenn eine Maxime als allgemeines Gesetz gedacht und gewollt werden kann, während ihr Gegenteil als allgemeines Gesetz nur gedacht, nicht aber gewollt werden kann. Wie ist aber nun das Prüfverfahren der AGF und der NGF zu rekonstruieren? Zunächst zur logischen Interpretation des Denkwiderspruchs. Es gibt gute prima facie-Gründe dafür anzunehmen, dass Kant als Prüfkriterium für die Moralität kein rein formales Universalisierungsverfahren im Sinn einer logischen Konsistenzprüfung gemeint haben kann. Denn die Unzulänglichkeit eines solchen Kriteriums wäre so eklatant, dass man es Kant an einer so zentralen Systemstelle kaum zuschreiben möchte: Weder sind alle unmoralischen Maximen logisch widersprüchlich noch alle logisch widersprüchlichen Maximen unmoralisch. Ein logischer Widerspruch bei der Verallgemeinerung einer Maxime ergibt sich vielmehr nur in wenigen Fällen, z. B. dann, wenn ein 163 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Allquantor im Spiel ist, etwa wenn sich jemand ein Besitzrecht auf alle Güter einräumen will (›Ich werde mir alles aneignen, womit ich in Berührung komme‹), oder dann, wenn jemand ein singuläres Ereignis in seine Maxime aufnimmt (›Ich mache es mir zum Grundsatz, jeden Morgen der erste Kunde im Bäckerladen zu sein‹). Weder kann sich jedes Individuum alles aneignen, noch kann jeder der erste Kunde in demselben Geschäft sein. Von Kants eigenen Beispielen wäre nur dasjenige des falschen Versprechens triftig, da eine Maxime, nach der jemand in betrügerischer Absicht die Rückzahlung geliehenen Geldes in Aussicht stellen würde, in universalisierter Form zu einem Widerspruch führen würde: Man kann sich keine Welt vorstellen, in der zugleich die allgemeine Erwartung der Geldrückzahlung und die allgemeine Erwartung der Zulässigkeit eines Betrugs besteht. Der logische Widerspruch entsteht hier freilich nur deshalb, weil das Versprechen einen Fall institutionellen Handelns darstellt, das von vornherein die Wechselseitigkeit der Anerkennung bestimmter Standards voraussetzt. Eine Welt ohne die soziale Institution des Versprechens ist dagegen mühelos vorstellbar. Eine Maxime ohne Denkwiderspruch zum allgemeinen Gesetz machen zu können, muss stattdessen bedeuten, sie erfolgreich auf ihren Regelcharakter, ihre Ausnahmslosigkeit und Allgemeinheit, kurzum auf ihre Gesetzesförmigkeit hin geprüft zu haben. Ziehen wir zur Verdeutlichung jenen Analogiehorizont heran, den Kant bei der Naturgesetzformel im Sinn hat: den Bereich der physikalischen oder chemischen Naturgesetze, die Kant bekanntlich als ›apriorisch‹ ansieht. Angenommen, die mechanischen Fall- oder Bewegungsgesetze, so wie sie von Galilei bzw. Newton formuliert worden sind, ließen sich nicht auf alle beobachtbaren kinetischen Phänomene der makroskopischen Welt anwenden; vielmehr existierten Ausnahmen, und zwar von der Art, dass die Ausnahmefälle einerseits in ihrer Struktur regelförmig beschreibbar wären, andererseits aber in ihrem Auftreten unvorhersehbar wären. Manche Gegenstände verhielten sich also bisweilen nach anderen als den angegebenen Regeln, ohne dass sich eine gemeinsame übergeordnete Gesetzmäßigkeit ausmachen ließe. Nehmen wir weiter an, diese Unstimmigkeit ließe sich nicht durch eine Neu164 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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formulierung allgemeiner Fall- oder Bewegungsgesetze beheben. Unserem Gedankenexperiment zufolge könnte man eine solche Erfahrungssituation nicht mehr mittels einer einzigen, ausnahmslosen, konsistenten und ›apriorischen‹ Gesetzeshypothese einfangen. Vielmehr müsste dann unsere Erfahrung der Wirklichkeit als nicht gesetzesförmig beschreibbar bezeichnet werden: Manche Beobachtungen an herabfallenden oder sich bewegenden Gegenständen würden zu anderen Regeln führen als andere, und es bliebe unklar, wann die eine und wann die andere Regel angewandt werden müsste. Wäre die Naturwirklichkeit so zu beschreiben, so wäre Kants Lehre von der Einheit der Wirklichkeitserfahrung auf der Basis einer einheitlichen Vernunftleistung gefährdet. Die Möglichkeit einer vernunftförmigen Welterklärung wäre ganz oder zumindest partiell aufgehoben. Aus diesem Blickwinkel betrachtet liegt das Problem gesetzeswidriger Sonderfälle für Kant nicht darin, dass diese nicht ihrerseits regelhaft formulierbar wären, sondern darin, dass sie nicht Teil einheitlicher Fall- und Bewegungsgesetze werden könnten. Was Kant an unmoralischen ›pathologischen‹ Maximen beanstandet, ist so betrachtet, dass sie nicht in eine geregelte Weltordnung passen. Wie ist die Menschheit-als-Selbstzweck-Formel (MSF) zu verstehen? In welchem Sinn ist die Person ein »Zweck an sich selbst«? Angenommen, jemand würde seinen Sklaven gelegentlich mit einem Anflug von Freundlichkeit behandeln: Heißt dies bereits, dass er ihn nicht nur als Mittel gebraucht? Angenommen umgekehrt, jemand ließe sich von einem Kellner wortlos bedienen: Bedeutet dies, dass er ihn unzulässig, nämlich ausschließlich instrumentalisiert? Beides ist sicher zu verneinen. Zu klären sind zunächst die Begriffe ›Menschheit‹ und ›Person‹ innerhalb der MSF. Was Kants Rede von der Menschheit anlangt, so wäre es voreilig, dahinter einfach den Gattungsbegriff des Menschen zu vermuten. Denn Kant stellt kurz zuvor fest, ein für alle Vernunftwesen gültiger Zweck liege dann und nur dann vor, »wenn er durch bloße Vernunft gegeben« sei (4: 427). Noch deutlicher fällt die Aussage aus, die vernünftige Natur existiere als Zweck an sich selbst (4: 429); auch vom ›vernünftigen Wesen‹ als Selbstzweck ist die Rede (4: 436). Da Kant an anderen Stellen 165 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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überdies das moralische Gesetz oder die Freiheit des Menschen als Selbstzwecke auszeichnet, muss Menschheit im Sinn des noumenalen Anteils des Menschen zu verstehen sein. Kant unterscheidet mehrfach terminologisch zwischen der Menschheit (als dem homo noumenon) und dem Menschen (als dem homo phaenomenon); gemeint ist einerseits der Mensch als ›moralisches Wesen‹ und andererseits der Mensch als ›physisches Wesen‹. Interessanterweise deckt sich diese Unterscheidung mit der der Begriffe ›Persönlichkeit‹ und ›Person‹: Unter Persönlichkeit ist der Mensch als autonomes, intelligibles Wesen zu verstehen, unter Person das unter sinnlichen Bedingungen agierende Individuum, das »Subject einer moralisch-praktischen Vernunft« (6: 434). Wie funktioniert die MSF kriteriologisch? Am Beispiel des Verbots der Selbstverwahrlosung diskutiert: Warum sollte ich keine Negation meiner Selbstentwicklung in verallgemeinerter Form wollen können? Offenkundig meint Kant, dass ein notwendiges Wollen dann vorliegt, wenn jemand etwas unmöglich nichtwollen kann; eben dies gilt aber für die unterschiedlichen Bedingungen der Möglichkeit, Absichten zu verfolgen. Kants Verallgemeinerungstest für den Willen beruht somit keineswegs auf einer empirisch-anthropologischen Feststellung von der Art, dass ich bezüglich meiner selbst das prudentielle Ziel der Selbstentwicklung nicht verleugnen kann und insofern gut beraten bin, auch anderen Personen dieses Ziel zuzugestehen. Im Gegenteil, dass ich selbst ein solches Ziel haben muss, ergibt sich erst daraus, dass andernfalls ein Selbstwiderspruch innerhalb meines Willens auftreten würde. Ist diese Deutung richtig, so hat Kant folgendes im Sinn: Eine Person, die die Ziele X, Y und Z verfolgt, kann ihre Selbstverwahrlosung insofern nicht wollen, als sie damit das künftige Wollen von X, Y und Z oder das jetzige Wollen von A, B und C aufheben würde – und zwar unabhängig von der Frage, ob diese Aufhebung reversibel oder irreversibel wäre. Entschiede sich ein Individuum für eine partielle Selbstverwahrlosung, die mit der künftigen Verfolgung von X, Y und Z vereinbar wäre, dann wären ihr vielleicht nur die für sie erklärtermaßen uninteressanten Ziele A, B und C verbaut. In diesem Fall ergäbe sich ein Widerspruch erst aus der überindividuell-universalistischen Per166 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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spektive, nämlich insofern sich ein Wesen, das über einen Willen mit weiter entwickelter Reichweite verfügen könnte, für einen Willen mit eingeschränkterer Reichweite entschiede. Damit in diesem Fall ein Widerspruch entsteht, ist mithin durchaus eine rationale Selbstdistanzierung, also das Universalisierungsverfahren, erforderlich. Die von Kant geforderte Testprozedur erhält ihren Sinn erst dadurch, dass ich die Rolle eines unparteiischen Beobachters einnehme, der eigene und fremde Handlungsoptionen am Maßstab ihrer destruktiven oder konstruktiven Wirkung auf die eigene bzw. fremde Handlungsfähigkeit überprüft. Die MSF ist also auch als Moralitätskriterium durchaus praktikabel, solange man nämlich ›Zweck an sich selbst‹ auf die eigene oder fremde Handlungsfähigkeit bezieht. Dennoch bleibt die Selbstzweckformel unpräzise; sie gibt kein Kriterium an die Hand, mit dem sich entscheiden ließe, wann die ›Menschheit‹ zum positiven Zweck werden muss, der aktiv zu verfolgen ist (unvollkommene Pflichten), und wann sie lediglich nicht zum ›bloßen Mittel‹ werden darf (vollkommene Pflichten). In diesem Mangel an Präzision liegt der Grund dafür, weshalb Kant die AGF (sowie die NGF) als strengeres Handlungskriterium angesehen hat; anhand der Selbstzweckformel kann man nicht präzise zwischen weiten und strengen Pflichten unterscheiden – was auf der Grundlage der Universalgesetzformel sehr wohl möglich ist. Nicht zuletzt geht es Kant schließlich darum, die Realität des Moralprinzips, das er zunächst lediglich begrifflich entwickelt hat, durch eine rechtfertigende ›Deduktion‹ nachzuweisen. Kant versucht im ›Dritten Abschnitt‹ der Grundlegung zu zeigen, dass sich die wirkliche (nicht bloß eingebildete) Geltung des Kategorischen Imperativs überzeugend darlegen lässt, wenn man genau auf die Doppelidentität des Menschen als eines sowohl autonom-intelligiblen Vernunftwesens als auch der Erfahrungswelt zugehörigen Sinnenwesens achtet. Dazu benötigt er aber eine Art Freiheitsbeweis; denn nur als freies Wesen können Menschen auch die Vernunftforderungen des Kategorischen Imperativs erfüllen. Nun glaubt Kant aber, dass ein theoretischer Beweis für die transzendentale Freiheit unmöglich sei (4: 448):

167 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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»Diesen Weg, die Freiheit nur als von vernünftigen Wesen bei ihren Handlungen bloß in der Idee zum Grunde gelegt zu unserer Absicht hinreichend anzunehmen, schlage ich deswegen ein, damit ich mich nicht verbindlich machen dürfte, die Freiheit auch in ihrer theoretischen Absicht zu beweisen. Denn wenn dieses letztere auch unausgemacht gelassen wird, so gelten doch dieselben Gesetze für ein Wesen, das nicht anders als unter der Idee seiner eigenen Freiheit handeln kann, die ein Wesen, das wirklich frei wäre, verbinden würden. Wir können uns hier also von der Last befreien, die die Theorie drückt.«

Zwar liefert das reflexive Argument keinen theoretischen Freiheitsbeweis (dessen Möglichkeit muss nach Kant vielmehr als ›unausgemacht‹, also als unentschieden oder als unentscheidbar gelten). Aber es erbringt doch dieselbe Leistung wie ein theoretischer Freiheitsbeweis: Wir müssen uns eben durch praktische Gesetze verpflichtet denken. Wie ist Kants Urteil über den Wert des Arguments also zu verstehen? Meint er, dass das vorgetragene Argument als komplettes Äquivalent eines theoretischen Freiheitsbeweises gelten kann? Ein metaphysischer Beweis wird durch es jedenfalls überflüssig; wir können uns damit, so der Text, von der entsprechenden Last auf indirektem Weg befreien. Nennen wir dies das ›Argument aus dem Freiheitsbewusstsein‹. Im nächsten Schritt wird klar, dass Kant das Argument aus dem Freiheitsbewusstsein weder in einer allgemeinen Form – theoretisch und praktisch – noch bezogen auf alle Handlungsgründe vertritt. Er erklärt es vielmehr für scheinbar ungenügend, indem er es einem Zirkelverdacht (4: 450) aussetzt. Die Zirkularität des Arguments, so erfahren wir, besteht darin, dass wir unserem Willen Freiheit lediglich beigelegt hätten, also sie ihm unterschieben. Es handle sich um eine bloße »Erbittung des Prinzips, das uns gutgesinnte Seelen wohl gerne einräumen werden« (4:453). Ich muss mich bei jedem Akt theoretischer Zustimmung und praktischer Handlungswahl für frei halten. Aber es ist ebenso wenig zu bestreiten, dass ich jedes Mal ex post zu der Einsicht gelangen könnte, dass meine Urteile dennoch theoretisch falsch oder praktisch Teil eines empirischen Kausalzusammenhangs waren, der mir während der Überlegung nicht bewusst war – und es 168 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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auch gar nicht sein konnte. Grundsätzlich ist also das Phänomen zu konzedieren, dass unser subjektives Freiheitsempfinden falsch sein kann. Freiheit wäre so gesehen nichts als eine zwar unvermeidliche Illusion, aber eben doch eine Täuschung. Dabei bleibt es aber nicht. Der im Kategorischen Imperativ implizierte Begriff der Autonomie, so meint Kant, zwingt uns, uns als ›Glieder eines Reichs der Zwecke‹ zu verstehen, und der Begriff der Pflicht verdeutlicht uns, dass wir sinnliche affizierbare Vernunftwesen sind. Die Stelle zeigt somit, dass nicht schon unser unmittelbares Freiheitsbewusstsein beweiskräftig für die Realität der Freiheit ist, wohl aber die Kombination aus Freiheitsbewusstsein und Kategorischen Imperativen. Indem wir uns sicher sein können, Vernunftwesen zu sein (und zwar durch die Unmittelbarkeit und Unausweichlichkeit moralischer Gebote), kommen wir zugleich auch nicht umhin, uns für frei zu halten; und mit Blick auf ihre kategorische Geltungsform können wir tatsächlich wissen, dass die Überlegungen intelligiblen Ursprungs und wir folglich objektiv frei sind. Kant hat dem Argument aus dem Freiheitsbewusstsein also doch vorübergehend jene markante Rolle zugewiesen, die er später der Lehre vom ›Faktum der Vernunft‹ in der Kritik der praktischen Vernunft zuerkannte: d. h. dem Argument aus der Unmittelbarkeit des moralischen Bewusstseins. Beide Argumente sind eng verwandt, und es scheint einleuchtend, wie er von der Position der Grundlegung zu der der zweiten Kritik gelangen konnte. Insgesamt gelangt Kant dabei zu einem Modell, das sich in einigen wichtigen Hinsichten von der philosophischen Tradition unterscheidet. Gewöhnlich beschreibt man den besonderen Beitrag Kants zur Geschichte der Moralphilosophie, indem man auf fünf Merkmale zurückgreift: (1) Kants Ethik ist deontologisch und nicht teleologisch. Das bedeutet: Kant vertritt eine Pflichtenethik, nicht eine Ethik des guten Lebens. Die Gegenüberstellung von deontologischen und teleologischen Ethiken ist für eine klassifikatorische Zuordnung der kantischen Moralphilosophie nützlich, zugleich aber auch diskutierbar (vgl. etwa Herman 1993 und Bambauer 2011). Eindeutig ist immerhin, dass Kant es ablehnt, Handlungsfolgen für die 169 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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moralische Bewertung für zentral zu halten; er ist also Anti-Konsequentialist. (2) Kants Ethik ist eine formale im Unterschied zu einer materialen Ethik. Es geht Kant nicht um inhaltliche Aufzählungen von Geboten und Verboten, von höheren oder geringeren Werten oder von nützlichen und schädlichen Lebenszielen. Vielmehr liefert er ein abstraktes Testverfahren, mit dem sich dem Anspruch nach alle möglichen Handlungsgrundsätze und Lebenseinstellungen (sogenannte Maximen) auf Moralkonformität überprüfen lassen. Diese Akzentsetzung auf dem Formalismus und Prozeduralismus Kants sollte aber nicht überpointiert werden; was der Kategorische Imperativ sicher nicht bieten kann (und soll), ist eine Art Algorithmus, auf den sich eine quasi-mechanische Prozedur des moralischen Überlegens stützen ließe. (3) Kant vertritt einen moralphilosophischen Kognitivismus, keinen Emotivismus. Er teilt die Auffassung, korrekte moralische Urteile seien Erkenntnisse (und nicht z. B. der bloße Ausdruck subjektiver Emotionen); aber er geht noch darüber hinaus, indem er diesem Kognitivismus eine besondere Form verleiht: Moralische Prinzipien sind für ihn Ausdruck der ›reinen praktischen Vernunft‹. (4) Zudem vertritt er einen Generalismus, keinen Partikularismus. Für Kant sind moralische Normen allgemeine, höherstufige Regeln, ohne dass zu ihrer Formulierung eine nennenswerte Einbeziehung von konkreten Kontextbedingungen nötig wäre. Kant ist ein Vertreter einer strikten Prinzipienethik und steht damit im Gegensatz zu den unterschiedlichen Versionen von Situationsethiken sowie wahrnehmungsbasierter Ansätze. (5) Die kantische Moralphilosophie steht für einen Universalismus im Gegensatz zu Ethiken des Kontextualismus. Kant lehnt alle Moralphilosophien mit eingeschränkter Reichweite ab; jeglicher Relativismus ist ihm fremd. Was sich als moralisch verbindlich erweist, ist dies in allgemeingültiger, überkultureller und epochentranszendenter Form. Negativ gewendet scheint Kants Moralphilosophie charakterisierbar zu sein durch Merkmale wie moralischen Rigorismus (aufgrund ihres scheinbar unbarmherzigen Gebotscharakters), 170 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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durch mangelhaftes Einbeziehen der Alltagserfahrung und der praktischen Urteilskraft sowie durch fehlende historisch-kulturelle Kontextsensitivität. Vielfach hält man Kant auch vor, er missachte in seiner Ethik unsere tiefen Bindungen an Nahestehende und billige unseren Freundschaften, Loyalitätsverhältnisse, Zugehörigkeiten und Gruppenidentitäten nur eine marginale Stellung zu. Ferner soll Kant solche Phänomene wie die Charakterbildung, die traditionellen Tugenden oder die ortstypischen Üblichkeiten zu gering veranschlagen. Zudem wird ihm ein Anthropozentrismus vorgeworfen, der unseren Umgang mit Tieren, Pflanzen und der unbelebten Natur nur unzulänglich berücksichtigt. Schließlich liest man häufig, Kant habe dem Thema der moralischen Gefühle eine zu begrenzte Bedeutung beigemessen. Alle genannten Merkmale positiver wie negativer Art betreffen zentrale Fragen der aktuellen moralphilosophischen Diskussion. An Kants revolutionärer Neukonzeption der Moralphilosophie scheint bis heute vieles systematisch interessant und wegweisend zu sein. Vieles andere wirkt dagegen erklärungsbedürftig, angreifbar oder obsolet, wobei sich vielfach zumindest Abstoßungspunkte für die aktuelle Theoriebildung ergeben. Bereits erwähnt wurde folgender Punkt: Kant vertritt einen moralischen Rationalismus, also die Position, wonach sich unmoralisches Verhalten stets zugleich als unvernünftig erweisen lässt, während sich moralisches angemessenes (= gefordertes) oder indifferentes Verhalten stets zugleich als von der Vernunft gefordert (bzw. als indifferent) herausstellt. Sein Grundgedanke ist, dass sich dieser Zusammenhang zwischen Moralität und praktischer Rationalität in einem (oder mehreren) einfachen Testverfahren zeigen lässt, der (oder den) KI-Prozedur(en). Wie gesehen ist diese These jedoch zu stark, zumindest mit Blick auf die tatsächlich von ihm angebotene(n) Prozedur(en) und ihre Leistungsfähigkeit. Denn nicht alles, was sich z. B. gemäß dem Maximentest des Kategorischen Imperativs korrekt universalisieren lässt, scheint moralisch wirklich zulässig zu sein, und nicht alles, was den Test nicht besteht, moralisch unzulässig. Dieses Problem ist eine seit langem intensiv diskutierte Frage in der Kant-Forschung. Doch Kants ethischer Rationalismus wirft weitere gravierende 171 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Probleme auf – und diese werden seltener gesehen und diskutiert. Kant scheint das, was wir mit dem Phänomen Moral meinen und wie wir es theoretisch fassen wollen, in wesentlichen Hinsichten zu verzeichnen. Man kann wohl besonders drei problematische Aspekte der Moralphilosophie Kants identifizieren: (a) Problem der Fokussierung auf rationale Subjekte. Der Eröffnungsschachzug von Kants praktischer Philosophie liegt in der Idee eines praktischen Selbstverhältnisses, das durch unmittelbare Vernunftorientierung und unentrinnbare Vernunftbindung bestimmt ist. Den Ausgangspunkt bilden also autonome, der Vernunft verpflichtete Subjekte von Handlungen, nicht bedürftige, angreifbare, verletzliche, unter prekären Existenzbedingungen lebende Subjekte-und-Objekte des Handelns. Dadurch fällt aber aus der Betrachtung heraus, was genau ein anderes Subjekt zum Objekt meiner moralisch richtigen, neutralen oder falschen Handlungen machen sollte. Betrachtet wird nur das Handlungssubjekt und die Vernünftigkeit seiner Handlungsoptionen. Genau genommen hält Kant als Imperativtheoretiker praktischer Normativität menschliche Individuen nicht in einem prinzipiellen Sinn für moralisch anspruchsberechtigt. (b) Problem der Gleichsetzung von moralischer Pflicht und strikter praktischer Notwendigkeit. Im zentralen Beispiel der Schrift Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen (1797) verbietet Kant, einen mörderischen Verfolger, der eine Auskunft über das von ihm verfolgte Opfer verlangt, über dessen Verbleib zu belügen. Das scheint moralisch kontraintuitiv: Darf man niemals lügen? Ein striktes Lügenverbot würde bedeuten, dass man die ausnahmslose akteurzentrierte Regelbefolgung von der Frage nach den moralrelevanten Gütern ablösen würde. Das Gut des Opferschutzes scheint hier wichtiger zu sein als das der Wahrhaftigkeit gegenüber dem Täter. (c) Problem des absoluten Vorrangs moralischer Pflichten. Bernard Williams, aber auch Richard Rorty (1989) und Harald Köhl (2006), haben mit Blick auf Kants Rigorismus darauf verwiesen, dass es intuitiv plausible Fälle gibt, in denen wir eine existenzielle Notwendigkeit oder eine besonders authentische Handlung oder eine Handlung zugunsten Nahestehender (besonders unserer An172 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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gehörigen) gegenüber moralischen Pflichten priorisieren (oder priorisieren können). Die Frage, ob dieser Einwand den Vorrang der Moral gefährdet, haben wir bereits diskutiert (oben S. 16 f.).

4.3 Neuere deontologische Ethiken Wenn der Pflichtbegriff nicht im Sinn eines absoluten Vorrangs und nicht einseitig moralisch verstanden werden sollte, was bleibt dann von ihm übrig? Für seine Neuinterpretation aus deontologischer Perspektive im 20. Jahrhundert ist zunächst an den Begriff von prima facie-Pflichten zu erinnern, dem wir im 2. Kap. bereits beim Thema des Intuitionismus von W. D. Ross begegnet sind (S. 72). In seinem Werk The Right and the Good (1930: Kap. 2) führt Ross diesen Begriff ein, um damit seinen ethischen Pluralismus mit der Idee von Pflichten zu verbinden. Wie wir sahen, gibt es für Ross sieben verschiedenen Pflichtarten: resultierend aus dem persönlichen Treueverhältnisses, der Wiedergutmachung, der Dankbarkeit, der Gerechtigkeit, des Wohltuns, der Selbstentwicklung und der Nichtschädigung. Alle genannten Pflichtbereiche sind für Ross verbindlich und doch nicht absolut; sie bilden keine klare Hierarchie, sondern lassen sich gegeneinander abwägen. Dass eine Akteurin moralischen Pflichten gegenüber gebunden ist, bedeutet also nicht, dass sie im Konfliktfall nicht überlegen dürfte. Es heißt nur, dass es für sie zunächst einmal starke, gewichtige Gründe für das Einhalten einer bestimmten Pflicht gibt. Entscheidet sie sich z. B. dafür, ein gegebenes Versprechen zu brechen, dann könnte dies plausibel sein, wenn die starken prima facie-Gründe des Lügenverbots durch noch gewichtigere Gründe, eine Lüge zu begehen, überboten werden. Eine Alternative zur akteurzentrierten Deontologie bieten adressatenzentrierte Ansätze (patient-centered). Diese weisen etwa darauf hin, dass allen Personen unveräußerliche Rechte zukommen, die durch unser Handeln unbedingt geachtet werden müssen. Typischerweise sind es libertäre Philosophen wie Robert Nozick, die diesen Standpunkt vertreten. Jeder Mensch ist demnach ursprünglicher Besitzer seines Lebens, seines Körpers, seiner 173 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Talente und seiner Arbeit. Er hat auf alles dies ein unantastbares Recht, und niemand darf ihm etwas davon wegnehmen. Menschen dürfen insbesondere nicht unmittelbar zu Mitteln der Zielverfolgung anderer gemacht werden, und sei diese auch moralisch noch so gut. Eine Schädigung von Personen kann allenfalls passiv hingenommen, darf aber nicht aktiv intendiert werden. Man kann den relevanten Punkt adressatenzentrierter Deontologen gut anhand des sogenannten Straßenbahn-Falles (Trolley Case) sowie des Fat Man-Beispiels erläutern: Trolley-Fall. Angenommen, eine Straßenbahn, die sich selbständig gemacht hat, bewegt sich auf eine Gruppe von fünf Personen zu, die auf einem Gleis stehen und nicht ausweichen können. Der Wagen kann nicht gestoppt werde; aber es besteht die Möglichkeit, ihn durch Umlegen einer Weiche auf ein anderes Gleis zu lenken, auf welchem sich nur eine Person befindet. Fall des dicken Mannes (Fat Man). Angenommen, eine ebenfalls außer Kontrolle geratene Straßenbahn bewegt sich auf eine Gruppe von fünf Personen zu, die auf einem Gleis stehen und nicht ausweichen können. Sie befinden sich auf einer Brücke oberhalb des Gleises und könnten den Wagen dadurch zum Halten bringen, dass man eine sehr korpulente Person, die sich ebenfalls auf der Brücke befindet, auf das Gleis stoßen würde.

Das Umlegen der Weiche im Trolley-Beispiel ist offenbar moralisch leichter akzeptabel als das Herunterstoßen einer korpulenten Person im Fat Man-Beispiel. Für adressatenzentrierte Deontologen beruht der Unterschied darauf, dass im ersten Fall die Rechte der einen Person auf dem Gleis respektiert blieben (indem ihr Tod nur hingenommen werde), während das Lebensrecht des dicken Mannes missachtet werde, da er durch aktive Intervention zum Mittel der Rettung der fünf Personen im Gleis werde. Deontologische Ansätze des akteurzentrierten Typs sind – meist unter expliziter Berufung auf Kant – auch noch im 20. Jahrhundert vertreten worden und werden bis zur Gegenwart fortgeführt. Beispielsweise gehört die Diskursethik, wie sie von Karl174 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Otto Apel (1973) und Jürgen Habermas (1981 und 1983) entwickelt worden ist, zu den prominenten Ansätzen einer deontologischen Moralphilosophie in der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart. Deontologisch ist sie, insofern sie die Idee moralischer Normgeltung priorisiert und diese nicht von einem gesellschaftlich geteilten Ethos oder von Fragen des guten Lebens abhängig macht. Die Diskursethik sieht sich in der Nachfolge Kants, und d. h. als eine kognitivistische, universalistische, prozeduralistische und als formalistische Position. Sie reformuliert Kants Moralphilosophie aber unter den veränderten philosophischen Bedingungen des späten 20. Jahrhunderts, nämlich des linguistic turn einerseits sowie der Hermeneutik andererseits. Nach Wittgensteins ›Privatsprachenargument‹ kann man, so die Diskursethiker, das Apriori der Normgeltung nicht mehr (wie es Kant tat) als eine Leistung der ›reinen praktischen Vernunft‹ beschreiben, sondern nur noch als Aposteriori einer intersubjektiven Kommunikationsgemeinschaft. Und nach Heidegger kann man die Gültigkeit von Normen nicht mehr (wie ebenfalls bei Kant) durch die einsame Reflexion eines isolierten Philosophen erweisen, sondern muss sie in der Praxis einer historisch situierten Gemeinschaft, einschließlich der Gemeinschaft aller heute lebender Menschen sowie künftiger Generationen, legitimieren. Karl-Otto Apel formulierte seine Version der Diskursethik unter dem Titel ›Transzendentalpragmatik‹, während Habermas den Ausdruck ›Universalpragmatik‹ favorisiert hat. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Apel für seine Version eines Moralprinzips eine ›Letztbegründung‹ zu geben versucht (vgl. 1998 und 2017), worauf Habermas verzichtet. Im deutschen Sprachraum hat besonders die Transzendentalpragmatik und ihr Begründungsanspruch für kontroverse Diskussionen gesorgt (vgl. etwa Kuhlmann 1985, Hösle 1990, Werner 2003), während sich Habermas’ weltweite Wirkung eher an seiner politischen Philosophie als an seiner Ethik festmacht. Eine Skizze seines Ansatzes findet sich in der kleinen Abhandlung Moralbewusstsein und kommunikatives Handeln (1983). Die Kernfrage der Diskursethik ist, wie man Normgeltung rechtfertigen kann, und ihre Basisidee lautet, dass man dies durch 175 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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ein formales Verfahren vermag. Die in Aussicht genommene Prozedur hat zugleich eine konkret-historische Dimension, indem sie auf einer Kommunikationsgemeinschaft beruht, nämlich einer Gemeinschaft aller von einer Handlung Betroffener sowie ihrer ›Anwälte‹ (bei Personen, die nicht direkt einbezogen werden können). Apel formuliert dieses Prinzip mit einer an Kant angelehnten Formulierung so (1988: 123): »Handle nur nach einer Maxime, von der du, aufgrund realer Verständigung mit den Betroffenen bzw. ihren Anwälten oder – ersatzweise – aufgrund eines entsprechenden Gedankenexperiments, unterstellen kannst, dass die Folgen und Nebenwirkungen, die sich aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen jedes einzelnen Betroffenen voraussichtlich ergeben, in einem realen Diskurs von allen Betroffenen zwanglos akzeptiert werden können.«

Anders als bei Kant werden in der Diskursethik nicht mehr nur Maximen im engeren Sinn, also subjektive Handlungsgrundsätze, überprüft; zur Prüfung stehen alle möglichen Handlungsregeln, seien diese nun eher privat, eng gefasst und subjektiv oder allgemein, weit und höherstufig. Sie alle werden anhand einer ›Metanorm‹ getestet, nämlich anhand des ›Diskursprinzips D‹, ob eine Handlung oder Handlungsregel von allen davon potentiell Betroffenen »im Rahmen eines unbeschränkten, zwanglosen argumentativen Diskurses« akzeptiert werden könnte (1983: 103). Jede und jeder soll an diesem praktischen Diskurs so beteiligt werden, dass Informationsvorsprünge oder Machtasymmetrien dabei keine Rolle spielen. Zudem soll sich jeder Diskursteilnehmer in einem fiktiven Rollentausch in die Lage jedes anderen Teilnehmers versetzen. Diese Metanorm hat somit die Funktion eines Moralprinzips inne, wie dies bei Kant die KI-Prozedur des Maximentests besaß. Habermas hat in der zentralen Darstellung seiner Version von Diskursethik zusätzlich zum ›Diskursprinzip D‹ auch ein ›Universalisierungsprinzip U‹ formuliert, dem zufolge »nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten)« (1983: 102 f.). 176 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Die Methode, mit der in der Diskursethik das Kriterium der allgemeinen Akzeptabilität angewandt wird, beruht auf dem Gedanken einer ›Sinnkritik‹. Damit ist gemeint, dass man die Gegebenheiten der Situation, in der es für Betroffene um moralische Begründungsfragen geht, auf ihre impliziten Voraussetzungen hin analysiert. Die diskursethische These lautet dann: Die Geltung von Moral kann von niemandem vernünftigerweise bestritten werden, weil es zu den basalen Sinnbedingungen des vernünftigen Argumentierens gehört, nur solche Geltungsansprüche zu erheben, die das Kriterium der allgemeinen Akzeptabilität erfüllen. Wer dagegen einen Anspruch geltend macht, der nicht mit allgemeiner Zustimmungsfähigkeit rechnen kann, verwickelt sich in einen ›performativen Selbstwiderspruch‹. Beispielsweise würden sich demnach ein moralischer Nihilist, ein Skeptiker oder ein Zyniker in solche performativen Selbstwidersprüche verwickeln, sobald sie ihre Positionen offen als Geltungsansprüche formulieren würden. Wie ist das zu verstehen? Die Theorie performativer Selbstwidersprüche ist der analytischen Sprechakttheorie von J. Austin und J. Searle entlehnt. Beispiele liefern solche Sätze wie (a) ›Ich spreche kein einziges Wort Deutsch‹, (b) ›Ich schlafe schon‹, (c) ›Mit diesem Satz behaupte ich nichts‹ oder (d) ›Mit diesem Satz sage ich etwas Unzutreffendes‹. Für alle diese Beispiele gilt, dass der oder die Sprechende mit seiner oder ihrer Aussage gegen basale Sinnbedingungen des Sprechens verstößt. Der Fall (a) ist harmlos: Ein Satz, der in deutscher Sprache geäußert wird, setzt eine gewisse linguistische Kompetenz voraus, die hier ersichtlich besteht und dennoch zugleich inhaltlich geleugnet wird. Fall (b) ist lebensweltlich-empirisch: Wir wissen aus Erfahrung, dass niemand zugleich schlafen und bewusst Sätze formulieren kann; daher ist der Satz ebenfalls Ausdruck eines Selbstwiderspruchs. Satz (c) ist philosophisch interessanter: Der Sprecher wählt die Form eines Aussagesatzes; in einem Aussagesatz wird aber stets ein propositionaler Gehalt behauptet. Dies auf der Inhaltsebene zu bestreiten, ist performativ selbstwidersprüchlich, weil sich der Sprechende mit der Wahl der Aussageform ja auf das Formulieren einer Behauptung festgelegt hat. Fall (d) schließlich enthält einen 177 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Verstoß gegen die Wahrheitsausrichtung von Aussagesätzen; jeder Aussagesatz muss mit der Absicht geäußert werden, etwas Zutreffendes zu behaupten. Mit Searle gesprochen, geraten bei performativen Selbstwidersprüchen der propositionale Gehalt und der illokutionäre Akt miteinander in Konflikt. Auf diese Idee will Karl-Otto Apel seine Letztbegründung bauen; denn wenn man weiß, dass man sich nicht performativ widersprechen darf, besitzt man das entsprechende Wissen – so Apel – in täuschungsfreier (infallibler) Form. Ebenfalls Searles Ansatz folgend hat Habermas die Redepraxis in vier unterschiedliche Sprechakte eingeteilt: (i) in ›Kommunikativa‹ wie beim Antworten oder Widersprechen, (ii) ›Konstativa‹ wie beim Beschreiben oder Berichten, (iii) ›Repräsentativa‹ wie beim Jubeln und (iv) ›Regulativa‹ wie beim Befehlen. Auf diese vier Sprechakttypen bezieht er implizite Normen der Geltungsansprüche: Das sind (i) Verständlichkeit, (ii) Wahrheit, (iii) Wahrhaftigkeit und (iv) Richtigkeit. Was geschieht aber, wenn ein imaginärer moralischer Nihilist, Skeptiker oder Zyniker jede Argumentation verweigert? Man könnte meinen, dass er sich einer Widerlegung entziehen kann, indem er sich dem Beweisspiel des performativen Selbstwiderspruchs einfach nicht aussetzt. Die Diskursethik kann darauf antworten, dass die Annahme falsch sei, jemand könne einer solchen Überprüfung mehr als nur faktisch, nämlich prinzipiell entgehen; zu den Sinnbedingungen seiner eigenen Praxis und seiner Selbstverständigung gehöre vielmehr der ›internalisierte Diskurs‹ des stillen Nachdenkens. Eine Selbsttäuschung z. B. würde sich dann ähnlich destruktiv auswirken wie eine Fremdtäuschung beim interpersonalen Austausch. Die innere Selbstverständigung stelle somit grundsätzlich dieselben Anforderungen wie die äußere Legitimation von Handlungen und Handlungsregeln. Wer sich Handlungsalternativen im persönlichen Nachdenken vor Augen führe, werde sich mit ihren Implikationen für ihn selbst und Andere grundsätzlich auf dieselbe Weise konfrontieren wie in einem unbegrenzten öffentlichen Diskurs. Die Diskursethik enthält weitere wesentliche Komponenten der kantischen Moralphilosophie wie etwa, dass sie eine Selbst178 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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privilegierung und die Ausschließung bestimmter Personen und Personengruppen verhindert. Denn wer sagen würde ›Meine eigenen Handlungsabsichten sollen vorrangig gelten, weil ich es bin, der sie äußert‹ oder ›Man sollte die Personengruppen A, B und C vom Diskurs ausschließen‹, würde in einen performativen Selbstwiderspruch geraten. Habermas äußert sich übrigens selbst explizit zur (von ihm angenommenen) Verfehltheit von Apels Letztbegründungsanspruch; er wirft Apel vor, im Paradigma der Bewusstseinsphilosophie geblieben zu sein, wenn er sich auf ein absolutes Gewissheitserlebnis beruft, anstatt vollständig zu einem sprachanalytischen Ansatz übergegangen zu sein (1983: 106): »Daß Apel gleichwohl hartnäckig am Letztbegründungsanspruch der Transzendentalpragmatik festhält, erklärt sich, wie ich meine, aus einer inkonsequenten Rückkehr zu Denkfiguren, die er mit dem energisch vollzogenen Paradigmenwechsel von der Bewußtseins- zur Sprachphilosophie selber entwertet hat. […] Obwohl Apel von Fichtes ›metaphysischem Restdogmatismus‹ spricht, stützt er, wenn ich richtig sehe, den Letztbegründungsanspruch der Transzendentalpragmatik genau auf jene Identifikation von Aussagenwahrheit und Gewißheitserlebnis, die nur im reflexiven Nachvollzug einer vorgängig intuitiv vollzogenen Leistung, d. h. unter Bedingungen der Bewußtseinsphilosophie vorgenommen werden kann. Sobald wir uns auf der analytischen Ebene der Sprachpragmatik bewegen, ist uns diese Identifikation verwehrt.«

Folgende Einwände gegen die Diskursethik drängen sich auf. Man fragt sich, wie sich ein unbegrenzter (alle Handlungsbetroffenen einbeziehender), rein argumentativ geführter, zwangsfreier und einen fiktiven Rollentausch implizierender Diskurs konkret einrichten und durchführen lassen könnte. Offenbar ist dies unter Realitätsbedingungen unmöglich. Bleibt dann nicht doch nur das hypothetische Gedankenexperiment des einsamen, isolierten Philosophen? Auch das scheint fraglich. Wie könnte man jemals sämtliche Perspektiven aller potentiell Handlungsbetroffenen so einbeziehen, dass man zu irgendeinem Schluss kommt und dann 179 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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diese oder jene Handlungsregel als unzulässig, indifferent oder verbindlich kennzeichnet? Offenbar gibt es nicht nur unter Realitätsbedingungen, sondern sogar im Gedankenexperiment unüberwindliche Hindernisse für die Verwendung des Diskursprinzips als eines Moralkriteriums. Darauf mag man antworten, dass zumindest eindeutig unhaltbare Prinzipien sich schnell ausschließen lassen – etwa die Prinzipien von Rassismus, Sexismus und nationalem Chauvinismus. Aber ein feinkörniges und operationalisierbares Kriterium ergibt sich daraus nicht. N. Hoerster (2003: 128) hat dazu resignativ bemerkt: »Was nutzt uns das Ideal eines Konsenses, dessen Inhalt in vielen Fällen kaum einfacher herauszufinden ist als der Inhalt des Willens Gottes?« Hinzu kommt, dass selbst ein gelingender hypothetischer Konsens nichts oder wenig mit Moral zu tun haben kann. Es scheint keineswegs der Fall zu sein, dass sich alles, was uns intuitiv plausibel erscheint, zugleich als Ergebnis eines Habermas’schen praktischen Diskurses dargestellt werden kann, noch umgekehrt, dass der praktische Diskurs immer zu intuitiv plausiblen Ergebnissen führt. Als besonders schwierig erscheint schließlich der von Habermas unterstellte Zusammenhang zwischen Konsens und moralischer Objektivität: Weder ist das, was im Konsens für wahr gehalten wird, immer tatsächlich objektiv moralisch richtig, noch ist das, was objektiv moralisch richtig ist, immer zugleich Gegenstand eines faktischen Konsenses. Ein Konsens bildet somit weder die notwendige noch die hinreichende Bedingung für moralische Objektivität. Mehr noch, selbst wenn faktischer Konsens und moralische Objektivität in einem gegebenen Fall übereinstimmen würden, wäre diese Übereinstimmung zufällig: Denn Ersteres ist ja lediglich intersubjektiv gegeben, nicht aber objektiv valide. Soviel zur Diskursethik. Einige zeitgenössische Moralphilosophi(inn)en stellen sich die Frage, wie man die Vorteile von konsequentialistischen und deontologischen Ansätzen zusammenbringen und miteinander versöhnen könnte. Eine interessante Grundsatzüberlegung hierzu stammt von Thomas Nagel. In Der Blick von Nirgendwo (1986: 303) wählt er folgendes Beispiel:

180 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Neuere deontologische Ethiken

»In einer kalten Winternacht stößt dir auf einer abgelegenen Straße ein Verkehrsunfall zu. Die übrigen Insassen sind schwer verletzt, das Auto unbrauchbar geworden, die Straße menschenleer. Du läufst also so schnell du kannst weiter, bis du an ein einsames Haus gelangst. Wie sich herausstellt, wird dieses Haus von einer alten Dame bewohnt, die gerade ihr Enkelkind hütet. Ein Telefon gibt es nicht, doch in der Garage steht ein Wagen. Du bittest verzweifelt, dir den Wagen ausleihen zu dürfen, und erklärst der Dame den Vorfall. Sie will dir nicht glauben. Du verzweifelst, woraufhin die alte Dame Angst vor dir bekommt, nach oben eilt und sich im Bad einschließt, während das Kind bei dir zurückbleibt. Ohne Erfolg klopfst du an die Tür und durchsuchst das Haus nach den Wagenschlüsseln. Dann kommt dir der Gedanke, dass du sie womöglich dazu bringen könntest, dir zu sagen, wo die Schlüssel sich befinden, wenn du dem kleinen Kind vor der Tür des Badezimmers beispielsweise brutal den Arm umdrehst. Sollst du also in einer solchen Situation so handeln?«

Nagel will mit diesem Dilemma-Fall die Komplementarität deontologischer und teleologischer Perspektiven auf die Moral veranschaulichen. Es liegt auf der Hand, dass es deontologisch strikt untersagt ist, dem Kind Gewalt anzutun. Andererseits kann man sich, so Nagel, dem Gedanken nicht verschließen, dass der Schmerz des Kindes geringfügig wäre im Vergleich zum Leid der Unfallopfer. Nun betone die deontologische Perspektive aber nicht so sehr den generellen Unwert einer solchen Gewalttat, sondern vielmehr die Tatsache, dass man selbst sie ausführt. Nagel meint, dass die konsequentialistische Perspektive auf den Fall – wonach es erlaubt wäre, dem Kind begrenzt Gewalt anzutun – dem objektiven, akteurneutralen Blickwinkel entspreche. Eine ähnlich grundlegende Überlegung stammt von Amartya Sen (1982), der in seinen Arbeiten zu den markantesten Kritikern des Konsequentialismus gehört. Interessant ist dabei besonders sein innovativer Rechtsbegriff, mit dem er sich sowohl gegen die Mehrzahl konsequentialistischer wie deontologischer Rechtsauffassungen wendet. Sen illustriert seine Überlegungen am Beispiel des ostafrikanischen Immigranten Ali, der in London einen er181 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Deontologische Ethiken

folgreichen Gemüsehandel betreibt: Angenommen, Ali würde von einer Gruppe rassistischer Schläger bedroht; die Gruppe plante, Ali am selben Abend an einem entlegenen Ort zu verprügeln. Angenommen weiter, Alis Freundin Donna erführe von dem Plan der Schläger, könnte ihn aber nur rechtzeitig warnen, wenn sie seinen momentanen Aufenthaltsort herausbekommen könnte; dieser ließe sich allein dadurch in Erfahrung bringen, dass sie in das Zimmer von Alis Geschäftsfreund Charles einbräche und eine entsprechende Notiz in dessen Privatpapieren suchte. Weiter angenommen, die Polizei täte Donnas Ansinnen, in Charles’ Wohnung einzudringen, als ein Stück paranoider Phantasie ab; und schließlich wüsste Donna, dass Charles, ein selbstbezogener Egoist, einen Einbruch in seine Privaträume in diesem Fall nicht als gerechtfertigt ansehen würde. Wie weit reicht in diesem prekären Fall Alis Recht auf körperliche Unversehrtheit? Sen argumentiert, dass weder ein konsequentialistischer noch ein deontologischer Rechtsbegriff unserer Intuition gerecht werde, wonach der Unverletzlichkeit der Person hier eine vorrangige Bedeutung zuerkannt werden müsse. Was die konsequentialistische Sichtweise anlangt, so orientiere sich diese traditionell an den Kriterien Gesamtnutzen und Gleichverteilung des Nutzens; empfänden also die sozial deklassierten Schläger eine große Genugtuung über eine Schädigung des verhassten erfolgreichen Ausländers und würde dieser nicht ernstlich verletzt, so wäre leicht eine ›Nutzenverteilung‹ denkbar, bei der sowohl der größere Gesamtnutzen als auch die geringere individuelle Nutzendifferenz durch Prügeln als durch Nicht-Prügeln entstehen würde. Dasselbe könnte herauskommen, wenn man die Sachlage nach der Idee beurteilt, man müsse in einer Gesellschaft primär die Schlechtestgestellen möglichst gut stellen: Denn vielleicht ist es dann nicht der geschlagene Ali, sondern einer der unbefriedigten Schläger, der recht gesehen die Position des gesellschaftlich Schlechtestgestellten einnimmt, so dass der betreffende Rassist durch die Gewalttat ›bessergestellt‹ werden würde als im Fall ihres Unterbleibens. Aus beiden Perspektiven betrachtet wäre es für Donna unerlaubt, den Einbruch zu begehen (wobei Charles’ voraussichtlicher Ärger über den Einbruch die Sachlage noch eindeutiger 182 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Neuere deontologische Ethiken

machen würde). Betrachtet man die Situation aus deontologischer Perspektive, so wäre zwar den Rassisten ihre Absicht strikt zu verbieten; aber es liegt dann auch auf der Hand, dass Donna keine Möglichkeit hätte, die Schläger auf diese Tatsache aufmerksam zu machen, etwa um sie umzustimmen oder abzuschrecken. Das an die Adresse der Schläger gerichtete Verbot, jemanden zu verletzen, böte Donna überdies keinerlei Handhabe, einen Einbruch zu begehen. Im Gegenteil, Donna wäre das Eindringen in eine fremde Privatwohnung deontologisch gesehen streng verboten. Sollte Donnas Einbruch irgendwie zu rechtfertigen sein, dann nur auf der Basis eines Rechtsbegriffs, der konsequentialistisch orientiert wäre, ohne die Handlungskonsequenzen nach einem Nutzenkalkül zu evaluieren. Zur Behebung der Pattsituation ist nun nach Sen ein ›System zielorientierter Rechte‹ (goal rights system), d. h. ein fähigkeitenbezogener Rechtsbegriff erforderlich. Denn erst dann, wenn man die deontologische Sichtweise, nach der es ein Recht auf körperliche Unversehrtheit gibt, mit der konsequentialistischen Sichtweise verknüpft, dass die tatsächliche Gewährleistung dieses Rechts den relevanten Maßstab der Rechtsdurchsetzung darstellt, werde man unserer ethischen Intuition gerecht. Es genügt nach Sen also keineswegs, jemandem ein Recht zuzugestehen, ohne gleichzeitig die Mittel zu seiner Realisierung als normativ verbindlich zu kennzeichnen. Die deontologische Konzeption irreduzibler Persönlichkeitsrechte und die konsequentialistische Konzeption der Wohlfahrtsmaximierung gehen so betrachtet auf eine gemeinsame Wurzel zurück: auf die Realisierung der für Menschen zentralen Fähigkeiten. Sen fügt hinzu, es sei grundsätzlich unzureichend, Rechte vor dem Hintergrund eines negativen Freiheitsbegriffs zu konzipieren, also als Ansprüche auf die Freiheit vor Beeinträchtigung zu verstehen; vielmehr müsse ein positiver Freiheitsbegriff leitend sein, der das Erreichen menschlicher Möglichkeiten zum moralischen Kriterium erhebe. Sen deutet damit eine attraktive Konzeption der Verbindung einer teleologischen Gütertheorie und einer deontologischen Rechte- und Pflichtenkonzeption zumindest an.

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5. Vertragstheorien

Vertragstheoretische Ethiken unterscheiden sich von allen anderen Begründungsmodellen darin, dass sie Moral aus fremden, nicht-moralischen Vorstellungen gleichsam nachbilden. Moralische Normativität beruht für Kontraktualisten nicht – wie für teleologische oder deontologische Ansätze – auf grundlegenden ethischen Begriffen, etwa dem Begriff des Guten, des Richtigen, der Tugend oder des Glücks. Vielmehr leitet der Kontraktualismus Moral aus einem intersubjektiven Szenario rationaler Verständigung her oder aus der Zustimmung unter den Mitgliedern einer Gemeinschaft. Vertragstheoretiker rekonstruieren sie auf diese Weise in einem anderen Medium. Dies scheint einerseits eine besonders elegante Lösung für die theoretische Rechtfertigung von Moral zu liefern. Denn der Kontraktualismus erlaubt es, Moral aus dem Blickwinkel des reflektierten Eigennutzes und der individuellen Akzeptabilität zu begreifen – was besonders leicht nachvollziehbar wirkt. Jedoch fragt man sich, ob es tatsächlich Moral ist, was hier nachgebildet wird; das Moralische scheint eigentlich etwas Anderes zu sein als ein allseitig vorteilhafter oder zustimmungswürdiger Vertragsabschluss. Im vorliegenden Kapitel geht es ausschließlich um normative Formen des Kontraktualismus. Interessanterweise waren allerdings die historisch frühesten Formen von moralischen Vertragstheorien gar nicht normativ ausgerichtet, sondern deskriptiv; sie waren auch nicht affirmativ gemeint, sondern kritisch. Sowohl der Sophist Kallikles in Platons Gorgias (491e–492c) als auch der anonyme Vertragstheoretiker in Platons Politeia (II.358e–362c) meinen es nicht wohlwollend, wenn sie sagen, Moral sei nichts anderes als eine Übereinkunft der Schwächeren, um so gemeinsam die Stärkeren in Schach zu halten. Doch bereits der Sophist Lykophron, ungefähr ein Zeitgenosse des Aristoteles (greifbar in Politik III.10, 1280b8–12) verwendete die Vertragskonzeption 184 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Das Paradigma von Hobbes

nicht mehr deskriptiv (und damit kritisch), sondern normativ (und zustimmend): Er vertritt die Überzeugung, wir sollten moralische Normgeltung als vertragliche Übereinkunft (synthêkê) verstehen. Zu einer Neuauflage gelangte der deskriptive Kontraktualismus dagegen in der Philosophie der Gegenwart: Einige Feministinnen und einige Kritiker des Rassismus versuchen, die traditionelle gesellschaftliche Normgeltung als eine Art Verschwörungsvertrag zur Unterdrückung bestimmter Gruppen zu verstehen (vgl. etwa C. Pateman 1989 und Ch. Mills 1997). Die in einem solchen ›subversiven Kontraktualismus‹ gemeinten Verträge dienen – falls sich die erhobenen Vorwürfe plausibilisieren lassen – der Etablierung von repressiven Systemen; dann wäre aber gerade ihre Auflösung wünschenswert.

5.1 Das Paradigma von Hobbes Thomas Hobbes versuchte als einer der ersten Philosophen überhaupt, Normgeltung in einem vertragstheoretischen Modell auf der Basis strategischer Rationalität zu legitimieren. Hierin dürfte er von Epikur inspiriert gewesen sein, dessen Studium er sich im Pariser Exil zuwandte (so Ludwig 1998). Bereits für Epikur besaß Gerechtigkeit kein natürliches Fundament: Sie sei keine von menschlicher Satzung unabhängige Gegebenheit, sondern beruhe auf einem Arrangement, das in der Etablierung einer allgemein vorteilhaften Gesetzesordnung bestehe. Bei Epikur wird der allgemeine Nutzen, der nach seiner Auffassung eine Rechtsordnung gut macht, in einem distributiv-allgemeinen, nicht in einem kollektiv-allgemeinen Sinn verstanden: Jeder Einzelne profitiert vom Bestehen der Rechtsordnung, nicht nur die Gemeinschaft insgesamt. Näherhin interpretiert Epikur Gerechtigkeit als Resultat derjenigen Gesetzesordnung, die sich auf eine wechselseitige Übereinkunft (synthêkê) zurückführen lässt; und zwar soll diese in der allgemeinen Selbstverpflichtung bestehen, einander nicht zu schädigen (Kyriai doxai 31 und 35; Long/Sedley 22M). Das alles klingt bereits sehr nach Hobbes. ›Gerechtigkeit‹, also der Inbegriff der moralischen und politischen Normgeltung, er185 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Vertragstheorien

gibt sich auch für ihn stets nur innerhalb der ›Vertragsordnung‹ eines Staates. Obwohl sein Modell zur politischen Philosophie gehört – und damit eigentlich der Legitimation von Staatlichkeit dient – impliziert es den weiterreichenden Anspruch, Normgeltung überhaupt zu rekonstruieren. Hobbes spricht dabei noch immer die Sprache des traditionellen Naturrechts (er benutzt etwa die Ausdrücke ius naturale und leges naturales), revolutioniert jedoch die Idee des Naturrechts. Er entwickelt hierfür das Gedankenexperiment eines vorstaatlichen sozialen Zustands, den er ›Naturzustand‹ (status naturalis) nennt. Von diesem behauptet er, er führe unweigerlich zu einem ›Krieg aller gegen alle‹ (bellum omnium contra omnes), d. h. zu Chaos und Anarchie. Ein wesentliches Fundament für das Zustandekommen des ›Krieges aller gegen alle‹ ergibt sich aus Hobbes’ Anthropologie. Da Menschen, so Hobbes, in ihren körperlichen und geistigen Fähigkeiten ungefähr gleich ausgestattet seien und damit eine in etwa gleiche wechselseitige Schädigungsfähigkeit besäßen, könnten sie einander auch nahezu in gleichem Maße Schaden zufügen. Zudem seien Menschen orientiert an Klugheit (prudentia, prudence) und das heißt an ihrer Selbsterhaltung und ihrem Vorteil. Hobbes gilt als Begründer der sogenannten homo oeconomicusAnthropologie, die Menschen ein konstantes Eigeninteresse und ein ebenso konstantes Desinteresse am Wohlergehen Anderer unterstellt. In seinem Hauptwerk Leviathan (1651: Kap. 13, dt. nach W. Euchner: 95) heißt es: »Und wegen dieses gegenseitigen Misstrauens gibt es für niemanden einen anderen Weg, sich selbst zu sichern, der so vernünftig wäre wie Vorbeugung, und das heißt, mit Gewalt oder List nach Kräften jedermann zu unterwerfen, und zwar so lange, bis er keine andere Macht mehr sieht, die groß genug wäre, ihn zu gefährden. Und dies ist nicht mehr, als seine Selbsterhaltung erfordert und ist allgemein erlaubt. Auch weil es einige gibt, denen es Vergnügen bereitet, sich an ihrer Macht zu weiden, indem sie auf Eroberungen ausgehen, die sie über das zu ihrer Sicherheit erforderliche Maß hinaustreiben, könnten andere, die an sich gerne innerhalb bescheidener Grenzen ein behagliches Leben führen würden, sich durch

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Das Paradigma von Hobbes

bloße Verteidigung unmöglich lange halten, wenn sie nicht durch Angriff ihre Macht vermehrten. Und da folglich eine solche Vermehrung der Herrschaft über Menschen zur Selbsterhaltung eines Menschen notwendig ist, muss sie ihm erlaubt werden.«

Die homo oeconomicus-Anthropologie ist, wie man dem Zitat entnehmen kann, nicht gleichbedeutend mit einem pessimistischen Menschenbild. Hobbes denkt nicht, die Grundtendenz des Menschen sei von vornherein konflikthaft. Vielmehr meint er, wir hätten vernünftigerweise allen Grund dazu, andere auszuschalten, um so unsere Sicherheit und Selbsterhaltung zu gewährleisten. Nicht Aggressivität, sondern einfache Klugheit führt also notwendigerweise in eine konflikthafte Situation; aus ihr kann nur der gemeinsame Eintritt in einen ›bürgerlichen Zustand‹ (status civilis) retten. Denn nach Hobbes ist es allein die Autorität des Herrschers, die Rechtsfrieden schaffen kann, weil allein der Herrscher legitime Normen in Recht und Moral begründet. Dieser Punkt wird im Leviathan (Kap. 13: 98) so erläutert: »Eine weitere Folge dieses Krieges eines jeden gegen jeden ist, dass nichts ungerecht sein kann. Die Begriffe von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit haben hier keinen Platz. Wo keine allgemeine Gewalt ist, ist kein Gesetz, und wo kein Gesetz, keine Ungerechtigkeit. Gewalt und Betrug sind im Krieg die beiden Kardinaltugenden. Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit gehören weder zu den körperlichen noch zu den geistigen Tugenden. Gehörten sie dazu, so müssten sie in einem Menschen, der sich allein auf der Welt befände, ebenso vorkommen wie seine Sinne und Leidenschaften. Sie sind Eigenschaften, die sich auf den in der Gesellschaft, nicht in der Einsamkeit befindlichen Menschen beziehen. Eine weitere Folge dieses Zustandes ist, dass es weder Eigentum noch Herrschaft, noch ein bestimmtes Mein und Dein gibt, sondern dass jedem nur das gehört, was er erlangen kann, und zwar so lange, wie er es zu behaupten vermag. Und soviel über den elenden Zustand, in den der Mensch durch die reine Natur tatsächlich versetzt wird, wenn auch mit einer Möglichkeit, herauszukommen, die teils in den Leidenschaften, teils in seiner Vernunft liegt. Die Leidenschaften, die die

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Vertragstheorien

Menschen friedfertig machen, sind Todesfurcht, das Verlangen nach Dingen, die zu einem angenehmen Leben notwendig sind und die Hoffnung, sie durch Fleiß erlangen zu können. Und die Vernunft legt die geeigneten Grundsätze des Friedens nahe, auf Grund derer die Menschen zur Übereinstimmung gebracht werden können. Diese Gebote sind das, was sonst auch Gesetze der Natur genannt wird.«

Das Zitat belegt schön, dass Hobbes meint, alle Normgeltung ergebe sich erst aus der autoritativen Setzung durch die Staatsgewalt – und zwar nicht nur Recht, sondern auch die gängige Moral. In der Rezeptionsgeschichte wurde Hobbes dagegen meist politisch verstanden. Autoren wie John Locke in seinem Second Treatise (1690), Jean-Jacques Rousseau in Du contrat social (1754/1762) oder Immanuel Kant in Über den Gemeinspruch (1793) und der Rechtslehre (1797) sind ausschließlich politische Kontraktualisten. Das gilt auch für die moderne Erneuerung der Vertragstheorie durch John Rawls in A Theory of Justice (1971) und Political Liberalism (1993). Zwar hat Rawls zahlreiche Moralphilosoph(inn)en inspiriert, etwa Onora O’Neill, Christine Korsgaard oder Tim Scanlon, aber er selbst beschränkt sich auf ein politisches Modell der Vertragstheorie. Sein Gegenstand ist die ›Grundordnung‹ einer Gesellschaft, also ihre politischen Institutionen, sozialen Strukturen und ökonomischen Grundgegebenheiten, und sein normativer Zentralbegriff ist Gerechtigkeit. Aber zurück zu Hobbes. Für Hobbes ist der Vertrag ein starkes Verfahren der Normengenerierung. Das bedeutet: Hobbes zufolge existieren anders als im vormodernen Naturrecht oder bei Kant keine überpositiven moralischen Regeln und Normen, auf die man verweisen könnte, wenn man einen Staat legitimieren möchte. Gute Gründe für die Einsetzung einer zwangsbefugten, rechtsetzenden Institution ergeben sich ausschließlich daraus, dass sich der Naturzustand zu einer kompletten Anarchie entwickelt. Hobbes versucht dies plausibel zu machen, indem er – neben der homo oeconomicus-Anthropologie – auf die (ihm als elementar und unkontrovers erscheinenden) Lebensbedingungen im Naturzustand hinweist: relative Güterknappheit, ein allgemeines, unbeschränktes Aneignungsrecht für sämtliche Güter einschließlich 188 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Das Paradigma von Hobbes

sämtlicher Personen sowie eine gewisse Bedrohungssymmetrie. Unter den genannten Bedingungen sollen für jedes Individuum unerträglich hohe Kriegskosten oder zumindest Abschreckungskosten entstehen, und zwar genau so lange, wie die rationale Handlungswahl der Individuen die Situation eines Gefangenendilemmas erzeugt. Mit dem spieltheoretischen Begriff des Gefangenendilemmas ist ein Gedankenexperiment gemeint, bei dem man sich vorstellt, wie sich zwei rational eingestellte Häftlinge in einem Fall verhalten würden, in welchem sie keine Absprache miteinander treffen können. Sie erhalten beide, d. h. jeder Einzelne, das verlockende Angebot einer Kronzeugenregelung, deren Inanspruchnahme zu Lasten des Anderen ginge. Das strategisch-rationale Ergebnis lautet, dass sie sich unkooperativ verhalten werden. Das Gefangenendilemma bezeichnet daher eine ›Rationalitätsfalle‹, die zum allgemeinen Nachteil immer dann entsteht, wenn mehrere rationale Akteure ihrem wohlüberlegten Vorteil folgen, ohne dass eine Absprache oder eine übergeordnete Regelungs- und Zwangsinstanz normierend eingreift. Das Gefangenendilemma und andere Szenarien der modernen Spieltheorie dienen dazu, kollektive Entscheidungssituationen zu analysieren – hier: unter der idealisierenden Annahme wechselseitigen Desinteresses der Spielteilnehmer, individueller strategischer Rationalität sowie der Abwesenheit einer koordinierenden Größe. Das Interessante am Fall des Gefangenendilemmas ist, dass die Spielteilnehmer – wie bei Hobbes – unweigerlich in ein Kooperationsdesaster, einen ›Krieg aller gegen alle‹, geraten. Bei Hobbes wird die Staatslegitimation also vor dem Hintergrund eines individuell unerträglichen Naturzustands geleistet. Der Gebotscharakter der Formel ›Man muss den Naturzustand verlassen‹ (exeundum est e statu naturali) ergibt sich für ihn daraus, dass jeder rationale Akteur aus der Staatserrichtung einen massiven Vorteil zieht. Die Beteiligten schließen untereinander (nicht mit dem künftigen Herrscher) einen Kontrakt ab, den man deswegen als ›horizontalen Unterwerfungsvertrag‹ bezeichnet. D. h. die Vertragschließenden verpflichten sich wechselseitig zur Unterwerfung unter einen mächtigen, zwangsbefugten Regenten, 189 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Vertragstheorien

der selbst kein Vertragspartner ist. Was Hobbes de facto legitimiert, ist die Herrschaftsform des monarchischen Absolutismus; er charakterisiert den Staat als bedrohliches Ungeheuer (als einen ›Leviathan‹, daher der Werktitel), als einen ›Wolf innerhalb der Stadtmauern‹ sowie als ›sterblichen Gott‹. Dem berechtigten Vorwurf, Hobbes’ Staat sei weit von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie entfernt, lässt sich aber immerhin entgegenhalten, dass es Hobbes zunächst nur um den Nachweis geht, jeder Staat, also jede Form von zwangsförmig geregelter Kooperation, sei besser als ein Zustand der Anarchie. Wie ist der Hobbes’sche Ansatz zu beurteilen? Gegenüber dem älteren metaphysisch-theologischen Naturrechtsdenken besitzt sein Kontraktualismus zunächst drei erhebliche Vorzüge, nämlich den Aspekt des Individualismus (also die Tatsache, dass Hobbes mit seiner Staatsbegründung bei den Individuen ansetzt), den Aspekt des Prozeduralismus (d. h. den Umstand, dass er den Staat aus einer Einigungsprozedur hervorgehen lässt) und den Aspekt des Voluntarismus (die Tatsache, dass auf die willentliche Zustimmung des Einzelnen rekurriert wird). Weitere Vorteile ergeben sich aus den folgenden fünf Kennzeichen: (1) Ein Kontrakt setzt bestimmte Anerkennungsverhältnisse voraus; die Kontrahenten (= Vertragspartner) müssen aneinander grundsätzlich als vertragswürdig und vertragsfähig ansehen. Wer mit jemandem einen Vertrag abschließt, ist implizit genötigt, den Betreffenden als gleichwertige Rechtsperson anzuerkennen; er muss zubilligen, dass der andere etwas zu bieten hat, und muss respektieren, dass er dieses nur auf dem Weg des Angebots einer angemessenen Gegenleistung bekommen kann. Zu diesem Zweck muss er seine eigene Zuverlässigkeit versichern, muss auf die Glaubwürdigkeit des anderen vertrauen und muss sich für die Wahrung der Bedingungen interessieren, unter denen der andere den Vertrag einhalten kann. (2) Ein Vertrag vollzieht sich auf allen Seiten zwanglos, d. h. er genügt dem Grundsatz volenti non fit iniuria (Dem, der willentlich zustimmt, geschieht kein Unrecht). Die Zustimmung, durch die ein Vertrag zustande kommt, setzt insofern autonome Akteure voraus, und zwar müssen exakt diejenigen autonom sein, die für den Vertragsakt optieren. Wer nicht zustimmen will oder 190 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Das Paradigma von Hobbes

keinen hinreichenden Zustimmungsgrund sieht, ist auch nicht genötigt, sich an der Vereinbarung zu beteiligen. (3) Ein Vertragsabschluss impliziert eine allseitige Vorteilsunterstellung; jeder der am Vertrag Beteiligten erwartet etwas für ihn Nützliches. Verträge sind distributiv vorteilhaft, welche persönlichen Präferenzen auch immer vorliegen mögen. Zwei Teilaspekte sind in dieser Vorteilsunterstellung enthalten: (a) der Stabilitätsaspekt und (b) der Verkraftbarkeitsaspekt. Mit (a) sind Faktoren gemeint wie Kontinuität, Berechenbarkeit und Dauerhaftigkeit, die sich aus dem Vertrag ergeben soll und die in der strikten Grundregel pacta sunt servanda ihren Ausdruck findet. Unter (b) ist das vertragsimmanente Prinzip zu verstehen, dass das herzugebende Gut oder die zu erbringende Leistung für jeden der Kontrahenten als preisgebbar bzw. als aufwendbar erscheinen muss; niemand trennt sich freiwillig und überlegtermaßen von einem unentbehrlichen Gut oder verpflichtet sich zu Leistungen, die ihn überfordern würden. (4) Jedem Vertragsabschluss liegt eine Symmetrie- oder Äquivalenzunterstellung zugrunde; der Vertrag beruht auf einem Gleichwertigkeitskalkül, bei dem jeder der Beteiligten gleichermaßen in die Pflicht genommen wird oder gleiche Vorteile erhält oder aber etwas Gleichwertiges für das bekommt, was er hergibt. Und (5) Verträge konstitutieren eine Sphäre der Intersubjektivität, der geteilten Zielvorstellungen, der Übereinkunft, indem sich irgendwelche Einzelwillen zu einem Gemeinwillen verbinden. Hier berührt sich der vierte Punkt mit dem ersten: Durch Verträge wird eine Atmosphäre reziproker Anerkennung, ein Milieu von Treu und Glauben und vielleicht sogar eine Tendenz zum Gemeinsinn hergestellt. Verträge konstituieren eine Sphäre der Intersubjektivität und der geteilten Zielvorstellungen; sie repräsentieren nicht allein nur die Summe aller Einzelwillen, sondern nähern sich mehr oder minder dem Ideal einer volonté générale. Gravierende Bedenken gegen Hobbes’ Modell sind jedoch folgende: [i] Die Vorstellung einer Handlungswahl nach dem Muster strategischer Rationalität wirkt wie eine unzulässige Modellbildung, eine weltferne Idealisierung. Menschen handeln längst nicht immer, vielleicht sogar fast nie nach dem homo oeconomicus-Modell. [ii] Der Ausgangszustand, in welchem es zum Ver191 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Vertragstheorien

tragsabschluss kommen soll, muss entweder von vornherein in moralisch gehaltvoller Weise beschrieben werden, oder aber er führt nicht zum gewünschten Resultat eines fairen und symmetrischen Vertragsabschlusses. Hobbes scheint nicht in der Lage, die Logik des Übergangs vom Natur- in den Rechtszustand plausibel zu machen. [iii] Unklar bleibt auch, weshalb die Vertragsinhalte beim Sprung von der setzenden Gewalt (pouvoir constituant) zur gesetzten Gewalt (pouvoir constitué) gewährleistet bleiben sollten. [iv] Hobbes bietet mit dem Gedanken der Furcht vor dem Sanktionsdruck keine zureichende und keine angemessen wirkende Motivationsquelle für die normative Verpflichtung der vertraglich Gebundenen. [v] Das Prinzip volenti non fit iniuria unterstellt, alle Akteure hätten gute Gründe, der Staatserrichtung zuzustimmen. Aber es gibt das Problem des ›Trittbrettfahrers‹ (free-rider-Problem): Gemäß der homo oeconomicus-Rationalität wäre es für jeden Einzelnen am günstigsten, wenn sich alle Anderen an die gemeinschaftlichen Regeln hielten, er selbst hingegen nicht (sondern seine Regelbefolgung allenfalls vortäuschte); da dies aber für alle gilt, müsste es theoriegemäß zu einer Erosion der Regelbefolgung kommen. [vi] Und schließlich ist die Idee der Zustimmung zum Gesellschaftsvertrag doppeldeutig. Man kann beim Vertragsschluss im Naturzustand einerseits an eine empirisch-subjektive Zustimmung denken. Doch kann sich jemand ablehnend verhalten, selbst wenn dies irrational wäre. Andererseits kann man die rationale, informierte, im wohlverstandenen Eigeninteresse liegende Zustimmung meinen. Aber dann beruht die Zustimmung nur auf einem hypothetischen Akt; aber ein hypothetischer Vertrag bindet niemanden – das kann nur ein realer Vertrag tun. Mehrere dieser Einwände werden im folgenden Abschnitt noch genauer ausgeführt.

5.2 Zeitgenössische Vertragstheorien Vertragstheorien beruhen grundsätzlich auf folgenden Merkmalen: Sie stützen sich auf die Idee einer sozialen Ausgangssituation, des ›Naturzustands‹ oder, wie Rawls sagt, des ›Ursprungs192 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Zeitgenössische Vertragstheorien

zustands‹ (original position), in welchem es noch keine Institutionen gibt, die Regeln festlegen und durchsetzen könnten. Dieser Zustand ist entweder historisch gemeint, oder er besitzt die Form eines Gedankenexperiments, wie wir dies bei Hobbes sahen. Im Naturzustand gelten entweder bereits bestimmte Regeln (oft spricht man dann vom ›Naturrecht‹ oder von ›natürlichen Gesetzen‹), oder es gelten z. B. die Regeln der strategischen Rationalität. Jedenfalls soll es im Naturzustand starke (oder sogar zwingende) Gründe dafür geben, zu einer Einigung über die Staatsetablierung oder die moralische Normgeltung zu gelangen. Die getroffene Einigung besitzt entweder eine irreversible Gültigkeit, oder sie gilt zumindest, solange die Gründe für die Staatserrichtung bzw. Normgeltung fortbestehen. Ein willkürlicher individueller Rücktritt vom Vertrag ist jedenfalls ausgeschlossen. Es werden weisungs- und durchsetzungsbefugte Institutionen oder Regelsysteme gebildet, denen gegenüber die fraglichen Personen zu Loyalität und Gehorsam verpflichtet sind. Erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Vertragskonzeptionen ergeben sich aus den folgenden Fragen: Wer sind die vertragschließenden Individuen? Mit welchen Eigenschaften, Interessen und Fähigkeiten sind sie ausgestattet? Mit welchen Zusatzannahmen, Abstraktionen oder Idealisierungen ist der Naturzustand versehen? Worin liegen die Motive für ihre Einigung? Worauf genau verständigen sie sich bei ihrer vertraglichen Einigung? Zentral ist (wie schon betont) die Unterscheidung zwischen Vertragstheorien, die ausschließlich politische Normativität legitimieren sollen, solchen, die nur zur Rechtfertigung moralischer Normativität dienen, und solchen, die beide Normativitätsbereiche miteinander verbinden. Während etwa Robert Nozick in seinem Werk Anarchy, State, and Utopia (1974) und James Buchanan in The Limits of Liberty (1975) für einen politischen Kontraktualismus argumentieren, sind David Gauthier in Morals by Agreement (1986) und Peter Stemmer in Handeln zugunsten anderer (2000) an der Fundierung moralischer Normen interessiert. David Gauthier versucht in seinem Buch Morals by Agreement eine detaillierte Rekonstruktion der Moral auf der Grundlage einer rational choice-Theorie zu liefern. Eine grundlegende 193 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Affinität zu marktliberalen Gesellschaftsidealen durchzieht das Buch. Es erhebt den starken Anspruch, dass sich Moral aus einer Menge von rationalen Prinzipien generieren lässt. Gauthier möchte zeigen, dass (und warum) ein individueller Akteur, wenn er von diesen nicht-moralischen Prämissen ausgehend überlegt, die Grenzen, welche die Moral seiner Handlungswahl auferlegt, aus wohlverstandenem Eigennutz akzeptieren würde (1986: 5): »[…] we claim to generate morality as a set of rational principles for choice. We are committed to showing why an individual, reasoning from non-moral premises, would accept the constraints of morality on his choices.«

Gauthiers Grundthese lautet somit, dass sich moralisches Handeln als für den individuellen Nutzenmaximierer vorteilhaft darstellen lässt. Er formuliert dafür die Idee eines ›Archimedischen Punkts‹, d. h. eines unparteilichen Blicks auf die sozialen Strukturen einer Gesellschaft, und behauptet, diese sei genau dann moralisch richtig organisiert, wenn die Akteure sich rationalerweise gemeinsam akzeptierte Handlungsbeschränkungen aus der Perspektive nicht-moralischer rational choice-Prämissen auferlegen würden. Eine Schwierigkeit, die er dabei zu überwinden hat, ergibt sich aus der Frage, was ein rationaler Akteur eigentlich anstrebt. Sind es die Güter, von denen der Commonsense behauptet, jeder wolle lieber mehr als weniger von ihnen besitzen, also Geld, Macht, Vergnügen, soziales Ansehen usw.? Gauthier bleibt hier zurückhaltend; er hält individuelle Präferenzen für nicht objektiv ermittelbar und glaubt stattdessen, sie seien subjektiv und relativ. Aus diesem Anti-Objektivismus ergeben sich jedoch zahlreiche Probleme; tatsächlich gesteht Gauthier beispielsweise zu, dass die Präferenz der Azteken, den Hunger der Götter durch Menschenopfer zu stillen, zwar in unseren Augen irrational sein möge, aber dennoch eine echte und beachtenswerte Präferenz sei (1986: 29). Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus erwarteten künftigen Präferenzen und der Frage, ob man sie rationalerweise den aktu-

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ellen Präferenzen gleichstellen oder sie sonstwie einbeziehen soll (1986: 36–38). Gauthiers Theorie beruht nun im Kern darauf, dass die auszuwählende moralische Ordnung (welche auch immer) für den Akteur nach den Maßstäben der Bayes’schen Entscheidungstheorie und der Spieltheorie nach von Neumann und Morgenstern rational sein muss. Die Vertragspartnerinnen und -partner, die einen Moralvertrag miteinander schließen, kennen in der initial bargaining position – im Unterschied zu den Wählern, die sich bei John Rawls hinter dem ›Schleier der Unwissenheit‹ (veil of ignorance) befinden – ihre persönlichen Eigenschaften, Lebensumstände und persönlichen Präferenzen. Gauthier hat nun hauptsächlich zwei Probleme zu bewältigen: das Bargaining-Problem und das Compliance-Problem. Ersteres besteht darin zu erklären, wie rationale Akteure überhaupt zu einer Einigung gelangen können. Letzteres betrifft die Frage, weshalb sich rationale Akteure an die getroffene Absprache halten sollten. Das Bargaining-Problem ist dann gelöst, wenn sich zeigen lässt, dass sich eine Moralordnung finden lässt, die für alle Wählenden (als rationale Vorteilsmehrer) Pareto-optimal ist; d. h. kein anderer wählbarer Zustand ist für jemanden besser, ohne zugleich für einen Anderen schlechter zu sein. Dafür schlägt Gauthier das Minimax-Prinzip relativer Zugeständnisse vor (1986: Kap. V). Das bedeutet: Zunächst will jeder Verhandlungspartner für sich selbst ein Nutzenmaximum aus dem Kooperationsertrag aushandeln; jeder muss jedoch auch Konzessionen machen. Von ›relativen Konzessionen‹ spricht Gauthier, weil er keine objektiven Nutzenfunktionen annehmen kann, weswegen ›Nutzen‹ immer relativ auf die individuelle Präferenzerfüllung bestimmt werden muss. Die relativen Zugeständnisse der Vertragspartner sind numerisch angebbar und daher miteinander vergleichbar. Das Minimax-Prinzip besagt nun, dass das Minimum maximaler Zugeständnisse gewählt werden soll. Als Folge daraus ergibt sich, dass in der auszuwählenden Moralordnung den beteiligten Akteuren gleich große Zugeständnisse abverlangt und die Kooperationserträge gleichmäßig verteilt werden. Im Anschluss an Robert Nozick ergänzt er dies um eine Variante von ›Lockes Klausel‹ (Locke’s proviso): Kein Akteur darf die 195 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Situation eines anderen verschlechtern, es sei denn, er vermeide dadurch eine Verschlechterung seiner eigenen Situation. Niemand muss, um Gauthiers eigenes Beispiel zu verwenden, einen Ertrinkenden aus einem Fluss retten; aber niemand darf ihn aktiv hineinstoßen und dann dessen Hilferufe ignorieren (1986: 204). Nach Gauthier stellt diese Klausel sicher, dass es weder Trittbrettfahrer (also Leute, die Vorteile aus der Kooperation anderer ziehen, ohne ihren Kostenanteil daran zu tragen) noch ›Parasiten‹ (Personen, die ihren Kostenanteil ganz oder teilweise Anderen aufbürden) gibt. Das Compliance-Problem ist für Gauthier gelöst, wenn sich darlegen lässt, dass ein Vorteilsmehrer, der statt der direkten Maximierungsstrategie (straightforward maximization) eine indirekte, begrenzte Maximierungsstrategie (constrained maximization) wählt, rational handelt. Tatsächlich lässt sich dem Ansatz zufolge zeigen, dass die begrenzte Maximierungsstrategie immer rational vorteilhaft ist. Ein Vorteil von Gauthiers Modell – und generell von kontraktualistischen Moraltheorien – besteht darin, dass sie die Bürden der metaethischen Diskussion nicht zu tragen brauchen. Moral erscheint hier einfach als soziales Konstrukt – ganz gleich etwa, welche biologischen Wurzeln es darüber hinaus in der menschlichen Natur für sie geben mag oder wie man Moral aus Freiheit als Autonomie, der intelligiblen Seite des Menschen, zu gewinnen versuchen könnte. Gauthier kann z. B. im Streit zwischen Naturalisten und Idealisten einfach neutral bleiben. Ein Nachteil besteht jedoch darin, dass er zu wenig berücksichtigt, dass bereits die Situation der Aushandlung des Moralvertrags moralisch belastet sein kann. Bestehen beispielsweise sexistische oder rassistische Identitätsvorurteile und Abwertungsmuster, dann wird dies auch auf die vertragliche Einigung durchschlagen (bias-Problem). Peter Stemmer hat sein Vertragsmodell in Anlehnung an David Gauthier besonders in dem Buch Handeln zugunsten anderer (2000) entwickelt. Sein Ausgangspunkt liegt in einer Beschreibung des moralischen Gefordertseins (des ›praktischen Müssens‹, wie er sagt) als einer Forderung, die sich gegen das eigene Wollen des Akteurs richtet und dem sich dennoch niemand entziehen kann (2000: 11 f.). Gegen Kant wendet sich Stemmer, wenn er die 196 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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so bestimmten Moralforderungen nicht als ›vernünftig‹ gelten lassen will (2000: 24). ›Rational‹ handle jemand vielmehr nur dann, wenn er seine eigenen Wünsche – welche auch immer – in angemessener Weise verfolge. Damit gelangt Stemmer zu einer Theorie des »notwendig egozentrischen« Handelns – was nicht meint, jeder müsse egoistisch eingestellt sein, sondern nur, dass jeder mit Blick auf seine eigenen Wünsche handeln müsse (2000: 37). Moralische Forderungen versteht Stemmer also als dem fremden Nutzen dienende Pflichten, wenn auch nicht als erpresserische Forderungen wie etwa diejenigen, die typischerweise ein Straßenräuber mit vorgehaltener Pistole an einen Passanten richtet. Dass jemand die moralische Pflicht hat, eine Handlung zu tun, ist vielmehr damit korreliert, dass ein Anderer das Recht hat, die entsprechende Leistung zu erhalten. Moral konzipiert Stemmer folglich als ein System von Sanktionen und Sanktionsdrohungen, das auf einem freien, gegenseitigen Versprechen beruht. Das ›Müssen‹ des moralischen verpflichteten Akteurs kann so als reziproker Zwang durch Sanktionsdruck verstanden werden. Schuld und Schuldgefühle spielen hingegen keine Rolle. Stemmer lässt einen imaginären Gesprächspartner sagen (2000: 137): »Wer ein Unrecht tut, verstößt also nicht gegen eine Norm einer objektiven moralischen Ordnung, er tut etwas, was mit Sanktionen belegt ist und ihm folglich schwerwiegende Nachteile bringt. Und was er deshalb im Rückblick lieber nicht getan hätte. Dies ist aber kein Grund, sich Schuldvorwürfe zu machen. Der Übeltäter hat, so wie du ihn verstehst, keine Schuld auf sich geladen. Er hat sich auf eine spezifische Weise irrational verhalten.«

Stemmer gibt diesem als Einwand formulierten Punkt tatsächlich recht: Wenn wir moralisch empört sind, sollten wir dies nicht mit einem Schuldvorwurf verbinden. Der unmoralische Akteur ist vielmehr einfach irrational. Zudem bemüht sich Stemmer darum, das Problem des ›Trittbrettfahrens‹ durch die Einbeziehung verinnerlichter Moral – nämlich im Sinn eines internalisierten Sanktionsdrucks – zu lösen. Sein Ansatz ist der eines interessenkonvergenten, hypothetischen Kontraktualismus, bei dem Moral als 197 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Ergebnis einer Einigung rationaler Akteure verstanden wird. Allerdings entsteht dabei, wie Stemmer selbst einräumt, lediglich eine ›Minimalmoral‹, und diese ist weder universalistisch noch egalitär – da sie ja auf einem Einigungsszenario beruht, das sich zwischen hinreichend mächtigen Vertragspartnern abspielt. Daraus ergibt sich allerdings nur ein Teil dessen, was wir nach konventioneller Auffassung als moralisch wünschenswert ansehen würden; die entstehende Deckungslücke in seinem eigenen Ansatz will Stemmer durch zusätzliche Quellen des Altruismus schließen (2000: 294): »Unser Verhalten zugunsten anderer kommt zum allergrößten Teil aus anderen, nicht-moralischen Quellen, so aus altruistischen Präferenzen und Idealen, aus Sensibilität für das Leiden anderer, aus einem biologisch-genetisch fundierten Altruismus, aus einem Gefühl der Verbundenheit und Gemeinschaft, aus Freundschaft, Sympathie, Zuneigung und Liebe, aus Anpassung an das, was andere tun, an das, was andere erwarten, aus Streben nach Anerkennung, Zuneigung und Reputation, natürlich auch aus handfesterem Eigennutz, aus der Erwartung von Vorteilen und reziprokem Verhalten und – ganz wichtig – aus Angst vor dem Schwächeren, der vielleicht schon morgen in einer besseren Situation sein wird oder unzufrieden und rebellisch werden wird.«

Stemmer ist unter den moralischen Kontraktualisten vielleicht derjenige, der den revisionären Charakter seines Ansatzes für die gesellschaftliche Funktion von Moral wohl am klarsten sieht. Seine Rekonstruktion von Moralität verändert durch die Art des Vorgehens den Gegenstand, den sie rekonstruieren will. Stemmers Vertragsmodell, so zeigt sich, rekonstruiert unsere Moralintuition allenfalls so weit, wie die Ausgangssituation für einen Vertragsschluss bereits massiv moralisch vordefiniert ist. Ist dies richtig, so gilt generell, dass nicht jede vertragliche Einigung auf der Basis strategischer Rationalität Moral abbildet. Sie spiegelt allenfalls einen, wenn auch vielleicht relevanten Schritt innerhalb unserer Moralitätskonzeption: den der allgemeinen Anerkennungsfähigkeit als Geltungsbedingung moralischer Ge198 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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halte. Allerdings kann man zu bedenken geben, dass Anerkennungsfähigkeit nicht gleichbedeutend mit Moralität ist und dass überdies Moralität nur in einem sehr bestimmten Sinn Anerkennungsfähigkeit bedeutet: in dem Sinn, dass moralische Institutionen oder Regeln akzeptabel sind, weil sie die wesentlichen Güter und Interessen aller Betroffenen berücksichtigen. Das Kausalverhältnis zwischen vertraglicher Anerkennung und Moralität scheint eher umgekehrt zu sein: Weil einige wenige Verträge diese oder jene moralisch legitime Institution oder Regel festlegen, verdienen sie eine allgemeine Anerkennung, und nicht: weil Verträge unter allen Umständen unserer Fairnessintuition genügen (was beileibe nicht zutrifft), sind Vertragsresultate moralisch legitimiert. Eine interessante Variante innerhalb des Spektrums der Vertragstheorien wird von Otfried Höffe in einer Reihe von Aufsätzen entwickelt (besonders 1990, 1991 und 1997). Was Höffe von anderen kontraktualistischen Positionen unterscheidet, ist sein Begriff ›transzendentaler Interessen‹. Diesen Begriff verwendet er, um Moral als einen wechselseitigen vertragsförmigen Tausch darzustellen. Bei Höffes Tauschgedanke handelt es sich um einen Tausch von Gewaltverzichten, von dem der Autor behauptet, es handle sich um eine Art anthropologisch-invariantes Phänomen. Höffe kennzeichnet den Tauschakt im Urzustand als einen ›transzendentalen Tausch‹; die Vertragspartner erkennen dabei wechselseitig nicht irgendwelche Präferenzen an, sondern ihre transzendentalen Interessen (1990: 138 und 1992: 20): »[…] die eigene Fähigkeit, Täter von Gewalt zu sein, tauscht man für das Interesse ein, fremder Gewalt nicht zum Opfer zu fallen. Für diesen Tausch ist charakteristisch, daß man das eigene Interesse nur verwirklichen kann durch eine negative Leistung, die die anderen, und zwar alle anderen, erbringen müssen, durch den universalen Verzicht auf Gewaltausübung.«

Höffe zufolge richten sich transzendentale Interessen auf eine Reihe besonders elementarer Güter. Genauer gesagt soll es sich dabei um Interessen handeln, deren Erfüllung die Voraussetzung 199 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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dafür darstellt, dass jemand gewöhnliche Interessen überhaupt haben und verfolgen kann (1991: 26 und 1992: 23). Für das Vorliegen transzendentaler Interessen argumentiert er mit einem Gedankenexperiment (vgl. 1991: 26 f. und 1996, 76): Bestimmte Güter nehmen einen übergeordneten Rang ein, beispielsweise das eigene Leben; dies zeige sich daran, dass sogar ein zum Selbstopfer bereiter Terrorist sein Leben nicht beliebig herzugeben bereit sei; der Suizidattentäter wolle z. B. nicht auf dem Weg zum Ort seines Anschlags von einem Straßenräuber getötet werden. Höffe weist also darauf hin, dass auch der Terrorist an seinem Leben keineswegs völlig desinteressiert ist; er ist nur zu einem bestimmten, nicht zu einem beliebigen Selbstopfer bereit. Zunächst legt sich ein Missverständnis der Höffe’schen Intention nahe. Was damit gezeigt werden soll, ist nicht, dass jemand, der sein Leben opfert, daran unter veränderten Umständen (vielleicht sogar unter allen anderen Umständen) dennoch ein Erhaltungsinteresse hat, sondern vielmehr, dass niemand anders kann, als prinzipiell an seinem eigenen Leben interessiert zu sein – und warum dies so ist. Gegen das Selbstopferbeispiel könnte man nämlich einwenden, dass auch jemand, der etwas vergleichsweise achtlos hergibt, z. B. einen geringen Geldbetrag an einen Bettler, daran immer noch ein hinreichend großes Interesse hat, um ein achtloses Hergeben unter anderen Umständen auszuschließen. Beispielsweise könnte der Betreffende das Geld nur hergeben wollen, wenn es tatsächlich einem notleidenden Bettler nützt; dagegen könnte er einen Diebstahl oder einen Betrug, der zum Verlust desselben kleinen Geldbetrags führt, durchaus nicht hinnehmen wollen. Niemand würde jedoch ein derart bleibendes Interesse als transzendental kennzeichnen. Höffes Intention ist es jedoch zu zeigen, dass niemand umhinkommt, an seinem Leben interessiert zu sein, auch wenn er es faktisch hergibt, während ein geringfügiger Geldbetrag auch dann nur bedingt von Interesse ist, wenn sich jemand faktisch über seinen Verlust ärgern sollte. An Gütern wie Leib und Leben, Gesundheit, Sprach-, Denk- und Kommunikationsfähigkeit, zumindest elementarem Besitz, elementarer Bildung, an Freizügigkeit, Meinungsfreiheit oder wenigstens basaler sozialer Anerkennung 200 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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hat jeder Akteur ein Interesse, das erheblich über das Interesse an einem kleinen Geldbetrag, einer Freizeitbeschäftigung oder einer kulinarischen Köstlichkeit hinausreicht, und zwar auch dann, wenn er explizit, und zwar irrtümlich, eines der beiden letztgenannten Güter vorziehen würde. Das eigene Leben ist für den Handelnden weder zwingend ein intrinsischer noch gar ein letzter Zweck. Höffe sagt zu Recht, es könne für etwas eingesetzt, geopfert oder preisgegeben werden, etwa für bestimmte politische oder religiöse Ziele oder in einem Akt moralischer Selbstopferung. Die Selbsterhaltung und ebenso die anderen transzendentalen Interessen sind zweifellos als Mittel zu einem Ziel verwendbar. Um Höffes Intention genauer nachzuvollziehen, lohnt sich ein Blick auf seine Aufzählung der Arten und Merkmale transzendentaler Interessen. Seine Aufzählungen erheben keinen Vollständigkeitsanspruch: Außer dem Interesse an Leib und Leben, Eigentum und gutem Ruf nennt Höffe die soziale Kommunikationsfähigkeit sowie die Sprach- und Denkfähigkeit (1991: 27). Höffe kennzeichnet die transzendentalen Interessen dadurch, dass man sie »weder zugunsten höherer Interessen aufgeben noch gegen gleichrangige abwägen« könne; sie seien ferner dadurch charakterisiert, dass man sie »immer schon will, wenn man irgend etwas will« (1992: 22). Offenkundig ist damit eine hypothetische Unverzichtbarkeit anvisiert: Die logische Höherstufigkeit transzendentaler Interessen ist nicht so gemeint, dass man sie auf jeden Fall, also kategorisch, wollen muss; es soll sich bei ihnen vielmehr um Bedingungen handeln, die sicherstellen, »dass man gewöhnliche Interessen überhaupt haben und verfolgen kann« (1991: 25 und 1996: 77). Das bedeutet offenbar: Wenn ein Akteur irgendwelche Interessen verfolgt, dann muss er zugestehen, dass er implizit auch die transzendentalen Interessen als deren Präsuppositionen verfolgt. Der Ausdruck ›transzendental‹ bezeichnet dabei den conditio sine qua non-Charakter dieser Bedingungen, nicht eine erkenntniskonstitutive Leistung; zudem bezieht er sich auf materielle Güter ebenso wie auf natürliche oder soziale Fähigkeiten. Dass er in gewisser Hinsicht problematisch ist, räumt Höffe durch den einschränkenden Zusatz ›relativ transzendental‹ 201 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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selbst ein. In dieser Einschränkung kommt die Beobachtung zum Ausdruck, dass der gemeinte conditio sine qua non-Charakter nicht strenger Art ist. Analog zu H. Frankfurts Begriff von second-order desires könnte man von ›Interessen zweiter Ordnung‹ sprechen. Auch wenn Höffes Ansatz einen Sonderfall markiert, für den man den Begriff des ›Kantischen Kontraktualismus‹ wählen mag, ist er doch auch den meisten Einwänden ausgesetzt, die sich gegen moralische Vertragstheorien überhaupt richten lassen. Ein erster Einwand lautet: Der Ausgangszustand, in welchem es zum Vertragsabschluss kommen soll, muss entweder von vornherein in moralisch gehaltvoller Weise beschrieben werden, oder aber er führt nicht zum gewünschten Resultat einer Moralrekonstruktion. Stimmt dieser Einwand, so erbringen Vertragstheorien überhaupt nur dann moralähnliche Resultate, wenn man diese zuvor als Prämissen in sie investiert hat. Und in der Tat ist die im Kontraktualismus in Anspruch genommene Ausgangssituation dadurch gekennzeichnet, dass Individuen unter ungefähren Gleichheitsbedingungen eine Vereinbarung zur wechselseitigen Anerkennung von Rechten und Pflichten treffen. Dass die erreichten Resultate derart weitgehend unserer moralischen Intuition standhalten, liegt so betrachtet einfach daran, dass eine symmetrische und egalitäre Ausgangssituation gewählt worden ist, insbesondere die Annahme einer Bedrohungssymmetrie. Was ist mit Schwächeren, schlechter Gestellten, Kindern, Behinderten oder mit künftigen Generationen? Um die Moralität des Vertragsschlusses zu garantieren, werden im Kontraktualismus meist fünf implizite Vorannahmen gemacht, von denen man nur schwer sieht, weshalb sie unkontrovers oder selbstverständlich sein sollten: (1) Keiner der Kontrahenten weist gegenüber den anderen ein entscheidungsrelevantes Informationsdefizit oder einen Informationsvorsprung auf. (2) Bei keinem der Vertragspartner sind irgendwelche unvernünftigen Motive im Spiel, die ihn daran hindern würden, seine wohlverstandenen Interessen zu begreifen, zu artikulieren, zu verfolgen und durchzusetzen. (3) Bei keinem der Vertragspartner spielen Täuschungsabsichten oder auch nur ein pointiert strategisches Verhalten eine 202 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Rolle. (4) Die getroffenen Vertragsvereinbarungen vollziehen sich nicht (oder doch nicht primär) auf Kosten Dritter. Besonders wichtig scheint Voraussetzung (5): Es wird implizit ausgeschlossen, dass ein Individuum A die Not- oder Zwangslage von B zu einem einseitig vorteilhaften Vertragsabschluss ausnützen kann. Dieser Fall droht immer dann, wenn die Ausstattungsprofile der am Kontrakt Beteiligten hinsichtlich der Güter Begabung, Körperkraft, Macht, Reichtum usw. so unterschiedlich sind, dass der eine weit stärker am Zustandekommen des Austauschs interessiert sein muss als der andere. Äußerstenfalls kann ein Kontrakt dann den Charakter eines Sklavenvertrags annehmen. Man betrachte folgendes Beispiel: Gesetzt den Fall, ein Sklavenhalter böte seinen Knechten eine Übereinkunft an, nach der er für eine nennenswerte Mehrleistung an Feldarbeit künftig auf körperliche Misshandlungen verzichten würde. Wäre ein solcher Vertrag nicht als unmoralisch anzusehen, und zwar wegen seiner asymmetrischen Ausgangssituation, obwohl er andererseits sicherlich ausgewogen (im Sinn der Äquivalenz von Gabe und Gegengabe) ist und sogar beinahe einen menschenrechtsetablierenden Charakter aufweist? Für einen moralisch korrekten Vertragsschluss muss das Ausgangsinteresse an der Übereinkunft in etwa gleich groß sein – und dies setzt zwingend eine ungefähre Gleichverteilung von dispositionellen, materiellen und sozialen Ressourcen voraus. Was zweitens Skepsis gegen vertragstheoretische Formen von Moralrekonstruktion auf sich zieht, sind jene idealisierenden Annahmen einer homo oeconomicus-Anthropologie, auf der alle bargaining-Ansätze beruhen, insbesondere das reduktionistische Verständnis der Präferenzen der Urzustandsteilnehmer sowie die Vorstellung einer Handlungswahl nach dem rational choice-Muster. Soziale Präferenzen wie Altruismus oder Mitgefühl zu streichen, scheint völlig unrealistisch zu sein; umgekehrt scheinen auch Neid, Hass, Rachegefühle oder Missgunst schwer ignorierbar zu sein. Gewöhnliche Akteure zeigen neben egoistischen immer auch ›tuistische‹ Einstellungen, und zwar solche positiver und negativer Art. Insbesondere Amartya Sen (1984) hat sich vehement gegen die Verfehltheit der idealisierenden Annahme ›rationaler Akteure‹ gewandt; Sen spricht ironisch von ›rationalen Trot203 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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teln‹ (rational fools). Dass gruppen- oder menschheitsbezogene Fairness- und Gerechtigkeitsintuitionen für Akteure ebenso relevant sein können wie die individuelle Vorteilsorientierung, zeigt auch die empirische Sozialpsychologie sowie die behavioral economics in ihren jüngeren Untersuchungen. Drittens gibt es Bedenken gegen den Vertragsbegriff als solchen. Moralphilosophisch betrachtet unterscheidet sich die Vertragsidee deutlich von anderen normativen Basisbegriffen. Der Vertrag hat keinen bestimmten normativen Gehalt, so dass der Anspruch fragwürdig wirkt, er eigne sich dazu, moralische Normativität zu rekonstruieren. Vielmehr beruht das Vertragskonzept auf einer Verfahrensidee. Zudem kann eine Sozialkontrakttheorie auf den Vertragsbegriff nur im metaphorischen Sinn zurückgreifen. Diese Metaphorizität besteht gleich auf doppelte Weise: Zum einen kann der Kontraktualismus unmöglich behaupten, alle faktischen Verträge seien der Inbegriff legitimer Normativität, und zum anderen wäre die These absurd, der tatsächlich gemeinte Vertrag sei einer unter den faktisch-historischen. Doch inwiefern eignet sich der lebenspraktische oder privatrechtliche Vertragsbegriff dazu, auch nur metaphorisch auf die Praktische Philosophie übertragen zu werden? Wenigstens auf den ersten Blick gewinnt man einen gemischten Eindruck: Verträge sind freiwillige, widerrufbare, Verbindlichkeit konstituierende Rechtsgeschäfte zwischen autonomen Individuen, die im Rahmen einer bereits bestehenden Rechtsordnung vor dem Hintergrund wohlüberlegter Individualinteressen zum Zweck einer vorteilhaften Kooperation vereinbart werden. Das Vertragsdenken wirkt somit insgesamt befremdlich: Denn warum sollte das Alltagsphänomen des Verträgeschließens, das sich stets im Rahmen einer bestehenden Rechtsordnung abspielt, irgendetwas mit dem zu tun haben, was wir rechtsordnungstranszendent als normativ ansehen würden? In gewisser Weise wirkt der Vertragsbegriff hier zu unspezifisch; ungleich treffender scheinen mir Ausdrücke wie ›Geschäftsabschluss‹ oder ›Handelsübereinkommen‹ zu sein; nicht umsonst spricht man in der anglophonen Welt vom bargaining-Modell, bei welchem dealmaker aufeinandertreffen. 204 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Vertragstheorien scheinen viertens unfähig, die Logik des Übergangs vom Natur- in den Rechtszustand plausibel zu machen. Offenbar gehen sie bei ihrer Erläuterung zirkulär vor; der Vertragsgedanke erscheint als ein merkwürdiges hysteron-proteron. Denn Verträge beruhen auf der Erwartung, man könne sich auf ihre erste Umsetzung und ihre künftige Einhaltung unter Sanktionsbedingungen verlassen. Es liegt insofern auf der Hand, dass die Vertragsdurchsetzung von Anfang an eine Form von Sanktionsgewalt voraussetzt; ansonsten bestünde kaum auch nur die Bereitschaft zum Vertragsschluss. Behauptet der Kontraktualist nun, es gebe auch Vertragsschlüsse ohne Sanktionsdrohung, dann fragt man sich, weshalb es dann überhaupt eines Staates bedürfe, wenn doch Zwangsgewalt keine Gewährleistungsbedingung des Vertrages darstellt. Es besteht aber noch eine speziellere und gravierendere Form von Zirkularität: Worauf verzichten die Naturzustandsteilnehmer beim Vertragsschluss? Man wird kaum sagen können, jeder einzelne verzichte beispielsweise auf seine Tötungsfähigkeit; denn natürlich braucht sich niemand infolge des Vertrags zu verstümmeln, um sich etwa die Fähigkeit zum Töten zu nehmen. Ebenso wenig verzichten die Individuen aber auf ihre Tötungsabsichten – sonst müssten sie ja zu Heiligen oder Engeln werden. Offenkundig muss man als Hobbesianer behaupten, sie verzichteten auf ihr natürliches Tötungsrecht. Aber gibt es tatsächlich ein natürliches Tötungsrecht, und wenn ja, wodurch wird es vor Vertragsschluss garantiert? Es scheint abwegig, dies anzunehmen. Schlimmer noch, müsste man beim Vertragsschluss nicht anerkennen, dass die anderen das Recht haben, mich zu töten, und sich erst jetzt, im Augenblick des Vertragsschlusses, dieses Rechts begeben? Hier scheint ein Nest von Absurditäten zu liegen. Es zeigt sich dabei: Kein Vertragsgeschäft lässt sich unabhängig von Gegenständen oder Handlungsoptionen verstehen, die ich wirklich und anerkanntermaßen besitze oder auf die ich ein Recht habe. Erst dadurch, dass jeder über irgendetwas berechtigterweise verfügt, kann ein vertraglich fundierter Gütertausch stattfinden. Anders gesagt, entweder bin ich bereits im Besitz von Rechten, oder es kommt gar nicht erst zu einem Vertragsschluss. Folglich beruhen Vertragstheorien immer auf irgendeiner 205 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Form von Naturrecht, so weit dieses auch vom vormodernen ius naturale entfernt sein mag. Der Vertrag ist ein Rechtsgeschäft; er setzt mithin zwingend eine gewisse Rechtsgeltung und eine wechselseitige Anerkennung dieser Rechtsgeltung voraus. Daran schließt sich ein fünfter Einwand an. Das moralische Vertragsdenken ist nicht erst zur Rekonstruktion, sondern bereits zur Beschreibung des Moralischen ungeeignet. Denn selbst wenn man die oben genannten starken Idealisierungen einmal zugesteht, deckt sich der Vorgang des Verträgeschließens noch immer nicht mit dem, was wir phänomenologisch unter Moral verstehen würden. Vier Facetten dieser Unzulänglichkeit sind besonders wichtig. Erstens scheitert das Vertragsdenken an unserer Intuition insofern, als es Moral, insbesondere die der Grund- und Menschenrechte, nicht als ursprünglich, sondern als Derivat ihres Procedere kennzeichnen muss. Hätte man mit den Personen – per impossibile – im Naturzustand zu tun, so würden zwischen den Betreffenden z. B. keine Grund- oder Menschenrechte mehr gelten. Zweitens scheint das rational choice-Paradigma ungeeignet, den Vorrang moralischer Verpflichtung zu erklären. Es beruht ja auf der Annahme, dass jemand bereit oder geneigt ist, seinen größtmöglichen Vorteil zu suchen, nicht aber, dass er dies kategorisch oder lexikographisch vorgeordnet tun müsste. Die Schwierigkeit besteht folglich darin, dass strategische Rationalität weder direkt zu einer Verpflichtung führt oder indirekt dazu motiviert. Modelle strategischer Rationalität gelangen allenfalls zu hypothetischen, nie zu kategorischen Imperativen. Drittens kommen Vertragsmodelle nur schlecht damit zurecht, dass es asymmetrische moralische Verpflichtungen gibt. Moralisches Handeln bedeutet jedoch mitunter, jemandem Güter zukommen zu lassen, auf die er auch dann einen Anspruch hat, wenn ich von ihm kein Äquivalent erhalte; Moralität deckt sich also nur unter ganz bestimmten Umständen mit Wechselseitigkeit. Und viertens werden Vertragstheoretiker der Bedeutung der moralischen Motivation nicht gerecht. Vielmehr kann man geltend machen, dass sich der Vorrang des Moralischen nur sicherstellen lässt, wenn nicht Handlungsarten und Handlungsfolgen, sondern Motive, Handlungsgrundsätze oder Charaktere als zentral betrachtet werden. 206 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Von diesem Stabilitätsaspekt einmal abgesehen, scheint das Gesinnungselement ohnehin ein unverzichtbarer deskriptiver Bestandteil von Moral zu sein. Nun könnte ein Kontraktualist eine solche Kritik zugestehen und dennoch zu bedenken geben, dass es sich bei der so beschriebenen Moral um eine zu anspruchsvolle, unter Realitätsbedingungen uneinlösbare Fiktion handelt. Kontraktualismus wäre dann nicht die beste, wohl aber die beste verfügbare Option. Damit scheint jedoch der kontrafaktische Charakter des Moralischen missverstanden zu sein. Interessanter wäre wohl der Fall, in dem ein Vertragstheoretiker dieser Moralbeschreibung nicht zustimmt. Würde er aber so argumentieren, dann wäre seine Vertragstheorie nicht mehr als Versuch anzusehen, unsere moralischen Intuitionen zu begründen, sondern als Versuch, sie durch andere Intuitionen zu ersetzen. Ein solches revisionäres Vorgehen hat etwas Befremdliches; es gliche einer philosophischen Ästhetik, die uns darüber belehren wollte, wie Kunsterfahrung sein sollte, statt Deutungskategorien für unsere tatsächliche Kunsterfahrung bereitzustellen. Solange es nicht klar ist, dass Moralbegründung insgesamt zum Scheitern verurteilt ist, könnte man Vertragstheoretiker immer fragen: Warum sollten wir unsere moralischen Intuitionen für etwas anderes eintauschen, nur weil dieses andere im Rahmen des rational choice-Paradigmas begründbar ist (sofern das überhaupt stimmt)? Das scheint dem trivialen Fall zu gleichen, in dem man jemandem, der in einem Möbelgeschäft einen teuren Schrank mit reichlich Stauraum kaufen will, die Empfehlung gibt, er solle stattdessen lieber einen preiswerten Tisch erstehen. Gibt es gute Gründe für jemanden, der einen voluminösen Schrank braucht, auf diesen zugunsten eines Tischs zu verzichten, außer dass der Tisch billig zu haben ist? Gute Gründe für diesen Verzicht lägen allenfalls vor, wenn Schränke dauerhaft ausverkauft wären und wenn wir den Tisch zumindest als einen provisorischen Quasi-Schrank verwenden könnten. Das aber scheint fraglich.

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6. Gefühlsethiken

Unter ›Gefühlsethiken‹ sind Moralphilosophien zu verstehen, die den moralischen Emotionen (besonders Empathie, Mitleid, Liebe, Achtung, Hass, Scham, Reue, Trauer, Freude, Neid usw.) eine herausragende Rolle in der ethischen Theoriebildung zuweisen. Ein pointierter moralischer Sentimentalismus ließe sich im Gegensatz zu einem moralischen Rationalismus wie folgt verstehen: Während ein moralischer Rationalismus wie derjenige Kants behauptet, Moralität sei im Wesentlichen eine Sache der Vernunft – denn ›reine praktische Vernunft‹ bilde sowohl das Auffindungsund Begründungsprinzip als auch das Motivationsprinzip des Moralischen, behauptet der moralische Sentimentalismus, etwa derjenige Arthur Schopenhauers, dass das Moralische in kognitiver, legitimatorischer und motivationaler Hinsicht ursprünglich in unseren Gefühlen verankert sei. So definiert, gab es z. B. in der Antike keinen moralischen Sentimentalismus; wohl aber wurden rationalistische Modelle vertreten, die den Emotionen eine bedeutende Funktion zuwiesen. Die Blütezeit des Sentimentalismus waren das 18. Jahrhundert mit der moral sense-Konzeption und Adam Smiths Ansatz sowie das 19. Jahrhundert mit Schopenhauers Mitleidsethik. In der Gegenwart werden aber wieder Ansätze entwickelt, die man unter die Bezeichnung ›Neosentimentalismus‹ einordnen kann. Vielfach bestehen von diesen Ansätzen aus Verbindungen zu empirischen Untersuchungen der Moralpsychologie.

6.1 Ethik der Emotionen in der Antike Schon in der Philosophie der Antike hat man die Bedeutung der Emotionen, Affekte oder Leidenschaften für die Ethik gesehen. Das hängt besonders mit dem Einfluss der Literatur, nämlich der 208 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Ethik der Emotionen in der Antike

Epen Homers und der attischen Tragödie des 5. Jahrhunderts v. Chr., zusammen: Dort werden Schicksale von Personen vorgeführt, deren Lebensglück unter verhängnisvollen Umständen oder aber aufgrund von Ignoranz und Selbstgerechtigkeit zerbricht. Oft sind dabei heftige Emotionen im Spiel. Der missleitende Charakter von Emotionen lässt sich etwa am Beispiel des Achilleus in der homerischen Ilias erläutern: Achilleus verharrt aus Zorn (mênis) untätig in seinem Zelt, beleidigt darüber, dass man ihm sein ›Ehrengeschenk‹ entzogen hat – obwohl er im Kampfgeschehen eigentlich dringend gebraucht würde. Die weiteren fatalen Kriegsgeschehnisse entwickeln sich aus dieser emotionalen Ausgangssituation. Heißt dies, dass Emotionen für ihren Träger potentiell gefährlich sind, z. B. weil sie die irrationale Seite unserer Psyche repräsentieren? Tatsächlich gibt es bei Platon zumindest der Tendenz nach eine emotionskritische Einschätzung. Nach Platon droht die affektive Seele dann, wenn sie nicht durch rationale Überlegungen gesteuert wird, das Seelenleben zu desorganisieren und eine maßlose Emotionalität zu erzeugen. Es soll also das Kennzeichen einer nicht-harmonischen Seele sein, entgegengesetzte Handlungsimpulse aufzuweisen und »mit sich selbst zu kämpfen« (Politeia X.603d); anders gesagt, die rational ungeschulten Affekte – aber auch nur sie – verhalten sich nach Platon anarchisch. Beispielsweise beruhen äußerst heftige Traueraffekte, nicht aber jede Form von Trauer, auf einer Fehleinschätzung der Situation von Tod und Verlust. Das bedeutet aber: Emotionen sind nicht völlig irrational, sondern basieren auf Prämissen, die der Vernunft prinzipiell zugänglich sind. Affekte enthalten einen Meinungsanteil, der im Fall extremer Trauer irrational sein soll, den man aber ebenso vernunftförmig gestalten kann. Dies zeigt, dass Platon die nicht-rationalen Antriebe, also die Emotionen, Begierden, Triebe usw., für vernunftfähig hält und sie nicht als komplette Gegenspieler der Vernunft auffasst. In der Theoriegeschichte der Emotionen ist dieses Modell besonders von Aristoteles weiterentwickelt worden. Bei ihm findet sich eine Konzeption nicht-rationaler Antriebe, die deren Eigencharakter beschreibt, ihre spezifische Eigenleistung hervorhebt 209 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

und deshalb einen gewissen Wert der Emotionen annimmt. Aristoteles erweitert die These vom vernünftigen Anteil der Affekte (pathê) um die Vorstellung, bestimmte Emotionen seien situationsangemessen oder sogar für ein angemessenes Verhalten notwendig. So soll etwa Mitgefühl der angemessene Ausdruck gegenüber fremdem Leid sein, falls dieses Leid eine Person unverdientermaßen trifft, falls sich die mitfühlende Person für ähnlich verletzlich hält und falls es der Betroffene mit einem gravierenden Übel wie Unrecht, Krankheit oder Hunger zu tun hat (Rhetorik II.8, 1385b11 ff.). Auch kann etwa Furcht zum Überlegen veranlassen, solange jedenfalls keine hoffnungslose Situation besteht (II.5, 1383a6 f.). Nicht nur angemessen, sondern geradezu notwendig sollen Emotionen im Zusammenhang der Tugendpraxis sein; sie unterstützen oder motivieren das gute Handeln maßgeblich. Aristoteles’ Interesse an den Affekten führt in der Nikomachischen Ethik und besonders in der Rhetorik II.2–11 zu einer breiten, phänomenorientierten Darstellung; Aristoteles untersucht und charakterisiert dort die Affekte Begehrlichkeit, Zorn, Angst, Mut, Neid, Freude, Sympathie, Hass, Sehnsucht, Missgunst, Mitleid u. a. Die Breite und Genauigkeit seiner Darstellung kommt dadurch zustande, dass er den Situationsbezug und den kognitiven Anteil der Affekte differenziert herausarbeiten will. Das vielleicht beste Beispiel liefert Aristoteles’ Definition des Zorns (orgê) in Rhetorik II.2, 1378a30-b2 (Übers. Ch. Rapp): »Es soll also Zorn ein mit Schmerz verbundenes Streben nach einer vermeintlichen Vergeltung sein für eine vermeintliche Herabsetzung einem selbst oder einem der Seinigen gegenüber von solchen, denen eine Herabsetzung nicht zusteht. Wenn dies also Zorn ist, dann ist es notwendig, dass der Zürnende immer einem Einzelnen zürnt, wie z. B. dem Kleon, nicht aber dem Menschen, und zwar weil der Betreffende einem selbst oder einem der Seinigen etwas getan hat oder etwas tun wollte; auch (ist notwendig, dass) jedem Zorn eine gewisse Lust folgt, welche aus der Hoffnung auf Vergeltung herrührt; denn es ist angenehm zu meinen, dass man das erreichen wird, wonach man strebt […].«

210 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Ethik der Emotionen in der Antike

Wie das Zitat zeigt, vertritt Aristoteles eine Komponententheorie der Emotionen. Demnach sind diese aus Komponenten zusammengesetzt: So sind Emotionen stets ›gerichtet‹, personen-, objekt- und situationsbezogen; sie beruhen stets auf Lust- und Unlustempfindungen; und sie drücken stets ein (mehr oder minder) starkes Involviertsein dessen aus, der sie hat. Auf diese Weise bilden Emotionen Wichtigkeitsindikatoren, und sie enthalten Einschätzungen zu den vorliegenden Kontextbedingungen. Emotionen implizieren Werturteile und spiegeln Lebenshaltungen. Hinzu kommt, dass Emotionen desiderative Komponenten aufweisen, nämlich Wünsche oder Abneigungen, und ebenso volitionale Komponenten, also Faktoren des Strebens und Meidens. Somit sind sie starke Motivatoren und besitzen eine grundlegende Bedeutung für eine gelingende Lebensführung. Es kommt hinzu, dass Emotionen moralisch bewertbar sind: Sie können im Einzelfall angemessen oder unangemessen, gut oder schlecht sein; man kann daher jemanden (und sich selbst) für auftretende Emotionen loben oder tadeln. Emotionen bilden entsprechend einen wichtigen Gegenstand der Moralpädagogik und der Selbsterziehung. Emotionen besitzen eine orientierende und motivierende Funktion und erbringen damit eine Leistung, die von der Vernunft nicht übernommen werden kann. Andererseits hält auch Aristoteles an der Vorstellung fest, dass verirrte, irrationale Emotionen von der Vernunft zurechtgerückt werden können. Auch nach seiner Darstellung gehören Emotionen zum vernünftig beeinflussbaren Seelenteil, so dass man auf den Bereich der Affekte durch Einsichten und Überzeugungen einwirken kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang Aristoteles’ Bewertung der Furcht (phobos). Er ist der Auffassung, dass Furcht auch bei der intellektuell und moralisch entwickelten Persönlichkeit, dem spoudaios oder phronimos, trotz dessen Tapferkeit keineswegs völlig verschwindet, im Gegenteil. Beispielsweise ist Todesfurcht für den Tugendhaften nicht nur ein gerechtfertigter Affekt; sie wächst sogar mit der Tugend, weil ja gerade der Tugendhafte durch den Tod viel zu verlieren hat (Nikomachische Ethik III.12, 1117b10–13). Eine sture oder mechanische Furchtlosigkeit, wie man sie den Kelten zuschrieb, ist für Aristoteles das Merkmal 211 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

einer unsensiblen Person (1115b24–27). Umgekehrt ist die Furcht vor einer Maus für ihn ebenfalls ein pathologisches Phänomen (1149a8). Niemand, der gravierend verfehlte Affekte dieser Art aufweist, könne als glücklich gelten. Nach aristotelischer Auffassung sind Emotionen ein irreduzibler Teil des menschlichen Strebens. Eine wichtige Anwendung der Emotionstheorie findet sich bei Aristoteles in Poetik 6. Dort heißt es (1499b24–28; Übers. M. Fuhrmann; leicht modifiziert): »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Mitleid und Furcht hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.«

Die Tragödie ist für Aristoteles darin wertvoll, dass sie in Form einer Spielhandlung, die auf der Bühne dargestellt wird, beim Zuschauer heftige Emotionen aufruft, und zwar die Emotionen Mitleid (eleos) und Furcht (phobos). Anders als Platon sieht er die Auslösung dieser Affektzustände im Theater grundsätzlich als positiv an. Er vertritt dabei implizit eine Emotionstheorie, die annimmt, dass Zuschauer durch die gezielte vorübergehende Erzeugung der Emotionen Mitleid und Furcht von diesen und anderen derartigen Emotionen ›gereinigt‹ werden. Reinigung (katharsis) von Emotionen bedeutet nicht, dass der Zuschauer am Ende emotionslos ist, sondern dass er die moralisch gewünschten Einsichten fasst, die sich aus Mitleid und Furcht ergeben: Denn da Mitleid und Furcht sich auf Situationen von Schicksalsschlägen und Gefahren beziehen, in die Identifikationsfiguren auf der Bühne geraten, fasst man als Zuschauer die Erkenntnis, man selbst und die Mitbürger seien ständig von der Zerbrechlichkeit des Lebensglücks bedroht und bildet so ein tiefreichendes Solidargefühl, die Bürgerfreundschaft. Wenn man sich nun verdeutlicht, wie eng die Aufführungspraxis der attischen Tragödie mit der Demokratie Athens verknüpft ist (z. B. Meier 1988), kann man 212 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Ethik der Emotionen in der Antike

hier von ›politische Emotionen‹ bei Aristoteles sprechen (vgl. Nussbaum 2014). Neben der aristotelischen Emotionstheorie ist in der Antike die Position der Stoiker besonders hervorhebenswert. Sie vertreten einen intellektualistischen Ansatz. Die Stoiker beschreiben ihr Persönlichkeitsideal so, dass der Weise (die idealerweise einsichtsvolle Person) frei von Affekten (apathês) sei. Demgegenüber soll jeder Nicht-Weise qua Emotionsbesitzer wahnsinnig oder verrückt sein. Dies wirkt zunächst stark überpointiert. Aber es ist wichtig zu sehen, dass die Stoiker mit dem Ideal der apatheia nicht die vollständige Eliminierung sämtlicher Emotionen, sondern nur die Freiheit von emotionalen Verirrungen meinen. Die Stoiker würden zwar keinesfalls der aristotelischen Auffassung recht geben, dass etwa die Furcht, die jemand in Lebensgefahr empfindet, begründet und rational ist, weil sie den drohenden Verlust spürbar werden lässt; vielmehr ist auch eine scheinbar wohlbegründete Furcht unvernünftig, und zwar weil das eigene Leben nach stoischer Ansicht kein wirkliches Gut darstellt. Aber sie kennen durchaus auch ›positive Emotionen‹ (eupatheiai), nämlich Freude (chara), Wünschen (boulêsis) und Vorsicht (eulabeia). Den Stoikern zufolge sind Affekte Ausdruck von falsche Meinungen oder Überzeugungen und führen zu falschen Lebenshaltungen. Ein klassischer Text zur stoischen Emotionstheorie ist folgender (LS 65A, Stobaeus 2.88,8–90,6): »Die Leidenschaft (der Affekt), sagen sie [die Stoiker], ist ein Antrieb, der exzessiv ist und der gebietenden Vernunft nicht gehorcht, oder eine Bewegung der Seele, die vernunftlos und wider die Natur ist; weiter sagen sie, dass alle Leidenschaften (Affekte) zum Führungsvermögen der Seele gehören. (2) Daher ist auch jede Aufgeregtheit eine Leidenschaft und umgekehrt jede Leidenschaft eine Aufgeregtheit. (3) Da die Leidenschaft von dieser Art ist, hat man anzunehmen, dass einige Leidenschaften erste und dominante Affekte sind und die anderen sich auf sie beziehen. Die generisch ersten Leidenschaften (Affekte) sind folgende vier: Begierde, Furcht, Traurigkeit und Lust. (4) Begierde und Furcht kommen zuerst, ers-

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Gefühlsethiken

tere in Beziehung auf das, was als gut erscheint, letztere in Beziehung auf das, was als schlecht erscheint. Lust und Traurigkeit resultieren daraus, Lust dann, wenn wir das erlangen, wonach wir begehren, oder das vermeiden was wir fürchten, und Traurigkeit dann, wenn es nicht gelingt, die Gegenstände unserer Begierde zu erlangen, oder wenn uns das widerfährt, was wir fürchten.«

Ein Affekt ist ein ›exzessiver Impuls‹ (hormê pleonazousa). Gemäß der stoischen Theorie der Emotionen sind diese zutiefst irrational und bedeuten ein Unglück für den, der sie hat. Besitz oder Nicht-Besitz von Emotionen entscheidet geradezu über das Misslingen oder Gelingen der persönlichen Lebensführung. Auch für die Stoiker sind Emotionen Wichtigkeitsindikatoren. Sie beruhen aber, anders als bei Aristoteles, immer auf verfehlten Werturteilen und spiegeln immer falsche Werthaltungen (sie richten sich auf Güter außerhalb unseres Verfügungsbereichs). Natürlich halten die Stoiker nicht jede fehlgeleitete Verstandestätigkeit für einen Affekt, etwa den Rechenfehler eines Mathematikers. Falsche Meinungen sind jedoch deswegen so gefährlich, weil sie auf einer von dem Betreffenden undurchschauten Zustimmung (synkatathesis) zu einem falschen Werturteil beruhen. Angenommen, jemand hielte Reichtum für ein Gut. Dann hätte dies zur Folge, dass er beträchtliche Mühen aufwenden würde, um an Geld heranzukommen. Je erfolgloser seine Versuche des Gelderwerbs blieben, umso intensiver wären seine Anstrengungen. Seine innere Anspannung würde wachsen, und seine Emotionen würden immer aufgeregter und vernunftferner werden. Der Betreffende würde also sein gütertheoretisches Missverständnis damit bezahlen, dass er durch peinigende Emotionen erschüttert würde, etwa durch Angst, Ehrgeiz, Zorn, Gier oder Besorgnis. Die intellektualistische Emotionstheorie der Stoiker besitzt durchaus einige Überzeugungskraft; in der gegenwärtigen Philosophie ist sie etwa von Martha Nussbaum in ihrem Buch Upheavals of Thought (2001) verteidigt worden. Doch es gibt auch erhebliche Schwierigkeiten mit einer solchen Theorie. Man kann u. a. die folgenden fünf Einwände formulieren:

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Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer

(a) Es gibt Fälle, in denen Emotionen über die Zeit nachlassen, ohne dass sich die Einstellung ihres Trägers geändert hätte. (b) Es gibt Fälle, in denen eine kathartische Aktivität (wie Schreien, Weinen, physische Anstrengung) auch schon ohne Einstellungsänderung bei dem betreffenden Träger zu einer emotionalen Erleichterung führt. (c) Es gibt Fälle, in denen Emotionen eine besondere Stärke und Heftigkeit aufweisen (›dionysische‹ Emotionen); diese sind schwer als ›Urteile‹ zu deuten und werden in einer verharmlosenden ›apollinischen‹ (= maßvolleren) Darstellung der Emotionen unterschätzt. (d) Es gibt Fälle, in denen eine Emotion bestehen bleibt, obwohl es zwischenzeitlich zu einer Einstellungsänderung gekommen ist (z. B. Angst vor Hunden, obwohl man einsieht, dass diese in der Regel keine Gefahr darstellen). (e) Es gibt Fälle, in denen wir Emotionen von einer Situation auf die nächste übertragen (sodass jemand z. B. für ein kleines Vergehen massiven Zorn zu spüren bekommt, der sich bei uns vorher ›aufgestaut‹ hatte).

Allen genannten Einwänden ist gemeinsam, dass sie die Existenz, den ›Ort‹, die Stärke und die Eigenständigkeit der Affekte oder Emotionen als nicht vollständig auflösbar in rationale Urteile ansehen. Falls die Einwände zutreffen, dürfte es unmöglich sein, an einer rein intellektualistischen Theorie festzuhalten. Auf der anderen Seite besitzt diese einen beträchtlichen Erklärungswert für die Ethik und hat in der frühen Neuzeit auch erheblich weitergewirkt, etwa bei Descartes in den Passions de l’âme (1649).

6.2 Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer Aristoteles und die Stoiker sind keine Gefühlstheoretiker der Moral. Sie verfügen zwar über interessante und ausgereifte Konzeptionen der Emotionen, formulieren ihre eigenen Ethikmodelle aber als Glücks- und Tugendethiken. Anders im 18. Jahrhundert; 215 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

im Kontext der englischen und schottischen Aufklärung kam es dort zu einer philosophischen Form des moralischen Sentimentalismus, die besonders von Anthony Ashley Cooper (bekannt als Lord Shaftesbury) ausging und u. a. die Autoren Francis Hutcheson, David Hume und Adam Smith einschloss. Auch der frühe Kant stand unter dem Einfluss der moral sense-Philosophie; in Deutschland gilt dies zudem für Lessing, Mendelssohn, Herder und Schiller. Nach Shaftesbury verfügen wir über einen angeborenen Sinn für das Gemeinwohl, eine Fähigkeit, die durch Erziehung entwickelt oder aber vernachlässigt werden kann. Menschen haben auf diese Weise eine natürliche Anlage zur Moral. Zwar lässt Shaftesbury das individuelle Bemühen um das Eigenwohl durchaus als natürliche Anlage gelten, aber die Tugend eines Menschen besteht für ihn erst in seiner Orientierung am common good. Damit wendet sich Shaftesbury gegen Thomas Hobbes’ Anthropologie des rationalen Eigennutzes. In seinem Traktat An Inquiry Concerning Virtue or Merit (1699) behauptet er, eine gute Handlung müsse stets auf einem Gefühl (affection) beruhen, das zumindest implizit am Gemeinwohl orientiert sei. Das entsprechende Vermögen in uns bezeichnet Shaftesbury als sensus communis. Um tugendhaft zu sein, müssen wir das moralische Gute um seinetwillen anstreben, emotional motiviert durch Affekte, welche der sensus communis in uns hervorruft. Ein moralisch guter Mensch ist entsprechend jemand, der »durch das natürliche Temperament oder motiviert durch seine Gefühle primär und unmittelbar, nicht sekundär und zufällig, zum Guten und gegen das Schlechte bewegt wird« (by the natural temper or bent of his affections is carried primarily and immediately, and not secondarily and accidentally, to good and against ill: Inquiry I.II.2, 171). Es ist also das moralische Gefühl, das das richtige und das hinreichende Motiv für moralisches Handeln liefert. Jeder Mensch hat diesen Sinn für das moralisch Gute und die entsprechenden Gefühle, die ihn zum Verfolgen des Allgemeinwohls motivieren. Die kognitive Komponente moralischen Verhaltens kommt nach Shaftesbury durch ein Überlegen ins Spiel, das durch den sensus communis hervorgerufen wird; vernünftiges Überlegen trägt je216 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer

doch erst in Verbindung mit dem moralischen Gefühl zur Handlungsmotivation bei. Der schottische Philosoph und politische Theoretiker Francis Hutcheson ist gleichfalls einer der Hauptvertreter der moral sense-Philosophie. Hutcheson ist der Meinung, dass alle Menschen ihrer Natur nach über einen ›moralischen Sinn‹ verfügen, der ihnen Emotionen vermittelt, welche ein Gefühl von Freude und Lust in der Bewertung des moralisch Richtigen sowie am Tun des moralisch Richtigen geben. Was wir unmittelbar spüren, sind solche Lustgefühle, von denen sich bei näherem Überlegen herausstellt, dass sie uns auf ›edlere‹ Ziele hin orientieren sollen als auf diejenigen des Eigennutzes. Diese gottgegebene Anlage jedes Menschen führt diesen nach Hutcheson nicht nur zu einer Art von moralischer Selbsttranszendenz, sondern auch zu ästhetischer Schönheit – für die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts eine bedeutsame Verbindung. Moral ist somit keine Sache der Tradition oder der gesellschaftlichen Konvention, sondern der unmittelbaren, originären Empfindung. Auch Vernunftschlüsse können uns nur dazu dienen, bereits gefasste Ziele auf ihre Folgen hin zu überprüfen. In seiner Schrift An Inquiry into the Original of Our Ideas of Beauty and Virtue (1725) heißt es (zitiert nach: W. Leidhold 1986: 29 f.): »Wenn das Gesagte klarmacht, dass wir eine andere liebenswerte Idee von Handlungen haben als die unseres eigenen Vorteils, so können wir schließen, dass diese Wahrnehmung des moralisch Guten sich nicht aus Gewohnheit, Erziehung, Beispiel oder Übung herleitet. Diese vermitteln uns keine neuen Ideen. Durch einen sauberen Vernunftschluss oder auch durch ein unbesonnenes Vorurteil lassen sie uns bei Handlungen, deren Nützlichkeit nicht sofort sichtbar wurde, unseren eigenen Vorteil sehen, oder vermitteln uns Auffassungen schädlicher Folgen von Handlungen, wenn wir der Tat auf den ersten Blick solches nicht angesehen haben sollten. Aber sie könnten uns niemals veranlassen, dass wir Handlungen ohne irgendwelche Erwägungen unseres Vorteils als liebenswert oder als hässlich auffassen.

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Gefühlsethiken

Damit bleibt übrig: So wie der Schöpfer der Natur uns bestimmt hat, durch unsere äußeren Sinne erfreuliche oder unangenehme Ideen von Objekten zu empfangen, je nachdem, ob sie für unseren Leib nützlich oder schädlich sind, und durch gleichmäßige Objekte die Freude der Schönheit und Harmonie zu empfangen, um unser Streben nach Erkenntnis anzuregen, oder zu belohnen, […] so hat er uns in gleicher Weise einen moralischen Sinn gegeben, um unser Handeln zu lenken und uns noch edlere Freuden zu schenken, so dass wir unbeabsichtigt unser größtes persönliches Wohl fördern, indem wir allein auf das Wohl anderer abzielen.«

Unser Sinn für das moralisch Gute ist für Hutcheson ursprünglich keineswegs eine Ableitung aus unserem Vorteilsdenken, wie man im Anschluss an Hobbes denken könnte. Auch kann man unsere Moralorientierung nicht auf soziale Faktoren wie Gewohnheit, Erziehung, Vorbild und Übung zurückführen. Solche Faktoren und ebenso die Vernunft sind ungeeignet, unsere Ausrichtung auf Moral zu erklären. Vielmehr muss man nach Hutcheson annehmen, dass uns Gott mit einem stark emotional eingefärbten moralischen Sinn ausgestattet hat, ebenso wie er uns mit einem Sinn für das, was unserem Leib nützlich oder schädlich ist, sowie mit einem Sinn für Schönheit und Harmonie versehen hat. Der moralisch Handelnde folgt dabei – ebenso wie das ästhetisch orientierte Individuum – seinen edlen Lustgefühlen. Auch David Hume lässt sich grundsätzlich der moral senseTradition in der Moralphilosophie zurechnen. In seinem Treatise of Human Nature (1738) untersucht er im zweiten Buch Eigenart und Ursprung der Affekte (passions). Affekte sind für Hume elementare Eindrücke und damit undefinierbar. Affekte ergeben sich entweder direkt aus unserer Natur oder aber sekundär aus unserer Reflexion. Ursprünglich verfügen wir über solche Affekte wie den Wunsch nach Selbsterhaltung, die Liebe zu unseren Kindern oder den Wunsch, es möge unseren Freunden gut gehen. Sekundäre Affekte können direkt oder indirekt sein. Direkte Affekte hängen mit unserer Wahrnehmung von Gutem und Bösem sowie von Lust und Unlust zusammen. Zu ihnen gehören etwa Begehren, Abneigung, Trauer, Furcht und Hoffnung. Indirekte Affekte ent218 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer

stehen hingegen durch ein Zusammenspiel von Wahrnehmungen und Ideen. Zu ihnen zählen Stolz, Demut, Liebe und Hass. Der moralisch entscheidende Affekt ist für Hume aber die Sympathie, durch die wir uns mit anderen Menschen in unmittelbarer Liebe verbunden fühlen. Dem Sympathiegefühl kommt eine fundamentale Funktion im Haushalt der menschlichen Affekte und Wünsche zu, wie Hume ausführt (Treatise II.2,5; R. Richter 1978: 96 f.): »In allen Geschöpfen, die keine Raubtiere sind, und nicht von heftigen Affekten bewegt werden, tritt ein deutliches Bedürfnis nach Gesellschaft zutage; dies führt sie zusammen, ohne dass sie jemals irgendwelche Vorteile von ihrer Vereinigung erwarten. Dies springt aber noch mehr in die Augen beim Menschen, demjenigen Geschöpf des Weltalls, das das heißeste Verlangen nach Gesellschaft hat, und durch viele Vorzüge dafür am geeignetsten ist. Wir hegen keinen Wunsch, der sich nicht auf die Gesellschaft bezöge. Vollständige Einsamkeit ist vielleicht die denkbar größte Strafe, die wir erdulden können. Jede Lust erstirbt, wenn sie allein genossen wird, und jeder Schmerz wird grausamer und unerträglicher. Welche anderen Affekte uns auch antreiben mögen, Stolz, Ehrgeiz, Geiz, Neugierde, Rachedurst oder sinnliche Begierde, die Seele, das belebende Prinzip in ihnen allen, ist die Sympathie. Sie alle hätten gar keine Macht, sähen wir bei ihnen gänzlich von den Gedanken und Gefühlen anderer ab. Wenn alle Naturkräfte und Elemente sich verbänden, um einem Menschen zu dienen und zu gehorchen, wenn die Sonne auf seinen Befehl auf- und unterginge, das Meer und die Flüsse nach seinem Belieben fluteten, wenn die Erde alles freiwillig hervorbrächte, was ihm nützlich oder angenehm ist, er würde doch elend sein, bis Ihr ihm wenigstens einen Menschen gebt, mit dem er sein Glück teilen und dessen Wertschätzung und Freundschaft er genießen kann.«

Nach Hume ist Sympathie eine wertende Stellungnahme, mit der wir uns emotional auf sinnliche Eindrücke beziehen. In ihr kommt zum Ausdruck, dass wir eine Person, ihr Verhalten oder ihren Charakter unmittelbar als positiv und mit uns selbst ver219 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

bunden bewerten. Dabei fühlen wir aufgrund der Intensität eines Eindrucks ihr Leiden oder ihre Freude mit. Wie wir bereits gesehen haben (oben S. 67), besteht ein markantes Merkmal von Humes Ansatz in einer Motivationstheorie, die auf dem Begriff des Wunsches oder Begehrens (desire) basiert. Hume zieht daraus die markante Konsequenz, dass man unter praktischer Vernunft das Bestimmtsein durch ruhige Affekte verstehen sollte und dass man der abstrakt-schlussfolgenden Vernunft (reason) lediglich eine instrumentelle Rolle bei Handlungswahl und Handlungsmotivation zuschreiben dürfe. Im Treatise heißt es (II.3,3; 152 f.): »Da die Vernunft allein niemals eine Handlung erzeugen oder ein Wollen auslösen kann, so schließe ich, dass dieses Vermögen auch nicht imstande ist, das Wollen zu hindern oder mit irgendeinem Affekt oder einem Gefühl um die Herrschaft zu streiten. Dies ist eine notwendige Folge [des soeben Gesagten]. Es ist ausgeschlossen, dass die Vernunft die letztere Wirkung, die Verhinderung unseres Wollens, anders vollbringe, als dadurch, dass sie uns einen Impuls nach der unserem Affekt entgegengesetzten Richtung gibt; wirkte dieser Impuls allein, so wäre er imstande, das Wollen hervorzurufen. Nichts aber kann den Impuls eines Affektes unterdrücken oder verzögern, als ein entgegengesetzter Impuls. Entspringt aber dieser entgegengesetzte Impuls aus der Vernunft, so muss dieses Vermögen auch einen ursprünglichen Einfluss auf den Willen haben und imstande sein, einen Willensakt ebenso wohl zu erzeugen wie zu verhindern. Umgekehrt, hat die Vernunft keinen solchen ursprünglichen Einfluss, so kann sie unmöglich einem Prinzip entgegenarbeiten, das eine solche Kraft besitzt und [sie kann] ebenso wenig den Geist auch nur einen Augenblick von der Entscheidung zurückhalten. Es erscheint demnach als das Prinzip, welches unserem Affekt entgegentritt, nicht die Vernunft selbst; dies Prinzip wird nur in uneigentlichem Sinne so genannt. Wir drücken uns nicht genau und philosophisch aus, wenn wir von einem Kampf zwischen Affekt und Vernunft reden. Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein; sie darf niemals eine andere Funktion beanspruchen, als die, denselben zu dienen und zu gehorchen.«

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Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer

Nach Humes Auffassung sind Emotionen oder Affekte die grundlegenden Impulse, die unseren Willen steuern. Vernunft dagegen besitzt von sich aus keine volitionale Ausrichtung und keine motivierende Kraft: Reason is, and ought only to be, the slave of the passions (»Die Vernunft ist nur der Sklave der Affekte und soll es sein«), lautet die zentrale Aussage des Zitats. Auch Adam Smiths Gefühlsethik ist wesentlich von der moral sense-Konzeption inspiriert; dennoch ist sie zugleich hochgradig originell. Sein Ansatz findet sich in der Schrift The Theory of Moral Sentiments (1759). Smiths Überlegungen nehmen ihren Ausgang vom Phänomen der Sympathie; Sympathie schließt sowohl Mitleid als auch Mitfreude ein. Denn Glück und Unglück anderer Menschen dürfen uns nicht gleichgültig sein. Auch die gröbsten Menschen können nicht bestreiten, dass sie in gewissem Umfang Anteil an fremden Schicksalen oder Glückszuständen nehmen, indem sie mitleiden oder sich mitfreuen. In Teil 1 seines Werks untersucht Smith Sympathie im Sinn von ›Mitgefühl‹ (pity und compassion), nämlich verstanden als ein Mitempfinden fremder Gefühlszustände. Er gelangt dabei etwa zu der Beobachtung, dass wir an körperlichen Lustgefühlen anderer keinen Anteil nähmen und dass wir auf negative fremdbezogene Emotionen anderer, etwa auf Zorn oder Abneigung, zunächst nicht zustimmend reagierten. Wohl aber bestehe die Tendenz, auf Freude und Leiden anderer hin Mitgefühl zu entwickeln. Sodann weist Smith darauf hin, dass wir in einer wechselseitigen Form voneinander ein solches Mitempfinden erwarten: Würde jemand beispielsweise nicht mit meinem Unglück mitleiden oder sich nicht über das Unrecht, das mir widerfahren ist, empören, dann wäre dies für mich so anstößig, dass ich unsere Beziehung beenden würde. Diese Erwartung von Mitempfinden richten wir zwar primär auf Nahestehende, dehnen sie aber auf alle Menschen aus. Smith versteht nun weiterhin das Mitgefühl eher als situationsbezogen denn als personenbezogen. Mitgefühl – etwa Leiden oder Empörung – stellt sich nämlich auch dann ein, wenn der andere Mensch selbst gar nicht Leid oder Empörung empfindet. Es genügt vielmehr, dass er sich in einer Situation eines Schicksalsschlags oder eines Unrechts befindet, so dass meine Gefühls221 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

reaktion hierauf angemessen ist. Um angemessene Gefühle haben zu können, muss man nach Smith zwei Tugenden ausbilden: nämlich Sensibilität (sensibility) und Selbstbeherrschung (selfcommand). Smith schreibt (3. Teil, 1; zitiert nach: W. Eckstein 2004: 166 f.): »Da wir keine unmittelbare Erfahrung von den Gefühlen anderer Menschen besitzen, können wir uns nur so ein Bild von der Art und Weise machen, wie eine bestimmte Situation auf sie einwirken mag, dass wir uns vorzustellen suchen, was wir selbst wohl in der gleichen Lage fühlen würden. Mag auch unser eigener Bruder auf der Folterbank liegen – solange wir selbst uns wohl befinden, werden uns unsere Sinne niemals sagen, was er leidet. Sie konnten und können uns nie über die Schranken unserer eigenen Person hinaustragen und nur in der Phantasie können wir uns einen Begriff von der Art seiner Empfindungen machen. Auch dieses Seelenvermögen kann uns auf keine andere Weise davon Kunde verschaffen, als indem es uns zum Bewusstsein bringt, welches unsere eigenen Empfindungen sein würden, wenn wir uns in seiner Lage befänden. Es sind nur die Eindrücke unserer eigenen Sinne, nicht die der seinigen, welche unsere Phantasie nachbildet. Vermöge der Einbildungskraft versetzen wir uns in seine Lage, mit ihrer Hilfe stellen wir uns vor, dass wir selbst die gleichen Martern erlitten wie er, in unserer Phantasie treten wir gleichsam in seinen Körper ein und werden gewissermaßen eine Person mit ihm; von diesem Standpunkt aus bilden wir uns eine Vorstellung von seinen Empfindungen und erleben sogar selbst gewisse Gefühle, die zwar dem Grade nach schwächer, der Art nach aber den seinigen nicht ganz unähnlich sind. Wenn wir so seine Qualen gleichsam in uns aufnehmen, wenn wir sie ganz und gar zu unseren eigenen machen, dann werden sie schließlich anfangen, auf unser eigenes Gemüt einzuwirken und wir werden zittern und erschauern bei dem Gedanken an das, was er jetzt fühlen mag. […] Dass dies die Quelle des Mitgefühls ist, welches wir gegenüber dem Elend anderer empfinden, dass wir erst dann, wenn wir mit dem Leidenden in der Phantasie den Platz tauschen, dazu gelangen seine Gefühle nachzuempfinden und durch sie innerlich berührt zu werden, das kann durch viele offenkundige Beobachtungen dargetan

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Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer

werden, wenn man es nicht schon an und für sich für genügend einleuchtend halten sollte. Wenn wir zusehen, wie jemand gegen das Bein oder den Arm eines anderen zum Schlage ausholt, und dieser Schlag eben auf den anderen niedersausen soll, dann zucken wir unwillkürlich zusammen und ziehen unser eigenes Bein oder unseren eigenen Arm zurück; und wenn der Schlag den anderen trifft, dann fühlen wir ihn in gewissem Maße selbst und er schmerzt uns ebenso wohl wie den Betroffenen.«

Der ›unparteiliche Beobachter‹ (impartial spectator) kommt bei Smith dadurch ins Spiel, dass man sich fragt, welche emotionale Reaktion angemessen sein könnte. Eine Antwort lässt sich nach Smith durch die Vorstellung gewinnen, es gebe einen Beobachter, der selbst nicht ins Geschehen verwickelt ist, aber alle Einzelheiten des Vorgangs kennt, mit dem der Betroffene konfrontiert ist. Der unparteiliche Beobachter ist somit sowohl ein neutraler (nicht voreingenommener) als auch wohlinformierter Zuschauer. Hinzu kommt, dass der unparteiliche Beobachter nur an solchen fremden Emotionen teilnehmen kann, die ein ›Mittelmaß‹ zwischen affektivem Übermaß und Mangel wahren – wie Smith im Anschluss an Aristoteles sagt. Auch der frühe Kant stand vorübergehend unter dem Einfluss der britischen moral sense-Philosophen. Als Gefühlstheoretiker formuliert Kant beispielsweise das »Hauptgesetz der Moral: handle nach deiner moralischen Natur. – Meine Vernunft kann irren, mein moralisches Gefühl nur, wenn ich Gewohnheit vor natürliches Gefühl halte« (27: 1.6). Die überraschende Affinität zum Sentimentalismus, besonders in der Preisschrift Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze (1762/64), ergibt sich dort aus folgender Überlegung: Moral, so Kant, lasse sich nicht mit Gewissheit demonstrieren. Dem frühen Kant zufolge ist Moral vielmehr eine Sache des Gefühls, und da moralische Empfindungen einfach und unmittelbar seien, seien sie unanalysierbar und unbeweisbar (vgl. etwa 2: 299). Bereits in diesem Zusammenhang deutet Kant an, dass man, um die Moral nicht der Beliebigkeit aussetzen zu müssen, die Gefühlstheorie der Moral um perfektionistische Elemente ergänzen muss. Er folgt somit einerseits 223 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

Humes Auffassung, das moralische Urteil entstehe durch ein »angenehmes Gefühl der Billigung« bei einem interesselosen und unvoreingenommenen Zuschauer. Zum anderen folgt er dem von Christian Wolff entwickelten Grundsatz »Tue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist«; in einer Notiz aus den Jahren 1762/63 verknüpft er beide Elemente, wenn er sagt: »[…] Suche die Vollkommenheit um des Gefühls der Lust an der Handlung halber« (Reflexion 6488, 19: 25). Der reife Kant hat dagegen den moralischen Wert von Gefühlen mit großem Nachdruck relativiert – z. B. den Wert von Mitgefühl, Barmherzigkeit und teilweise auch von Liebe. Doch auch der spätere Kant vertritt die Auffassung, als motivierende Instanz sei ein moralisches Gefühl anzunehmen – nämlich das der ›Achtung‹. Achtung ist für Kant keines der ›pathologischen‹ Gefühle; vielmehr meint er, Achtung sei nichts anderes als die subjektive Seite des Sittengesetzes, also dasjenige, was ein Mensch empfindet, wenn er mit dem Sittengesetz zu tun hat. Erläuterungen des Achtungsbegriffs finden wir in der Grundlegung (4: 399–401) und in der Kritik der praktischen Vernunft (5: 73–80): Dort beschreibt er die Achtung als eine tendenziell schmerzliche Empfindung, die uns beschämt und uns unseren Hochmut oder Eigendünkel nimmt. Achtung ist ein Gefühlszustand, in dem wir zu moralischen Handlungen bereit sind, weil wir durch sie eine Demütigung unserer Selbstliebe erfahren oder uns vor den moralischen Leistungen anderer verneigen. Einen moralischen Sentimentalismus vertrat zudem im 19. Jahrhundert Arthur Schopenhauer, und zwar auf der Basis seiner metaphysischen Konzeption des Willens. Schopenhauer ist der Überzeugung, dass der Wille das Hintergrundprinzip der Welt, das ›Ding an sich‹, hinter den individuierten Entitäten unserer Erfahrungswelt bildet. Der Wille steht für die Einheit allen Seins, von welchem wir ausgehen und in das wir zurückkehren. Der Wille, das wirkliche Sein, wird dabei nicht statisch-substantiell, sondern dynamisch-impulshaft gedacht. Mitleid als zentrales ethisches Gefühl haben wir, wenn wir für einen Moment hinter die Fassade der Individuation blicken und unsere ursprüngliche Zusammengehörigkeit mit allen Wesen erfassen. Die mora224 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer

lische Einsicht, die uns durch Mitleid vermittelt wird, ist daher eine intuitiv-metaphysische, keine bloß empirische. Schopenhauer wendet sich in seinen moralphilosophischen Äußerungen primär gegen Kant. Dessen rationalistische Pflichtethik sei grundlegend verfehlt, weil Moral keines Beweises bedürfe und dessen auch nicht fähig sei. Bei der kantischen Idee eines ›kategorischen moralischen Sollens‹ handle es sich um nichts anderes als eine säkularisierte Version einer Ethik des befehlenden und strafenden alttestamentlichen Gottes. Irrig sei zudem die kantische Behauptung, Moral ergebe sich a priori aus reiner praktischer Vernunft. In Wahrheit könne uns etwas Begriffliches niemals über Moral orientieren; vor allem aber könne Vernunft uns nicht zu moralischem Handeln motivieren. Vernunft sei – wie schon David Hume meinte – in ihrer Ausrichtung und Anwendung neutral; sie lasse sich zu moralisch Gutem oder Schlechtem gebrauchen. Grundlegend für menschliches Verhalten sei vielmehr die Eigennutzorientierung des Individuums. Entsprechend selten komme es zum Auftreten moralisch ausgerichteter Personen. Wie aber kann man dann das gelegentliche Auftreten einer moralischen Einstellung erklären? Schopenhauer glaubt, dies sei nicht abstrakt-begrifflich möglich, sondern nur dadurch, dass jemand in einer unmittelbaren Anschauung, einer augenblickshaften Intuition, erfasse, dass es keine strikte Trennung zwischen den Individuen gibt, weder zwischen Menschen noch im MenschTier-Verhältnis. In seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (1819) heißt es (Viertes Buch §66: 480 f.): »Wenn uns nun aber, als eine seltene Ausnahme, ein Mensch vorkommt, der etwan ein beträchtliches Einkommen besitzt, von diesem aber nur wenig für sich benutzt und alles Uebrige den Nothleidenden giebt, während er selbst viele Genüsse und Annehmlichkeiten entbehrt, und wir das Thun dieses Menschen uns zu verdeutlichen suchen; so werden wir […] finden, daß er weniger, als sonst geschieht, einen Unterschied macht zwischen Sich und Andern. Wenn eben dieser Unterschied, in den Augen manches Andern, so groß ist, daß fremdes Leiden dem Boshaften unmittelbare Freude, dem Un-

225 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

gerechten ein willkommenes Mittel zum eigenen Wohlseyn ist; wenn der bloß Gerechte dabei stehn bleibt, es nicht zu verursachen; wenn überhaupt die meisten Menschen unzählige Leiden Anderer in ihrer Nähe wissen und kennen, aber sich nicht entschließen sie zu mildern, weil sie selbst einige Entbehrung dabei übernehmen müßten; wenn also Jedem von diesen Allen ein mächtiger Unterschied obzuwalten scheint zwischen dem eigenen Ich und dem fremden; so ist hingegen jenem Edlen, den wir uns denken, dieser Unterschied nicht so bedeutend; das principium individuationis, die Form der Erscheinung, befängt ihn nicht mehr so fest; sondern das Leiden, welches er an Andern sieht, geht ihn fast so nahe an, wie sein eigenes: er sucht daher das Gleichgewicht zwischen beiden herzustellen, versagt sich Genüsse, übernimmt Entbehrungen, um fremde Leiden zu mildern. Er wird inne, daß der Unterschied zwischen ihm und Andern, welcher dem Bösen eine so große Kluft ist, nur einer vergänglichen täuschenden Erscheinung angehört: er erkennt, unmittelbar und ohne Schlüsse, daß das Ansich seiner eigenen Erscheinung auch das der fremden ist, nämlich jener Wille zum Leben, welcher das Wesen jeglichen Dinges ausmacht und in Allem lebt; ja, daß dieses sich sogar auf die Thiere und die ganze Natur erstreckt: daher wird er auch kein Thier quälen.«

Schopenhauer beschreibt die moralische Erkenntnis, die die Identität des ›edlen‹ Menschen ausmacht, als intuitiv-unmittelbar. Es handelt sich nicht um etwas Begriffliches und nicht um einen Schluss. Die Erkenntnis bezieht sich vielmehr darauf, dass der Edle die Verfehltheit der gewöhnlichen Vorstellung von der Getrenntheit aller Individuen erfasst. Das Prinzip, wonach wir als getrennte Einzelne erscheinen (principium individuationis) ist bloßer Schein; wir sind miteinander und mit den Tieren unmittelbar im Leiden verbunden. Der moralisch gute Mensch hat daher den starken Wunsch, das Leiden anderer so weit wie möglich zu lindern. Dass sich Moral auf das gemeinsame Teilen des Leids bezieht und Empathie in Glückszuständen keine vergleichbare Rolle spielt, bekräftigt Schopenhauer wiederholt. In der Preisschrift Über die Grundlage der Moral (1840) schreibt er (Werke 3: 567): 226 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer

»Der Glückliche, Zufriedene ALS SOLCHER läßt uns gleichgültig: eigentlich weil sein Zustand ein negativer ist: die Abwesenheit des Schmerzes, des Mangels und der Noth. Wir können zwar über das Glück, das Wohlseyn, den Genuß Anderer uns freuen: dies ist dann aber sekundär und dadurch vermittelt, daß vorher ihr Leiden und Entbehren uns betrübt hatte; oder aber auch wir nehmen Theil an dem Beglückten und Genießenden, nicht ALS SOLCHEM, sondern sofern er unser Kind, Vater, Freund, Verwandter, Diener, Unterthan u.dgl. ist. Aber nicht der Beglückte und Genießende REIN ALS SOLCHER erregt unsere unmittelbare Theilnahme, wie es der Leidende, Entbehrende, Unglückliche thut. Erregt doch sogar auch FÜR UNS SELBST, eigentlich nur unser Leiden, wohin auch jeder Mangel, Bedürfniß, Wunsch, ja, die Langeweile zu zählen ist, unsere Thätigkeit; während ein Zustand der Zufriedenheit und Beglückung uns unthätig und in träger Ruhe läßt: wie sollte es in Hinsicht auf Andere nicht eben so seyn? Da ja unsere Theilnahme auf einer Identifikation mit ihnen beruht.«

Schopenhauer sieht im Mitleid den entscheidenden Punkt der Ethik. Seine Mitleidsethik beruht daher auf den zwei zentralen Imperativen Neminem laede; immo omnes, quantum potes, juva (»Schade niemandem, sondern hilf allen, soweit du kannst«: Grundlage §6). Schopenhauer bringt diese beiden Imperative, das Nichtschädigungs- und das Hilfsgebot, mit der Moral der Goldenen Regel Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris (»Wovon du nicht willst, dass es dir geschehe, das tue auch dem anderen nicht an«) in Verbindung. Was lässt sich nun gegen Schopenhauers Ansatz vorbringen? Aus kantischer Perspektive zumindest die folgenden vier Punkte: (a) Emotionen (zumindest die gewöhnlichen ›pathologischen‹ Gefühle) sind zu partikular und zu einzelfallbezogen, als dass sich moralische Universalität aus ihnen gewinnen ließe. (b) Emotionen treten eher zufällig auf und stellen sich, anders als die Einsicht, nicht verlässlich bei jedem Akteur ein; anders als bei einer kognitiven Einsicht kann man niemanden, der sie nicht hat, dazu bringen, sie zu übernehmen. (c) Emotionen scheinen zu parteilich, als dass sie moralische Neutralität zum Ausdruck bringen 227 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

könnten. (d) Emotionen sind zu instabil und zu transitorisch, als dass sie konstante Motivations- und Ausführungsquellen sein könnten. Zwei weitere Einwände gegen Schopenhauers moralphilosophischen Standpunkt finden sich bei Ernst Tugendhat (1993: 180 f.). Das erste Bedenken ergibt sich daraus, dass wir die umfassende Idee der Moral unmöglich allein aus dem faktisch empfundenen Leiden anderer ableiten können. Tugendhat schreibt: »Wie ist es z. B., wenn ich jemanden hintergehe, ohne dass er es merkt? Die Auskunft, er würde leiden, wenn er es erführe, kann nicht befriedigen. Das ist aber nicht einmal das Entscheidende. Warum denn würde er leiden? Es liegt nahe zu sagen, weil er sich nicht geachtet fühlen würde. Das ist ja auch der Grund, warum es für den anderen noch schlimmer ist, wenn er sich vorstellen muss, ich habe ihn hintergangen und er erfährt es nicht. In diesem Fall leidet aber der andere, weil er nicht geachtet worden ist. Dieses Leiden und das entsprechende Schaden setzen also bereits die moralische Norm voraus und begründen sie nicht. Die Norm, die anderen zu achten, reicht weiter als sie nicht zu schädigen und allemal weiter als ihnen kein Leid zuzufügen.«

Der zweite Einwand Tugendhats richtet sich darauf, dass eine Mitleidsethik vielen komplexen Handlungssituationen nicht gerecht wird. Wenn etwa die Interessen mehrerer Personen im Spiel sind oder Güterabwägungen vorgenommen werden müssen, erscheint eine Ethik des Mitgefühls als ungenügend, da zu undifferenziert. Die Wertungsweise von Gefühlen ist meist einfach und indirekt, nicht nuanciert und abwägend. Wenigstens ein kurzer Blick auf eine phänomenologische Emotionstheorie des 20. Jahrhunderts scheint unerlässlich: nämlich auf Max Schelers Ausführungen in Wesen und Formen der Sympathie (1923). Scheler gründet seine Moralphilosophie nicht insgesamt auf Gefühle, aber er hat interessante Überlegungen zur Erfassung von Werten durch Gefühle zu bieten. So ist seine These zur Sympathie, dass diese eine zunächst noch ›wertblinde‹, unableitbare Erfassung von Personen darstelle. Wir reagieren in 228 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Die moral sense-Philosophie, Adam Smith und Arthur Schopenhauer

Sympathiegefühlen nicht einfach auf vorgegebene Werte, sondern leisten ein originäres ›Werterfassen‹. Über Liebe und Hass sagt er (zitiert nach: Grammatik der Gefühle, 2000: 30 f.): »In Liebe und Haß tut unser Geist etwas viel Größeres als ›antworten‹ auf schon gefühlte und eventuell vorgezogene Werte. Liebe und Haß sind vielmehr Akte, in denen das jeweilig dem Fühlen eines Wesens zugängliche Wertreich (an dessen Bestand auch das Vorziehen gebunden ist) eine Erweiterung resp. Verengerung erfährt (und dies natürlich ganz unabhängig von der vorhandenen Güterwelt, den realen wertvollen Dingen, die ja schon für die Mannigfaltigkeit, Fülle und Differenziertheit der gefühlten Werte nicht vorausgesetzt sind). Wenn ich von ›Erweiterung‹ und ›Verengerung‹ des Wertreiches spreche, das einem Wesen gegeben ist, so meine ich natürlich nicht im entferntesten ein Schaffen, Machen, resp. Vernichten der Werte durch Liebe und Haß. Werte können nicht geschaffen und vernichtet werden. Sie bestehen unabhängig von aller Organisation bestimmter Geisteswesen. Aber ich meine, daß dem Akt der Liebe nicht das wesenhaft ist, daß er nach gefühltem Wert oder nach vorgezogenem Wert sich auf diesen Wert ›antwortend‹ richte, sondern daß dieser Akt vielmehr die eigentlich entdeckerische Rolle in unserem Werterfassen spielt – und daß nur er sie spielt – daß er gleichsam eine Bewegung darstellt, in deren Verlauf jeweilig neue und höhere, d. h. dem betreffenden Wesen noch völlig unbekannte Werte aufleuchten und aufblitzen. Er folgt also nicht dem Wertfühlen und Vorziehen, sondern schreitet ihm als sein Pionier und Führer voran. Insofern kommt ihm zwar nicht für die an sich bestehenden Werte überhaupt, aber doch für den Kreis und Inbegriff der jeweilig durch ein Wesen fühlbaren und vorziehbaren Werte eine ›schöpferische‹ Leistung zu. In der Aufdeckung der Gesetze von Liebe und Haß, die hinsichtlich der Stufe der Absolutheit, der Apriorität und Ursprünglichkeit die Gesetze des Vorziehens und die Gesetze zwischen den ihnen korrespondierenden Wertqualitäten noch überragen, würde sich daher alle Ethik vollenden.«

Bei Scheler bildet die Phänomenologie der Gefühle Liebe und Hass einen wichtigen und originären Teil der Analyse von Wert229 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

wahrnehmung überhaupt. Scheler ist allerdings nicht der Tradition des moralischen Sentimentalismus zuzurechnen, sondern der Wertethik (vgl. oben S. 143 f.).

6.3 Moralische Gefühle in der Ethik der Gegenwart Es liegt auf der Hand, dass Gefühle wie Empathie und Mitgefühl, Stolz und Selbstachtung, Empörung, Enttäuschung, Respekt, Angst, Wut, Liebe und Hass, Trauer, Wut, Verzweiflung, Neid, Rachelust und Ressentiment oder Scham und Schuld eine herausragende Rolle bei der Beschreibung der Moral zu spielen haben. Aber viele zeitgenössische Moralphilosoph(inne)en gehen darüber hinaus und weisen ihnen eine fundamentale Rolle in der Formulierung ihrer Ethik überhaupt zu. Gelegentlich spricht man geradezu von einem Emotional turn in der Moralphilosophie, um die Bedeutung des Themas herauszustreichen. Fasst man den Gefühlsbegriff weiter und schließt auch körperliche Empfindungen und Stimmungen mit ein, so wird die Breite und Komplexität des Themas deutlich: Denn dann steht der Begriff für bestimmte Weisen, sich auf die Welt überhaupt zu beziehen. In ihrer Theorie der Gefühle (1981) hat etwa Agnes Heller zwischen sechs affektiven Zuständen unterschieden, nämlich zwischen (a) Antriebsgefühlen wie Hunger, Durst oder Müdigkeit, (b) Affekten wie Neugierde oder Ekel (gemeint sind Gefühlszustände, die sich auf Triebe beziehen), (c) Orientierungsgefühlen wie eine spontane Zustimmung oder Ablehnung in der Reaktion auf eine zwischenmenschliche Begegnung, (d) den eigentlichen Emotionen wie Empathie, Angst oder Trauer, (e) den Charakterund Persönlichkeitsgefühlen (wie wenn emotionale Labilität oder Ärgerlichkeit zum festen Bestandteil von jemandes Charakter geworden ist) und (f) den Stimmungen wie Heiterkeit, Melancholie, Weltschmerz oder tiefe Langeweile. Eine Theorie der Gefühle muss so gesehen die gesamte Breite menschlicher Befindlichkeiten analysieren. Eine ähnlich fundamentale Bedeutung für die Erfassung der Wirklichkeit weist Hermann Schmitz den Gefühlen zu. In seinem 230 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralische Gefühle in der Ethik der Gegenwart

System der Philosophie (1964–1980) und in den Ausgrabungen zum wirklichen Leben (2016) macht er geltend, dass es sich bei Gefühlen keineswegs nur um private mentale Zustände handelt, die jemand isoliert in sich wahrnehme; vielmehr seien Gefühle Quasi-Objekte und führten damit zu geteilten und teilbaren Formen der Welterschließung. Schmitz erweitert die Idee von Erschließungsformen der Welt um die Leibempfindungen (z. B. Lust und Schmerz, Panik als Körperzustand, Zittern, Beben, Hunger und Durst, Begehrlichkeit, Benommensein, Unwohlsein, Herzrasen, Erröten, Erbleichen, sexuelle oder aggressive Erregtheit, Trägheit). Gefühle und Leibzustände erbringen für ihn genuine Orientierungsleistungen, nehmen Wertungen und Stellungnahmen vor und verbinden uns als kollektive Akteure. Ein markantes Beispiel für die involvierende und welterschließende Kraft der Gefühle ist die Betroffenheit, in die man aufgrund der Nachricht vom Tod eines nahestehenden Menschen hineingezogen wird. Neben der kognitiven Komponente spielt dabei eine ›affektive Intentionalität‹ die entscheidende Rolle: Der Empfänger der Nachricht fühlt sich mit Macht in ein bestimmtes Segment der Welt integriert: So kann es etwa zu einem heftigen emotionalen Wechsel von Schmerz, Hilflosigkeit, Trauer, Verzweiflung, Bedauern, Reue und Dankbarkeit kommen. Der Betroffene erlebt sich dabei als gebunden durch eine bestimmte Ganzheit von Bezügen und Relationen, von Geschichten und Erlebnissen, in die er verstrickt ist. Daraus resultieren Formen von Bedeutsamkeit, die sich auf anderem Weg nicht ergeben können. Wichtig ist neben der Intentionalität auch der Aspekt der Kognitivität der Gefühle. Angenommen, ein Autofahrer, der seit einiger Zeit auf eine Parklücke wartet, ist empört über die Tatsache, dass ihm der freiwerdende Platz von jemandem weggenommen wird, der sich mit seinem Wagen – wie der Autofahrer meint: unverschämterweise – nicht an die Reihenfolge hält. Hier ist zunächst klar, dass sich die Empörung des Autofahrers auf das Urteil über die Dreistigkeit des anderen Verkehrsteilnehmers stützt. Sollte es aber nun der Fall sein, dass es sich um einen Behindertenparkplatz handelte (was dem Autofahrer bislang entgangen war) und dass der andere Verkehrsteilnehmer zu dessen Nutzung 231 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

berechtigt ist, dann ›verfliegt‹ oder ›verraucht‹ der Zorn weitgehend unmittelbar. Die veränderte Tatsachenwahrnehmung zeigt, dass unsere Emotionen mit Wahrnehmungen, Meinungen und Einschätzungen direkt verbunden sind. Emotionen stützen sich auf Einsichten und Urteile. Sie sind kognitionsbasiert. Besonders für moralische Emotionen gilt, dass sie in uns massive Wertungen fremden und eigenen Verhaltens hervorrufen. Sie führen uns die Angemessenheit, Dringlichkeit und Notwendigkeit moralischen Handelns vor Augen und motivieren uns hierzu, oder sie vermitteln uns starke Zustände von Unlust und Unzufriedenheit über unser eigenes Verhalten. Viele Gefühle weisen eine unmittelbar soziale Ausrichtung auf, indem sie sich – wie Empathie, Neid, Fremdachtung oder Scham – stets implizit auf andere Menschen beziehen. Sie spiegeln dabei eine komplexe Dynamik von Selbst- und Fremdwahrnehmung. Aber auch in Selbstachtung und Stolz sind andere Personen immer, zumindest indirekt, involviert. Weil Emotionen zudem auf moralische Werte reagieren, kann man moralische Erziehung als éducation sentimentale verstehen. Ein wichtiges Thema ist auch das der sozial geteilten Emotionen; denn Gefühle lassen sich nicht allein als die psychischen Zustände von Einzelpersonen betrachten, sondern können zudem von mehreren Individuen zugleich empfunden werden. Gesteht man Gefühlen jedoch eine erhebliche Bedeutung innerhalb der Moralphilosophie zu, so ergeben sich mindestens drei grundlegende Probleme. Erstens: Sind sie verlässliche moralische Motivatoren? Stellen sie sich bei einer Akteurin tatsächlich immer dann ein, wenn man sie von dieser erwarten sollte? Oder ergeben sie sich eher selektiv und situativ? Sind sie dann angemessen – oder nicht vielleicht in der Situation überstark und hinterher zu schwach? Zweitens: Bedeutet eine gefühlsbasierte Ethik nicht eine Privilegierung bestimmter Personen und Objekte, da Emotionen parteilich sind? Oder können Emotionen die für moralisches Handeln erforderliche Unparteilichkeit und Neutralität wahren? Und drittens, bieten Gefühle eine hinreichende Basis für differenzierte moralische Urteile, oder taugen sie nur dazu, durch unmittelbares Empfinden Verhaltensreaktionen auszulösen – wie bei Empörung, Scham oder starker Empathie? 232 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralische Gefühle in der Ethik der Gegenwart

Unter Mitgefühl beispielsweise lässt sich eine als schmerzhaft empfundene Gefühlsreaktion auf fremdes Leid verstehen. Das leidende Lebewesen kann ein Mensch oder ein Tier sein. Martha Nussbaum hat in ihrer Analyse in dem Buch Politische Emotionen (2014) darauf hingewiesen, dass drei verschieden Gedanken in den Zustand des Empfindens von Mitgefühl involviert sind: nämlich erstens der Gedanke, dass die Lage für denjenigen, mit dem man Mitgefühl zeigt, ernst ist; zweitens spielt die Einschätzung eine Rolle, dass man den Betreffenden als unschuldig an seinem Leid ansieht (wenn wir Menschen einen Vorwurf für seine desolate Lage machen, dann tun wir das, so Nussbaum, in einem anderen Moment als in der Phase des Mitgefühls); und drittens ist da der eudämonistische Gedanke, wonach der Leidende einen wichtigen Platz im Leben dessen, der mit ihm mitfühlt, haben muss. Aus der oben erwähnten ›affektiven Intentionalität‹ wird hier ein eudämonistischer Rahmen, den moralische Gefühle markieren. Scham ist eine der wichtigsten moralischen Emotionen; sie ist verwandt und doch charakteristisch verschieden von Reue bzw. Schuldgefühl: Beide ergeben sich, wenn sich eine Akteurin dessen bewusst wird, gemessen an gültigen sozialen Normen inakzeptabel gehandelt zu haben. Während jedoch Scham einen äußeren (oder inneren) Beobachter voraussetzt, der einen bei einer peinlichen, von der Gemeinschaft missbilligten Verhaltensweise ertappt, impliziert die Reue oder das Schuldgefühl ein eher persönliches, ›inneres‹ Bewusstsein von einem moralischen Regelverstoß. Eine ›Kultur der Scham‹ setzt daher öffentliche Standards von ehrenhaftem Verhalten voraus, während eine ›Kultur der Schuld‹ auf der Idee einer Geltung von allgemeinen Pflichten, Regeln und Gesetzen beruht. Avishai Margalit beschreibt in Politik der Würde (1996: 149) Scham als ein ›rotes Gefühl‹, da man wegen der Peinlichkeit des Beobachtetwerdens errötet, während Schuld ein ›weißes Gefühl‹ darstellen soll, weil einen das Schuldbewusstsein erbleichen lässt. Bernard Williams wendet sich in seinem Buch Shame and Necessity (1993) dagegen, Schamkulturen als moralisch rückständig gegenüber Schuldkulturen anzusehen. Die Konstitution von Selbstwertschätzung, wie sie durch den 233 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

Schambegriff z. B. für die homerischen Helden geleistet wird, sei für uns Heutige nach der Epoche der theologisch und kantisch bestimmten Schuldkonzepte wieder von primärer Bedeutung. Eine neuere Version des moralischen Sentimentalismus ist der sogenannte Reflective Moral Sentimentalism (dazu D’Arms und Jacobsen 2017 sowie Debes und Stueber 2017). Dieser Ansatz versucht die Antithese zwischen den klassischen Formen eines einseitigen Rationalismus und eines einseitigen Expressivismus oder Sentimentalismus zu überwinden, indem er moralische Urteile sowohl als gefühlsbasiert wie als kognitiv gehaltvoll interpretiert. Er stützt sich hierfür auf neuere empirische Befunde der Neurowissenschaften. Die grundlegende Idee ist, dass moralische Begriffe Urteile darüber sind, ob und wann Gefühlsreaktionen situationsangemessen sind. ›Beschämend‹ ist für Vertreterinnen und Vertreter dieser Position ein Verhalten z. B. dann, wenn Scham die richtige Reaktion auf das Verhalten ist, mit dem jemand konfrontiert ist. Wenn z. B. Empörung die angemessene Reaktion auf Ungerechtigkeiten ist, dann ist das Urteil ›Dies ist ungerecht‹ ein Urteil über Situationen, in denen wir uns angemessenerweise empören würden. Unsere Wertungen ergeben sich so betrachtet zentral aus unserer Verletzlichkeit und Bedürftigkeit aus der Perspektive von Opfern bzw. Nutznießern zusammen; denn Menschen können einander auf verschiedenste Weisen schädigen oder unterstützen. Wir nehmen Andere aber ständig als reale oder potentielle Schädiger oder Unterstützer unserer eigenen Sphäre wahr. Die Gefühle bilden so die Basis moralischer Begriffe und Urteile, indem sie – falls sie angemessene Reaktionen auf gegenwärtige oder künftige Situationen bilden – das Schädigungs- bzw. Nutzenverhalten anderer korrekt bewerten. Ebenso können Gefühle natürlich in die Irre gehen; beispielsweise könnte ich irrtümlich empört über fremdes Verhalten sein, bei dem keine Ungerechtigkeit vorliegt. Ist Liebe eine Emotion? Das scheint zunächst unplausibel, weil Liebe eher als Bezeichnung für umfassende soziale Nahrelationen verwendet wird (wie etwa die von Mann und Frau oder von Eltern und Kindern). Liebe ist so gesehen eher eine wechselseitige soziale Relation als ein Gefühlszustand. Hinzu kommt, dass solche Nah234 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Moralische Gefühle in der Ethik der Gegenwart

beziehungen, obwohl sie grundlegend von Liebe geprägt sind, ebenso auch Hass, Neid oder Eifersucht einschließen können. Fasst man Liebe allerdings unter Absehung davon allein als affektiven mentalen Zustand, so kann man natürlich auch für eine Emotionstheorie der Liebe argumentieren (etwa M. C. Nussbaum 2002 oder G. Taylor 2000). Was spricht dafür, Liebe als einen emotionalen Zustand oder Vorgang anzusehen? Nach einer weit verbreiteten Überzeugung bezeichnet Liebe eine starke Emotion, die sich von einem Subjekt auf ein geliebtes Objekt (meist eine Person) richtet und die weiterhin dadurch charakterisiert ist, dass man intensive Verbundenheit mit dem geliebten Objekt und hohe Wertschätzung für es empfindet. Ein Definitionsversuch könnte dann so aussehen: Liebe, so ließe sich behaupten, ist eine starke Emotion, die von einem Subjekt SL ausgeht und sich auf ein geliebtes Objekt OL (meist eine Person) richtet und die [a] mit intensiver Verbundenheit mit OL und [b] hoher Wertschätzung für OL verknüpft ist. Doch was spricht eigentlich für die Sichtweise, wonach Liebe im Wesentlichen ein emotionaler Vorgang ist, ein Zustand heftiger (oft überwältigender) Innenzustände (Qualia)? Gegeben, dass Emotionen ein starkes Involviertsein dessen ausdrücken, der sie hat, dass sie Wichtigkeitsindikatoren sind und Werturteile enthalten sowie Werthaltungen spiegeln, scheint vieles für eine Emotionstheorie der Liebe zu sprechen. Doch eine Gegenargumentation könnte wie folgt aussehen: Wäre Liebe tatsächlich eine Emotion, so müsste es inhaltlich nachvollziehbare Wertungen geben, die in konkreten Konstellationen von Liebe realisiert werden. Ein Liebespartner müsste angeben können, was genau er am anderen liebenswert findet. Und es müsste eine soziale Praxis, ein soziales Spiel existieren, das gute und schlechte rechtfertigende Gründe für Liebeskonstellationen thematisiert. Ein solches Begründungsspiel gibt es jedoch allenfalls näherungsweise. Und soweit es dies gibt, leistet es kaum das, was man von ihm erwarten würde. Hier besteht das Problem der φ-Eigenschaften und der ψ-Eigenschaften einer Person: Erstere sind diejenige Merkmale des Objekts, die in uns die betreffende Emotion angemessenerweise auslösen, Letztere diejenigen, die den auf uns 235 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Gefühlsethiken

wirkenden Eigenschaften im Objekt selbst zugrunde liegen. Vielfach gilt dann, dass eine Differenz zwischen φ-Eigenschaften und ψ-Eigenschaften besteht, die den Verdacht einer fiktionalen Zuschreibung aufkommen lässt. Der philosophische Wert von Emotionstheorien der Liebe steht und fällt also damit, ob das soziale Spiel des Forderns und Gebens von Gründen (ob also die Angabe von φ-Eigenschaften und der ψ-Eigenschaften) plausibel gemacht werden kann oder nicht. Beschreibt man etwa als die liebenswerten Eigenschaften einer Person ihre schönen Augen und Hände oder ihren Charme oder Geist, so könnte es sein, dass es sich bei der Aufzählung der positiven Eigenschaften des Liebespartners um sekundäre Rationalisierungen einer bereits zuvor und aus anderen Gründen gefassten Liebe handelt. Somit scheint es denkbar, dass Liebe eher beiläufig und temporär mit Emotionen verknüpft ist, nicht jedoch grundlegend emotional verfasst ist. Wie könnte es sonst sein, dass so grundverschiedene Emotionen wie Sehnsucht und Trauer in das Liebesphänomen involviert sind? In jedem Fall spricht gegen eine Emotionstheorie, dass sie diejenigen Phänomene, welche die anderen, konkurrierenden Ansätze ins Zentrum rücken, nämlich Anerkennung, bedingungslose (nicht eigenschaftsbasierte) Liebe und die Herausbildung eines gemeinsamen Wir, nur schlecht thematisieren kann. So wichtig der Begriff der Liebe für die Moralphilosophie auch ist, er scheint sich nicht angemessen durch eine Emotionstheorie rekonstruieren zu lassen.

236 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

7. Tugendethiken und Neoaristotelismus

Tugendethiken unterscheiden sich von teleologischen und deontologischen Modellen grundsätzlich darin, dass sie weder das Gute noch das Richtige in den Mittelpunkt ihres Nachdenkens stellen. Die modernen Tugendethiken, die es seit den 1950er Jahren gibt, sind sogar direkt aus einer ablehnenden Haltung gegenüber Konsequentialismus und Deontologie hervorgegangen. Stattdessen favorisieren sie Überlegungen zum gelingenden Leben und zu ›Normfiguren‹. Das bedeutet: Es geht in ihnen um gute menschliche Lebensformen und um Ideale von Individuen, welche perfekte Eigenschaften oder zumindest vorzügliche und wünschenswerte Persönlichkeitsmerkmale aufweisen. Sie formulieren ein personales Moralkriterium: Gut oder geboten ist das, was die oder der Tugendhafte tun würde. Tugendhafte Personen besitzen demnach herausragende praktische Intelligenz oder verfügen über ein besonderes moralisches Sensorium, eine moralische Wahrnehmungsfähigkeit. Außer der Bezeichnung Tugendethik lässt sich auch der Ausdruck ›aretaische Ethiken‹ gebrauchen (von griech. aretê – Tugend). In der älteren Philosophiegeschichte standen aretaische Ethiken den teleologischen Ansätzen nahe, weil die Ansicht weit verbreitet war, Tugendbesitz führe letztlich zu wahrem Glück. Aber diese These bildet keinen notwendigen Bestandteil von Tugendethiken. Unter Tugenden versteht man erworbene, aber zugleich feste Charakterhaltungen menschlicher Individuen; diese Haltungen disponieren eine Akteurin dazu, moralisch gute, werthaft positive, sozial erwünschte oder den Lebenserfolg ihrer Besitzerin begünstigende Handlungen hervorbringen. Sie sind durch moralische Pädagogik (oder auch durch Selbsterziehung) so erworben, dass sie habituell geworden sind und den Charakter der betreffenden Person ausmachen. Eine Tugend versetzt ihre Inhaberin in die 237 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Tugendethiken und Neoaristotelismus

Lage, mehr als nur situativ richtig zu handeln; die Tugendhafte tut das Richtige stabil, d. h. gewohnheitsmäßig und zuverlässig. Wer beispielsweise über die Tugend der Tapferkeit verfügt, von dem sind in gefährlichen Situationen in konstanter Form mutige, furchtlose und unerschrockene Handlungen zu erwarten – vorausgesetzt, solche Handlungen sind überhaupt das, was situationsangemessen und wünschenswert ist. Die tugendhafte Person handelt dabei ›automatisch‹ oder ›unmittelbar‹ richtig: d. h. derart, dass sie über diese nicht erst nachdenken und sich zu dieser nicht erst motivieren muss. In einem anderen Sinn ist es aber durchaus der Fall, dass tugendhaftes Handeln eine reflektierte kognitive und motivationale Quelle besitzt; es ist also insofern nicht-automatisch, als Reflexion und Motivation stets im Hintergrund präsent sind. In der aktuellen Moralphilosophie waren es die aretaischen Ethiken, die den Anstoß für neoaristotelische Ansätze lieferten. Ähnlich wie die Tugendethiken beruhen Letztere auf der Idee einer Lebensform. Zusätzlich kommt hier ein normativer Naturbegriff ins Spiel, mit dem dann die für eine bestimmte biologische Spezies typischen ›natürlichen‹ Gelingensbedingungen identifiziert werden. Nach neoaristotelischer Auffassung lässt sich dieses Verfahren auf den Menschen übertragen.

7.1 Die Tugendethiken der Antike und des Mittelalters Es sind besonders drei Punkte, in denen sich die Tugendethiken der vormodernen Welt von den heutigen aretaischen Ansätzen unterscheiden. Erstens gehen die älteren Tugendethiken meist von einem eudämonistischen Paradigma aus; sie beruhen auf gütertheoretischen Überlegungen und zielen letztlich auf das menschliche Glück. Zweitens formulieren sie konkrete Persönlichkeitsideale und benennen ›Normfiguren‹: Platon beispielsweise beschreibt seine Idealfigur unter der Bezeichnung ›Philosoph‹; Aristoteles nennt ihn ›den Tüchtigen‹ (spoudaios) oder ›den Vernünftigen‹ (phronimos), und die Stoiker wählen den Ausdruck ›der Weise‹ (sophos). Und drittens haben alle älteren Tugend238 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Die Tugendethiken der Antike und des Mittelalters

ethiken eine (mehr oder minder starke) Tendenz zum ›moralischen Intellektualismus‹; fast alle verbinden das Tugendideal damit, dass sich Individuen mittels ihrer Vernunft definieren. Man kann drei stärker intellektualistische Positionen, nämlich diejenigen des Sokrates, Platons und der Stoa, von den schwächeren unterscheiden, zu denen vielleicht Aristoteles, sicher aber die Epikureer gehören. Dem historischen Sokrates schreibt man die intellektualistische These von der Lehrbarkeit der Tugend zu. Im Unterschied zum Sophisten Protagoras, der seine Vorstellung einer philosophischen Bildung programmatisch in den drei Begriffen Naturanlage, Lehre und Übung zusammenfasst (physis, didaskalia, askêsis. DK 80B3), legt Sokrates ausschließlichen Wert auf eine kognitive Schulung. Dies hängt mit dem besonderen moralischen Intellektualismus des Sokrates zusammen, den wir bereits kennengelernt haben (oben S. 100). Sokrates zufolge beruht Tugend allein auf einem Wissen, das er im Sinn einer technê versteht; Wissen bildet somit für ihn die notwendige und zugleich hinreichende Bedingung richtigen Handelns (Menon 87c). An die Stelle eines Adels- oder Heldenethos, wie es in der älteren griechischen Kultur verbreitet war, setzt Sokrates ein philosophisches Tugendideal, das von Faktoren wie Herkunft, sozialer Stellung, körperlichen Vorzügen usw. unabhängig ist und das prinzipiell von jedem erreicht werden kann. Möglicherweise hat Sokrates die Tugend als ein bloßes Mittel aufgefasst, nämlich als Instrument zur Erlangung der eudaimonia; unter dem Glück hätte er dann wohl Lust oder Vergnügen verstanden. Diese These von Terence Irwin (1977 und 1995) stützt sich auf die Beobachtung, dass erst der platonische Dialog Gorgias die Gleichsetzung von Lust und Gut beendet. So betrachtet wäre der historische Sokrates ein ›Tugendinstrumentalist‹ gewesen, während Platon diese Ansicht nach und nach zugunsten einer eigenen, nicht-instrumentellen Auffassung der Tugend zurückgewiesen hätte. Plausibler als Irwins These ist allerdings die Ansicht, Sokrates habe die Tugend als ein eindeutiges, nicht-ambivalentes Gut verstanden, durch das der Gebrauch aller anderen Güter berichtigt wird und das deshalb notwendig zum Glück hinführt. 239 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Der frühe Platon ist in der Tugendfrage weitgehend sokratisch geprägt. Allerdings setzt er in seinem Dialog Protagoras die These von der im Wissen begründeten Einheit der Tugenden einem Einwand aus: Einzeltugenden könnten einander widersprechen; so könne es etwa zum Konflikt zwischen Besonnenheit und Tapferkeit kommen. Platon hält jedoch grundsätzlich an der intellektualistischen Einheitsthese fest. Die Lehrbarkeit und Einheit der aretê macht die Tugend für Platon trotzdem nicht zu einer leichthin erreichbaren Größe. Eine neuartige theoretische Grundlage für seinen Tugendbegriff entwickelt Platon in der Politeia, und zwar im Ausgang von einem funktionalen Begriffsverständnis, das er am Beispiel von Pferden, Rebscheren oder Augen erläutert (352d– 354d). Einige Entitäten, so Platon, besitzen eine artspezifische Leistung (ergon), etwas, das von der betreffenden Art entweder ausschließlich oder doch am besten zustande gebracht wird. Ein solches Ding erfülle seine Funktion aber entweder gut oder schlecht. Daher könne man für jede Art von Entität, die ein ergon besitze, eine entsprechende optimale Tauglichkeit, eben ihre Tugend (aretê) angeben. Im vierten Buch der Politeia knüpft Platon bei seiner Deutung personaler Tugend an diese Deutung des Tugendbegriffs an. Die Gerechtigkeit sei als Tugend der gesamten Seele zu verstehen; folgerichtig sei eine Seele (und analog dazu ein Staat) dann gerecht, wenn sie (bzw. der Staat) ein funktionales Optimum erreiche. Das soll in dem Augenblick der Fall sein, wenn die Seele ›das Ihrige tut‹ (ta hautou prattein: 433a), also ihre spezifische Funktion erfüllt. Platon deutet die so verstandene Gerechtigkeit als Einheitsmoment der drei weiteren Tugenden Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit, die er den drei von ihm unterschiedenen Seelenteilen epithymêtikon (begehrlicher Teil), thymoeides (zorn- oder muthafter Teil) bzw. logistikon (rationaler Teil) zuordnet. Die Tugenden dieser Seelenteile werden dabei ebenfalls als deren jeweiliges funktionales Optimum, als ihr Bestzustand, gedeutet. Die vier Tugenden stehen für Platon in einem notwendigen Verhältnis zueinander; gemäß der ›Antakoluthiethese‹ kann keine ohne die andere vorkommen. ›Antakoluthie‹ heißt so viel wie ›wechselseitige Implikation‹. Dennoch sind die Einzeltugenden nach dem Modell der Politeia weder als miteinan240 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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der identisch noch als Ausprägungen einer einzigen Tugend zu verstehen. Die vollkommene aretê besteht vielmehr im optimalen Zusammenspiel der drei bestmöglich orientierten Seelenteile eines Individuums (bzw. der drei Stände eines Staates). Platon vertritt also die Einheitsthese nicht mehr im engeren sokratischen Sinn. Nach seiner eigenen Version sind die Tugenden vielmehr als eine harmonische Ordnung unterschiedlicher Vermögen zu verstehen; Einheit bedeutet hier lediglich versöhnte Verschiedenheit. Das Einheitsmoment der Tugenden beruht aber noch immer auf der philosophischen Einsicht, und zwar insofern, als die Einzeltugenden durch die Wirkung der Vernunft auf die Seelenteile zustande kommen und bestehen bleiben. Aristoteles behandelt den Tugendbegriff umfassender und stärker phänomenorientiert, als dies für Sokrates und Platon gilt. Zum einen löst er die sokratische Verbindung von kognitiven und moralischen Vorzügen auf und entwickelt seine Konzeption moralischer sowie intellektueller Tugenden getrennt voneinander (aretai êthikai – aretai dianoêtikai). Zum anderen beschränkt er seine Tugendlisten nicht auf vier Haupttugenden; er nennt über ein Dutzend ethische und zudem fünf dianoetische Tugenden, deren Eigenschaften er ausführlich darstellt (in Nikomachische Ethik III.9–VI). Unsokratisch oder anti-sokratisch wirken auch folgende weiteren Aspekte der aristotelischen Tugendkonzeption. Zunächst lehnt er die Identitäts- und die Suffizienzthese ab; die Tugend ist mit dem Glück weder gleichzusetzen noch allein zur Glückserlangung hinreichend. Sodann problematisiert er die technê-Konzeption mit dem Argument, die Tugend bringe anders als eine Kunst oder ein Handwerk kein Produkt hervor. Überdies weist er die Einheit der Tugenden scheinbar ganz zugunsten einer offenen Analyse ohne Anspruch auf Vollständigkeit zurück. Und schließlich lehnt er den moralischen Intellektualismus mindestens teilweise ab und betont die Wichtigkeit von Übung und Gewöhnung für den Tugenderwerb: Ein gerechter Mensch werde man durch gerechte, ein besonnener durch besonnene Handlungen (Nikomachische Ethik II.1). Auch erkennt Aristoteles das Phänomen der Willensschwäche ausdrücklich an (VII.1–11). Allerdings sollte man Aristoteles auch keinen Anti-Intellek241 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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tualismus unterstellen. Auch wenn er zahlreiche weitere Güter (wie z. B. Wohlstand, einen guten Ruf oder wohlgeratene Nachkommen) für glücksrelevant hält, spielen die Tugenden doch die entscheidende Rolle für ein gelingendes Leben. Was äußere oder körperliche Güter und selbst andere intrinsische Güter von der Tugend unterscheidet, ist nämlich, dass man letztere nach Aristoteles als etwas in sich Wertvolles wählen soll. Von den beiden entscheidenden Tugenden sophia und phronêsis sagt er, sie seien »notwendig um ihrer selbst willen zu wählen« (Nikomachische Ethik VI.13, 1144a1 f.). Wie Sokrates meint auch Aristoteles, dass Tugenden in die Lage versetzen, den richtigen Gebrauch aller anderen Güter zu handhaben, und er denkt, dass sie selbst nicht missbrauchbar, d. h. in einem nicht-ambivalenten Sinn gut sind. Zudem haben auch für Aristoteles Tugend und Glück ein direkteres Verhältnis zueinander, als dies für den Zusammenhang anderer Wissensformen zu ihren praktischen Ergebnissen gilt; sie verhalten sich wie Teil und Ganzes zueinander. Im Hintergrund steht folgende Theorie: Aristoteles versteht unter einer Tugend den Vollendungszustand eines bestimmten Seelenteils; das Glück des Menschen ergibt sich aus der Aktivität der optimal entwickelten Seelenteile. Für Aristoteles besteht das höchste, glücksrelevanteste Gut in der »spezifischen Leistung des Menschen« (ergon tou anthrôpou). Mit ihr ist die »Tätigkeit der Seele gemäß der Tugend« gemeint (1098a16 f.). Überdies spricht Aristoteles ausdrücklich von der Einheit der moralischen Tugenden in der phronêsis (1145a1 f.); in dieser Aussage ist die These von der Antakoluthie der moralischen Tugenden enthalten. Die sophia wird gegenüber allen anderen Wissensformen (einschließlich der phronêsis) als höchste und glücksrelevanteste Tugend ausgezeichnet (Nikomachische Ethik 1141a12–20). Und schließlich zielt Aristoteles mit seiner Betonung der moralischen Übung, die bereits in jungen Jahren beginnen soll, auf eine Schulung der Affekte, denen er dabei zudem eine kognitive Bedeutung für die Bestimmung des Richtigen verleiht. Keineswegs ist gemeint, die Tugend sei ein non-kognitiver Habitus, der auf eine bloße Konditionierung zurückgehe. Die Bestimmung der Tugend als »einer Mitte für uns« soll vielmehr auf einer »festen Haltung der richtigen 242 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Entscheidung« (hexis prohairetikê) beruhen, die nur dem ›praktisch Einsichtigen‹ (phronimos) zugestanden wird (Nikomachische Ethik II.6). Die zuletzt genannte Konzeption der Tugend als einer ›Mitte‹ (mesotês-Lehre) ist prominent, gilt aber häufig als sinnlos und ist nur schwer zu interpretieren (vgl. etwa Rapp 2006). Nach der mesotês-Lehre versteht sich die tugendhafte Person darauf, die richtige Wahl zwischen einander entgegengesetzten, extremen Handlungsoptionen zu treffen. Gemeint ist nicht, es gebe eine methodische Regel zur Auffindung des Richtigen, die sich abstrakt formulieren ließe, etwa die Regel von der Äquidistanz zwischen zwei Extremen. Aristoteles bindet die Fähigkeit vielmehr an die Person des Tüchtigen. Interpretiert man dies allerdings im Sinn der These, der Tugendhafte handle stets angemessen, dann erscheint die Lehre als trivial, fast als tautologisch: Wer einen guten Charakter und moralisches Urteilsvermögen besitzt, handelt in jeder Situation richtig (d. h. zum richtigen Zeitpunkt, durch die Wahl der richtigen Mittel, gegenüber den richtigen Adressaten, unter Berücksichtigung verschiedener Perspektiven und gegenläufiger Interessen, aus den richtigen Motiven, mit den richtigen Emotionen usw.). Dann ist schwer zu verstehen, inwiefern das Richtige ein Mittleres sein soll; richtig könnte ja auch der letztmögliche Zeitpunkt, ein extremes Mittel usw. sein. Nach Aristoteles geht es um eine »Mitte in Bezug auf uns«, d. h. um die richtige Bestimmung unserer Affekte und Handlungseinstellungen. Versteht man die mesotês-Lehre so, dann wüsste der Einsichtige (phronimos), Übermaß und Mangel in seiner Affektlage und seinen Handlungsbeurteilungen zu vermeiden, und nähme aufgrund seines ausgeglichen Innenzustands stets die richtige äußere Haltung ein. Ein solcher Habitus des Auffindens richtigen Verhaltens und der angemessenen Motivation scheint mit Kants Begriff eines ›guten Willens‹ vergleichbar (vgl. Sherman 1997). Tatsächlich meint Aristoteles, der Tugendhafte führe das moralisch Richtige ›gerne‹ oder ›mit Freude‹ aus (Nikomachische Ethik 1104b3 ff.). In der hellenistischen Philosophie wird der sokratische Gedanke, dass die Tugend in einzigartiger Weise glücksrelevant sei, übereinstimmend von den Stoikern und den Epikureern vertre243 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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ten, allerdings mit unterschiedlicher Ausrichtung. Die Stoiker spitzen die These seit Zenon von Kition zu der Behauptung zu, die Tugend sei das einzige Gut, während das Laster das einzige Übel darstelle und alle anderen Faktoren gleichgültig (adiaphora) seien. Daher besitzt die bekannte Grundformel der stoischen Ethik, man solle »in Übereinstimmung leben« oder »gemäß der Natur leben« (homologoumenôs zên, kata physin zên) in der Formel »gemäß der Tugend leben« (kat‹ aretên zên: SVF I.180) ein präzises Äquivalent. Tugend meint im Sokratischen Sinn ausschließlich den Besitz von sittlicher Einsicht (phronêsis). Unter der Tugend ist also die zum Habitus (diathesis) gewordene ›richtige Vernunft‹ (orthos logos) zu verstehen; die Vernunft beseitigt alle Affekte. Während Aristoteles zwischen dem bloßen Besitz und der Aktivierung der Tugend unterschieden hat (Nikomachische Ethik 1098b31 ff.), setzt Zenon beides gleich; niemand könne die Tugend besitzen, ohne sie zugleich beständig anzuwenden (SVF I.199). Für die Stoiker ist die Haltung der tugendhaften Persönlichkeit auf das Tun des sittlich Guten (kalon) ausgerichtet. Denn der stoische aretê-Begriff hängt eng mit der Vorstellung einer Gemeinschaft aller Vernunftwesen im Kosmos zusammen. Einzeltugenden ergeben sich nach stoischer Lehre als spezifizierte Formen des Vernunftbesitzes; das moralisch Verpflichtende differenziere sich je nach Handlungsbereich zu den verschiedenen Tugenden aus. Entsprechend ist Gerechtigkeit »das Wissen, das jedem das Gebührende zuteilt« oder »Feigheit die Unwissenheit in Bezug auf das, was man fürchten müsse, nicht fürchten müsse oder keines von beidem« (SVF III.262). Wie Platon vertritt Chrysipp die Lehre von vier Haupttugenden, die untereinander im Verhältnis der Antakoluthie stehen sollen. Daneben kennt er aber noch zahlreiche untergeordnete Tugenden (vgl. SVF III.262 ff.). In ihrer ausführlichen Bestimmung und Beschreibung folgt Chrysipp eher Aristoteles, was ihm den Vorwurf eingetragen hat, er führe entgegen Platons Warnung einen ganzen »Bienenschwarm von Tugenden« ein (SVF III.255). Nach stoischer Auffassung soll es einen bestimmten Übungsweg hin zur Tugend geben; dennoch macht der ›Fortschreitende‹ (prokoptôn) keine lineare Entwicklung durch. Er erwirbt die Tugend vielmehr 244 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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schlagartig; danach bildet sie seinen unverlierbaren Besitz. Da die Stoiker die These vertreten, die Tugend sei unter gleichgültig welchen Außenumständen oder körperlichen Voraussetzungen hinreichend für die eudaimonia, verhält sich die Tugend zum Telos Glück nicht bloß instrumentell; vielmehr ist sie »um ihrer selbst willen erstrebenswert« (SVF III.39; 41 f.). Der letzte Punkt, also der Selbstzweckcharakter der Tugend, markiert den zentralen Unterschied zur Tugendauffassung Epikurs. Zwar vertritt auch Epikur die These von der Vernünftigkeit der aretê; die Tugenden – und dies sind auch für ihn die vier Kardinaltugenden – gehen aus der richtigen Einsicht hervor. Außerdem gesteht er ihr die Stellung einer notwendigen Glücksbedingung zu. Nach Epikur »sind die Tugenden mit dem lustvollen Leben von Natur verbunden, und das lustvolle Leben ist von ihnen untrennbar« (Brief an Menoikeus 132). Die aretê gilt für Epikur jedoch nicht als ein intrinsisches Gut, sondern lediglich als Instrument zur Erlangung von Lust. Betrachtet man die Tugend als einen Selbstzweck, so führt dies nach Epikur zu einer unsinnigen Form von Selbstbeschränkung und Enthaltsamkeit. Stattdessen erhält die aretê bei ihm einen instrumentellen Charakter; nach Cicero soll Epikur die glücksfunktionalen Tugenden sogar als »Dienerinnen der Lust« bezeichnet haben (De finibus II.21,69). Er begründet den Wert der Gerechtigkeit beispielsweise damit, dass ungerechtes Verhalten wegen der Furcht, entdeckt zu werden, für innere Unausgeglichenheit sorge und damit die Seelenruhe störe (Kyriai doxai 17). Auch wenn die Tugenden in Epikurs Konzeption ein unentbehrliches Mittel der Glückserlangung bilden, versteht er sie dennoch nicht als eindeutige, nicht-ambivalente Güter: Sie können mitunter zum Schlechten, also zur Unlust, ausschlagen; dann aber sind sie zu meiden. In der christlichen Spätantike und im Mittelalter speist sich der Tugendbegriff meist aus stoischen und neuplatonischen Quellen. Spezifisch christlich ist aber die Hinzunahme der paulinischen Trias von Glaube, Hoffnung und Liebe (pistis, elpis, agapê: 1 Korinther 13,13), die zu den vier Kardinaltugenden entweder addiert oder ihnen vorgelagert werden. Obwohl überdies auch mit Tugenden wie Nächstenliebe, Vergebung, Reue und Demut Elemente 245 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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hinzukommen, die in der heidnischen Antike unbekannt waren, ist die christliche Tugendphilosophie meist an den aretaischen Modellen der Antike orientiert. Beispielsweise vertritt Augustinus eine an die Stufentheorie des Neuplatonismus angelehnte Tugendkonzeption. Augustinus behält die Tugendphilosophie der Antike auch insofern bei, als auch für ihn »die Tugenden zum wahrhaft glückseligen Leben führen« (Brief 155,3,12). Zurückgewiesen wird dagegen die »hochmütige Vorstellung der Philosophen«, man könne Tugend und Glück aus eigener Initiative und durch eigene Bemühungen erreichen (155,2,6). Die Einheit der vier Kardinaltugenden soll in der Liebe zu Gott (amor, caritas) bestehen: Gott erscheint dabei als das höchste Strebensziel. Zumindest an einer Stelle addiert Augustinus die vier Kardinaltugenden und die drei paulinischen Tugenden zu einer Siebenzahl (Brief 171A,2); ansonsten ordnet er die paulinische Trias meist den vier Haupttugenden Platons unter. Thomas von Aquin bestimmt Tugend als die aktualisierte Fähigkeit einer Person, richtige praktische Überlegungen anzustellen, angemessene Handlungen habituell auszuführen und ›richtig zu leben‹ (Summa theologiae II-II 49,1 und 55,1–4). Er folgt in seinem aretaischen Modell sowohl Aristoteles als auch Augustinus. Wie Ersterer kennt er neben moralischen auch intellektuelle Tugenden, welche er entsprechend als Aktualisierungen rationaler Fähigkeiten konzipiert. Wie Letzterer sieht er die ›Rechtheit des Willens‹ (die Augustinus ›Liebe‹ nennt) als Zentrum der Tugenden. Die drei paulinischen Tugenden bezeichnet Thomas als ›eingegossene‹ (virtutes infusae) im Unterschied zu ›erworbenen‹ Tugenden (virtutes acquisitae). Thomas bezeichnet die vier zentralen Tugenden Platons als ›Kardinaltugenden‹ – mit einer auf Ambrosius von Mailand zurückgehenden Metapher (lat. cardo bedeutet die ›Türangel‹). Gemeint ist, dass Klugheit (prudentia), Gerechtigkeit (iustitia), Mäßigkeit (temperantia) und Tapferkeit (fortitudo) Grundhaltungen sind, die ganze praktische Felder abdecken und sich in weitere Teiltugenden ausdifferenzieren lassen. Alle Tugenden zielen auf das Gut des Menschen, das als ein vernünftiges Gut verstanden wird (Schockenhoff 1987). In der Moralphilosophie der frühen Neuzeit spielte der Tu246 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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gendbegriff dagegen eine deutlich geringere Rolle als der Pflichtbegriff. Im 18. Jahrhundert hat Thomas Reid diesen Punkt ausdrücklich reflektiert, als er schrieb, die Alten hätten Moral unter der Perspektive der vier Kardinaltugenden erörtert, während die christlichen Autoren sie angemessener unter den drei Leitfragen der Pflichten gegen Gott, gegen uns selbst und gegen den Nächsten behandelt hätten (The Ancients commonly arranged them under the four cardinal virtues […]. Christian writers, I think more properly, under the heads of the duty we owe to God, to ourselves, and to our neighbour: Essays 1788: V. 2). Beispielsweise hat Samuel Pufendorf eine einflussreiche Darstellung von Pflichten vorgelegt, die aretaisches Vokabular nur noch am Rande verwendet. Eine gewisse Ausnahme hiervon bildet David Hume, der dem Tugendphänomen, besonders der Frage der Gerechtigkeit (justice), sowohl im Treatise on Human Nature (III.2,1) als auch im Enquiry Concerning the Principles of Morals breite Aufmerksamkeit schenkt. Tugenden sind für Hume personale Eigenschaften, für die wir jemanden schätzen und die für den Träger selbst oder die Anderen nützlich oder angenehm sind. Hume unterscheidet natürliche von künstlichen Tugenden: Erstere ergeben sich aus der menschlichen Natur, Letztere aus sozialen Institutionen. Er hebt die Bedeutung zweier moralischer Tugenden hervor: nämlich des Wohlwollens und der Gerechtigkeit. In Bezug auf justice verfolgt Hume allerdings eine skeptische und anti-realistische These: Danach handelt es sich bei Gerechtigkeit um eine künstliche Tugend. Der Gerechtigkeitssinn, jedem sein Recht einzuräumen, beruht nicht auf ewigen und unveränderlichen Ideen, sondern auf Eindrücken, die sich aus menschlichen Konventionen ergeben, sowie auf der Einsicht in die Unersättlichkeit der menschlichen Besitzansprüche. Gerechtigkeit ist für Hume daher nichts anderes als eine soziale Fiktion – vergleichbar abwegigen Formen des Aberglaubens und bizarren religiösen Riten, wie Hume explizit sagt. Auf der anderen Seite verteidigt er die Nützlichkeit, ja die Unverzichtbarkeit dieser Fiktion, und zwar zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Eigentumsordnung. Die stark verminderte Bedeutung des aretaischen Paradigmas 247 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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lässt sich auch bei Kant wahrnehmen, auch wenn dieser durchaus einen positiven Tugendbegriff entwickelt. Der eigentliche Berührungspunkt Kants mit der vormodernen Tugendethik liegt in der Betonung der guten Ausrichtung des Willens (der ›gute Wille‹ gilt als einziges einschränkungsloses Gut in der Grundlegung); von dort führt ein direkter Weg zum Tugendbegriff, nämlich über die Idee einer Habitualisierung der guten Einstellung. Dennoch gibt es einen prinzipiellen Unterschied, wie man an einem Zitat aus Kants Tugendlehre VI.394 erschließen kann: »Tugend ist die Stärke der Maxime des Menschen in Befolgung seiner Pflicht. – Alle Stärke wird nur durch Hindernisse erkannt, die sie überwältigen kann; bei der Tugend aber sind diese die Naturneigungen, welche mit dem sittlichen Vorsatz in Streit kommen können, und da der Mensch es selbst ist, der seinen Maximen diese Hindernisse in den Weg legt, so ist die Tugend nicht blos ein Selbstzwang (denn da könnte eine Naturneigung die andere zu bezwingen trachten), sondern auch ein Zwang nach einem Princip der innern Freiheit, mithin durch die bloße Vorstellung seiner Pflicht nach dem formalen Gesetz derselben.«

Tugend ist für Kant ›moralische Stärke‹ beim Handeln, besonders in der ethischen Konfliktsituation, nicht ein harmonischer Charakterzustand der habituell richtigen Handlungswahl. Damit gleicht seine Tugendkonzeption eher der ›Beherrschtheit‹ (enkrateia) des Aristoteles als dessen aretê. Deswegen meint Kant auch, die Tugend sei größer, je prekärer ihre charakterliche Basis und je größer die ethischen Herausforderungen seien (dazu Bremner 2007). Der Platz des Tugendbegriffs ist zudem ein recht eingeschränkter. In der Metaphysik der Sitten entwickelt Kant das »System der allgemeinen Pflichtenlehre« so, dass er Pflichten einteilt in solche, »welche äußerer Gesetze fähig sind«, und in solche, »die nicht unter äußeren Gesetzen stehen« (VI.379). Die erste Pflichtvariante wird in der Rechtslehre behandelt, die zweite in der Tugendlehre; Rechtspflichten gebieten Handlungen, während Tugendpflichten nicht Handlungen, sondern bestimmte Zwecke zur Pflicht machen (nämlich fremde Glückseligkeit und eigene 248 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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moralische Vollkommenheit). Außerdem korrespondieren den Rechtspflichten moralische Ansprüche anderer Individuen, während dies bei Tugendpflichten nicht der Fall ist. Aus der Perspektive der aktuellen aretaischen Ethiken wird deutlich, dass dies einen vollen Tugendbegriff allenfalls annähernd trifft.

7.2 Die Wiederentdeckung des Tugendbegriffs Tugendethik galt lange Zeit als eine historisch überholte Position der antiken und mittelalterlichen Ethik. Dies änderte sich erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Die heutige Tugendethik ist ein Phänomen, dessen Wurzeln in der besonderen Situation der britischen Moralphilosophie der 1950er und 1960er Jahren zu suchen sind. Einen wichtigen Hintergrund ihrer Entstehung bilden einerseits Wittgensteins Überlegungen zum Sprachspiel, zur Lebensform und zum Regelfolgen in den Philosophischen Untersuchungen (1953). Mit Wittgensteins epochalem Spätwerk erlangte die Perspektive traditioneller Gemeinschaften und der Kontextbedingungen menschlichen Lebens eine neue Bedeutung. Was für jemanden richtig und verbindlich ist, schien den Schülern des späten Wittgenstein nunmehr in weitaus höherem Maß eine Frage sozialer Zugehörigkeit und kommunitärer Herkunft zu sein, als man dies bis dahin annahm. In den Entstehungskontext der zeitgenössischen Tugendethik spielen andererseits aber auch Aristoteles und Thomas von Aquin mit hinein. Beide klassischen Autoren waren mit ihren Tugendkonzeptionen in der akademischen Lehre der damaligen Zeit so weit präsent, dass sie einen erwägenswerten Kontrast zum vorherrschenden Utilitarismus abgeben konnten (dazu Chappell 2013). Als anstoßgebend für die neue Tugendethik lässt sich G. E. M. Anscombes Aufsatz Modern Moral Philosophy (1958) beschreiben. Darin finden sich zwei grundlegende Ausgangspunkte der nachfolgenden Tugendethik: (a) die Ablehnung von dekontextualisierten Prinzipienethiken, also von Kantianismus und Utilitarismus, und (b) die Zurückweisung einer Fokussierung auf die metaethische Analyse der Moralsprache (›gut‹ und ›sollen‹); hierin 249 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Tugendethiken und Neoaristotelismus

spiegelt sich der Wunsch nach einer Abwendung von subtilen Fragen der metaethischen Linguistik und einer Rückkehr zu substantiellen Moraldebatten. Neben Anscombe sind die weiteren Hauptvertreter(innen) der Tugendethik G. H. von Wright (The Varieties of Goodness: 1963), Peter Geach (The Virtues: 1977), Philippa Foot (Virtues and Vices: 1978), Rosalind Hursthouse (On Virtue Ethics: 1999), Alasdair MacIntyre (After Virtue: 1981), Bernard Williams (Ethics and the Limits of Philosophy: 1985), John McDowell (Mind, Value and Reality: 1998), Onora O’Neill (Towards Justice and Virtue: 1996) und Martha Nussbaum (Creating Capabilities: 2011). Die Akzentsetzungen, die für deren Ansätze jeweils zentral sind, gehen allerdings ziemlich weit auseinander. Einige weitere, neuere Modelle von Tugendethik stammen etwa von Robert Adams, Julia Annas, Timothy Chappell oder Michael Slote. Vielfach gehen Tugendethiker(innen) Verbindungen ein mit Ansätzen aus Kontextualismus, Kommunitarismus, Perfektionismus, Anerkennungstheorien, Republikanismus oder Feminismus (für eine Darstellung und Kritik neuerer Tugendethiken vgl. Ch. Halbig 2013). Als ein entscheidender Gesichtspunkt ist die tugendethische Fokussierung auf die Perspektive des Handelnden hervorzuheben: Tugendethiken verfahren akteurzentriert (agent-centered), die meisten anderen Modelle dagegen aktzentriert (act-centered) oder regelzentriert (rule-centered). Aretaische Ethiken beurteilen also primär die moralische Qualität der handelnden Personen, während für Utilitaristen wie für Kantianer die Frage nach dem moralischen Wert von Handlungen oder Handlungsarten Vorrang besitzt und zudem die Frage nach ihrer Verbindlichkeit und nach einer Moralbegründung. Zentral für deontologische Ansätze ist die Idee eines Sollens, das – so die aretaischen Kritiker(innen) – seine Plausibilität aus der theologischen Tradition von Gebotsmoralen bezog. Mit dem Zurücktreten religiöser Selbstverständlichkeiten seien nunmehr gebotsförmige moralische Normen unglaubwürdig geworden. Ein häufiges zusätzliches Kennzeichen von Tugendethiken ist die Zurückweisung eines Generalismus zugunsten eines wahrnehmungsbasierten Partikularismus (phronêsis als situative Ur250 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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teilskraft und als Gespür für die »morally relevant features of a given situation«). Unter Partikularismus versteht man die metaethische Auffassung, dass moralische Urteile sich stets nur in Bezug auf Einzelfälle formulieren lassen. Um adäquat zu sein, muss jedes moralische Urteil an den zahllosen Aspekten orientiert sein, welche für eine bestimmte Situation spezifisch kennzeichnend sind. Nach der ›Inkommensurabilitätsthese‹ des Partikularismus ist praktische Vernunft bei jeder Handlung vor neue, nicht antizipierbare Herausforderungen gestellt. Partikularismus kann einerseits als ontologische These verstanden werden; dann bedeutet er eine Bestreitung der Existenz allgemeiner Prinzipien innerhalb der praktischen Deliberation. Oder er betrifft Fragen der moralischen Entscheidungsfindung; dann wendet er sich gegen die Unflexibilität und mangelnde Passgenauigkeit allgemeiner Prinzipien. Oder er bezieht sich auf die Begründungsebene moralischer Urteile; dann macht er sich dafür stark, dass Begründungen legitimerweise situationsrelativ sein können (oder gar müssen). Wichtige Vertreter sind gegenwärtig John McDowell, David Wiggins, Jonathan Dancy oder David McNaughton. Ebenso grundlegend für Tugendethiken wie Kontextsensitivität ist die Perspektive, die sich für Fragen der moralischen Motivation ergibt. Denn es können sich zwischen die Anerkennung der Richtigkeit einer Handlung und die Bereitschaft, sie auszuführen, zahlreiche Hindernisse schieben. Eine handlungsleitende Wirkung beruht darauf, dass neben einem Auffindungsprinzip für moralisch Richtiges auch ein wirksames Ausführungsprinzip wirksam ist. In Tugendethiken resultiert ein solches Handlungsmotiv, wie schon gesagt, aus den normativen Persönlichkeitsbildern; Tugendethiken orientieren sich an herausragenden Beispielen menschlicher Gerechtigkeit, Großzügigkeit, Überlegtheit oder souveräner Gelassenheit. Solche Persönlichkeitsbilder haben den Vorteil, moralisches Handeln in den Kontext eines insgesamt wünschenswerten oder gelungenen Lebens zu stellen. Für neuzeitliche Ethiken fallen Motivationsfragen hingegen oft in den Bereich eines privaten Ethos; damit kommt es zu einer Subjektivierung oder Bagatellisierung von Persönlichkeitsbildern. Besonders problematisch wirkt die Auffassung, eine Orientierung des 251 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Tugendethiken und Neoaristotelismus

Individuums am wohlverstandenen eigenen Nutzen löse das Motivationsproblem. Moralität und Eigennutz scheinen nicht leicht harmonisch miteinander verbunden werden zu können. Der Tugendbegriff besitzt überdies den Vorteil, sich leicht mit politischen, gesellschaftlichen, historischen und psychologischen Fakten und Theorien verknüpfen zu lassen. Über Fragen des Typs, welche Handlungen aus welchem Grund richtig oder falsch, erstrebenswert, abzulehnen oder gleichgültig sind, geht eine Tugendethik erheblich hinaus. Sie kann zusätzlich untersuchen, welche nicht-aktiven Haltungen (wie Empathie, Selbstbeherrschung oder Wohlwollen) moralisch relevant sind, in welchen Kontexten Auffassungen von richtigem und falschem Handeln erworben und wann sie auf welche Weise wirksam werden. Damit erlaubt sie, individuelles und gemeinschaftliches Handeln direkt zueinander in Beziehung zu setzen. Es scheint kein Zufall zu sein, dass bereits Platon und Aristoteles in ihrem Tugendbegriff Individualund Polisethik jeweils direkt miteinander verknüpft haben. Eine solche Kontextsensitivität muss nicht bedeuten, dass bestehende Verhältnisse bestätigt, sondern nur, dass sie in die Überlegung einbezogen werden. Eine Tugendethik kann Fragen angemessenen Verhaltens unter den Aspekten sozialer Charakterformung, moralischer und politischer Institutionen, geteilter traditioneller Auffassungen und gesellschaftlicher Üblichkeiten thematisieren. Wichtige Teilfragen sind etwa: Wie erwirbt man einen moralischen Habitus, und wie lässt sich die Einsicht in das Habituellwerden von Einzelhandlungen unter ethischem Aspekt nutzen? Welche Rolle spielt der Gemeinschaftsbezug beim Tugenderwerb, und welche Rolle soll er spielen? Wie verhalten sich persönliches und institutionelles Handeln zueinander? Der vielleicht wichtigste Vorzug aretaischer Ethiken liegt darin, dass sie das persönliche Leben, und zwar zum einen das ›Leben als Ganzes‹ und zum anderen das ›Leben im kleinen Maßstab‹, in die moralphilosophische Betrachtung einbeziehen können. Eine Konzeption zu besitzen, die das individuelle Leben als ein Kontinuum thematisiert, bedeutet insofern einen erheblichen Gewinn. Tugendethiken erlauben es, die grundlegenden Fragen persönlicher Lebensführung und eigener Lebensziele zu stellen. 252 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Die Wiederentdeckung des Tugendbegriffs

Welche Lebenskonzepte erweisen sich als sinnvoll, in welcher Abfolge und mit welcher Rangordnung? Welchen Platz sollen selbstbezogene, klugheitsorientierte (prudentielle), gemeinschaftsbezogene oder moralische Verhaltensweisen im Lebenskontext erhalten? Zudem ist dieses Ethikmodell vorteilhaft, weil es ermöglicht, die Lebenspraxis im kleinen Detail zu diskutieren. Denn im gewöhnlichen Alltagsleben haben wir es meist nicht mit subtilen Konfliktfällen zu tun; Fragen einer Alltagsmoral scheinen dennoch von erheblicher philosophischer Bedeutung. Neben solchen Aspekten lassen sich in eine Tugendkonzeption auch außermoralische Lebensfragen wie Krankheit, Tod, Glück, Zeiterfahrung usw. einbeziehen. Der Mehrzahl moderner Ethiken ist dagegen anzulasten, dass sie das Thema einer reflektierten Lebensführung und das einer Alltagsmoral vernachlässigen – wenn nicht gar ignorieren. Auf Fragen der existenziellen Selbstgestaltung zu verzichten, hat etwa zur Folge, Wurzeln und Grundlagen von Moralität zu ignorieren, Bagatellfälle als Privatangelegenheiten zu verstehen und durch das Ignorieren zweifelhafter Verhaltensweisen diese in gewissem Umfang zu legitimieren. Tugendethiken sind zudem imstande, das Problem der Verdienstlichkeit (Supererogation) zu behandeln, d. h. die Frage, ob und gegebenenfalls wie gutes Handeln nach Vorrangregeln einzuteilen ist, beispielsweise in Handlungen, die unbedingt verpflichtend sind, und solche, die über das Verpflichtende hinausgehen. Sie erlauben es auch, individuellen moralischen Fortschritt zu thematisieren. Tugendethiken können Fragen der Pflichten gegen sich selbst oder Fragen einer angemessenen Rangfolge moralischer Adressaten erörtern, also das Problem einer Nächsten- bzw. Fernstenliebe. Ein weiterer markanter Pluspunkt zeitgenössischer Tugendethiken besteht in der Betonung des Kontextprinzips. Sie greifen auf ›dichte‹ (thick) Begriffe zur Beschreibung der moralischen Bedingungen zurück und weigern sich, abstrakte, ›dünne‹ (thin) Begriffe zu verwenden oder abstandnehmende (detached) Beschreibungen zu liefern. Aus der Perspektive eines radikalen Kontextualismus wie z. B. des Kommunitarismus liegt sogar das moralische Zentralproblem der Gegenwart in der Traditionslosigkeit, Bindungslosigkeit und Individualisierung der Gesellschaft. Nach 253 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Tugendethiken und Neoaristotelismus

der Analyse von Alasdair MacIntyre (1987 und 1988) beruht die moderne liberale Moralauffassung, die solche Wertvorstellungen wie Neutralität, Verfahrensgerechtigkeit und Unparteilichkeit in den Mittelpunkt stellt, geradezu auf einer ›moralischen Katastrophe‹ (1985: 205). MacIntyre führt sie auf ein skeptizistisches Missverständnis von Moral zurück, das er der frühneuzeitlichen Aufklärung anlastet; er wirft der Moderne einen Skeptizismus vor, der gegen die wahren Wurzeln der Moral gerichtet sei. In der Antike, und zwar besonders bei Aristoteles, sei demgegenüber der für eine angemessene Moraltheorie zentrale Tugendbegriff wiederzufinden. Dieser Tugendbegriff soll drei wesentliche Elemente einschließen: Die Einbindung der Person in eine traditionelle Gemeinschaft, die Verwurzelung des moralischen Handelns in bestimmten gesellschaftlichen Üblichkeiten und eine teleologische Interpretation der menschlichen Natur und der menschlichen Biographie. Nach MacIntyre muss sich eine Gerechtigkeitskonzeption von einer geteilten Idee des Guten herleiten; in liberalen Staaten ohne eine solche geteilte Wertüberzeugung (oder richtiger: mit einer unzulänglichen Idee des guten Lebens) herrsche dagegen ein »Bürgerkrieg mit anderen Mitteln« (1985: 337). Der implizite Traditionalismus der Tugendethik zieht natürlich Kritik auf sich: Bei der Tugendkonzeption scheint es sich um einen Kampfbegriff von Konservativen zu handeln. Von Tugenden scheint man nur sprechen zu können, wenn man auf diese Weise sein Bedauern über den (angeblichen oder tatsächlichen) Niedergang von Höflichkeitsformen, von Gemeinwohlorientierung oder von gewissenhafter Pflichterfüllung zum Ausdruck bringen will. Der Verdacht legt sich nahe, mit dem Tugendbegriff werde das moralisch unreflektierte, vielleicht sogar pseudo-moralische Ideal des ›guten Jungen‹ oder des ›anständigen Bürgers‹ propagiert. Wer sich zugunsten des Tugendbegriffs äußert, wirkt wie ein Befürworter traditioneller sozialer Rollen und wohldefinierter gesellschaftlicher Üblichkeiten. Gegner einer traditionsorientierten Konzeption von Tugenden verweisen auf den bedenklichen Charakter einer solchen Kontextabhängigkeit: Jemand, der etwa die Tugenden Pünktlichkeit und Pflichterfüllung besitze, sei nur so 254 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Die Wiederentdeckung des Tugendbegriffs

lange eine moralisch gute Person, wie er diese Tugenden zu guten Zwecken einsetze. Es scheint fragwürdig, ob sich in pluralistischen Gesellschaften ein verbindliches Tugendideal überhaupt formulieren ließe. Welche Eigenschaften sollte man in eine verbindliche Tugendliste aufnehmen? Nur moralische oder auch funktionale Qualitäten? Und welche Charaktervorzüge sind moralischer, welche nur funktionaler Art? Sollen nur universell ausweisbare oder auch gruppenspezifische Eigenschaften berücksichtigt werden? Bestehen beim Tugenderwerb Vorrangregeln? Gibt es primäre und sekundäre Tugenden, oder zählen alle gleich? Dass etwa Tapferkeit, Rücksichtnahme oder Großzügigkeit erstrebenswerte Eigenschaften sind, die dem positiven Tugendverständnis entsprechen, dürfte plausibler sein als die Berücksichtigung von Haltungen wie Pünktlichkeit, Akribie, Patriotismus oder Pflichterfüllung. Und schließlich kann man zu bedenken geben, dass selbst dann, wenn jemand eine anerkanntermaßen wünschenswerte Tugend besitzt, damit noch keineswegs sichergestellt ist, dass er immer und in jeder Hinsicht angemessen handelt. Denn einerseits könnte jemand beispielsweise tapfer und zugleich raffgierig und geizig sein. So lobenswert seine Tapferkeit wäre, so fatal würde sich seine Besitzgier auswirken. Andererseits scheint es, als könnte jemand tapfer auch in solchen Fällen sein, in denen Tapferkeit gar nicht die moralisch vorziehenswerte Verhaltensweise ist. Seine Tapferkeit könnte in einem moralischen Sinn leerlaufen oder gar unerwünscht sein. Dann wäre aber sogar mit genuin moralischen Tugenden für die Sache der Moral nichts gewonnen. Aretaische Ethiken lassen sich weiteren Einwänden aussetzen. Zunächst ist da das Bedenken, dass Tugendethiker eine unklare Auswahl unter den einschlägigen Charakterhaltungen zu treffen scheinen: Welche Charaktereinstellungen sind Tugenden, welche nicht? Zählen nur Aufrichtigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit – Einstellungen, die jeder zustimmungswürdig findet? Oder auch weniger beliebte Charaktermerkmale wie Großzügigkeit, Loyalität, Keuschheit, Mitleid, Bescheidenheit (christliche Demut)? Sodann sind bestimmte Ambivalenzen im Tugendbegriff zu klären: Viele Tugendethiker unterscheiden nur unzulänglich zwischen 255 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Tugendethiken und Neoaristotelismus

Selbststeuerungstugenden und Fremdbegünstigungstugenden oder zwischen Glückstugenden und Moraltugenden; durch begriffliche und phänomenologische Mängel verdecken sie, wie unterschiedlich die Beiträge von habituellen Charakterhaltungen zum normativ oder prudentiell richtigen Verhalten sein können. Ein weiterer Einwand ergibt sich aus Applikationsproblemen: Besitzt die Tugendethik irgendeine Tauglichkeit für Fragen der Angewandten Ethik? Zumindest gibt es viele Diskussionsfelder, in denen dies schwer zu sehen ist. Weiterhin besteht die Gefahr der moralischen Überforderung (demandingness objection): Nicht nur gegen den Utilitarismus und den Kantianismus, sondern auch gegen die Tugendethik lässt sich der Verdacht richten, sie überfordere den Akteur durch unrealistische Beschreibungen dessen, was im Leben eines Menschen angemessenerweise geschehen sollte. Insbesondere ist hier erwähnenswert die Herausforderung des Situationismus, einer moralpsychologischen Position, die markant von Gilbert Harman und John M. Doris (1998 und 2010) vertreten worden ist: Darin wendet sich die empirische Moralpsychologie gegen unrealistische Annahmen der philosophischen Ethik in der Frage nach der Ausführbarkeit moralischer Normen und der Realisierbarkeit von Charakter- und Persönlichkeitsidealen. Zu sehr steht uns moralisches Versagen vor Augen, menschliche Korrumpierbarkeit, Willensschwäche, Manipulierbarkeit und Irrationalität; erschütternd ist hier etwa Milgrams Experiment zum Autoritätsgehorsam. Sollen wir gemäß der traditionellen Rechtsformel ultra posse nemo obligatur darauf schließen, man könne von Menschen moralisches Verhalten nicht oder nur stark vermindert erwarten? Zumindest scheint das kantische Du kannst, denn du sollst wenig Plausibilität auf seiner Seite zu haben. Die Normfigur in der gegenwärtigen Tugendethik und im Commonsense ist die ›integre Persönlichkeit‹. Deren Merkmale sind: (i) Im Einklang mit sich selbst stehen, (ii) Tiefgang haben, (iii) Verlässlichkeit, (iv) Rechtschaffenheit, (v) Charakterstärke (vgl. H. B. Schmid 2011: 7 f.). Doch zahlreiche empirische Untersuchungen scheinen zu belegen, dass die jeweilige Situation, nicht der Charakter unser Verhalten bestimmt; es gibt kein situationsunabhängiges inneres Wesen. Tugendethiker können dagegen 256 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Formen des Neoaristotelismus

geltend machen, dass selbst das Milgram-Experiment belegt, dass eine moralische Charakterhabitualisierung in Extremsituationen hilfreich sein kann. Folgende weiteren Bedenken können in tugendkritischer Absicht vorgebracht werden. Einmal kann man zu bedenken geben, dass der Tugendbegriff für die beiden Grundprobleme der Moralphilosophie nutzlos sei: Weder hilft er bei der Aufdeckung des moralisch Richtigen (Welche Handlungen sind moralisch richtig?), noch löst er das Begründungsproblem (Was begründet oder legitimiert Moral?). Auch in den Fragen von moralischer Motivation und Moralpädagogik wirkt sein Nutzen zweifelhaft. Man könnte einwenden, dass der Besitz von Tugenden zwar die Anzahl moralischer Handlungen erhöht, zugleich aber unnötig sei und durch leichter handhabbare Motive ersetzt werden könne. Vor allem aber lassen sich Zweifel vorbringen, ob die Frage nach der Verfestigung wünschenswerter Lebenshaltungen überhaupt einen sinnvollen Gegenstand der Ethik darstellt. Sind Fragen der Charakterbildung nicht eine Privatangelegenheit oder allenfalls ein Thema für Moralpsychologie und Moralpädagogik? Ist es sinnvoll abzuwarten, bis jemand das sittlich Richtige aus einer festen charakterlichen Disposition tut? Macht es einen guten Sinn, in die Lebensplanung die Hoffnung auf einen persönlichen moralischen Fortschritt einzubeziehen? Man könnte bezweifeln, dass es überhaupt realistisch und angemessen ist, seine Energien auf das Ziel einer moralischen Selbstvervollkommnung zu richten. Vielleicht handelt es sich dabei sogar, so ließe sich vermuten, um ein insgesamt illusorisches, inhumanes oder ein selbstgerechtes Lebensziel.

7.3 Formen des Neoaristotelismus Auf Aristoteles bezieht sich eine ganze Reihe von moralphilosophischen Ansätzen in der Gegenwart (vgl. die Übersicht bei Peters 2013 und bei Hähnel 2017). Den gemeinsamen Hintergrund neoaristotelischer Ansätze liefert die Frage nach dem guten oder gelingenden Leben. Unter welchen Umständen kann man von 257 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Tugendethiken und Neoaristotelismus

einem ›blühenden Leben‹ (flourishing life) sprechen? Was lässt ein menschliches Leben fehlgehen oder verarmen? Die gemeinsame Idee aller Neoaristoteliker(innen) besteht darin, Aspekte der Theorie des gelingenden Lebens, der philosophischen Handlungstheorie und der rationalen Psychologie, besonders der Emotionstheorie, aus der Perspektive des jeweiligen sozialen, kulturellen und historischen Kontexts zu beantworten (besonders Foot 1978). Aber es gibt auch Neoaristoteliker(innen), die ein essentialistisches, naturalistisches oder perfektionistisches Paradigma verfolgen. Wegen der grundlegenden Verschiedenheit der Ansätze seien im Folgenden einige Modelle kurz charakterisiert: diejenigen von (1) Alasdair MacIntyre, (2) Bernard Williams, (3) Martha Nussbaum, (4) Philippa Foot, (5) John McDowell, (6) Michael Thompson und schließlich (7) dasjenige des aktuellen moralischen Perfektionismus. (1) Nach Alasdair MacIntyres Auffassung – die von zahlreichen Tugendethikern geteilt wird – ist es für die moralische Identität einer Person grundlegend, dass sie eine feste Charakterrolle spielt. Eine solche Rolle kommt zustande, wenn sich die Person als Teil einer nacherzählbaren Geschichte begreifen kann. Die moralkonstituierende Frage par excellence lautet also: »Als Teil welcher Geschichte oder welcher Geschichten sehe ich mich?« (1987: 288). In einer solchen Geschichte gehe es stets um bestimmte Güter, die innerhalb einer kooperativen Praxis angezielt werden; daraus ergäben sich die Standards angemessenen Verhaltens. Tugenden sollen demnach als erworbene Eigenschaften zu verstehen sein, in denen Vortrefflichkeiten mit Blick auf die Ziele einer Gemeinschaft formuliert werden. Erst aus ihnen sollen sich verbindliche moralische Regeln ergeben, nicht umgekehrt. Für MacIntyres Tugendmodell ist zudem die These kennzeichnend, die aristotelischen Tugenden dienten der Absicht, ›interne Güter‹ zu erlangen. Damit sind diejenigen Ziele gemeint, die einer bestimmten gesellschaftlichen Praxis inhärieren und die diese Praxis prägen. MacIntyre versteht interne Güter im Sinn derjenigen Ziele, die in einem gemeinsamen Projekt angestrebt werden. Unter gegenwärtigen Bedingungen trete eine von internen Gütern bestimmte gesellschaftliche Praxis allenfalls noch bei der Ein258 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Formen des Neoaristotelismus

weihung eines Kindergartens oder Krankenhauses in Erscheinung. Tugenden bezeichnen dann vortreffliche Erfüllungen einer zielorientierten Üblichkeit. Für MacIntyre schließt die Verteidigung des Tugendbegriffs in gewissem Umfang die Forderung ein, zu einem geschlossenen, vormodernen Gesellschaftsmodell zurückzukehren. (2) Für seinen Rückgriff auf die Tugendethik beruft sich Bernard Williams einerseits auf Aristoteles und andererseits auf das frühgriechische Epos sowie die klassische Tragödie. Er versucht zu zeigen, dass der moderne, christlich und kantisch geprägte Moralitätsbegriff ethisch unangemessen ist: Praktisches Überlegen, so Williams, ließe sich ohne die Moralitätsvorstellung wesentlich besser vollziehen (1985: Kap. 10). Denn Moralität bilde ihrem Selbstverständnis nach ein kontextunsensibles, ›unentrinnbares‹ System von kategorischen Verpflichtungen, bei dem eine Pflicht nur durch eine übergeordnete andere Pflicht außer Kraft gesetzt werden könne. Williams selbst sieht das Ziel des praktischen Überlegens im menschlichen Wohlergehen (human flourishing) des Reflektierenden und schlägt vor, Überlegen am Maßstab einer ›internalistischen Perspektive‹ auszurichten, d. h. im Blick auf eigene Dispositionen, Fähigkeiten und auf sozial erworbene Gütervorstellungen. Für diesen ethischen Reflexionstyp beruft er sich auf Aristoteles, der dem Handelnden ebenfalls keine äußeren Standards auferlege, sondern eine Entwicklung eigener Anlagen aus der Innenperspektive empfehle, ohne dass er deswegen mit äußeren Standards in Konflikt kommen müsste (1985: 51 f.). Träten solche Konflikte aber auf, so gebe es für sie keine situationsunabhängigen Lösungen, wie der Moralitätsbegriff suggeriere. Die Vorstellungen von Autonomie, Verantwortlichkeit, moralischer Schuld, ›Reinheit‹ der Motivation und unbedingter Verpflichtung belasteten das Individuum lediglich mit Regeln, die zu weit vom angemessenen existenziellen Überlegen entfernt seien und die zentrale Frage nach dem Lebenserfolg ignorierten. Eine solche Perspektive einzunehmen, heißt für Williams, »eine externe Sicht« auf das eigene Leben zu richten. Demgegenüber bestehe eine interne Sicht darin, seine Lebensplanung »von jetzt aus« und aus dem Blickwinkel jenes Sets von persönlichen 259 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Tugendethiken und Neoaristotelismus

Motiven zu betrachten, die ein Individuum kennzeichnen. Williams hat aus dieser Gegenüberstellung das Begriffspaar von internen und externen Handlungsgründen geprägt: Interne Gründe sind solche, die mit meinen persönlichen Motiven (d. h. meinen Wünschen, Präferenzen, Wertungen, Loyalitäten, Projekten usw.) in Verbindung stehen; bei externen Gründen besteht dagegen keine solche Verbindung. Nach Williams’ Überzeugung muss sich angemessenes praktisches Überlegen auf interne Handlungsgründe stützen; alle externen Begründungsansprüche sind falsch (all external reason claims are false). Folgerichtig vertritt auch Williams die Auffassung, der kantische Moralitätsbegriff sei ein externes Zwangssystem, das mit dem praktischen Überlegen, wie es sich natürlicherweise und angemessenerweise vollziehe, nicht kompatibel sei. Williams (1993) vergleicht die moderne ethische Praxis mit der antiken und gelangt dabei zu der These, dass der Antike die Vorstellung von Moralität noch unbekannt gewesen sei; die Handlungssteuerung durch verinnerlichte Regeln stelle erst ein modernes Phänomen dar. Nach seiner Darstellung handelt es sich bei der Entwicklung eines Moralitätsbegriffs um eine Verengung, nicht um einen historischen Fortschritt; er entwickelt seine Einschätzung an der frühgriechischen Vorstellung angemessenen Handelns, die meist aus der Perspektive des inzwischen erreichten ›Fortschritts‹ missverstanden werde. Er wendet sich einerseits gegen eine Auffassung von Bruno Snell, die Figuren der homerischen Epen besäßen keine durchgehende personale Identität und seien nicht für ihr Handeln verantwortlich. Im Epos werde vielmehr ein Typ von Verantwortlichkeit greifbar, der nicht auf der Isolierung eines reflektierenden Ich beruhe und daher moralische nicht von unmoralischen Motiven unterscheide. Zum anderen wendet sich Williams gegen ein Missverständnis des Schambegriffs, den er für das positive Zentrum der frühgriechischen Auffassung hält; der Begriff der Scham bedeute keineswegs ein unterentwickeltes und fremdbestimmtes Verständnis von Handlungsregulierung. Vielmehr verbinde der Schambegriff ein normatives Selbstbild mit den Fremderwartungen und sei daher weniger restriktiv und künstlich als die Moralitätsvorstellung; auch 260 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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schließe er durchaus Vorstellungen wie Schuld, Buße oder Reue ein, enthalte also wesentliche Elemente, für die man angeblich die Idee von Moralität benötigt. (3) Martha Nussbaum (1997, 2000 und 2011) vertritt ihre Konzeption ebenfalls im Anschluss an Aristoteles. Ihr Aristotelismus weist allerdings einen essentialistischen Charakter auf; behauptet wird die Existenz bestimmter invarianter Wesensmerkmale des Menschen, fester Eigenschaften, die über alle Kultur- und Epochengrenzen hinwegreichen sollen und dennoch Raum für kulturspezifische und individuelle Ausprägungen lassen. An eine solche Theorie gemeinsamer Kennzeichen aller Menschen (features of our common humanity) knüpft sie in einem zweiten Schritt wie Sen den Gedanken von Entwicklungsmöglichkeiten (capabilities), die für Menschen in objektivem Sinn adäquat sein sollen. Damit greift sie die aristotelische Tugendtheorie auf, und Nussbaum verknüpft mit dieser ebenso wie Aristoteles in einem dritten Schritt eine perfektonistische Glückstheorie: Unter Glück ist ein Tätigsein auf der Grundlage wesensgemäß entwickelter menschlicher Fähigkeiten zu verstehen – wobei Nussbaum eine inklusivistische Interpretation von Aristoteles’ eudaimonia-Begriff vertritt. Auf diese Weise entsteht eine »dichte, aber inhaltlich vage Theorie des Guten« (thick vague theory of good), wie Nussbaum ihre Gütertheorie selbst kennzeichnet. Vergleichbar den Kommunitaristen ist zwar – mit anti-kantianischer und anti-utilitaristischer Tendenz – von einem »Vorrang des Guten« gegenüber einem formalen Prozeduralismus die Rede, mit dem ›Guten‹ ist jedoch keineswegs ein gemeinschaftsspezifisches Gut, sondern ein allgemein-menschliches gemeint. Es dient Nussbaum ferner als Basis für eine Konzeption starker Sozialstaatlichkeit. Nussbaums neoaristotelische Position lässt sich mithin durch vier Elemente charakterisieren: (a) Die Philosophin vertritt eine an Aristoteles’ endoxa-Methode angelehnte Konzeption einer zugleich anti-platonischen wie anti-relativistischen Wissenschaftstheorie. Diese soll geeignet sein, zeit- und kulturübergreifende Merkmale des Menschen aufzudecken und für eine Theorie des Guten fruchtbar zu machen, ohne dabei auf starke metaphysische oder rationalistische Theorieteile zurückgreifen zu müssen. 261 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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(b) Daran schließt sich ein Tugendmodell an, das man als gleichermaßen anti-platonisch wie als anti-kontextualistisch bezeichnen kann. Menschliche Grundbedürfnisse und ihre Erfüllung sowie menschliche Fähigkeiten und ihre Entwicklungsmöglichkeiten sollen sich objektiv beschreiben lassen; Nussbaums Ansatz will sich ausschließlich innerhalb unserer geteilten Lebensauffassung bewegen, und dennoch soll das Kontextprinzip nicht zu einem Partikularismus, sondern zu einem Universalismus führen. (c) Nussbaum behauptet, dass sich ein gelingendes Leben oder eine hohe Lebensqualität verbindlich beschreiben und objektiv fördern lassen, ohne dass es dabei zu einem Paternalismus kommen müsse. Und (d) versucht Nussbaum, auf der Basis aristotelischer Überlegungen zur distributiven Gerechtigkeit eine umfassende sozialstaatliche Position auszuformulieren. (4) Philippa Foot gehört zu den Gründerfiguren der neuen Tugendethik nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie wandte sich zunächst gegen Richard Hares Präskriptivismus und Charles Stevensons Emotivismus, entwickelte dann aber in einer Reihe einflussreicher Aufsätze eine eigenständige tugendethische Position. Gegen Kants Moralphilosophie vertrat sie die Auffassung, moralische Urteile seien hypothetisch, nicht kategorisch – eine Behauptung, die sie in späteren Jahren zurücknahm. Auf Foot (1967) gehen die vieldiskutierten Trolley-Beispiele zurück, mit denen sie die Lehre von der Doppelwirkung diskutieren wollte. Schon früh ging es Foot darum, die starre Gegenüberstellung von Fakten und Werten zu unterlaufen; sie lehnte die These vom ›naturalistischen Fehlschluss‹ scharf ab. In ihrem zentralen Buch Natural Goodness (2001) versucht sie schließlich, dasjenige, was für Menschen gut ist, im Rekurs auf die für die Spezies Mensch angemessene natürliche Lebensform zu interpretieren. Das menschliche Wohl (human good) ergibt sich demnach primär aus den menschlichen Natureigenschaften (human goodness). Dabei ist es eines ihrer Grundanliegen, den Naturbegriff von den Naturwissenschaften zurückgewinnen. Das meint zum einen, dass sie den Menschen aus der Natur zu verstehen versucht, zum anderen aber, dass dabei nicht reduktionistische Vorurteile vorherrschen sollen (wie man sie etwa aus der Soziobiologie kennt). Foot argumentiert dafür, 262 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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das artspezifische Gedeihen als fundamentales Phänomen für alles Gutsein überhaupt anzusehen. Das führt sie etwa zu der These, dass moralische Gründe nicht eo ipso relevanter sind als prudentielle Gründe. Für das, was als natürliche Qualitäten für Menschen zu gelten hat, argumentiert Foot mithilfe von Vergleichen zu den arttypischen Lebensformen anderer Spezies. Wenn sich etwa ein Wolf der gemeinsamen Jagd im Wolfsrudel verweigert, so zeige das einen Defekt an, der das intrinsische Wohl des individuellen Wolfs erheblich mindere. Die Feststellung, Wölfe müssten in Rudeln jagen, gehöre zu den ›aristotelisch-kategorischen Aussagen‹ (Aristotelian Categoricals), die zu teleologischen Feststellungen berechtigten. Damit vertritt sie einen metaethischen Realismus: moralische Tatsachen liegen in der Natur; eine moralisch gute Person muss aus den Naturbedingungen des Gutseins eines Mitglieds der menschlichen Spezies heraus verstanden werden. Daher könne man entsprechend diejenigen menschlichen Individuen als defektiv betrachten, die z. B. nicht für ihre Zukunft vorsorgten oder in Sozialbeziehungen unverlässlich seien. Tugenden wie vorausschauende Planung und Verlässlichkeit gehören für Foot daher zur menschlichen Naturgeschichte. Vernunft und Moral sind für sie in exakt diesem Sinn natürliche Bestandteile der menschlichen Lebensform. Zu ihren Thesen zählt auch, dass niemand, der einen (moralisch) üblen Charakter hat, glücklich sein kann. Man kann Foot dafür kritisieren, das moralische Problem des Trittbrettfahrens nicht in den Begriff zu bekommen: Lebt ein Individuum rücksichtslos auf Kosten anderer, so mehrt es in einem elementaren Sinn sein eigenes Gut – und es ist schwer zu sehen, inwiefern es sich selbst, d. h. seine eigene Kooperations- oder Sozialnatur, damit gravierend schädigen sollte. Noch wichtiger scheint der Einwand, dass etwas allein dadurch, dass es der gedeihlichen Entwicklung eines menschlichen Individuums dient, noch nicht als gut – etwa nicht als gut begründete Handlungsoption – erwiesen ist. Mehr noch, worin genau mag die eine, natürlicherweise für Menschen verbindliche Lebensform bestehen? Gibt es für Menschen nicht gerade einen irreduziblen Pluralismus solcher Lebensformen? Außerdem kann man gegen Foot das ›Argument aus dem 263 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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essentialistischen Fehlschluss‹ richten: Ist etwas bereits deswegen, weil es artgerechtes Verhalten ist, auch gut? Nicht nur könnte es sein, dass z. B. xenophobes Verhalten artgerecht und dennoch nicht deswegen bereits gut wäre; auch Hilfsbereitschaft kann kaum deswegen gut sein, weil sie artgerechtem Verhalten entspricht. Foots Ethik kommt kaum mit der Frage zurecht, was wir einander schulden. Wer ist wem gegenüber wozu verpflichtet und weshalb? (5) John McDowells Version eines neoaristotelischen Naturalismus ist für ihren Rückgriff auf eine Unterscheidung Hegels bekannt: diejenige zwischen der ersten und der zweiten Natur des Menschen. Die zweite Natur ist die von Menschen durch überlegte und gezielte Selbstgestaltung erworbene Identität; man legt sie sich durch ›Bildung‹ (ein von McDowell geschätzter Terminus), Training oder Einübung zu. Menschen sind dazu disponiert, nicht bei ihrer ursprünglichen Natur stehen zu bleiben; ihre erste Natur verlangt geradezu eine kulturelle Ausprägung. Mit dem Rückgriff auf Hegel verbindet sich also ein Bezug auf Aristoteles’ Begriff der Habitualisierung (hexis). McDowells Bezugnahme auf den Naturbegriff beruht auf seiner Zurückweisung eines reduktionistischen Naturalismus in Mind and World (1996). Das von den Naturwissenschaften und in Physikalismus oder Biologismus unterstellte Naturverständnis kann nach McDowell weder Wahrnehmungen noch Handlungen zufriedenstellend erklären. Andererseits gelte es, einen ZweiWelten-Platonismus zu vermeiden. Die Lösung liegt für McDowell darin, unseren Geist als natürlich und die Natur als begrifflich zu konzipieren. Dass aufgrund von Wahrnehmungen begriffliche Urteile möglich sein sollen, sei auf reduktionistischer Basis ebenso unverständlich wie die Einwirkung von praktischen Überlegungen auf Körperbewegungen beim Handeln. McDowell versucht auf diese Weise, den Schwierigkeiten von Foots Naturalismus zu entgehen (z. B. in Two Sorts of Naturalism: 1995). Foots Ansatz bleibt bei der ersten Natur stehen; McDowell erläutert dies am Beispiel des Wolfes, der seine erste Natur reflektieren und teilweise hinter sich lassen müsste, um eine kooperative zweite Natur zu erlangen. (6) Michael Thompson begann seine philosophische Arbeit als 264 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Schüler von Philippa Foot. Wie sie insistiert auch Thompson darauf, dass man Ethik nur angemessen betreiben kann, wenn man zuvor die Begriffe Lebensform, Handlung und Praxis in ihrer fundamentalen Bedeutung begriffen hat. Die detaillierte Ausführung seiner Überlegungen liefert Thompson in Life and Action (2008); sein Projekt charakterisiert er dort explizit als ein aristotelisches. Unerlässlich ist nach Thompson ein Verständnis der funktionalen und dysfunktionalen Zustände von Lebewesen, das sich aus der Idee eines artgerechten Gedeihens ergibt. Die jeweilige Lebensform sei nämlich maßgeblich für das, was für einen Organismus gut oder schlecht ist. Thompson greift auf Wilfried Sellars’ Unterscheidung zwischen dem ›manifesten‹ und dem ›wissenschaftlichen‹ Bild der Realität zurück und verteidigt seine Vorgehensweise auf Basis des Ersteren. Denn der Begriff einer Lebensform impliziert, so Thompson, zahlreiche Aspekte des speziesgemäßen Lebenserfolgs bzw. der Defektivität, wie sie uns aus unserer gewöhnlichen Erfahrung bekannt sind: Dass wir meinen, eine dreibeinige Hauskatze weise eine Einschränkung in ihrer Naturausstattung auf, bedeute, dass wir den Begriff der Lebensform immer schon als irreduzible Kategorie zur Deutung von Leben verwendeten. Naturgeschichtliche Sätze (natural-historical judgments) oder ›aristotelische kategorische Aussagen‹ (Aristotelian Categoricals) wie »Der gelbe Fink brütet im Frühling, wobei er Paarungspartner durch dieses und jenes Lied anlockt« sind weder als empirisch-singuläre noch als empirisch-allquantifizierte Sätze zu verstehen, sondern als Aussagen über Speziesbegriffe. In seiner Handlungstheorie wendet sich Thompson zudem gegen die traditionelle Handlungserklärung, die er als ›raffiniert‹ (sophisticated) bezeichnet; er selbst favorisiert stattdessen eine ›naive‹ Handlungserklärung. Während raffinierte Erklärungen mentale Zustände wie Wünsche und Absichten zur Handlungserklärung verwenden, greift die naive Strategie auf andere Handlungen zurück, zu denen die erklärungsbedürftige Handlung im Verhältnis eines Teils oder eines Mittels steht: »Warum ich Eier aufschlage? Um mir ein Omelett zu machen«. Nach Thompson spricht alles für die naive Handlungserklärung. Handlungen sind für ihn nicht als separate und isolierte Vorkommnisse unabhängig 265 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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vom Kontext des Lebensvollzugs verständlich. Der Handlungsgrund liege vielmehr stets in einem unvollständigen Weltzustand, den es zu beheben gelte. Den Begriff der Praxis diskutiert Thompson anhand des Beispiels vom Einhalten von Versprechen. Was spricht in seinem Ansatz dafür, ein Versprechen auch dann einzuhalten, wenn seine Nichteinhaltung deutlich vorteilhaft wäre? In Auseinandersetzung besonders mit D. Gauthier und dem frühen Rawls macht er geltend, dass das Einhalten von Versprechen nicht in jedem Einzelfall als zwingend und geboten erwiesen werden könne; wichtig sei vielmehr ein menschliches Verhalten konform zur Praxis sozialer Verlässlichkeit insgesamt. Anstelle einer abstrakten und starren Norm verteidigt Thompson also die Idee einer Konformität gegenüber der sozialen Praxis. (7) Modelle des moralischen Perfektionismus stehen traditionell im Verdacht, anti-modern und anti-liberal zu sein. Doch die neuere Debatte um die Ansätze von Joseph Raz, George Sher und Steven Wall hat gezeigt, dass dies keineswegs prinzipiell der Fall sein muss. Es ist vielmehr der politische Liberalismus selbst, der erhebliche Defizite aufweist: nämlich in Bezug auf eine normative Gütertheorie, die er implizit voraussetzt. Diese Mängel kompensiert der Liberalismus durch verdeckte Anleihen beim Perfektionismus frühmoderner Autonomie-Konzeptionen. Vertreter (innen) dieses Ansatzes weisen darauf hin, dass nur durch einen Perfektionismus angemessen verstanden werden könne, welche Güter des Menschen aus welchem Grund vorrangig sind und welche Institutionen, Traditionen und Lebensformen von einem Staat ohne Verletzung seiner Neutralitätspflicht besonders gefördert werden dürfen oder sollen. Dabei bildet auch Aristoteles’ Position einen wichtigen Bezugspunkt. Unter das Stichwort des ›Politischen Perfektionismus‹ fallen philosophische Modelle, die ihre normativen Grundlagen aus teleologischen Gütertheorien gewinnen. Für Perfektionisten besteht die normative Basis des Politischen darin, dass menschliche Individuen eine (mehr oder minder) stabile Natur besitzen, welche nach bestimmten Grundgütern verlangt und auf bestimmte Erfüllungszustände hin angelegt ist. Es soll sich dabei um notwendige, basale oder wenigstens 266 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Formen des Neoaristotelismus

um besonders relevante Güter handeln sowie um intrinsisch wertvolle Erfüllungszustände; diese Güter sind aber nicht zwangsläufig mit jenen ›objektiven Gütern‹ gleichzusetzen, welche etwa nach der aristotelischen Tradition konstitutiv für Glück oder Wohlergehen sein sollen (vgl. die Unterscheidung eines human nature perfectionism und eines objective goods perfectionism bei Wall 1998: Kap. 1). Menschliche Individuen, so die Grundaussage des Perfektionismus, sind vielmehr einfach dazu disponiert, gewisse für ihre Natur grundlegende Ziele zu verfolgen und bestimmte Formen der Exzellenz auszubilden. Dabei ist festzuhalten, dass Perfektionist(inn)en keineswegs behaupten müssen, es gebe nur eine einzige wertvolle menschliche Lebensform; sie können durchaus einen Pluralismus vertreten. Entscheidend für ihren Standpunkt ist vielmehr die These, dass ein liberales Missverständnis darin liege anzunehmen, alle Lebensformen seien gleich wertvoll. Liberalen Kritikern wie Wilhelm von Humboldt, Isaiah Berlin und John Rawls kann man entgegenhalten, dass auch anti-perfektionistische liberale Ansätze – zumindest indirekt und unwillentlich – von Gütervorstellungen Gebrauch machten, die einen perfektionistischen Charakter besitzen (Raz 1986: Kap. 5). Gerade der zentrale Wert des Liberalismus, die individuelle Autonomie, scheint ohne einen Rückgriff auf eine entwickelte Vorstellung davon, unter welchen Umständen und Bedingungen Menschen ein gelingendes, erfolgreiches oder lebenswertes Leben führen können, nicht formulierbar zu sein. Wenn Individuen nur mithilfe des Gutes Freiheit ihre Selbstverwirklichung erreichen können, scheint die Behauptung zweifelhaft, dabei handle es sich lediglich um einen formalen Autonomiebegriff, der inhaltlich neutral bleibe. Auch die modernen liberalen Staaten des Westens stellen nicht einfach die Freiheitschancen ihrer Bürgerinnen und Bürger in einem wertungsfreien Sinn sicher. Die Wertschätzung von Autonomie beruht vielmals auf einem zusätzlichen Urteil darüber, welche geteilten sozialen Praktiken, Traditionen, Institutionen und Inhalte als wertvoll anzusehen sind und welche nicht. Beispielsweise werden Demokratie, Toleranz, Solidarität, politische Mitwirkung oder soziales Engagement auch in liberalen Demokratien als besonders wertvoll 267 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Tugendethiken und Neoaristotelismus

und förderungswürdig angesehen. Ebenso gelten bestimmte individuelle Biographien als besonders wählenswert – etwa solche, die mit künstlerischen, wissenschaftlichen, sozial-altruistischen, politisch-engagierten oder liberal-religiösen Ideen verbunden sind oder sich in familiären und ähnlichen kooperativen Lebensformen vollziehen. Ein aristotelischer Perfektionismus erscheint somit als verdeckte Hintergrundannahme in liberalen Theorien moralischer und politischer Normativität.

268 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

8. Kontextualistische Ethiken

Kontextualistische Ethiken sind von der Überzeugung geprägt, dass es praktische Normativität ohne einen konkreten Gemeinschaftsbezug und ohne eine bestimmte historische Einbettung nicht geben kann. Jede moralische und politische Norm gehört nach Überzeugung ihrer Vertreter(innen) in den Kontext einer auf bestimmte Weise situierten Gesellschaft und Epoche. Zeitdiagnostische Beobachtungen spielen daher für diesen Ethiktyp eine ebenso wichtige Rolle wie historische Einordnungen: Wichtig sind besonders die prägenden geschichtlichen Ereignisse (etwa Kriege, Revolutionen, ökonomischer Wandel, Migrationsbewegungen) sowie grundlegende soziale Gegebenheiten (wie das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft, die Wirtschaftsform, politische Institutionen, die Religion, die Relation gesellschaftlicher Gruppen zueinander, das Geschlechter-Verhältnis usw.). Wichtige Ausgangspunkte der Reflexion bilden zudem die konkreten sozialen Konflikte, die Antagonismen und die Krisenphänomene der Gegenwart: kurzum die ›Pathologien der Moderne‹. Im Folgenden soll es zunächst um die praktische Philosophie Hegels gehen, in der ein Kontextualismus zum ersten Mal umfassend formuliert wird (8.1). Im Anschluss daran ist es zum einen bemerkenswert zu sehen, wie durch Hegel Gemeinschaftsethiken des Ethos-basierten Typs aufkommen, die im 20. Jahrhundert einige Bedeutung erlangen. Zum anderen geht von Hegel eine sozialphilosophische Bewegung aus, die sich auf den Begriff der Anerkennung stützt (8.2). Abschließend werfen wir einen Blick auf eine Reihe von zeitgenössischen moralphilosophischen Ansätzen, die sich ebenfalls der Gruppe der kontextualistischen Ethiken zurechnen lassen (8.3). Grundsätzlich schwierig an allen Formen des Kontextualismus wirkt, dass die Normativität, wenn sie dem jeweiligen Kontext entnommen ist, nur schwer zu dessen Kritik herangezogen werden kann. Kontextualistische Ansätze laufen 269 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualistische Ethiken

damit stets Gefahr, sich in ein unkritisch-affirmatives Verhältnis zu den beschriebenen Geltungskontexten zu stellen.

8.1 Kontextualismus und Anerkennung bei Hegel Bei G. W. F. Hegels frühem Hauptwerk Phänomenologie des Geistes (1807) handelt es sich um eine umfassende ›Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins‹. Hegel hat offenbar lange mit genau diesem Werktitel sympathisiert. Was aber ist eine Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins? Wer genau ist dabei als Träger des Bewusstseins zu verstehen, und um welche Art von Erfahrung geht es? Was immer es in der Phänomenologie mit der Dynamik von Bewusstseinszuständen und mit ihren Trägern auf sich hat: Klar ist, dass uns Hegel zumindest auch eine empirienahe Geschichte erzählen will, die davon handelt, wie sich Bewusstseinshaltungen oder Bewusstseinseinstellungen in der politischen, sozialen, kulturellen und intellektuellen Geschichte typischerweise oder faktisch auseinander ergeben haben. Liest man Hegel also historisch-kontextualistisch, dann geht es zunächst nicht um ein Zu-sich-selbst-Kommen des absoluten Geistes, sondern um typische Bewusstseinsentwicklungen bei neuzeitlichen Individuen und in modernen Gemeinschaften. Hegel hat in der Phänomenologie des Geistes und in den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) tatsächlich vieles Erhellende über das historisch situierte Bewusstsein zu sagen. Dabei erweist er sich zum einen als Kontextualist und zum anderen als Kohärentist und Rekonziliationist. Als Kontextualist nimmt er an, dass man Bewusstsein immer aus dem Ganzen eines geschichtlichen, sozialen, ökonomischen usw. Ganzen verstehen muss; Individuen sind zutiefst geprägt, gebunden, verankert, so dass sich in ihrem Bewusstsein die gesamte Gegenwart spiegelt. Einzelne Geschichten sind daraus immer nur um den Preis gravierender Entstellung oder Simplifizierung zu isolieren. Als Kohärentist und Rekonziliationist wiederum nimmt er an, das Bewusstsein durchlaufe einen dynamischen Prozess mit einer harmonisierenden Gesamttendenz. Bewusstseinsprozesse entwickeln sich typi270 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualismus und Anerkennung bei Hegel

scherweise so, dass ihre Gegensätze sich auseinander ergeben nach dem Prinzip, dass die gesamte Entwicklung einen Ausgleichs- oder Gleichgewichtspunkt anstrebt. Ihr Entwicklungsprinzip ist ein gewisser Antagonismus, aber einer, der zu einer finalen Versöhnung tendiert. Hegels moralphilosophische Überlegungen beginnen mit einer frühen Kant-Kritik, die man bereits in den Manuskripten der Frankfurter Zeit (nach 1796) greifen kann und die sich zentral gegen die kantische Vorstellung von Moralität richtet. Schon damals vertrat Hegel die Auffassung, Kants Moralitätskonzeption sei mit der alttestamentlichen Gebotsmoral (die sich teils auch im Christentum erhalten habe) in Verbindung zu bringen, welche er negativ bewertete und in einen Kontrast zur angeblich harmonischen und naiven Naturreligion des antiken Griechenland stellte. Moralität im Sinne Kants bezeichnet für Hegel fortan eine Form der Selbstentfremdung und des Zwangs. Erstmals in seiner Frühschrift Der Geist des Christentums und sein Schicksal (1798– 1800) findet man drei Hauptelemente dessen, was Hegel gegen Kant einzuwenden hat (dazu ausführlicher Wood 1997): (a) Hegel nimmt daran Anstoß, dass Kant, wie er meint, die moralische Vernunft in eine Opposition zu den sinnlichen Neigungen und Antrieben stelle (vgl. die ähnliche Kritik Schillers). (b) Zudem lehnt Hegel die kantische Idee von Moralität deswegen ab, weil sie es nicht vermöge, einen Akteur zu dem in Aussicht genommenen moralischen Guten tatsächlich hinzuführen. Im kantischen Modell bleibe es beim bloßen Sollen; dieses jedoch sei gänzlich unvermögend, eine moralisch wünschenswerte Handlung hervorzurufen oder auszulösen, weil es von unseren faktischen Motiven losgelöst sei. Der Akteur werde auf diese Weise sich selbst entfremdet. (c) Wer von seinen tatsächlichen, sinnlich bestimmten Motiven abgeschnitten sei und sich dennoch dem moralischen Gesetz unterstellt fühle, dem bleibe nichts anderes übrig als eine moralische Schauspielerei. Hegel bezeichnet eine solche Hypokrisie oder Doppelmoral auch als ›Pharisäismus‹; sie ist für Situationen typisch, in denen Menschen übertriebenen Moralforderungen ausgesetzt seien. Im gesellschaftlichen Kontext steigert sich die moralische Schauspielerei geradezu zur Hypokrisiespirale, 271 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualistische Ethiken

weil jeder dem Erwartungsdruck der anderen – so gut es geht – zu entsprechen versuche. Ein vierter Vorwurf, den man als Formalismus-Vorwurf bezeichnen kann, kommt etwas später hinzu: (d) Nach Hegel ist Kants Moralitätsbegriff inhaltlich leer; Moralität sei nicht dazu imstande, die für Menschen angemessenen Handlungspflichten zu identifizieren. Hegel behauptet, Moralität im Sinne von Kants Kategorischem Imperativ stelle ein abstraktes, formales, inhaltsleeres Gebilde dar. Impliziert die Kritik an Kant nun, dass Hegel als Kontextualist einfach ein affirmatives Verhältnis zu den gegebenen moralischen und politischen Normen seiner Zeit hätte und – wie man oft liest – ein Apologet des autoritären preußischen Königtums wäre? Diese Meinung ist sicherlich inadäquat; sie unterschätzt die Reichweite des Alternativmodells, welches Hegel vorschlägt. Um Hegels eigene Interpretation von moralischer Normativität zu verstehen, muss man sich klarmachen, was er im Kontrast zu Moralität als ›Sittlichkeit‹ bezeichnet. Diesen Ausdruck setzt er besonders in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts vom Begriff der Moralität ab. Sittlichkeit bildet den Inbegriff der gewachsenen, sozial und historisch verwurzelten, normativen Standards eines Gemeinwesens. Hegel meint, dass Sittlichkeit den angemessenen Ausdruck einer historisch entstandenen soziokulturellen Identität darstellt. Die normativen Inhalte der Sittlichkeit werden von Hegel unter der Bezeichnung ›Rechtschaffenheit‹ expliziert (Grundlinien §150): »Was der Mensch tun müsse, welches die Pflichten sind, die er zu erfüllen hat, um tugendhaft zu sein, ist in einem sittlichen Gemeinwesen leicht zu sagen, – es ist nichts anderes von ihm zu tun, als was ihm in seinen Verhältnissen vorgezeichnet, ausgesprochen und bekannt ist. Die Rechtschaffenheit ist das Allgemeine, was an ihn teils rechtlich, teils sittlich gefordert werden kann. Sie erscheint aber für den moralischen Standpunkt leicht als etwas Untergeordneteres, über das man an sich und andere noch mehr fordern müsse; denn die Sucht, etwas Besonderes zu sein, genügt sich nicht mit dem, was das Anundfürsichseiende und Allgemeine ist; sie findet erst in einer Ausnahme das Bewußtsein der Eigentümlichkeit. – Die verschie-

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Kontextualismus und Anerkennung bei Hegel

denen Seiten der Rechtschaffenheit können ebensogut auch Tugenden genannt werden, weil sie ebensosehr Eigentum – obwohl in der Vergleichung mit anderen nicht besonderes – des Individuums sind.«

Nach Hegel ist für das Individuum dasjenige verbindlich, was die Sittlichkeit seines jeweiligen Kontexts fordert. Solche Pflichten sind durch die gegebenen Verhältnisse der Alltagsmoral und des Rechts definiert. Moralität ergibt sich für Hegel demgegenüber aus der Reflexion des isolierten Individuums, das sich gegen die Sittlichkeit seiner Zeit stellt. Die allgemeine normative Grundlage müsse daher immer die Sittlichkeit sein, die Hegel mit dem alltagssprachlichen Ausdruck für den Inbegriff angemessener Einstellungen, mit ›Rechtschaffenheit‹, bezeichnet. Zudem nimmt er für seine Position den Begriff der ›Tugenden‹ in Anspruch, den er mit der aristotelischen Tradition in Verbindung bringt. Tatsächlich beruft sich Hegel für seine Idee von Sittlichkeit explizit auf Aristoteles (Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie 19: 226): »Aristoteles macht nicht den Einzelnen und dessen Recht zum Ersten, sondern erkennt den Staat für das, was seinem Wesen nach höher ist als der Einzelne und die Familie und deren Substantialität ausmacht.«

Bezeichnend für seinen Kontextualismus ist, wie Hegel seine Überlegungen auf sozialhistorische Beobachtungen stützt. In seiner Zeit transformierte sich die Gesellschaft der Bauern, Handwerker, Aristokraten und Kleriker in die frühmoderne bürgerliche Gesellschaft mit der typischen Verkleinerung des Familienverbands auf die Kleinfamilie. Andere Merkmale seiner Gegenwart waren die Etablierung einer Verwaltungs- und Institutionenordnung im modernen Staat und eine frühindustrielle Arbeitswelt, in der die Produktion unter Bedingungen der Arbeitsteiligkeit stattfand. Weitere Phänomene seiner Zeit sind Aufklärung, Emanzipation, politisches Freiheitsstreben und Individualismus, revolutionäre Impulse und ein gewisser gesellschaftlicher Pluralismus. 273 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualistische Ethiken

Alles das führt Hegel im (von ihm innovativ geprägten) Begriff der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ zusammen. Im ›Zusatz‹ zu §182 der Grundlinien heißt es: »Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt; denn als die Differenz setzt sie den Staat voraus, den sie als Selbständiges vor sich haben muß, um zu bestehen. Die Schöpfung der bürgerlichen Gesellschaft gehört übrigens der modernen Welt an, welche allen Bestimmungen der Idee erst ihr Recht widerfahren läßt. Wenn der Staat vorgestellt wird als eine Einheit verschiedener Personen, als eine Einheit, die nur Gemeinsamkeit ist, so ist damit nur die Bestimmung der bürgerlichen Gesellschaft gemeint. Viele der neueren Staatsrechtslehrer haben es zu keiner anderen Ansicht vom Staate bringen können. In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt. Indem die Besonderheit an die Bedingung der Allgemeinheit gebunden ist, ist das Ganze der Boden der Vermittlung, wo alle Einzelheiten, alle Anlagen, alle Zufälligkeiten der Geburt und des Glücks sich frei machen, wo die Wellen aller Leidenschaften ausströmen, die nur durch die hineinscheinende Vernunft regiert werden. Die Besonderheit, beschränkt durch die Allgemeinheit, ist allein das Maß, wodurch jede Besonderheit ihr Wohl befördert.«

In der zitierten Passage stellt Hegel komplexe Überlegungen zur Genese, zur Eigenart und zur Funktion der bürgerlichen Gesellschaft an. Er beschreibt die bürgerliche Gesellschaft als modernitätstypische soziale Entität in einer Zwischenstellung zwischen Familie und Staat, die die Verbindung zwischen den Individuen herstellt. Gleichzeitig ist die bürgerliche Gesellschaft aber auch »der Kampfplatz des individuellen Privatinteresses aller gegen alle« (§289). Nähme die Orientierung am Privatinteresse und am 274 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualismus und Anerkennung bei Hegel

ökonomischen Wohl des Individuums überhand, so gelange man zu einem Vertragsstaat im Sinn von Thomas Hobbes (§183): »Der selbstsüchtige Zweck in seiner Verwirklichung, so durch die Allgemeinheit bedingt, begründet ein System allseitiger Abhängigkeit, daß die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Dasein in die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verflochten, darauf gegründet und nur in diesem Zusammenhange wirklich und gesichert ist. – Man kann dies System zunächst als den äußeren Staat, – Not- und Verstandesstaat ansehen.«

Worum es Hegel geht, ist die These, dass der moralischen Identität der Person bestimmte intersubjektive Verhältnisse wechselseitiger Anerkennung zugrunde liegen; gelingendenfalls durchlaufen Individuen die drei für die Sittlichkeit konstitutiven Sphären der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates so, dass sie dabei zu einer vollen sittlichen Identität gelangen. Hegels These ist eine der Kontextualisierung: Er meint, dass sich die Formierungen individueller moralischer Identitäten wechselseitig bedingen; Familie, Gesellschaft und Staat stellen den unverzichtbaren Hintergrund der Konstitution einer Identität dar. Hier kommt auch das Thema der Anerkennung ins Spiel. Den Gedanken einer reziproken Anerkennung aller Individuen und Gruppen zur normativen Leitvorstellung der Ethik und politischen Philosophie zu machen, ist eine originelle Leistung Hegels. Der Ausdruck ›Anerkennung‹ bezeichnet die Idealform, die man sich für die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Individuen bzw. den Gruppen einer Gesellschaft wünschen würde: Gemeint sind von echtem Respekt geprägte Beziehungen. Vom Toleranzgedanken unterscheidet sich eine Anerkennungsrelation dadurch, dass fremde Identitäten in ihr nicht nur hingenommen oder geduldet werden, sondern in ihrem Anderssein Achtung finden. Wer eine Politische Philosophie auf den Anerkennungsbegriff stützt, will darauf aufmerksam machen, wie grundlegend Respekt für die Identität von Individuen und Gruppen ist und wie verheerend sich Verachtung, Demütigung und Diskriminierung

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Kontextualistische Ethiken

auswirken. Eine ausreichende Selbstwertschätzung oder Selbstachtung scheint ohne Fremdanerkennung nicht möglich zu sein. Bei Hegel findet sich der Anerkennungsgedanke beginnend mit den Jenaer Frühschriften (1801 ff.) über die Phänomenologie des Geistes (Kap. IV) und die Grundlinien der Philosophie des Rechts bis hin zur Enzyklopädie (1830; § 430 ff.). Hegel hat der Vorstellung immer neue Perspektiven abgewonnen, dass man die Konstitution der moralisch-politischen Identität eines Individuums (und damit seiner Identität überhaupt) nur als intersubjektive Leistung verstehen kann. Zur Selbstrealisierung eines Individuums bedarf es demnach stets einer Ganzheit gesellschaftlicher Intersubjektivität. Hegels Prozess der Identitätskonstitution richtet sich gegen Kants »leeres Prinzip der moralischen Subjektivität« (Grundlinien, § 148) und betont demgegenüber die Verankerung unserer moralisch-politischen Identität in den konkreten, dichten Lebensverhältnissen einer Gemeinschaft. Näherhin unterscheidet Hegel drei Stufen im Prozess der Anerkennung: die Anerkennungsrelation im Kontext der Familie, innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und mit Blick auf den Staat. Hegel meint, dass sich dieser Konstitutionsprozess als eine stufenförmige Folge von Konflikten darstellen lässt, welche jeweils in eine neue Versöhnung der Konfliktparteien einmünden. Er bezeichnet diese Konfliktfolge als einen ›Kampf um Anerkennung‹ (Siep 1979; Honneth 1992). Berühmt ist etwa folgende Passage (Phänomenologie Kap. IV): »Das Selbstbewußtsein ist an und für sich, indem und dadurch, daß es für ein Anderes an und für sich ist; d. h. es ist nur als ein Anerkanntes. Der Begriff dieser seiner Einheit in seiner Verdopplung, der sich im Selbstbewußtsein realisierenden Unendlichkeit, ist eine vielseitige und vieldeutige Verschränkung, so daß die Momente derselben teils genau auseinandergehalten, teils in dieser Unterscheidung zugleich auch als nicht unterschieden oder immer in ihrer entgegengesetzten Bedeutung genommen und erkannt werden müssen. Die Doppelsinnigkeit des Unterschiedenen liegt in dem Wesen des Selbstbewußtseins, unendlich oder unmittelbar das Gegenteil der Bestimmtheit, in der es gesetzt ist, zu sein. Die Aus-

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Kontextualismus und Anerkennung bei Hegel

einanderlegung des Begriffs dieser geistigen Einheit in ihrer Verdopplung stellt uns die Bewegung des Anerkennens dar.«

Wie man leicht sieht, fließen in die Hegel’sche These von den intersubjektiven Voraussetzungen moralisch-politischer Identität sowohl bewusstseinsphilosophische (subjektivitätstheoretische) als auch politisch-philosophische Überlegungen ein. Sie bilden sogar eine unmittelbare Einheit. Einerseits war der frühe Hegel von der subjektivitätstheoretischen Position Fichtes beeinflusst, nach der die Konstitution von Subjektivität als Interaktion von Ich und Nicht-Ich zu denken sei. Andererseits stand er unter dem starken Eindruck der platonisch-aristotelischen Staatsphilosophie, die der polis eine maßgebliche Rolle bei der Genese der moralischen Charakterhaltung des Individuum zuerkennt; hinzu kommt noch das Hobbes’sche Modell der Staatsbegründung, aus dem Hegel das Element des ›Kampfes aller gegen alle‹ übernahm. Welche politisch-gesellschaftlichen Schwierigkeiten kann eine Anerkennungskonzeption thematisieren, die nicht ebenso gut von einer Gerechtigkeitstheorie erfasst und gelöst werden könnten? Anerkennungsmodelle erlauben die Beschreibung eines Problemfelds, welches in Konzeptionen der Gerechtigkeit unter Umständen ignoriert oder allenfalls in seinen Konsequenzen wahrgenommen wird: die Verschiedenheit (Differenz) der gesellschaftlichen Gruppen. Gerechtigkeitstheorien besitzen eine institutionenethische Ausrichtung; sie kommen daher mit moralisch inakzeptablen Strukturen besser zurecht als mit (oft im Hintergrund wirksamen) diskriminierenden Weltbildern oder entwürdigenden Alltagseinstellungen. Aber in vielen Gesellschaften, die gute institutionelle Gerechtigkeitsstandards aufweisen, existieren zugleich gravierende soziale Vorurteile, eingespielte Unterdrückungsmuster, stereotype Beurteilungen von Außenseitern, mehr oder minder subtile Diskriminierungsformen, traditionelle Auffassungen vom Wert der Geschlechter und zahlreiche Varianten der versteckten oder offenen Unterprivilegierung. Umgekehrt gilt ebenso, dass bestimmte Kreise von positiven Voreinschätzungen profitieren, von wohlwollenden Unterstellungen, von Privilegien zu ihren Gunsten und von Sonderregelungen, die mit solchen Grup277 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualistische Ethiken

pendifferenzen (Differenzen der Geschlechter, Herkunftsidentitäten, Kulturen, Religionen …) in Verbindung stehen. Anerkennungstheoretische Ansätze eignen sich deswegen gut dazu, soziale Asymmetrien herauszuarbeiten und ihren ideologischen, rassistischen, sexistischen oder, allgemein gesprochen, menschenverachtenden Charakter anzuprangern. Häufig sind Anerkennungsdefizite direkt korreliert mit sozialen Privilegien anderer Gruppen. Das ist der Grund dafür, dass sie so schwer auflösbar sind. In vielen Fällen handelt es sich um historisch tiefverwurzelte Klischees oder Ressentiments, die sich durch Jahrhunderte der Kulturgeschichte hindurch verfolgen lassen und immer wieder andere Formen annehmen (z. B. im Fall des europäischen Antisemitismus). Während gerechtigkeitstheoretische Ansätze mit dem Paradigma der Güter- und Lastenverteilung lediglich die Folgen von Missachtung und Diskriminierung kompensieren, besitzen anerkennungstheoretische Modelle den Vorzug, die in der Gesellschaft existierenden Respektdefizite und d. h. die Problemursachen thematisieren zu können.

8.2 Ethischer und politischer Kontextualismus im Anschluss an Hegel In direktem Anschluss an Hegel – sowie an einen hegelianisch (miss)verstandenen Aristoteles – haben sich konservativ-modernitätskritische Kontextualisten im 20. Jahrhundert zu Fragen der Moralphilosophie geäußert und dabei eine Ethik der Sittlichkeit oder des ›Ethos‹ vertreten: darunter Arnold Gehlen, Joachim Ritter, Hermann Lübbe, Odo Marquard, Wolfgang Kluxen sowie Charles Taylor. Alle genannten Philosophen sind Kritiker der Moderne, die deren wertdegenerative Tendenzen, ihren Verlust an Übersichtlichkeit, die Atomisierung und Individualisierung, die Einbuße an lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten, den gesellschaftlichen Einstellungswandel, die Säkularisierung und die schwindelerregende Innovationsdynamik als Merkmale herausarbeiten. Die Mehrzahl von ihnen gehört zu derjenigen Bewegung, die man in den 1970er Jahren als ›Neoaristotelismus‹ 278 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Ethischer und politischer Kontextualismus im Anschluss an Hegel

bezeichnete, weil sie sich für den Gedanken einer ›Polisethik‹ auf Aristoteles berufen. Aristoteles selbst hat allerdings – obwohl es viele damalige Interpreten anders behauptet haben – nirgends die in der Polis praktizierten, die ortstypischen Standards zum Maßstab moralischen Handelns erklärt. Es war besonders Joachim Ritter, der in seinem Aufsatz Zur Grundlegung der praktischen Philosophie bei Aristoteles (1974: 486) folgende Elemente des Ethos als maßgeblich benannte: »die gewohnt-herkömmliche Lebensordnung, […] Brauch, Sitte und alles, worin das Leben die rechte Ordnung hat, aber auch die in Herkommen und Brauch gegründeten ›gewohnten‹ Institutionen als solche, Haus und Sippe, Kult der Götter, welche die Stadt verehrt, die Vielfalt der Gemeinschaften, Bünde, Freundschaften, Nachbarschaft, Genossenschaften der Totenbestattung und der Feste: insgesamt die durch die Polis gegebene, institutionelle Lebenswelt der in ihr als Bürger Wohnenden.«

Odo Marquard hat in der Linie Ritters die modernitätskritische Diagnose unter dem Titel ›Das Unbehagen an der Wandlungsbeschleunigung‹ so beschrieben (2000: 67): »Die moderne Welt beginnt dort, wo der Mensch methodisch aus seinen Traditionen heraustritt: wo sich seine Zukunft aus seiner Herkunft emanzipiert. Seit Mitte des 18. Jahrhunderts schlägt dieser Vorgang durch in der Sprache der Philosophie, der Wissenschaft, der Literatur und der Politik: seither gibt es die Wörter – in der Regel Singularwörter – für diesen Emanzipationsvorgang, zum Beispiel das Wort ›der Fortschritt‹, das Wort ›die Aufklärung‹, das Wort ›die Geschichte‹, das Wort ›die Revolution‹, wohl auch das Wort ›die Wissenschaft‹, das Wort ›die Technik‹. Die menschliche Zukunft wird jetzt und erst jetzt emphatisch das Neue, indem sie sich von den vielfältigen sprachlichen, religiösen, kulturellen, familiären Herkunftsidentitäten unabhängig macht: die großen Potenzen der Modernisierung arbeiten der Tendenz nach traditionsneutral.«

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Kontextualistische Ethiken

An diese Diagnose anschließend formuliert Marquard eine normative Perspektive wie folgt (2000: 71): »Darum müssen wir herkömmlich leben: wir müssen stets überwiegend das bleiben, was wir schon waren; unsere Veränderungen werden getragen durch unsere Nichtveränderungen; Neues ist nicht möglich ohne viel Altes; Zukunft braucht Herkunft. Daraus – meine ich – folgt: Menschen sind – weil sie, bedingt durch ihre Lebenskürze, sozusagen aus ihrer Herkunftshaut nie beliebig schnell und nie beliebig weit und schon gar nicht absolut heraus können – grundsätzlich wandlungsträge; oder anders gesagt: Menschen sind – wie schnell sie als spezialisierte Modernisierungsexperten auch sein mögen – grundsätzlich langsam.«

Charakteristisch für die Ethos-basierten Ethiken ist ein tiefreichendes ›Unbehagen an der Moderne‹. Die am weitesten entwickelte Modernitätstheorie aus dieser Perspektive stammt von Charles Taylor. In seinem Buch Quellen des Selbst (1996) beschreibt Taylor die Genese der modernen Bewusstseinslage einerseits so, dass Individuen im Lauf der europäischen Geschichte zusehends dazu übergegangen seien, ihre ›wahre‹, individuelle, persönliche Natur in Absetzung von der traditionellen Identität sowie von allen anderen Individuen zum Ausdruck zu bringen; er bezeichnet diese Einstellung als Expressivismus. Andererseits diagnostiziert er in Ein säkulares Zeitalter (2012) eine tiefe Gespaltenheit der modernen Gesellschaft zwischen Abneigung dem Religiösen gegenüber und gleichzeitigem Festhalten an einer verinnerlichten Heilserwartung. Charakteristisch für eine Ethos-basierte Moralphilosophie ist zunächst die Ablehnung jeglicher philosophischen Moralbegründung. Ethik ist demnach nicht theoretisch begründbar, sondern stets in einem historisch gegebenen Kontext verwurzelt, der unser Vorverständnis unaufhebbar prägt. Kluxen etwa schreibt: »Die moralische Differenz ist ein Datum, das in allem menschlichen Handeln als menschlichem angetroffen wird. Sie ist daher von der Ethik auch nicht zu begründen, denn sie ist die Voraussetzung der ethischen Reflexion.« Das mag sich zunächst wie ein Intuitio280 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Ethischer und politischer Kontextualismus im Anschluss an Hegel

nismus anhören, also so, als ob jeder Mensch immer schon über ein und dasselbe Wissen vom Guten und Bösen verfügen würde. In Wahrheit ist aber gemeint, dass die »Auslegung des ethischen Feldes niemals eine Leistung des isolierten Individuums« darstellt. »Sie kommt dem Menschen stets zu von der Gesellschaft, der er seine Existenz verdankt«. So gelangt Kluxen zu der Definition, wonach der Inbegriff der Normen, die in einer gegebenen menschlichen Gruppe als gültig angesehen werden, als Ethos zu bezeichnen ist. Dieses Ethos wird hermeneutisch stets durch die Herkunftsgemeinschaft vermittelt, die den Sinnhorizont für die Auslegung der moralischen Differenz (von Gut und Böse) in ortsund zeittypischer Weise bereitstellt und ihn in einer Tradition über Generationen hinweg vermittelt. Zentral für eine EthosEthik sind folgende Aspekte: (a) die Berufung auf faktisch existierende positive Muster oder Vorbilder für individuelle Einstellungen, Überzeugungen, Regeln und Normen, (b) die sozial prägenden Kräfte in einer bestimmten Gemeinschaft und ihrer Institutionen, (c) das Motiv der wechselseitigen sozialen Anerkennung in einer Gruppe, (d) die Tatsache einer historisch-kontingenten Entstehung, (e) der Umstand, dass alle Normen der Möglichkeit eines Wandels ausgesetzt sind, (f) das Bestehen von Pluralität in synchroner und diachroner Hinsicht, (g) die Weitergabe eines Ethos durch einen Traditionszusammenhang, (h) die Idee, dass man ein lebensweltliches Ganzes als Voraussetzung einer guten Lebensführung brauche.

Einem Ethos-basierten Kontextualismus kann man Folgendes zugutehalten: Er macht stets das menschliche Leben als Ganzes zum Gegenstand ihrer Überlegungen. In ihm kommt es an keiner Stelle zu einer Isolierung der Einzelhandlung vom Kontext ihrer moralpsychologischen, besonders der motivationalen Hinter281 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualistische Ethiken

gründe. Diskutiert wird durchgehend die Einbettung einzelner Verhaltensweisen in den Zusammenhang aller Anlagen, vorhandenen Persönlichkeitsmerkmale und sozialen Prägungen. Das wünschenswerte Ziel ist stets die Herausbildung eines festen Charakterzustands, welcher alle Eigenschaften vereint, die für einen selbst und für andere als vorzüglich gelten. Auf diese Weise vermeiden Kontextualisten sowohl eine Isolierung des Moralischen vom Prudentiellen als auch eine Loslösung des Individuellen vom Sozialen. Kontextualisten nehmen keine Isolierung des Individuums von seiner familiären, beruflichen und politisch-sozialen Umwelt vor. Es gibt kein Absehen von den Zeitkontexten und von anderen Aspekten menschlicher Situiertheit. Diese Vorzüge hat das Modell ebenfalls mit der an Wittgenstein angelehnten modernen Tugendethik gemeinsam. Kritisch lässt sich anmerken, dass das gemeinschafts- und traditionsbasierte Ethos zwar wichtig sein mag, weil faktisch alle Menschen ihre moralischen Perspektiven, Grundsätze und Vorbilder im Verlauf einer sozial eingebetteten Biographie erwerben. Aber ist deshalb jede normative Perspektive als abhängig vom Erwerbskontext erwiesen? Wohl kaum; man muss vielmehr zwischen Erwerbungs- und Begründungszusammenhang unterscheiden. Noch wichtiger: Was legitimiert überhaupt das jeweilige Herkunftsethos – gegeben die Tatsache, dass die verschiedenen Ethê alles andere als deckungsgleich sind, sondern sich möglicherweise unüberbrückbar zueinander verhalten? Wie begründet man die Verpflichtung darauf, am gegebenen Ethos der Herkunftsgemeinschaft festzuhalten? Als Antwort formulieren die Vertreter des Ansatzes eine Konformitäts- oder Kontinuitätsregel. Und hierbei wird deutlich, dass man Kontextualismus immer als deskriptive oder als normative Position gebrauchen kann und dass ein problematisches Merkmal der Position darin besteht, diese theoretische Differenz in gewisser Weise zu überspringen. Für Kontextualisten ist es jedoch gar nicht möglich, Normativität anderswoher zu erhalten als aus deskriptiv zu rekonstruierenden kontextuellen Ressourcen. Der Vergleich mit unserer alltagssprachlichen Rede von einem Berufs- oder Standesethos ist hier ebenso aufschlussreich wie problematisch: Einerseits impliziert 282 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Ethischer und politischer Kontextualismus im Anschluss an Hegel

Zugehörigkeit eo ipso auch eine normative Perspektivübernahme, andererseits sind solche Zugehörigkeiten freiwillig; niemand braucht das Ethos eines Arztes zu übernehmen – es sei denn, dass er freiwillig als Arzt arbeiten will. Zudem fragt man sich, wie jede Ethos-basierte Ethik mit dem Phänomen des Pluralismus umgeht, das ja auch modernitätstypisch ist. Auch der diachrone Wandel wirft Fragen auf, von denen man nicht sieht, wie sie beantwortet werden könnten. Ethos soll mit Pluralität nicht unvereinbar sein: Dazu bräuchte man den Gedanken eines offenen Ethos, das mit aktuellen Herausforderungen und mit gesellschaftlichen Veränderungen kompatibel bleibt. Es gibt jedoch eine weitere, vom Ethos-Paradigma völlig verschiedene Art der Bezugnahme auf Hegel und seinen Kontextualismus: die Sozialphilosophien der Anerkennung. Vertreterinnen und Vertreter des Anerkennungsparadigmas in der Gegenwart sind besonders Axel Honneth, Nancy Fraser und wiederum Charles Taylor. Diese weisen etwa darauf hin, dass es für die individuelle menschliche Entwicklung von entscheidender Bedeutung ist, als Person oder Mitglied einer Gruppe in der jeweiligen Identität wahrgenommen und respektiert zu werden. Nur so können Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertschätzung in dem Ausmaß wachsen, dass die betreffende Person ein autonomes Leben führen kann. So gesehen ist Anerkennung eine Vorbedingung für den Status eines selbständigen Akteurs, etwa aus der Perspektive der Moralpädagogik. Es handelt sich aber auch um eine permanente Vollzugsbedingung menschlichen Lebens. Zu keinem Zeitpunkt kann man auf soziale Achtung, Respekt, Toleranz und Akzeptanz verzichten. Solche spezifischen Konstellationen ergeben sich beispielsweise aus dem Umstand, dass in den meisten Staaten der Erde Menschen mit unterschiedlichen Religionen, ethnischen Abstammungen und Herkunftsidentitäten zusammenleben. Zu beachten sind hier sowohl die Rechte (und Pflichten) angestammter, seit Generationen verwurzelter Minderheiten als auch die Ansprüche von (bzw. an) solche sozialen Gruppen, die sich durch Zuwanderung neu konstituiert haben. Mehr noch, vielfach gehen besondere Kontextbedingungen auch auf traditionelle Unterdrückungsmus283 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualistische Ethiken

ter, überlieferte Formen der Geringschätzung, Unterprivilegierung, sozialen Ausgrenzung oder Stigmatisation zurück. In unserem Kulturkreis sind nachteilige soziale Rollen besonders Frauen zugewiesen worden. Andere Beispiele für zählebige Formen der Benachteiligung richten sich auf Menschen mit differenter sexueller Orientierung oder auf Personen mit bestimmten Handicaps oder Krankheiten. Und schließlich resultieren besondere soziale Problemkonstellationen daraus, dass Individuen zu einer enormen Breite divergierender Selbstdeutungen und Lebensauffassungen imstande sind. In modernen Staaten ist mit religiösen, weltanschaulichen oder politischen Selbstverständnissen aller Art zu rechnen. Daher muss das, was als gerecht, fair, legitim usw. zu gelten hat, zum einen immer mit Blick auf konkrete soziale Problemlagen ermittelt werden, und es muss zum anderen stets das Selbstverständnis der betreffenden Individuen oder Gruppen im Blick behalten. Generell scheint zu gelten, dass eine Staatsordnung immer nur so gut ist, wie das soziale Klima in einem Land die Identitäten seiner Bewohner zur Geltung kommen lässt oder zu fördern geeignet ist. Ein energisches Plädoyer dafür, diese Problemebene als die entscheidende anzusehen, stammt von Avishai Margalit. Margalit meint in seinem Buch The Decent Society (1996), dass Gerechtigkeit in der Politischen Philosophie nicht die entscheidende normative Dimension bezeichnet; eine Gesellschaft soll nicht vorrangig gerecht, sondern primär ›anständig‹ sein. Anständige Gesellschaften vermeiden es, Personen zu demütigen, d. h. sie in ihrer Selbstachtung, ihrer Würde oder Menschenwürde zu verletzen. Die häufigsten Fälle von Demütigung, Herabwürdigung oder Respektlosigkeit beziehen sich aber auf jemandes Geschlecht, seine (oder ihre) Herkunftsidentität oder Gruppenzugehörigkeit. Die Ausdrücke ›Würde‹ oder ›Menschenwürde‹ werden hier so verstanden, dass sie die normative Dimension bezeichnen, in der Menschen demütigungssensitiv sind. Im Anschluss an Margalit haben zahlreiche Philosophen, darunter R. Stoecker (2004), F. J. Wetz (2005), Ch. Menke (2007), A. Pollmann (2005/2007), P. Schaber (2004/2010) sowie M. Brandhorst/E. Weber-Guskar (2017) ›Würde‹ in diesem Sinn interpretiert. Dagegen lässt sich 284 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Ethischer und politischer Kontextualismus im Anschluss an Hegel

Menschenwürde aber auch im absoluten Sinn der Unverlierbarkeit und Unantastbarkeit verstehen (so etwa Horn 2013 und v. D. Pfordten 2016). Begrifflich gesehen schließt ›Anerkennung‹ sowohl eine kognitive Komponente ein als auch eine evaluative. Wer anerkannt wird, wird einerseits in seinen Eigenschaften, Überzeugungen, Wünschen, Absichten und seiner Lebensform gesehen und andererseits akzeptiert. Theoretiker(innen) der Anerkennung weisen nun darauf hin, dass es neben der entwicklungspsychologischen Bedeutung von Anerkennung eine grundlegende gesellschaftliche Relevanz des Konzepts gibt: nämlich in allen Fragen der Interaktionsdynamik von sozialen Gruppen, die für verschiedene Identitätsmuster stehen. Axel Honneth differenziert zwischen drei verschiedenen Kontexten oder Sphären von Anerkennung: der Liebe, des Rechts und der Wirtschaft (1994: Kap. 5). Unter der Bezeichnung ›Liebe‹ sind Nahbeziehungen mit starken Gefühlsbindungen zu verstehen, besonders natürlich die erotische Partnerschaft und die Eltern-Kind-Beziehung. Aus der Perspektive von Honneths Anerkennungstheorie sollen Menschen in dieser Sphäre in emotionaler Hinsicht Selbstvertrauen aufbauen, sozialisatorisch die Übernahme anderer Perspektiven üben und kompensatorisch Missachtungserfahrungen ausgleichen lernen. In der Sphäre des Rechts geht es nach Honneth um das Erwerben von Selbstachtung; unter Recht versteht er den Kontext der moralischen Urteilsbildung. Im Bereich der Wirtschaft können Individuen Selbstschätzung lernen, indem sie von ihren Talenten und Fähigkeiten einen für sie vorteilhaften Gebrauch machen. In allen diesen Sphären spielt sich zugleich der ›Kampf um Anerkennung‹ ab. Die deskriptive Analyse von Asymmetrien als Ursachen der Geringschätzung gesellschaftlicher Gruppen – etwa von Minoritäten oder zugewanderten Bevölkerungsgruppen – ist eine wichtige Leistung des Anerkennungsparadigmas. Hinzu kommt, dass diese Ansätze die dynamischen Verläufe von ›Kämpfen um Anerkennung‹ oft sehr treffend rekonstruieren können. Daneben erbringen anerkennungstheoretische Ansätze aber auch wichtige normative Leistungen. Im besten Fall einer idealisiert konzipierten Anerkennung würden sich in einer Gesellschaft 285 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualistische Ethiken

alle Individuen und Gruppen jeweils als gleichwertig und als vollwertig anerkennen. Die Anerkennung wäre dann reziprok, symmetrisch und vollständig. Den konkurrierenden Ansätzen aus dem Feld der Gerechtigkeitstheorien machen Anerkennungstheoretiker gerne den Vorwurf, ›differenzblind‹ zu sein – d. h. die Unterschiedlichkeit von Identitäten und Lebensformen in ihre (meist egalitären) Verteilungsszenarien gesellschaftlicher Grundgüter nicht einfließen zu lassen. Gerechtigkeitstheorien scheinen so betrachtet eine normative Dimension zu ignorieren. Hält man wie Rawls eine Gesellschaft dann für gerecht, wenn in ihr die Verteilung der Grundrechte und Chancen (sowie sozioökonomischer Güter) fair verläuft, so missachtet man diesem Ansatz zufolge, dass die Angehörigen bestimmter weniger geachteter Gruppen bereits fundamental benachteiligt sind. Kann man aus dem Anerkennungsmodell eine normativ operationalisierbare Theorie machen? In Anlehnung an Rawls schlägt etwa J. Kloc-Konkołowicz folgende zwei Prinzipien vor, die eine liberale Gerechtigkeitskonzeption mit einer Anerkennungstheorie versöhnen sollen (2015: 164): »1. Jeder soll als gleichwertiges Subjekt, ausgestattet mit gleichen Rechten, anerkannt werden (= Jedem sollen gleiche Rechte zuerkannt werden). 2. Jeder soll als besonderes Subjekt, mit besonderer Identität und besonderen Fähigkeiten und Zwecken, anerkannt werden (= Jedem soll die Möglichkeit der Manifestation seiner Identität, der Entwicklung seiner besonderen Fähigkeiten und der Verwirklichung seiner besonderen Zwecke gewährt werden).«

Kloc-Konkołowicz charakterisiert die beiden Prinzipien inhaltlich als die Anerkennung der Gleichheit und die Anerkennung der Differenz. Wie nahe steht Honneths Modell dem Begriff der Sittlichkeit bei Hegel? Woher genau kommt die Normativität in diesem Modell? Reicht es aus zu unterstellen, dass uns der Anblick des Anderen – etwa sein Antlitz im Sinn von Levinas – zur Anerkennung seiner Person veranlasst? Oder ist die gemeinte Normativität ein286 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Ethischer und politischer Kontextualismus im Anschluss an Hegel

fach die historisch-konkrete der traditionellen Üblichkeiten? Wie sich zeigt, ist Honneths Ansatz recht weit von einer Ethos-basierten Konzeption entfernt. Honneth schreibt über die Begriffe des Guten und der Sittlichkeit, wie er sie verstanden wissen will (1992: 276): »Dieser Begriff des Guten soll nun aber im Gegensatz zu jenen alternativen, von Kant sich absetzenden Strömungen nicht als Ausdruck der substantiellen Wertüberzeugungen aufgefasst werden, die jeweils das Ethos einer konkreten Traditionsgemeinschaft bilden; vielmehr geht es um die strukturellen Elemente von Sittlichkeit, die sich unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der kommunikativen Ermöglichung von Selbstverwirklichung von der Vielfalt aller besonderen Lebensformen normativ abheben lassen. Insofern steht der anerkennungstheoretische Ansatz, soweit wir ihn bislang als ein normatives Konzept entwickelt haben, in der Mitte einer auf Kant zurückgehenden Moraltheorie und den kommunitaristischen Ethiken: mit jener teilt er das Interesse an möglichst allgemeinen Normen, die als Bedingung für bestimmte Möglichkeiten aufgefasst werden, mit diesen aber die Orientierung am Zweck der menschlichen Selbstverwirklichung.«

Eine solche ›posttraditionale Sittlichkeit‹ wirkt für einen an Hegel angelehnten Ansatz merkwürdig, da sie keinen Bezug auf substantielle Werte und historisch-konkrete Lebensformen einschließt. Fragwürdig scheint auch die angestrebte Zwischenstellung zwischen Kant und dem Kommunitarismus; denn Kants formaler Universalismus ist ja doch eigentlich ein zentraler Gegner aller kontextualistischen Ansätze. Diese halten es ja gerade für abwegig, Normativität im ›luftleeren‹ Raum abstrakter Universalisierungen zu gewinnen. Woher gewinnt eine Anerkennungstheorie eigentlich ihre Normativität? Was ist ihr Kriterium für eine angemessene, wünschenswerte oder richtige Anerkennung? Die oben zitierten Passagen von Kloc-Konkołowicz und Honneth klingen nach Rawls, nach Kant und nach einem Perfektionismus. Aber diese Anleihen müssten eigens gerechtfertigt

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Kontextualistische Ethiken

werden; auch müsste man fragen, wie sie genau zueinander und zum Anerkennungsparadigma passen. Hieraus ergibt sich nun geradezu ein Dilemma für die Anerkennungstheorie: Entweder argumentiert sie nicht-kontextualistisch; dann untergräbt sie ihr eigenes Fundament und macht ›Anerkennung‹ zu einem sozialphilosophischen Thema neben anderen. Oder sie stellt sich auf die kontextualistische Seite; dann ist sie wie alle Ethiken in der Nachfolge Hegels dem Einwand ausgesetzt, auch unliebsame faktische Anerkennungsvorgänge als wünschenswert hinstellen zu müssen – denn das Faktische müsste ja, durch die wiederholte Dynamik von Anerkennungskämpfen, theoriegemäß eine wünschenswerte Gesamtentwicklung hervorbringen. Das scheint aber unvereinbar mit vielen Entwicklungen in westlichen Gesellschaften, in denen es häufig zu neuen Diskriminierungsformen und Anerkennungsdefiziten kommt. Generell gilt, dass historische Anerkennungsmängel auch eine anwachsende Dynamik haben können wie in der Geschichte des Antisemitismus.

8.3 Kontextualistische Ethiken in der Gegenwart In der Ethik und Politischen Philosophie der Gegenwart findet sich vielfach ein pointiertes Bewusstsein dafür, dass man für eine angemessene Theoriebildung von vornherein auf die jeweiligen konkreten Kontextbedingungen sehen muss. Viele Theoretiker (innen) glauben, dass sich Fragen nach den ethischen Normen und den Organisationsformen der politisch-sozialen Welt in relevanten Hinsichten nicht zeitlos oder abstrakt beantworten lassen. Denn selbst wenn man das, was z. B. eine moralische Ordnung idealerweise gut, gerecht, fair, legitim, wohlgeordnet, demokratisch, solidarisch, frei macht, bis zu einem gewissen Grad verallgemeinern könne, müsse man zugleich auch die besonderen sozialen Bedingungen einer Gesellschaft im Auge behalten. Neben dem Einfluss Hegels ist es auch die Wirkung des späten Wittgenstein und dessen Wirkung auf die Tugendethik, den Kommunitarismus und die feministische Ethik, die man hierfür erwähnen 288 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualistische Ethiken in der Gegenwart

muss. In seinem Buch Die Idee der Gerechtigkeit (2012) stellt Amartya Sen ›transzendentale‹ (den Kontext vernachlässigende) und ›komparative‹ (kontextsensible) Ansätze einander gegenüber. Transzendentale Modelle kommen nach Sen mit der Pluralität konkurrierender Modelle und Ideen nicht zurecht, die in einem komparativen Ansatz kontextbezogen angewandt oder miteinander vermittelt werden könnten. Weiter erklärt er (2012: 44): »Das Problem mit der transzendentalen Orientierung entsteht nicht nur durch die mögliche Pluralität konkurrierender Grundsätze, die den Anspruch haben, wichtig für die Einschätzung von Gerechtigkeit zu sein. So gravierend das Problem der Nichtexistenz einer identifizierbaren vollkommen gerechten sozialen Regelung sein mag, ist doch das entscheidende Argument zugunsten der komparativen Annäherung an die praktische Begründung der Gerechtigkeit nicht die Undurchführbarkeit, sondern die Redundanz der transzendentalen Theorie. Wenn eine Theorie der Gerechtigkeit Leitfaden für die rationale Wahl von Grundsätzen, Strategien und Institutionen sein soll, dann ist die Bestimmung von vollkommen gerechten sozialen Regelungen weder notwendig noch hinreichend.«

Transzendentale Theorien scheitern nach Sen nicht nur am Pluralismusproblem, sondern auch am Problem der Redundanz. Sen erläutert es an folgendem Beispiel: Wenn man die Möglichkeit hat, sich zwischen einem Gemälde von Picasso und einem von Dalí zu entscheiden, dann hilft es bei dieser Entscheidung nicht, von jemandem die Behauptung zu hören, das beste und unübertreffliche je gemalte Bild sei die ›Mona Lisa‹. Es geht ja allein um verfügbare Alternativoptionen, nicht um solche, die ideal wären, jedoch in der gegebenen Situation redundant sind. Ein Beispiel für das Unbehagen gegenüber theoretische Idealisierung und Abstraktion liefert die Beschreibung des Individuums, so wie sie paradigmatisch in der Gerechtigkeitstheorie von John Rawls vorgenommen wurde. In den USA der 1980er und 1990er Jahre hat dieses Unbehagen eine ganze Richtung ethischpolitischer Theoriebildung ins Leben gerufen: den Kommunitarismus (communitarianism). Anstoßgebend dafür war Michael San289 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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del mit seiner Kritik am ›ungebundenen Selbst‹ (unencumbered self) in Rawls’ Urzustandssituation. Michael Walzer hat diesen Punkt aufgegriffen, indem er ihn in das kontrastreiche Bild fasst zwischen dem Zimmer eines Hilton-Hotels, das angenehm und gut ausgestattet, aber zugleich steril und unpersönlich ist, und einem privaten Heim, das von der persönlichen Lebensgeschichte seiner Bewohner geprägt ist (Kritik und Gemeinsinn, 1993: 23 f.). Dieser scheinbar marginale Punkt hat innerhalb kurzer Zeit eine breite Theorieszene ins Leben gerufen. Kommunitaristen wie Sandel, Walzer, Benjamin Barber, Amitai Etzioni oder Alasdair MacIntyre entstammen ganz unterschiedlichen politischen Lagern, und sie sind aus divergierenden philosophischen Schulen hervorgegangen. Es scheint schwierig, den Kommunitarismus anhand einheitlicher Überzeugungen zu charakterisieren (vgl. aber R. Forst 1994). Zwei Thesen scheinen aber besonders wichtig zu sein. Der Kommunitarismus besitzt zum einen eine soziologisch-deskriptive Intention. Mit einigem Recht verweist er darauf, dass die liberale Organisationsform moderner westlicher Gesellschaften Individuen von traditionellen Verhaltensmustern, Gemeinschaften und familiären Bindungen abschneidet und zu einer wachsenden Isolation des Einzelnen führt. Die Ursachen dafür sind zahlreich: Das hohe Wohlstandsniveau stellt erweiterte Handlungsspielräume bereit, Individuen sind erhöhten Mobilitätsanforderungen im Bereich der Arbeitswelt ausgesetzt, es gibt eine spürbare Pluralisierung und Multikulturalisierung der Gesellschaft, und schließlich werden verbindliche Lebensorientierungen durch die neuzeitliche Gesellschafts- und Moralkritik und den sich ausbreitenden Wertpluralismus in die Defensive gedrängt. So erwünscht diese Modernisierungen auch sein mögen, so problematisch scheinen ihre psychosozialen und politischen Konsequenzen zu sein. Die Existenz von Individuen als bindungslose Monaden (Einzelwesen), ihre Atomisierung scheint ein nicht unerhebliches Problem westlicher Gesellschaften zu bilden. Zum anderen verfügt der Kommunitarismus über eine überlegenswerte These zur Entstehung individueller Werthaltungen. Danach ergibt sich jede moralische Einzelentscheidung oder Überzeugung eines Individuums 290 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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aus seiner gesamten Lebenseinstellung oder -orientierung. Einzelne Präferenzen sind stets Bestandteile ganzer personaler Grundhaltungen. Hierin liegt die Ursache, weswegen Kommunitaristen häufig eine enge Affinität zur Tugendethik besitzen und prinzipiengeleiteten, abstrakten und universalistischen Moralphilosophien wie dem Utilitarismus oder dem Ansatz Kants mit Misstrauen begegnen. Charakterhaltungen und Tugenden beruhen, so meinen sie, maßgeblich auf den Erfahrungen, Konventionen, Projekten und Wertungsformen von sozialen Gruppen, so dass es sich bei den moralischen Subjekten, um die es in Tugendmodellen geht, um ›radikal situierte‹, d. h. um lebensweltlich und traditionell verankerte Personen handelt. Abstrahieren könne man zwar von der konkreten Wertegemeinschaft, in der jemand seine moralische Identität erworben habe, nicht aber von der Tatsache, dass Moralentwicklung stets an eine Gemeinschaft gebunden sei. In diesem Zusammenhang ist nochmals an eine von Bernard Williams (1981) stammende Unterscheidung zu erinnern: die zwischen gehaltvollen oder ›dichten‹ (thick) und blassen oder ›dünnen‹ (thin) moralischen Begriffen. Williams meint zum einen kontextgesättigte Beschreibungen moralischer Sachverhalte und zum anderen solche, die von allen sozialen und kulturellen Hintergründen losgelöst sind, ein Punkt, der von Walzer (1996) aufgegriffen und ausgearbeitet wurde. Erst eine kontextbezogene und gehaltvolle Beschreibung verankert Moral in einer konkreten Lebenswelt, während eine blasse lediglich ein leblos-abstraktes Bild liefert. In der westlichen Sozialgeschichte (und ebenso in anderen Teilen der Welt) weist die Benachteiligung von Frauen eine bedrückende Tradition auf: Man betrachtete Frauen während langer Zeiten entweder als gänzlich rechtlose Individuen oder doch als Menschen mit vermindertem Rechtsstatus, verwehrte ihnen die politische Mitwirkung, eigene Organisationen zur Wahrung ihrer Interessen, den Zugang zum Erwerbs- und Arbeitsleben (oder beschränkte sie auf einige frauentypische Berufe), erschwerte ihre ökonomische Geschäftsfähigkeit, ihre selbstbestimmte Lebensplanung, den Zugang zu höherer Bildung, eine Beteiligung an Wissenschaft und Kunst und vielfach generell am öffentlichen Leben. Frauen wurden auf den Bereich des Privaten, Häuslichen und Fa291 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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miliären festgelegt und zu reproduktiven Aufgaben (im Unterschied zu den produktiven Tätigkeiten) verpflichtet. Doch selbst wenn sich in der Zwischenzeit vieles verändert haben mag: auch in modernen liberalen Gesellschaften sind noch immer erhebliche Benachteiligungen zu registrieren. Zu denken ist hier wohl weniger an rechtliche Gleichstellungsdefizite; rechtliche Egalität zwischen Männern und Frauen scheint zumindest in allen wesentlichen Hinsichten zu bestehen. Wichtiger scheinen zwei andere Problemfelder zu sein. Zum einen existieren gravierende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern bei der faktischen Chancen- und Güterverteilung. So erreichen Frauen im Berufsleben deutlich seltener herausgehobene Positionen, obwohl ihre Anzahl unter den Absolventen weiterführender Schulen, Fachhochschulen oder Universitäten mittlerweile mit der der Männer in etwa gleichgezogen hat. Typische Frauenberufe im pädagogischen, sozialen oder administrativen Bereich, etwa Kindergärtnerin, Krankenschwester oder Sekretärin, sind tendenziell weniger angesehen und werden geringer bezahlt als typische Männerberufe aus dem Bereich des Handwerklichen, Technischen oder Ökonomischen. Auch bei der Vergütung gleicher Arbeit sind Frauen häufig noch immer schlechter gestellt. Außerdem erschweren es mangelhafte Einrichtungen der Kinderbetreuung noch immer vielen Frauen, einen Kinderwunsch mit Karriereabsichten zu verbinden. Zum anderen scheint unverändert ein die Lebenswelt prägender ›kultureller Sexismus‹ zu bestehen, wie etwa Nancy Fraser in ihrem Buch Justice Interruptus (1997) hervorhebt. Sein generelles Charakteristikum besteht in der »Unterwerfung unter androzentrische Normen, an denen gemessen Frauen als unfähiger oder abweichend erscheinen und die ihnen selbst dann zum Nachteil ausschlagen, wenn keinerlei Diskriminierungsabsicht im Spiel sein sollte« (2001: 41). Hinzu kommen die ständige Gefahr, Opfer von Vergewaltigung und sexueller Belästigung zu werden, ferner die Bedrohung durch häusliche Gewalt und Ausbeutung, sodann diskriminierende Aspekte im öffentlichen Frauenbild (wie es etwa in den Medien vermittelt wird) oder schließlich der Ausschluss von Frauen aus bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens, z. B. in manchen Religionsgemeinschaften oder beim Militär. 292 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Ein Punkt von erheblicher Bedeutung ist auch die feministische Attacke auf die gewöhnliche Unterscheidung von privat-familiärem und politisch-öffentlichem Leben. In bürgerlichen Gesellschaften gebe es eine starke Kontrastbildung zwischen dem Privaten (als dem Bereich von Liebe, Vertrauen, Intimität, Solidarität, Empathie) und dem Öffentlichen (dem Bereich des Politischen, Ökonomischen, der Leistung, des Wettbewerbs und Erfolgs). Das Private gilt als exklusiver, beobachtungsfreier Raum, als unantastbarer Bereich der Selbstbestimmung, als nicht-verrechtlichte Sphäre sowie als staatlich geschützte Rückzugsmöglichkeit. Feministinnen thematisieren nun den Umstand, dass man Frauen den Privatbereich zuweist (im Sinn einer Rollenzuschreibung wie im Sinn einer Wesensbestimmung) und dabei mit den weniger herausfordernden, einfachen und schmutzigen Tätigkeiten beauftragt. Ebenso wie Frauen traditionell auf das Private festgelegt würden und vom öffentlichen Leben ausgeschlossen seien, werde auch in der Politischen Philosophie zu Unrecht das Augenmerk ausschließlich auf das öffentliche Leben gelegt und das Privatleben als unpolitisch ausgespart. Daher lautet ein Schlagwort dieser Spielart von Feminismus: ›Das Private ist das Politische‹. Es richtet sich sowohl gegen die Fixierung der Frau auf die häusliche Sphäre als auch gegen die damit verbundene Abwertung der weiblichen Identität. In Verbindung damit wird auch eine spezifische Diskriminierung der Frau in der Tradition des westlichen politischen Denkens behauptet (vgl. Susan M. Okin 1979). Ein anderes wichtiges Thema des emanzipatorischen Feminismus bildet seine Wendung gegen männliche Rationalitätsformen, zu welchen auch die moralphilosophischen und politischen Vorstellungen von Gerechtigkeit, Unparteilichkeit und Universalismus gerechnet werden. Das Objektivitätsparadigma in Wissenschaft und Philosophie wird dabei als stillschweigende Ausklammerung und Missachtung der genuin weiblichen Perspektive interpretiert. Um zu Formen von Ethik und Politischer Philosophie zu gelangen, die aus weiblicher Perspektive formuliert sind, soll der Akzent demgegenüber auf die Kontextgebundenheit moralischer oder politischer Phänomene gelegt werden. Durch seine Forderung nach Kontextsensitivität erhält der emanzipatorische 293 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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Feminismus eine prinzipielle Nähe zum Kommunitarismus und zur Tugendethik. Ein grundlegender und anstoßgebender Ansatz bestand darin, spezifisch weibliche Sichtweisen in einer Ethik des Wohlwollens, der Empathie und der Fürsorglichkeit (care) zum Ausdruck zu bringen: besonders im Buch In A Different Voice (81982) von Carol Gilligan. Für Gilligans Herangehensweise ist es kennzeichnend, Beziehungen der Nicht-Verallgemeinerbarkeit, der Asymmetrie und der Nicht-Reziprozität – etwa in der fürsorglichen Mutter-Kind-Beziehung – als grundlegend zu beschreiben. Ursprünglich handelte es sich allerdings einfach um eine These zur empirischen Moralpsychologie: Demnach existieren zwei gleichberechtigte, wenn auch grundlegend verschiedene Typen von Moral, nämlich zum einen der männliche Typ, der sich an abstrakten Prinzipien der Gerechtigkeit orientiert, und zum anderen der weibliche, der sich auf Kontexte der Fürsorge und auf bestehende Bindungen bezieht. Gilligan opponierte mit ihrer Unterscheidung gegen ihren Lehrer Lawrence Kohlberg (1981), aus dessen Stufenmodell moralischer Entwicklung man die Inferiorität einer fürsorglichen Moraleinstellung herauslesen konnte. Nach Kohlberg gehört Fürsorglichkeit auf Stufe 3 der Bewusstseinsentwicklung, während die Orientierung an abstrakten Normen der Stufe 4 zuzuordnen sein soll. Gilligan dagegen versuchte zu zeigen, dass die beiden moralischen Perspektiven komplementär sind und keine als der anderen überlegen gelten kann. Gilligans Ansatz ist in den dreieinhalb Jahrzehnten seines Bestehens intensiv diskutiert worden. Zunächst kam die Frage auf, ob die simple Gegenüberstellung einer männlichen und einer weiblichen Moralperspektive wirklich empirisch haltbar ist. Tatsächlich ist dies wohl kaum der Fall; substantielle Zweifel daran scheinen mehr als berechtigt (vgl. G. Nunner-Winkler 1991). Doch selbst wenn sich Gilligans These bei weiteren Untersuchungen empirisch bewahrheiten würde, könnte man immer noch kritisch anmerken, dass die Zweiheit von männlicher und weiblicher Moral auf eine gesellschaftliche Rollenzuweisung zurückgeht; und von dieser mag man sich wünschen, dass sie durch ein neues Moralverständnis abgelöst wird, welches für beide Geschlechter 294 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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gleichermaßen gültig ist. Eine solche gender-übergreifende normative Perspektive könnte so angelegt sein, dass sie die Einseitigkeiten beider Modelle zu überwinden und die Vorteile beider Moralkonzeptionen zusammenzuführen sucht. Zweifellos gibt es einerseits echte Vorteile auf Seiten eines prinzipienbasierten Universalismus, aber auch wirkliche Probleme – wie z. B. die theorieimmanente Unterstellung eines bindungslosen Subjekts, das zu anderen Menschen ein distanziertes Verhältnis strategischer Rationalität einnimmt. Andererseits hat auch ein Kontextualismus Vorteile aufzuweisen, ist aber zugleich dem Verdacht eines Kultur- und Situationsrelativismus ausgesetzt. Für eine normative Perspektive scheint insbesondere die Annahme Gilligans problematisch, dass moralische Normen genderrelativ gelten können. Warum sollten Männer eher einer abstrakt-universalistischen Moralkonzeption folgen, Frauen dagegen eher fürsorglich-affektiven Normen? Man fragt sich, inwiefern Unterschiede in der Gender-Identität (falls man sie denn überzeugend beschreiben kann und falls wirklich alle Individuen darunter fallen) Konsequenzen in der Bevorzugung bestimmter Normativitätsformen nach sich ziehen sollten. Dennoch scheint hier ein wichtiger Punkt berührt zu werden: Besteht ein sachlicher Mangel im traditionellen universalistischen Moralverständnis? Hinter dieser Frage verbirgt sich das für den Kontextualismus wichtige Problem von Impartialismus und Partialismus. Welche Rolle spielen im moralischen Denken die beiden Prinzipien Unparteilichkeit und Parteilichkeit? Gemäß unserem gewöhnlichen moralischen Selbstverständnis glauben wir, dass Verpflichtungen gegenüber anderen Personen von beiden Prinzipien herstammen können, obwohl sie einander genau entgegengesetzt sind. Wir meinen einerseits, dass wir in der Moral unparteilich verfahren sollten. Beispielsweise denken wir, dass ein Feuerwehrmann nicht nur seine Freunde und seine Bekannten aus einem brennenden Haus retten sollte, sondern alle bedrohten Bewohner(innen). Andererseits sind wir davon überzeugt, dass es beispielsweise in finanziellen Notlagen angemessen ist, sich parteilich zu verhalten und primär seine Nahestehenden zu unterstützen. Oder auch: Wenn meine Kinder krank sind, ist das ein guter Grund, bei ihnen zu Hause 295 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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zu bleiben, auch wenn ich einem Bekannten versprochen habe, ihm beim Umzug zu helfen. Nichts Vergleichbares gilt dagegen, wenn fremde Kinder krank sind. Liebes- und Freundschaftsbeziehungen sind durch Selektivität und Exklusivität charakterisiert. Normalerweise denken wir, dass uns Liebe mit Recht stark für bestimmte Personen einnimmt, nämlich für die uns Nächststehenden, während wir alle anderen Personen relativ gleichgültig behandeln dürfen. Bernard Williams (1981) attackiert aus dieser Perspektive die neutrale, prinzipien"basierte Moral für die Beschreibung, unter der jemand seine Frau aus einer Gefahr retten darf. Nach der neutralen und prinzipienbasierten Moral darf er seine Frau nicht einfach retten, (a) weil es sich um seine Frau handelt (so erhofft es sich seine Frau), sondern (b) weil es sich um seine Frau handelt und es in Situationen wie diesen moralisch erlaubt ist, seine Frau zu retten (1981: 18): »[…] it might have been hoped by some people (for instance, by his wife) that his motivating thought, fully spelled out, would be the thought that it was his wife, not that it was his wife and that in situations of this kind it is permissible to save one’s wife.«

Die Beschreibung (b) enthält nach Williams »einen Gedanken zu viel« (one thought too many). Offenbar lässt sich das, was man die impartialistische Intuition nennen könnte – sie spielt in den Moralphilosophien Kants und des Utilitarismus eine besondere Rolle –, und das, was man als partialistische Intuition bezeichnen kann – diese wird meist in kontextualistischen Moralphilosophien verwendet –, nur schwer miteinander vereinbaren. Wie könnte sich der Konflikt zwischen den gegenläufigen Intuitionen bewältigen lassen? Schließen sich die beiden Prinzipien grundsätzlich aus? Kann man sie miteinander versöhnen und kombinieren? Muss man einer der beiden Intuitionen einen Vorrang zuerkennen – und wenn ja, welcher? Oder sind sie gleichrangig? Zentrale Fragen sind folgende: Ergeben sich moralische Verpflichtungen aus speziellen Bindungen, d. h. aus meiner Zuge296 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

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hörigkeit zu einer bestimmten Partnerschaft, einer Familie, einer Hausgemeinschaft, einem Wohnviertel, einer Firma, einer Nation usw.? Oder sind die Pflichten vorrangig, die ich als Mensch gegenüber allen anderen Menschen zu erfüllen habe? Historisch betrachtet handelt es sich um ein ziemlich altes Problem, das zum ersten Mal in der hellenistischen Philosophie der Antike behandelt worden ist. Cicero berichtet in den Tusculanae disputationes von einer Kontroverse zwischen Stoikern und Peripatetikern um die richtige Deutung dessen, was man das oikeiôsis-Argument nennt. Die zentrale Frage der Kontroverse lautet, ob das Ziel der moralischen Entwicklung, wie die Peripatetiker meinten, in einer parteilichen Identität besteht (jeder Mensch ist ja Bürger einer bestimmten Gemeinschaft und einer bestimmten Polis, für die er eintreten muss) oder in einer unparteilichen Identität, wie die Stoiker annahmen (jeder Mensch gilt dann primär als Kosmopolit, als Bürger des Universums). Welche theoretischen Optionen bestehen hier? Man kann sich zunächst einmal vorstellen, dass Moralphilosophen eine der beiden möglichen Extrempositionen einnehmen. Diese bestünden darin, dass man impartialistischer Monist ist oder aber partialistischer Monist. Ein impartialistischer Monismus würde auf der Überzeugung beruhen, dass Parteilichkeit überhaupt kein echter Bestandteil der Moral sein darf, sondern lediglich eine (hinznehmende) Verfallsform des Moralischen darstellt. So dachten neben vielen modernen Utilitaristen – wie eben erwähnt – besonders die antiken Stoiker, welche jede Parteilichkeit für ein zu überwindendes Vorurteil hielten, das man durch eine objektiv-neutrale Perspektive des Universums ersetzen sollte. Umgekehrt bestünde ein partialistischer Monismus darin, dass jemand annimmt, dass Unparteilichkeit eine überflüssige theoretische Fiktion ist, welche die immer zwingend gegebene Kontextualisierung ignoriert. Eine solche Position scheinen einige feministische Kontextualist(inn) en zu vertreten. Beide Positionen wirken allerdings recht unplausibel. Der Mangel an Plausibilität ist im Fall der partialistischen Monismus leicht an einem Beispiel einzusehen: Gerät ein Akteur in eine Konfliktsituation, in der er nur entweder ein fremdes Kind aus 297 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualistische Ethiken

einem Fluss zu retten vermag oder seinem eigenen Kind eine Schokolade kaufen kann, dann darf er – moralisch betrachtet – sein eigenes Kind nicht privilegieren. Wer sich selbst und die Seinen immer und unter allen Umständen privilegiert, würde in einem solchen Konfliktfall zum Zyniker werden. Damit ist monistischer Partialismus abgewiesen. Im Fall des monistischen Impartialismus muss man hingegen differenzieren: Wir meinen zwar, dass jemand übertrieben moralisch wäre, wenn er von der Privilegierung seiner Angehörigen immer aus moralischen Gründen Abstand nehmen würde – aber das wäre dann der Vorwurf übertriebener Moral, nicht der Vorwurf der Unmoral. Unmoralisch verhielte er sich jedoch, wenn er sein eigenes krankes Kind nicht versorgen würde, weil er ins Büro gehen will, um eine weltweite Initiative gegen Kindesmisshandlung zu starten. Impartialismus kann also ebenfalls ein moralisch problematisches Motiv bilden. Damit ist auch ein monistischer Impartialismus zurückgewiesen. Nehmen wir also an, dass beide Varianten des Monismus unbrauchbar sind. Welche Kombinationen von Unparteilichkeit und Parteilichkeit wären dann denkbar? Könnte es z. B. sein, dass sich der Konflikt zwischen einem universalistischen Impartialismus und einem auf den Nahbereich bezogenen Partialismus einfach dadurch auflösen lässt, dass man den erstgenannten Bereich auf die sogenannten negativen Pflichten bezieht, den zweiten dagegen zusätzlich auf die positiven Pflichten? Sollte dies richtig sein, so wären wir einerseits gegenüber allen Menschen dazu verpflichtet, alles zu vermeiden, was diese schädigt. Aber weitergehende Pflichten, nämlich Hilfspflichten, hätten wir ihnen gegenüber nicht. Andererseits müssten wir dann sowohl Pflichten der Schadensvermeidung als auch Hilfspflichten gegenüber Personen erfüllen, denen wir nahestehen. Beide Teilüberzeugungen erweisen sich jedoch bei näherem Hinsehen als moralisch problematisch. Weder dürfen wir es gegenüber Fremden dabei bewenden lassen, sie nicht zu schädigen; bisweilen muss man sie auch aktiv unterstützen – etwa wenn aktive und tatkräftige Hilfe dazu nötig ist, den Tod eines Unfallopfers zu verhindern, das uns völlig unbekannt ist, dem wir aber 298 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Kontextualistische Ethiken in der Gegenwart

als Einzige helfen können (Fall der Nothilfe). Noch müssen wir unsere Nahestehenden bei allem unterstützen, was sie unternehmen mögen. Es wäre etwa moralisch fragwürdig, jemanden, der uns nahesteht oder am Herzen liegt, sogar bei einem von ihm verübten Banküberfall oder bei einem Mord zu unterstützen. Die Auswahl von Hilfspflichten muss einem moralischen Sinnkriterium unterliegen und darf auch bei Nahestehenden nicht undifferenziert sein. Damit ist klar, dass die Unterscheidung von negativen und positiven Pflichten dazu ungeeignet ist, den Bereich der moralisch angemessenen Unparteilichkeit vom Bereich der angemessenen Parteilichkeit zu unterscheiden. Attraktiver ist folgende Lösung: Unparteilichkeit bildet das allgemeine Grundprinzip der Moral, und Parteilichkeit leitet sich als untergeordnetes Prinzip aus dem Gedanken der primären Zuständigkeit ab. Der Gedanke ist dann: Wenn jeder in seinem Nahbereich verlässlich hilft, ist die Wahrscheinlichkeit, dass so allen geholfen wird, größer, als wenn sich jeder gegenüber allen anderen auf bloß vage Weise verpflichtet fühlt. Hinzu kommt, dass enge emotionale Bindungen ein hohes Motivationspotential enthalten, das bei Fremdbeziehungen in der Regel nicht vergleichbar existiert. Somit spricht ein moralisches Effizienzprinzip für diese Sicht der Partialismus-Impartialismus-Antithese. Weil Partialismus das untergeordnete Prinzip darstellt, wird er in bestimmten Fällen durch einen gebotenen Impartialismus übertrumpft.

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Nachwort

Moralphilosophie ist ein weites und komplexes Feld. Nach unserem Durchgang, der ungefähr dem Stoff einer Vorlesung entspricht, haben wir behandelt: zunächst einige der Positionen aus der Moralbeschreibung (also der Phänomenologie der Moral), der Moralkritik und der Moralbegründung, dann die grundlegenden Ansätze der Metaethik und schließlich die wichtigsten normativen Ethikmodelle. Es bleibt aber noch darauf hinzuweisen, was in dieser Einführung allenfalls gestreift oder ganz ausgelassen wurde. Da sind zunächst einige der Grundbegriffe der Moral – wie das Gewissen, das Böse oder auch die Verantwortung –, die wir lediglich am Rand berührt haben. Sodann sind solche Themen offen geblieben wie moralische Dilemmata, Güterabwägungen, der Wert des Lebens (und die Rolle des Todes) oder die moralische Motivation (Warum moralisch sein?). Ganz unberührt habe ich überdies die Themen der Angewandten Ethik gelassen, also etwa die Fragen der Medizin- und der Bioethik, der Unternehmensund Wirtschaftsethik, der Umweltethik, Wissenschaftsethik oder Tierethik. Viel mehr, als es hier möglich war, wäre ferner zu sagen über die Fragestellungen der Moralpädagogik, Moralpsychologie und Moralsoziologie. Und schließlich musste ich das Meiste von dem weglassen, was sich an Berührungspunkten der Ethik zu ihren nahe verwandten philosophischen Disziplinen ergibt: nämlich zur Politischen Philosophie, zur Sozialphilosophie und zur Rechtsphilosophie. Erst dann wäre eine Einführung in die Moralphilosophie halbwegs vollständig.

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Zitierweise

Die antiken Autoren und Immanuel Kant werden nach der in der Forschung üblichen Paginierung zitiert. Für die Vorsokratiker ist dies die Fragmentsammlung von Hermann Diels und Walther Kranz (abgekürzt mit DK). Die Nummer nach »DK«, beispielsweise 80B3, ist zusammengesetzt aus der Nummer des Philosophen (80=Protagoras), der Kategorie des Fragments (B=wörtliches Fragment) und Nummer des Fragments. Belegstellen bei Platon werden durch Angabe des Buches (im Fall der Politeia), der Stephanus-Seite, der Angabe des Abschnitts sowie gelegentlich der Zeilenzahl zitiert. Der Verweis Politeia X.603d1–7 liest sich entsprechend als Verweis auf das zehnte Buch der Politeia, Stephanus-Seite 352, Abschnitt d, Zeilen 1–7. Belegstellen bei Aristoteles werden durch Angabe des Buchs, des Kapitels, der Seite in der Ausgabe von Immanuel Bekker, der Angabe des Abschnitts sowie der Zeilenangabe zitiert. Zum Beispiel findet sich die Stelle Rhetorik II.8, 1383a6 im zweiten Buch der Rhetorik, 8. Kapitel, Bekker-Seite 1383, Abschnitt a, in Zeile 6. Die Fragmente der Stoa werden nach der Sammlung Stoicorum veterum fragmenta (abgekürzt mit SVF) von Hans von Arnim unter Angabe des Bandes und der Fragmentnummer zitiert. Der Verweis SVF III.198 liest sich entsprechend als Stoicorum veterum fragmenta, 3. Band, Fragment 198. Genutzt wird zudem die Sammlung The Hellenistic Philosophers von A. A. Long und D. N. Sedley (abgekürzt mit LS). Der Verweis LS57F-G findet sich im Themenkomplex 57 (=Impulse and appropriateness) und umfasst die Fragmente F und G. Die Schriften Immanuel Kants werden nach der Ausgabe der Preussischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1902 ff.) zitiert. Die erste Nummer gibt dabei den Band an, die zweite die 302 https://doi.org/10.5771/9783495817438 .

Zitierweise

Seitenzahl der Akademie-Ausgabe. Somit bezieht sich etwa die Angabe 4: 399–401, auf die Seiten 399–401 im vierten Band. Wie in der Forschung üblich wird bei der Kritik der reinen Vernunft nach der ersten und zweiten Originalauflage zitiert; somit bezieht sich beispielsweise A444/B472 auf S. 444 der ersten (A) und S. 472 der zweiten (B) Auflage.

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Personenregister

Adams, Robert 158, 250 Albert, Hans 45 Alexander, Richard D. 21 Ambrosius von Mailand 246 Annas, Julia 112, 250 Anscombe, Elizabeth 79 f., 111, 249 f. Apel, Karl-Otto 44, 175 f., 178 f. Arendt, Hannah 87, 147 Aristoteles 59, 72, 74–78, 99, 102, 105 f., 152 f., 184, 209–212, 214 f., 223, 238 f., 241 f., 244, 246, 248 f., 252, 254, 257, 259, 261, 264, 266, 273, 278 f. Ashley-Cooper, Anthony 3. Earl of Shaftesbury 216 Audi, Robert 71 f., 138 Augustinus 91, 102, 246 Austin, John 177 Ayer, Alfred Jules 63, 66 f. Bambauer, Christoph 50, 169 Barber, Benjamin 290 Bartelborth, Thomas 46 Bayes, Thomas 195 Beauchamp, Tom L. 32 Bentham, Jeremy 99, 114–119, 121 Berlin, Isaiah 267 Betzler, Monika 91, 96 Bieri, Peter 89 Birnbacher, Dieter 44 f., 114, 118 Blackburn, Simon 68 Brandhorst, Mario 284 Brandt, Richard B. 39 f., 114, 121 Bremner, Ryan 248

Brentano, Franz 141 Brink, David 70 Broad, Charlie D. 98 Brüllmann, Philipp 76 Buber, Martin 147 Buchanan, James 193 Chappell, Timothy 249 f. Childress, James F. 32 Chisholm, Roderick 91 Chrysipp 109, 244 Cicero 12, 100, 108, 153, 245, 297 Cohn, Jonas 141 Corcilius, Klaus 76 Crisp, Roger 111 D’Arms, Justin 234 Dahlstrom, Daniel O. 129 Dalí, Salvador 289 Dancy, Jonathan 73, 251 Danto, Arthur C. 81 f. Darwall, Stephen 111 Davidson, Donald 67, 77, 82–84, 135 Dawkins, Richard 33 Debes, Remy 234 Descartes, René 44, 185, 215 Dewey, John 45 Doris, John M. 256 Drummond, John J. 147 Dufner, Annette 125 Durkheim, Emile 19 Eckstein, Walther 222 Elser, Georg 123

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Personenregister

Embree, Lester 147 Engels, Friedrich 37–39 Epikur 89, 102, 106 f., 239, 245 Etzioni, Amitai 290 Euchner, Walter 61, 186 Fichte, Johann Gottlieb 277 FitzPatrick, William J. 50 Foot, Philippa 250, 258, 262–264 Forst, Rainer 290 Frankena, William K. 98 Frankfurt, Harry 90, 95–97, 202 Fraser, Nancy 283, 292 Frege, Gottlob 67 Freud, Sigmund 94 Fuhrmann, Manfred 212 Gadamer, Hans-Georg 147 Galilei, Galileo 164 Gauguin, Paul 74 Gauthier, David 193–196, 266 Geach, Peter 60, 67, 173, 250 Gehlen, Arnold 278 Gesang, Bernward 114 Gettier, Edmund 82 Gewirth, Alan 47, 49 f. Gibbard, Allan 68 Gilligan, Carol 294 f. Goldman, Alvin J. 82 Gómez-Lobo, Alfonso 150 Green, Thomas H. 136, 139 f. Griffin, James 103 Grotius, Hugo 158 Guckes, Barbara 91, 96 Habermas, Jürgen 175 Hahn, Susanne 47 Hähnel, Martin 257 Halbig, Christoph 250 Hare, Richard 63 f., 67, 114, 262 Harman, Gilbert 256 Harsanyi, John 131 f., 134 Hartmann, Nicolai 141–143, 145 f.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 139–141, 264, 269–278, 283, 286, 288 Heidegger, Martin 147, 175 Heinrichs, Bert 55 Heinrichs, Jan-Hendrik 55 Heller, Agnes 230 Heraklit 99 Herder, Johann Gottfried 216 Herman, Barbara 169 Herring, Herbert 63 Hildebrand, Dietrich von 141 Hitler, Adolf 123 Hobbes, Thomas 61, 121, 185–193, 216, 218, 275 Hoerster, Norbert 180 Höffe, Otfried 199–202 Hoffmann, Martin 27 Homer 209 Honneth, Axel 276, 285–287 Horn, Christoph 85, 102, 150, 285 Hösle, Vittorio 175 Humboldt, Wilhelm von 267 Hume, David 67, 73, 140, 216, 218– 221, 224 f., 247 Hursthouse, Rosalind 250 Husserl, Edmund 147 Hutcheson, Francis 137, 216–218 Irwin, Terence 239 Jacobsen, Daniel 234 Kant, Immanuel 15 f., 21, 26 f., 30, 43 f., 47, 50, 62, 73, 76, 91–93, 95, 98, 114, 136 f., 141, 144, 146, 149, 159–172, 174–176, 188, 196, 208, 216, 223–225, 243, 248, 262, 271 f., 276, 287, 291, 296 Keil, Geert 84, 89 Kelly, Grace 81 Kloc-Konkołowicz, Jakub 286 f. Kluxen, Wolfgang 278, 280 f.

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Personenregister

Köhl, Harald 172 Kohlberg, Lawrence 294 Korsgaard, Christine 47, 50–53, 69, 188 Krämer, Hans 112 Kraut, Richard 112 Kripke, Saul 56 Kuhlmann, Wolfgang 175 Leidhold, Wolfgang 217 Lessing, Gotthold Ephraim 216 Levinas, Emmanuel 147 f., 287 Libet, Benjamin 94 Locke, John 188 Löhrer, Guido 85 Long, Anthony Arthur 185, 213 Lotze, Hermann 140–143 Lübbe, Hermann 278 Ludwig, Bernd 185 Luhmann, Niklas 19 f. Lykophron 184 MacIntyre, Alasdair 87 f., 250, 254, 258 f., 290 Mackie, John L. 66, 69 Mandrella, Isabelle 158 Margalit, Avishai 233, 284 Marquard, Odo 278–280 Marx, Karl 37–39 Matthews, Gareth 157 McDowell, John 70, 73, 250 f., 258, 264 McNaughton, David 73, 251 Meggle, Georg 64 Meier, Christian 212 Mendelssohn, Moses 216 Menke, Christoph 284 Metz, Thaddeus 112 Milgram, Stanley 256 f. Mill, James 118 Mill, John S. 27, 30, 114, 118–121, 129 Mills, Charles W. 185

Moore, George Edward 55–57, 59, 63, 66, 71, 121, 138 Morgenstern, Oskar 195 Mozart, Wolfgang Amadeus 132 Mulgan, Tim 125 Nagel, Thomas 18, 31, 33, 113, 180 f. Newton, Isaac 137 Nietzsche, Friedrich 36 f. Nisters, Thomas 155 Neumann, John von 195 Nozick, Robert 173, 193, 195 Nummer-Winkler, Gertrud 294 Nussbaum, Martha 112–214, 233, 235, 250, 258, 261 f. O’Neill, Onora 188, 250 Okin, Susan M. 293 Paley, William 114 Panaitios 153 Parfit, Derek 111, 114, 125, 131 Pateman, Carole 185 Peters, Julia 257 Pfordten, Dietmar von der 285 Picasso, Pablo 289 Platon 35, 59, 101–106, 150 f., 158 f., 184, 209, 212, 238–241, 244, 246, 252 Pogge, Thomas 112 Pollmann, Arnd 284 Pothast, Ulrich 94 Prichard, Harold A. 71, 136 f. Protagoras 239 Pufendorf, Samuel 158, 247 Pythagoras 99 Quante, Michael 39 f. Quinn, Philip 158 Railton, Peter 70 Rapp, Christof 76, 210, 243

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Personenregister

Rawls, John 46, 58, 69, 98, 188, 192, 195, 266 f., 286 f., 289 Raz, Joseph 266 f. Reid, Thomas 120, 136 f., 247 Reiner, Hans 141, 145–147 Rickert, Heinrich 92–94, 141– 143 Ricœur, Paul 147 Richter, Raoul 219 Ridley, Matt 33 Ritschl, Adolf 141 Ritter, Joachim 278 f. Rorty, Richard 172 Ross, William David 31, 71 f., 136– 138, 173 Rousseau, Jean-Jacques 188 Rüther, Markus 66 Ryle, Gilbert 91 Sandel, Michael 290 Sartre, Jean-Paul 147 Sautermeister, Jochen 21 Scanlon, Tim 133, 188 Schaber, Peter 284 Schälike, Julius 21 Scheffler, Samuel 149 Scheler, Max 71, 141, 143–146, 228–230 Schiller, Friedrich 216, 271 Schmid, Hans Bernhard 256 Schmid, Wilhelm 112 Schmitz, Hermann 230 f. Schmücker, Reinold 27 Schnädelbach, Herbert 141 Schneewind, Jerome B. 111, 137, 158 Schockenhoff, Eberhard 146 Schopenhauer, Arthur 208, 224– 228 Searle, John 177 f. Sedley, David Neil 185, 213 Seel, Martin 112 Sellar, Wilfried 265

Sen, Amartya K. 127 f., 181–183, 203, 261, 289 Sher, George 266 Sherman, Nancy 243 Sidgwick, Henry 114, 120 f. Singer, Marcus G. 25, 28 Singer, Peter 114, 126, 131 Slote, Michael 250 Smart, John Jamieson Carswell 114, 123 Smith, Adam 28, 30, 208, 215 f., 221–223 Snell, Bruno 260 Sokrates 100–102, 104, 111, 119, 150 f., 158 f., 239, 241 f. Stahl, Titus 66 Steigleder, Klaus 47 Steinfath, Holmer 103 Stemmer, Peter 57 f., 193, 196–198 Stevenson, Charles 67, 262 Stobaeus 213 Stoecker, Ralf 284 Stratton-Lake, Philip 138 Stueber, Karsten 234 Taylor, Charles 278, 280, 283 Taylor, Gabriele 235 Thies, Christian 112 Thomas von Aquin 102, 154–158, 246 f., 249 Thompson, Michael 258, 264–266 Tomasello, Michael 22 Tugendhat, Ernst 228 Urmson, James Opie 157 Voland, Eckart 33 Wagner, Richard 132 Wall, Steven 266 f. Walzer, Michael 290 f. Weber, Max 19 Weber-Guskar, Eva 284

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Personenregister

Werner, Micha H. 175 Wessels, Ulla 157 Wetz, Franz Josef 284 Wiggins, David 73, 251 Wilhelm von Ockham 159 Williams, Bernard 15 f., 30, 74, 128, 172, 233, 250, 258–260, 291, 296 Wilson, Edward O. 33 Windelband, Wilhelm 141–143 Wittgenstein, Ludwig 52–54, 62, 73, 78–80, 135, 175, 249, 282, 288

Wittwer, Héctor 27 Wolf, Jean-Claude 114 Wolf, Susan 112 Wolff, Christian 224 Wong, David B. 69 Wood, Allen W. 271 Wright, Georg Henrik von 80 f., 250 Zenon von Kition 108, 244 Ziff, Paul 57 f.

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Sachregister

Absicht 79 Absoluta, moralische 152 Absolutismus 190 Achtung 20, 224 adikia s. Unrechttun Affekte 209 f., 212–215, 218, 221 akrasia s. Willensschwäche aretê s. Tugend Akteurin/Akteur 95 – rationale/r 203 f. Akteurskausalität 77 Akt-Utilitarismus 121–124 Alltagspsychologie 75, 77, 82 Altruismus 21, 33 f., 110, 124, 198, 203 Anerkennung 269, 275–277, 283– 288 – der Gleichheit/Differenz 286 – Sphären von 285 Anerkennungsfähigkeit 198 f. Angleichung an Gott 104, 106 Antakoluthiethese 240, 242, 244 Antirealismus 65 f., 69, 73 Autonomie 18, 21, 88, 95 f., 110, 158, 169, 267 Argument der Absonderlichkeit 66, 69 Argument der offenen Frage 56 Argument der Relativität 66 Argument der Verallgemeinerung 28 argument from relativity s. Argument der Relativität argument from queerness s. Argument der Absonderlichkeit ataraxia 107

bargainung-Modell 203 f. Basishandlung 81, 84, 87 belief-desire-Modell 77 Bewusstsein 95, 270 Biologie der Moral 19 Britischer Idealismus 139 Cornell Realism 70 Dekalog 154 Demokratie 212 Denkkriterium 162, 164 Deontologie 153, 156, 173, 237 – adressatenzentrierte 174 Determinismus 88 f., 92–94 Dezisionismus 32, 89, 96 Dialogphilosophie 147 dikaiosyne s. Gerechtigkeit Diskursethik 174–176, 178 f. Diskursprinzip D 176 Divergenzthese 39 divine command ethics s. Gebotsethik, göttliche 158 duplex effectus-Theorie s. Lehre von der Doppelwirkung Egalität 125 Egoismus 121 emotional turn 230 Emotionen 209–211, 215, 217, 221, 227 f. – dionysische 215 – Komponententheorie der 211 – moralische 208, 232 – politische 213 – verbotene 152

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Sachregister

Emotionstheorie, stoische 213 f. Emotivismus 62 f., 66 f., 170, 262 Entscheidungsfreiheit 89 Epistemologie 66 epithymêtikon 105, 240 Epos 209, 259 f. Ethik s. auch Moralphilosophie – angewandte 45 – aretische s. auch Tugendethik 237 f., 252, 255 – der Antike 99 – deontologische 98, 149 – formale/materiale 170 – handlungsteleologische 102 f. – kontextualistische 269 – normative 54, 98 – teleologische 98, 136, 149, 155, 158 êthos 11 f. Ethos 13, 251, 269, 278–280, 282 f., 287 Eudämonismus 136 – utilitaristischer 146 eudaimonia s. Glück Euthyphron-Dilemma 159 Evolutionstheorie 21, 33 Expressivismus 68, 280 Externalismus, moralischer 73, 95 f. Faktum der Vernunft 169 Fat Man-Beispiel 174 Feminismus 293 f. folk psychology s. Alltagspsychologie Formalismus, ethischer 144 Freiheit 94 – negative 90, 183 – positive 90, 183 Freiheitsbeweis 91, 167 f. Freundschaft 110 Frömmigkeit 159 Furcht 211 f.

Gebote 162 Gebotsethik 158, 271 – göttliche 158 f. Gefangenendilemma 189 Gefühle 208, 224, 228, 230 f., 234 – Kognitivität der 231 Gefühlsethik 160, 208, 221 Gemeinschaftsethik 269 Gemeinwillen 191 Gemeinwohl 216 Gen-Egoismus 21, 34 Generalismus 170 Gerechtigkeit 104 f., 185, 240, 244 f., 247, 254, 277, 284 – als Einheit von Besonnenheit, Tapferkeit und Weisheit 106, 240 Gerechtigkeitstheorie 277, 286 Gesellschaft, bürgerliche 274 Gesetz – allgemeines 164 – moralisches 27, 149 – praktisches 168 Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen 127 Gesinnung 146 Gewalt – gesetzte 192 – setzende 192 Gewissen 26 Gewolltes – formal 156 – material 156 Glück 99, 101, 103–106, 108, 110 f., 115 f., 146, 159, 161, 238 f., 242, 245 f., 261 Glücksphilosophie 102 Glückspsychologie 112 gnôthi seauton 100 Grundrecht 206 Goldene Regel 45, 227 Gott 140, 159, 218 Grund 78 f., 94 – als Ursache 77, 84

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Sachregister

– interner 73 – externer 73 – moralischer 14 f., 18, 298 – gut 55–60, 64 Gut, das 102 f., 105, 109 Gute, das 98 f., 138, 149 Gütermonismus 105, 119, 126, 136 Güterpluralismus 105 Gütertheorie 130, 183, 266 guter Wille 62, 144, 160, 243 Gutsein 102 – funktionales 59 f. – moralisches 59, 61 f. – prudentielles 59, 61 Habitualisierung 29, 264 Habitus 244, 252 Handeln 85 – moralisches 17 Handlungen 49, 75, 79 f. – aus Pflicht 160 – basale/nicht-basale 81 – erlaubte 149 – gebotene 149 – pflichtgemäße 160 – verbotene 149 Handlungsabsichten 79 Handlungsarten 154 f. Handlungserklärung 80, 82 f., 265 Handlungsfolgen 28 f., 126 Handlungsfreiheit 89 f. Handlungsgründe 50, 77, 79, 83 f., 260 Handlungsmotiv 160 Handlungstheorie 79 – teleologische 101, 113 Handlungsziel 79, 101 Handlungsutilitarismus s. Akt-Utilitarismus Hass 229 Hedonismus 107, 115 f., 119, 121, 140 – qualitativer 118, 129

Hermeneutik 143 Hierarchiethese 137 homo-oeconomicus-Anthropologie 186–188, 191 f., 203 horizontaler Unterwerfungsvertrag 189 idealer Beobachter 45 Idealismus, spekulativer 140 Identität 276 f. Indeterminismus 89, 93 Inkompatibilismus 89 impartial spectator s. unparteiischer Beobachter Impartialismus 295, 298 f. Imperative – existentielle 15 – hypothetische 27, 160 f., 206 – assertorische 161 – problematische 161 – kategorische 27, 160 f., 206 Intellektualismus, moralischer 100, 104, 239 Intentionalismus 80, 97 Intention 150 Internalismus, moralischer 73, 95 f. Interessen – transzendentale 199–201 – zweiter Ordnung 202 intrinsische Motivation 26 Intuitionismus 34, 70 f., 120 f., 136–139, 148, 173, 280 f. – des Wertfühlens 143 – kantischer 72 Kalkül, hedonistischer 116 f. Kanonik 107 Kantianismus 125 Kardinaltugenden 245–247 Kausalketten, abweichende 83–85 Kausalismus 77, 80–82 Kategorischer Imperativ 44, 52, 72, 144, 149, 161, 167, 169–171

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katharsis s. Reinigung von Emotionen Kognitivismus 65, 69, 170 Kohärentismus 45 f. Kommunitarismus 253, 261, 287, 289–291, 294 Kompatibilismus 89 Konsens 180 Konstruktivismus 53, 69 Kontextualismus 45, 111, 253, 273 Kontraktualismus s. auch Vertragstheorie 46, 125, 184, 190, 197 f., 202, 204 f., 207 – deskriptiver 185 – kantischer 202 – politischer 193 – subversiver 185 Konsequentialismus 125–127, 150, 181, 237 Konsequenzenprintip 114, 121 Kontextualismus 269, 281–283, 295 Kosmopolitismus 110, 297 Krieg aller gegen alle 186, 189 Kultur – der Scham 233 – der Schuld 233 Kulturrelativismus 39 f., 95 Leben, gelingendes/gutes 111 f., 153, 175, 257, 267 Lebensform 238, 249, 262 f., 265, 267 f. Lebensführung 85–87, 135, 214, 252 Lehre vom Mittleren 106, 152, 243 Lehre von der Doppelwirkung 156, 262 Letztbegründung 44, 178 f. Libet-Experimente 94 Liberalismus 266 f. Liebe 229, 234–236, 296 – zu Gott 246

linguistic turn 175 Lockes Klausel 195 logical connection argument 80 logistikon 105, 240 Lüge 150 Lügenverbot 122, 173 Lust/Unlust 99, 107, 115–121, 126, 129 – katastematische 107 – kinetische 107 Lustmaximierung 99 Maxime 76, 162–164, 170 Maximentest 162, 171, 176 Maximierungsstrategie 196 Meinung 104 Mensch 166 – als moralisches/physisches Wesen 166 f. – edler 226 – erste/zweite Natur des 264 Menschenrechte 206 Menschheit 166 Menschenwürde 285 mesotês s. Lehre vom Mittleren Metaethik 53, 73 Minimax-Prinzip relativer Zugeständnisse 195 Milgram-Experimente 256 f. Mitgefühl 22, 210, 221, 228, 233 Mitleid 212, 224 f., 227 Mitleidsethik 208, 227 f. Mittel, bloßes 167 Modernitätstheorie 280 Monismus 32 – impartialistischer/partialistischer 297 f. Moral s. auch Ethik 13, 24 – als Kommunikationsform 20 – als kulturübergreifendes Phänomen 21 – Geltung von 177 – Grundintuition von 13

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– perfektionistische 24 – Singularität der 25 – Vorrang der/Kategorizität der 16, 26, 172, 206 Moralität 272 f. moral sense-Philosophie 208, 216– 218, 223 Moralbegründung 43 – schwache 44 f., 52 f. – starke 47, 52 f. moralischer Sinn 216 moralischer Standpunkt 11, 25, 30 f., 54 Moralkritik 19, 34, 36 f., 45 Moralphilosophie – kritische/begründende Funktion der 12 – revisionäre Funktion der 13 moral point of view s. moralischer Standpunkt Moralpädagogik 24, 211, 257, 283 Moralprinzipien 136 Moralpsychologie 19, 21, 208, 256 f., 294 Moralsoziologie 19 mos 11 f. Motivation 153 – intrinsische 26 – moralisch angemessene 29 Motivationstheorie 67 Motive – moralische 137 – unmoralische 17 Mythologie 107 Nächstenliebe 146, 158 Naturalismus, moralischer 33, 55, 94, 116, 264 naturalistic fallacy s. naturalistischer Fehlschluss naturalistischer Fehlschluss 55, 262 Naturrecht 36, 154, 186, 188, 190, 193, 206

Naturzustand 186, 188, 192 f., 206 f. Neigungen 26 Neoaristotelismus 257, 278 Neosentimentalismus 208 Neurowissenschaften 94, 137 Nihilismus, moralischer 43 Nonkognitivismus 65–69 Normativität – moralische 15, 18 f., 37, 144 – religiöse/weltanschauliche 41 Normfiguren 237 f. Nutzen 115 Nutzenprinzip 114 Objektivität 95, 180 oikeiôsis-Konzeption 109 f., 297 Ontologie 66 open question argument s. Argument der offenen Frage overridingness s. Vorrangstellung/ Kategorizität der Moral Partialismus 295, 299 Partikularismus 72, 170, 250 f. – Inkommensurabilitätsthese des 72, 251 paulinische Trias 245 f. Pluralismus, moralischer 31 f. Perfektionismus 24, 136, 140, 160, 266 f., 287 – politischer 266 Person 166 – φ-Eigenschaften einer 235 f. – ψ-Eigenschaften einer 235 f. Persönlichkeit 166 Pflichten 22 f., 31, 149, 160, 162, 173, 247 f., 259 – Arten von 138 – des guten/angenehmen Lebens 22 – kategorische 15 – Rechts-/Tugend- 249

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– – – –

selbstbezogene 24 soziale 23 strikte/weite 162 f. vollkommene/unvollkommene 158, 167 Pflichtethik 15 f., 111, 169, 225 phronêsis 72 pleonexia 107 Pluralismus, ethischer 173 Polisethik 279 Positivismus 112 posthypnotische Suggestion 94 Präferenzen 133 f. Präferenzutilitarismus 131 f., 134 Pragmatismus 45 praktische Notwendigkeit 30, 150, 152 f. praktischer Syllogismus 75–77, 81, 83 Praxis 265 f. Principlism 32 principle of generic consistency s. Prinzip der generischen Konsistenz Prinzip der generischen Konsistenz 47 Prioritarismus 125 Privatsprachenargument 53, 135, 175 Pro-Einstellung 67 f., 83, 85 Projektivismus 68 Qualitäten – sekundäre/primäre 70 rational choice-Paradigma 193 f., 203, 206 f. Rationalismus, moralischer 21, 44, 171, 208 Rationalität, strategische 69, 206 Realismus 65, 68–70, 263 – naturalistischer 70 – substantieller 53

– prozeduraler 53 Recht 183 Rechtschaffenheit 272 f. Rechtszustand 192, 205 reflective equilibrium s. Überlegungsgleichgewicht Reflective Moral Sentimentalism 234 Regelfolgen 249 Regelutilitarismus 121, 124 Reinigung von Emotionen 212 Relativismus, moralischer 39 f., 139 Religionsphilosophie 140 Reziprozität 21 Richtige, das 98 f., 138, 149 Scham 233, 260 Schleier des Nichtwissens 45, 195 Schönheit 217 f. Selbstbild 52 Selbsterhaltung 109 f. Selbsterkenntnis 100 Selbsttäuschung 178 Selbstvervollkommnung 257 Sanktionen 27 Seele 104 f. Seelenteile 105, 240 f. Selbstbeherrschung 222 Selbstopferung 200 f. Selbstwiderspruch, performativer 177 f. Semantik 55, 57, 60 – handlungstheoretische 62 – wahrheitsfunktionale 62 Sensibilität 222 sensus communis 216 Sentimentalismus, moralischer 21, 137, 208, 216, 223 f., 230, 234 Sexismus 292 Sinn des Lebens 112 f. Sinn in Leben 113 Sittengesetz 224 Sittlichkeit 272 f., 278, 286 f.

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Situationismus 256 Skeptizismus, moralischer 30, 43, 50, 139, 254 Solidarität 146 Sollen 153, 250 – moralisches 104 – glücksorientiertes 104 Sprachpragmatismus 63 Sprachspiel 79, 249 Sprechakttheorie 177 f. Spieltheorie 189, 195 Staat 104 Streben, natürliches 101, 102 Strebensziel 161 Subjektivität 95, 97 Substitutionsprinzip 116 Supererogation 157, 253 – Helden- 157 – Heiligen- 157 Sympathie 219, 221, 228 Tausch 199 – transzendentaler 199 Teleologie 80 – strebenstheoretische 99 – konsequentialistische 99 Therapie 107 thymoeides 105, 240 Tit-for-Tat-Strategie 21 Toleranzthese 39, 41 Tragödie 209, 212, 259 Transzendentalpragmatik 44, 175 Triple Theory 125 Trittbrettfahrer 192, 196 f., 263 Trolley-Beispiel 174, 262 Tugend 29, 99, 101, 104, 110, 152, 211, 244–246, 248, 252 Tugenden 146, 237, 241 f., 246 f., 254, 257 f., 263, 273 – dianoetische 105 f., 241 – ethische 105, 241 – eingegossene/erworbene 246 – natürliche/künstliche 247

Tugendethik 111, 237 f., 248–256, 258 f., 262, 291, 294 Überforderung, moralische 256 Übel 99, 118, 244 Überlegungsgleichgewicht 46 Übung 106 Ungleichheit 125 Universalisierungsprinzip 45 – U 176 Universalisierungstest 77 Universalismus 126, 139, 143, 170, 262 Universalität 25 Universalpragmatik 175 Unparteilichkeit 27 unparteiischer Beobachter 28, 223 Unrechttun 101 Ursachen 78 f., 81 Urteile – moralische 73, 120, 138, 215 Utilitarismus 98 f., 111, 113, 118, 120 f., 125 f., 128 f., 136, 250 – idealer 121 – klassischer 125, 130 f., 140 – theologischer 114 Verbote 162, 166 Vernunft 108, 110 – reine praktische 160 Verpflichtung 52 Vertragstheorie s. auch Kontraktualismus 111, 192, 199 – deskriptive 184 – normative 184 volonté générale 191 Voluntarismus 89 Wert 31 – absoluter 147 – subjektiver 146 – objektiver 146 Wertethiken 136, 230

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Wertkategorien 145 Wertphilosophien 140–144 Wille 88, 224 Willensfreiheit 88–91, 94 f. Willensschwäche 49, 76, 100 f. Wissen 104 Wohlergehen 112 Wohlfahrtsökonomie 117

Wollenskriterium 162 Würde 284 Wünsche 95–97, 102 f., 211 Zorn 209 f. Zueignung 109 Zweck 155, 165 – an sich selbst 165, 167

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